UNIVERSITY OF ILLINOIS
LIBRARY
Volum^
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I
WIENER
KLINISCHE WOCHENSCHRIFT
OßGim DER K. K. GESEllSCHAfT DER AERZTE IH WIEN.
BEGRÜNDET VON WEIL. HOERAT PROF. II. v. BAMREROER.
HERAUSGEGEBEN VON
ANTON FREIH. v. EISELSBERG, THEODOR ESCHERICH, ERNST FUCHS, JUL. HOCHENEGG, ERNST LUDWIG,
EDMUND V. NEUSSER, L. R. v. SCHRÖTTER UND ANTON WEICHSELBAUM.
REDIGIERT VON PROF. Dr. ALEXANDER FRAENKEL.
XX. JAHRGANG.
W I E N UNI) LEIPZIG.
WILHELM BRAÜMÜLLER, K. U. K. HOF- UND UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER.
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1907’
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Die
,, Wiener kliiilsclie
Woclieu.sclirift“
erscheint jeden Donnerstag
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Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert Ton Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenhurggasse 13. , ^
XX. Jahrgang. Wien, 3. Januar 1907. Nr. 1.
INH A LT:
I. Origiiialartikel; 1. lieber Wirkungsweise und Indikation
einiger diuretisch wirkender Mittel. Von 0. Loewi, Wien.
2. Aus dem bakteriologischen Laboratorium des k. u. k. Militär¬
sanitätskomitees. lieber ungiftige dissoziierbare Verbindungen
der Toxine. Von Dr. Robert Doerr, k. u. k. Regimentsarzt.
.3. Heber das Vorkommen des Meningokokkus und des Micro¬
coccus catarrhalis im Nasenrachenraum und Desinfektions¬
versuche mit Pyozyanase bei diesen Infektionen. Von Dr. Ludwig
Jehle, klin. Assistenten an der k. k. Universitäts-Kinder¬
klinik. (Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Th. Escherich.)
4. Alis dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien. (Vor¬
stand : Prof. A. Weichselbaum.) Ueber Endocarditis gonorrhoica.
Von Dr. K ü 1 b s.
5. Die Entwicklung der modernen Immunitätslehre. Von Dr. Karl
F ii r n t r a 1 1, k. k. Sanitäts-Assistenten bei der steiermärkischen
Statthalterei, Graz.
II. Referate; Die experimentelle Bakteriologie und die Infektions¬
krankheiten mit besonderer Berücksichtigung der Immunitäts¬
lehre. Von Dr. W. Kolle und Dr. H. H et sch. Arbeiten aus
dem Pathologischen Institute zu Berlin. Von Johannes Orth.
Die heutige Lehre von den pathologischen und anatomischen
Grundlagen der Herzschwäche. Von L. Aschoff und
S. Tawara. Die Erlahmung des hypertrophierten Herz¬
muskels. Von Dr. med. und phil. Robert Schlüter. Arbeiten
aus dem königl. Institute für experimentelle Therapie zu
Frankfurt a. M. Von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. P. Ehrlich.
Ref. : Joannovics.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten,
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Eougreßberi elite.
Ueber Wirkungsweise und Indikation einiger
diuretisch wirkender Mittel.^)
Von 0. Loewi, Wien.
Meine Herren! Wenn ich mir erlaube, mir Ihre Auf¬
merksamkeit für eine kurze Darstellung neuerer Forschungs¬
ergehnisse, betreffend den Wirkungsmechanismus einiger
wichtiger Diuretika zu erbitten, sO' möchte ich die Berech¬
tigung hiezu daraus ahleiten, daß diese Ergebnisse in wesent¬
lichen Punkten von früher gewonnenen abweichen, die dem
heutigen therapeutischen Handeln zugrunde liegen. Ferner
haben sich in jüngster Zeit die Bedingungen, welche für
den Eintritt und den Grad der Wirkung der Diuretika ma߬
gebend sind, präzis genug feststellen lassen, daß man in
Zukunft vielleicht seltener als bisher einen therapeutischen
Mißerfolg auf ,, individuell verschiedene Reaktion“ wird
zurückführen brauchen, vielmehr diese wird ursächlich be¬
gründen können.
Es kann nicht beabsichtigt sein, im Rahmen eines
Vortrages das ganze Gebiet lückenlos darzustellen. Nur
einige Punkte sollen besprochen werden. Sie betreffen nicht
alle, sondern nur die viel angewendeten Diuretika der Purin¬
reihe (Koffein, Theobromin, Theophyllin) und die Digitalis¬
körper. Unbesprochen bleiben demnach von gebräuchlichen
Diuretizis das Kalomel, sowie Wasser, Salze und salzartig
wirkende Stoffe (Harnstoff, Milchzucker etc.). Das Kalomel
*) Vortrag, gehalten am 30. November 1906 in der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte in Wien.
muß ans der Betrachtung ausscheiden, weil wir, abgesehen
von derjenigen .1 e n d ra s s i k s ^) kaum eine brauchbare Hypo¬
these, geschweige denn eine experimentelle Tatsache zur
Begründung seiner Wirkung anznführen haben. Wasser mit
und ohne Beimengung obsoleter Ingredienzien und Salze,
von denen eigentlich nur das essigsaure Kali praktisch in
Betracht kommt, sind wenigstens in der Weise, wie sie
angewandt zu werden pflegen, nach den übereinstimmenden
Erfahrungen der Klinik, wie des Experimentes keine ratio¬
nellen Entwässernngsmittel, weshalb ich an dieser Stelle
von der Besprechung ihrer dinretischen Wirkung absehe.
Steigeiamg der Diurese kann giamdsätzlich auf
zweierlei Art erzielt werden : entweder durch primäre Stei¬
gerung der Gesamtzirknlation, so daßi der Niere in der Zeit¬
einheit mehr Blut zufließt, oder durch primäre Funktions¬
steigerung des harnbereitenden Apparates in der Niere selbst.
Hienach hat die Analyse des Wirkimgsmodus der Diuretika
in erster Linie festzustellen: Liegt eine allgemeine Zirkii-
lationswirkung oder eine Nierenwirknng vor?
1 Beginnen wir mit den Diuretizis der Purinreihe:
I Die geläufige xVnschauimg über die Wirkungsweise
I dieser Mittel stützt sich aut Versuche v. Schröders.^)
j Dieser ausgezeichnete Forscher stellte zunächst mit Sicher-
! heit fest, daß die genannten Mittel, mindestens beim Ka¬
ninchen, mächtig Harn treiben können, ohne gleichzeitig
b Jendrassik, Deutsch. Archiv für klin. Medizin, Bd. 38,
S. 499 und Bd. 48, S. 226.
*) V. S c h r ö d e r, Archiv für experiment. Pathologie und Pharma¬
kologie 1887, Bd. 22, S 39 und 1888, Bd. 24, S. 69.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. t
selieii; das kann sie doch mir sein, wo sie existiert; aber
die B 1 u t d r n c k s t e i g e r u n g f e li 1 1 n n e n d 1 i c li o f t n n d
doch tritt starke Diurese ein.
Alle Untersiichnngen des Blntdriickes, die mit guter
Alelhodik ansgeführt wurden — ich nenne die von
V. Czyhlarz,^^) Sahli,^^) G eisböck,!* *') A. Franke 1^0
(vgl. auch V. Recklinghausen^®), - haben beim ge¬
sunden Menschen immer, lieim kranken Alenschen in der
Mehrzahl der Fälle zu dem Ergebnis geführt, daß der Blut¬
druck unter dem Einfluß von Digitalis nicht ansteigt, sondern
gleichhleibt oder fällt. Ich spreche nur von medizinalen,
heilsamen, nicht von toxischen Gaben.
Da demnach die Digitalis weder auf die Niere wirkt,
noch in diesen Fällen steigernd auf den Blutdruck, muß
hier die Ursache der diuretischen Wirkung anderswo ge¬
sucht werden.
Nun ist über jeden Zweifel erhaben, daß die Digitalis
die Herzarbeit begünstigt: die Systole wird, wo sie es nicht
schon ist, vollständiger und die Diastole wird ausgiebiger,
dabei wird in der Regel die Frequenz der Herzaktion herab¬
gesetzt. Das ist die Herzwirkung. Existiert auch eine Gefä߬
wirkung? Eine direkte Gefäßwirkung im Sinne einer Ver¬
engerung, wie sie beim Hund nach toxischen Dosen eintritt
(z. B. Bradford und Philips,^®) Gottlieb und Mag¬
nus scheint der Digitalis, mindestens in nicht toxi¬
schen Dosen beim Menschen nicht zuzukommen;
das muß aus folgendem erschlossen werden: Wie wir
sjiJien, bleibt beim gesunden Menschen nach Digitalis
der Blutdruck unverändert. Er müßte steigen, falls seine
Gefäße sich verengerten. Dieser Effekt auf den Blutdruck
könnte allerdings durch einen gleichzeitigen Blutdruckabfall
infolge Pulsverlangsamung verdeckt werden. Dann müßte
nach Ausschaltung der Pulsverlangsamung — und mit Atro¬
pin läßt sich dies erreichen — die durch die supponierte
Gefäßkonstriktion befwirkte Steigerung in die Erscheinung
treten. Nun steigt zwar nach Atropin-Digitalis der systo¬
lische, nicht aber der diastolische Blutdruck. (Fränkel
loc. cit.) Damit ist die systolische Steigerung als
reine Herzwirkung charakterisiert und wir
können eine Steigerung des Gefäßtonus als
Folge der D i g i t a 1 i s d a r r e i c h u n g in heilsamen
Gaben beim Menschen aus schließen. Dazu be¬
durfte es übrigens kaum dieser Analyse. Jeder Arzt weiß,
daß der Digitalispuls voll ist, nicht gespannt, wie etwa bei
Steigerung des Gefäßtonus, z. B. infolge Bleikolik oder
Nephritis (vgl. hierüber v. Recklinghausen loc. cit.).
Demnach haben wir höchstwahrscheinlich als alleinige
primäre Wirkung der Digitalis auf die Zirkulation: Steige¬
rung der Herzarbeit zu betrachten. Wie kommt es nun,
daß diese bei Stauungszuständen, wo doch die Herzaktion
unzureichend ist, oft nicht zu Blutdrucksteigerung, eher zu
Blutdruckabfall und dennoch gleichzeitig zu Diurese führt?
Dies zu verstehen, sind wir genötigt, kurz auf das Bild
der Stauung — u. zw. zunächst primär Nierengesunder —
einzugehen. Das Bild wird beherrscht davon, daß das ge¬
schwächte Herz ungenügend Blut auswlrft.
Da die Größe des Blutdruckes abhängig ist einmal
von der Größe der Herzarbeit, anderseits von dem Wider¬
stand in den Gefäßen, sollte danach hei Stauungszuständen
der Blutdruck tiefer sein als in der Norm, falls dabei ledig¬
lich die Herztätigkeit geändert wäre. Das ist wohl in
manchen, aber offenbar in der Mehrzahl der Fälle nicht
der Fall : nach vielfachen, neueren, einwandfreieren Befunden,
‘h V. Czyhlarz, Wiener klin. Rundschau 1900, Nr. 15.
Sahli, Verhandlungen des Kongresses für innere Medizin
1904, S. 45.
'*) Geis bock, Deutsch. Archiv für klin. Medizin 1905, Bd. 83, S. 396.
A. Fränkel, Münchener med. Wochenschrift 1905, Nr. 32.
‘®) V. R eck li n g h a US e n, Archiv für experiment. Pathologie und
Pharmakologie 1906, Bd. 56, S. 1.
**) Bradford und Philips, Journ. of physiol. 1887, Bd. 8, S. 117.
*°) Gottlieb und Magnus, Archiv für experiment Pathologie
und Pharmakologie 1901, Bd. 47, S. 135.
— ich nenne die von Sahli,^^) Hensen^^) und.Geis-
böck loc. cit. — ist auch bei rein kardialen Stauungs¬
zuständen, wo also ein nephrogenes Element nicht mit¬
wirkt, der Blutdruck häufig unverändert oder sogar gestei¬
gert; dabei kann der Puls ganz klein sein: Geisböck
heJ)t diesen Kontrast ausdrücklich hervor.
Demnach muß bei Slauungszuständen der periphere
Gefäßwiderstand abnorm gesteigert sein. Dies uiigemein
wichtige Moment scheint bei den Klinikern — mit Aus¬
nahme von Sahli — bisher ziemlich unbeachtet geblieben
zu sein.
Was ist die Ursache dieses peripher gesteigerten Wider¬
standes ? Wahrscheinlich handelt es sich um izwei Ursachen :
die erste ist vielleicht das Vorhandensein der Oedeme; da¬
durch mögen rein mechanisch die kleinen Arterien zu¬
sammengedrückt werden. Ferner dürfte Reizung des Vaso¬
konstriktorenzentrums durch Asphyxie mitspielen. In spä¬
teren Stadien, wenn die Niere schon lange unter Asphyxie
gelitten hat, mag dazu eine von ihr ausgehende, der bei
Nephritis analoge Gefäßkontraktion den Schaden mehren.
Ich empfinde wie Sie, meine Herren, daß sich in
diesem Kapitel: Verhalten der Gefäße bei Stauung, die
,, wahrscheinlich“ und ,, vielleicht“ unbehaglich häufen. Es
liegen eben merkwürdigerweise kaum verwertbare, direkte
Beobachtungen und Versuche bislang vor, so daß wir nur
indirekt folgern können.
Nach dem vorausgehenden ist der Stauungszustand
häufig genug charakterisiert :
1. Durch verminderte Herzarbeit;
2. durch vermehrten peripheren Widerstand;
3. durch oft normalen, mitunter auch übernormalen
Blutdruck.
Die Niere wird dabei durch folgende Momente ge¬
schädigt :
1. Mangelhafte Blutversorgung infolge mangelhafter
Herzarbeit und Gefäßkonstriktion ;
2. venöse Stauung.
Erst nach diesem Umweg können wir zur Beantwor¬
tung der oben aufgeworfenen Frage schreiten, wie es mög¬
lich ist, daß Digitalis oft den Blutdruck herabsetzt und doch
gleichzeitig diuretisch wirkt. Jetzt ist die Beantwortung
leicht: Wie wir sahen, arbeitet das Herz unter dem Ein¬
fluß der Digitalis besser: dadurch, daß es nicht nur mehr
auswirft, sondern auch mehr schöpft, verschwindet die
Stauung samt den Üedemen, infolge der reichlicheren Durch¬
blutung hört die Asphyxie, damit auch die Reizung des
Vasokonstriktorenzentrums und die dadurch mitbedingte ver¬
mehrte Gefäßspannung auf; Folge davon ist: der Blutdruck
fällt infolge Gefäßentspannung und -entlastung; die Niere
erhält mehr Blut infolge gesteigerter Herzarbeit und infolge
Nachlasses der Gefäßspannung und kann wieder arbeiten,
da gleichzeitig die venöse Stauung aufhört.
Solchergestalt dürfte sich beim heutigen Stand der
Dinge die diuretische Wirkung der Digitalis bei den oben
charakterisierten kardialen Slörungszuständen zwanglos er¬
klären.
Die Tatsache, daß die Digitalis dabei häufig blutdruck¬
herabsetzend wirkt, führt uns folgerichtig zur Diskussion
der Frage nach der Berechtigung der Anwendung der Digi¬
talis in Fällen, wo der Blutdruck von vornherein gesteigert
ist. Sie wissen, daß seit jeher viele Aerzte auf dem Stand¬
punkt stehen, daß hoher Blutdruck eine Kontraindikation
für Digitalisanwendung bilde. Nun, wir sahen, daß bei kar¬
dialer Stauung das Gegenteil der Fall ist. Prüfen wir andere
Fälle, wo der Blutdruck gesteigert ist: Sehen wir von der
ihrem Wesen nach wenig geklärten und relativ seltenen
Hypertonia polycythaemica (vgl. Geisböck loc. cit.) ab, so
bleiben : Bleivergiftung und Nephritis, sowie manche Fälle
von Arteriosklerose (Romberg^®) und Aorteninsuffizienz.
^ q S a h 1 i, V erhandlungen des Kongresses für innere Medizinl901, S. 45.
“) Hensen, Deutsches Archiv für klin. Medizin, Bd. 67, S. 436.
*q Romberg, Verhandlungen des Kongresses für innere Medizin
1904, S. 83.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Denkt der Arzt in diesen Fällen überhaupt daran, Digitalis
anzu wenden, so wird er zu dieser Ueberlegung geführt durch
Symptome, die auf Inkompensation hinweisen: in dieser
ist aber wohl regelmäßig mehr oder weniger Oodem und
Asphyxie mit ihrer Folge: gesteigerte Gefäßspannung im
Spiele. Sie bildet mindestens eine Ursache der Blutdruck¬
steigerung und da ihr Digitalis, wie wir bereits sahen,
entgegenwirkt, dürfte wohl in keinem einzigen Fälle be¬
stehender hoher Blutdruck eine Kontraindikatioii gegen Digi¬
talisanwendung sein.
Eine weitere wichtige Frage betrifft die nach dem
Vorteil einer kombinierten Koffein-Digitalistherapie.
Da das Vorhandensein massiger Dedeme naturgemäß
die Wirksamkeit der Digitalis auf das ohnehin geschwächte
Herz erschweren muß, ist die alte Empfehlung, vor Ein¬
leitung der Digitalistherapie erst die Oedeme durch Koffein,
Theobromin oder Theophyllin zum Verschwinden zu
Irringen, wohl zu erwägen. Daß Diuretin allein imstande ist,
lediglich durch seine diuretische nichtkardiale Wirkung
Oedeme zu beseitigen, das beweist zur Genüge seine mit¬
unter wohl zweifellose Wirkung bei Aszites infolge Pfort¬
aderstauung, wo das Herz nicht geschwächt ist, sondern
nur deshalb kein Blut fördert, weil ihm keines zu Gebote
steht. Deshalb soll in diesen Fällen ja Digitalis völlig un¬
gebräuchlich und erfolglos sein.
Nach dieser Erfahrung dürfte es in vielen Fällen,
immer dann, wenn die Zeit nicht drängt, durchaus rationell
sein, der Digitalistherapie eine Diuretintherapie vorangehen
zu lassen.
Eine gleichzeitige Kombination Diuretin- (oder
Koffein oder Theophyllin-) Digitalis dürfte immer durchaus
angezeigt sein. Sie ist immer unschädlich, oft zweifellos
von großem Nutzen. Sicher zur Beschleunigung der Diurese.
Vielleicht auch, um durch Diuretin eine eventuelle vaso-
konstriktorische Wirkung der Digitalis auf die Koronargefäße
zu paralysieren, deren Vorkommen nach Anwendung heil¬
samer Dosen beim Menschen übrigens fraglich ist.
Meine Herren, ich bin am Ende. Es wird Ihnen als
Praktikern besonders aufgefallen sein, daß vielfach allzu
schematisch dargestellt wurde und jeder von Ihnen wird
Fälle anführen können, auf die die hier gegebene Darstellung
scheinbar nicht zutrifft. Wenn es sich aber darum handelt,
Hegeln und Maximen aufzustellen, und das ist die Auf¬
gabe des Theoretikers, die ihm u. a. auch vom ärztlichen
Praktiker gestellt ist, dann ist das Schwergewicht auf die
Aufsuchung des den verschiedenen Individuen Gemein¬
samen zu verlegen; dabei muß mitunter das individuell
.\bweichende unberücksichligt bleiben. Dies anderseits hat
der ärztliche Praktiker zum Gegenstand besonderer Beob¬
achtung zu machen, ohne wiederum darüber das Gemein¬
same vergessen zu dürfen.
Aus dem bakteriologischen Laboratorium des
k. u. k. Militärsanitätskomitees.
lieber ungiftige dissoziierbare Verbindungen der
Toxine.
Von Dr. Robert Doerr, k. u. k. Regimentsarzt.
Bereits Ehrlich^) hat gewisse Modifikationen des
Diphtherie- und Tetanustoxins gekannt, welche durch die
Einwirkung von Jod, Schwefelkohlenstoff, resp. Jodtrichlorid
auf die genannten Toxine zustande kommen; noch älter
ist die der Vergessenheit atiheimgefallene Beobachtung von
Houx und Yersin,^) nach Vvelcher Diphtheriegiftlösungen
durch Älilchsäure oder Weinsäure entgiftet werden. In
neuerer Zeit wurden derartige Untersuchungen über das
Verhalten von Toxinen verschiedener Art gegen che¬
mische Einwirkungen wieder auf genommen. So haben
Flexner und Noguchi^) am Krotalusgift gesehen, daß das
Hämorrhagin durch Behandlung des ursprünglichen Roh¬
giftes mit Salzsäure unwirksam gemacht wird und einge¬
hende Untersuchungen hat Morgenroth am Kobragift
geführt. ,1
M 0 r g e n r o th konnte zeigen, daß man die Verbindung
Kobragift-Antitoxin durch Behandeln mit Salzsäure in Gegen¬
wart von Lezithin sprengen kann; es bildet sich zunächst
ein (Toxin+Antitoxin-)Lezilhid, das dann durch die Salz¬
säure in seine Komponenten zerlegt wird. Dabei erfährt
sowohl das Hämolysin, als das Neurotoxin des Kobragiftes
durch die Säureeinwirkung eine merkwürdige Aenderung :
es wird thermostabil und kann nach exakter Neutralisation
der überschüssigen Säure durch eine Stunde gekocht werden,
ohne erheblich an Wirksamkeit zu verlieren.
Die Arbeit Morgenrot und Pane®) brachte weitere
wichtige Entdeckungen. Kobragiftlösung mit ^ HCl zum
Sieden erhitzt, neutralisiert und sofort nach dem Abkühlen
geprüft, zeigt nur einen kleinen Teil des ursprünglichen
hämolytischen Vermögens. Einige Tage im Eisschrank ge¬
halten, gewinnt es ganz oder zum Teil den früheren Titre
wieder, wie Morgenroth meint, durch Rückverwandlung
einer ungiftigen, aber reversiblen Modifikation, die aus dem
Kobragift infolge der Säurewirkung entstand.
Auch längere Einwirkung von HCl in der Kälte
hat denselben Effekt, namentlich bei Zusatz von Lezithin.
Die Verfasser empfehlen dieses Verfahren als das schonen-
clere, indem das Hämolysin nahezu quantitaliv in die rever¬
sible Modifikation übergeführt wird, während sich beim
Kochen ein wechselnder Teil der letzteren in eine definitiv
irreversible, ungiftige Verbindung verwandelt.
Auch das Neurotoxin des Kobragiftes reagiert mit Salz¬
säure ganz ähnlich. Während die zehnfache Dosis letalis
des genuinen Giftes weiße Mäuse nach 12 bis 15 Vlinuten
sicher tötet, erscheint die Inkubation bei einem mit ^ HCl
versetzten und 14 Tage im Eisschrank aufbewahrten Gift
auf das Fünffache verlängert, wenn man sofort nach der
Neutralisation injiziert. Läßt man aber die neutralisierte
Lösung einige Tage stehen, so ist das frühere, kurze Latenz¬
stadium der Toxinwirkung wieder hergestellt. Aus diesem
Versuch folgert Morgenroth, daß unter .Umständen die
Inkubationszeit mancher V ergiftungen auch so erklärt werden
kann, daß der Organismus, wie beim eben neutralisierten
Kobragift eine gewisse Zeit braucht, um aus der reversiblen
ungiftigen Modifikation eine tödliche Dosis abzuspalten.
M o r g e 11 r 0 1 h und Pane haben die allgemeinere Bedeu¬
tung dieser Prozesse beim Kobragift für die übrigen Toxine
völlig erkannt. Sie schreiben : ,,Wir bezweifeln nicht, daß
Vorgänge ähnlicher Art, wenn erst einmal die Aufmerksam¬
keit darauf gerichtet ist, auf dem Toxingebiete noch öfter
zur Beobachtung kommen und eine erhebliche Bedeutung
gewinnen werden.“ Die folgenden Versuche bringen eine
völlige Bestätigung dieser Behauptung.
Zunächst schien es allerdings wenig aussichtsvoll die
Wirkung von Säuren auf Bakterientoxine einer eingehen¬
deren Prüfung zu unterwerfen. So schreibt Oppen¬
heimer^) noch 1904: ,, Starke Säuren und Basen wirken
natürlich vernichtend, schwache Basen schädlich, sehr
schwache Säuren, besonders die organischen, wahr¬
scheinlich fördernd.“ Auch die Angaben von Kilasato,^)
sowie von Fermi und Pernossi®) bergen bei allen zahlen¬
mäßigen Angaben so viele Unwahrscheinlichkeiten und
innere Widersprüche, daß wenigstens beim Tetanus gift,
mit dem hauptsächlich gearlieitet worden war, die Wieder¬
aufnahme der Experimente keine tjesonderen Ergebnisse
versprach. Wie wir hören werden, ist es auch, wenigstens
bisher, nicht gelungen, beim Tetanustoxin restituierbare, un¬
giftige Modifikationen (durch Säurewirkung!) zu erzeugen.
Dagegen findet sich schon bei Roux und Yersin^®)
eine Angabe über das Diphtheriegift, die Morgenroth und
Pane entgangen zu sein scheint, und deren Bedeutung
offenbar bisher völlig ignoriert worden war. Roux und
Yersin bewirkten durch Ansäuerung von Diphtheriegift¬
lösungen mit Milchsäure oder Weinsäure fast völlige En(-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
giftung. Neutralisierung stellte die Wirksamkeit
zum Teil wieder her.
Auch mir waren diese Versuche unbekannt, als ich
durch zufällige Ergebnisse größerer Experimentalreihen auf
das Bestehen restitiiierbarer ungiftiger Verbindungen des
Dysenterietoxins aufmerksam gemacht worden war, deren
völlige Uebereinstimmung mit Morgenroths Erhebungen
am Kobragift zu genauerem Studium dieser Frage für die
anderen Toxine herausforderte.
Wie bekannt, wirkt das Gift des Shiga-Krus eschen
Bazillus, intravenös injiziert, bei Kaninchen in höclist charak¬
teristischer Weise. Um nun die Angabe Rosenthals^^)
zu prüfen, daß Mineralsäuren schon in geringen Konzentra¬
tionen dieses Gift zerstören, Essigsäure dagegen nicht, wurde
eine größere Menge Giftlösung mit 20/oiger Salzsäure ver¬
setzt, durch 24 Stunden stehen gelassen und dann intravenös
injiziert (2 cm^). Da es aber bedenklich schien, eine so
große Menge der stark sauren Flüssigkeit direkt in das
Gefäßsystem einzuführen, so neutralisierte ich die saure
Toxinlösung mit konzentrierter Sodalösung bis zur deutlich
alkalischen Reaktion und injizierte nach zwei Stunden. Wider
Erwarten starb das Tier. Ein andermal hatte ich Toxin mit
Trypsin in alkalischer und zur Kontrolle in salzsaurer Lösung
versetzt und nach acht Stunden eingespritzt. Drei Tiere
mit 0-5, 1-0 und 2 0 cm^ der sauren Lösung blieben am
Leben, wobei die Trypsinwirkung bei der sauren Reaktion
ausgeschaltet war. Diesmal war jedoch die Säure nicht
neutralisiert worden.
Es war also nur die Deutung möglich, daßi das Dys-
eiiterietoxin durch Salzsäure nicht zerstört, sondern in eine
ungiftige Verbindung übergeführt wird, die durch Alkali-
sieren wieder zerlegt werden kann. Ad hoc angestellte
weitere Experimente ergaben die Richtigkeit dieser Ver¬
mutung.
Versetzt man Dysenteriegiftlösung mit 1 bis 2®/o kon¬
zentrierter Salzsäure, mit l^/o konzentrierter Schwefelsäure,
mit 1 bis 2% konzentrierter Salpetersäure, so erweisen sich
vier- bis achtfache Mengen der letalen Dosis, intravenös
injiziert, als völlig unwirksam. Doch ist hiezu nötig, das
Toxin mit der Säure wenigstens einige Stunden bei Zimmer¬
temperatur in Berührung zu lassen. Essigsäure (4°/o) hatte
diese Wirkung nicht.
Bei den Injektionen muß man entweder den Schädel
der Kaninchen fixieren oder sehr rasch einspritzen, da die
Tiere unter lebhaften Schmerzäußerungen Abwehrbewegun¬
gen machen und die Gefahr besteht, das Toxin subkutan
einzubringen ; vom Unterhautzellgewebe aus wirkt aber das
Ruhrgift nach den Untersuchungen von Kraus und Doerr
weit weniger sicher und erst in größeren Dosen.
Neutralisiert man die sauren Giftlösungen mit kon¬
zentrierter Sodalösung, so erweisen sie sich nach 24stün-
digem Stehen, doch auch schon nach viel kürzerer Zeit
wieder wirksam. Die Neutralisation hat bis zum Phenol¬
phthaleinneutralpunkt, resp. bis zur deutlichen Alkaleszenz
für Lackmus zu erfolgen; es genügt nicht, die Flüssigkeiten
einfach lackmusneutral zu machen, um die Ausgangstoxizität
zu erreichen. Auch nach kurzem Stehen der überneutrali-
sierten Flüssigkeiten erscheint die Inkubationszeit dem ge¬
nuinen Toxin gegenüber verlängert, die Giftigkeit also etwas
herabgesetzt.
Vers uch I.
20 ein® Toxin I (Dosis letalis — 0-5 cm®) + 0-4 cm® Acid,
hydrochloric, konzentriert. Nach 14 Stunden injiziert (intra¬
venös) :
Kan. ;361 : 20 cm® am 31. Oktober. Bleibt dauernd
gesund.
Kan. 396: 4 0 ein® am 31. Oktober. Bleibt dauernd gesund.
Der Rest mit konzentrierter Sodalosung neutralisiert, nach
24 Stunden injiziert;
Kan. 302: 2‘0 cm® am 1. November. Am 2. November
früh t.
Kan. 341 : 4’0 cm® am 1. November. Am 2. November
früh t- (Positiver Darmbefund.)
Versuch II.
20 cm® Toxin I + 0‘2 A c i d. s u 1 f u r i c. c o n c., davon nach
14 Stunden:
Kan. 399: 2’0 cm® am 31. Oktober. Ue he riebt, bleibt gesund.
Mit konzentrierter Sodalösung neutralisiert, 24 Stunden
stehen gelassen, sodann
Kan. 336: 2 0 cm® am 1. November. Am 2. November
früh f. (Positiver Darmbefund !)
Versuch III.
10 cm® Toxin II (Dos. letalis 1 cm®) + 0’2 Acid, nitric, cone,
davon nach 18 Stunden:
Kan. 352: 1 cm® am 24. Oktober. Vom 25. bis 29. Oktober
gesund, am 30. Oktober eingegangen.
Kan. 388: 2 cm® am 24. Oktober. Bleibt dauernd gesund.
Kan. 391: 3 cm® am 27. Oktober. Bleibt dauernd gesund.
Der Rest mit Sodalösung überneutralisiert und nach
20 Stunden injiziert.
Kan. 385: 1 cm® am 25. Oktober. Am 26. Oktober Para¬
lysen, am 27. früh f. (Positiver Darmbefund !)
Kan. 337 : 2‘0 cm® am 25. Oktober. Am 26. Oktober früh
Paralysen, Mittags f. (Positiver Darmbefund!)
Kan. 336; 2’0 cm® am 28. Oktober. Am 29. Oktober früh f.
Kan. 327 : 3’0 cm® am 28. Oktober. Am 29. Oktober früh f.
Versuch IV.
20cm® Toxin I + 0'8 Acid, acetic. Nach 18 Stunden:
Kan. 383; 2'0 cm® am 31. Oktober. Am 1. November früh f.
Wiederholungen ergaben stets das gleiche Resultat.
Auch bestand keine Differenz, wenn man statt der Bouillon¬
kulturfiltrate die sehr giftigen lebenden oder bei 56° C ab¬
getöteten Leiber der Dysenteriebazillen in Anwendung
brachte. Eine Emulsion, von der 0-2 cm^ ein Kontrolltier
innerhalb 24 Stunden bei intravenöser Injektion töteten,
war mit 2^/0 HCl versetzt, nach 20stündigem Stehen in
derselben Menge unwirksam. Mit Sodalösung übemeutrali-
siert und nach vier Stunden injiziert, zeigte sie noch ein
verlängertes Inkubationsstadium :
Kan. 344: 0'2 cm® am 2. November. Am 3. November
Paresen der Hinterbeine, am 4. November früh t- (Positiver
Darmbefund !)
Nach 24 Stunden war die volle Giftigkeit der unbehandelten
Emulsion wieder erreicht:
Kan. 352: 0'2 cm® am 3. November. Am 4. November früh f.
(Positiver Darmbefund I)
Die Deutung dieser Versuche bietet nur eine Schwierig¬
keit. Es könnte befremden, daß die mit sauren Toxinlösungen
behandelten Kaninchen überhaupt keine Krankheitserschei¬
nungen zeigen; denn die Gewebssäfte und vorzüglich das
Blutserum sind alkalisch und sollten daher durch Neiitrali-
sation der Säure die ungiftige Verbindung in die giftige
revertieren, genau so wie die Sodalösung in vitro. Danach
hätte man erwartet, daß die mit saurem Toxin behandelten
Tiere lediglich eine längere Inkubation zeigen, etwa wie
in den Mäuseversuchen Morgenroths, schließlich aber
doch, wenigstens bei Anwendung der mehrfach letalen Dosis,
erkranken und eingehen. Gegenüber unseren Versuchen be¬
steht aber die Differenz, daß Morgenroth und Pane ihre
sauren Kobragiftlösungen stets vor der Injektion neutralisiert
haben; aus welchem Grunde, ist allerdings nicht recht ein¬
leuchtend, da es sich doch um die Ermittlung der Wirkungen
des angesäuerten Toxins handelte.
In unseren Experimenten wurde jedoch das nicht neu¬
tralisierte, säurehaltige Toxin verwendet und Mengen von
0-04 cm^ konzentrierter Salzsäure oder einer anderen
Mineralsäure in den Organismus eingeführt. Direkte Unter¬
suchungen haben nun ergeben, daß 30 bis 40 cm^ Kanin¬
chenserum zur Erreichung einer schwachen Lackmusalka-
leszenz erforderlich wären, wenn man sie zu 2 cm^ einer
dergestalt säurehaltigen Giftlösung hinzufügt.
Auch wird das Dysenterietoxin rasch durch die Darm¬
schleimhaut ausgeschieden, wie meine Versuche ergaben,
schon in wenigen Stunden, während die Umwandlung der
ungiftigen sauren Verbindung in die giftige doch eine gewisse
Zeit in Anspruch nimmt, so daß die jeweils abgespaltenen
Giftmengen zur Elimination gelangen können, bevor sie sich
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
7
in letalen Mengen im Körper anhäufen. Bei Injektion ins
Gefäßsystem besteht ja übrigens auch die Möglichkeit einer
raschen Ausscheidung der ungiftigen Modifikation als
solcher. In der Tat werden wir beim Diphtherietoxin sehen,
daß andere Arten der Applikation, z. B. die subkutane,
selbst bei kleinen Mengen saurer Giftlösungen, doch eine,
wenn auch geringe pathologische Reaktion der Gewebe nach
sich ziehen.
Schließlich wurden höchstens vier- bis sechsfache
Multipla der letalen Dosis injiziert. Höhere Dosen von
sauren Dysenteriegiftlösungen vertragen die Tiere nicht; sie
sterben akut an der intravenös injizierten Säure und außer¬
halb des Organismus zu neutralisieren, hatte keinen Zweck,
da die Restitution beim Dysenteriegift viel rascher als beim
Kobratoxin vor sich zu gehen scheint und man bei Neu¬
tralisation in vitro (auch unmittelbar vor der Applikation)
Gift frei machen würde, statt diesen Vorgang in den Or¬
ganismus zu verlegen.
Beim Diphtherietoxin waren die Verhältnisse
ganz konform dem Verhalten des Dysenteriegiftes; nur
^virkten hier, wie nach den Angaben Roux’ und Yersins
vorauszusetzen war, auch organische Säuren (Milchsäure,
Essigsäure u. dgl.). Ferner bestand insofeme eine Differenz,
als die sauren Diphtheriegiftlösungen in fünf- bis sechsfach
tödlicher Dosis des genuinen Toxins zwar nicht den Tod
der Tiere, wohl 'aber das x\uftreten von Infiltraten und
Hautnekrosen hervorriefen, deren Größe nach der injizier¬
ten Menge variierte.
Das Diphtherietesttoxin des staatlich serotherapeuti¬
schen Instituts wirkte im natürlichen Zustand, wie folgt;
gestorben am :
M. 131 am 7./11. O'ö cm* subkutan üb. d. Proc. xiph. 8./11. früh
M. 18
M. 251
M. 182
M.286
M. 88
0-3 „
0-2 „
OT „
0-05 „
0-03 „
,, iD a. m.
,, 11^ a. m.
„ p. m.
9./11. früh
früh
Die Lebensdauer von M. 131 betrug nicht mehr als 18 Stunden,
von M. 18 und M. 251 nicht mehr als 26 Stunden, von M. 182
nicht mehr als 31 Stunden, von M. 286 und M. 88 nicht mehr
als 40 Stunden.
10 cm* dieses Toxins + 0‘2 Acid, hydrochl. conc. durch
20 Stunden stehen gelassen, dann injiziert:
M. 61 am 8. /ll. 0'5 cm* subkutan, fünfkronenstückgroße Hautnekrose
M. 21 „ „ 0‘3 „ „ hellergroße
M. 203 „ „ 0’2 „
M. 258 „ „ OT ,, „ linsengroße
M.205 „ „ 0-05 „
M. 120 „ „ 0-03 „
Sämtliche Tiere blieben am Leben.
Der Rest der Giftlösung bis zum Phenolphthaleinneutralpunkt
neutralisiert (also bis zur Lackmusalkaleszenz), nach 24 Stunden
injiziert:
Lebensdauer:
M. 75
am
8./11. 0’5 cm*
subk. 9./11.
lO*^
a. m. t
24 Stunden
M. 66
> )
0-3 „
„ 9./11.
7h
p. m. t
36
M. 8
n
5)
0-2 „
„ 9./11.
7h
p. m. t
36
nicht mehr als
M. 85
} f
} J
OT „
„ lO./ll.
früh t
40 Stunden
M. 179
j)
0-05 „
„ lO./ll.
„ t
M. 167
0-03 „
„ lO./ll.
„ t
1 1
Die Lehensdauer der Tiere erscheint allerdings gegen¬
über der originären Giftlösung verlängert; doch ist zu be¬
denken, daß die letztere durch den Zusatz der Säure und
noch mehr der Sodalösung (1-2 cm^ auf 4-0 cm^ Toxin)
eine nicht zu unterschätzende Verdünnung erfahren hatte.
Bei sehr hohen Dosen salzsaurer Lösungen gehen die
Versuchstiere, wenn auch verzögert, ein. Offenbar werden
durch die alkalische Gewebsflüssigkeit hier doch solche
Toxindosen freigemacht, daß eine tödliche Menge gleich¬
zeitig auf den Organismus wirken kann. So' z. B. war ein
anderes Diphtherietoxin in Mengen von 0 02 om^ noch sicher
in 48 Stunden letal. Es wurde am 3. November mit 2o/oiger
Salzsäure versetzt und am T. November injiziert.
M. 91: 0’5 cm* (25 Dos. let.). Am 5. November Infiltrat,
am 6. November großes Infiltrat, am 7. November früh t- Lebens¬
dauer ca. 70 Stunden.
M. 143: 10 cm* (50 Dos. let.). Am 5. November nichts, am
6. November früh f. Lebensdauer ca. 40 Stunden.
M. 288: 2'0 cm* (100 Dos. let.). Am 5. November nichts, am
6. November früh f. Lebensdauer ca. 40 Stunden.
20 cm* der sauren Giftlösung + 2’5 cm* Soda nach
18stündigem Stehen bei Zimmertemperatur, wirkten wie folgt:
M. 95 0‘5 cm* am 5./11. Am 6./ 11. 1'* p. m. f. Lebte ca. 28 Stunden
M. 197 l’O „ „ „ „ „ 12^ mittags f- „ „ 27
M. 68 2'0 „ „ _ „ ,, ,, früh f- „ „ 18
Die ursprüngliche Toxinlösung ergab ähnliche Werte wie die
neutralisierte.
Ueber die Wirkung anderer Säuren auf ein Diphtherie¬
gift, dessen letale Dosis bei 0-07 cm^ lag, gibt folgende
Tabelle Aufschluß :
Kontrolle :
M. 221 am 27. /ll. 0 2 cm* Toxin. Am 28. /ll. 4'^ p. m. f.
M. 146^ ,, ,, 0‘05 ,, ,, ,, ,, und 29. /ll. In¬
filtration, Wm 2. Dezember Nekrose. Ueberlebt.
An¬
gewendete
Säure
Meerschweinchen behandelt mit
saurem Toxin nach 14 Stunden
langem Stehen
Meerschweinchen behandelt
mit neutralisierten
Toxinsäuregemengen nach
20 Stunden langem Stehen.
Schwefel¬
säure l®/o
M. 246 0 2 cm*. Ueberlebt.
M. 568 0 05 cm*. Ueberlebt, kein
Infiltrat.
M 253 0-2 cm*. N,25Std.t.
M. 279 0’05 cm*. N. 48Std.f.
Salpeter¬
säure l”/o
M. 182 0'2 cm*. Ueberlebt, kleine
Infiltration.
M. 219 0 (l5 cm*. Glatt.
M- 75 0-2 cm*. N. 20 Std. f.
M. 85 0 05 cm*. Starkes In¬
filtrat.
Essig¬
säure 4®/o
M. 226 0 2 cm*. Ueberlebt, kleines
Infiltrat.
M. 267 0 05 cm*. Ueberlebt.
M. 295 0-2 cm*. N. 40 Std. f.
M. 72 0 05 cm*. Großes In¬
filtrat.
Milch¬
säure 10®/o
M. 189 0'2 cm*. Ueberlebt.
M. 167 0 05 cm*. Ueberlebt.
M. 216. N. 40 Std. f.
M. 18 sehr großes Infiltrat.
Die injizierten Mengen betrugen überall 0’2 cm*. Bei den
Tieren 295 und 216, die 40 Stunden lebten, kommt wieder die
Diluition des Giftes durch die zugefügte größere Menge Soda¬
lösung in Betracht.
Auch beim Diphtherietoxin beginnt die Restitution der
Giftwirkung außerordentlich rasch im Vergleich zu den Wahr¬
nehmungen, die Morgenroth am Kobragift gemacht, ja
noch schneller als beim Dysenteriegift; nur muß man auch
hier die sauren Lösungen überneutralisieren. In dieser
Richtung ist zu erinnern, daß die genuinen Giftlösungen
sowohl bei den Dysenterie-, als bei den Diphtlieriebazillen
auf Lackmus stark alkalisch reagieren, ja in den meisten
Fällen den PhenolphthaleinneutraJpunkt überschritten haben,
daß man also durch Hinzufügen einer Base bis zur Lackmus¬
neutralität die ursprünglichen Verhältnisse nicht wieder her¬
gestellt hat.. Ja man kann noch einen Schritt weiter gehen.
Wie bekannt, liefern Diphtheriebazillen und wie eigene ^^)^^)
Versuche gelehrt haben, auch Dysenteriebazillen in saurer,
lackmusneutraler oder sehr schwach alkalischer Bouillon
wenig oder überhaupt kein Toxin und es liegt wohl nahe,
daran zu denken, daß in solchen Kulturflüssigkeiten die se-
zernierten Gifte durch vorhandene Säure in ungiftige Ver¬
bindungen übergeführt werden. Es sind Untersuchungen
im Zuge, die über diese Vorgänge Aufschluß bringen sollen.
Jedenfalls aber ist es einleuchtend, daß man die durch die
Säurewirkung gesetzten Veränderungen nur dann völlig
rückgängig machen kann, venn man die ursprünglichen
Reaktionsbedingungen restituiert,.
Unter diesen Kautelen kann man Giftwirkungen be¬
obachten, wenn man unmittelbar nach der Neutralisation
injiziert; die volle Toxizität wird allerdings erst nach
zirka 22stündigeni Stehen der neutralisierten Säuretoxin-
mischungen erreicht. Es ist klar, daß es bei sO' langsam
wirkenden Giften nicht leicht ist, zu beurteilen, ob unmittel¬
bar nach Abstumpfung der Säure die Giftigkeit wieder¬
kehrt ; die verlängerten Inkubationen legen vielmehr die
Deutung nahe, daß die Restitution der ursprünglichen, gif¬
tigen Modifikation auch hier länpre Zeit beansprucht und
sich einfach im Tierkörper, statt in vitro vollzieht. Bei akut
wirkenden Zellgiften (Hämolysinen) oder Bakterientoxinen
liegen die Verhältnisse klarer. Leider haben Experimente
8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
N r.l
mit dem Blutgift und dem akuten Toxin der El-Tor-Vibrionen
nur negative Resultate ergeben; die folgenden Ergebnisse
sind daher mit diesem Vorbehalt zu verwerten. Sicher ist
nur die völlige Regeneration des Diphtheriegiftes nach
III. am 20. November
III. am 20. November
22 Stunden.
Kontrollen:
M. 167 : 0'2 cm^ Diphtherietoxin
SLildcutan. Nach 22 Stunden f.
M. 143: 0’05 cm® Diphtherietoxin
subkutan. Nach 25 Stunden f-
a) Gift + 27o HCl nach 24 Stunden injiziert.
M. 235: 0'2 cm® am 20. November. Bleibt am Leben, große,
streifenförmige Nekrose.
M. 91: 0‘05 cm® am 20. November. Bleibt am Leben, kleines
Infiltrat, das sich zurückbildet.
b) Alkalisiert (20 cm® saurer Lösung + 2'0 cm® konzentrierter
Sodalösung).
Sofort injiziert: M. 252 0‘2 cm®. Nach 32 Stunden t
nach 1 Stunde: M. 268 0‘2 ,, ,, 40 ,, t
nach 5 Stunden: M. 18 0'2 ,, ,, 44 ,, f
M. 53 0'05 ,, ,, 9 Tagen f
M. 85 0'2 ,, ,, 30 Stunden
M. 299 0'05 ,, ,, 6 Tagen t
M. 73 0‘2 „ ,, 20 Stunden t
M. 267 0'05 „ „ 20 Stunden f.
nach 8 Stunden:
nach 22 Stunden:
t
Im Gegensatz zum Kobragift sind die Toxinsäure¬
gemenge beim Diphtherie- oder Dysenteriegift nicht kokto-
stabil. Nach 15 Minuten langem Kochen war die Giftigkeit
völlig erloschen und kehrte auch nach achttägigem Stehen
der überneutralisierten Lösungen nicht wieder zurück. Die
Injektion hoher Multipla der letalen Dosis hatte nicht ein¬
mal die Bildung eines Infiltrats zur Folge.
Die Versuche mit anderen Toxinen ergaben, wenig¬
stens bei den bisher angewendeten Säurekonzentrationen
keinen Erfolg. Zum Teil blieben die Lösungen trotz der
Säurewirkung giftig (Rizin), zum Teil war es nicht mehr
möglich, den durch Säurezusatz ungiftig gewordenen Flüssig¬
keiten durch Neutralisation ihre frühere Toxizität zu ver¬
leihen (Tet anus toxin, Toxine und Hämolysine der
El-Tor-Vibrionen) .
Bei diesen Giften scheint alsO' die Säure tatsächlich zer¬
störend einzuwirken, resp. das Toxin zu atoxischen, nicht
restituierbaren Derivaten abzubauen. Dieser Prozeß geht
sowohl beim Tetanus-, als beim El-Tör-Toxin sehr rasch
und bei niedrigen Säurekonzentrationen vor sich. So war
eine Tetanusgiftlösung, mit 0-33 °/o Salpetersäure versetzt,
zwar nach einer Stunde noch wirksam; der partielle Unter¬
gang des Toxins fand nur in der um 24 Stunden verlängerten
Inkubationszeit seinen Ausdruck.
A.
Genuine Giftlösung, subkutan bei Meerschweinchen unter
die Haut des Schenkels (23. November).
M. 263: OT cm®. Am 24. November lokaler Tetanus, am
26. November allgemeiner Tetanus. 12 Uhr mittags f.
M. 172: 0'05 cm®. Am 24. und 25. November lokaler Tetanus,
am 26. November allgemeiner Tetanus, am 27. November früh f.
M. 123: 0 01 cm®. Am 24. November nichts, vom 25. November
bis 2. Dezember lokaler Tetanus.
B.
Toxin + 0'33®/o Acid, nitric, cone., nach 1 Stunde injiziert:
jM. 267 : OT cm®. Am 24. nichts, am 25. November allgemeiner
Tetanus. Um 5 Uhr nachmittags f.
M. 18: 0'05 cm®. Am 24. nichts, am 25. November lokaler
Tetanus, am 26. November allgemeiner Tetanus und t-
M. 143: O'Ol cm®. Am 24. nichts, am 25. November leichte
Steifigkeit, vom 26. November bis 2. Dezember lokaler Tetanus.
C.
Nach einstündiger Säurewirkung bis zur deutlichen Alkaleszenz
mit konzentrierter Sodalösung überneutralisiert und nach 24 Stunden
injiziert:
M. 41: OT cm. Am 25. nichts, am 26. November lokaler
Tetanus, am 27. November allgemeiner Tetanus und f.
M. 68: 0’05 cm®. Am 25. nichts, am 26. November lokaler
Tetanus, am 27. November allgemeiner Tetanus, nachmittags f.
M. 274: O'Ol cm®. Am 25. November nichts, vom 26. November
bis 1. Dezember lokaler Tetanus.
Wie man sieht, vermochte die Abstumpfung der Säure
die frühere kurze Inkubation nicht wiederherzus teilen.
Bei zweistündiger Einwirkung von 0-33 ®/o Salpeter¬
säure war in 01 cim^ überhaupt kein Toxin mehr nach¬
weisbar, auch nicht nach dem Neutralisieren, weder so¬
fort, noch nach mehrtägigem Stehenlassen des neutralisier¬
ten Gemenges.
Andere Säuren (Salzsäure, Essigsäure) ergaben immer
das nämliche.
Wir können also sagen :
1. Gewisse Toxine (Dysenterie-, Diphtheriegift) werden
durch Mineralsäuren und zum Teil auch organische Säuren
in wenigen Stunden in atoxische Modifikationen übergeführt.
2. Diese Verbindungen sind durch Bindung der Säure
mit starken Basen innerhalb einer relativ kurzen Zeit (zirka
20 Stunden) vollständig in die ursprüngliche, giftige
Form zurückzuverwandeln.
3. Andere Toxine (Tetanus-, El-Tör-Toxin, Vibriolysin)
werden durch Säuren zerstört, bzw. so- weit abgebaut, daß
eine Restitution des ursprünglichen Moleküls nach Auf¬
hebung der Säurewirkung nicht mehr eintritt.
In einer folgenden Arbeit sollen die mit Staphylolysin
erzielten Resultate und die Beziehungen der sauren, un¬
giftigen Modifikationen zum Antitoxin eine detaillierte Be¬
sprechung erfahren.
Literatur.
9 Ehrlich, Klin. Jahrbuch VI. — 9 Houx und Vers in.
— ®) Flexner und Noguchi, Journal of med. Research 1904. —
9 Morgenroth, Berliner klin. Wochenschrift 1905. — 9 Derselbe, Fest¬
schrift zur Eröffnung des path. Institutes in Berlin 1906. — ^Dß^^selbe
und Pane, Biochem. Zeitschrift 1906. — Oppenheimer, Toxine
und Antitoxine, Jena 1904. — ®)Kitasato, Zeitschrift für Hygiene 1891.
®) Fermi und Pernossi, Zeitschrift für Hygiene 1894. — Roux
und Yersin, Contr. ä l’etude de la diphth. Ann. Past. HI, IV. —
Rosenthal, Deutsche med. Wochenschrift 1903. — *9 Kraus und
D 0 e r r, Zeitschrift für Hygiene 1906. — *®) D o e r r. Das Dysenterie¬
toxin. Fischer, Jena 1907. — '9 Her sei be, Wiener klin. Wochenschrift 1906.
UeberdasYorkommendesIVIeningokokkusunddes
Micrococcus catarrhalis im Nasenrachenraum
und Desinfektionsversuche mit Pyocyanase
hei diesen Infektionen.
Von Dr. Ludwig: Jelile, klin. Assistenten an der k. k. Universitäts-
Kinderklinik. (Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Th. Escherich.)
Emmerich und Löw haben ihre Beobach Lungen über
die bakterizide Wirkung, welche die Pyocyanase an verschie¬
denen Bakterienzellen ausübt, ii\, mehreren Publikationen
veröffentlicht. Sie haben sowohl bei dem Milzbrand, als
auch hei der Cholera, Diphtherie und Typhus schon auf einen
geringen Zusatz von Pyocyanase ein rasches Zugrundegehen
der genannten Bakterien beobachtet. Auch bei künstlichen
Infektionen mit Milzbrand und Streptokokken war eine gün¬
stige Wirkung einer subkutanen Pyocyanaseinjektion auf
den Krankheitsverlauf zu beobachten, wenn die Injektion
vor oder kurz nach der Infektion erfolgte.
Das wirksame Agens ist nach ihrer Meinung ein bak-
teriolytisches Enzym, die als Zymogene in den Bakterien¬
zellen produziert werden, welche erst außerhalb des Bak¬
terienleibes, vielleicht unter dem Einfluß der Luft ihre
Enzymnatur manifestieren.
In der allerletzten Zeit berichtet Zucker auf Grund
seiner Arbeiten an der Grazer Kinderklinik, über die
günstigen Erfolge der lokalen Behandlung mit Pyocyanase
bei Diphtherie.
Unsere Untersuchungen erstrecken sich auf zwei Bak¬
terienarten: den Micrococcus catarrhalis und den Meningo¬
kokkus.
Die Versuche wurden sowohl mit Reinkulturen der
genannten Bakterienarten, als auch hei natürlichen Infek¬
tionen mit denselben vorgenommen.
Die Pyocyanase wurde uns in liebenswürdigster Weise
von dem chemischen Laboratorium des Herrn Geheimrates
Lingner in Dresden zur Verfügung gestellt.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
A. Meningokokkus.
Zu diesen Versuchen wurden sowohl Verreibungen von
Reinkulturen in 1 cm® einer physiologischen Kochsalzlösung als
auch frische Lumbalpunktionsflüssigkeiten von Genickstarrekranken
verwendet. Diesen Medien wurde tropfenweise unverdünnte oder
verdünnte Pyocyanase zugesetzt und das Bakterienwachstum in
verschiedenen Zeitabständen durch das Kulturverfahren auf As-
zitesagarnährböden geprüft.
legenheit bot sich uns vorerst bei einer Säuglingsgrippe,
welche durch den Micrococcus catarrhalis hervorgerufen
wurde. Die zahlreichen Genickstarrekranken und deren Um¬
gebung, welche ich in Wien, sowie in Schlesien und im
Rheinland zu beobachten Gelegenheit hatte, lieferten uns
weiterhin auch ein reichliches und vielseitiges Material zu
Versuchen mit dem Meningokokkus.
sofort
10 Min.
8 Std.'
24 Std.
Kontrolle
1
1
cm® Meningokokken,
Stamm 11 -f- 6 Tropfen Pyoc.
1507
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0
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II -f 3
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cm® Meningokokken,
Stamm III -|- 5
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reichlich
9
1
III +1
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Vso *
1507
»
9
9
9
Ein ähnliches Resultat erhielten wir auch mit dem Meningo¬
kokkus, Stamm IV. In einer anderen Reihe von Versuchen wur¬
den frische Lumbalpunktionsflüssigkeiten benützt. Zu diesem
Zwecke wurden 5 cm® zentrifugiert, von dem Sediment eine bis
zwei Oesen 1 cm® physiologischer Kochsalzlösung zugesetzt
und dieser Aufschwemmung Pyocyanase zugesetzt.
sofort
6 Std.
24 Std.
Kontr.
1 Oese Sediment II + 5Tropf. Pyoc. 1507
reichlich
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reichlich
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9
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9
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ziemlich
reichlich
spärlich
9
2 »
9
1 + 5
9
9
1507
9
spärlich
9
9
2 p
9
I+l
9
9
1507
9
9
9
9
Aus dieser Zusammenstellung sehen wir, daß schon
eine relativ sehr geringe Menge unverdünnter, oder ver¬
dünnter Pyocyanase genügt, um das Wachstum der Meningo¬
kokken zu verhindern. Viel geringer ist die Wirksamkeit
auf das zellreiche Sediment einer Lumbalpunktionsflüssig¬
keit (I.). Es vermögen zwar drei Tropfen Pyocyanase
noch in der Verdünnung 1:10 in einer Oese Sedi¬
ment das Wachstum der Meningokokken zu verhindern, da¬
gegen trat bereits in zwei Oesen Sediment, selbst bei einem
Zusatz von fünf Tropfen unverdünnter Pyocyanase, nur eine
Hemmung des Wachstums der Meningokokken auf. Diese
Differenz beruht wohl einesteils auf der geringeren Resistenz
wiederholt abgeimpfter Reinkulturen, anderseits auf dem
Umstand, daß ein großer Teil der Meningokokken intrazellu¬
lär gelegen ist und dadurch vor einer Schädigung durch
die Pyocyanase geschützt bleibt. Man kann sich auch durch
die mikroskopische Untersuchung davon überzeugen, daJß die
Leukozyten ihr Aussehen und ihre Färhbarkeit durch den
Zusatz von Pyocyanase fast niemals ändern, während die
Meningokokken, zum Teil auch die intrazellulären Indivi¬
duen, verquellen und schwer tingierbar erscheinen; es
scheint sich demnach der Leukozyt viel resistenter zu ver¬
halten, als der Meningokokkus.
B. Versuche bei natürlichen Infektionen mit dem
Micrococcus catarrhalis und Meningokokkus.
Diese Versuche wurden auf Anregung meines hochver¬
ehrten Chefs, Herrn Hofrat Es che rieh, vorgenommen. Ge¬
ich will hier ausschließlich von den Versuchen einer
Nasendesinfektion bei Jen genannten Erkrankungen
sprechen, da die intraduralen Injektionen, welche wir
zu therapeutischen Zwecken bei Genickstarrekranken ver¬
sucht haben, in der von uns vorgenommenen Anwendungs¬
weise keine nennenswerten günstigen Resultate lieferten.
Bevor ich zu den Ergebnissen der Versuche selbst
schreite, muß ich vor allem einiges über die Art der Unter¬
suchung sagen. Sowohl die Meningokokke'n als auch der
Micrococcus catarrhalis nistet im hinteren Nasenrachenraum
und ist in der Regel niemals in den vorderen Nasenhöhlen
zu finden. In diesen Partien wird er wohl durch die trock¬
nende Wirkung des Luftstromes bei der Atmung sehr rasch
zugrunde gehen. Die erste Bedingung ist demnach, daß
man bei der Untersuchung der Nasenhöhle bis in den Nasen¬
rachenraum, das heißt bis an die hintere Rachenwand vor¬
dringt. Dies gelingt, insbesonders bei Kindern, sehr leicht,
wenn man in der von Hofrat Escherich angegebenen W eise
vorgeht : Ein dünnes Glasröhrchen wird mit einem ca. 10 cm
langen, dünnen Kautschukschlauch armiert. Beide können
in einer Eprouvette leicht sterilisiert und aufbewahrt werden.
Vor dem Gebrauch wird in den Schlauch und in das Röhr¬
chen physiologische Kochsalzlösung aufgezogen. Dann wird
der dünne Kautschukschlauch durch den unteren Nasen¬
gang bis an die Rachenwand vorgeschoben, die Kochsalz¬
lösung durch Einblasen in den Rachenraum befördert und
darauf sofort durch Ansaugen wieder in den Schlauch
gezogen. Dann wird der Schlauch aus der Nase entfernt und
isein Inhalt in eine sterile Eprouvette geblasen. Auf diese
Weise erhält man regelmäßig Schleimpartikelchen aus dem
Nasenrachenraum, welche zur bakteriologischen Unter¬
suchung vollkommen geeignet sind.
In ähnlicher Weise kann man durch eine einfache,
ziemlich dicke Platinöse, welche durch den unteren Nasen¬
gang bis an die Rachenwand eingeführt wird, durch Auf- und
Abwärtsbewegen derselben in der Regel geeignete Schleim¬
massen herausbefördern. Beide Prozeduren sind absolut
schmerzlos und geben, wie ich mich durch sehr zahlreiche
Versuche überzeugen konnte, sehr gute und einwandfreie
Resultate. Ich will an dieser Stelle kurz erwähnen, daß
die Bakterienflora im Nasenrachenraum bei den einzelnen
Menschen eine ganz auffallend konstante i ist. Bei den
wiederholt vorgenommenen Versuchen zeigte es sich, daß
ein Individuiun regelmäßig fast ausschließlich Strepto¬
kokken in seinem Nasenrachenraum birgt, während bei dem
10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIET. 1007.
Nr. 1
anderen wieder das Bacterioin coli, der Bazillus Friedländer
•oder Pneumokokken usw. dominieren.
Niemals konnte ich bei Menschen, die nicht aus der
nächsten Umgebung eines Genickstarrekranken stammten,
Meningokokken im Nasenrachenraum nachweisen.
• Das Kulturverfahreo, zu dem ausschließlich Aszites¬
agar verwendet wurde, habe ich sofort der Entnahme an¬
geschlossen. Zu diesem Zwecke habe ich die Nährböden
in eigenen Blechkassetteii verwahrt und an Ürt and Stelle
der Untersuchung beschickt. Nach längstens zwei bis drei
Stunden wurden die geimpften Platten in den Brutschrank
gestellt, so daß eine Schädigung, der Bakterien durch Licht
und Austrocknung absolut ausgeschlossen werden konnte.
Die Pyocyanase wurde entweder durch eigens kon¬
struierte kleine Spray -Apparate, oder durch einfaches Ein¬
trän fein in den Nasenrachenraum zur Anwendung gebracht.
Die Menge, welche in jedem einzelnen Fäll zur Ver¬
wendung kam, schwankte zwischen 0-5 bis 3 cm^. Da das
Mittel absolut unschädlich ist und auch ohne Schaden ver¬
schluckt werden kann, so ist die Menge an sich nicht von
Bedeutung. Von Vorteil ist, wenn bei dem Einträufeln das
Röhrchen möglichst tief in den Nasengang eingeführt wird.
Der Kopf wird dabei nach rückwärts gebeugt. Bald nach der
Einträuflung expektoriert der Patient die überschüssige Pyo-
cyanase, wodurch dieselbe eine Wirksamkeit vielleicht auch
an den Rachenorganen ausüben kann.
Ueber die Resultate dieser Versuche läßt sich in
Kürze folgendes sagen :
1. Micrococcus catarrhal is.
Gelegentlich einer Grippeepidemie, welche im Säug¬
lingszimmer unseres Spi tales durch diesen Erreger hervor¬
gerufen wurde, konnte der letztere zu wiederholten Malen
im Nasenrachenraum sämtlicher Patienten in außerordent¬
licher Menge und häufig in Reinkultur nachgewiesen werden.
xVnfangs Januar d. J. wurde nun sämtlichen kleinen Patienten
einmal Pyocyanase eingeträufelt. Schon am nächsten Tage
waren bei sämtlichen bis auf einen, bei letzterem nach
48 Stunden, die Mikrokokken trotz wiederholter Unter¬
suchung nicht mehr nachweisbar. Gleichzeitig sistierten die
Erkrankungen, die vorher durch zwei Monate die Kinder
in Attacken ergriffen hatten. Eine ausführliche Publikation
dieser Grippeendemie erfolgte im Jahrbuch für Kinderheil¬
kunde, Band LXIV, Heft .5.
2. Meningitis cerebrospinalis.
Es wurden bei über 170 Individuen die Untersuchung
des hiasenrachenraumes, u. zw. regelmäßig mittels des
Kulturverfahrens, vorgenommen. Davon waren ca. 35 an
Geuickstarre erkrankte Patienten, etwa 120 Personen, welche
aus der Umgebung Genickstarrekranker stammten, während
etwa 30 Personen kontrollweise untersucht wurden. — ln
39 Fällen fanden sich Meningokokken in der Regel in großer
Menge und oft in Reinkulturen vor. Niemals fand ich, wie
ich schon erwähnt habe, Meningokokken bei Personen, in
deren allernächster Umgebung keine Genickstarreerkrankung
vorkam oder bei Patienten oder deren Angehörigen, wenn
die Erkrankung der ersteren länger als drei Wochen vorher
begonnen hat. Ebensowenig konnte ich Meningokokken im
Nasenrachenraum bei jenen Kindern finden, welche infolge
einer Fehldiagnose in ein Genickstarrezimmer gelegt wurden,
selbst wenn dieselben lange Zeit dort verweilt haben. Auch
in der Umgebung der Meningitiskinder, welche in unserem
Spital in die allgemeinen Krankensäle in größerer An¬
zahl aufgenommen wurden, konnte ich niemals Meningo¬
kokken nachweisen.
Es wairde auch dementsprechend niemals eine Haus¬
infektion beobachtet, trotzdem die Genickstarrekinder nie¬
mals isoliert wurden. Diese Beobachtungen sind wohl Be¬
weise dafür, daß die an Genickstarre erkrankten Kinder
als Infektionsträger gar nichc in Betracht kommen, denn
sonst müßten wir doch, wenn nicht schon eine Neuerkran¬
kung, so doch eine Infektion in der Umgebung derselben be¬
obachtet haben.
Die Resultate der Pyocyanasebehandlung lassen sich
aus der folgenden Tabelle ersehen. Der positive Meningo¬
kokkenbefund ist mit +, der negative mit — bezeichnet,
während jede Pyocyanaseiiistillation mit . angegeben ist.
Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen sehen wir
also, daß die Meningokokken fast regelmäßig durch diese
Behandlungsart aus dem Nasenrachenraum verschwinden
und daß zum Erreichen dieses Effektes in den meisten Fällen
eine ein- bis zweimalige Applikation der Pyocyanase genügt.
Die energische Wirkung der Pyocyanase wird wohl nicht
zum geringen Teil darauf zurückzuführen sein, daß durch
dieselbe, im Gegensatz zu anderen antiseptischen Mitteln,
die Schleimmassen nicht zum Gerinnen gebracht werden.
Dadurch vermag dieselbe einerseits leichter in dieselben
einzudringen, anderseits ist dadurch auch die energischere,
mechanische Spülung und die Expektoration erleichtert.
Nach meinen Beobachtungen bin ich der Ansicht, daß die
Meningokokken, wenigstens bei den gesunden Zwischen¬
trägern, nur in den Schleimmassen, nicht aber in der
Schleimhaut selbst nisten, ein Umstand, der bei den Ver-
Nr. 1
WIKNEJi KLINISCIIK \VO('[fENSCJllUFT. 1907.
1!
suchen einer Desinfektion gewiß schwer in das Gewicht
fällt und die Anwendung eines geeigneten Mittels erfolg¬
reich gestaltet.
Selbstverständlich hatte ich ini Verlaufe der zahlreichen
Untersuchungen hinreichend Gelegenheit, die Wirkung der
Pyocyanase auch auf die anderen zahlreichen Bakterienarten,
die sich im Nasenrachenraum häufiger vorfinden, zu beob¬
achten. Die Wirkung war hei den meisten derselben:
Streplo-, Staphylo-, Pneumokokken und Bacterium coli, sowie
Friedländer, eine äußerst geringe oder vollständig fehlende.
Es scheint demnach die Pyocyanase gerade auf die Meningo¬
kokken und den ihnen so iialie verwandten Micrococcus
catarrhalis eine energische Wirkung auszuüben und für die
Behandlung des Nasenrachenraumes bei Infektionen mit den
genannten Bakterienarten geeignet zu sein.
Aus dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien.
(Vorstand: Prof. A. Weichselbaum.)
lieber Endocarditis gonorrhoica.
Von Dr. Külbs.
Den elf bislang veröffentlichten, durch Gelingen von
Reinkulturen gestützten gonorrhoischen Endokarditiden
möchten wir im folgenden einen ebenfalls kulturell mit
positivem Resultat untersuchten Fäll hinzufügen und im
Anschluß daran den Standpunkt hervorheben, den wir nach
unseren heutigen Erfahrungen bei der Beurteilung gonor¬
rhoischer Endokarditiden einzunehmen gewillt sind.
K r a n k e n g e s c'h i c h t e ;
E. F., 20 Jahre, Köchin, ledig. Aufnahme auf die I. medi¬
zinische Universitätsklinik (weil. Hofrat Nothnagel) am
10. Juni 1899.
Pat. früher gesund, wurde am 1. Januar 1899 wegen Hygroma
praepat. operiert und verließ nach einem Monat gesund das Spital.
Menses vom 13. Jahre an; regelmäßig. Im Anschluß an die
letzte Menstruation, die am 13. Mai begann, trat gelber Ausfluß
aus der Scheide auf, der bis heute andauerte. Seit gestern hat
Pat. wieder die Menstruation. Am 25. Mai (zwölf Tage nach
dem Beginne des Ausflußes) Schmerzen im linken Schultergelenk.
Am nächste)! Tage, morgens, heftiger Schüttelfrost (zirka eine
Viertelstunde anhaltend), dem starker Schweißausbruch, heftige
Kopfschmerzen und Durst folgten. Die Schmerzen im Schulter¬
gelenk ließen nach drei Tagen nach. Heftige Schüttelfröste mit
Schweißausbruch und Kopfschmerzen wiederholten sich in der
Folgezeit jeden zweiten oder dritten Vormittag. Seit zwölf Tagen
Druckgefühl auf der Brust und Schmerzen im Kreuz. Seit acht
Tagen i)i der Frühe Herzklopfen, Schmerzen in den Fingergelenken
beider Hände, die nacheinander befallen wmrden. Die Gelenke
w'aren dabei geschwollen und gerötet. Beim Urinlassen vor drei
Wochen leichtes Brennen, zurzeit keine Beschwerden. Gestern
Mittag letzter Schüttelfrost.
Status praesens: 10. Juni. Mittelgroße, grazil gebaute,
ziemlich kräftige Person. Spuren von Oedem an den unteren
Extremitäten. Puls; beiderseits gleich, 110, rhythmisch äqual.
Temperatur 39-8; Lungen ohne Befund.
Herz : Dämpfung normal. Auskultation ; Spitze : lautes, kurzes
systolisches Geräusch; leiseres und längeres blasendes, diasto¬
lisches Geräusch. Trikuspidalis : derselbe Befund. Pulmonalis :
systolisches Geräusch, Andeutung eines zwmiten Tones, diasto¬
lisches Geräusch. Aorta : sehr lautes, blasendes, diastolisches,
leisejes, kürzeres systolisches Geräusch. Ueher beiden Karotiden
lautes gefäßdiastolisches Geräusch.
Abdomen: Gegend des Proc. xiph. sehr druckempfindlich.
Leber; ohne Befund. Milz: perkutorisch vergrößert, bis zum
Bippenbogen, nicht palpabel. Urin: leicht gleichmäßig getrübt,
Nukleoalbumin reichlich. Sediment: zahlreiche Leukozyten und
Epithelien, keine Zylinder. Aus der Urethra Eiter auspreßbar.
Mit Methylenblaufärbung zahlreiche Kokken (Diplokokkenform),
keine Intrazellularformen.
H. Juni. Um 5 Uhr früh Schüttelfrost, 8 Uhr Tempera¬
tur 38-2, Puls 110, Spannung etwas unter der Norm. Subjektives
Befinden etwas besser wde gestern. Um 9 Uhr früh zweiter
Schüttelfrost.
12. Juni. In der Nacht Hämoptoe. Um 7 Uhr früh Exitus
letalis.
Klinische Diagnose; Endocarditis acuta (gonor¬
rhoica?), Insufficientia valv. Aorta e — Bronchitis
— Urethritis gon. — Lungenembolie.
Sektion: 3 Uhr p. m. (Dr. Landstei)ier) : Weiblicher
Kadaver, mittelgroß. Haut und sichtbare Schleimhäute sehr blaß.
Lungen frei. In der Pleura sehr reichliche, punktförmige Hämor-
rhagien. Am Perikaixl zahlreiche Ekchymosen.
Herz von normaler Größe. Muskulatur braunrot. An der
Ventrikel fläche des Aorten zip fei s der Mitralklappe eine
fast nußgroße, unregelmäßige, weiche Auflagerung, welche auf
die hintere und linke Aortenklappe übergreift, so daß die Inser¬
tionsstelle dieser beiden Klappen vollkommen zerstört ist. Der
A o )' t e n z i p f e 1 ist p e r f o r i e r t und durch die Oeff nung ragen
Anteile der Auflagerungsmassen nach der Vorhof fläche* des Mitral-
ostiums. Die Substanz der Auflagerungen ist brüchig, von fihrin-
ähidicher Konsistenz, rötlich gefärl)t. Leber entsprechend groß,
braunrot, azinöse Zeichnung gut erhalten. Niere normal groß,
Rinde und Mark von wenig differenter, grauroter Farbe. In der
linken Niere ein weißlicher Herd an der Oberfläche sichtbar, diesem
Flecke entsprechend die Nierenoberfläche deprimiert. Milz:
13:8:3 cm, dunkelrot. Follikel an der Schnittfläche deutlich sicht¬
bar. Am Genitale ist der Hymen mehrfach eingekerht. Vagina
ziemlich eng. Uterusschleimhaut namentlich an der linket! Seite
geschwellt und gerötet.
Im Uterus kein Inhalt. In der Vagina kein Eiter, kein Schleim.
Im !-echten Ovarium ein Corpus luteum, in beiden Ovarien kleine
Follikularzysten. An den Tuben nichts Abnormes. Blasenschleim¬
haut gerötet. Am Orificium urethrae intern, springen die Follikel
als hirsekorngroße Körper vor. In der Urethra kein Eiter. Barlhol.
Drüsen nicht verändert. Magen: Andeutung von Etat mamelonne.
Ileum- und Kolonschleimhaut normal.
Bakteriologischer Befund;
1. Endokarditis che Effloreszenz (steril ent¬
nommen). Deckglaspräparate; Mäßig reichliche Mengen
Gram - negativer Diplokokken vom Typus des Gonokokkus, oft
in kleineren Gruppen, sowohl extra- wie intrazellulär gelegen.
Andere Bakterien nicht nachweisbar.
Kulturen (Plattenstrichkulturen auf Hydrokelenagar) ;
reichlich bis 1 mm im Durchmesser haltende, rundliche (jder
wellig begrenzte, grauglänzende Kolonien, teilweise einzeln
stehend, teilweise konfluierend, die mikroskopisch nach 24 Stunden
fein gekörnt sind, nach 48 Stunden reichlich Bröckelchen in den
zentralen Partien erkennen lassen. Deckglaspräparate davon
zeigten Diplokokken vom Typus des Gonokokkus, gleichmäßig
rasch nach Gram sich entfärbend. Auf allen acht Platten keine
anderen Kolonien.
"Wiederholte Abimpfungen auf gewöhnlichem Peptonagar und
gew’öhnlicher Peptonfleischbrühe blieben stets negativ, während
jederzeit entsprechend üppiges Whachstum zu erzielen war, Avenn
serumhaltige Nährböden (Agar nrit Hydrokelen-, Aszites- oder
Ovarialzystenflüssigkeit) verwendet wurden. Der Stamtu wmrde
in mehr als 17 Generationen fortgezüchtet und zeigte immer das¬
selbe Verhalten : die Kulturen auf serumhaltigen Nährböden er¬
gaben immer das für Gonokokkenkulturen charakteristische Aus¬
sehen und ließen immer in Deckglaspräparaten Diplokokken nach-
w*eisen, in Form, Größe und Lagerung wie der Micrococcus gonor-
rhoeae, gleichmäßig rasch nach Gram sich entfärbend.
2. Abgestreiftes Sekret aus der Vagina: D' e c k g 1 a s p r ä-
parate: Reichlich mono- und polynukleäre Leukozyten und
Epithelien; Gram -positive Kokken einzeln oder in Häufchen und
reichlicher Gr an!- negative, semmelförmige Diplokokken,
meist intrazellulär. Kulturen auf Hydrokelenagar (drei
Platten) : Neben Kolonien des Staphylococcus pyogenes albus
etwas w'eniger reichlich Kolonien, die denen aus der endokarditi-
schen Effloreszenz völlig gleichen und in Deckglaspräparaten
Gr am -negative Kokken von Kaffeebohnenform erkennen lassen.
3. Urethra: Polynukleäre Leukozyten und reichlich Gram¬
negative Diplokokken, dem M i c r o c o c c u s g o n o r r h o e a e voll¬
kommen gleichend, meist intrazellulär; sonst keine Bakterien.
4. Uterus: Deckglaspräparate vom Uterussekret: keinerlei
Bakterien. In drei Flydrokelenagar-Strichkulturen wmr nach drei¬
mal 24 Stunden auf einer Platte nur eine Kolonie von Staphylo¬
coccus pyogenes albus zu sehen, die zwei anderen Platten
blieben steril.
Histologischer Befund:
1. Endokarditis: Das stark entzündlich itüiltrierte, zum
Teil nekrotische Klappengewebe ist mit einem Thrombus bedeckt,
der aus einem dichten Fibrinnetz, aus polynukleären Leukozyten,
roten Blutkörperchen und feinkörnigen Massen besteht. Dieses
sehr unregelmäßig begrenzte Gebilde ist förmlich überschw*emmt
12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
mit G r a m - n e g a t i V e n, s e m m e 1 f ö r m i g e n D i p 1 o k o k k <3 ii,
die besonders an der Oberfläche zu dichten Haufen zusammen¬
liegen und zumeist intrazelluläre Anordnung zeigen. iVndere Bak¬
terien sind nicht vorhanden. (Borax — IMethylenblau und Grarn-
Weigert.)
2. Vagina und Urethra: Das Pflasterepithel der Vagina
ist fast überall gut erhalten. An zwei Stellen sieht man indessen
eine Auflockerung der obersten Epithelschichte und dieser hier
aufgelagert ein aus roten Blutkörperchen und mono- wie poly¬
nukleären Leukozyten bestehendes Exsudat. In diesem Exsudat
und fast auf der ganzen Oberfläche der Schleimhaut finden sich
Gram -positive Bazillen und Kokken, letztere teils einzeln, teils
in Häufchen und in Boraxmethylenblauschnitten spärlich Kokken,
die in Form und Anordnung Gonokokken gleichen. Im Stratum
subpapillare der Vagina zeigt sich eine reichliche und ausgedehnte
Infiltration, mit vorwiegend mononukleären Leukozyten, die Blut¬
gefäße selbst sind strotzend gefüllt. Bakterien lassen sich hier
nicht nachweisen. Das Epithel der Urethra zeigt keine Ver¬
änderungen. Auf dem Epithel sieht man an einer Stelle eine
aus polynukleären Leukozyten und roten Blutkörperchen be¬
stehende Auflagerung. Bakterien sind weder in Boraxmethylen-
blau-, noch in Gram-Weigertschnitten nachzuweisen.
3. U t e r u s, R e k t u m u n d B 1 a s e : Die e twas auf gelockerte
Schleimhaut des Uterus ist der Menstruation entsprechend von
vielen roten Blutkörperchen durchsetzt. Der Uterus zeigt sonst
keine Veränderungen und keine Bakterien im Schnitt. Auf der
Schleimhaut des Rektums, die akut entzündlich infiltriert und
mit schleimig - eitrigem Exsudat belegt ist, lassen sich so reichlich
Bazillen und Kokken verschiedener Art nachweisen. daß eine
Identifizierung der Kokkenformen unmöglich erscheint. Dagegen
liegen zwischen dem Epithel der Blase, das stark aufgelockert
und mit poly- und mononukleären Leukozyten infiltriert ist, nur
G r a m - negative, kaffeebohnenförmige Kokken, die sich nur in
Boraxmethylenblau-, nicht in Gram-Weigertschnitten nach¬
weisen lassen.
4. Ovarium und Tube: ohne pathologische Ver¬
änderungen.
5. Bakterienschnitte von Niereninfarkt, Milz und Pleura :
ohne Befund.
Dieser mit Abslclit ausführlicher angeführte Fall läßt
uns zu folgendem Ergebnis gelangen:
Ein 20jähriges Mädchen akquiriert eine gonorrhoische
Affektion. Nach mehreren Tagen treten Schüttelfrost, Fieber,
(lelenksschmerzen und Herzklopfen auf. Die alle zwei bis
drei Tage eintretenden Schüttelfröste veranlassen die Pa¬
tientin das Krankenhaus aufzusuchen, wo sie nach drei
Tagen unter schweren endokarditischen Erscheinungen
stirbt. Die Sektion bestätigt die klinische Diagnose: Endo¬
karditis.
Endokarditis gonorrhoica im Anschluß an akute
oder subakute Gonorrhoe entstanden.
I.
Nur physikalisch festgestellt.
R i c 0 r d 1847.
Brandes 1854.
H e r V i e u x 1858.
T i X i e r 1866.
Lorain 1866, siehe b. Marty.
Voelker (zwei Fälle) 1868.
Bourdon 1 868.
Desnos etLemaitre 1874.
Marty 1876.
Morel (zwei Fälle) 1878.
Pfui 1878.
Del or at (zwei Fälle) 1882.
Morel 1883.
D e r i g n a c 1884.
R ai 1 1 o n 1884.
V. d. Velden (2 Fälle) 1887.
Wille 1887.
G 1 u z i h s k y (acht Fälle) 1889.
Litten 1890.
Mac Donnel (3 Fälle) 1891.
Winternitz 1892.
Flügge 1892.
Flügge 1892 (w.).
Näheres siehe bei Finger, Ghon und Schagenhaufe r.
His, Berliner klin. Wochenschr. 1892. Fall III, B. N. (m.).
V. Leyden, 1893, erwähnt zwei Fälle (ein Fall aus der
Traube sehen Klinik).
Hecker, D. militärärztl. Zeitschr. 1893 (m.).
Nobl, Jahrbuch der Wiener Krankenanstalten 1892, zwei Fälle (m.).
We lander, Nord. med. Arch. 1894 (m.), 1
Singer, Wiener med. Presse 1896 (m.).
Fallien et Sibut, Ann. d. mal. d. org. g4n.-urin. 1898 (w.).
Rosenthal, Berliner klin. Wochenschr. 1900 (m.).
Brodier und Laroche, Gaz. d. hop. 1900, zwei Fälle (m.).
II.
Histologisch f e s t g e s t e 1 1 1; bakteriologisch: keine
Schnittfärbung, keine Kultur.
D e s n 0 s, Aorta u. Mitralis (m.). Soc. mddic. d. hop. Paris 1877.
Sch edler, Aorta (m.). Diss. Berlin 1880.
Draper, Mitralis (m.). Med. Bull. Philadelphia 1882.
Fleury, Aorta (m.). Journal de M6d. de Bordeaux 1883/84.
Rothmund, Aorta (m.). Diss. Zürich 1889. Fall VII im Herzblut
Diplokokken.
H i s, Aorta (m.). Fall H. Berl. klin. Wochenschr. 1892.
L e n h a r t z, Aorta (m.). Aus dem Jahre 1897, siehe Nothnagels
spez. Path., HI, 2. Fall XLH.
Eichhorst, Aorta (?) in spez. Path. u. Ther. inn. Krankh.
HI.
Bakteriologisch unentschieden, histologisch fest¬
gestellt.
Martin, Mitralis (m.). Revue radd. de la Suisse Romande 1882.
Keine Gramfärbung, keine Kultur.
W e c k e r 1 e, Pulmonalis (w.). München, med. Wochenschr. 1886,
Kultur, keine Gramfärbung.
His, Aorta (m). Berl. Klin. Wochenschr. 1892. Falll, keine Kultur,
gram,? Härtung in Müller.
Goltz, Pulmonalis (m.). Diss. Berlin 1893. Keine Kultur, in Vege¬
tationen kleine bis mittlere Kokken, in Haufen und Ketten, keine Gramf.
Keller, Pulmonalis (m.). D. Arch. f. klin. Med. 1896. Kultur
und im Schnitt nur Streptokokken.
P. Krause, Aorta (m.). Berl. klin. Wochenschr. 1904. Fall I,
Auflagerung histologisch nicht untersucht. Kultur auf Blut- und Glyzerin¬
agar kein Wachstum.
Wynn, Mitralis und Tricusp, (m.). The Lancet 1905. Fall H,
Kultur negativ, keine Schnittfärbung.
IV.
Histologisch-bakteriologisch: Mischinfektion.
Weichselbaum, Aorta, Tricusp, Mitr. (m.). Zieglers Bei¬
träge 1888. Im Schnitt intrazelluläre gramnegative Kokken. Kulturell:
nur Streptoc. pyog.
Ely, Mitr. (m.). Med. Record 1889. (Keine Kultur.) In Klappenauf¬
lagerungen Kokken und Bazillen.
Zadawsky und Bregmann, Mitr. (w.). Wiener med.
Wochenschr. 1896. (Keine Kultur.) In Klappenauflagerungen außer anderen
Mikroorg. gramnegative Diplokokken vom Typus des Gonokokkus.
Osler, Pulm. (m.) b. Thayer und La z ear erwähnt 1899:
neben grampositiven gramnegative Kokken im Schnitt, anscheinend
Gonokokken. Kultur: Nur Pneumokokken.
Prochaska, Aorta (m.). Virchows Archiv 1901. Kultur:
Gonokokken und Staphylokokken.
V.
Gramnegati^ve Diplokokken im Schnitt. Keine Kultur.
V. Leyden, Aorta und Mitr. (m.). D. med. Wochenschr. 1893.
Wilms, Aorta (m.). Münchn. med. Wochenschr. 1893.
Fressei, Mitr. und Aorta (w.). Leipzig J. D. 1894.
Winterberg, Sämtl. Klappen (m.) insb. Aorta u. Pulm.
Festschr. z. 25jähr. Jubil. d. V. deutscher Aerzte i. d. Franzisko 1904.
Berg, Aorta (m.). Medical. Record 1899 Iref. Zentr. f. Bakt. 1900.)
Bjelogolowy, Aorta (m.). Wratsch. 1900 (im Blut kult. Go.)
L 0 e b, Aorta (m.). D. Arch. f. klin. Med. 1900, Bd. 65.
Hr. N e i ß e r, Mitr. (m.). Berl. klin. Wochenschr. 1901.
VI.
Im Schnitt und im Ausstrich gramnegative Diplo¬
kokken vom Typus des Micro c. gonorrh. Agarkulturen
negativ.
Finger, Ghon und Schlagenhaufe r, Aorta (m.) (auch auf
Rinderserumagar kein Wachstum). Arch. f. Dermatol, u. Syphilis 1895.*)
D a u b e r und Borst, Aorta (m.). D. Arch. f. klin. Med. 1895.
Michaelis, Aorta (m.). Zeitschr. f. klin. Med. 1896.
Babel und Sion, Aorta (m.). Arch. d. S. M. de Bucarest (auch
auf Blutserum kein Wachstum),
Thayer und B 1 u m e r, Mitralis (w,). Bull, of John Hopk. Hosp.
1896. Kultur: Rinderblutserum: negativ.
Carageordiages, Aorta (m.). Thöse 1896.
Haie White, Pulm, (m ). Lancet 1896. Auch auf Glyzerinagar
kein Wachstum.
Stengel, Mitr. (w.). Univ. Med. Mag. Philad. 1897,
S i e g h e i m, Aoarta (m.). Zeitschr. f. klin. Med. 1898. Kultur:
Kiefers Agar: negativ.
Wynn, Mitr. (m.). The Lancet 1905.
*) Ausführliche Zusammenstellung der bis 1896 beschriebenen
Fälle und kritische Sichtung des Materials.
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
VII.
Histologisch und ba^kteriologisch gramnegativ Diplo-
kokken; auf serum h'altigen Nährböden Reinkulturen
vom Typus des Microcc. gonorrh.
Rendu etHaII4, Aorta (w). Rull. etm4in. Soc. m4d. de hop. de
Paris 1897.
HonI, Aorta (m.). Z. f. Bakt. 1899 (Lekarskych Rozhiedu VII).
Thayer und L a z e a r, Tricusp. (m.). The Journ. of exper.
Med. 1899.
Michaelis und?Jakob, Aorta (m.) Verein f. innere Med. Berlin
8/ VII. 1901.
Wassermann, Aorta (m.). München, med. Wochenschr. 1901.
Harris und Dabrey, Aorta (w.) Bull, of John Hopk. Hosp. 1901.
V. Frendl, Aorta (m.). Wiener KHn. Wochenschr. 1903
Prochaska, Aorta (w.). D. Arch. f. Klin. Med. 1905 (Fall IV).
Hunter, Aorta (w.). Brit. med. Journ. 1905.
K ü 1 b s, Aorta (w.).
VHI.
Histologisch und bakTeriologisch gramnegative Di¬
plokokken, kulturell typische Gonokokken; durch
Uebertragung des Thrombusbreies (Lenhartz) bzw. der
R e i n k ul t u r j (G h 0 n und S c h 1 a g e n h a u f e r) spezifische
Urethritis.
Lenhartz, Pulm. (w.). München, med. Wochenschr. 1897.
Ghon und Schlagenhaufe r, Aorta (w.). Wiener Klin.
Wochenschr. 1898.
Ich habe versucht, in vorstehender Tabelle die in der
Literatur unter Endocard. gon. auffindbaren Mitteilungen zu¬
sammenzustellen. Eine statistische Berechnung aus dieser
Tabelle zu ziehen ist freilich nicht leicht, solange es keine
Grenze gibt für Endokarditiden, die man als sicher gonor¬
rhoische ansehen kann. Abgesehen von den beiden letzten
Fällen (unter VIII, erfolgreiche Uebertragung der Reinkul¬
turen auf die Urethra und Erzeugung einer spezifischen
Urethritis) müssen wir heute auch diejenigen Endokardi¬
tiden als sicher gonorrhoische bezeichnen, die kulturell einen
Gram-negativen Mikrokokkns boten, der den scharf abgrenz-
baren Eigentümlichkeiten des Gonokokkus entspricht. Es
dürften daher die bei VII angeführten auch vom bakterio¬
logischen Standpunkt unzweifelhafte Endokarditiden gonor¬
rhoischen Ursprunges sein. Die unter VI eingereihten Fälle,
bei denen die Identifizierung mit dem Micrococcus gonor-
rhoicus seinerzeit deswegen angegriffen wurde, weil auf ge¬
wöhnlichen Nährböden kein Wachstum erfolgte, könnten,
rein bakteriologisch gedacht, schon Zweifel erwecken. Aber
da wir das Versagen des Gonokokkus auf gewöhnlichen
Nährböden nach unseren heutigen Kenntnissen zu indirekter
Beweisführung benutzen, so möchte ich auch diese Rubrik
den einwandfreien gonorrhoischen Endokarditiden einrech¬
nen, ungeachtet dessen, daß hie und da als Ausnahmen
Stämme in der Literatur erwähnt werden, die auch auf
gewöhnlichem Agar mehr oder weniger wachsen (s. b. Wild¬
bolz). Schwieriger ist die Beurteilung schon, wenn Gram¬
negative Diplokokken nur im Schnitt beschrieben werden (V).
Hier ist vor allen Dingen für spätere Veröffentlichungen zu
fordern, daß betont wird, ob ausschließlich Gram-negative
Kokken zu sehen sind oder nicht. Vom klinischen Stand¬
punkt aus sind die unter V aufgezählten Fälle ohne Zweifel
gonorrhoische Endokarditiden. Für die bakteriologische
Diagnose ist aber ein kultureller Nachweis notwendig, weil
wir heute wissen, daß von den beiden dem Gonokokkus
verwandten pathogenen Arten, dem Meningokokkus Weich¬
selbaum und dem Micrococcus catarrhalis Pf ei ff er, sicher
auch der Meningokokkus Endokarditis zu erzeugen im¬
stande ist. Einschlägige Fälle beschrieben Warfield und
Walker, W e i c h s e 1 b a u m und Ghon, die erstgenannten
Autoren einen Fäll ulzeröser Endokarditis der Aortenklappen,
die letztgenannten einen Fall einer papillären Endokarditis
der Mitralklappe. Endokarditis durch den Micrococcus catar¬
rhalis (Pfeiffer) kennen wir bisher nicht, da seine patho¬
gene Bedeutung für den Menschen aber sichergestellt er¬
scheint, darf die Möglichkeit, gleichfalls als Erreger von
Herzklappenentzündung in Betracht zu kommen, auch für
diesen Kokkus nicht a priori ausgeschlossen werden.
Ziehe ich vom klinischen Gesichtspunkt aus eine Sta¬
tistik unter Berücksichtigung der bei V bis VHI aufgezählten
Fälle, so finde ich :
bei 20 Männern und 10 Frauen erkrankt die Aorta 20mal:
die Mitralis 4nial ; die Pulmonalis Imal ; die Aorta und Mitralis
2nial; sämtliche Klappen Imal.
Dehnt man diese Berechnung auf die Fälle von il bis Vlll
aus, so ergehen sich bei 36 Männern und 12 Frauen (1 Fall?
Eichhorst) als befallen: die Aorta 28mal; die Mitralis 8mal; die
Pulmonalis 6mal; die Trikuspidalis Imal; die Aorta und Mitralis
3mal; die Mitralis und Trikuspidalis Imal; die Aorta, Triku¬
spidalis und Mitralis Imal ; sämtliche Klappen Imal.
Literatur.
Ghon A. und Pfeiffer H., Der Micrococcus catarrhalis
(R. Pfeiffer) als Krankheitserreger. Zeitschr. f. klin. Medizin, 44. Bd. —
Lenhartz, Die septischen Allgemeinerkrankungen. Nothnagel, spezielle
Pathologie und Therapie 1904, HI, 2. — Neißer A. und Scholz W.,
Gonorrhoe, in Kolle und Wassermann, Handbuch der pathogenen Mikroorgan.
— Wild bolz, Zur Biologie der Gonokokken. Zentralbl. f. Bakteriologie
1891. — Weichselbaum, Zur Aetiologie der akuten Endokarditis.
Zentralbl. f. Bakteriologie 1887, IL — Derselbe, Beiträge zur Aetiologie
und pathol. Anatomie der Endokarditis. Zieglers Beiträge 1888. —
Weichselbaum und Ghon, Der Micrococcus mening. cerebrospin. als
Erreger von Endokarditis sowie sein Vorkommen in der Nasenhöhle Ge¬
sunder und Kranker. Wiener klin. Wochenschr. 1905. — WarfieldM. L.
und Walker J. K., Acute ulcerative Endocarditis caused by the Meningo¬
coccus (Weichselbaum). (Bulletin of the Pennsylvania Hospital, 1903, Nr.l.)
Die Entwicklung der modernen Immunitäts¬
lehre.*)
Von Dr. Karl Fürntratt, k. k. Sanitäts-Assistenten bei der steier¬
märkischen Statthalterei, Graz.
Das Studium der Infektionskrankheiten nnd die Bemühungen
sie zu bekämpfen, führten zu einer schon heute ganz stattlichen
Zahl von spezifischen Behandlungs- bzw. Schutzimpfungs-
raethoden. Die vielen Arbeiten, die nötig waren, um zu brauchbaren
Resultaten zu gelangen, beschäftigten sich in eingehender Weise
mit der grundlegenden Frage, in welchen Verhältnissen eine ange¬
borene oder erworbene Immunität den verschiedenen Krankheits¬
erregern gegenüber begründet sein könne. Die dabei gewonnenen
Erfahnmgen, so lückenhaft sie bis jetzt auch sein mögen, waren
aber nicht nur imstande, uns über diese Verhältnisse mehr weniger
befriedigende Aufklärnng zu bringen, sondern ließen uns, wie wir
sehen werden, auch einen tiefgehenden Einblick . gewinnen in
zahlreiche feinere Vorgänge, die sich heim Lebensprozesse der
tierischen Zelle abspielen.
Eine sichere Grundlage für eine wissenschaftliche Immuni¬
tätsforschung war erst von dem Zeitpunkte an gegeben, als uns
die Bakteriologie die Erreger der verschiedenen Infektionskrank¬
heiten kennen lehrte, obschon gerade die praktisch wichtigste
Entdeckung auf dem Gebiete der Schutzimpfungen, nämlich die
Jenn ersehe Vakzination, schon lange vor diesen Zeitpunkt
fällt. In erster Linie verdanken wir der Bakteriologie die Mög¬
lichkeit, mit Reinkulturen zn arbeiten, nicht mehr mit einem
völlig unbekannten „Virus“, hernach lehrte sie uns, daß die
Bakterien bei ihrem Wachstume giftige Stoffwechselprodukte
(Toxine) erzeugen, denen die auftretenden Krankheitserscheinungen
ganz oder zum Teil zuzuschreiben sind und daß die Bakterienzelle
aber auch innerhalb ihres Leibes (intrazellulär) gewisse Giftstoffe,
die erst in neuerer Zeit bekannt gewordenen Endotoxine enthält,
welche bei ihrem Freiwerden ebenfalls Ursache verschiedener
krankhafter Reaktionen des betroffenen Organismus werden
können.
Die Erforschung einerseits des Schicksales der einverleibten
Mikroorganismen im infizierten Tierkörper, anderseits der Reak¬
tionen desselben auf die Einbringung der Krankheitserreger oder
deren isolierter Gifte brachte uns insbesondere die Erkenntnis
von spezifischen Reaktionsprodukten, die sich im Blut¬
serum der Versuchstiere anhäufen und die wir zusammenfassend
als Antikörper bezeichnen. Seitdem nun das Auftreten solcher
Antikörper im Blutserum auch nach Einbringung verschiedener
anderer organischer Substanzen beobachtet wurde und in ihrem
Auftreten ein allgemein gültiges biologisches Gesetz erkannt wurde,
gewann die I m m u n i t ä t s 1 e h r e eine vorher ungeahnte
Bedeutung, welche schon heute weit über das Gebiet
der Bakteriologie und der Infektionskrankheiten
h i n a u s g e w a c h s e n is t.
Ihnen, meine Herren, einen Ueberblick über die bisherigen
Ergebnisse der modernen Immunitätsforschung zu gehen, ist der
Zweck meines heutigen Vortrages.
*) Vortrag, gehalten bei der Versammlung der steiermärkischen
Amtsärzte zu Graz am 7. Dezember 1906.
14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
Die alte Erfahiaing, daß gewisse Krankheiten den Slenschen
imr einmal ini Leben befallen und daß auch milde verlaufende
Fälle dieser Krankheiten ebenso Schutz vor späterer Erkrankung
(immimität) verleihen, wie schwere Fälle, bildet den Ausgangs¬
punkt aller unserer Immunisierungshestrebungen. Leber die
Schutzpockenimpfung Jenners, die nun schon über
lOü Jahre alt ist, lirauche ich an dieser Stelle nicht weiter zu
sprechen. Das dabei angewendete Prinzip, ein Krankbeitsvirus
durch Tierpassagen für den Menschen so weit abzuschwächen,
daß es nur eine sehr leichte und ungefährliche Krankheit aus¬
löst, wurde auch in neuerer Zeit, wenn auch mit einiger xVb-
änderung, für mehrere Tierseuchen verwendbar befunden
(Schweinerotlauf, Rinderpest und einige tro])ische Tierseuchen).
Eine Reihe von auch in der Humanniedizin brauchbaren
Impfstoffen wurde aber in einigen Krankheitserregern gefunden,
deren Virulenz durch versebiedene physikalische oder chemische
Einwirkungen methodisch abgeschwächt wurde. Hieher gehört
zunächst die Schulzimplüng gegen Lyssa, welche darin besieht,
daß das Rückenmark von Kaninchen, welche an dieser Er¬
krankung eingegangen sind, einem verschieden langen Ausli'ock-
nungsprozesse unterworfen wird, wobei nach Pasteurs Er¬
fahrungen das in einem solchen Mark enthaltene Lyssavirus soweit
abgeschwächt wird, daß man eine Emulsion solchen Markes einem
IMenschen ohne Schaden unter die Haut einspritzen kann. Durch
allmählichen Uebergang zu einem immer weniger lang ausge¬
trockneten, also immer virulenteren Marke tritt nach drei bis vier
Wochen eine völlige Immunität gegenüber der I^yssainfektion
ein. Diese Methode ist aber nicht nur als eine Schutzimptungs-
methode zu bezeichnen, sondern als eine eigentliche Heilmethode,
da man auf den Eintritt des Impfschutzes auch noch bei bereits
gebissenen Personen rechnen kann, beträgt doch die durchschnitt¬
liche Inkubationszeit der Lyssa — wenigstens bei erwachsenen
Personen — nach neueren Statistiken 60 bis 70 Tage. Einen
ebenfalls durch Austrocknung gewonnenen Impfstoff hat Pasteur
ferner für die Hühnercholera gefunden. Hieran reiht sich
das weitere Verfahren Pasteurs, Haustiere gegen eine spätere
M i 1 z b r a n d i n f e k t i o n dad u rch zu schü tzen , daß ihnen du rch
verschieden lange Erhitzung abgeschwächte Anthraxkulturen
eingespritzt werden.
Bei eine)' Anzahl von Infektionskrankheiten hat man in den
durch vorsichtiges Erhitzen abgetöteten betreffenden Reinkulturen
Impfstoffe gefunden, welche wenigstens zum Teil auch schon
praktisch verwertbar geworden sind. So verwendet Kohle abge¬
tötete Vibrionenkulturen als Impfmaterial gegen Cholera; es
kommt an der Impfstelle zu einer lokalen Reaktion; nach Ablauf
von fünf Tagen ist bereits Immunität gegenüber einer Cholera¬
infektion eingetreten und soll erst nach etwa einem Jahre wieder
erlöschen. Dieses Schutzimpfungsverfahren kommt tiamenÜich
dann in Betracht, wenn einzelne Personen einer besonders hohen
Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind, wie z. B. Aerzte und Kranken¬
wärter in Epidemiezeiten. Bei den englischen Truppen in Indien
hat es sich auch bereits bewährt. In ganz ähnlicher AVeise arbei¬
teten Pfeiffer und Kolle, sowie unabhängig von ihnen der
Engländer AV right ein Schutzimpfungsverfahren gegen Typhus
aus. Dabei ist die lokale Reaktion allerdings von einer vorüber¬
gehenden Temperatursteigerung und Abgeschlagenheit, Kopf¬
schmerz und Schwindel begleitet. Nach der Angabe AAMights,
der das A'erfahren in Indien bereits in ausgedehntem Alaße an¬
wendet, soll dasselbe ganz ungefährlich sein; der Schutz soll
zehn Tage nacb der Impfung eintreten und ungefähr drei Jahre
andauern. AVeniger günstig sind dagegen die Resultate, welche
Haffkin bei der Bekämpfung der Pest vermittels Impfungen
mit abgetöteten Pestkulturen und Kruse bei der in gleicher
AAMise versuchten prophylaktischen Bekämpfung der bazillären
Ruhr hatte.
Bei allen bisher besprochenen Schutzimpfungsverfahren
wurde die Immunität durch Einverleibung der Krankheitserreger
selbst zu erreichen gesucht. Alittlerweile hat sich aber .auch
die Alöglichkeit ergeben, auf (due andere Art Immunität zu er¬
zeugen. Man hat erkannt, daß die Krankheitserscheinungen bei
den Infektionskrankheite)) nicht auf die bloße Anwesenheit der
pathogenen Mikroorganismen zu beziehen sind, sondern auch a)if
die von ihnen produzierten giftigen Stoffwechselprodukfe
(Toxine). Einzelne dieser Toxine lernte man in den von den
Bakterien selbst abfil liierten Kulturflüssigkeilen direkt nachweisen,
zunächst das Diphtherie- und das Tetanustoxin, welche, Versuchs¬
tieren einverleibt, bei diesen auch dieselben, zum Tode führenden
Krankheitsej'scheinungen hervorzurufen imstande sind, wie die
Einspritzung der betreffenden Bazillen selbst. Behring und
Kitasato gelang es, das Diph I he rie toxin durch Erhitzen
oder auch durch Zusatz von Jodtrichlorid derart abzuschwächen.
daß es Tiere ohne Schaden vertrugen. Nach einer inzwiseben
von Ehrlich entdeckten Methode konnten die beireffenden Tiere
durch allmähliche Steigerung der Giftdosis bald gegen das volle
Toxin selbst unempfindlich gemacht werden. Solche mit Diph-
therietoxin vorbehandelte Tiere hatten also dadurch eine Immuni¬
tät gegenüber dem betreffenden Toxin gewonnen.
Da man seit den Untersuchungen von Lister, Fodor
und Nuttal wußte, daß das AVachstum mehrerer Bakterienarten
durch Blut gehemmt werden kann und da Behring erkannt
halte, daß diese bakterienschädigende Eigenschaft des Blutes nicht
etwa an den Blulkörperchen, sondern am Blutserum hafte, so
unleisuchte der letztgenannte nun auch das Blutserum von gegen
Diphtheiie immunisierten Tieren auf seine bakteriziden Eigen-
sebaften den Diphtheriebazillen gegenüber. Dabei sah er jedoch,
daß solches Immunblut dutchaus nicht imstande war, das Wachs¬
tum der Diphtheriebazillen in vitro zu schädigen. Beim weiteren
AMi'folgen dieser Tatsachen kamen aber Behring und Kitasato
zur Erkenntnis, daß das Blutserum von Tieren, welche mit einem
bestimmten Toxin vorbehandelt waren, imstande sei, dieses Toxin
auch in vitro völlig zu entgiften. Eine an und für sich tödliche
Menge von Toxin kann durch Zusatz einer hinreichenden Alcase
des entsprechenden Immunseiauns vollkommen wirkungslos ge¬
macht werden. Die wirksamen Stoffe, welche man in einem sol¬
chen Serum annehmen muß, werden Antitoxine genannt. Alan
sah, daß diese Stoffe streng spezifisch sind; das Diphtherieanti¬
toxin ist nur imstande, Diphtherietoxin, das Tetanusantitoxin nur
Tetanustoxin zu entgiften. Sein' wichlig und gewissermaßen der
Schlußstein, wenigstens für die praktische Seite der Frage, war
die Entdeckung Behrings, daß man mit einem solchen anti-
toxinhaltigen Serum auch ein anderes Individuum vor der
deletären AAurkung des betreffenden Toxins, bzw. der betreffenden
Infektion schützen kann, wenn man ihm eine genügende Quantität
Antitoxin subkutan, eventuell intravenös beibringt.
Diese Art der Immunisierung ist grundverschieden von allen
voiher besprochenen Immunisierungen. Dort wurden die Krank¬
heitserreger, bzw. das krankmachende ATrus in einem irgendwie
modifizierten Zustand dem zu schützenden Organismus einver¬
leibt und dieser hatte nun einen Reaktionsprozeß dui'chzumachen,
nach dessen Ablauf erst die Immunität eintrat; liier macht die
notwendige Reaktion ein vorbehandeltes Tier (ein Pferd) durch.
Dieses ei'zeugt in seinem Organismus die Schulzstoffe, welche-
dann in bereits fertigem Zustand dem zu schützenden Organis¬
mus einverleibt Averden. Eine solche Immunisierung nennt man
eine passive, zum Unterschied von der vorher besprochenen
aktiven. AAMhrend bei der passiven Immunisierung die
schützende AAdrkung beinahe sofort nach der Injektion des Serums
sich äußert, tritt bei der aktiven Immunisierung der Impfschutz
immer erst nach Ablauf einer geA\dssen Reaktionszeit ein, die
eben zur Bildung der Schutzstoffe nötig ist. Während aber der
durch aktive Immunisierung erreichte Impfschutz lange Zeit an¬
hält, kann die passive Immunisierung immer nur einen recht,
kurz dauernden Schutz bringen, da das einverleibte artfremde
Serum, das der Träger der Schutzstoffe ist, aus dem Organismus
bald ausgeschieden Avird; bei A^erAAmndung artgleicher Seren Avürde
der Schutz Avesentlich länger anhalten. Jede passive Immunität
scliAvindet nach einiger Zeit gänzlich und ohne eine Spur zu
hinterlassen; dagegen bleibt bei der aktiven Immunität auch
dann, Avenn die Schidzstoffe selbst schon wieder geschAvunden
sind, dennoch ein solcher Zustand zurück, daß sie bei neuer¬
lich gegebener Gelegenheit rascher und in größerer Menge Avieder
erzeugt werden können. Es bleibt also laach Ablauf einer aktiv
ei'Avorbenen Immunitäl immer noch ein Zustand von ,, potentieller“
Immunität zurück.
Diese skizzierten Unterschiede zwischen aktiver und passi¬
ver Immunität bedingen es, daß erstere vornehmlich als pro¬
phylaktisches A'erfahren in Betracht kommt, letztere aber ins-
besonders als therapeutisches.
Die AMi'Avendung eines Immunserums zu HeilzAvecken setzt
aber die genaue Kenntnis von seinem Antitoxingehalt voraus.
Ueher die Prüfung desselben kann ich an dieser Stelle nur
so viel sagen, daß er nur durch den Tierversuch festgestellt
Averden kann, indem man bestimmt, Avieviel von dem zu prüfenden
antitoxinlialtigen Serum einer Dii>hthei'iebouillon von genau be¬
kannter Giftigkeit zugeselzt Averden muß, bis diese soAveit entgiftet
ist, daß sie ein MeerscliAAminchen unter genau festgelegten Ver¬
suchsbedingungen eben noch zu töten imstande ist. Der zAvischen
Toxin und Antitoxin sich abspielende AMrgang ist nach Ehrlich
als eine chemische Bindung aufzufassen; beide Subsfanzen bilden
nach ihrer Vereinigung eine völlig neutrale, physiologisch in¬
differente Substanz. Ehrlich, der die Verhältnisse speziell beim
Diphtheiiegift eingehend untersucht hat, Amrdanken aaTi die Kennt-
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
nis mancher bedeutungsvoller Tatsachen. Die Beobachtung, daß
die Giftigkeit einer Diphtheriebouillon hoi längerem Stehen be¬
deutend abnimmt, ohne daß aber gleichzeitig das Bindungsver¬
mögen dieser Diphtheriebouillon für das Antitoxin abnimmt, führte
Ehrlich zur Annahme, daß das Giftmolekül verschiedene Atom¬
komplexe besitzen müsse. An dem einen ist die toxische Wirkung
geknüpft, an dem anderen die antitoxinbindende. Der erstere
Atomkomplex, den Ehrlich ,,toxophore Gruppe“ nennt, geht
hei längerem Aufbewahren einer Toxinlösung allmählich zugrunde,
während die andere, die ,,haptophore Gruppe“, bestehen
bleibt. Diese resistentere Gruppe im Toxinmolekül nennt Ehr¬
lich „Toxoid“; es ist ein unwirksam gewordener Abkömmling
des Toxins.
Die Vorstellung, daß ein Toxin nur durch Vermittlung be¬
sonderer haptophorer Gruppen mit seinem Antitoxin in Verbin¬
dung trete, führte Ehrlich zur Annahme, daß eine Organzellc
auch nur dann von einem bestimmten Toxin geschädigt werden
könne, wenn ihr Zellprotoplasma gewisse Atomgruppen besitzt,
welche in die baptophore Gruppe des Toxins einpassen. Erst
durch den Besitz solcher zur Aufnahme der hapto-
phoren Gruppe geeigneter ,,Re z e p t o r e n“ wird eine
Zelle für das betreffende Gift empfänglich. Ehrlich
stellt daher die Theorie auf, daß das- Zellprotoplasma außer seinem
physiologisch charakterisierten Leistungskern noch andere Atom¬
gruppen besitzt, die er Rezeptoren oder ,,S ei t e n k e t te n“ nennt;
diese seien unter normalen Verhältnissen insbesonders für die
Bindung, Verdauung und Assimilation von Nährstoffmolekülen
bestimmt, können sich aber gegebenenfalls auch mit einem Toxin
verankern, wodurch für die Zelle eine krankhafte Störung jcsul-
tiert. Die Beziehungen des Toxins zu seinem Antitoxin, sowie
Fig. 1.
a) Toxin, b) Antitoxin, 1. Zelle,
a) toxophore Gruppe, 2. Rezeptor,
ß) baptophore Gruppe. 3. Toxin.
zu einer giftempfindlichen Zelle sind in Fig. 1 nach der von
Ehrlich hiefür eingeführten Art symbolisch zum Ausdruck
gebracht.
Durch diese Ehrlichsche ,, Seitenkettentheorie“, so
vielumstritten sie auch ist, wurden mit einem Schlage viele
feinere Vorgänge im Zelleben unserem Verständnis näbergerückt,
viele Rätsel der Immunitätsforscbung wurden durch sie in ver¬
blüffend einfacher Weise gelöst, wie wir noch heute zu sehen Ge¬
legenheit haben werden, ja so sehr hat sie uns alle durchdrungen,
daß wir heute in Immunitätsfragen fast unbewußt auf Grundlage
Ehrlichscher Vorstellungen denken.
Kommt eine Zelle, deren Rezeptoren sie für die Einwirkung
eines Toxins empfänglich machten, mit dem Leben davon, so
wird sie ihre durch die Erkrankung chemisch veränderten Plasma -
teilchen, das sind die befallenen Rezeptoren, eliminieren und
durch neue ersetzen. Nach einem von Weigert begründeten
biologischen Gesetze erfolgt unter dem Reize des Giftes sogar
eine Ueberregeneration von neuen derartigen Rezeptoren; die
überschüssig gebildeten werden aber von der Zelle abgestoßen
und gelangen in den Kreislauf. Im zirkulierenden Blute sind nun
diese Rezeptoren imstande, jenes Toxin, dessen baptophore Gruppe
sich mit ihnen verankern kann, abzufangen und selbes dadurch
von den giftempfindUchen Organzellen fernzuhalten. Da aber
nur jenes Toxin, welches ursprünglich die Schädigung der Zelle
verursacht hatte, die passende haptophore Gruppe besitzt, so er¬
klärt sich hiedurch ganz ungezwungen die Spezifität des im
Immunserum vorhandenen Antitoxins; dieses ist ja nach Ehr¬
lichs Theorie identisch mit den abgestoßenen Zellrezeptoren.
Außer gegen Diphtherie gelang es auch noch, gegen T etanus
ein antitoxisches Heilseram darzustellen, welches das Tetanus¬
toxin in vitro völlig zu entgiften imstande ist. Die praktischen
Erfolge bei der Anwendung dieses Serums steben jedoch hinter
denen bei Dipbtlierie weit zurück, da man eben mit der Anwen¬
dung meist schon zu spät kommt. Nach Meyer und Ransom
erfolgt die Resorption des Tetanusgiftes von der infizierten Wunde
aus auf der Bahn der 'motorischen Nerven u. zw. mit erstaun¬
licher Schnelligkeit; das Tetanusantitoxin hingegen wird nur durch
Vermittlung der Lymphhahnen in das Blut aufgenoinmen und erst
mit diesem dem Zentralnervensystem zugeführt. Es wurden dalier
für das Tetanusanlitoxin verschiedene Anwendungsarten, versucht
mit der Absicht, einen rascheren Eintritt dei- Wirkung zu er¬
zwingen. Der praktische Wmrt des Tetanusserums liegt gegen¬
wärtig nur in seiner prophylaktischen Anwendung. Insbesonders
bei Pferden, die gegen Tetanus ungeheuer empfindlich sind, be¬
richtet No card in dieser Beziehung über sehr schöne Erfolge.
Das Tetanusgift hat. für die Immunitätsforschung eine be¬
sondere Bedeutung dadurch erlangt, daß sein Studium mannig¬
fache theoretische Erkenntnisse zutage gefördert hat. Uns soll
für heute nur das eine interessieren, daß die Ehrlichsche'
Seitenkettentheorie in den interessanten Bindungsverhältnissen
dieses Giftes eine schöne experimentelle Stütze fand. Da die
klinischen Symptome des Tetanus alle auf das Zentralnerven-
sysleni zu beziehen sind, so ist anzunehmen, daß das Tetanus-
loxin eine besondere Affinität zu den Zellen des Zentralnerven¬
systems besitzt. Wie Wassermann zuerst zeigte, ist nun eine
Hirn- oder Bückenmarksemulsion tatsächlich imstande, wenn sie
einer tetanusgifthaltigen Bouillon zugesetzt wird, dieser das Gift
zu entreißen und dadurch vollständig zu entgiften. yVndere Or¬
gane, selbst telanusempfindlicher Tiere, besitzen diese entgiftende
Kraft aber nicht. Nach Ehrlich gesprochen, besitzen die Zellen
des Zentralnervensystems Rezeptoren, welche in die haptophore
Gruppe des Tetanusgiftes einpassen. Dieselben Rezeptoroi sind
aber auch im Antitetanusserum enthalten, welches ja (üner Te¬
tanusgiftlösung beigemischt, diese ebenso entgiftet wie ein Hirnbrei.
In gleicher AVeise, wie man Versuchstiere gegen die Toxine
der Diphtherie und des Tetanus immunisieren kann, gelingt es
auch, gegen einige pflanzliche Eiweiß gifte Immunität zu
erzeugen. Ehrlich immunisierte Kaninchen gegenüber Rizin,
jenem Blutgift, das im Preßrückstand der Rizinusbohne enthalten
ist, dann gegen Abriii, dem Gifte der Jeci'uirity- oder Patemoster-
bohne Abrus precatoria und gegen einige andere Pflanzengifte.
Das Blutserum solcher immunisierter Tiere schützt andere Tiere
vor der tödlichen WTrkung der betreffenden Gifte. Dabei ist, wie
Römer zeigte, das Antiabrinserum imstande, auch bei konjunkti-
valer Einträuflung die durch das .leffuirityinfus bervorgerufene
Augenentzündung zu mildern, wodurch die Augenärzte in den
Stand gesetzt sind, die Jequiritytherapie des trachomatösen Pannus
nach Bedarf einzurichten. Auch hier ist die AVirkung eines jeden
Immunserums streng spezifisch : Ahrinserum wirkt nur auf Abrin,
Rizinserum nur auf Rizin. Wie man sich ausdrückt, hat ein Anti¬
toxin zu nichts anderem in der W^'elt eine Beziehung
als zum betreffenden Toxin; Toxin und Antitoxin
müssen zueinander passen wie ein Schlüssel zu
seinem zugehörigen Schlosse.
Hieran reiht sich die Serumbehandlung des Heufiebers.
Die Pollen der Gramineenblüten enthalten ein toxischesi Protein,
welches bei dazu disponierten Personen einen heftigen Augen-
und Nasenkatarrh, das sogenannte Heufieher auslöst. Weich¬
hardt fand im Blutserum von Pflanzenfressern zur Zeit der
Gramineenblüte Scbiitzstoffe gegen das Heufiebergift; dieses
Serum — Graminol genannt — soll bei Heufieberkranken eine
gewisse Wirkung haben. Ein anderes, gegenwärtig öfter in Ver¬
wendung gezogenes Heufieberserum ist das ,,Pollantin“, welches
Dunbar durch Vorbehandlung von Pferden mit dem Pollengift
herstellt. Dieses wird in die Nase oder in das Auge eingeträufelt
oder auch im gepulverten Zustand aufgeschnupft. Der dadurch
bedingte Schutz vor den gefürchteten Heufieberanfällen dauert
allerdings nur etwa einen Tag.
Auch gegen tierische Ei weiß gifte lernte man durch
zuerst schwache und dann immer stärkere Giftdosen allmäh¬
lich immunisieren. Das Blutserum der vorbehandelten Tiere ent¬
hält dann immer das hetreffende Antitoxin. So bereitete Cal¬
mette ein S c h 1 a 11 g e n gi f t se ru m, das gegen den Biß der
verschiedensten Giftschlangen verwendbar is(, Sachs stellte das
Gift und Gegengift der Kreuzspinne dar.
Antitoxinhaltige Seren wurden schließlich noch hergestellt
gegen die Wurstvergiftung (Botulismus) und gegen die
bazilläre Ruhr. Das von Kemp n er durch Vorbehandlung
von Ziegen mit filtrierten Bouillonkulturen des Bacillus bolulinus
gewonnene Serum wurde beim Menschen allerdings kaum noch
praktisch verwertet; üher das von Pal tauf hergestellte .anti-
toxische Ruhrheilserum liegen jedoch schon jetzt sehr günstige
Erfahrungen vor.
Nach den glänzenden Erfolgen, welche die Serumtherapie
der Diphtherie seit zirka zehn Jahren aufweist, soll es uns eigent¬
lich wundei'nelnnen, daß die Reihe der Krankheiten, gegen die
wir eine wirksame Serumbehandlung besitzen, eine noch so kleine
ist. ln vielen Fällen gehen eben die als Blutspender herange-
16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
zogeneii Tiere zugrunde, bevor es bei ihnen zur Bildung einer
,,Gnindimmunität“ gekommen ist; in anderen Fällen wieder ist
die ausgelöste Antitoxinbildung eine so geringe, daß das gewonnene
Senim zu wenig Heilkraft besitzt, um greifbare Erfolge zu zeigen.
So günstig wie bei der Diphtherie liegen eben die Verhältnisse
bezüglich einer raschen und ausgiebigen Produktion von Anti¬
toxin durch den Pferdeorganismus nicht leicht wieder. Dennoch
brachten uns die Bemühungen, für verschiedene Infektionskrank¬
heiten wirksame Seren darzustellen, wenigstens in anderer Bich-
lung schon bis jetzt einige, auch praktisch wichtige Ergebnisse.
Pfeiffer machte die Beobachtung, daß jene Seren, welche
bei Vorbehandlung von Tieren mit abgetöteten Bakterienleibern
gewonnen werden, nicht antitoxisch, sondern vielmehr bakteri¬
zid, d. h. bakterientötend wirken. Ein solches Serum ist näm¬
lich imstande, wenn es zugleich mit virulenter Kultur in die
Bauchhöhle eines Meerschweinchens eingespritzt wird, die be¬
treffenden Bakterien zu raschem, körnigem Zerfall zu bringen,
sie gewissermaßen aufzulösen. ,,Bakteriolysine‘' nennt
Pfeiffer die in einem solchen bakteriziden Serum enthaltenen
spezifischen Antikörper. Versuchstiere, denen man z. B. eine
vimlente Cholerakultur zugleich mit einem bakteriziden Cholera¬
immunserum einspritzt, gehen nicht zugrunde. In gleicher Weise
erliegen Tiere, welche durch Injektionen von abgetöteten Cholera¬
bazillenleibern genügend immunisiert wurden, nicht einer nach-
herigen Infektion mit virulenter Cholerakultur. Da die Bakterio-
lysine in ihrer Wirkung streng spezifisch sind, also ein bakterizides
Choleraserum nur Choleravibrionen, ein Typhusserum nur Ty¬
phusbazillen aufzulösen imstande ist usw., so wird der Eintritt
einer Bakteriolyse zur exakten Bakteriendiagnose oft herange¬
zogen; dies ist der sogenannte Pfeiffersche Versuch.
Die Bakteriolysine auch für die Zwecke der Therapie nutz¬
bar zu machen, dahin ging begreiflicherweise das nächste Be¬
streben. Man konnte ja hoffen, durch Einverleibung eines bak¬
teriziden Semms die in einem Organismus vorhandenen lebenden
Krankheitserreger abzutöten und so dem Organismus auf dem
direktesten AVege Schutz vor denselben — also eine passive
Immunität — zu verleihen. Daß sich diese Hoffnung nicht ohne
weiteres erfüllte, hat seinen Grund zunächst in der eigentüm¬
lichen Struktur der Bakteriolysine. Pfeiffer hatte ursprünglich
angenommen, daß die bakteriziden Seren ihre Wirksamkeit nur
im Tierkörper entfalten können, da er im Reagenzglas keine wesent¬
liche bakterien tötende Kraft nachweisen konnte. Da zeigten
Metschnikoff und Bordet, daß ein bakterizides Immunserum
auch außerhalb eines Tierköi-pers, in vitro, dadurch wirksam ge¬
macht werden kann, daß man ihm ein wenig frisches, gewöhn¬
liches Blutserum (Normalserum) zusetzt, das an und für sich
gar nicht bakteiiolytisch wirkt. Bald erkannte man, daß ein
Immunserum auch in vitro bakterienlösende Kraft äußert, so¬
bald es ganz frisch gewonnen ist und daß es erst durch längeres
Stehen seine Wirksamkeit verliert. Bordet zeigte ferner, daß
man einem frischen Immunserum durch Erhitzen auf 60° seine
bakterizide Kraft nehmen kann; auch in diesem Falle wird das
unwirksam gemachte Serum durch Zusatz einer geringen Menge
Nonnalserums wieder vollständig wirksam. Es zeigte sich also,
daß in einem bakteriziden Serum zwei verschiedene Substanzen
vorhanden sein müssen, eine durch längeres Stehen oder durch
Wärme zerstörbare und eine haltbare, wärmebeständige Sub¬
stanz. Erst durch das Zusammenwirken beider Substanzen kommt
die bakteriolytische Wirkung zustande. Die Bakteriolysine sind,
wie man sich ausdrückt, ,,komplexe“ Substanzen.
Da die AVirkungsweise solcher komplexer Substanzen, sowie
die Eigenschaften ihrer beiden Komponenten ursprünglich bei
den Hämolysinen studiert wurden, da diese für die experimen¬
telle Untersuchung viel leichter zugänglich sind als die Bakterio¬
lysine, so haben auch wir uns ein wenig mit den Hämolysinen
zu befassen. Spritzen wir einem Tiere, z. B. einem Kaninchen,
mehrere Kubikzentimeter defibriniertes Blut einer anderen Tier¬
gattung, z. B. eines Meerschweinchens, unter die Haut, oder
besser intraperitoneal ein, so hat nach Ablauf mehrerer Tage das
Semni unseres vorbehandelten Kaninchens die Fähigkeit ge¬
wonnen, die roten Blutkörperchen des Meerschweinchens aufzu¬
lösen. Um immer gleiche A^ersuchsbedingungen zu haben, pflegt
man den Versuch in der AVeise anzustellen, daß man in eine
Anzahl kleiner Eprouvetten je eine gemessene, gleiche Quantität
von einer öligen Aufschwemmung defibrinierten Meer¬
schweinchenblutes in isotonischer Kochsalzlösung gibt. Von dem
Serum des vorbehandelten Kaninchens bereitet man sich mehrere
Verdünnungen (20 — 40— SOfach usw.) vor, setzt eine gleiche Quan¬
tität von jeder in die mit der Meerschweinchenblutaufschwemmung
beschickten Eprouvetten und stellt diese alsdann in den Brut¬
schrank. In ein Kontrollröhrchen gibt man Blutaufschvvemmung
ohne Kaninchenserum, in ein anderes kann inan Blutauf¬
schwemmung mit Normalserum versetzt geben. Schon nach Ab¬
lauf einer Viertel- oder einer halben Stunde kann man sehen, daß
in denjenigen Eprouvetten, in die wir Immunserum zugesetzt
hatten, die Blutaufschwemmung vollkommen durchsichtig (Lack¬
farben) geworden war, während sie in den beiden Kontrollröhrchen
undurchsichtig geblieben ist. Diesen Vorgang nennt man Hämo¬
lyse, jene Substanzen des Immunserums, welche die Lösung
der roten Blutkörperchen zustandebringen, Hämolysine (oder auch
Hämotoxine). Die gleiche blutlösende Kraft konnte man im Serum
jeder beliebigen Tierart nachweisen, der man vorher die Blut¬
körperchen einer anderen Tierspezies einverleibt hat. Dabei sind
die entstehenden Hämolysine immer streng spezifisch, d. h. sie
lösen nur die Blutkörperchen jener Tierart, deren Blut zur Vor¬
behandlung gedient hatte.
In gleicher AVeise wie die bakteriolytischen werden nach
Versuchen Bordets auch die hämolytischen Sera durch Er¬
wärmen auf 60° oder durch längere Aufbewahrung unwirksam,
können aber durch Zusatz einer geringen Menge frischen Normal¬
serums wieder hämolytisch wirksam gemacht werden. Man nennt
diesen Vorgang: Inaktivieren und Reaktivieren eines Immun¬
serums. Den Ausdruck „Irnmunisieren“ gebrauchen wir, nebenbei
bemerkt, jetzt nicht nur für das Vorbehandeln mit Bakterien,
Bakterienprodukten und Eiweißgiften, sondern auch für die Vor¬
behandlung mit jeder beliebigen, eine Antikörperbildung aus¬
lösenden Substanz, also auch für die Vorbehandlung mit roten
Blutkörperchen.
Die Hämolyse beruht auf dem Zusammenwirken von zwei
Substanzen, einer, welche die Erwärmung auf 60° aushält und
welche nur in dem durch Vorbehandlung gewonnenen Serum ent¬
halten ist, und einer Substanz, welche bei der Erwärmung auf
60° zugrundegeht und die auch bereits in dem Seimn des* normalen,
nicht vorbehandelten Tieres sich befindet. Nun kannte man schon
von früher her, hauptsächlich durch die Arbeiten Buchners,
im Normalserum gewisse aktive Substanzen, welche befähigt sind,
Bakterien und fremdartige Zellen zu zerstören. Diese Schutzstoffe
nennt Buchner Alexine; sie sind thermolabile, fermentähnlich
wirkende Köiper. Bordet behielt die Bezeichnung Alexine für
jenen nicht hitzebeständigen Körijer des Serums bei, der bei der
Hämolyse mit in Tätigkeit tritt; die zweite zur Hämolyse erforder¬
liche Substanz nennt er ,,Sub stance sensibilisa trice“ ;
sie macht das Blutkörperchen erst für die EiiiAvirkung des Alexins
empfindlich.
Indem Ehrlich seine Seitenkettentheorie auf den Vorgang
der Hämolyse anzuwenden suchte, mußte er sich die Frage vor¬
legen : AVelche von den beiden Komponenten des Hämolysins
tritt mit den Blutkörperchen in direkte Beziehung, welche Kom¬
ponente kann sich mit ihm verankern? Denn eine Verankerung
der wirksamen Substanz mittels passender haptophorer Gruppen
an geeignete Rezeptoren des Blutkörperchens mußte Ehrlich
auf Grund seiner Vorstellungen über das Zusüindekommen von
Giftwirkungen annelimen. Auf die darüber angestellten klassischen
Versuche von Ehrlich und Morgenroth, kann ich leider an
dieser Stelle nicht näher eingehen, kann es aber nicht unterlassen.
Ihnen die kleine Schrift von AA^ assermann: ,, Hämolysine,
Zytotoxine und Präzipitine“,*) in der diese Versuche kurz und
a) Zelle; b) Immunkörper (Ambozeptor) mit a) komplementophiler und
ß) — zytophiler Gruppe; c) Komplement (Alexin).
klar dargestellt sind, angelegentHch zum Studium zu empfehlen.
In einwandfreier AVeise zeigten uns Ehrlich und Morgenroth,
daß sich das rote Blutkörperchen immer nur mit dem hitze¬
beständigen Anteil des Immunserums verbinde, nie aber mit dem
Alexin. Dieses tritt immer erst durch Vermittlung des hitze-
beständigen Körpers mit den Blutkörperchen in Beziehung. Ehr¬
lich nennt den hitzebeständigen Körper, die Substance sensibili-
satrice Bordets, Immunkörper, weil nur er beim Vorgänge
der Immunisieiung gebildet, bzw. einseitig vermehrt wird und
*) Aus der Volkmannschen Sammlung klinischer Vorträge, Heft 331 .
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
1/
er auch der ausschließliche Träger der Spezifität eines Immun-
semms ist. Wegen seiner Fähigkeit, sich nach zwei Seiten hin
zu verbinden, nämlich mit dem Rezeptor der Zelle und mit dem
Alexin, nennt Ehrlich diesen Körper auch Ambozeptor. Für
das Alexin führte Ehrlich die Bezeichnung: Komplemenl.
(Ergänzungskörper) ein. Die nebenstehende symbolische Dar¬
stellung wird diese Verhältnisse erläutern (Fig. 2).
Weitere sehr fein angelegte Versuche drängten Ehrlich
zur Annahme, daß auch schon im normalen Blute nicht ein einziges
Komplement vorhanden sei, sondern eine ganze Reihe von Komple¬
menten, die sich durch mehr oder weniger differente, haptophore
Gruppen unterscheiden. Diese Erkenntnis wurde bei der Ueber-
tragimg der bei den hämolytischen Seren gewonnenen Anschau¬
ungen auf die bakteriziden Sera ebenso praktisch wichtig, wie
jene andere, daß sich nämlich jeder Immunkörper wieder aus
einer Reihe von ,, Partialimmunkörpern“ zusammensetzt.
Wir keliren nun zü den Bakteriolysinen, zurück. Wegen
der besprochenen Labilität ihrer Komplemente führen wir bei
der Injektion eines bakteriziden Serums immer nur die eine, zur
Abtötung der Bakterien notwendige Komponente, nämlich den Im¬
munkörper zu. Man müßte daher bei der Anwendung von solchen
Seren immer annehmen, daß der Immunkörper das notwendige
Komplement in dem zu heilenden Organismus schon fertig vor-
finde. Daran sind eben viele Versuche bei der therapeutischen
Verwendung der bakteriziden Seren bisher gescheitert. Um die
Wahrscheinlichkeit zu vergrößern, daß ein eingeführter Immun¬
körper im Blute des zu behandelnden Organismus ein passendes
Komplement vorfinde, geht man jetzt darauf aus, Immunkörper
mit möglichst vielen und verschiedenen komplementophilen
Gruppen zu erzeugen. Dies kann man durch Verwendung von
Serumarten, die von verschiedenen Tierspezies gewonnen und dann
vermischt werden, bis zu einem gewissen Grade schon heute er¬
reichen. Weiters ist es notwendig zu beachten, daß das Zellproto¬
plasma mancher Bakterien keine biologisch einheitliche Substanz
ist, sondern sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt, von
denen jede einen eigenen Immunkörper auslöst. Da die einzelnen
Komponenten bei den verschiedenen Stämmen vieler Bakterien
schwanken, so kann ein mit nur einem einzigen Bakterienstamme
erzeugtes Immunserum nicht allgemein verwendbar sein. Es ist
vielmehr notwendig, die blutspendenden Tiere mit einer möglichst
großen Zahl der verschiedensten Bakterienstämme zu immuni¬
sieren, um so ein „p o 1 y v a 1 e n te s“ Serum zu gewinnen. Schlie߬
lich ist zu berücksichtigen, daß bei den bakteriziden Seren bisher
die erforderlichen hohen Konzentrationen noch nicht eiTeiCht
werden konnten, die ja notwendig sind, um in einer geringen
Quantität Serums möglichst viel bakterizider Substanz einzu¬
verleiben.
Von den bisher praktisch versuchten bakteriziden Seren ist
insbe.sondere das Streptokokkenserum oft genannt. M ar¬
me re k und Aronson stellten schon vor längerer Zeit ein
solches Serum dar, wobei sie von der Annahme ausgingen, daß
alle Streptokokkenstämme untereinander identisch seien. Tavel,
ebenso Moser und Menzer verwendeten dagegen zur Darstellung
ihrer Streptokokkenseren möglichst verschiedene Streptokokken¬
stämme, was jedenfalls einen Fortschritt gegenüber Marmorek
bedeutet. Solches Serum wird häufig mit Erfolg angewendet bei
Puerperalfieber, Pyämie, Scharlach, Erysipel, aku¬
tem und chronischem Gelenksrheumatismus und
Chorea.
Das von Römer dargestellte Pneumokokkenserum,
sowie die gegen Typhus, Cholera, Ruhr und Pest ver¬
suchten bakteriziden Seren ergaben bisher noch recht zweifel¬
hafte Erfolge.
In der Tiermedizin hat sich dagegen das von So bernheim
dargestellte Milzbrandserum bereits bewährt, insbesonders
wenn es zugleich mit der Pasteurschen aktiven Immunisierang
kombiniert angewendet wurde. Solche kombinierte oder Si¬
multanimmunisierungen, welche die Vorteile der aktiven
mit denen der passiven Immunisierung zu vereinen suchen, wurden
unter anderem auch beim Schweinerotlauf mit Erfolg an¬
gewendet (Lorenz).
Bei der Verwendung aller bakteriziden IminUnseben ist jedoch
stets ein weiterer, sehr wichtiger Umstand zu berücksichtigen;
wenn unter dem Einflüsse des Immunserums die im Organismus
vorhandenen Bakterien aufgelöst werden, so werden dadurch die
im Innern der Bakterienleiber enthaltenen (intrazellulären) Zell¬
gifte frei, welche alsdami für den Organismus einen größeren
Schaden bedingen kömien, als durch die Vernichtung der Bak¬
terien selbst genützt wurde. Diese sogenaimten Endotoxine,
welche immer erst durch das Absterben der Bakterienzelle frei
werden, sind von den seit längerer Zeit bekannten Toxinen streng
zu trennen, welch letztere die durch den Lebensprozeß der Bak¬
terien gebildeten Gifte darstellen. Es sind von diesem Gesichts¬
punkte bakterizide Seren — wenigstens in ihrer gegenwärtigen
Form — überhaupt nur dann zu empfehlen, wenn die Bakterien¬
menge eine geringe ist, so daß durch deren Abtötung keine zu
große Giftmenge in Freiheit gesetzt wird.
Die therapeutische Seite der Immunitätsforschung hätten wir
hiemit erschöpft; es bleiben uns aber noch einige weitere und
zwar sehr interessante Immunitätsphänomene zu besprechen, zu¬
nächst die von Gruber und Durham entdeckte Agglu¬
tination. Das Wesen dieser Erscheinung ist kurz folgendes;
Wenn man ein Tier mit einer bestimmten Bakterienart' immunisiert
(u. zw. mit den Bakterien selbst, nicht etwa mit den Toxinen
derselben), so gewinnt das Seium dieses Tieres außer der bereits
besprochenen bakteriolytischen auch noch die weitere Fähig¬
keit, Bakterien der betreffenden Art, welche in gleichmäßiger
homogener Verteilung in Kochsalzlösung aufgeschwemmt sind,
zur Zusammenballung und Verklebung zu bringen. War die Im¬
munisierung des serumgebenden Tieres genügend hoch getrieben,
so tritt dieses Agglutinationsphänomen noch bei. mehrtausend¬
facher Verdünnung des Serums ein. Daß die Agglutination zur
Bestimmung und Identifizierung verscldedener Bakterienarten
gegenwärtig ausgedehnte Verwendung findet und den bakterio¬
lytischen Meerschweinchen versuch nach Pfeiffer meist zu er¬
setzen imstande ist, dürfte wohl ebenso bekannt sein, Avie die
Verwendbarkeit des Agglutinationsphänomens als Unterstützungs¬
mittel der klinischen Typhusdiagnose. Der Gehalt des Blutserums
eines Typhuskranken oder TyphusrekoiiAmleszenten an Agglutinin
ist natürlich nie ein so hoher, als der eines künstlich hoch immuni¬
sierten Tieres. Das Serum der Typhuskranken agglutiniert Typhus¬
bazillen meist nur in 50- bis etwa 200facher Verdünnung. Agglu-
I inine sind streng spezifische Körper; daß ein Immunserum nicht
nur gegenüber derjenigen Bakteiienart, die zur Vorbehaullung
gedient hatte, agglutinierende Eigenschaften zeigt, sondern aind.
gegenüber verwandten Bakterienarten, stört die Richtigkeit dieses
Satzes keineswegs, denn die Unterschiede in den Verdünnungs¬
graden, bei welchen ein und dasselbe Serum einerseits die zuge¬
hörige Bazillenart, anderseits verwandte Arten zu agglutinieren
imstande ist, sind stets sehr in die Augen springend und voll¬
kommen konstant. Mit der eigentlichen Immunität haben die
Agglutinine nichts zu tun ; agglutinierte Bazillen bleiben zum
Beispiel vollkommen wachstumsfähig.
Wir haben früher gesehen, daß der tierische Organismus
auf eine Einspritzung von Bakterien mit der Bildung von Bakterio¬
lysinen antwortet, auf eine Einspritzung von Blutkörperchen mit
der Bildung von Hämolysinen. Es AAOirde nun weiterhin beob¬
achtet, daß darin ein allgemein gültiges biologisches
Gesetz zum Ausdruck kommt, welches besagt, daß durch die
Einspritzung von tierischen Zellen die Bildung von Antikörpern
ausgelöst wird, die sich im Blutserum anliäufen und bezüglich
ihrer Entstehung, ihres Baues und ihrer Wirkungsweise vollständig
den Hämolysinen entsprechen. Alan nennt diese zelltötenden
Antikörper Zytotoxine. So erhält man durch Vorbehandeln
eines Tieres mit lebenden Spermatozoen ein Serum, welches im
Reagenzglase sehr rasch die Spermatozoen der betreffenden Tier¬
art lähmt und tötet (Spermatoxin), durch Immunisieren mit
Flimmerepithelien ein entsprechend wirkendes Antiepithelserum,
durch Immunisierung mit Knochenmarksemnlsion ein weiße Blut¬
körperchen auflösendes Serum (Leukotoxin), durch Nierenemulsion
ein Serum, das anderen Tieren eingespritzt, bei diesen Albuminurie
erzeugt (Nephrotoxin), durch Leberemulsion wiederum ein Serum,
das bei Versuchstieren die Erscheinungen der Leberinsuffizienz
hervorzurufen imstande ist (Hepatotoxin), durch Zentralnerven-
systemsubstanz ein Serum, das bei intrazerebraler Applikation
Kränrpfe, Lähmungen und raschen Tod herbeiführt (Neurotoxin).
Nach diesen interessanten Versnchsergebnissen, die uns die
Immunisierung mit geformten Körperelementerr, mit zelligem Ma¬
terial gebracht hatte, wurde mm durch Bordet gezeigt, daß
man auch durch Vorbehandeln mit nicht geformten Substanzen
die Bildung von Antikörpern mit ganz eigenartiger Wirkung aus-
lösen kann. Spritzt man einem Tiere BluLseium einer anderen
Tierspezies ein, so gewinnt das Blutserum des vorbehandelten
Tieres die Eigenschaft, daß es im Reagenzglase mit jenem Blut¬
serum, das zur Vorbehandlung verwendet wurde, nach kurzer
Zeit einen Niederschlag gibt. In ähirlicher Weise entsteht
durch Injektion von Älilch in dem Serum des behandelten Tieres
ein Stoff, welcher das Kasein der Alilch derselben Tierspezies
zum Ausfallen bringt. AllgcMnein ausgedrückt, karm man sagen ;
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. l
-8
Wenn man einem Tiere gelöste Ei wei ß sn b s tan zen einer
anderen Tierart subkutan, eventuell intraperitoiieal oder intra¬
venös — nur nicht auf dem Wege des Darmapparates, sondern
„parenteral“ — einverleibt, so löst die Einführung dieses körper¬
fremden Eiweißes in dem vorbehandelten Organismus eine Reak¬
tion aus, die sich in der Bildung eines neuen Stoffes im Blutserum
äußert, der beim Zumischen zur ursprünglichen Eiweißlösung
eine Ausfällung in derselben veranlaßt. Diesen Stoff nennt man
cm Präzipitin oder Koagulin. Da diese Stoffe in der vorher
angedeuteten Richtung streng spezifisch sind, so wurde ihr Auf¬
treten von Uhlenhuth zur Feststellung der Provenienz von
Blutflecken verwertet. Da meist die Frage zu entscheiden ist,
ob ein irgendwo angetrockneter Blutfleck von Menschenblut her¬
rührt oder nicht, ist es nötig, ein Kaninchen mit menschlichem
Blutserum zu immunisieren. Der fragliche Blutfleck wird in phy¬
siologischer Kochsalzlösung aufgeweicht, zur filtrierten Flüssig¬
keit wird etwas von dem Serum des vorbehandelten Kaninchens
zugesetzt. Entsteht nach halbstündigem Aufenthalte der anee-
setzten Prol)e im Brutschränke ein Niederschlag, so handelt es sich
um menschliches Blut. Die Methode hat sich in der gerichtsärzt¬
lichen Praxis schon wiederholt bewährt. Ausdrücklich bemerken
muß ich, daß solches präzipitinhaltiges Serum aber nicht allein
mit dem betreffenden Blutserum Niederschläge gibt, sondern auch
mit allen anderen eiweißhaltigen Flüssigkeiten der zur Vorbe¬
handlung verwendeten Tierart, so mit Sperma, mit Milch, mit
Auszügen der verschiedenen Organe usw. Die Methode ist daher
eigentlich eine biologische Eiweißdifferenzierungsmethode. Ob es
sich in einem bestimmten Falle überhaupt um Blut handelt, muß
daher bereits vor Anstellung der Präzipitinreaktion auf irgendeine
Art festgeslellt worden sein. Das Alter des Blutfleckes hat jedoch
gar keinen Einfluß auf die Verwertbarkeit der Reaktion; auch an
jahrelang getrockneten Organen ließ, sich ihre Flerkunft mit hülfe
spezifischer, präzipitierender Seren bestimmen. J. Meyer erhielt
eine Präzipitinreaktion sogar mit dem wässerigen Extrakt von
^Muskeln ägyptischer Mumien ! In ähnlicher Weise wie bei den
Agglutininen die Spezifität einigen Abbruch dadurch zu erleiden
scheint, daß auch verwandte Bakterienarten agglutiniert werden,
ebenso ist die bei den Präzipitinen vorhandene, auf die Tierart
gerichtete Spezifität in der Weise eingeschränkt, daß ein präzi-
pitierendes Serum nicht nur mit Eiweißilösungen der zur Vor¬
behandlung verwendeten Tierart, sondern auch mit solchen von
verwandten Tierarten Niederschläge ergibt; doch tritt die Reaktion
in der direkt zugehörigen Eiweißilösung stets viel intensiver und
rascher ein als in der des verwandten Tieres. Besonders inter¬
essant ist in dieser Beziehung die gemeinschaftliche Reaktion
von Menschen- und Affenserum, die Wassermann zum ersten
Male nachgewiesen hat.
Ich habe versucht, in knappen Umrissen einiges aus der
Innnunitätslehre darzustellen. Manches dürften Sie, meine Herren,
dabei vermißt haben, z. B. die bereits von verschiedenen Gesichts¬
punkten aus versuchte Immunisierung gegen Tuberkulose,
ferner die gewiß wichtige Lehre Metschnikoffsi von der bak¬
terienfressenden Tätigkeit der weißen Blutzellen, der sogenannten
Phagozytose, welcher gerade in neuerer Zeit von deutschen
Immunitätsforschern wieder mehr Beachtung geschenkt wird; be¬
zieht sich doch eine ganze Reihe von noch mehr oder weniger
hypothetischen Stoffen, die in bakteriziden Seren angenommen
wurde, wie die Aggressine, Stimuline, Opsonine, die bakteriotropen
Substanzen etc. auf die Beeinflussung des Vorgangs der Phago¬
zytose! Der Zweck meiner kurzen Ausführungen konnte es gar
nicht sein, auf Details oder gar auf theoretische Streitfragen ein¬
zugehen; ich bezweckte vielmehr neben einer Darstellung der
zurzeit geübten rmmunisiemngsmethoden und in möglichstem
Zusammenhänge damit. Ihnen klarzulegen, wieso durch das
Studium der Immuni tä ts v e rhäl tni s s e eine Reihe von
interessanten und wichtigen allgemein biologischen
Erscheinungen bekannt geworden ist, die berufen
erscheinen, bei ibreni weiteren Ausbau unsere Vor¬
stellungen über viele physiologische und pathologi¬
sche Vorgänge im Organismus weitgehend zu b e e i n-
flnssen. Die Lehre vmn den verschiedenen Antikörpern, die
ZcM'gliederung der Wirkung der verschiedenen spezifischen Immun¬
seren, ist ein Gebiet, das immer mehr und mehr das Interesse'
zahlreicher Forscher erweckt. Es ist nicht zu vemundern, daß
uns die bezügliche Literatur fortwährend von neuen, mehr minder
feinsinnig angelegten Versuchen berichte^ welche alle der Lösung
der verschiedenen Probleme gelten, die sich auf dem weiten Felde
der Immunitätsforschung in so überaus reicher Fülle darbieten.
l^eferate.
Die experimentelle Bakteriologie und die Infektions¬
krankheiten mit besonderer Berücksichtigung der
Immunit ätsl ehr e .
Ein Lehrbuch für Studierende, Aerzte und Medizinalbeamten.
Von Dr. W. Kolle, o. ö. Professor der Hygiene und Direktor des
hygienisch-bakteriologischen Institutes au der Universität Bern und
Dr. H. Hetscli, Stabsarzt und Vorstand der bakteriologischen Unter¬
suchungsstation des XVI. Armeekorps in Metz.
Mit 3 Tafeln und 125 größtenteils mehrfarbigen Abbildungen.
Berlin und Wien 1906, Verlag von Urban & Schwarzenberg,
Wenn auch Kolle und Wassermann in ihrem Handbuche
der patliogenen Mikroorganismen ein vollständiges und ausführ¬
liches Werk geschaffen haben, in welchem der Fachmann das
gesamte Forschungsmaterial auf dem Gebiete der Infektionskrank-
lieiten einschließlich der Bakteriologie und der damit in engem
Zusammenhänge stehenden Immunitätslehre in sorgfältigster Weise
zusammengestellt findet, so fehlte doch noch ein kurz gefaßtes,
dem jetzigen Stande des Wissens Rechnung tragendes Lehrbuch,
dessen Zweck es ist. Studierende in diesen neuen Wissenszweig
einzuführen, sie mit den wichtigsten, grundlegenden Tatsachen
vertraut zu machen und dem praktischen Arzte ein für seine
Zwecke notwendiges, abgeschlossenes, übersichtliches Bild der
fachmännischen Forschung in dieser Disziplin zu geben. Uni
diesem dringenden Bedürfnisse Abhilfe zu schaffen, hat Kolle
gemeinsam mit Fletsch das vorliegende Lehrbuch verfaßt, welches
in seiner Anlage und Darstellung die bestehende Lücke voll aus¬
zufüllen geeignet erscheint. Es werden darin die Infektionskrank¬
heiten nicht ausschließlich vom Standpunkte des Bakteriologen
betrachtet, sondern in ihren Beziehungen zu den Lehren der
experimentellen Bakteriologie, welche so wesentlich unsere Kennt¬
nisse über Epidemiologie, Prophylaxe und Therapie dieser
Krankheiten gefördert haben, dargestellt, ohne jedoch dabei jene
Momente zu vernachlässigen, welche namentlich für den Kliniker
bei der Feststellung der Diagnose in Betracht kommen. Eine
eingehende Besprechung erfahren daher aus der Immunitätslehre
jene Kapitel, welche von praktischer Bedeutung sind: die Sero¬
diagnostik, die Serotherapie und die Schutzimpfung. Natürlich
erschien es auch hier notwendig, auf gewisse rein theoretische
Fragen näher einzugehen, da nur durch ihre Lösung das Ver¬
ständnis der Verhältnisse, wie sie sich im Verlaufe der einzelnen
Infektionskrankheiten bieten, möglich war. Indem auch hierin
die beiden Autoren die richtige Auswahl treffen, liegt der große
Wert des vorliegenden Lehrbuches, in welches nur Tatsachen
aufgenommen sind, die feststehen und anerkannt sind, während
noch ungeklärte Fragen nicht berührt werden. Es wurden daher
auch jene Theorien, welche heuristisch von Bedeutung sind, in
das Bereich der Ausführungen auf genommen, um so dem Leser
an der Hand der Lehren Ehrlichs, M e t s c h n i k o f f s, Pfeiffers
und Buchners die komplizierten Immunitätsprobleme klarzu¬
legen. Da (das Lehrbuch von Kolle und Hetsch für Studierende
der Medizin, Aerzte und Medizinalbeamte gedacht ist, so erschien
es auch nur insoweit notwendig, auf die Infektionskrankheiten
der Tiere einzugehen, als diese ein allgemeines Interesse haben
oder in engeren Beziehungen zu den Lehren der Immunität stehen.
' Das in Form von Vorlesungen verfaßte Buch zerfällt in
drei Abschnitte. Der erste macht uns vertraut mit der allgemeinen
Morphologie und Biologie der Bakterien, entwickelt dann das
Wesen der Infektion, die Gesetze und Theorien der Immunität
und die serodiagnostischen Methoden. Im zweiten Teile werden
die einzelnen menschlichen Infektionskrankheiten der Reihe nach
durchgenommen, zunächst jene, welche durch Bakterien verur¬
sacht werden, dann die durch Protozoen, durch Schimmel- und
Sproßpilze hervorgerufenen. Wo es nötig ist, wird noch speziell
auf jene schon im ersten Teile allgemein dargestellten Verhält¬
nisse zurückgegriffen und näher eingegangen. Den Schluß bildet
ein als Anhang beigefügter dritter Abschnitt, in welchem kurz
die Methoden der Bakterienzüchtung und ihrer Färbung, sowie
die Technik der Fixieiung und Einbettung zwecks histologischer
Untersuchung dargestellt ist.
Alle diese in ihrer klaren, Uebersichtlichkeit gleich voll¬
kommenen Ausfühlungen der beiden verdienten Autoren werden
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
iiocli durch eine Anzahl zumeist farbiger Abbildungen, deren
Auswahl für das zielbewußte Vorgeben schon allein spricld, er¬
gänzt, so daß das vorliegende Werk in jeder Hinsicht seinem
Zwecke, als Lehrbuch der experimentellen Pathologie und der
Infektionskrankheiten zu dienen, vollauf entspricht. Es wird ge¬
wiß auch nicht verfehlen, alsbald in den weitesten medizinischen
Kl ■eisen jene Würdigung zu finden, die es verdient.
*
Arbeiten aus dem Pathologischen Institute zu Berlin,
Zur Feier der Vollendung der Institutsneubauten.
Herausgegeben von Joliauues Ortli, Direktor des Institutes.
Mit 7 Tafeln und 91 Abbildungen im Text.
R e r 1 i n 1906, Verlag von August Hirschwald.
Ein stattlicher Band, in welchem Orth gemeinsam mit
seinen Schülern eine Reihe von Arbeiten niedergelegt hat, ist
bestimmt, eine dauernde Erinnerung an die Eröffnung des neuen
Heimes der pathologischen Anatomie an der Universität Berlin
zu bilden. Virchow, unter dessen Leitung die Pläne entslauden
waren und der den Grundstein zu diesem Gebäude gelegt hat, war
es nicht mehr gegönnt, das begonnene Werk vollendet zu sehen.
So fiel Orth die Aufgabe zu, die Arbeit zu krönen und den
Forschungen in der Pathologie ein allen modernen Anforderungen
entsprechendes Mnsterinstitut zu schaffen, durch welches dem
verewigten Äteistei' ein würdiges Denkmal gesetzt wird. Aus dem
seiner F oder entstammenden Aufsatze : ,,D a s pathologische'
Institut in Berlin“ erfahren wir, daß in dem neuen Anatomie-
gebäude vier xVbteilungen und ein Museum untergebracht sind,
die einzeln mit größter Sorgfalt ausgestattet wurden und dadurch
dem Zwecke ernster wissenschaftlicher Forschung und gründ¬
lichen Unterrichtes in gleich vollkommener Weise gerecht zu
werden vermögen. i\.n der Hand der reichlich beigegebenen Ab¬
bildungen und Pläne durchwandern wir mit Orth die anato¬
mische und histologische, ferner die bakteriologische Abteilung,
dann zeigt uns Bickel ,,die innere Einrichtung der ex¬
perimentell-biologischen Abteilung“ und schließlich er¬
klärt Salkowski ,,die innere Einrichtung der chemi¬
schen Abteilung“. Von der allgemeinen Anlage an bis in die
Ausstattung der kleinsten Räume herrscht größte Zweckmäßigkeit,
die nicht zum geringen Teile der reichen Erfahrung Orths zu
verdanken ist. Den zur Demonstration bestimmten eigens konstru¬
ierten Apparat beschreibt K a is e r 1 i n g : ,,U e be r die Schwie¬
rigkeiten des demonstrativen Unterrichtes und
seine Hilfsmittel, insonderheit über einen neuen
Universalprojektionsapparat.“ Derselbe ist nach seinen
Angaben auf Grund eingehender Studien ausgeführt und üher-
trifft in der dermaligen Ausgestaltung, welche zur epidiaskopischen
und mikroskopischen Projektion dient, alle ähnlichen Apparate.
Die Publikationen aus der anatomischen und histologischen
Abteilung werden durch einen ,,Beitrag zur Pathologie der
Speicheldrüsen“, von Davidsohn eingeleitet, der in 12°/0
der Fälle von Amyloidose Amyloid in der Glandula submaxillaris
nachweisen konnte. Es waren dies Fälle von Tuberkulose, Lues,
Nephritis und Karzinom. Rimann (,,Pathologisch-anato-
mische und ätiologische Beiträge zur Arthritis de¬
formans“) untersuchte 200 Kniegelenke, von denen sich 134
verändert erwiesen, davon 50 im Sinne der Hypertrophie, 84 im
Sinne der Atrophie. Für diese beiden Formen niimmt der Autor
eine gemeinsame Aetiologie an, die in einer chronischen mit
Kachexie veihundenen Allgemeinerkrankung zu suchen ist.
Während für die im vorgeschrittenen Alter beobachtete hyper¬
trophische Form Arteriosklerose ätiologisch in Betracht zu ziehen
ist, findet man die atrophische im jugendlichen Alter vej'gesell-
schaftet mit Tuberkulose. Speroni (,,Ueher das Exsudat
bei Meningitis“) untersuchte in Ausstrich- und Schnittpräpa¬
raten das Exsudat bei Meningitiden, verursacht durch verschie¬
dene Erreger: Meningokokkus, Tuberkelbazillus, Pneumo- und
Streptokokkus. Das Exsudat der akuten epidemischen Meningitis
zeichnet sich durch den reichen Gehall an neutrophilen Leuko¬
zyten in (len verschiedensten Stadien von Degeneralion ans, sie
fehlen bei chronischem Verlaufe, doch ist das Exsudat immer
seroalbuminös, zum Unterschiede des fibrinreichen bei Menin¬
gitiden, deren Erreger Pneumo- und Streptokokken sind. Bei
der Tuberkulose der Meningen erscheinen Tuberkelknötchen in
der \yand der Venen und das Exsudat charakterisiert sich durch
Vorwiegen mononukleärer Zellen. „Path olo gisch -anato¬
mische und experimentelle Beiträge zur Pathogenese
der Erkrankungen des männlichen Urogenital-
Iraktes“ liefert Kulm, indem er zeigt, daß Bakterien
und Farbstoffpartikel auf direktem Wege durch peristal tische Be¬
wegungen des Vas deferens aus der Urethra in den Hoden ge¬
langen können. Diese Experimente erklären die Beobachtung,
daß sich in der Prostata nicht selten die schwersten tuberkulösen
Veränderungen finden. „Zur Frage der kongenitalen
Nierentumoren“ veröffentlicht Rosen hach zwei Fälle der¬
artiger Geschwülste, die infolge der vorhandenen xVnlage aller
drei Keimblätter als teratoide anzusprechen sifid. An einem
,,L y m p h a n g i o m a c a v e r n o s u m c o n g e n i t u m“ zeigt R h e i n-
dorf, daß für die Diagnose einer solchen Geschwulst nicht der
Nachweis von sprossenden Lymiihgefäßen unbedingt nötig ist,
daß es vielmehr genügt, Zellwucherungen an der I^eripherie der
Gefäße festzustellen, aus denen sich durch Dehnung von Spalten
und Lücken durch die transudierte Lymphe Zysten entwickeln.
Perrone: ,,Entwic klung eines primären Kankroides
V o n d e r W and einer tuberkulösen K a v e r n e.“ Der Platten¬
epithelkrebs breitete sich nur wenig auf die übrigen Teile der
Lunge aus, setzte nur hier vereinzelte kleine IMetastasen, obwohl
die Geschwulst selbst eine ganz bedeutende Größe erreichte und
auf Wirbel, Rippen, Gefäße und Nervensystem Übergriff. Nast-
Kolbs: ,,Spongiö.ser Knochen in einer Tracheotomie¬
narbe“, fand sich im Zentrum der Durchtrennung des Knorpels,
welcher nur an seiner Peripherie vom Perichondrium her knorpelig
verwachsen war. v. M öller berichtet ,,Ueber einen Fall von
Aneurysma dissecans“ der Bauchaorta, Iliaca communis und
des Anfangteiles der Iliaca externa und hypogastrica sinistra.
Del' Fall zeigte die Nebenbefunde von Arteriosklerose : Aorten-
stenose und Herzhypertrophie. Ein Fall von ,, Aneurysma
dissecans der Aorta mit Intimaneubildung“ wird von
Geisler publiziert und erscheint dadurch ipteressant, daß die
sklerotische Inlimawucherung sich auf die Stelle des Aneurysmas
beschränkte. Eine vollständige Literaturübersicht nebst eigenen
Versuchen und Untersuchungen bringt M. Koch in seiner iVrbeit:
,,Zur Kenntnis des Parasitismus der- Pe ntas tomen“.
Aus derselben geht hervor, daß die emhryonenhaltigen Eier dieser
Tiere sich in Pflanzenfressern entwickeln, während die Laiwen
frei oder enzystiert in den Magen des Hundes gelangen, von wo
sie mittels ihrer Haken und ihres Stachelkleides nach Mund- und
Nasenhöhle emporsteigen. Hier lebt das geschlechtsreife Tier von
Liiiguatula rhinaria, sowohl bei Hund, Fuchs und Wolf, als auch
seltener bei Pferd, Ziege und Schaf. Beim Vlenschen kommen die
Larven nicht so selten vor, in Berlin in 11-75“, », die geschlechts¬
reife Form wurde hingegen bisher nur einmal beobachtet.
Die nächste Gruppe von Arbeiten entstammt der bakterio¬
logischen Abteilung. Zunächst untersuchten Beitzke und
Rosenthal: ,,Zur Unterscheidung der Streptokokken
mittels Blutnährböden“ 30 Streptokokkenstämme auf Blut¬
agar, welche jedoch zur Differenzierung von Streptokokkenarien
nicht geeignet erscheint. ,, Untersuchungen über die Be¬
ziehungen zwischen der Tuberkulose des Menschen
un d der Tie re“ veröffentlicht R abi n o wits c h ; nach denselben
ist es der Verfasserin gelungen, aus 'inenischlichem tuberkulösen
Matei'ial Kulturen zu gewinnen, die nach ihrem Verhalten auf künst¬
lichen Nährböden, sowie auch biologisch vollständig dem Erreger
der Rindertuberkulose entsprechen. ,, Weitere Beiträge zur
Kenntnis der Schlangengifte und ihrer Antitoxine“
liefert Morgenrot und zeigt, daß das Lezithin auch mit der
Verbindung Kobrahämolysin- Antitoxin sich kombiniert, daß also
die Verbindung Toxin-Antitoxin ihre Irreversibilität bewahrt, selbst
wenn durch das Eingreifen des. Lezithins im das Hämolysin eine
Veiringerung der Avidität des Hämolysins zum Antitoxin hervor¬
gerufen ist. Während das Neurotoxin gewisse Analogien
in seinem Verhalten mit dem Hämotysin des Kobragiftes zeigt,
so wird es doch durch Lezithin in seiner Wirkung weder verstärkt,
noch gelingt es, das Gift auf diese Weise thermostabiler zu machen.
Nun folgt eine Reihe von Arbeiten aus der oxperimentell-
hiologischen Abteilung; es berichtet zunächst Bickel über „Ex¬
perimentelle und klinische Untersuchungen z u r n o r-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
2 1
malen und pathologischen Physiologie der Saftbil-
flung im Magen und zur Therapie seiner Sekretions-
Störungen“. In der Einleitung gibt Verf. eine Uebersicht der
einschlägigen Lileratiir und geht dann zur Schilderung seiner
eigenen experimentellen Untersuchungen über, die er an Hunden
und Ziegen mit dem P a w 1 o w sehen Scheinfütterungsversuch und
mit Pawlowschen kleinen Magen vornahm. Hinsichtlich der
Ergebnisse )nuß auf das Original verwiesen werden, da sie eine
kurze Zusammenfassung, wie sie für ein Referat geeignet erschiene,
nicht gestatten. Eine Metliode Radiumemanation zu gewinnen
und annähernd zu dosieren, beschreibt Berg eil in seiner Publi¬
kation; „Ueber die Gewinnung der Radiumemana¬
tionen in dosierbarer Form“. Sie besteht darin, daß pul¬
verisierte Uranerze mit wenig Wasser erhitzt werden und unter
Anwendung fraktionierter Kühlung die Emanation mit flüssiger
Luft kondensiert wird. Die Priifung der Emanationen erfolgt dann
auf elektroskopischem Wege. Als zufälligen Befund sah David¬
sohn: ,,K a 1 k a 1) 1 a g e r u n g m i t F r a g m e n t a t i o n der elasti¬
schen Fasern beim Hunde“. Diese Kalkmetastasen fanden
sich in den Lungen und da der Hund reichlich mit Salzsäure
gefüttert worden war, lag die Annahme nahe, daß hierin die
Ursache dieses eigentümlichen Befundes gelegen wäre. Aehnlich
Irehandelte Hunde zeigten jedodi niemals diese Veränderungen.
„Experimentelle und klinische Studien über fermen¬
tative F e 1 1 s p a 1 1 u n g im Magen“ unternahm Heinsheiraer
nach der Methode von Volhard und konnte feststellen, daß die
Fundusdrüsen beim Menschen, beim Hunde, beim Schweine und
beim Kaninchen ein fettspaltendes Ferment liefern, durch welches
emulgierte Neutralfette im Magen gespalten werden. ,,Ueber
den Einfluß des Alkohols auf die Magensekretion“
arbeitete Käst und fand, daß dieses Genußmittel sekretions¬
erregend auf die Magenschleimhaut einwirke. ,,Zur Frage der
Veränderung hämolytischer Eigenschaften im Blut¬
serum Urämischer“ liefert Laqueur einen Beitrag, indem
er bei experimenteller Urämie am Hunde weder eine Abnahme der
hämolytischen Kraft des unveränderten Blutserums, Jioch eine
antihämolytische Wirkung des inaktivierten Serums beobachten
konnte. Aus der Arbeit von H. Meier; „Zur Kenntnis des
Blutdruckes hei der Strychnin- und Ku rar in Vergif¬
tung“ geht hervor, daß diese Substanzen eine anfängliche Blut¬
druckerhöhung, die namentlich beim Strychnin bedeutend ist,
verursachen, worauf erst gegen Ende der Vergiftung die Blut¬
drucksenkung eintritt. Ueber ,,Die Einwirkung der Koh¬
lensäure auf die Magensekretion“ berichtet Pincus-
sohn und zeigt, daß hiebei nicht nur ein Anwachsen der Menge,
sondern auch der Azidität des Magensaftes stattfindet. Aus der
experimentell-biologischen und der bakteriologischen Abteilung ge¬
meinsam stammt die Publikation von Rheinboldt: „Zur bak¬
teriziden Wirkung der Mineralquellen“, in der gezeigt
wil'd, daß die natürliche Emanation eine gewisse hemmende Wir¬
kung auf die Entwicklung der Mikroorganismen auszuüben ver¬
mag, womit ja auch in Einklang stünde, daß frische Wasser stärker
bakterizid wirken als Wasser, welche schon lange der Quelle
entnommen sind. Schließlich veröffentlicht Wohlgemuth „Ex¬
perimentelle Untersuebun gen über den Einfluß des
Kochsalzes auf den Chlorgehalt des Magensaftes“,
in denen er für die Grub er sehe Sekretionstheorie eintritt.
Die Arbeiten aus der chemischen Abteilung leitet Sal-
kowski ein. Unter dem Titel „Pathologisch-chemische
Mitteilungen“ zeigt er die Darstellung von Cholesterinpalmitin¬
säureester aus Hautschuppen von Dermatitis exfoliativa. Beim
Vergleich dieser chemisch rein gewonnenen Substanz mit Cho¬
lesterin ergeben sich in verschiedenen Proben ganz ekla¬
tante Differenzen. Ferner arbeitete der Autor die Methode des
Nachweises und der Bestimmung von Harnstoff in Körperflüssig¬
keiten und Organen weiter aus, desgleichen die des Nachweises
von Uro- und Bilirubin bei ihrem Vorkommen nebeneinander im
Dünndarm und endlich teilt er eine sehr wertvolle Modifikation
der Phenylhydrazinprobe mit, nach welcher auch der Nachweis
kleinster Zuckermengen im Harne gelingt „Chemisches zur
Karzinomfrage“ bringt Neuherg, der bei Karzinomen ab-
noi-malen, ferjnentaüven Prozessen eine gewisse Bedeutung für
die Pathogenese dieser Tumoren zuschreiht. Auch gelang es ihm.
aus Krebsgeschwülsten ein Nukleoproteid darzustellen, über dessen
Gewinnung er berichtet. Schließlich studierte Verf. noch die Wir¬
kung von Röntgen- und Radiumstrahlen auf das Krebsgewebe, die
er hei ersterer Stralilenart weniger intensiv fand. Eine verglei¬
chende Untersuchung über die Leistungsfähigkeit verschiedener
Methoden stellt Manasse in seiner Arbeit: ,,Ueber die quan¬
titative Bestimmung des Zuckers im Harne“ zusammen
und findet die Patein- und Dufausche Methode, sowie die
Modifikation nach Lava Ile der Knapp sehen wesentlich über¬
legen. Nach seinen Untersuchungen „Ueber die chemischen
Veränderungen bei der fettigen Degeneration des
Herzmuskels“ hält Alexander die Entstehung von Fett aus
Eiweiß für möglich. ,,Chemische Untersuchungen über
menschliches Knochenmark bei verschiedenen pa¬
thologischen Affektionen“ führten Wohlgemuth dazu,
den Nachweis von Albumosen und eines Nukleoproteids mit be¬
trächtlichem Phosphorgehalt im Knochenmark zu erbringen. Eine
Methode, die Cholsäure von der Taurocholsäure und dem größten
Teile der Glykocholsäure in den Fäzes zu trennen, gibt Ury
in seiner Arbeit: „Ueber das Vorkommen von Gallen¬
säuren in den Fäzes in der Norm und unter patho¬
logischen Verhältnissen“. Auch mit ihr gelingt es nicht,
in normalen Stühlen mehr als minimale Spuren von Cholsäure
aufzufinden. „Ueber den Nachweis des Pepsins“ teilt
Jacoby höchst interessante Experimente mit, die zeigen, daß
im Rizin ein Reagens voriiegt, mit welchem man imstande ist,
noch 0-000001 g Pepsin nachzuweisen.
Es geht nicht an, die kurze Besprechung dieses Werkes,
welches eine Sammlung sehr wertvoller Beiträge auf den ver-
scliiedenen Zweigen theoretischen Wissens aus der Feder aus¬
gezeichneter Arbeiter darstellt, zu schließen, ohne die vorzüglich
ausgeführten farbigen Tafeln zu erwähnen, welche sowohl makro-,
als auch mikroskopische Befunde in ganz tadelloser Weise wieder¬
geben. , Und wenn wir aus der einleitenden Beschreibung des
Instituts eine genaue Vorstellung seiner Anlage und seiner Räume
erhalten, so gewährt uns der zweite Teil dieses Buches, in wel¬
chem alle Institute sich mit ihren Kräften beteiligt haben, um
die Eröffnung des neuen Gebäudes durch Beiträge des Geistes
und ernstlicher, wissenschaftlicher Forschung festlich zu gestalten,
einen Einblick in die rege Tätigkeit wissenschaftlichen Lebens,
welches die neue Stätte zU beherbergen bestimmt ist.
*
Die heutige Lehre von den pathologischen und anatomi¬
schen Grundlagen der Herzschwäche.
Kritische Bemerkungen aut Grund eigener Untersuchungen.
Von L. AsclioflP, Professor in Marburg i. H. und S. Tawara, Arzt in
Japan.
Jena 1906, Verlag^ von Gustav Fischer.
Gerade in den letzten Jahren hat die Lehre der Erkrankungen
des Herzmuskels durch die Arbeiten von Krehl Lind Romberg,
welche entzündlichen Veränderungen hiebei eine wesentliche Rolle
zuschreiben, eine ganz bestimmte Richtung erfahren, welche
Ehrenfried Albrecht zur Grundlage seiner Untersuchungen
diente, um die These aufzustellen, daß die Erlahmung des Herz¬
muskels in bestimmten lokalisierten Entzündungsherden auch für
die Fälle von Vitium cordis ihre Erklärung finde. Wohl blieb
er, wie Aschoff und Tawara in der vorliegenden Monographie
überzeugend darzutun vermögen, für eine ganze Reihe seiner
Behauptungen den Beweis schuldig, zumal die gründlichen Unter¬
suchungen Ta war as über das Reizleitungssystem des Herzens
eine Deutung, wie sie Albrecht seinen Befunden gibt, nicht
zulassen. Es kommt aber noch hinzu, daß Albrecht durch
Außerachtlassung wichtiger Forschungsergebnisse über die nor¬
male histologische Struktur des Herzmuskels, wie sie von v. E bne r
und Heidenhain in der Literatur niedergelegt worden sind,
eine Unterlassung begangen hat, durch welche allein schon seine
Befunde und die daran geknüpften Schlüsse dem Stande unserer
Kenntnisse nicht entsprechen und daher auch in ihrem Werte
und ihrer Bedeutung eine wesentliche Einbuße erleiden müssen.
Denn eine wirkliche zeitige Zusammensetzung des Herzmuskels
ist weder beim Menschen, noch bei unseren Haustieren bewiesen
und die mit modernen Färbungsmethoden hierauf gerichteten
Untersuchungen von Aschoff und Tawara konnten auch keine
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
neuen Momente aufdecken, welche geeignet wären, die seiner¬
zeit als Zellgrenzen beschriebenen Bildungen als solche zu deuten.
Bezüglich der Kernformen des nonnalen Herzmuskels stehen die
beiden Autoren ebenfalls im Gegensatz zu Albrecht, da nach
ihren Erfahrungen die ,,Leistenkeme“ sicher normalerweise Vor¬
kommen, wenn auch zugegeben werden muß, daß sie an hyper¬
trophischen Kernen beobachtet werden.
Der Arbeit von Aschoff und Ta war a liegt eine äußerst
sorgfältige histologische Untersuchung von nicht weniger als
112 Herzen zugrunde, um etwa vorhandene Veränderungen
an der Muskulatur und dem nervösen Apparat festzustellen. Sie
konnten mit Sicherheit die Möglichkeit ausschließen, daß nach¬
weisbare Veränderungen der nervösen Elemente, etwa im Ver¬
laufe chronischer Entzündungsprozesse, sich fänden, auf welche
die Herzlähmung zurückzuführen wäre. Was die untersuchten
Herzen anbelangt, so stammten sie von Fällen mit Herzklappen-
und Herzmuskelerkrankungen rheumatischer und nicht rheumati¬
scher Natur, von Fällen mit ausgesprochener Herzhypertrophie
bei chronischer Nephritis, von Fällen typischer Arteriosklerose,
ferner von Fällen verschiedener Infektionskrankheiten: Typhus,
Schaiiach, Diphtlierie, Masern und Tuberkulose. Bei letzterer
kommen interstitielle Entzündtmgen oder fortschreitender Zerfall
der Herzmuskelsubstanz ebensowenig vor, wie bei chronischer
Bronchitis und Emphysem, sowie bei pneumonischen und broncho-
pneumonischen Prozessen. Dann dienten der Untersuchung Her¬
zen von Individuen, die malignen Tumoren erlegen waren, von
Personen mit erworbener und kongenitaler Lues, Herzen bei
akuten septischen Infektionen und endlich Herzen chronischer
Ernährungsstörungen und von Fällen tödlicher Traumen. Trotz
dieser reichen Auswahl konnten nur bei den Fällen von Diph¬
therie die gefundenen schweren parenchymatösen und interstitiel¬
len Veränderungen des Herzmuskels die Erklärung für die Herz-
lähnmng abgeben. Für die Fälle von Erkrankungen der Herzklappen
reichen die pathologischen Befunde nicht mehr hin, die Myokard-
veiänderungen sind so beschränkt, daß sie zur Deutung im Simie
der bisher gültigen Lehre nicht herangezogen werden können.
Wohl haben Aschoff und Ta war a wiederholt die Bildung von
Kittlinien und das Auftreten von Fragmentation bei den ver¬
schiedensten Krankheitsprozessen zu beobachten Gelegenheit ge¬
habt. Die Fragmentation findet sich weitaus am häufigsten im
höheren Alter, was auch für das Auftreten der Kontraktionslinien
gilt; trotzdem aber haben diese beiden Phänomene direkt mit¬
einander nichts zu tmi. Die Kontraktionslinien entsprechen einem
abnorm kontrahierten Muskelfach, während die Fragmentierung
mit ungleichmäßigen Verdichtungen des absterbenden Protoplas¬
mas außerhalb der Kontraktionslinien zusammenhängt. Keines¬
falls aber ist außer acht zu lassen, daß Fragmentation auch
bei noch so sorgfältiger Manipulation als Artefakt bei der Prä¬
paration zustande kommen kann. Die schon in einer früheren
Publikation beschriebenen arteriitischen und periarteriitischen Ent¬
zündungsherde in Fällen von rheumatischen Erkrankungen konn¬
ten die beiden Autoren neuerdings beobachten in Form der
charakteristischen großzelligen und riesenzellenhalti'gen Knötchen,
wodurch für sie die früher ausgesprochene Vermutung, es handle
sich hier um spezifische Bildungen bei rheumatischen Infektionen,
zur Tatsache wird.
'Hiemit sei nur in Kürze der Inhalt der vorliegenden, in
jeder Hinsicht höchst beachtenswerten Schnft wiedergegeben, be¬
züglich der Einzelheiten muß auf das Original verwiesen werden,
aus welchem sowohl Anatomen, als auch Kliniker so manchen
Vorteil werden schöpfen können, denn nicht allein das Ergebnis
jahrelanger, ernster Forschung ist darin niedergelegt, sondern
man erkennt in ihm aucli den tiefen Blick des erfahrenen Patho¬
logen, der uns warnt vor Abirrungen von dem Wege, welcher,
in richtiger Erfassung der Tätsachen angebahnt, unendlichen
heuristischen Wert in sich schließt, solange nicht durch einseitige
Betrachtung der eingeschlagene Kurs in falsche Richtung gerät.
Hier einzugreifen, um uns von langen, mühevollen Irrfahrten
zu bewahren und die Forschung wieder in die richtigen Bahnen
zu lenken, bedeutet ein Verdienst um die Wissenschaft, das nicht
hoch genug angeschlagen werden kann. Aschoff gemeinsam mit
Ta war a haben durch die vorliegende Arbeit sich dieses Ver¬
dienst erworben. Ihre klare und überzeugende Beweisführung
läßt keinen Zweifel darüber, daß die von ihnen gefundenen Tat¬
sachen und die denselben gegebenen Deutungen die richtigen Wege
zeigen, auf denen sich unsere Kenntnisse der Pathologie des
Herzens weiter zu entwickeln haben.
*
Die Erlahmung des hypertrophierten Herzmuskels.
Mit pathologisch-anatomischen Untersuchungen.
Von Dr. med. und phil. Robert Schlüter, Spezialarzt in Magdeburg.
Leipzig und Wien 1906, Verlag von Franz D e u t i c k e.
Auch die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe ge¬
macht, dem Problem der Erlahmung des hypertrophischen Herz¬
muskels auf Grund pathologisch-anatomischer und histologischer
Untersuchungen näherzukommen. Nach eingehender Besprechung
der Literatur der Pathogenese der Herzhypertrophie, der anato¬
mischen Veränderungen und der Erlahmung des hypertrophischen
Herzens, geht Schlüter zur Schilderung seiner eigenen Befunde
über, welche er an hypertrophischen Herzen erheben konnte,
deren Träger an Herzinsuffizienz gestorben waren. Es handelt
sich dabei um Herzen bei Arteriosklerose und Klappenfehlern, bei
Lungenkrankheiten, bei chronischen Nierenaffektionen und um
Herzen mit idiopathischer Hypertrophie. Von Individuen, die In¬
fektionskrankheiten erlegen waren, untersuchte Verf. ein Typhus-
und ein Diphtherieherz. Zunächst wäre aus seinen Befunden
hervorzuheben, daß sich weitaus häufiger allgemein über das
Herz verbreitete, als zirkumskripte Veränderungen linden. Es
fallen Kernverschiedenheiten auf, die wohl nicht als pathologisch
aufzufassen sind, da sie auch bei völlig normalen Herzen be¬
obachtet werden. Wenn jedoch Muskelfasern zugrunde gehen,
dann treten die auch für andere Organe gültigen Erscheinungen,
Karyolyse und Karyorhexis, ' an ihren Kernen auf. Teils allge¬
mein, teils zirkumskript fand sich der Fettgehalt der Muskel¬
fasern, doch erreichte er nie jene höchsten Grade, welche zur
Beeinträchtigung der Funktion des Herzmuskels notwendig vor¬
ausgesetzt werden müssen. Im Gegensatz zu Aschoff und Ta-
wara vermißt Schlüter jedoch die Fragmentation in seinen
Herzen bei Arteriosklerose und Klappenfehlern, ebenso auch bei
den idiopathisch hypertrophischen Herzen. Von rein lokalen, zir¬
kumskripten Befunden beschreibt Verf. Rund-zellenanhäufungen
und Bindegewebsvermehrung, die in ihrer Spärlichkeit ebenso¬
wenig als die allgemeinen Veränderangen zur Erklärung der Herz¬
erlahmung herangezogen werden können.
Wenn also Schlüter hinsichtlich seines Schlusses mit
Aschoff und Ta war a vollständig darin übereinstimmt, dab^
die pathologischen Befunde am Herzen die Erlahmung des Herz¬
muskels nicht zu erklären vermögen, so steht er gleich diesen
im Gegensatz zu E. Albrecht und Dehio, so daß auch ihm
das Verdienst gebührt, gegen jene Lehren Stellung genommen
zu haben, von welchen der Entwicklung unserer Kenntnisse der
Pathologie des Herzens Gefahr drohte. Was aber seine Vorstel¬
lung über die Ursache der Erlahmung des Herzens anbelangt,
so folgt er hierin den Anschauungen Rickers und erblickt in
einer Herabsetzung der Erregbarkeit des Herznervensystems das
wichtigste Moment, auf welches einerseits die gefimdenen, aber
nicht ausreichenden pathologischen Veränderungen, anderseits aber
auch die Erlahmung des Herzens zurückzuführen wären. So gerne
man Schlüter seinen pathologisch-anatomischen und histologi¬
schen Untersuchungen folgt, so wenig Anklang wird seine Er¬
klärung der Erlahmung des hypertrophischen Herzens linden und
befriedigen können, da sie ja keineswegs einen Fortschritt der
Erkenntnis des in Frage stehenden Problems bedeutet.
*
Arbeiten aus dem königl. Institute für experimentelle
Therapie zu Frankfurt a. M.
Herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. P. Ebrlicli»
Heft 1 und 2.
Jena 1906, Verlag vonTQustav^F i s c h e r.
Das erste Heft dieser neuen wertvollen Sammlung von Ar¬
beiten aus dem Ehr lieh sehen Institut in Frankfurt a. M. ent¬
hält drei Publikationen der Abteilung für Krebserforschung. Nach
einem einleitenden Vorwort aus der Feder Ehrlichs, berichtet
H. Apolant unter dem Titel: „Die epithelialen Ge¬
schwülste der Maus“ über die Histologie und die Histogenese
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. J
der der Krebsforschung in dem genannten Institut zugrunde liegen¬
den epithelialen Mäusetumoi’en. Bei der ganz ansehnlichen Zahl
der zur Untersuchung gelangten Geschwülste, es handelt sich um
276 Einzeltumoien, gelang es, unzweifelhaft festzustellen, daß
weitaus die IMehrzahl (259) der Spontantunioren, an der Bauch¬
seite der Tiere gelegen, aus der Mamma hervorgehen. Wie die
histologische Untersuchung lehrt, sind es zum Teil Adenome, vom
Typus des Adenoma simplex, Cystadenoma simplex, Adenoma
cysticum oedematosuin seu haemorrhagic um und Cystade¬
noma papilliferum, zum Teil Karzinome, die alveolär oder papillär
gebaut sein können. Auffallend erscheint es, daß Metastasen der
malignen Tumoren sowohl bei spontaner Entwicklung des Neo-
idasmas, als auch nach Transplantation selten sind. Wohl lassen
sich häufiger mikroskopisch kleine Herde, mit Vorliebe in der
Lunge, nachweisen, die besonders bei Mäusen mit transplantierten
Tumoren Vorkommen, doch fällt die Differentialdiagnose von pri¬
märem Lungenkrebs, der bei Mäusen auch beobachtet wird, schwer.
Ein ganz besonderes Interesse beansprucht die Feststelluug der
Tatsache, daß ein KarzinomiStamm, der primär eine Lungenmeta¬
stase gesetzt hatte, auch bei Transplantierung diese Eigenschaft
eine Reihe von Generationen hindurch bewahrt. Was nun die
Entwicklung von Sarkomen auf dem Boden transplantierter Kar¬
zinome anbelangt, so sah Apolant drei solche Fälle und zwar
jeden ohne Metastasen. Die schon früher erwähnte geringe Ten¬
denz der Mäusekarzinome zu metastasieren, erklärt sich auch
aus dem histologischen Verhalten der Geschwülste, Avelche man
nicht auf dem Wege der Lymphbahnen propagieren sieht, die aber
von einem mächtigen, entzündlichen Wall an ihrer Peripherie
umgeben sind, der ihr infiltrierendes Wachstum hemmt. M^enn
auch, wie gezeigt wird, einzelne Typen der epithelialen Mäusetumo¬
ren sich auf stellen lassen, so bilden sie doch sowohl genetisch,
als auch strukturell eine einlreitliche Geschwulstgruppe, in wel¬
cher die einzelnen Typen durch fließende Uebergänge verbunden
sind. Es entbehren daher auch die meisten eines einheitlichen
Baues und, je nachdem die Geschwulst schneller oder langsamer
wächst, drückt sich dieser Unterschied auch strukturell aus, in¬
dem einmal ein alveolärer, das andere Mal ein mehr papillärer
Bau zustande kommt.
„U e b e r ein t r a n s p 1 a n t a b 1 e s Chondrom d e r M a u s“
berichtet Ehrlich. Dieser als besondere Rarität zu bezeich¬
nende Tumor ist im Netze entwickelt gewesen und zeichnete
sich durch eine ganz außerordentliche Transplantationsfähigkeit
aus. Während von den überimpfbaren Karzinomen nur 10 “/'o
angeh en, ergab diese Geschwulst in 90% ein positives Transplan¬
tationsresultat.
Mit einem zusammenfassenden Berichte : Experimentelle
K a r z i 11 o m s t u d i e n a n M ä u s e n schließt E h r 1 i ch das vor¬
liegende erste Heft. Hier stellt er die gesamten Impfresultate
in der ihm eigenen übersichtlichen und klaren Weise zusammen,
aus denen unzweifelhaft die geringe Infektiosität der Spontan¬
krebse der IMaus hervorgeht. Weitaus die Mehrzahl derselben
sind nicht transplantäbel und aucli jene Stämme, welche hei
üeberimpfimg angehen, geben nur eine recht geringe Ausbeute,
doch läßt sich durch fortgesetzte Transplantation eine deutliche
Steigerung der Virulenz erzielen. Sehr interessant erscheint Ehr¬
lichs Beobachtung, daß die Mäusekarzinome sich zwar auf die
den Mäusen phylogenetis'cli nahestehenden Ratten übertragen
lassen, daß sie aber in diesen Tieren sehr bald rückgebildet werden.
Eine brillante Erklärung für diese Tatsache gelingt Ehrlich
auf die Weise, daß er für die Ratte eine bestimmte Art von Im¬
munität annimmt, die er als atreptische bezeichnet, weil der
Ratte ein für das iMäusekarzinom unentbehrlicher AVuchsstoff
fehlt. Eine einmal geimpfte Ratte verhält sich vollkommen re¬
fraktär gegen eine neuerliche Impfung mit demselben Stamme,
so daß man hier von einer erworbenen, aktiven Immunität
sprechen muß. Die Experimente Ehrlichs zeigen nun, daß auch
bei .Mäusen eine aktive Immunität zu .erreichen ist, denn Mäuse,
welche bei der Verimpfung eines Spontantumors sicli miempfind-
lich erwiesen haben, sind dadurch auch gegen hochvirulente
Stämme immun geworden. Mit spannender Aufmerksamkeit muß
man Ehrlichs geistreichen Ausführungen folgen, die er liin-
sichtlich der Geschwulstätiologie und der Metastasenbildung auf
Grund seiner Vorstellung von Atrepsie entwickelt und wie be¬
scheiden klingt dagegen bei der reichen Fülle der von ihm dar¬
gelegten fruchtbringenden Ideen doch der Schluß: ,,Als Haupt¬
resultat meiner x\rbeit betrachte ich den Nachweis, daß eine
aktive Immunität erreichbar ist und daß sich dieselbe auf eine
Reihe verschiedener Geschwülste gleichmäßig erstreckt.“
Das zweite Heft füllt R. Ottos: Die staatliche Prü¬
fung der Heilsera aus. In einigen einleitenden Worten wird
die geschichtliche Entwicklung der prüfungstechndschen Abteilung
des Frankfurter Institutes für expeiimentelle Therapie dargestellt.
Ihr obliegt die Aufgabe, die staatliche Kontrolle über die von
^'erschiedenen Fabriken in den Handel gebrachten Serumproben
durchzuführen. Für Ddphtherieserum, Tetanuisanti toxin, Tuber¬
kulin, Susserin und Taurunian ist die staatliche Prüfung obliga¬
torisch, während für das Antistreptokokkenserum (Aronson), Sui-
sepsdn. Galloserin, das polyvalente Schweineseuchenserum und
das Antidysenterieserum nach Shiga nur eine provisorische staat¬
liche Prüfung vorgeschrieben ist. Die amtliche Kontrolle, welcher
gesetzmäßig die in den Handel kommenden Sera in Deutschland
unterstehen, hat nicht allein hinsichtlich der Wertbeniessung der
einzelnen Proben stattzufinden, sondern sie erstreckt sich auch
auf die Ueberwachung der Herstellung derselben, so daß die
einzelnen Fabriken, welche sich mit der Gewinnung von Heil¬
seren befassen, ständig unter staatlicher Koirtrolle stehen, welche
für die zweckmäßige Darstellung zu sorgen hat. Es müssen daher
die Fabriken vorerst eine Reihe von Bedingungen erfüllen, bevor
ihre Sera überhaupt zur staatlichen Prüfung zugelassen werden.
Diese erfolgt dann getrennt von der lokalen Kontrolle an der
Fabrikationsstelle im Institute für experimentelle Pathologie in
Frankfurt a. M. und hat die Unschädlichkeit und den Wirkungswert
des Serums festzustellen, somit die Angaben der Fabrik zu kon¬
trollieren und wemi nötig, richtig zu stellen. Die Schildenurg
der bei dieser Aufgabe streng vorgeschriebenen Maßregeln bildet
nun den wichtigsten Teil der vorliegenden Abhandlung, welche
dinen klaren Einblick in die auf Grund exakten Wissens und reicher
Erfahrung fußende, verantwortungsvolle Arbeit der prüfungstech-
* nischen Abteilung des Institutes gewährt. Hiebei finden natürlich
nicht nur alle rreuen Errungenschaften der Wissenschaft auf diesem
Gebiete volle Berücksichtigung und werden die einzelnen An¬
gaben sorgfältigst nachgeprüft, sondern auch eine Reihe von
Untersuchungen, voir den ausgezeichneteir Mitgliedern des Instituts
ausgeführt, haben in so manche Fragerr Licht hineingetragen und
damit deir Beweis geliefert, daß die Anstalt den an sie gestellten
Forderungen jederzeit gewachsen ist. Joannovics.
Aus v/ersehiedenen Zeitsehriften.
1. (Aus dem pharmakologischen Institut in Zürich.)
Ueber die Kuniula tivwi rkung der Digitalis. Von Pro¬
fessor M. Cloetta. Man kann sich bis heute keine richtige
Vorstellung von den Ursachen der Kumulativwirkung der Digi¬
talis machen. Ihr Vorkommen bestätigt die kliniscbe Erfabrung
und das Experiment. Abgesehen von dem charakteristischen
Selbstversuch von Köppe, zeigen namentlich die Versuche von
Fränkel an Katzen die langsam einsetzende Kumulativwirk ung.
Fränkel stellte fest, daß es genau bestimmbare Dosen von
Digitoxin, cryst. gibt, die bei einer einmaligen subkutanen In¬
jektion nicht die geringsten Veränderungen bedingen, dagegen
bei wiederholter Einspritzung schwere Kumulation bis zum letalen
Ausgang bedingen können, wobei regelmäßig Pulsverlangsamung
und Erbrechen auftreten, also dieselben Erscheinungen wie beim
Menschen. Als nun Verf. vor zwei Jahren auf das Digalen (Digi¬
toxin. solub.) aufmerksam machte, war die Frage der Kumulation
für ihn von besonderem Interesse. In allen bisherigen Publika¬
tionen wird auf das Fehlen der Kumulativwirkung des Digalens
hingewiesen, ausgenommen zwei Fälle von VI ach, wo jedoch
Digitalisbehandlung vorausgegangen war. Verf. hatte sich bei
seinen früheren Tierversuchen ausschließlich des Digalens be¬
dient, in der bestimmten Voraussetzung, daß bezüglich der Ku¬
mulation das kristallinische Digitoxin und das Digalen identisch
seien. Nun wiederholte er die Fränkel sehen Experimente an
Katzen unter xVnwendung des Digalens. Die Versuche zeigen eine
erhebliche Differenz gegenüber den Resultaten von Fränkel.
Verf. wollte nun aber auch feststellen, wie sich seine Tiere gegen-
Nr. 1
WIENKIi KLINISCHE VVOCHENSCHillET. 1907.
Über dem kristallisierten iDigitoxin verhalten. Er ging so vor,
daß er die Tiere zünächst mit kristallisiertem Digitoxin auf ihre
indivtduelle Empfindlichkeit eichte und dann die Digalenversache
anschloß. Auch hier fand er eine erhebliche Toleranz des Tieres
gegenüber dem Digalen. Es stimmen also bezüglich des Fehlens
der Kum'ulativwirkung die Beobachtungen beim Menschen 'mit
dem Tierexperiment überein. Um nun den Unterschied zwischen
kristallisiertem Digitoxin und Digalen zu erklären, ermittelte Ver¬
fasser, da die Analyse für beide Substanzen die gleichen Werte
gibt, das Molekulargewicht zunächst durch die Gefrierpunkterniedri¬
gung. Dann wurden noch Siedepunktbestimmungen ausgeführt.
Es ergab sich für das kristallisierte Digitoxin im Mittel ein Mole¬
kulargewicht von 552, für Digitoxin, amorpli. CI. ein solches von
280. Danach lautet also die Formel für das kristallisierte Digi¬
toxin C28H46O10, für das Digalen CuHasOs. Es lag nun der Ge¬
danke nahe, daß die Ursache der Kumulativwirkung ihren Grund
in den verschiedenen Molekulargrößen haben könnte. Es wurden
wieder die entsprechenden Versuche an Katzen ausgeführt. Die
Ergebnisse zeigen, daß die Größe des Molekulargewichtes nicht
maßgebend ist für den Eintritt der Kumulation. Sicher erscheint
nur, daß das einmal kristallisiert gewesene Präparat die Gift¬
wirkung auslöst. Naheliegend ist daher die Annahme einer mit
dem Vorgang der Kristallisation verbundenen Konstitutionsände¬
rung, welche dann die Kumulation begünstigt. Verf. bemüht sich
nun, doch aus den vorliegenden Resultaten für die Kumulativ¬
wirkung der Digitalis Folgerungen zu ziehen. Da ihm von vielen
Aerzten bestätigt wurde, dah die ganz frischen Blätter fast nie
kumulativ wirken, anderseits das kristallisierte Digitoxin dies
mit einer gewissen Regelmäßigkeit tut, das Digalen dagegen nicht,
so ist anzunehmen, daß das Digalen das Digitoxin in dem Zu¬
stande darstellt, wie es in den frischen Blättern sich findet.
Kumulative Wirkungen an Folia digitalis wären demnach so zu
erklären, daß eine Ueberführung des Digalens in einen dem kristalli¬
sierten Digitoxin analogen Zustand stattgefunden, ein Vorgang
für den Analogien bekannt sind. Die Kumulativwirkung ist so¬
mit keine notwendige Eigentümlichkeit der Digitalis, sonst müßte
das Digalen isie auch aufweisen; vielmehr ist ihr Auftreten an
bestimmte Umstände und Veränderungen der Blätter gebunden.
Verf. hat noch zwei Präparate, die in Frankreich Verwendung
finden, geprüft. Das ,, Digitaline chloroformique du Code“ erwies
sich als ein sehr unreines Präparat mit ca. 50°/o Digitoxingehalt;
es läßt sich nicht genau dosieren. Das ,, Digitaline cristallisee
Frangaise“ erwies sich als ganz reine Substanz; sie zeigte bei
gleicher Dosierung die gleichen Kumulativwirkungen wie das
kristallisierte Digitoxin. Dies spricht gegen die in Frankreich;
verbreitete Meinung, als ob das S chmi e d e b e rgsche Digitoxin
giftiger sei als das franzötsische. — (Münchener medizinische
Wochenschrift 1906, Nr. 47.) G.
*
2. U e b e r die S c h m e r z r e a k t i o n der Pupillen als
ein d i f f e r e n t i a 1 d i a g n o s t i s c h e s Zeichen zwischen
organischer und psychogener Druckschmerzhaftig-
keit. Vorläufige Mitteilung von Dr. Max Löwy, Marienbad.
Verf. machte die Wahrnehmung, daß bei erheblicher Druckschmerz¬
haftigkeit an organisch kranken Köi'perteilen die — zum
Beispiel durch Blick in einen hell beleuchteten Spiegel — stark
verengten Pupillen sich deutlich, gelegentlich außerordentlich, er¬
weitern, daß aber an Stellen auch stärkster Druckschmerzhaftig¬
keit funktioneller Natur, Ovariengegend usw., diese Er-
weitemng der stark verengten Pupillen ausbleibt. Löwy formu¬
liert seinen Befund in folgender Weise: Die durch grelle Beleuch¬
tung stark verengten Pupillen werden deutlich weiter bei erheb¬
lich schmerzhaftem Druck auf organisch kranke Teile, diese
Erweiterung bleibt aus bei psychogener Druckschmerzhaftig¬
keit. Dieses Unterscheidungsmerkmal kann ein wichtiger Behelf
werden, um sich gegen die Vortäuschung organischer Krankheits¬
bilder durch die Hysterie zu schützen und um bei der traumati¬
schen Neurose zu entscheiden, ob die Druckschmerzhaftigkeit an
Verletzungsstellen noch der Verletzung zuzuschreiben oder psy¬
chogen ist. — (Neurolog. Zentralbl. 1906, Nr. 20.) Pi.
*
3. Ueber einen akuten Darm ver sch lu ß, hervor¬
gerufen durch einen Haar ballen berichtet A. Scott-
Turner. Ein 29jähriges Hausmädchen, das seit .fahren an An¬
fällen von Darmkolik litt, wurde unter den Erscheinungen des
Darmverschlusses ins Spital gebracht; bei der Operation zeigte
sich im Ileum ein harter Tumor, der weder vorwärts noch rück¬
wärts geschoben werden konnte und sich als Haarballen von
2V3 Zoll Länge, 4V2 Zoll Umfang und iVs Zoll Durchmesser
erwies. Nach der Operation befand sich die Patientin durch
vier Wochen sehr wohl, bis sie Symptome des Pylorusverschlusses
zeigte; im Erbrochenen fanden sich Haare. Die neuerliche
Operation zeigte im Pylorus festgeklemmt einen Haarballen von
150 g Gewicht, der 4V2 Zoll in der Länge und, 3 Zoll im Durch¬
messer maß. Seither befindet sich die Patientin wohk — (British
med. Journ. 1906, S. 1126.) F. W.
*
4. (Aus der k. k. Lebensmitteluntersuchungsanstalt
der deutschen Universität in Prag. Vorstand Prof. Hueppe.)
Ueber Bleivergiftungen durch eine Wasserleitung.
Von Inspektor Dr. S. Fortner. In einem Hause waren von
27 Inwohnern 17 an Bleivergiftung erkrankt, zwei Kinder derselben
erlegen. Die ganze Sachlage wies auf das Trinkwasser tals Krank¬
heitsquelle hin, das auch 17-5 mg Bleioxyd im Liter aufwies.
Mit Berücksichtigung aller Umstände wurde das Gutachten dahin
abgegeben, daß die bleilösende Wirkung des vorliegenden, ziem¬
lich weichen Wassers unterstützt worden sein dürfte 1. durch
die ziemlich lange (680 m) Bleirohrleitung, 2. durch die Be¬
schaffenheit des Wassers an sich, namentlich durch seine geringe
Härte, 3. durch geringe Mengen von eindringenden ni tri thältigen
Fäkalwässern. Erst IV2 Jahre später gelangt man zur Ariffindung
der wahren Ursache, als Schönleins Abhandlung ,, Ueber die
Umwandlung der alkalischen Nitrate in Nitrite“ berücksichtigt
wurde. Schön lein hat 1861 darauf hingewiesen, daß Blei
wässerige Lösungen von Alkalinitraten reduziert, in dem Alkali-
nitrit gebildet wird und Blei in Lösung geht. Die im Institute
ausgeführten Versuche ergeben nun, daß schon geringe Mengen
von Nitraten genügen, eine Bleilösung — ■ auch in geschwe¬
felten Bleiröhren — herbeizuführen, daß daher ein auch noch
so geringer Nitratgehalt des Wassers die Benutzung von Bleiröhren
zu Wasserleitungszwecken vollständig ausschließt. — (Archiv für
Hygiene, 54. Bd., 4. H.) Pi.
*
5. (Aus dem pathologischen Institut Tübingen.) Ex-
p e r i m e n t e ü b e r d i e Wirkung der B i e r s c h e n S t a u u 11 g
auf infektiöse Prozesse. Von Prof. Dr. P. v. Baum¬
garten. Verf. hat seine Untersuchungen über die Wirkung der
Bi er sehen Stauung an Kaninchen angestellt, an deren einer
unteren Extremität die venöse Stauung durch Umschnüiung mit¬
tels eines 8 min dicken Gummirohres in der Schenkelbeuge her¬
beigeführt wurde. Als Infektionserreger wurden Tuberkelbazillen,
Staphylokokken und Milzbrandbazillen verwendet. Die Infektion
geschah teils intraartikulär (Kniegelenk), teils subkutan. Die
Dauer der Stauung betrug bei den Tuberkuloseversuchen eine
bis zwei Stunden täglich, wochenlang fortgesetzt, bei den Staphylo¬
kokkenversuchen 12 bis 24 Stunden, mit Pausen von 24 Stan¬
den, längere Zeit fortgesetzt, bei den Milzbrandversuchen ein¬
malig 24 bis 48 Stunden. Am günstigsten waren die Resultate
bei den Milzbrandversuchen. Hier gelang es, bei Verimpfung
einer nicht zu großen Bazillenmenge, die Infektion durch die
Stauung vollständig zu unterdrücken, wenn sofort nach der Im¬
pfung die Stauung begann und 36 bis 48 Stunden fortgesetzt wurde.
Weniger günstig verliefen die Staphylokokkenverisuche. Bei klei¬
neren Haut- oder Gelenkseiterungen kam die Heilung mit Hilfe
der Stauung rascher zustande, als ohne dieselbe. Ausgedehntere
Abszedierungen erfuhren unter der Stauung eher eine Verschlim¬
merung und in einigen Fällen trat nach Lösen der Binde rascher
Tod der Versuchstiere ein, wahrscheinlich infolge rapider Auf¬
saugung des mit Toxinen und Endotoxinen der Staphylokokken
geschwängerten Stauungstranssudates. Eine andere ungünstige Be¬
obachtung ist der Befund von virulenten Kokken in den Gelenks¬
membranen. der anscheinend geheilten Gelenke. Fast ^\drkungs-
los blieb die Stauungsbehandlung in den Tuherkuloseversuchen.
Es wurde, um analoge Verhältnisse wie bei der menschlichen
Gelenkstuberkulose herzustellen, den Versuchstieren durch intra¬
artikuläre Injektion von Tubei’kelbazillen, besondei*s von Perl-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
siichtbazillcn, ein klassischer Tumor albns eines oder beider Knie¬
gelenke beigebracht. Zur Kontrolle wurden in einer Reihe von
Experimenten beide Kniegelenke tuberkulös infiziert. Trotz der
wochenlang fortgesetzten Stauungsbehandlung erreichte der Tumor
albus auf der behandelten Seite dieselbe Größe wie auf der an¬
deren, nicht beliandelten. Histologisch komiten keine Heilungs¬
erscheinungen in den der Stauung untei'worfenen tuberkulösen
Gelenkstumoren konstatiert werden. Es gelang in den Versuchen
auch nicht, die von der tuberkulösen Lokalinfektion ausgehende
Allgemeintuberkulose durch Stauung zu unterdrücken oder zu
hemmen ; die behandelten Tiere starben ebenso früh an der¬
selben schweren Allgemeintuberkulose, wie die nicht behandelten.
Aber auch in den mit menschlichen Tuberkelbazillen erzeugten
Infektionsfällen war die Stauungsbehandlung weder imstande, die
Lokaltuberkulose zur Heilung zu bringen, noch die tödliche All¬
gemeintuberkulose zu verhüten. Selbst geringfügige, lokalisiert
bleibende Gelenkstuberkulosen konnten durch die Stauungsbehand¬
lung nicht zur Heilung gebracht werden. Die Ursache der aller¬
dings nur bedingt günstigen Wirkmig des Bier sehen Verfahrens
bei akuten Infektionsprozessen liegt nach Verf. einerseits in der
verstärkten bakteriziden Wirkung der Körpersäfte, also in der
Verstärkung der natürlichen Heilkräfte des Organismus, und ander¬
seits in der Hemmung der Resorption durch die Binde. Als ein
weiterer Faktor der Wirksamkeit des Verfahrens dürfte die Zir¬
kulationsverlangsamung und Venninderung der Blutzufuhr anzu¬
sehen sein, wodurch das den Bakterien verfügbare Sauerstoff-
ffiiantum herabgesetzt wird, was namentlich für aerophile Mikro¬
organismen, wie Milzbrandbazillen, von Belang sein muß. Nicht
ohne günstigen Einfluß dürfte auch die durch das Stauungsödem
herbeigeführte Verdünnung der Toxine sein, sowie die dadurch
bewirkte pathologische Veränderung des Gewebstoffwechsels, die
auf die Bakterien schädigend ein wirkt, deren Existenz- und Wachs¬
lumsbedingungen hemtnt. Nicht allein auf die bakterizide Wir¬
kung des Staumigsödems die Heilerfolge des Bier sehen Ver¬
fahrens zurückzuführen, nötigt den Verfasser, die Beobachtung
des langsamen Absterbens und teilweisen Ueberlebens der Infek-
lionsorganismen im Stauungsgebiet, eine Erscheinung, die weit
mehr den Eindruck eines Hungertodes, als den eines Vergiftungs¬
todes durch bakterizide Substanzen macht. Da die Tuberkel¬
bazillen gegen die bakteriziden Substanzen des normalen Serums
so gut wie unempfindlich und auch gegen Plunger äußerst wider¬
standsfähig sind, ist es begreiflich, daß diese Behandlung bei
den tuberkulösen Prozessen versagt. — (Münchener medizinische
Wochenschrift 1906, Nr. 48.) G.
*
6. (Aus der chirurgischen Fakultätsklinik des Professors
W. J. Rasumovsky in Kasan.) Die Unterbindung der
Schilddrüsenarterien beim Kropfe. Von Dr. B. P. Eno-
chin. Nach einem Bericht über sechs seit 1902 ausgeführte
Schilddrüsen- Arterienunterbindungen bei parenchymatösen Gefäß*-
kröpfen, nach welchen es bei vier zirka ein bis zwei Jahre
post opera tionem beobachteten Patientinnen zu ausgezeichneten
Resultaten kam (Abnahme der Halszirkumferenz um 6 bis 13 cm.
Verschwinden der dyspnoischen Beschwerden, Besserung des
Allgemeinbefindens — ein Patient ging durch Verblutung aus der
Karotis am 15. Tage post operationem zugrunde, infolge Usur
des Gefäßes durch ein Drainrohr, in einem Fall schien es sich
um einen malignen Kropf zu handeln — ) kommt Verf. zu folgenden
Schlußthesen: 1. Die Unterbindung der Schilddrüsenarterien ist
hauptsächlich bei vaskulösen Kröpfen indiziert. 2. Bald nach der
Operation wird eine Verkleinerung des Kropfes beobachtet,
die progressiv weiterschreitet. 3. Zweifellos schwinden in einigen
Fällen die subjektiven Beschwerden (Husten, Atembeschwerden);
in einigen Fällen folgt allgemeine Kräftigung; Wiederherstellung
zum gewohnten Bemf. 4. Das kosmetische Resultat ist ein ver¬
hältnismäßig geringes. 5. Zur Unterbindung der Art. thyr. inf.
erscheint das Verfahren nach Drobnik als das beste; die Arterie
muß samt umhüllendem Zellgewebe ligiert Averden; eine doppelte
Ligatur ist nicht obligatorisch. 6. Die Einlegung eines Drainrohres
zwischen Arteria carotis und Wirbelsäule muß wegen Dekubitus
und drohender tödlicher Nachblutung vermieden werden. —
(Archiv für klinische Chirurgie 1906, 80. Band, 4. Heft.) F. H.
♦
7. Ueber eine neue Anwendungsweise der kon¬
zentrierten Karbolsäure in der externen Therapie,’
vor allem bei Bubonen und Furunkulose berichtet cand.
med. Werner Wolff. In der medizinischen Universitätspoliklinik
in Leipzig (Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Hoffmann), Abteilung für
Hautkranke (Assistent Dr. Hans Vörner), wurden Bubonen in¬
folge von Ulcus molle, dann Fuiamkel, Skrofuloderma, Stoma¬
titis aphthosa und ulcerosa mit bestem Erfolg mit Acid, carbolic,
per alcoholem liquefactum (9 : l) behandelt. Geschlossene Bu¬
bonen wurden am ersten Tage mit einem Anstrich von reiner
Karbolsäure im Bereiche der Schwellung versehen. Die Karbol¬
säure wurde mittels eines mit Watte umwickelten Stäbchens in
einem etwa 0-5 bis 1 cm breiten Strich einmal aufgetragen. Das
Verfahren wird einige Tage lang fortgesetzt, bis die Haut an¬
fängt, sich abzuschuppen. Einige Tage Pause, dann nochmaliger
Anstrich, wenn der Bubo nicht zurückgegangen ist. Der fluk¬
tuierende Bubo wird ebenfalls zwei bis drei Tage bestrichen,
am vierten Tage, wenn die Fluktuation nicht geschwunden, er¬
öffnet (Inzision von etwa 2 cm Länge), der Eiter abgelassen,
die Abszeßhöhle mit reiner Karbolsäure ausgestrichen, dann ver¬
bunden. Letzteres wird jeden zweiten und dritten Tag wieder¬
holt, bis die Höhle granuliert, dann ein indifferenter Verband
(Salbe oder Jodoformgaze) appliziert. Durchbrochene Bubonen
werden wie durch Schnitt eröffne te behandelt. Die Furunkel
werden, wenn sie klein und nicht erweicht sind, nur zentral mit
Karbolsäure betUpft; bei größeren Furunkeln werden die zentral
gelegenen Haarbälge, bzw. Talgdrüsen Öffnungen mit einer feinen
Nadel oder Sonde tuschiert. Ist der Knoten erweicht, so wird
der schon vorhandene oder durch Einstich gemachte Kanal (nach
Abfluß des Eiters) dazu benützt, die Höhle mit Karbolsäure zu
tuschieren. Das geschieht einmal täglich, oft genügt aber eine
einzige Betupfung. Nach der Aetzung wird eine Bor- oder Silber¬
salbe appliziert, bei starker Schwellung die Vörner sehe Lösung
angewandt (Acidi borici 4-00, Liqu. alumin. acet. ad lOO). Beim
Tuschieren tauche man das mit Watte umwickelte Stäbchen nicht
zu tief in die Karbolsäure, um ein Ueberfließen derselben auf das
gesunde Gewebe zu venneiden. Bei Stomatitis aphthosa und
ulcerosa (Stomakake) genügte ein- oder zweimaliges Betupfen
der Schleimhaut, um alle krankhaften Erscheinungen zu beseitigen.
Skrofuloderma oder skrofulöse und tuberkulöse Drüsen wurden
in derselben Weise behandelt, erst ausgekratzt, dann mit Karbol¬
säure betupft. — (Deutsche medizinische Wochenschrift 1906,
Nr. ;45.) E. F.
*
8. Ueber die Heilbarkeit des Karzinoms im
allgemeinen und des Zungenkarzinoms im beson¬
deren. Von P. Poirier. Obwohl kein Heilmittel gegen den
Krebs existiert, so ist er doch in der Mehrzalil Mer Fälle durch
frühzeitiges, ausgiebiges und die Verbreitungswege berücksich¬
tigendes operatives Eingreifen heilbar. Unter allen Umständen
ist daran festzuhalten, daß der Krebs als lokale Erkrankung
beginnt und je nach der Art und dem Boden, auf welchem er
sich entwickelt, verschieden lange Zeit auch lokal bleibt. Aus
diesem Grunde ist es erklärlich, daß die Möglichkeit einer Dauer¬
heilung von 20 bis 40% der Fälle bei frähzei tiger, den xAnfor-
derungen des Falles entsprechender Operation gegeben ist. Die
Röntgenstrahlen wirken auf oberflächliche Läsionen heilend, viel¬
fach auch schmerzlindernd, sind aber gegen die viszeralen Kar¬
zinome wirkungslos. Bei diesen Formen sind aber auch die
chirurgischen Eingriffe, weil die Erkrankung erst in einem vor¬
gerückteren Stadium diagnostiziert wird, wenig erfolgreich. Be¬
züglich des Zungenkarzinoms erstrecken sich die Erfahrungen
des Vortragenden auf 32 Fälle, wovon sieben unmittelbar nach
der Operation zugrunde gingen, ein Fall zehn Tage nach der
Operation iin Anschluß an eine Adrenalininjektion; diese un¬
mittelbare Mortalität von 25% erklärt sich aus der außerordent¬
lichen Schwere der als inoperabel betrachteten Fälle. In elf
Fällen kam es innerhalb des ersten Jahres nach der Operation
zu Rezidive, welche fünfmal in den Lymphdrüsen, bei den übrigen
Fällen als massive Infiltration der Halsgegend auftrat. Die Rezi¬
dive der ersten Gruppe wurden neuerlich operiert und es sind
zwei Fälle seit 13, resp. sieben Monaten anscheinend geheilt.
Die übrigen acht Fälle sind seit verschieden langer Zeit, zwei
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
darunter seit fünf Jahren geheilt, über fünf Fälle konnten keine
Nachrichten erhalten werden. Die Radiotherapie ist gegen den
Zungenkrebs vollständig machtlos, zunächst tritt wohl Schmerz-
hndcrung ein und die Drüsen werden kleiner, inzwischen dringt
jedoch das Karzinom in der Tiefe weiter und es wird in der
Weise der richtige Zeitpunkt für einen cliirurgischen Eingriff
versäumt. In allen Fällen von suspekter Ulzeration oder IiuUi-
ration der Zunge muß man sofort an Epitheliom denken und die
Diagnose durch Untersuchung eines Gewebsstückchens zu sichern
(rächten. Da sich das Karzinom meist auf dem Boden der
Leukoplakie entwickelt, so ist in gewissem Sinne eine prophy¬
laktische Therapie möglich, indein man beim ersten Anzeichen
einer Transformation der Läsionen operativ eingreift. Tabak¬
rauchen und Syphilis stehen in der Aetdologiei des Zungenkarzinoms
in erster Reihe. Unter den 32 Fällen des Verfassers waren sämt¬
liche Raucher und bei 27 war Syphilis mit Sicherheit nachweisbar.
Man darf das Zungenkarzinom als die Erkrankung der syphiliti¬
schen Raucher bezeichnen. — (Bull, de TAcad. de Med. 1906,
Nr. 36.) a. e.
*
9. Aus der Anstalt Herzberge der Stadt Berlin (Direktor:
Geheimrat Moeli). Untersuchungen über die Erweite¬
rn n g d e r Pupillen a u f p s y c h i s c b e und sensible Reize
nebst einigen allgemeinen Bemerkungen über P u-
pillenreaktionen. Von Dr. med. Artur Hermann Hül)ner.
Laqueur hat seinerzeit zuerst die Wes tie n sehe Lupe zur
Beobachtung der Schwankungen des Irissaumes mit Erfolg be¬
nützt und Bumke erwies mit Hilfe desselben Instrumentes das
Fehlen der psychischen und sensiblen Reaktion bei Fällen von
E einen tia praecox. Hübner bediente sich gleichfalls der We¬
st i e n sehen Lupe zu seinen Untersuchungen über die Pupillen-
bewegungen bei geistesgesunden und geisteskranken Versuchs¬
personen auf psychische (plötzliches, heftiges Erbrechen) und sen¬
sible Reize (Nadelstiche). Bezüglich der iVufmerksamkeits- und
Vorstellungsreflexe kam Hübner zu dem Resultat, daß, von
seltenen Ausnabmef allen abgesehen, jedes psychische Geschehen
von einer Erweiterung der Pupillen begleitet ist. Der mit der
Lupe beobachtete Pupillensaum zeigt meistens mehr oder minder
lebhafte Bewegungen, die in der Aufeinanderfolge und Ausschlags¬
größe schwankend, bei Gesunden nie fehlen: die Pupillenunruhe
(Laciueur). Es handelt sich hier uni Balancierbewegungen der
unter verschiedenen Einflüssen stehenden Irismuskulatur, wes¬
halb die Pupillenunruhe wohl zu unterscheiden ist vom Hippus,
einem klonischen Iriskrampf. Bei organischen Hirnerkrankungen,
die mit Störungen des Lichlreflexes einbergehen — Tabes, Para¬
lyse, Lues cerebralis, Dcnientia senilis — bleibt die Pupillenunruhe
aus u. zw. schon zu einer Zeit, in der man die auf Licht
erfolgende Iris verenge rung noch nicht als pathologisch l)ezeichnen
kann. Bei Dementia praecox und bei manchen Imbezillen fehlen
die feinen IrisschwankUngen, ohne daß der Lichtreflex gleich¬
zeitig beeinträchtigt wäre. Hübner hat auch das Verhalten der
psychischen und sensiblen Reaktion bei der Intoxikation mit
Alkohol untersucht und gefunden, daß unter gewissen Umständen
unter dem Einfluß des Alkohols eine Steigerung der Pupillen¬
reaktionen zustande konimt. Die gleiche Beobachtung machte
man an Patienten, die an Unfallsneurosen leiden. Bei Epileptikern,
Hysterischen, im Beginne der Paralyse und namentlich bei Neu¬
rasthenikern finden sich in einem Teile der Fälle die Pupillen-
i'eaktionen gesteigert. Hübner bespricht dann noch an einzelnen
Fällen die Herabsetzung und das völlige Ausbleiben der psychi¬
schen und sensiblen Reaktion. Während diese, sowie die Pupillen¬
unruhe bei den funktionellen Psychosen ausbleiben können, ohne
daß eine Störung des Lichtreflexes nachzuweisen ist, geschieht
dies bei den organischen Erkrankungen des Gehirns nur dann,
wenn die Verengerung auf Licht träge ausfällt oder fehlt. Das
Fehlen der Pupillenunruhe und sensiblen Reaktion bei erhalteneoi
oder ,, schießendem“ Lichtreflex und prompter Ko^nvergenzver-
cngeiimg spricht für Denientia praecox, während das alleinige
Fehlen der Pupillenunruhe bei noch vorhandeneni Lichtreflex
und erhaltener sensibler Reaktion den Verdacht auf eine orga¬
nische Gebirnerkrankung (Tabes, Paralyse, Lues) erweckt. Im
allgemeinen bringt Hübners Arbeit manches Bekannte, aber
daneben zahlreiche neue Befunde, welche praktischen Wert haben
und zu weiteren Studien Anregung geben dürften. — (Archiv
für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 41, IL 3.) S.
5t<
10. (Aus dem hygienischen Institut des Prof. Rübner
in Berlin.) Die Bakteriendurchlässigkeit der nor¬
malen Magendarmschleimhut im S äu g 1 i n g s alte r. Von
Dr. Hilgermann. Fütterungsversuche an neugeborenen Kanin¬
chen und Meerschweinchen mit Blindschleichentuberkel- und Petri¬
bazillus ergaben einen Durchtritt dieser sowohl im Magen, als
auch im Verlaufe des ganzen Darmkanals in die Schleimhaut.
Daß die Aufnahme der Bazillen in die Schleimhaut durch vor¬
handene Läsionsstellen erfolge, ist nicht anzunehmen, viel näher
liegt der Gedanke, daß gemäß der Behauptung Behrings die
Schleimhaut im jugendlichen Zustande der natürlichen Schutz¬
stoffe entbehre, um einen Uebertritt durchwandernder Bakterien
verhindern zu können. — (Arch, für Hyg., 54. Bd., 4. H.) Pi.
*
11. lieber die Aktin omykosis des Processus ver¬
miformis sprach F. H. Ke Hock in der Medical Society
von London ; er hat in den letzten drei Jahren sieben Fälle beob¬
achtet. Die Streptothrixinfektion des Wurmfortsatzes kommt in
zwei Formen vor, für sich und in Verbindung mit einer septischen
Pyelophlebitis ; auf die Tendenz der Abszesse, in einiger Ent¬
fernung von dem Krankheitssitze durchzubrechen, ist großes Ge¬
wicht zu legen. Neben der lokalen Therapie ist von reichlichen
Gaben von Jod und von xArsen Gebrauch zu machen. — (The
Lancet 1906, p. 996.) F. W.
12. x4us der psychiatrischen Klinik in Freiburg i. B.
(Prof. Dr. Hoche). Experimentelle Tabes bei Hunden
(T r y p a n 0 s o in e n t a b e s). Von Dr. W. S p i e 1 in e y e r, xAssistenz-
arzt der Klinik. Verf. berichtet,^ daß sieb infolge von Trypano-
someniiifektion degenerative Veränderungen im Zentralnerven¬
system von Hunden entwickeln können, die denen bei der ge-
wöhnlicben Tabes des Menschen prinzipiell gleich sind. xAnlaß
zu diesen Versuchen gab dem Verfasser die Tatsache, daß zwischen
der sogenannten Schlafkrankheit und der progressiven (post¬
syphilitischen) Paralyse gewisse anatomische und klinische Be-
ziehmigen bestehen. Hier wie dort finden sich degenerative Ver¬
änderungen des nervösen Gewebes neben entzündlichen Verände¬
rungen an den Gefäßen. xAiich in klinischer Beziehung gesellen
sich bei beiden zu den Symptomen der fortschreitenden psychi¬
schen Schwäche körperliche nervöse Störungen (Sprachstörung,
xAiiomalien der Reflexe, der Sensibilität etc.). Weiter sollen nach
Ansicht vieler Autoren die Trypanosoinen den Spirochäten nahe
verwandt sein. Diese Beziehungen nun bewogen den Verfasser,
auf experimentellem Wege festzustelleii, ob und welche genieiu-
saine Züge zwischen Trypanosonierikrankheiten und syphilitischen,
resp. postsyphilitischen Erkrankungen sich auffinden ließen. Mit
einem Stamme von Trypanosoma Brucei machte Verf. Ueber-
tragungsversuche auf Tiere, von denen Aläuse, Ratten und Affen
der Infektion schnell erlagen. Bei Hunden dagegen, die neun bis
zehn Wochen nach der Impfung am Leben erhalten werden
konnten, gelang es, mit Hilfe der Marc hi scheu Chromosmiuin-
methode frische Degenerationen im Gebiete der hinteren Rücken-
maikwurzeln, der sensiblen Trigeminuswurzel und im Optikus
nachzuweisen. Klinisch ließen sich bei den Tieren sichere An¬
zeichen für eine Erkrankung dieser Systeme nicht nachweisen.
abgesehen davon, daß die Sehnenreflexe an den vorderen Extremi¬
täten schwächer waren als vorher. Wenn Verf. von einer Tabes
bei Flunden spricht, so bezieht er sich lediglich auf den histo¬
logischen Befund, vor alleni auf die elektive Degeneration der
Hinterwurzeln. Aus einem beigegebenen Querschnittbilde vom
oberen Halsmark geht hervor, daß sich die Hinterwurzelerkrankung
im wesentlichen auf die zervikalen Segmente beschränkt; denn
die aufsteigende Degeneration von Hintenvurzelfasern aus den
tieferen Abschnitten des Rückenmarks ist sehr gering. An
Schnitten ans den Brust- und Lumbalsegmenten des Rückenmarks
überzeugt mau sich, daß, je tiefer man konimt, desto geringer
die Zerfallserscheinungen an den sensiblen Wurzelfasern sind.
]\lan bat es also mit einer zervikalen Tabes im ersten Stadium
zu tun. Die Berechtigung von einer tabischen Rückenmarksvei’-
ilnderung, von einer „Trypanosonientabes“ zu reden, gründet
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
Verf. vor allein auf diese elektive Erkrankung des zentripetalen
Abschnittes des sensiblen Protonelirons. Regelmäßiger noch als
diese Hinterwurzelveränderungen, fanden sich, bei den Hunden
Entartungsprozesse in der sensiblen Trigeminus wurzel, d. h. also,
in einem zerebralen ,,Hinterwui’zel“gebiete. Es stimmt also auch
darin der histologische Befund bei dieser „Trypanosomentabes“
mit dem bei der postsyphilitischen Tabes des Menschen überein.
Von besonderer Wichtigkeit ist endlich noch die Miterkrankung des
Optikus, die Verf. allerdings nur in zwei Fällen nachweisen
konnte. Mit Rücksicht auf die Lokalisation der degenerativen
Vorgänge — die Erkrankung der Hinterwurzelsysteme und die
Beteiligung des Optikus — und mit Rücksicht auf die Eigenart
des degenerativen Prozesses — die primäre Fasererkrankung —
erscheint es dem Verfasser gerechtfertigt, hier von einer tabischen
Erkrankung bei Hunden zu sprechen: die „Trypanosomentabes“
dieser Hunde stimUit in ihrem histologischen Verhalten prinzipiell
mit der postsyphilitischen Tabes des Menschen überein. —
(Münchener mediz. Wochenschrift 1906, Nr. 48.) G.
^/ermisehte flaehrichten.
Verliehen: Den Privatdozenten an der Universität in
Lemberg, Dr. Franz Kosmiiiski (Greburtshilfe), Dr. Ladislaus
Bylicki (Geburtshilfe) und Dr. Gustav Bikeles (Neurologie),
der Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors.
*
Habilitiert: Dr. Artur Brückner für Augenheilkunde
in Würzburg.
♦
Gestorben: Der Privatdozent für Arzneimittel und innere
Medizin, Prof. A. Buchwald in Breslau.
*
Nach Ablauf der Funktionsdauer der bisherigen Mitglieder
wurde der niederöste rreichische Landes sanitätsrat
neu zusammengesetzt. Derselbe besteht für das Triennium 1907
bis 1909 aus folgenden Mitgliedern u. zw. dem niederösterreichi¬
schen Landessanitätsreferenten, Statthaltereirate Dr. August Neto-
litzky, aus den von der Regierung ernannten sechs Mitgliedern:
a. o. Universitätsprofessor, Regierungsrat Dr. Julius Mauthner,
Dr. Anton Merta, kaiserlicher Rat und Polizeichefsarzt Dr. Josef
Nowak, Direktor des k. k. Elisabeth- Spitales, o. ö. Universitäts¬
professor Hofrat Dr. Leopold Oser, o. ö. Universitätsprofessor
Dr. Richard Pal tauf, o. ö. Universitätsprofessor Dr. Artur
Schattenfroh, endlich aus den vom niederösterreichischen
Landesausscbusse entsendeten zwei Mitgliedern: dem .Hegierungs-
rate Dr. Ludwig Piskacek, Professor an der k. k. Hebammen¬
lehranstalt und Regierungsrate Dr. Adalbert Tilkowsky, Direktor
der niedei'österreichischen Landesirrenanstalt in \\Ten. Als
ständige außerordentliche Mitglieder hat der Statthalter in Oester¬
reich unter der Enns für bestimmte Fachangelegenheiten den
Mitvorstand des Wiener Apothekerhauptgremiums Mag. pharm.
Hugo Bayer, den Oberbaurat und Vorstand des Hochbaudepar¬
tements der Statthalterei, Michael Fellner, den Direktor der
staatlichen Impfstoffgewinnungsanstalt Dr. Gustav Paul, denOber-
stadtpbysikus Dr. Theodor Szongott und den Landesveterinär¬
referenten Karl Wittmann berufen. Die Wiener Aerztekammer
hat ihren Vizepräsidenten Dr. Eduard Dirmoser und als dessen
Stellvertreter Dr. Heinrich Grün, die Aerztekammer für Nieder¬
österreich mit Ausnahme von Wien ihren Präsidenten, Doktor
Josef List in Retz und als dessen Stellvertreter Dr. Friedrich
J a n e c z e k in Herrnbaumgarten zu ihren Delegierten im Landes¬
sanitätsrate gewählt.
*
Durch eine Kundmachung des k. k. Statthalters im Erz-
herzogtume Oesterreich unter der Enns, vom 13. Dezember 1906,
/. XI— 955/3, betreffend ein allgemeines Regulativ für
den Transport und die Abgabe Infektionskranker in
die öffentlichen und privaten Krankenanstalten in
M ien, werden die seinerzeitigen Bestimmungen vom Jahre 1903
außer Kraft gesetzt. Nach der neuen Verordnung sind zur Auf¬
nahme Infektionskranker nur nachstehende Spi-
läler berechtigt: A. Oef fentliche Spitäler, a) K. k.
Kaiser-Franz- Joseph- Spital für Pest, Blattern, Cholera,
Flecktyphus und andere hochinfektiöse Krankheitsformen, Baucb-
typhus, Dysenterie, Scharlach, Masern, Varizellen, Diphtheritis
nnd Rotlauf; b) k. k. K r a nk e n a n s tal t „Ru d o 1 p h- S ti f tu n g“
für Banchtyphus, in beschränktem Maße auch Rotlauf; c) k. k.
Kai serin- Elisabeth- Spital für Diphtheritis, Bauchtyphus,
Dysenterie und Rotlauf; d) k. k. Krankenanstalt Erz-
herzogin-Sophien-Spitalstiftung für Bauchtyphus, Dys¬
enterie und Rotlauf; e) ,k. k. Wilhelminen- Spital für
Bauchtyphus, Rotlauf (in beschränktem Maße und Dys¬
enterie (bei Erwachsenen) ; Diphtheritis, Keuchhusten, Masern,
Rotlauf, Scharlach und Varizellen (nur für Kinder). B. Privat¬
spitäler. a) Krankenhaus der Barmherzigen Brüder
in der Leopoldstadt, für Bauchtyphus und Rotlauf; b) Leo¬
poldstädter Kinderspital für Diphtheritis, Masern und
Scharlach; c) Kr onprinz- Rudolph-Kinderspi tal für
Diphtheritis, Masern und Scharlach; d) St. Annen-Kinder-
spital für Diphtheritis, Masern und Scharlach; e) St. Joseph-
Kinderspital für Diphtheritis, Masern und Scharlach; f) Karo-
linen-Kinderspital für Diphtheritis, Masern, Scharlach und
Varizellen. Zum Transporte Infektionskranker in eines dieser
Spitäler darf nur der städtische Infektions wagen be¬
nützt werden, welcher im Wege des zuständigen k. k. Polizei¬
kommissariates zu requirieren ist. Die Benützung öffentlicher
Lohnfuhrwerke zur Beförderung von Infektionskranken ist strenge
untersagt.
*
Die Neuwahl des Vorstandes des ,, Vereines der Aerzte des
1. Bezirkes“, welche am 10. Dezember v. J. stattfand, ergab
folgendes Resultat: Obmann: Prof. Dr. L. Königstein; Ob¬
mannstellvertreter: Prof. Dr. E. Finger; Kassier: Dr. J. Sa-
muely; 1. Schriftführer: Dr. Walter Bienenstock; H. Schrift¬
führer: Dr. Otfried Fellner.
*
Der 24. Kongreß für Innere Medizin in Wies¬
baden, findet vom 15. bis 18. April 1907, unter dem Vorsitzei
des Herrn Geheimrat v. Leyden, statt. Am ersten Sitzungstage:
Montag, den 15. April 1907, soll folgendes Referatthema zur
Verhandlung kommen: Neuralgien und ihre Behandlung.
Referent: Schnitze -Bonn. Folgende Vorträge sind bereits
angemeldet: Hui smans- Köln: Ein Beitrag zur pathologischen
Anatomie der Tay-Sachs sehen familiären amaurotischen Idiotie.
V. Jaksch-Prag: Ueber chronische Mangantoxikosen. Treupel-
Frankfurt a. M. : Der gegenwärtige Stand der Lehre der Perkussion
des Herzens. F r a n z e - Bad Nauheim : Demonstration einer durch¬
sichtigen Zeichenebene für Orthodiagraphie. C. Hirsch- Leipzig
und W. Spalte holz -Leipzig: Koronarkreislauf und Herzmuskel,
anatomische und experimentelle Untersuchungen. Ed. Müller-
Breslau : Das proteolytische Leukozytenferment und sein Anti¬
ferment. Ed. Mül 1er- Breslau und J ochmann -Berlin : Demon¬
stration einer einfachen Methode zum Nachweise proteolytischer
Fermentwirkungen. Anmeldung von Vorträgen nimmt Geh. Sani¬
tätsrat Dr. Emil Pfeiffer, ständiger Sekretär des Kongresses für
Innere Medizin, Wiesbaden, Parkstraße 13, entgegen.
♦
Mit Beginn des neuen Jahres erscheint im Verlage von
Urban & Schwarzenberg in Wien eine Halbmonatsschrift,
die sich ,,Gynäkolo gische Rundschau“ betitelt und von
Dr. Oskar Frankl in Wien redigiert wird. Wenn sich die gynäko¬
logische Literatur bisher nur auf Abhandlungen aus dem Gebiete
des erkrankten und graviden Genitales beschränkt hat, so soll
die neue Zeitschrift auch Originalien und Referate aus den Grenz¬
gebieten zwischen Frauenheilkunde und den übrigen medizinischen
Disziplinen : Innere Medizin, Neurologie, Kinderheilkunde, Chi¬
rurgie, Urologie und gerichtliche Medizin, Hebammenwesen, Ge¬
schichte der Gynäkologie bringen. In der Rubrik ,, Referate“
sollen nur Lehrbücher und Monographien einzeln besprochen,
sonst ein Hauptgewicht auf Sammelreferate gelegt werden. Alle
14 Tage soll ein Heft erscheinen. Preis des Jahrganges K 18.
*
Vorläufiges Ergebnis der Sanitätsstatistik bei
der Mannschaft des k. und k. Heeres im Oktober 1906.
Krankenzugang 24.291 Mann, entsprechend 78°/oo der durch¬
schnittlichen Kopfstärke; an Heilanstalten abgegeben 13.074 Mann,
entsprecliend 42%o der durchschnittlichen Kopfstärke; Todes¬
fälle 44 Mann, entsprechend 0-14Voo der durchschnittlichen Kopf¬
stärke.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 50. Jahreswoche (vom 9. bis
15. Dezember). Lebend geboren, ehelich 623, unehelich 225, zusammen 848.
Tot geboren, ehelich 45, unehelich 35, zusammen 80. Gesamtzahl der
Todesfälle 639 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17-0 Todesfälle), an Bauchtyphus 2, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 10,
Scharlach 7, Keuchhusten 5, Diphtherie und Krupp 9, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 4, Lungentuberkulose 95, bösartige Neu¬
bildungen 57, Wochenbettfieber 2. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 31 ( — 18), Wochenbettfleber 3 (-|- 2), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 89 (+ 27), Masern 269 (+ 56), Scharlach 89 (-f 13), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 6 (— 1), Ruhr 1 (-f 1), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 120 (+ 1), Keuchhusten 39 (— 7), Trachom 6 (-j-3).
Influenza 0 (0).
Nr. 1
27
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Yerhandlungen ärztlicher Glesellschaften und Eongreßberichte.
INHALT:
fJesellscliaft für iunere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 13. Dezember 1906.
Wissenschaftlicher Verein der Älilitärärzte der (larnison Wien.
Sitzung vom 15. Dezember 1906.
Aerztlicher Verein in Brünn. Sitzung vom 21. November 1906 und
12. Dezember 1906.
78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Stuttgart,
16. bis 22. September 1906.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil- I
künde in Wien.
*
Sitzung vom 13. Dezember 1906.
Ad. Zeman demonstriert das anatomische Präparat eines
Falles von narbiger Stenose des linken Conus ar¬
teriosus. Der 19jährige Patient war an ulzeröser Endokarditis
gestorben. Das ganze Herz ist vergrößert, namentlich der linke
Ventrikel; an der Bikuspidalis finden sich endokarditische Auf¬
lagerungen, im Conus arteriosus sitzt ein aus fibrösem Gewebe
bestehender, quergespannter Ring, mit enger, zentraler Oeffnung.
lieber dem Ring befindet sich eine aneurysmatische Ausbuchtung,
die Klappen sind stark ausgebuchbet und stellenweise zerrissen.
Der Ring dürfte durch einen im Fötalleben durchgemacliten ent¬
zündlichen Prozeß entstanden sein. Bemerkenswert ist die un¬
gewöhnliche Enge sämtlicher Arterien.
Maxim. Sternberg bespricht die Krankengeschichte des
Falles. Der junge Mann wußte seit seiner Jugend, daß er herz¬
leidend sei. Kurz vor dem Tode trat die Endokarditis auf. Am
ganzen Thorax, vorne, war ein Schwirren zu verspüren, am
stärksten im zweiten Interkostalraum, aber nicht auf eine um¬
schriebene Stelle desselben beschränkt. Dem Schwirren entsprach
ein sehr lautes, systolisches Geräusch, der Puls war nicht ab¬
norm niedrig.
Maxim. Weinberger berichtet über den Obduktionsbefund
des in der Sitzung vom 18. Oktober vorgestellten Falles von
Aneurysma der Aorta am Bogen und dessen absteigendem Teile,
welches eine Kompression des Nervus recurrens, der Trachea
und des linken Hauptbronchus, mit folgender Atelektase des linken
Unterlappens und Retraktion des Herzens, sowie des Mediastinums
in die linke Thoraxhälfte herbeigeführt hatte. Seit der Zeit der
Vorstellung nahmen die Beschwerden des Kranken und die iltem-
not zu und nach wenigen Tagen erfolgte der Exitus. Bei der
Obduktion fanden sich : Chronische Endarteriitis der Aorta ascen-
dens, in den linken Bronchus perforiertes Aneurysma der Aorta;
Kompression des linken Bronchus, eitrige Bronchitis und lobuläre
Pneumonie, links Emphysem, Perikarditis, totale Anwachsung der
linken und partielle der rechten Lunge, hochgradige Kompression
des linken Hauptbronchus mit Atelektase der Lunge. Durch
die Anwachsung der Lunge an den Thorax läßt sich erklären,
daß die linke, bei der zunehmenden Kompression ihres Bronchus
luftarm werdende Lunge sich nicht gegen den Hilus retrahierte,
sondern gegen die Thoraxwand zu und daß sie dabei das Media¬
stinum mit sich zog und so dislozierte.
L. Hofbauer bemerkt, dieser Fall zeuge deutlich, daß
die früher als charakteristisch für Bronchostenose angesehene
Wanderung des Mediastinums nicht mehr vorhanden ist, respek¬
tive auch bei anderen Fällen Vorkommen kann. Wie er in einer
ausführlich in Holzknechts ,, Mitteilungen“ enthaltenen Arbeit
mit Holzknecht nachweisen konnte, kann als Folge einer ein¬
seitigen Lungeninfiltration schon inspiratorische Mediastinal-
wanderung auftreten.
M. W e i n b e r g e r s t imnit den von Hofbauer ange-
führten Tatsachen bei, auf welche er schon früher aufmerksam
gemacht hat. Die Bedingungen, welche zu einer Verschiebung des
Mediastinums führen, entstehen auch durch die verschieden¬
artigsten Krankheiten, welche das Eindringen der Luft in die
Lunge erschweren.
Salomon: Versuche über Ser um diagnose des
Karzinoms. Vortr. hat diese Versuche bereits vor IV2 Jahren
vorgenommen, konnte sie aber aus äußeren Gründen nicht weiler¬
führen. Er untersuchte die Frage, ob das spezifische Gewebe
des Karzinoms nach Einverleibung in den Tierkörper, dem Serum
besondere Eigenschaften mitteilt. Die Versuche ergaben, daß es
den Anschein hat, als ob im Karzinomserum sich Antifermente
befinden, welche auf die Autolyse des Karzinomgewebes hemmend
einwirken. Die Hemmung der Hämolyse durch Karzinomserum
verläuft nicht anders als diejenige durch normales Serum, beide
wirken stark hemmend auf die Hämolyse. Wurde ein Kaninchen
mit getrockneter, zerriebener und in Kochsalzlösung auf¬
geschwemmter Karzinomsubstanz injiziert, so lieferte es ein
Serum, welches Karzinomserum fällte. Dieser Befund läßt sich
aber nicht verallgemeinern, weil er nur in einem einzigen P'alle
erhoben wurde.
E. Ranzi hat zahlreiche Versuche unternommen, um zu
einer Serumdiagnose des Karzinoms zu gelangen; dieselben fielen
aber sowohl bezüglich der Präzipitinreaktion, als auch der Kom¬
plementablenkungsmethode negativ aus.
L. Hofbauer weist darauf hin, daß derartige Versuche
vielleicht über die Aetiologie des Asthma carcinomatosum (Alte¬
ration des Serums) Aufklärung bringen könnten.
Pribram bemerkt, daß seine Serumversuche ebenfalls
negativ ausgefallen sind.
Art. Klein erklärt den Vorgang bei der „Komplement¬
ablenkung“.
K. Stejskal bemerkt, daß es sich bei den vom Vor¬
tragenden erhaltenen Präzipitinen nach ihren Eigenschaften nicht
um Karzinompräzipitine, sondern um Allgemeinpräzipitine für
Menscheneiweiß handeln dürfte, welche der Absättigung ent¬
gangen sind.
Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der
Garnison Wien.
Sitzung vom 15. Dezember 1906.
Stabsarzt Dr. Franz stellt mehrere Soldaten mit Herzneu¬
rosen vor, bespricht die xVetiologie und den Einfluß gewisser
militärischer Dienstleistungen auf die Entstehung, bzw. Ver¬
schlimmerung derselben. Verhältnismäßig häufig treten Herz¬
neurosen bei Leuten des M i 1 i t ä r w a c h k 0 r p s auf, welchen die
Bewachung der Sträflinge obliegt.
Weiters werden vom Vortragenden drei Fälle von Endo¬
karditis nach Gonorrhoe, Pneumonie und Gelenks¬
rheumatismus, endlich eine Concretio cordis cum per i-
cardio demonstriert und besprochen.
Regimentsarzt Dr. Mattau schek stellt einen Fall von
psychogener Hemiplegie, nach Trauma vor.
Bei einem hereditär belasteten, neuropathischen Individuum
traten nach einem Sturze aus einer Höhe von ca. 4 m, nach
wenigen Minuten Bewußtseinsverlust, tonisch -klonische Krämpfe
auf, welche während der 24 Stunden dauernden Bewußtlosigkeit
durch Druck auf die Lendenwirbelsäule und auch durch Be¬
rührungen mit der bloßen Hand mehrmals in Form von Jak¬
tationen und tonischen Kontraktionen auszulösen waren.
In dieser Zeit kamen auch delirante Phasen, sowie leiden¬
schaftliche Stellungen (Attiludes passionelles), wobei Pat. im Bette
auf beiden Füßen stand, zur Beobachtung. Später linksseitige
Hemiparese, ohne Hirnnervenstörung, ohne Reflexsteigerung (Ba-
binski, Oppenheim -Gordon nicht vorhanden) oder Reflex¬
differenzen, statische Skoliose. Bei den ersten Gehversuchen
starkes und auffallendes Taumeln, linker Füß dabei mit der Sohle
schleifend, oder mit der Ferse stampfend, Flankengang nach der
gesunden Seite besser.
Außerdem nur geringe Herabsetzung des Lagegefühles im
linken Sprung- und an den Zehengelenken, sowie faradokutane
Hypästhesie des Beines.
Rasche Heilung unter Psychotherapie und faradischer Be¬
handlung. Nach Erörterung der differentialdiagnostischen Mo¬
mente, gegenüber organischer Affektion Feststellung des psycho¬
genen Charakters der Erkrankung.
Regimentsarzt Dr. Koder stellt neun Fälle aus der fünften
Abteilung des Garnisonspitales Nr. 1 (Stabsarzt v. Wolff) vor,
u. zw. je einen Fall von Fractura colli anatomici humeri,
Fractura patellae, Fractura et luxatio hallucis com¬
plicata, einen Fall von Mus artic. genusi, zwei Fälle von
Abtragung epiphysärer Exostosen der Tibia, zwei Fälle
von Zysten des Samenstranges, endlich einen Fall, bei
welcbem die Hämorrhoidalknoten nach der Methode von
Whitehead exzidiert wurden. Diese auf der Abteilung geübte
Methode liefert nach den Älilteilungen des Vortragenden gute
Erfolge und baldige Heilung.
Diskussion: Begimentsarzt Dr. Jeney macht einige Be¬
merkungen bezüglich der Exzisionsmethode der Häm or-
28
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
r h o i d alk n 0 1 e n nach Whitehead. Diese zeichnet sich zwar
durch eine kurze Zeitdauer aus, doch haften derselben derartige
Nachteile an, daß sie dermalen von den meisten deutschen
Chirurgen verlassen ist. Als Nachteile der Exzisionsmethode
sind, wenn die Heilung nicht per primam erfolgte, Stenosen
und Bildung von rigiden Narben aju Anus anzuführen.
Als ein weiterer Nachteil ist die lästige Schleimahsonderuiig zu
nennen, da die Mastdarmschleimhaut unmittelbar an die Haut
angrenzt. Auch wurde, allerdings in seltenen Fällen, eine relative
Inkontinenz, anschließend an die Operation beobachtet. Diese
ist durch eine leichte Läsion des Sphinkters zu erklären, welche
sich c'iuch bei sorgfältiger Ablösung der Hämorrhoiden kaum
vermeiden läßt. Die kürzere Heilungsdaucr der Exzisionsmethode
ist im Vergleich zur längeren der deutschen, sogenannten
L a n g e n 1) e c k sehen Methode, zwar bestechend, doch setzt dies
eine prima intentio voraus, welche gerade in der Anal¬
gegend nicht immer zu erreichen ist. Durch eine Heilung per
granulationem würde dem Kranken nur geschadet werden.
Regimentsai'zt Dr. Sc hei dl stellt vier Fälle aus seiner
Abteilung vor; 1. Einen Fall von komplizierter Fraktur des
Unterschenkels. 2. Einen Fall von Periostitis mit Karies des
rechten Unterkieferknochens. Da der JManii vor seiner Militärdienst¬
zeit in einer Zündhölzchenfabrik beschäftigt war, so kann es
keinein Zweifel unterliegen, daßi die Nekrose auf diese Be¬
schäftigung zu beziehen ist. Auffallend ist auch, daß die Schädi¬
gung des Knochens durch Phosphor durch zwei Jahre okkult blieb
und es erst im Anschlüsse an die geischilderte Beinhautentzündung
zur Nekrose kam. 3. Komplizierter Bruch des Unterkiefers.
4. Selbstmordversuch mit einem Infanteriegewehr, wobei der Täter
die Gewehrmündung zwischen Kinn und Kehlkopf ansetzte.
Begiinentsarzt Dr. Urpani stellt aus der dermatosyphiliti-
schon Abteilung des Garnisonspitales Nr. 2 zwei Fälle von extra-
genitalem syphilitischen Primäraff ekte vor, von
welchen der eine an der linken Stirnseite und der zweite an
der linken Wange saß. Ferner demonstriert Urpani einen Fall
von E r y t h e m a exsudativ u m m u 1 1 i f o r m e g y r a t u m.
Regimentsarzt Dr. Borschke stellt einen Mann vor, der
seit zirka fünf Wochen an Husten und seit drei Wochen an
Atemnot leidet, die nur nach stärkeren Anstrengungen auf tritt
und nach ganz kurzer Zeit der Ruhe wieder verschwindet. Der
Mann hat vor zwei Jahren eine linksseitige Pleuritis durchgeraacht.
Die Untersuchung ergibt über der linken Spitze Schallverkürzung
und zahlreiche kleinblasige Rasselgeräusche, an der Basis links
eine Dämpfung, welche vorne bis zur dritten Rippe, hinten bis
zum fünften Dornfortsatz reicht. Das Atmungsgeräusch daselbst
abgcschwächl, bzw. aufgehoben. Handbreit nach links vom achten
Dornfortsatz, hört man ein Geräusch von Rasseln und Reiben,
mit deutlich singendem, musikalischem Charakter, das synchron
mit der Herzaklion ist. Am deutlichsten hört man daselbe bei
maximaler Inspiration und leicht vorgeneigtem Körper, in welcher
Stellung es so laut ist, daß man es schon hört, wenn das Ohr
noch einige Zentimeter von der Brustwand entfernt ist.
Redner glaubt, daß es sich hier um eine Kaverne liandelt,
welche mit den großen Luftwegen direkt kommuniziert und welche
durch die Herzaktion erschüttert wird. Es mag gleichzeitig durch
die Herzbewegung an der Pleura pulmonalis und pericardialis ein
Reibegeräusch entstehen, welches durch den Hohlraum der Ka-
vei'iie wie durch einen Resonator verstärkt wird.
Regimentsarzt Priv.-Doz. Dr. Reuter demonstriert die ana¬
tomischen Präparate zweier Herzen mit hochgradiger Ste¬
nose des linken arteriellen Ostiums. Diese hatte sich in
beiden Fällen auf dem Boden einer mykotischen Endo-
kai'ditis entwickelt und zeichnen sich diese Fälle namentlich
dadurtdi aus, daß trotz der schweren anatomischen Veränderungen
die klinischen Erscheinungen nur geringgradige waren und der
Tod plötzlich eintrat.
peil Schlußi der Sitzung bildet die Fortsetzung der Dis¬
kussion über den Vorlrag des Liiiienschiffsarztes Doktor
Koren can, an welcher sich die Regimentsärzte Dr. Schcidl
und Priv.-Doz. Dr. Biehl beteiligen.
Sc hei dl bemerkt, daß auch er mit der Bi er sehen Stauung
recht gute Resultate erzielt habe und verweist unter anderem
auf den Inhalt seines Vortrages, den er voriges Jahr im Vereine
hielt. Priv.-Doz. Dr. Biehl betont unter spezieller Besprechung
einiger Fälle aus seiner Praxis, daß er keine günstigen Er¬
fahrungen mit der Bier sehen Stauung gemacht habe. Er müsse
im allgemeinen vor der Anwendung derselben in der Obrenheil-
kunde warnen, nur bei der Oloskhn’ose könne sie von
günstigem Einflüsse sein, namentlich mit Rücksicht auf
die subjekliveu Beschwerden bei derselben. Hingegen empfehle
er auf Grund eigener Erfahrungen die Saugung nach Klapp,
wenn diese mit entsprechender Vorsicht vorgenommen werde.
(Demonstration.)
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 21. November 1906.
Vorsitzender: Kais. Rat Dr. Kroczak.
Schriftführer ; Dr. Schweinburg.
Di rektor Dr. Bittner demonstriert :
1. Einen Fall von Karies des Humerus, der unter Anwendung
der M ose tig sehen Jodoforinplombe geheilt wurde; gleichzeitig
wird das Röntgenbild eines anderein, mit Hilfe desselben Verfahrens
behandelten, geheilten Falles (Caries calcanei) demonstriert.
2. Einen operativ geheilten Fall von Atresia ani vaginalis;
die Operation bestand in der Bildung eines Afters und im Ver¬
schlüsse der Komlnunikationsfistel.
3. Einen Fall von Kryptorchismus, der durch Operation
geheilt wurde. Da der Samenstrang so kurz war, daß der Hoden
nicht in das Skrotum heruntergezogen werden konnte, mußten
die Gefäße des Samenstranges durchschnitten werden, da Vor¬
tragender aus zahlreichen Erfahrungen weiß, daß dieser Eingriff
ausgeführt werden kann, ohne daß Nekrose des Hodens oder der
in Betracht kommenden Gebilde auftritt. Von 16 einschlägigen
Fällen hat Vortr. fünf Fälle in der angegebenen Weise operiert:
auch der demonstrierte Fall zeigl, daß der Eingriff keine schäd¬
lichen Folgen hat, anderseits aber den Zweck der Operation er¬
möglicht.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. S 1 e r n b e r g demonstriert :
1. Einen Ischiopagus parasiticus; von den beiden mit den
Becken verwachsenen Früchten ist die eine vollständig nonnal,
die andere rudimentär entwickelt, indem der Kopf derselben von
einem behaarten, fleischig anzufühlenden Wulst gebildet wird
und ihre oberen Extremitäten stark mißbildet sind; ihre unteren
Extremitäten sind normal entwickelt. Beide Früchte haben ein
besonderes, ziemlich normal geformtes (männliches) Genitale, das
beiderseits an der Flanke der Mißbildung sitzt. Die SektioJi der
inneren Organe ergab an der entwickelten Frucht keine Beson¬
derheiten (bis auf den Befund am Dickdarm). Bei der rudimen¬
tären Frucht fehlen die Brastorgane, sowie Milz, Leber und
Magen; an ihrer Stelle liegt ein von Schleimhaut ausgekleideler
Sack, in dessen Wand sich einige knorplige Einlagerungen finden.
Der Sack geht in ein Konvolut von Dünndarmschlingen über, an
welches sich ein Dickdarm mit Processus vermiformis anschließt.
5 cm dir.tal von der Bauhinschen Klappe münden sowohl der
Dickdarm der eni wickelten, als jener der rudimentären Frucht
in einem gemeinsamen ämpullären, mit Mekonium prall gefüllten
xAnteil, von welchem beiderseits je ein einem Enddarm entsprechen¬
des Darmstück abgeht. Der eine, offenbar der rudimentären Frucht
angehörige Enddarm führt zii einem in der linken Flanke
gelegenen Anus, der andere mündet in eine in der rechten Flanke
gelegene Harnblase (iVtresia ani vesicalis). Die zu dieser Harn¬
blase gehörigen Nieren und Ureteren sind normal entwickelt;
auf der anderen Seite findet sich eine hochgradige, sehr große
Zystenniere, während die zweite Niere normal ist, eine sehr
beträchtliche Erweiterung beider Ureteren und eine hühnerei¬
große, sehr dickwandige Harnblase.
Vortr. bespricht im Anschluß an diese Demonstration die
Einteilung und Entstehung der Mißbildungen im allgemeinen, so¬
wie namentlich die Entstehung der Doppehnißbild’ungen, im Lichte
der neueren Ergebnisse der Entwicklungsmechanik.
2. Zwei Präparate von Ulcus rotundum duodeni. In dem
einen Falle handelte es sich um einen 26jährigen Taglöhner,
der ganz plötzlich unter dem Bilde der Perforationsperitonitis'
erkrankt war; in der Annahme einer Appendizitis Avurde die
Operation ausgeführt, der Appendix liiebei jedoch normal befunden'.
Die Obduktion ergab ein perforiertes Ulcus duodeni. Der zweite
Fall betrifft einen 79jährigen Mann, der an einer schweren
Arteriosklerose mit Enzephalomalazie verstorben war; bei der
Obduktion fand sich der Darmtrakt mit Blut ausgefüllt und als
Ursache der Blutung ein sehr umfangreicher Ulcus duodeni, das
die Arteria gastro-duodenalis arrodiert hatte. Vortr. bespricht
die Häufigkeit und Komplikationen des Ulcus duodeni.
Diskussion: Prim. Mager, Dr. Haas, Direktor Bi ttnci-,
Dr. Ster n b erg. ‘
Prim. Dr. Mager: lieber Pachymeningitis caseosa
externa. - i '
Bei einer 26jährigen Patientin ergab die klinische Unter¬
suchung eine notorische und sensible Paraplegie; der Ausfall
reichte bis zur sechsten Rippe; es bestand eine Schmerzhaftigkeit
in der Gegend des vierten und fünften Dorsalwirbels auf Druck.
Der Babinskische Reflex war beiderseits heiworzurufen, rechts
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCHllIFT. 1907.
29
viel stärker als links; es hesland an der linken Mamma Skrofulu-
derma und in den letzten Tagen der Beobaclitung trat ein reclds-
seitiges pleuritisches Kxsudat auf. Die Erkrankung' dauerle acht
Wochen. Vortr. bespricht die Differentialdiagiiose und begründet
die klinisch gestellte Diagnose auf Caries cohunnae vertebralis
sequente compressione medullae spinalis. Die Obduktion (Doktor
Sternberg) ergab nun das Bild einer Pachymeningitis caseosa
externa (Demonstration des Präparates); in der Höhe des fünften
und sechsten Brustwirbels fand sich an der Außenfläche der
Dura mater, zwischen dieser und der Wirbelsäule, mehr ent¬
sprechend der linken und vorderen Zirkumferenz des Rücken¬
markes, ein mächtiges, zum Teil verkästes, tuberkulöses Granu¬
lationsgewebe. Die Wirbelsäide bot weder bei der Obduktion, noch
am mazerierten Knochen eine Veränderung. Die Pleuritis war
auf den Durchbruch einer erweichten Bronchialdrüse zurückzu¬
führen (Kommunikation mit dem Oesophagus). Vortr. bespricht
das Krankheitsbild der Pachymeningitis caseosa externa, aus¬
gehend von der bekannten Arbeit Kahlers und begründet das
klinische Bild aus dem anatomischen Befund.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. Sternberg bespricht an der Hand
dieses Falles die durch Erweichung der Bronchialdrüsen liervor-
gerufenen Komplikationen und deren klinische Symptome.
Diskussion: Dr . Weiß, Dr. S t e r n b e r g.
Sitzung vom 12. Dezember 1906.
Vorsitzenider ; Kais. Rat Dr. Kroczak.
Schriftführer: Dr. Schweinburg.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. Sternberg beginnt die ange¬
kündigten Vorträ,ge ,,U eher sicht über die Ergebnisse der
Pmmunitätsle hre“ und bespricht zunächst die antitoxischei
Immunität, die Serotherapie und Ehrlichs Seitenketten theorie.
78. Versammlung deutscher Naturforscher und
Aerzte
in Stuttgart, 16. bis 22. September 1906.
(Schluß.)
Sitzung vom 20. September, vormittags 8 Uhr.
V orsitzender : Fehling.
S c h i c k e 1 e - StraJßburg : U e b e r die Implantation der
Eier im Ovarium.
S i p p e 1 - Frankfurt a. M. : Ueber einen neuen Vor¬
schlag zur Bekämpfung schwerster Eklampsie¬
formen..
Die aktive, auf möglichst rasche Beseitigung der Schwanger¬
schaft gerichtete Therapie genügt nicht in allen Fällen, ln vielen
Fällen ist die Ausscheidung des Giftes auch nach der Entbindung
noch gehemmt und hier kommt der zweite therapeutische Weg
in Betracht: die Entfernung der im Körper vorhandenen Toxine.
Die hiezu angewandten bekannten Mittel reichen nicht aus, oft
genug gehen die Kranken im Koma zugrunde. Dies hat seine
Ursache in einem Versagen der Nierenfunktion, die ihrerseits
wieder auf degenerativen Vorgängen infolge von Stauung beruhen.
Diese kommt in einer Volumvergrößerung des Organs zum Aus¬
druck. Einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Stauung haben
die Konvulsionen selbst. Die intrakapsuläre Drucksteigerung läßt
sich durch Spaltung der Kapsel, bzw. Nephrotomie beseitigen.
Sippel schlägt vor, in Fällen, in denen nach der Geburt trotz
entsprechender Hilfen die Nierensekretion nicht in Gang kommt,
die beiderseitige Spaltung der Nierenkapsel vorzunehrnen, ein
Vorschlag, den er bereits im Jahre 1900 gemacht hat. Ede-
hohls hat diese Operation zwar schon mit Erfolg gemacht,
jedoch ohne weitere Begründung, speziell ohne jede pathologisch¬
anatomische Unterlage.
Diskussion: K r ö n i g - Freiburg i. B. : Von chirurgischer
Seite wird die Wirksamkeit der Dekapsulation bei akuten Nieren¬
erkrankungen bezweifelt. Krönig wird aber im gegebenen Falle
nach dem Vorschlag von Sippel operieren.
Pankow- Freibürg i. B. : Ueber Reimplantation der
Ovarien beim Menschen.
Man imterscheidet autoplastische (Umpflanzung der eigenen)
und homoplastische (Einpflanzung der Ovarien anderer Frauen)
Transplantationen. Pankow berichtet über neun eigene Fälle
u. zw. sieben autoplastische und zwei homoplastische. Die sieben
ersteren wurden ausgeführt einmal wegen Osteomalazie, viermal
wegen Blutungen, einmal wegen Blutungen und Dysmenorrhoe,
einmal wegen Dysmenorrhoe allein. Die Ovarien wurden in eine
Bauchfelltasche zwischen Blase und Uterus eingenäht und Ein-
heihmg in fünf Fällen beobachtet. Die Resultate sind noch zweifel¬
haft: Dysmenorrhoe und Blutungen zeigten keine oder nur ge¬
ringe Besseiuiig. Bei der Osteomalazie trat anfangs rasch Besse¬
rung, nach Wiedereintreten der Periode aber erneule Verschlecb-
(einng ein, erst auf Allgemeiubehaiidlung mit Solbädern und
Lebertran erfolgte völlige Heilung. Die beiden Fälle von homo¬
plastischer Transplantation hatten keinen Erfolg, vielleicht läßl
sich dieser mit einer Modifikation des Verfahrens erreichen, elwa
durch Verwendung der Ovarien von Neugeborenen.
'Diskussion: Krönig- Freiburg i. B. pflanzt kleine Stücke
von Ovarien von Neugeborenen ein; er glaubt, daß die Weis¬
mann sehe Theorie durch zahlreiche homoplastische ITunsplan-
talionen gelöst werden könnte.
Pankow: Die implantierten Ovarien passen sich in ganz
kurzer Zeit ihren neuen Funktionen an.
S c h a 1 1 e r - Stuttgart : Z u r V a p o r i s a t i o n s f r h g e.
Z i e g e n s p e c k - München : U e her P e s s a r i e n .
Sitzung vom 21. September, vormittags 8 Uhr.
Vorsitzender: Sippel.!
Lewith-Wien: Ueber S t au u n g s b e h a n d I u ng bei
gynäkologischen A f f e k t i o n e n.
Lewith bedient sich eines mit Gummipfropf geschlossenen
und mit einem Manometer versehenen Glasröhrenspekulums. An¬
gewandt wurde das Verfahren bei Erosionen, Dekubitus, Zervix-
katarrh, Endometritis und Metritis, chronischer Parametritis mit
Endometritis, Hypoplasia uteri mit dys- und amenorrhoischen
Beschwerden. Gesaugt wird 5 bis 15 Minuten jeden zweiten bis
dritten Tag, im ganzen drei bis sechs Wochen lang. Resultate:
Bei Erosionen und Dekubitus kein Erfolg, bei Zervixkatarrh,
Endometritis und Metritis momentan rasche Besserung, nach Auf¬
hören der Behandlung WTedereinsetzen der Beschwerden. In Fällen
von chronischer Parametritis wirkt die Saugbehandlung analog
der Massage. In Fällen von Hypoplasie endlich, verbunden mit
Dys- und Amenorrhoe, wurden keine günstigen Resultate erzielt.
Sektion für innere Medizin, Chirurgie und Neu¬
rologie.
Gemeinschaftliche Sitzung vom 19. September 1906.
Ueber Hirn- und Rückenniarkschir urgie.
V orsitzender : Bruns- Hannover.
Saenger-Hamburg: Ueber Palliativtrepanation
bei inoperablen Hirntumoren.
Trotz der großen Fortschritte in der Chirurgie und Neuro¬
logie ist doch noch bei weitem der größere Teil aller diagnosti¬
zierten Hirngeschwnilste operativ unzugänglich. Anderseits gibt
es auch eine recht große Zahl von Hirntumoren, die nach unseren
gegenwärtigen Kenntnissen nicht lokalisiert werden können. WTe
sollen wir uns nun solchen Tumorkranken gegenüber verhalten?
Schon 1902 hat Vortr. diese Frage auf dem Chirurgenkongreß zu
Berlin behandelt. Der Vortragende verfügt jetzt im ganzen über
19 Fälle, bei denen die PalliativHepanation des Schädels aus¬
geführt worden ist. In zwei Fällen trat erst ein Erfolg ein,
als die Trepanationsöffnung erweitert worden war und mehr
Liquor cerebrospinalis abfließen konnte. In zwei anderen Fällen
hatte die Trepanation keinen Erfolg. In einem Falle von Basis¬
tumor trat unmittelbar nach der Trepanation Sopor ein, in dem
der Exitus erfolgte. In allen anderen Fällen war die wohltälige
Wirkung der Trepanation evident: Kopfschmerz, Erbrechen,
Krämpfe und andere Symptome, die durch den erhöhten Druck
im Schädelinnern hervorgerufen waren, so die Stauungspapille,
ließen nach und verschwanden völlig in einem Teil der Fälle.
Harvey Cushing empfiehlt, den Schädeldefekt in der Temporal-
ünd Okzipitalgegend mittels Muskulatur zu decken. Diese Methode
wurde von Dr. WM e sing er bei der Trepanation über dem
Kleinhirn schon seit vielen Jahren mit Erfolg angewendet. Als
Zeitpunkt des operativen Einschreitens ist der Beginn der Herab¬
setzung des Sehvermögens zu empfehlen. Trepaniert man später,
so bleibt sehr leicht eine Optikusatrophie zurück. Was den Ort
der Trepanation betrifft, so ist in erster Linie diejenige Stelle
der Hirnschale ins Auge zu fassen, unter welcher man den Tumor
vermutet. Ist eine Lokaldiagnose gar nicht zu stellen, so dürfte
sich empfehlen, über dein rechten Parietallappen zu trepanieren,
da von dieser Gegend am wenigsten Ausfallssymptome zu be¬
fürchten sind. Die Trepanation über den Kleinhirnhemisphären
ist nach den Erfahrungen des Vortragenden nicht so gefährlich,
wie man früher angenommen hat. Man muß nur sehr vorsichtig
zu Werke gehen und nach Freilegung der Dura eine Zeitlang
warten, bevor man dieselbe eröffnet. Die Lumbalpunktion und
die Punktion der Sei ten Ventrikel können sich in bezug auf Wirk¬
samkeit nicht mit der Trepanation des Schädels messen. Vortr.
resümiert auf Grund seiner erweiterten Erfahrungen seine Ansicht
dahin: die Palliativtrepanation des Schädels ist bei dem heutigen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
Stande der Chirurgie in den Händen eines geübten Operateurs
eine nahezu ungefährliche, ungemein segensreiche Operation, die
hei jedem inoperablen Hirntumor zu empfehlen ist, um die Qualen
des Patienten zu erleichtern und um denselben namentlich voi¬
der drohenden Erblindmig zu bewahren. (Autoreferat.)
Fedor Krause-Berlin: lieber die operative Behand¬
lung der Hirn- und Rückenmarkstumoren.
Kortikal sitzende Cxeschwülste sind nach lappenförmiger
Duraleröffnung meist leicht zu erkennen, bei subkortikalen leistet
die faradische einpolige Reizung mit sehr schwachem Strome
ausgezeichnete Dienste, wie überhaupt diese Methode auch im
Operationssaal für den Chirurgen unentbehrlich ist. Ebenso wie
Tumoren, müssen Gummata, Solitärtuberkeln und Zystenbildungen
behandelt werden.
Doch die Chirurgie der Zentralwindungen stellt heule nur
ein recht kleines Gebiet der Hirnchirurgie dar. Als Beispiel für
einen Tumor der Parietalregion zeigt Krause die Operationsbilder
eines von H. Oppenheim diagnostizierten pflaumengroßen, an
zwei Stellen eitrig geschmolzenen Solitärtuberkels, der in toto
exstiriDiert wurde. Wegen der Eitemng mußte die Wunde zwölf
Tage tamponiert und offengehalten werden ; der eintretende große
Hirnprolaps ließ sich durch Zurückklappen des Dural- und Haut¬
knochenlappens, sowie durch exakte Vernähung der weithin ab¬
gelösten umgebenden Haut beseitigen, so daß Heilung eintrat.
Der Kranke ging später an Lungenphthise zugrunde; die Autopsie
zeigte im Gehirn vollkommene Heilung und hier auch an keiner
anderen Stelle einen Tuberkelherd.
Dann ging Krause auf die Operationen am Stirnlappen
und in der vorderen Schädelgrube über und im Anschluß daran
besprach er die Freilegung der Hypophyse von vorn her nach
Bildung eines Stirnlappens. Dieser Operation wesentlichen Teil
hat er mit vollständigem Erfolge vor sechs Jahren ausgeführt,
um eine schwere Symptome veiursachende Revolverkugel aus
der Gegend des Chiasma zu entfernen. Der Operierte ist voll-
konunen gesund geblieben.
Die Geschwülste der mittleren Schädelgrube werden in ana¬
loger Weise entfernt, wie Krause bei der Exstirpation des
Ganglion Gasseri vorgeht. Die letztere Operation hat er 51mal
mit sieben Todesfällen ausgeführt und niemals innerhalb eines
Zeitraumes von 14 Jahren ein Rezidiv der Trigeminusneuralgie
beobachtet. Diese radikale Methode wendet er aber nur in den
schwersten Fällen an, wenn die ungefährlichen Resektionen der
peripheren Tiigeininusäste erfolglos geblieben sind; dann aber
ist die Exstirpation des Ganglion Gasseri durchaus zu empfehlen.
Bei den Eingriffen in der hinteren Schädelgrube und am
Kleinhirn bildet es einen Unterschied in der Technik, ob beide
Seiten oder nur eine freigelegt werden sollen. Letzteres Verfahren
kommt vor allem bei den sogenannten Akustikustumoren, den
Geschwülsten des Kleinhirnbrückenwinkels in Betracht. Durch
Freilegen und vorsichtiges Verschieben der betreffenden Klein¬
hirnhemisphäre medianwärts oder nach innen und oben kann
man die hintere Felsenbeinfläche und den hinteren Abschnitt
der Schädelbasis, sowie der hier liegenden Himnerven (Akustikus,
Fazialis, Glossopharyngeus, Vagus, Akzessorius) zu Gesicht bringen
und die in dieser Tiefe liegenden Tumoren, zumal sie meist ab¬
gekapselt und ausschälbar sind, entfernen. Eine derartige operativ
geheilte Kranke ist in der neurologischen Gesellschaft zu Berlin
vorgestellt worden. Im ganzen hat Krause zelm solche Opera¬
tionen ausgeführt; einen genauen Bericht über neun Fälle hat
er auf dem diesjährigen Chirurgenkongreß geliefert.
Weiter erörtert Krause die Prognose aller erwähnten
Hirnoperationen. Die wirkliche Heilutig einer Hirngeschwulst durch
den Chirurgen gehört immer noch zu den Seltenheiten. Bedenkt
man aber, daß jeder Kranke sonst verloren ist und zumeist
unter den allergrößten Qualen, so findet die Operation doch ihre
Berechtigung. Gelingt die radikale Entfernung nicht, so bedeutet
die Trepanation mit Duraleröffnung als druckentlastende Operation
eine große Erleichterung für den Kranken und häufig eine Ver¬
längerung seines Lebens. Einen solchen palliativen Eingriff darf
man mit demselben Recht vornehmen, wie z. B. die Gastrostomie
beim Speiseröhrenkrebs und dergleichen mehr. Die Hauptgefahren
der Operation sind Blutung und Shock, während die Infektion
mit einem hohen Grade von Wahi-scheinlichkeit auszuschalten
ist. Wenigstens hat Krause unter allen Operationen wegen Hirn¬
geschwulst und Epilepsie, sowie bei den 51 Exstirpationen des
Ganglion Gasseri keinen Kranken an Meningitis verloren. Man
muß immer auf die einzeitige Vollendung der Operation gefaßt
sein, da die Verhältnisse dazu zwingen können. Wenn aber die
Wahl offen bleibt, so ist das zweizeilige Verfahren am Gehirn
vorzuziehen. Man verteilt damit die Gefahr und vermindert sie
für jeden der beiden Eingriffe.
Ganz anders bei der Entfernung der Tumoren der
Rückenmarkshäute; hier ist das einzeitige Verfahren das
richtige, außerdem sollen die Wirbelbögen nicht erhalten, sondern
geopfert werden. Die Wundverhältnisse wenlen dadurch verein¬
facht, zudem haben die Bögen für die Stützfähigkeit der Wirbel¬
säule keine Bedeutung. Krause hat 19 derartige Operationen
mit fünf Todesfällen ausgeführt. Die älteste Patientin ist vor
sechs Jahren operiert und lebt — 72 Jahre — noch jetzt; es
handelte sich um ein Psammon in der Höhe des siebenten Brust¬
wirbels, das von Dr. Böttiger diagnostiziert worden war. Am
gefährlichsten sind die Eingriffe am oberen Halsinark; von drei
derartig Operierten sind zwei im Kollaps gestorben; bei einem
dritten mußte der Bogen des Epistropheus, des dritten und vierten
Halswirbels entfernt und nach Spaltung der Dura der untere
Teil der Medulla oblongata freigelegt werden, die Kranke ist
geheilt und hat sich zwei Jahre nach der Operation in guter
Gesundheit vorgestellt.
Von besonderen Schwierigkeiten, die sieb bei Rückenmarks¬
operationen berausstellen, sind zu erwähnen : inoperable Ge¬
schwülste; dann Verwachsungen im Arachnoidalraurn, die Tumor¬
symptome Vortäuschen oder oberhalb der wirklich vorhandenen
Geschwulst weit hinaufreichencl, zu einer falschen Segment¬
diagnose Veranlassung geben; endlich die sogenannte Meningitis
ex Arachnitide chronica, die, bereits von Oppenheim betont,
von Krause in mehreren Fällen bei der Operation gefunden
wurde. Für alle diese Vorkommnisse werden operative Erfah¬
rungen an Diapositiven vorgeführt.
Selbst bei Rückenmarksgeschwülsten können also noch dia¬
gnostische Schwierigkeiten mancherlei Art erwachsen; und doch
ist hier die Diagnostik dank der Segmentierung des Organs so
viel leichter und so viel weiter ausgebildet, als beim Gehirn.
Schon aus diesem Grunde sind die operativen Erfolge bei Rücken¬
markstumoren viel besser als bei Hirngeschwülsten; dazu kommt
noch die geringere Gefahr des Eingriffs. Wenn'' es aber der
einst gelingen sollte, die von vornherein inoperablen Hirntumoren
als solche zu erkennen und dann höchstens der druckentlastenden
Trepanation zu unterziehen, so werden die operativen Ergebnisse
auf diesem Gebiete bessere werden. Die großen Fortschritte der
neurologischen Diagnostik in den letzten Jahren, namentlich auf
dem Gebiete der Tumoren in der hinteren Schädelgrube, berech¬
tigen zu den begründeten Hoffnungen auch für die Clürurgie
des Großhirns. Die Fortschritte der Neurologen sind es, welche
auch die Chirurgen vorwärts bringen; denn diese sind ihre aus¬
führende Hand. (Selbstbericht.)
Steinthal- Stuttgart stellt einen Patienten vor, bei dem
die Palliativtrepanation gemacht worden ist. 37jähriger Mann,
bei dem ohne vorausgegangene anderweitige Erkrankung am 1. Mai
dieses Jahres eine Jack son sehe Epilepsie der linken Köi-per-
seite auftrat. Nach mehreren Anfällen blieb zunächst nur eine
Lähmung der linken Oberextremität und nach weiteren Anfällen eine
Lähmung der linken unteren Extremität zurück. Keine Allgemein¬
symptome von Hirndruck, speziell keine Stauungspapille. Zwei
Tage nach letztem Anfall zunehmende Somnolenz, Sinken der
Pulszahl, auch jetzt keine Stauungspapille. Wegen steter Ver¬
schlechterung des Allgemeinzustandes Trepanation über der
rechten motorischen Region. Weder kortikal noch subkortikal
Tumor gefunden, deshalb Schluß der Lücke unter Wegnahme des
Knochenstückes. Am Abend des Operationstages kehrt das Be¬
wußtsein wieder. Im Laufe der nächsten Wochen stete Besserung.
Jetziger Zustand: durchaus normales psychisches Verhalten, von
Hirnnerven nur noch im linken Fazialis leichte Parese in sämt¬
lichen Zweigen. Linksseitige zerebrale spastische Paralyse der
oberen Extremität, an der unteren Extremität keine motorische
oder sensible Störung, nur leichte Erhöhung der Sehnenreflexe,
Babinski positiv. Operation war indiziert durch die zunehmende
Somnolenz und die vorausgegangene typische Jacksonsche Epi¬
lepsie. Ob der Tumor nur nicht gefunden wurde, oder ähnlich
wie in den bekannten Fällen von Nonne überhaupt nicht exi¬
stiert, ist eine Frage der Zukunft. (Autoreferat.)
Oppenheim- Berlin verliest zunächst für den durch Krank¬
heit am Erstatten seines Referates verhinderten Geheimen Rat
Schultze-Bonn folgendes, von demselben eingesandtes Resümee:
1. Von 97 Gehirntumoren wurden im ganzen 19 operiert:
a) nur einmal wurde eine Heilung konstatiert, die ein paar
Jahre nach der Operation noch festgestellt wurde u. zw. bei
einem Kleingehirntumor ;
b) einmal wurde durch Ventrikelpunktion nach dem
Ne iss er sehen Verfahren eine sehr erhebliche Besserung erzielt,
so daß Stauungspapille und starke Amblyopie nebst Kopfschmerz
schwanden. Diese Besserung dauerte etwa drei Vierteljahre, dann
trat rasch der Exitus letalis ein;
Nr. 1
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Hl
c) nur in wenigen Fällen wurde durch Palliativirepanation
eine monatelange Besserung erzielt.
Das Ergebnis ist also leider trübe.
2. Dagegen wurden bei insgesamt elf Geschwülsten der
Rückenmarkshaut vier völlige Heilungen und eine dauernde we¬
sentliche Besserung konstatiert.
In den letzten vier noch nicht publizierten Fällen wurde
jedesmal der Tumor an der richtigen Stelle lokalisiert, war aber
zweimal entgegen der Wahrscheinlichkeitsdiagnose maligner
Natur und lag ein drittes Mal so hoch am oberen Halsteil, daß
der Operateur ihn nicht zu operieren wagte. Im vierten Falle
erfolgte vollständige Heilung. In den beiden ersten Fällen wurde
die Operation selbst gut überstanden.
Oppenheim-Berlin: lieber die operative Behand¬
lung der Hir n -Rückenmarks tu mo re n. (Referat, mit be¬
sonderer Berücksichtigung der gemeinschaftlich mit F. Krause
angestellten Beobachtungen.)
Der Vortragende beschränkt sich auf die Mitteilung persön¬
licher Erfahrungen, die dank seiner Beziehungen zu der v. Berg¬
mann sehen Klinik und einer Reihe anderer Chirurgen auf diesem
Gebiete unverhältnismäßig große sind. Zunächst ergänzt er die
Krause sehe Kasuistik, soweit sie sich mit der seinigen deckt,
durch die Schilderung der klinischen Verhältnisse und die Moti¬
vierung der Diagnose in einzelnen, besonders dringenden Fällen
von Tumor cerebri. Dahin gehört einer, in dem es gelungen ist,
durch die Entfernung einer Geschwulst aus dem linken Lohns
occipitalis vollkommene Heilung herbeizuführen, ein geradezu
ideales Resultat, wie es nur ausnahmsweise erzielt wird.
Ein zweiter gibt Anlaß, die Diagnose der Tumoren der
hinteren Zentralwindungen des Scheitellappens, auf Grund von
fünf eigenen Operationsfällen dieser Art, mit jedesmal zutreffender
.Diagnose zu besprechen. Von einem erfolgreich Operierten (Pro¬
fessor Bor char dt) dieser Kategorie zeigt Oppenheim das
stereoskopische Bild des Operationsbefundes und den heraus¬
genommenen Tumor. Dann bespricht er eingehender die Ge¬
schwülste der hinteren Schädel grübe und des Kleinhirnbrücken¬
winkels unter Demonstration der Präparate von mehreren, teils
mit Krause, teils mit Borchardt behandelten Fällen. Er hat
in den letzten Jahren acht dieser Patienten dem Chirurgen über¬
wiesen. Davon ist nur einer geheilt, ein zweiter vorübergehend
gebessert worden, während bei sechs die Operation mittelbar
oder unmittelbar den Exitus veranlaßt hat. Aber es handelte sich
immer um Gewächse von enormem Umfang.
Der Vortragende gibt dann eine Bilanz seiner seit Anfang
1903 operierten Fälle von Tumor eörebri. Es sind 27. Davon
sind drei (11%) geheilt, sechs vorübergehend gebessert (22-2%),
15 gestorben (55-5%), wobei allerdings zu berücksichtigen, daß
es sich zwölfmal um Gewächse der hinteren Schädelgrube han¬
delte. Drei Palliativoperationen mit zum Teil unsicherem Er¬
gebnis. In 23 von den 27 Fällen war sowohl die allgemeine, wie
die lokale Diagnose eine zutreffende. Einmal wurde statt des
erwarteten Kleinhirntumors ein Hydrozephalus gefunden, bei einem
anderen, bei welchem Hydrozephalus für wahrscheinlich gehalten
wurde, fand sich außer diesem ein Tumor des Lobus temporalis.
Einmal schwankte die Diagnose zwischen Tumor lobi frontalis
und corporis striati; im Bereich des ersten wurde er bei der
Operation nicht gefunden, der Kranke ging in andere Behandlung
über. In dem vierten Fall, in welchem Oppenheim eine Neu¬
bildung ,im Bereich der motorischen Region diagnostizierte, war
der dort bei der Operation erhobene pathologische Befund nicht
sicher als Tumor zu deuten. Diesen Patienten hat Oppenheim
aus den Augen verloren. Im ganzen hat nach seiner Erfahrung
von zehn oder neun für die chirurgische Behandlung sorgfältig
ausgesuchten und fast durchweg richtig diagnostizierten Fällen
nur einer Aussicht auf volles Heilresultat. Die chirurgische Be¬
handlung der Hirntumoren bildet also trotz einzelner blendender
Erfolge immer noch eine der schwierigsten und undankbarsten
Aufgaben ärztlicher Tätigkeit. Wenn es sich auch meist um
ein ohne diese Therapie tödliches Leiden handelt, verlangen doch
die Erfahrungen mit der Meningitis serosa, der akuten Hirn¬
schwellung und dem sogenannten Pseudotumor cerebri volle Be¬
rücksichtigung. Die Lehre v. Bergmanns, daß die Hirnchirurgie
eine Chirurgie der Zentralwmdungen sei, hat nach den neueren
Erfahiungen ihre Gültigkeit verloren. Von Oppenheims Ge¬
heilten gehört kein einziger diesem Gebiete (im Bergmann-
schen Sinne) an.
Weit günstiger sind die Ergebnisse der chirurgischen
Therapie der Rückenmarkshautgeschwülste. Der Vor¬
tragende gibt hier zunächst eine Statistik der eigenen Beobach¬
tungen, wobei er die Wirbelgeschwülste ausschaltet. In acht von
elf seiner Fälle war sowohl die allgemeine, wie die lokale Dia¬
gnose eine zutreffende, so daß der Tumor an der envarteten
Stelle gefunden wurde. (Demonstration der Präparate.) In zweien
lag eine lokalisierte Meningitis, bzw. Meningitis serosa spinalis
vor, in dem letzten die Kombination eines intramedullären Pro¬
zesses mit lokalisierter Meningitis am Orte des Eingriffs. Was
die therapeutischen Resultate anlangt, so ist die Operation in
den fünf von den elf Fällen eine glückliche, erfolgreiche gewesen.
In sechs hat sie mittelbar oder unmittelbar den (ödlichen Aus¬
gang herbeigeführt. Dazu kommen noch vier weitere Fälle, in
denen die Operation von vornherein als explorative ausgeführt
war und gerade diese Frage, die Berechtigung der explorativen
Laminektomie bedarf der eingehendsten Erörterung. Nur in
einem dieser Fälle ist der Exitus der Operation zur Last zu
legen, in einem zweiten hat sie Nutzen gebracht, in ' den beiden
anderen ist sie für den Verlauf irrelevant gewesen.
Oppenheim gibt eine Schilderung der klinischen und
diagnostischen Verhältnisse, wie sie in den vier Beobachtungen
Vorlagen und faßt seine Anscliauungen über die chirurgische
Behandlung der Rückenmarkshautgeschwülste zu folgenden Thesen
zusammen: 1. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß bei den
Krankheitszuständen, die die typische Symptomatologie der
Rückenmarkstumoren bieten, die chirurgische Behandlung dringend
indiziert ist. Beschränkt man sich auf diese Fälle, so ist schon
nach den jetzigen Erfahrungen in ca. 50% auf einen Heilerfolg
zu rechnen, der um so vollkommener sein wird, je früher der
Eingriff vorgenommen wird. 2. Auch bei typischer Symptomato¬
logie sind diagnostische Fehler möglich, indem das Bild des extra¬
medullären Tumors einmal durch Wirbelgeschwülste vorgespiegelt,
als auch ausnahmsweise durch einen lokalisierten meningi tischen
Prozeß oder duch die intramedulläre Neubildung vorgetäuscht
werden kann. Daß die Differentialdiagnose zwischen dem extra¬
medullären Tumor einerseits, dem intramedullären und den Wirbel¬
gewächsen anderseits noch keine ganz sichere ist, wird beson¬
ders durch die Kasuistik Nonnes (Stertz) bewiesen. 3. Unter
den Formen der lokalisierten Meningitis, die das Krankheitsbild
des extramedullären Tumors täuschend nachahmen können, ver¬
dient die von Oppenheim und Krause beschriebene Menin¬
gitis serosa spinalis ein besonderes Interesse. Es muß aber hervor¬
gehoben werden, daß es sich um einen noch nicht genügend fun¬
dierten Begriff handelt, daß es noch an abgeschlossenen Beobach¬
tungen fehlte, die die Existenz und die Pathogenese dieses Leidens
dartun und seine Beziehungen zur Symptomatologie in durch¬
sichtiger Weise erläutern. 4. Die Symptomatologie der extramedul¬
lären Rückenmarksgeschwülste ist sehr häufig eine atypische.
Eine große Zahl der chirurgisch heilbaren Neubildungen würde
also dieser Behandlung entzogen werden, wenn die Grenzen der
Indikationen nicht weiter gesteckt würden. Es muß somit die
Berechtigung der explorativen Laminektomie unbedingt anerkannt
werden. Gewiß soll sie nur ausnahmsweise auf Grund sorgfäl¬
tigster Erwägungen bei deutlicher Progredienz des Leidens in
differentialdiagnostisch schwierigen Fällen u. zw. dann vorge¬
nommen werden, wenn unter den verschiedenen Möglichkeiten
die Annahme einer extramedullären Geschwulst ein gewisses Maß
von Wahrscheinlichkeit besitzt. Es muß aber dann verlangt wer¬
den, daß bei unsicherer Allgemeindiagnose die Niveaudiagnose
eine möglichst bestimmte ist, damit der probatorische Eingriff
ein möglichst beschränkter bleibt und kein wesentliches Peri-
culum vitae mit sich bringt. 5. Die explorative Laminektomie
soll nicht an der Dura mater Halt machen. 6. Die Annahme
eines sog. Pseudotumor des Rückenmarkes schwebt noch in der
Luft, desgleichen die der spontanen Rückbildung. 7. Es ist sehr
wünschenswert, daß von dieser Versammlung die Anregung zu
einer Sammelforschung auf dem Gebiete der Hirn- und Rücken¬
markschirurgie ausgeht.
Bruns -Hannover hat bisher noch keinen vollen Erfolg
bei Hirntumoren gehabt, ist aber trotzdem auf dem Standpunkt,
daß wir weiter operieren müssen und auch, daß wir das Gebiet,
in dem wir operieren, möglichst weit ausdehnen. Lokal zu dia¬
gnostizieren und operabel sind auch Geschwülste im linken
Schläfenlappen, wie ein von ihm schon 1898 beobachteter Fall
bewies. Er hat in den letzten Jahren zwei Tumoren der einen
Kleinhirnhemisphäre und zwei des Kleinhirnbrückenwinkels nach
richtiger Diagnose zur Operation gebracht. Sie sind aber alle
bald nach der Operation gestorben. Im letzten Falle war Oppen¬
heims Areflexie der Kornea sehr deutlich, dazu noch Areflexie
von Nasenloch und Gaumen auf der Tumorseite. Den palliativen
Operationen steht er sehr günstig gegenüber, hat sie auch schon
früher wiederholt, ebenso wie jetzt Saenger empfohlen (Ver¬
sammlung niedersächsischer und westfälischer Irrenärzte 1903
und Eulenbur gs Realenzyklopädie 1905). In den letzten Tagen
hat er einen Fall zur Operation gebracht unter der Diagnose
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1
Tumor der Häiilo am oberon Zervikalmark, bei dem zuiiäcbsl uur
eine lokale, mit Serum gefüllte Ausdehnung der IMeningen ge¬
funden wurde. DifferenUaldiagnostiscli kommt hier auch manch¬
mal die mnlliple Sklerose in Betracht. Schließlich erwähnte
llruns zwei Fälle, deren Symptome alle für Ttunoren im Rücken¬
mark spräche]), aber alle oder teilweise wieder zurückgingen :
Pseudotumor jnedullae spinalis.
IN on ne -Hamburg tritt aueb für die Palliativtrepanalion bei
inoperablen und nicht genau zu lokalisierenden Hirntumoren ein.
Fünfmal hat Nonne die Operation ausführen lassen, vdermal mit
erheblichem Rückgang der cRiälenden subjektiven Symptome.
Nonne berichtet über zwei neue Fälle von ,,Pseudotuino)'
cerebri“, von denen einer unter Zerebellum-, der andere unter
Halbseitensymptomen verlief; bei beiden nicht der geringste An¬
halt für Syphilis, keine sonstige Aetiologie; zunächst unter Queck¬
silberbehandlung progressiver Verlauf, dann Rückbildung der Sym¬
ptome bis zu restloser Heilung. Nonne betont für sein Hirn-
luniorenniaterial die große Seltenheit der Puls Verlangsa¬
mung; er warnt an der Hand eines neuen vierten Falles aus
seinem Material aufs neue vor Lumbalpunktion bei Tumor cerebri.
Daß bei extraduraleiu, komprimierendem Rückenmarks tumor jeder
weseniliche S(ch'merz fehlen kann, erläutert Nonne an der
Hand eines eigenen Falles, in dem wegen Fehlens der Schmerz¬
symptome die Gelegenheit zur Entfernung eines gutartigen extra¬
duralen Zystofibroms versäumt wurde. Er tritt für die häufigere
Ausführung der Prohelaminektomie ein. Auch bei multipler
Sklerose können heftige Schmerzparoxysmen auftreten, wie
Nonne dies exquisit in einem Falle sah, in dem die Obduktion
multiple, kleine Gliawucherungen an den liinteren Wurzeln zeigte.
(S. einen Fall von Dinkier.)
=1=
H. Pf eif f er-Graz : Weitere experimentelle Stu¬
die n ü h e r d i e Aetiologie d e s p r i m ä r e n Verbrennungs¬
todes,
Vortr. berichtet über seine an 90 Tieren und an drei
menschlichen Verbrühungsfällen durcligeführten experimentellen
Untersuchungen. Er rekapituliert zunächst seine in den Jalireu
1904 und 1905 veröffentlichten Befunde über das, Erscheinen eines
toxischen Prinzipes im Harne und Serum verbrannter Kaninchen
und über die als Folge der Verbrühung auftretenden Krankheits¬
symptome und pathologisch-anatomischen Erscheinungen. Von
den letzteren sind bei den Versuchstieren konstant die Zerstörung
der roten Blutkörperchen und die Entwicklung: zaldloser ekchy-
motischer Geschwüre im Magendarmtrakt. Durch quantitative
Messung des nach dem Eingriffe erscheinenden toxischen Prin¬
zipes und durch den- Nachweis seiner Wirksamkeit auf die Spezies
des Giftproduzenten wird der Beweis erhrtacht, daßi es bei einer
großen Gruppe von letalen Verbrühungsfällen sich tatsächlich
um das Vorliegen einer Autointoxikation durch den in Rede stehen¬
den Giftköiper handelt. Dieser ist komplexer Natur, besitzt na¬
mentlich eine intensive Fernwirkung auf das Zentralnervensystem
und eine davon streng verschiedene nekrotisierende Lokalwirkung,
vermag aber die Erythrozyten nicht zu schädigen. Die Giftwir¬
kung normaler Tierseren gegenüber einer anderen Tierart ist
im wesentlichen zurückzuführen auf ilir Hämolysin und äußert
sich, im Gegensatz zu der Giftwirkung des Verbrennungsmaterials,
an der Tierart nicht, von welcher es stammt. Sie ist sicherlich
nicht identisch mit dem bei der Verbrennung wirksamen giftigen
Prinzip. Hingegen ist die Giftwirkung der im Vakuum unter Ver¬
meidung hoher Temperaturen gewonnenen Rückstände normalen
Menschen- und Tierharnes von weitestgehender Analogie mit jener
im Harne und Serum Verbrannter beschriebener. Auch hier
könne man zwischen einer neurotoxischen und nekrotisierenden,
voneinander unabhängigen Komponente unterscheiden. Außerdem
besitzt aber ein so gewonnener Rückstand im Gegensatz zum
unveränderten Harne eine intensive agglutinierende Wirkung auf
rote Blutkörperchen, die auf einen nicht dialysablen, bisher noch
unbekannten, thermolabilen Körper zurückgeführt werden muß.
Diese Versuche und der kurvenmäßige Ausdruck des Auftretens
der Gifte im Organismus verhrannter Kaninchen machen es wahr¬
scheinlich, daß es sich bei dem Verbrennungstod um nichts
anders als um eine Autotoxikose handelt, hervorgerufen durch
die Ueberproduktion und terminale Retention eines normaler-
Aveise in Sporen den Organismus passierenden Giftes durch die
primär von ihm geschädigten Nieren. Diese Vermutung wurde
durch die Untersuchungen des Vortragenden an nephrektomierten
Tieren bestätigt, bei welchen nicht nur das Auftreten derselben
Giftwirkung im Serum, sondern auch die Entwicklung derselben
hier so prägnanten Veiänderungen des Darmtraktes erkannt Aver-
den konnte. In demselben Sinne sprechen die Tatsachen, daß
es durch Verdauung von EiAveißköipern gelingt, Lösungen ana¬
loger Giftwirkung zu erzielen und daß es bei einem, durch
andere krankhafte Uisachen bedingten, gesteigerten EiAveißzerfall
zum Auftreten derselben GiftAvirkungen im Harne der Patienten
kommt.
Es handelt sich also bei der durch Nephrektomie erzeugten
Urämie um eine reine Retentiojistoxikose, bei dem primiiren
Verbrühungstod um eine Autointoxikation durch pathologische
Ueberproduktion und terminale Retention desselben giftigen Prin¬
zipes durch die geschädigten Nieren. Inwiefern daneben bei der
Veibrühung noch ,andere ätiologische Momente (Shock) eine Rolle
spielen, läßt Vortr. dahingestellt. Die Blutveränderungen, die
übrigens ausschließlich auf die Hitzewirkung und nicht auf die
Wirkung eines Hämolysins zurückzuführen sind, haben sicherlich
für den Eintritt des Todes in den typischen Fällen keine Avesent-
liche Bedeutung. Die bisher beohachteten drei Verbrühungsfälle
an Menschen sprechen dafür, daß hier dieselben ursächlichen
Momente eine Rolle spielen, wie dies für das Kaninchen gezeigt
wurde. Der geringen Zahl der Fälle wegen enthält sich aber
Vortragender bindender Schlüsse. Die Entscheidung der F rage,
ob die beobachteten Giftkörjrer echte Toxine sind, ob also durch
Vorbehandlung mit ilinen ein Antiserum gewonnen werden kann,
konnte Vortr. aus Mangel an entsprechendem Material nicht ent¬
scheiden. Auch diese Frage, ebenso wie jene, ob die tierexperi¬
mentellen Tatsachen auf den Menschen übertragen Averden dürfen,
können vom Kliniker nur durch systematische Bearbeitung eines
reichen, menschlichen Materials beantwoiiet Averden. (Die Arbeit
erscheint ausführlich in der Zeitschrift für Hygiene 1906.)
Prof. R. Kretz- Wien; Untersuchungen über die
Aetiologie der Appendizitis.
Kretz hat von 1901 bis 1905 unter 3579 Obduktionen
19 frische, akute Appendizitiden (phlegmonöse Form) untersucht
und in 14 Fällen, in denen die Halsorgane auch seziert Averden
konnten, jedesmal frischere Anginen mit akuter Halslymphdrüsen¬
entzündung gefunden. Kretz hält darum dieses Nebeneinander
von Wunnfortsatz- und Halsentzündung für ein typisches Er¬
eignis; da sich mikroskopisch der Tonsillen- und Halslymph-
drüsenbefund so verhält Avie bei tonsillärer Bakteriämie und Aveil
er in einem ganz frischen Falle von Typhlitis in dem adenoiden
GeAvebe der Pey er sehen Plaques embolisch mykotische Herde
fand, glaubt Kretz, daß die Appendizitis im Sinne Adrians
eine durch das Blut vermittelte Lokalisation der septischen Infek¬
tionen, etAva analog der Osteomyelitis und, Avie diese, gebunden
an ein geAvisses Funktionsstadium des hämopoetischen Systems,
darstelle. Auf Grund einer klinischen Beobachtung fand Kretz
Veranlassung, auch AAmniger foudroyante Fälle von Appendizilis
auf Residuen von Angina anatomisch zu untersuchen und konnte
denselben Zusammenhang auch hier nachweisen. Kretz' hält
die relative Gutartigkeit dieser späteren Manifestationen der sep¬
tischen Infektion für den Ausdruck einer gesteigerten Resistenz
des Individuums im Verlaufe der längeren Krankheitsdauer. Kon-
trolluntersuchungen eines großen Materiales auf Angina und ihre
Residuen ergaben, daß etAva die Hälfte aller pyogenen Infektionen
und namentlich die dem Internisten zugehörigen (Endokarditis,
Pleuritis, kryptogenetische Sepsis etc.) mit Halsentzündungen im
ätiologischen Zusammenhang stehen und er meint, daß gewisse
Fieberzustände des Kindesalters als frustane, postanginöse Bak¬
teriämien anzusehen seien. Im Sinne von SemmelAveiß vereint
die Angina ätio- und epidemiologisch die heterogenen Formen
der pyogenen Infektion.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der am Montag den 7. Januar 1907, 7 Uhr «abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenfurmstraße 19, unter dem Vorsitze
des Herrn Hofrat Prof. Obersteiner stattfindenden wissenschaftlichen
Versammlung.
Doz. Dr. A. Schiff : Die praktische Bedeutung neuerer physiologi¬
scher Experimente für die Therapie der Magenkrankheiten.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch am 9. Januar 1907.
Programm: Demonstrationen.
Nach der Sitzung Zusammenkunft im Riedhof.
Vwantwortlicher R#dakt«ur: Adalbert Karl Trapp. Verlag Ton Wilhelm Branmüller in Wien.
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A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
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Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
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Telephon Nr. 16.282.
Redigiert von Prot* *. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlagshandlung:
Telephon Nr. 17.618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 10. Januar 1907.
Nr. 2.
INH
I. Original artlkel: 1. Zweiter Bericht über die Behandlung des
endemischen Kretinismus mit Schilddrüsensubstanz. Von
Prof. Wagner v. Jauregg.
2. Aus der chirurgischen Abteilung des städtischen allgemeinen
Krankenhauses in Linz a. d. Donau. (Primararzt : Dr. A. Brenner.)
Ein weiterer Fall von Totalluxation der Halswirbelsäule mit
Ausgang in Genesung. Von Dr. Hermann Riedl, Assistenten
der Abteilung.
3. Die Radioaktivität der Teplitz-Schönauer Urquelle. Von med.
Dr. Artur Hauser in Teplitz-Schönau.
4. Aus dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien. (Vor¬
stand: Prof. A. Weichselbaum.) Ein Fall von Aktinomykose
der großen Zehe. Von Dr. Külbs.
5. Erwiderung auf den Vortrag L. Töröks „Die Angioneurosen¬
lehre und hämatogene Hautentzündung“. Von Prof. Doktor
K. Kreibich.
A LT:
II. Referate; Das pathologische Institut der Universität Leipzig.
Von Prof. Dr. F. Marc hand. Atlas der Blutkrankheiten nebst
einer Technik der Blutuntersuchung. Von Priv.-Doz. Doktor
Karl S c h 1 e i p. Ref. : Carl S t e r n b e r g. — Zur Kenntnis der
Variabilität und Vererbung am Zentralnervensystem des
Menschen und einiger Säugetiere. Von .J. R. Kar plus. Ref.:
Ob er st ein er. — Vorlesungen über spezielle Therapie
innerer Krankheiten für Aerzte und Studierende. Von Doktor
Norbert Ortner und Prof. Dr. Ferdinand Frü h wald. Ref.:
v. Kogerer.
III. Aus verschiedeiieu Zeitschrifteu. Der gegenwärtige Stand der
Lehre von der Bierschen Stauung. Sammelreferat von Doktor
E. Venus.
IV. Vermischte Nachrichten.
Zweiter Bericht über die Behandlung des
endemischen Kretinismus mit Schilddrüsen¬
substanz.
Von Prof. Wagner v. Jauregg.
Ich habe ia einem früheren Aufsätze über Versuche
berichtet, den endemischen Kretinismus mit Schilddrüsen-
snbstanz zu behandeln. Die Dauer der Behandlung betrag
damals nur in 'wenigen Fällen zwei bis drei Jahre; die Mehr¬
zahl der Fälle (45) befanden sich erst 12 bis 15 Monate
in Behandlung.
Seither ist Zeit vergangen und ich verfüge jetzt über
eine größere Anzahl von Fällen, die seit drei Jahren und
darüber in Behandlung stehen. Ich halte es daher für an¬
gemessen, meine weiteren Erfahrungen auf diesem GeJnete
der Oeffentlichkeit zu übergeben.
Daß die Schilddrüsenbehandlung der Kretins zu gün¬
stigen Erfolgen führt, habe ich schon in dem früheren Auf¬
sätze nachgewiesen; über das Maß der zu erzielenden Er¬
folge wird aber mit um so größerer Zuverlässigkeit geurteilt
werden können, je länger die Behandlung andauert, respek¬
tive je längere Zeit seit dem Beginne der Behandlung ver¬
gangen ist. Denn es handelt sich nicht bloß um die erzielten
Bessenmgen, sondern auch um die Feststellung ihrer Be¬
ständigkeit; und auch die Natur einzelner Symptome des
Kretinismus, daß sie nämlicli Entwicklimgsstörungen sind,
macht die Einhaltung einer längeren Beobachtungsfrist not¬
wendig.
Ich habe bereits in meinem Aufsätze über endemischen
lind sporadischen Kretinismus^) darauf hingewiesen,
daß die Behandlung des Kretinismus um so mehr Aussicht
auf Erfolg hat, in je früherem Lebensalter mit der Behand¬
lung begonnen wird, was ja übrigens selbstverständlich ist.
Ich konnte auch in dem ersten Berichte über die Behand¬
lungserfolge ^) einige auffallend günstige Resultate be¬
richten bei Kindern, die schon im Alter von 2 und
2V2 Jahren zur Behandlimg kamen. Ich kann jetzt über den
weiteren Verlauf der Fälle berichten und denselben eine An¬
zahl ähnlicher Fälle anreihen.
Fall 8.®) Im Beginne der Behandlung zwei Jahre alt, Bruder
des später zu erwähnenden Falles 7, sprach damals noch kein
Wort, hatte in Nasenbildung und Bildung der Weichteile Kenn¬
zeichen eines leichten Grades von Kretinismus. Er nahm durch
ein Jahr jeden zweiten Tag eine Tahlette. Schon nach drei
Monaten wurde mir berichtet, daß er jetzt zu sprechen anfange
und als ich ihn ein halbes Jahr nach Beginn der Behandlung
sah, sprach er schon so ziemlich seinem Alter entsprechend.
Er war viel mägerer geworden, seine Nase hatte viel weniger von
der kretinischen Bildung ; gewachsen ist er seither (gegenwärtig
sechs Jahre alt, also in viel' Jahren) um 26 cm, also ungefähr
dem Durchschnitt entsprechend. Nach einjähriger Behandlung
war der Knabe schon so weit, daß er in den Kindergarten ge¬
schickt werden konnte. Gegenwärtig (neun Jahre nach Beginn
der Behandlung) ist er ein frischer, lebhafter, aufgeweckter Knabe,
der sehr gut aussieht und absolut nichts Kretinisches mehr an
') Wiener klin. Wochenschrift 1900, Nr. 19.
Wiener klin. Wochenschrift 1904, Nr. 30.
*) Die Nummern der Fälle bis 52 beziehen sich stets auf meine
Publikation vom Jahre 1904, resp. auf die darin enthaltene Tabelle.
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCflRlET. 1907.
Nr. 2
Üi
sich hat. Er spricht, seinem Alter ganz entsprechend, sagt mir
hei meinem Eesuche ganz fließend und mit guter Artikulation
ein Gedicht auf. Er wird heuer im Herbst die iSchule zu Ite-
suchen anfangen. Die Schilddrüsenmedikation hatte nur etwas
über ein Jahr gedauert; der erfreuliche Fortschritt hatte also
trotz Aussetzens der Behandlung angehalten.
Fall 52. Im Beginne der Behandlung 2V2 Jahre alt, hatte
damals noch die Fontanelle weit offen; er hatte erst .mit neun
.Monaten deji ersten Zahn bekommen. In Nasenbildung, Beschaf¬
fenheit d(u' Weichteile und Gesichtsfarbe typisch kretinisch; geht
noch sehr unbeholfen, spricht noch kein Wort.
Schon nach dreimonatlicher Behandlung (eine halbe Tablette
jeden Tag) war die Fontanelle fast geschlossen; das Kind aß
viel mehr. Es wurde lebhafter und aufmerksamer und fing zu
sprechen an.
Im weiteren Verlaufe machte es rapide Fortschritte und
war nach einjähriger Behandlung in der Sprachentwicklung ganz
so weit, als es seinem. Alter entsprach. Es hatte alle Zähne seines
i\llers bekommen, war viel mägerer geworden und hatte das
Gedunsene vollständig verloren, dafür aber eine gesunde Ge¬
sichtsfarbe bekommen. Es hatte riesigen Appetit, hatte gehen
und auch laufen gelernt. Sein torpides Temperament hatte einem
lebhaften, übermütigen Platz gemacht.
Jetzt, 3^/4 Jahre nach Beginn der Behandlung, ist der Knabe
um 32 cm gewachsen, so daß er, ursprünglich mit 78-5 cm um
4 cm hinter dem Durchschnitt zurück, denselben jetzt mit 110 cm
um 4 cm übertrifft. Er spricht tadellos, rezitierte mir z. B. bei
einem meiner letzten Besuche ein Gebet mit ganz guter Artiku¬
lation; er ist feinhörig, flink und lebhaft und hat in seinem
Aussehen absolut keine Merkmale des Kretinismus mehr. Bemer¬
kenswert ist, daß sich auch bei ihm, wie im vorangehenden
Falle, der günstige Erfolg trotz Aussetzens der Medikation er¬
halten hat; denn in den letzten IV2 Jahren ungefähr hat er keine
Tabletten mehr genommen.
Vor zwei Jahren kam auch ein Bruder des soeben erwähnten
Knaben in Behandlung (Fall 53), der, im Beginne der Behandlung
IV4 Jahre alt, ganz kreidebleich war, typische Sattelnase und
leichte Weichteilschwellungen hatte; er sprach noch kein Wort,
sondern stieß nur unartiikulierte Laute aus und zeigte ziemlich
torpides Wesen. Er nahm seither jeden zweiten Tag eine Ta¬
blette. Schon nach einem halben Jahre sprach er eine Menge
Wörter, aß viel mehr als früher und hatte acid neue Zähne be¬
kommen, im ganzen 16.
Gegenv^ärtig ist er äußerst lebhaft und sieht sehr frisch
aus ; gesunde Gesichtsfarbe. Er bezeichnet alle ihm vorgezeigten
Gegenstände, spricht viel spontan und redet aucli in alles drein.
Er ist in den zwei Jahren um 18 cm gewachsen (dem Durch¬
schnitt würden I3V2 cm entsprechen). Auch in diesem Falle ist
die Behandlung nur durch ein Jahr fortgesetzt worden.
Diesen Fällen ähnlich ist auch folgender: Ein im Beginne
der Behandlung 2V2 Jahre alter Knabe (Fall 54) ging noch sehr
unbeholfen und sprach kein Wort. Er bot in Gesichtsbildung
und Beschaffenheit der W^eichteile erst geringe Zeichen des Kre¬
tinismus. Er nahm jeden zweiten Tag eine Tablette.
Nach wenigen Monaten fing der Knabe zu sprechen an.
Nach lV2jähriger Behandlung, die aber nicht regelmäßig fortge¬
setzt worden war, konnte er einzelne Gegenstände bezeichnen,
vorgesagte WWrter und kurze Sätze uachsprechen, aber noch
mangelhaft artikuliei't. Gegenwärtig hat er im Aussehen gar nichts
Krelinisches mehr; er ist sehr lebhaft, geschickt in seinen Be¬
wegungen, läuft fleißig herum, hat intelligentes Aussehen und
lebhafte Augen. Er spricht ganz seinem Alter entsprechend, rezi¬
tiert vor mir ein Gebet, nur ist die Aussprache .einzelner Kon¬
sonanten eine mangelhafte. Er ist feinhörig; im Herbst wird er
zur Schule kommen. Gewachsen ist er in 3V2 Jahren, seit Beginn
der Behandlung, um 30 cm, 8 cm mehr, als dem Durchschnilt
entspricht. Dabei muß bemerkt w^erden, daß der Knabe die Ta¬
bletten oft unregelmäßig genommen hat. Seit einem halben Jahre
wurde die Behandlung ganz ausgesetzt.
I lieber gehört auch Fall 22, ein im Beginne der Behandlung
2^,2 Jahre alter Knabe, der damals noch gar nicht sprach und
sehr schlecht hörte. Im übrigen waren bei ihm die körperlichen
Merkmale des Kretinismus deutlich, wenn auch nicht hochgradig
entwickelt, mit Ausnahme der Wachstumslörung. Im Laufe der
diesjährigen Behandlung stellte sich bei ihm das volle, seine’u
.\lter entsprechende Sprachvermögen ein; auch sein Gehör hat
sich so gebessert, daß es jetzt fast als normal zu bezeichnen ist.
Aehnliches bietet Fall 58, ein im Beginne der Behandlung
zweijähriger Knabe, der noch nicht sprach, etwas schwerhörig
war, di(‘ .\h‘rkmale des Kreliuisnuis in leichtem Grade und einen
kleinen Kro])f des Mittellappens hatte. Auffallend war bei ihm
auch die bei Kretins so häufige Salivation.
Schon nach vierteljähriger Behandlung fing er an zu sprechen
und jetzt, nach zweijähriger Behandlung, hat er das volle Sprach¬
vermögen seines Alters, nur ,,sch“ und ,,r“ spricht er unbeholfen
aus. Er hört Flüsterstimme ziemlich gut. Der Kropf war schon
nach kurzer Zeit vei'schwunden ; die Salivation hat erst nach
längerer Behandlung aufgehört.
In den eben referierten Fällen handelt es sich um
Kinder, die sehr frühzeitig, vor dem dritten Lebensjahre,
in Behandlung gekommen waren und rasch das bisher feh¬
lende Sprachvermögen erlangt haben.
Zweifelhaft bezüglich seiner Zugehörigkeit zum Kre¬
tinismus ist folgender Fall (60) :
Ein zwei Jahre und acht Monate alter Knabe wird mir vor¬
gestellt, weil er fasi noch gar nichts spricht. Er sagt nur: Nein,
ja, Tata, Mamma, kann aber z. B. noch keinerlei Objekte be¬
zeichnen. Von sonstigen Merkmalen aber, w'elche berechtigen
würden, den Fall als Kretinismus aufzufassen, ist nur sehr wenig
vorhanden. Der Knabe hört anscheinend gut, er hat auch ziem¬
liches Sprachverständnis. Die Nase ist etwas kurz und ihre
Wurzel etwas abgeflacht, aber beides nicht in einem ausge¬
sprochenen Grade. Keine Hautschwellungen, kein Kropf; Gesichts¬
farbe gut. Ziemlich lebhafter Knabe. Körperlänge 88 cm, also
etwas über dem Durchschnitt.
Schon nach einem halben Jahre konnte der Knabe atle
Gegenstände seines Gesichtskreises benennen. Vorgesagtes nach-
sageu. Nach einem weiteren halben Jahre waren Sprachvermögen
und Sprachlust des Knaben schon so entwickelt, daß die Mutter
fand, er spreche schon zu viel. Sie hatte ihm deshalb auch seit
Monaten keine Tabletten mehr gegeben. Gewachsen war der Knabe
in dieser Zeit um 8V2 cm, also IV2 cm mehr, als dem Durch¬
schnitt ents])richt, eine Differenz, aus der mau keine weitgehenden
Schlüsse ziehen kann.
Es dürfte sich hier wahrscheinlich um einen jener
hie und da vorkommenden Fälle gehandelt haben, in denen
die Sprachentwicklung, bei sonst normalen Kindern aus
unbekannten Ursachen verspätet auftritt. Immerhin ist es
auffallend, in wie kurzer Zeit das Versäumte nachgeholt
wurde.
Der Fall gibt aber noch zu einer praktischen Bemerkung
Anlaß. Soll man solche Fälle mit Tabletten behandeln?
Ich glaube, wenn sie sich im Bereiche der Endemie er¬
eignen, ja. Demi man kann doch, wenigstens vorläufig, nicht
mit Sicherheit ausschließen, daß es sich um einen jener
Fälle handelt, in denen ßich der Kretinismus etwas später
entwickelt. Und daß der Kretinismus in den meisten Fällen
eine nicht angeborene, sondern sich erst in den ersten Kinder¬
jahren entwickelnde KraidUieit ist, wird noch zu erörtern
sein. Es wäre also doch möglich, daß hier das Ausbleiben
der Sprachentwicklung das erste Symptom eines schleichend
auftretenderi Kretinismus gewesen ist, dem sich später andere
Symptome angeschlossen hätten, wenn nicht die Behandlung
dazwischen gekommen wäre.
Der Versuch einer Behandlung rechtfertigt sich um
so mehr, als durch denselben, meiner Erfahrung nach, nie
ein Schaden gestiftet werden kann.
Die bisher geschilderten Fälle waren leichtere Fälle
von Kretinismus oder, vorsichtiger ausgedrückt, es waren
noch nicht sehr weit vorgeschrittene Fälle. Denn da der
Kretinismus nur in der Minderzahl der Fälle eine angeborene
Erkrankung ist, verrät in der überwiegenden Mehrzahl an
dem neugeborenen Kinde nichts den späteren Kretin; erst
im Laufe des ersten bis zweiten Lebensjahres, ja in selte¬
neren, aber darum besonders lehrreichen Fällen noch später,
kommen die Symptome des Kretinismus allmählich zum
Vorschein.
Der folgende Fall betrifft einen schwereren Grad der
Erkrankung, die aber auch in diesem Falle durch die Be¬
handlung so günstig beeinflußt wurde, da'ß man berechtigte
Hoffnungen auf einen vollen Erfolg haben kann.
Das iin Beginne der Behandlung zweijährige Mädchen
(Fall 62) konnte damals weder gehen, noch sprechen; es hatte
von der Geburt bis zu IV2 Jahren viel Fraisen gehabt. Die Be¬
handlung wurde durch Herrn Dr. Ehrlich in Knittelfeld ein¬
geleilet; ich sah das Kind erst ein halbes Jahr später. Das
Nr 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
35
Kind bot damals noch das typische Bild eines schweren Falles
von Krelinisnms. Ty])ische flache Sattelnase; die Nasö außer¬
ordentlich kurz. Bleiche Gesichtsfarbe; sehr schwammig im Ge¬
sicht, doppeltes Kinn; am Körper sehr viel schlaffes Fell.
Gleich nach den ersten Tahletten hatte die Mutter eine
Veränderung bemerkt; das Kind war viel lebhafter geworden und
hatte bald zu gehen angefangen; als ich es sah, fing es auch
schon an, nachzusiirechen. Nach zehnmonatlicher Behandlung
sagte das Kind alles nach, was man ihm vorsagte, sprach auch
spontan ziemlich viel.
Nach zirka zweijähriger Behandlung war das Kind be¬
deutend magerer geworden; es hatte im Habitus und Gesichls-
ausdruck kaum mehr etwas, das an Kretinismus gemahnen würde;
selbst die Nase hat die charakteristische Bildung ziemlich ver¬
loren. Das Kind spricht in ganzen Sätzen, spricht ganz gut
artikuliert (Gehör ist intakt); es merkt sich Dinge, die sich vor
Monaten zugetragen haben. Es ist lebhaft und sehr beweglich:
ging z. B. im Sommer zu Fuß auf die Ahn. Die Mutter merkte
anfangs, daß das Kind sofort wieder dicker wurde, wenn man die
Tabletten aussetzte. Gewachsen ist das Kind im Laufe von
18 Monaten (seit der ersten durch mich vorgenommenen Messung),
von 80T) cm auf 95 cm, also um 14-5 cm.
In diesem sonst schweren Falle war der wichtigste
Erfolg, die Entwicklung des Sprachvermögens, durch den
Umstand begünstigt, daß keine nennenswerte Störung der
Gehörsfunktion vorlag.
*
Daß aber auch noch in einem späteren Lebensalter
eine bedeutende Besserung des Sprachvermögens zu er¬
reichen ist, beweisen die folgenden Fälle.
Schon in meinem früheren Berichte hatte ich des
Falles 7 Erwähnung getan, der im Beginne der Behand¬
lung, April 1901, im Alter von 7V2 Jahren, erst seit andert¬
halb Jahren zu sprechen angefangen hatte und noch sehr
mangelhaft artikuliert sprach. Er hörte schlecht, so daß er
Flüsterstimme, auch aus nächster Nähe gesprochen, nicht
verstand. Er hatte im Beginn der Behandlung 103 cm, war
also gegenüber dem Durchschnitt um 10 cm zurück.
Im Laufe der zweijährigen Behandlung ist das Gehör ganz
normal und die Sprache ganz artikuliert geworden. Es wurde
dann die Behandlung ausgesetzt; trotzdem machte der Knabe,
besonders geistig, noch weitere Fortschritte, so daß er bis in
die vierte Klasse aufsteigen konnte. Gewachsen ist er während
und nach der Behandlung, in ungefähr fünf Jahren von 103 cm
auf 137-5 cm, also um 34-5 cm, um 5 cm mehr, als dem Durch¬
schnitte entspricht. Auf die Wachstumsbeförderung scheint aller¬
dings das Aussetzen der Tabletten nicht ohne Wirkung geblieben
zu sein. Denn während der Knabe in den ersten 2V2 Jahren
um 21 cm gewachsen ist, betrug seine Zunahme in den drei
folgenden Jahren nur 13 cm.
Fall 55, im Beginn der Behandlung über acht Jahre alt.
hat erst nach dem zweiten Lebensjahre zu gehen und erst im
fünften bis sechsten Lebensjahre zu sprechen angefangen; er
hört schlecht, Flüsterstimme gar nicht, sonst wechselnd. Zu Zeiten
hört er Konversationston; zu anderen Zeiten muß man recht
laut sprechen, damit er etwas vernimmt. Er spricht mit schreck¬
licher Artikulation, so daß seine Sprache fast unverständlich ist.
In Nasenbildung und Beschaffenheit der Weichteile typische Kenn¬
zeichen des Kretinismus. Der Mund ist stets offen ; Atem
keuchend. Kleiner Kropf des Mittellappens. Hals sehr kurz.
Schrecklich apathisch.
Im Laufe einer fast vierjährigen Behandlung, während der
er anfangs die Tabletten, ein Stück täglich, nicht ganz regelmäßig
genommen hat, weil öfters Erbrechen auftrat, sind folgende Ver¬
änderungen vor sich gegangen : Er ist viel mägerer und sehr
lebhaft geworden. Der Kropf und die Weichteilschwellungen sind
ganz verschwunden. Er hat viel größeren Appetit und hat jetzt
regelmäßigen Stuhl, während er früher immer verstopft war.
Den keuchenden Atem hat er ganz, verloren. Der Hals ist recht
lang geworden. In der Gesichtsbildung fehlen jetzt alle Merk¬
male des Kretinismus. Sein Gehör hat sich wesentlich gebessert,
wechselt aber noch immer. Doch hört er oft Flüsterstimme, links
besser als rechts, jederzeit aber leisen Konversationston. Auch
seine Sprache ist jetzt ganz gut artikuliert, vollkommen verständ¬
lich. Er konnte in der Schule schon bis in die dritte Klasse
aufsteigen. Er hat auch im letzten Jahre mit der Medikation öfters
ausgesetzt, einmal während der Heilungsdauer eines Beinbruchs,
einmal während einer Gelenkserkrankung.
Gewachsen ist er in der Zeit der Behandlung, das heißt in
3V4 Jahren, von 112 cm auf 133 cm, also um 21 cm, ungefähr
so viel, als dem Durchschnitte entspricht.
Das im Beginn der Behandlung 9Vajährige Mädchen Nr. 59
konnte damals noch nichts sprechen als ,, Vater“, „Mutter“ und
,,nein“. Es hatte erst mit vier Jahren zu sprechen angefangen.
Bei der Geburt soll es eine große, aus dem Munde herausstehende
Zunge gehabt haben. Es ist schwerhörig, hört nur, wenn man
sehr laut spricht. Im übrigen auch andere Zeichen des Kreti¬
nismus. Körperlänge 105 cm, also 17-5 cm unter dem Durch¬
schnitt.
Gewachsen ist es im Laufe der vierjährigen Behandlung
um 31 cm, so daß es jetzt nur mehr um 6-5 cm hinter dem
Durchschnitt zurückbleibt. Seine Intelligenz hat auch zugenommen.
Doch in bezug auf die Sprache und das Gehör war lange Zeit
keine Besserung zu merken. Erst im letzten halben Jahre, nach¬
dem die Dosis der Tabletten gesteigert worden war (IV2 täglich)
ist ein deutlicher Fortschritt zu bemerken. Gleichzeitig mit einer
deutlichen Besserung des Gehörs fängt das Kind an, das Vor¬
gesagte nachzusprechen, sehr mangelhaft artikuliert zwar^ aber
doch im Vergleich zu dem bisherigen Verhalten ein großer Fort¬
schritt, wobei in Betracht kommt, daß das Kind jetzt schon
I3V2 Jahre zählt.
Fall 40, ein im Beginn der Behandlung SWjähriger Knabe,
hat erst im vierten Lebensjahr zu gehen angefangen; spricht
kaum mehr als die Worte: Vater, Mutter. Artikulation schlecht.
Nasenbildung typisch; mäßige Schwellung der Weichteile. Gehör
schlecht, aber nicht genauer zu prüfen.
Nach kurzer Behandlung schon wurde der Kuabe viel leb¬
hafter und beweglicher, dabei magerte er anfangs ab.
Zwei Jahre nach Beginn der Behandlung konnte er in die
Schule geschickt werden, in der er allerdings bisher nicht viel
Fortschritte macht.
Nach dreijähriger Behandlung verfügte er über einen ziem¬
lichen Wortschatz, sprach, besonders zu Hause, viel und ziemlich
gut artikuliert. FlüstersLimme hörte er noch immer nicht. Seine
Nasenbildung hatte sich gebessert. Gewachsen war er von 104 cm
auf 122-5 cm, also um 18-5 cm. Er hatte also das durchschnittliche
Wachstum seiner Altersperiode um 2 cm übertroffen, während
er vor der Behandlung entschieden geringeres Wachstum hatte,
da er um 12 cm hinter dem Durchschnitt zurückgeblieben war.
Die Tabletten hatte er schon seit fast einem Jahre nicht
genommen; ein charakteristisches Beispiel für die Teilnahmslosig¬
keit der Eltern, mit der man zu kämpfen hat. Die Mutter hat
ihm, trotz der unverkennbaren Besserung, die Tabletten aus bloßer
Indolenz nicht mehr gegeben.
Fall 45, ein im Beginn der Behandlung neunjähriger Knabe,
hat erst mit fünf Jahren zu sprechen begonnen. Er spricht
mit fürchterlicher Artikulation, so daß das Gesprochene ganz
unverständlich ist.
Seine Nasenbildung ist ganz typisch. Deutliche Schwellung
der Weichteile im Gesicht. Kleiner Kropf im Vlittellappen. Ge¬
sichtsfarbe blaß. Gehör schlecht, wechselnd. Flüsterstimme wird
gar nicht gehört. Große Apathie.
Im Laufe der vierjährigen Behandlung wurde der Knabe
viel frischer und lebendiger, schaut jetzt nicht unintelligent drein.
Der Kropf ist ganz geschwunden, ebenso die Gedunsenheit des
Gesichtes. Gesichtsfarbe gut. Die Nase hat jetzt den kretinischen
Charakter fast ganz verloren. Das Gehör ist noch immer nicht
gut, auch wechselnd, doch bedeutend gebessert; der Knabe fängt
jetzt an, Flüsterstimme zu hören, er hört die Vokale deutlich
und spricht auch einige Worte nach. Die Artikulation ist noch
immer mangelhaft, aber bedeutend besser. Vor allem ist jetzt
die Sprechlust eine viel größere. Intelligenz bedeutend gebessert.
Gewachsen ist er von 107 cm auf 134 cm, also um 27 cm ;
um 6-5 cm mehr als dem Durchschnitte entspricht, während er
im Beginne der Behandlung um 15 cm hinter dem Durchschnitte
zurückgeblieben war.
*
Bei den zuerst referierten Kindern im Alter unter drei
Jahren ist es fraglich, inwieweit etwa die Einwirkung der
Behandlung auf die Gehörfunktion an der Entwicklung des
Sprachvermögens einen Anteil gehabt hat. Denn in hohem
Grade schwerhörig waren alle diese Kinder nicht; imd ol)
sie etwa geringeren Grad von Gehörstörung hatten, ließ sich
bei dem Alter und in den Verhältnissen, unter^ denen sie
geprüft wurden, nicht feststellen, wobei noch ihre Torpi-
dität vor der Behandlung als weiteres Hindernis einer ge¬
naueren Prüfung hinzukam. Es erklärt sich aber bei ihnen
das Ausbleiben der Sprachentwicklung auch ohne Annahme
Öö
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2
eiliei' (»eliörslüruiig aiii" ganz eiiiiache \Ycise. Krelius langen
eJ)en spül zu si)reclieii an, (‘benso wie sie spät zu gehen
anfangen: infolge der Störung ilirer liirnenIwiekJung. Jn
(fein Momente, als diii'cli die Ik'seiligung dieser Störung
durcJi die Hohandlung die (lehirnenlwickdung eine normale
wuide, slellle sicdi auch das Sprachvermögen prompt ein.
hei den elxm referieiien Kindern, die sclion in einem
späteren Alter standen (zwischen 7Vä und Jahren) han¬
delt es sich um (dwas anderes; sie sprachen zum Teil
schon, ab(‘r infolge einer Störung des (leliörorganes in einer
ganz schrecklicli artikulierten Weise (wobei allerdings auch
ihr Schwachsinn milspielen dürfte; geistig frische Kinder
mit derselben (iehörslörnng würden wahrscheinlich besser
artikulieren); zum Teil hatten sie aindi kanin zu sprechen
angefangen u. zw. sichtlich auch teilweise unter dem Ein¬
fluß einer schweren Gehörstörung.
ln allen diesen Eällen lernen wir als hehandlmigs-
erfolg neben der Besserung, resp. Weckung des Sprach-
vermögens die Besserung der Gehörfunktion kennen, die in
allen eben berichteten Fällen eine ganz unzweifelhafte war.
Es ist ein solcher Erfolg nicht ühermäßig befremdend,
wenn man hört, daß an der Gehörstörung dieser Kinder
einen wesentlichen Anteil adenoide Vegetationen hatten.
Die Gehörstörmig der Kretins, die man fast durch¬
gängig hei ihnen findet u. zw. von den leichtesten Störungen
bis zur totalen Taubheit, ein Umstand, auf dessen Bedeu¬
tung ich zuerst aufmerksam gemacht hal)e,‘^) heruht nach
den Untersuchungen, die Dr. Alexander an einer großen
Zahl, der von mir behandelten Kretins gemacht hat, zum
mindesten a\d' zwei Erkraiücungen ; auf dem Auftreten von
adenoiden Vegetationen, verbunden etwa noch mit Tuhen-
katarrhen, kurz mit Prozessen, die das Mittelohr schädigen;
dann a])er auch auf einer Labyrintherkrankung.
Die das Mittelohr schädigenden Prozesse, vor allem
die adenoiden Vegetationen, sind bei weitem häufiger als
die Lahyrintherkrankungen. Zu diesen adenoiden Vegeta¬
tionen ist aber noch eine Bemerkung zu machen. Zwischen
diesen adenoiden Vegetationen und dem zum Kretinis¬
mus führenden Prozeß muß ein kausaler Zusammenhang
angenommen Averden. Es sind das nicht die hanalen ade¬
noiden Vegetationen, wie man sie allerwärts bei Kindern
findet. Dazu kommen sie bei den Kretins viel zu häufig
vor. Es sind das also spezifische adenoide Vege¬
ta t i o n e 11.
Auf diese den kretinischen Prozeß hegTeitenden ade¬
noiden Vegetationen hat nun offenbar auch die Schilddrüsen-
behaiidlung einen gewissen Einfluß (wohl auch auf heglei¬
tende, vielleicht auch spezifische Tuben- und Mittelohr¬
katarrhe); und so erklärt sich zum Teil die günstige Wirkung
der Schilddrüsenbehandlung auf die Gehörfunktion.
In jenen Fällen aber, in denen eine Gehörstörung
höheren Grades besteht, reichen die Mittelohrprozesse nicht
aus; ii) diesen Fällen muß angenommen werden, daß auch
oder sogar vorwiegend das Labyrinth erkrankt ist.
Das sind jene Fälle, von denen ich schon in meinem
früheren Bericht sagte: ,, Dagegen muß konstatiert werden,
daß schwere Störungen des Sprach- und Gehörvermögens
durch die Behandlung, bei der bislierigen Dauer derselben,
nicht behoben werden konnten u. zw. auch in Fällen, in
denen die Behandlung früh hegonnen und lange fortgesetzt
wurde.“
Wenn ich auch heute im großen und ganzen das auf
Grund (dner noch längeren Behandbmgsdauer gelten lassen
muß, zeigt sich doch, daß auch scliwere Labyrintherkran-
kimgen, wenn frühzeitig in Behandhmg genommen, der Be¬
handlung gegenüber sich ]\icht ganz unbeeinflußbar zeigen.
Ich will zum Belege ein paar Fälle mitteilen.
Am überzeugendsten wirkte aid' mich jener Fall, den ich
in dem früheren Aufsätze unter Nr. 3 mitgeteilt habe. Bas
Kind stand am TTige der letzten Untersuchung fi'inf Jahre und
vier Monate in Behandlung und war ini Beginn der Behandlung
ziemlich genau drei Jahre att. Es liatte damals 77-5 cm Körper-
h Mitteilungen des Vereines der Aerzte in Steiermark 1893.
länge, war also um 8 cm hinter dem Durchschnittsmaß seines
Alters zujück. Es hatte typische kretinisclie Gesichtsbildung;
war am ganzen Körper sehr fett und gedunsen; die große Fon¬
tanelle war noch offen. Das Kind hatte erst kürzlich zu gehen
angefangen; von Spi’achvermögen war noch keine Spur vorhanden.
Daliei machte das Kind einen blödsinnigen, apathischen Ihndruck.
hn Laufe der Behandlung besserten sich nun die körper¬
lichen Erscheinungen des Kretinismus bald und heute zeigt das
Kind in seinem Aussehen absolut nichts Kretinisches mehr. Es
hat eine Körperlänge von 121-5 cm erreicht, also etwas mehr,
als im Durchschnitte seinem Alter entspricht. Die Gedunsenheit
ist vollkommen geschwunden; das Kind hat eine gesunde Gesichts¬
farbe und einen lebhaften, intelligenten Gesichtsausdruck. Auch
der Nasenrücken, der früher breit und eingedrückt war, ist jetzt
ziemlich schmal und scharf geworden. Die Kleine ist init einem
Worte jetzt geradezu ein hübsches und blühendes Kind ge¬
worden.
Auch die Intelligenz hat sich rasch gebessert. So konnte
sie mit sechs Jahren in den Kindergarten gehen und man war
dort ganz zufrieden mit ihr; sie machte den Weg hin und zurück
ganz allein.
Nur mit dem Sprachvermögen wollte es gar nicht vorwärts
gehen. Das Kind brachte einige Laute spontan heraus, aber
keine deutlichen AVorte; und sie Avar absolut nicht zu beAvegen,
Wol le, oder auch einzelne Vokale nachzusprechen, so laut und
deutlich man ihr auch dieselben vorsprechen mochte. Je iutelli-
genter das Kind Avurde, um so klarer Avurde es, daßi Mangel des
Gehörs den Sprachmangel zum mindesten mitbedingte. Wenn
man dem Kinde z. B. einzelne Vokale sehr laut und deutlich vor-
sagle, so ahmte es die betreffende Älimdstellung recht genau nach,
aber ohne einen Laut von sich zu geben; ebenso ahmte es laut¬
los das Mund spitzen nach, Avenn man etAvas vorpfiff. Wenn man
ihm die Uhr an’s Ohr legte, machte es eine verneinende Gebärde.
Dementsprechend fehlte auch das Sprachverständnis; das Kind
war z. B. außerstande, geAvöhnliche Gebrauchsgegenstände auf
Amrfiale Aufforderung hin zu holen.
So Avar es noch nach dreijähriger Behandlung und ich zwei¬
felte daran, ob sich je eine Spur von Gehörsvermögen und Sprach¬
vermögen bei dem Kinde einstellen Avürden.
Bei meiner Untersuchung vor Jahresfrist jedoch erfuhr ich
zu meiiK'r Uelierraschung, daß das Kind nachzusprechen anfange.
Es sprach eine ganze Anzahl von M'orten, Avenn auch mit mangel¬
hafter Artikulation nach u. zw. auch dann, Avenn der Älund
des Sprechenden verdeckt war, so daß ein xVblesen vom IMunde
ausgeschlossen Avar. Der Fortschritt, den das Kind im ]t,aufe
eines Aveiteren Jahi’es machte, Avar allerdings insoferne ein ver¬
hältnismäßig geringer, als das Kind zwar mehr und mehr Worte
nachzusprechen lernte, auch Veretändnis der gesprochenen Worte
zeigte, indem es auf die einzelnen Worte, den durch .dieselben
bezeiebneten Gegenstand richtig bezeichnete. Doch war die Nei¬
gung zum spontanen Sprechen^ zur VerAvertung der gewonnenen
Sprachkenntnisse noch sehr gering. Auch ist das Gehör gewiß
noch scliAver gestört, indem es doch noch immer ziemlich lauten
Vorsprechens bedarf, um das Kind zum Nachsprechen zu ver¬
anlassen.
Aehnliches erlebte ich in einem zAAmiten Falle, jenem, der
am längsten in Behandhmg steht, nämlich zirka sechs Jahre. Es
ist das Fall 1 der Tabelle.
Dieses Kind, im Beginne der Behandlung sechs Jahre alt,
Avar der Typus eines Kretinismus schweren Grades. Es hatte
eine sebr breite und flache, eingezogene Nasemvurzel ; die Nase'
war sehr kurz und breit, Kolorit blaß. Lider, Mmngen, Lippen
geschiAVollen ; in den Supravikulargruben ausgebildete Pseudo-
liponie, ein Befund, der nur schweren PMllen von Kretinismus
eigen ist. Der Mund sehr breit, stets offen, die dicke Zunge aus
dem IMunde hervorragend. Der Hals außerordentlich kurz. Die
Hände auffallend kurz. Schilddrüse nicht palpabel. Bauch groß,
mit kleinem Nabelbruch. Haar sehr Hocken, spröde. Auch die
Haut sehr trocken. Das Kind hatte mit vier Jahren zu gehen
hegonnen, ging aber nur mit Unterstützung, sehr unsicher. Es
sprach noch kein Wort, gab nur fortwährend einen heiseren Schrei
von sich. Hochgradige Apatliie, Gehör* nicht genau zu prüfen.
Das Kind ist hochgradig schAverhörig, doch sicher nicht ganz
taub. Körperlänge damals 87 cm, Avar also um 16 cm hinter
dem Durchschnitt zurück.
Nach kurzer Dauer der Behandlung Avaren die Schwellungen
der Haut im Gesicht und am Körper bedeutend zurückgegangen,
die Pseudoliponie ganz geschwunden. Das Kind Avar viel leb¬
hafter geAvorden; fing bald an allein zu gehen und selbst Stiegen
zu steigen. Es hatte im Gegensatz zu früher riesige Eßlust und
guten Stuhl bekommen. _
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Gegenwärlig, nach fast sechs.jäJiriget' Dauer der Behandlung,
ist das Kind um 41cm gewachsen, so daß. es jetzt mit 128 cm
nur mehr um 7 cm hinter dem Durchschnitt zurück ist. In
seinem Habitus erinnert fast nichts mehr an Kretinismus. Die
Gesichtsfarbe ist gut; von Hautschwellungen ist keine Rede mehr.
Die Nasenwurzel ist nicht mehr eingezogen, scharf; die Nase
nicht mehr auffallend kurz. Die Gesichtszüge sind fein. Der
Hund ist geschlossen, birgt ein sehr schönes Gebiß. Die Zunge
nicht sichtbar. Der Hals ist gewachsen; ebenso die Hände, die
jetzt proportioniert lang sind.
Der Fortsclnitt der Intelligenz ist aber hier ein sehr ge¬
ringer. Der Gesichtsausdruck ist leer, häufig von einer blöden
HeiUu'keit belebt.
Die Sprachentwicklung hlieh in den ersten 4*4 .Tahren der
Behandlung fast Null. Erst seit etwa eitlem halben Jahre ist
in dieser Richtung eine Veränderung vor sich gegangen. Das
Kind fing an nachzusprechen, was man ihm vorsagte, wenn
auch viele ^Yo^tc in recht mangelhafter Artikulation; es fängt an,
kleine Gedichte, die ihm vorgesungen werden, zu merken und
gelegentlich bruchstückweise spontan zu reproduzieren. Es ge¬
braucht auch sonst hie und da spontan ein Wort.
Ein ähnlicher Fall dürfte vielleicht Nr. öl werden: Das
im Beginne der Behandlung fast vierjährige Mädchen spricht
noch gar nichts; hört siidier sehr schlecht. Es hat typischen
Kretinencharakter in der Gesichtshildung, einen auffallend kurzen
Hals, aber keine Struma. Dies Kind ist recht apathisch.
Schon nach kurzer Behandlung wurde die Gesichtsfarbe
besser; das Kind wurde mägerer und lebhafter, lief viel besser,
der Hals wurde länger. Das Sprachvermögen aber besserte sich
lange nicht.
In dem ]Maße, als das Kind lebhafter und intelligenter
wurde, fing es endlich an, mehr zu sprechen, aber es v/nrde
klar, daß es nur nachspricht, indem es auf den Mund des
Sprechenden sieht. Das Gehör ist noch immer recht schlecht;
eine mäßig laute Weckeruhr hört das Kind z. B. nicht. Gewachsen
ist das Kind in zwei Jahren um 14 cm.
*
Ein besonderes Interesse mit Rücksicht auf die Waclis-
tiimsteigernng beanspruchen die folgenden Fälle, indem bei
ihnen eine sehr beträchtliche Wachstumshemmung vorhan¬
den war und infolge der Behandlung eine außerordentliche
und besonders im Fälle 56 mit Rücksicht auf das Alter
bemerkenswerte Wachstumsteigerung eingetreten ist, eine
Zunahme der Körperlänge um bereits 28 cm in einem Alter
(19 bis 22 .lahre), in dem normalerweise das WWchstum
schon fast ganz abgeschlossen ist.
Fall Nr. 15, ein im Beginn der Behandlung iöjähriger
Knabe, war damals 105 cm hoch. Er wuchs im ersten Halbjahre
um 8-5 cm, in den vier Jahren der bisherigen Behandlungsdauer
um 43 cm, also um 29 cm mehr als dem Durchschnitte ent¬
spricht. Er war im Beginne der Behandlung um 46 cm hinter
der durchschnittlichen Körperlänge seines Alters zurückgehliehen ;
heute ist er nur mehr um 17 cm zurück. Sein Wachstum ist
offenbar noch lange nichl abgeschlossen, da er noch im letzten
halben Jahre um 9-5 cm gewachsen ist.
Im übrigen ist zu bemerken, daß er im Bi'ginn der Be¬
handlung eine lypische Sattelnase von außmordenllicher Kürze
hatte, ganz bleiche Gesichtsfarbe, sehr starke Schwellungen der
Weichteile; Stummelhände, watschelnrhm Gang. Sehr ausgeprägte
.Apathie; arbeitsunfähig.
Heute ist sein Nasenrücken schmal und scharf, die Nase
ziemlich lang geworden; die Gesichtsfarbe gut, die Weichteil¬
schwellung zum größten Teile geschwunden. Die Hände sind
viel länger geworden. Er geht jetzt flink, kann laufen, ist leb¬
haft und kann allerlei Arbeiten verrichten; wird gegenwärtig als
Viehhirt verwendet. Ei' sprach sehr mangelhaft artikuliert und
hörte nur ganz laut Gesinochenes. Jetzt ist das Gehör zwar
noch wechsehul, aber doch viel hessc)', so daß er zeitweilig
Flüstei’Stirnme hört. Er spriidit auch viel besser artikuliert.
Fall 56, ein im Beginne der Behandlnng 19jähriges Mädchen,
war damals 107 cm hoch. Es ist seit drei Jaliiun in Behandlung,
ist im ersten .Jahre um 15 cm, itn zweiten .lahre um 7 cm, im
dritten um (5 cm gewachsen; also im ganzen um 28 cm; um
19 cm mehr, als seiner .Allerstufe entsiiricht. Auch hei ihm ist
flas Wachstum offenbar nicht abgeschlossen, da es im letzten
halben .Jahre noch um 214 cm zugenommen hat.
Es war also im Beginne der Behandlung um 45 cm binler
dein Durchschnitte zurückgeblieben; heule fehlen ihm nur mehr
22 cm auf das Durchschnittsmaß.
Dieser Fall halte die typischen Symptoim' des infantilen
Myxödems. Es hatte <'rst mit sieben .Tahrim zu gehen ange¬
fangen. Die große Fontanelle hatte sich erst im 15. Lebensjahre
geschlossen. Es hath^ im .Antangi' der Ih'handlung eine lanugo-
artige Behaaning am Köriier. Die Zähne wäivn wohl, mit Aus¬
nahme der A eisheitszäluu', alle dnrchgi'hrocheii ; dii“ zweite Den¬
tition war aber noch an viehm Zähnen nicht erfolgt.
Das Genitale war noch ganz infantil, die Buh(>s unbehaart;
Alenses noch nicht eingetreten. Di(* Brustdrüscm kirschengroß.
Die Nase war extrem kurz, gesattelt; die .\ugen sehr w^eit
auseinanderstehend ; Stummelhände.
Die \\ eichteile d(“s Gesichtes und des übrigen Körpers zeigten
die typischen Merkmale des Myxödems; auch sehr entwickelte,
su])raklavikulare Pseudolipome waren da. Gesichtslarbe sehr
bleich. Die Kranke halte am Koiif sehr starke S(duippenbiidung,
sehr trockene, rauhe Haut, schwitzte nie; sie aß sehr wenig,
hatte sehr seltene, harte Stuhlgänge. Ks bestand ein Nabelbruch.
Die Kranke war sehr apathisch, ungemein schwerfällig und
langsam in ihren Bewegungen, war zu keiner Arbeit fähig.
Dagegen bestand keine hochgradige Störung der Intelligenz.
Sie hat die Schule besucht, Ijcsen und Sidireihen gelernt. Auch
Sprache und Gehör sind intakt, sie spriidit aidikuliert, hört
Flüsterstimme. Nur war die Stimme sehr rauh.
Im Ivaufe der dreijährigen Behandlung ist die Kranke stark
abgemagert und hat die Hautschwellungen zum größten Teile
verloren. Die supraklavikulären Pseudolipome sind vollständig
geschwunden. Die Gesichtsfarbe ist eine gute geworden. Sie ißt
jetzt sehr viel und ihr Stuhl ist regelmäßig geworden. Sie er¬
zählt, daß sie im Beginne der Behandlung Schmerzen in allen
Muskeln halte, auch mußte sie viel öfter urinieren als früher.
Sie schwitzt jetzt, die Haut ist geschmeidig geworden, die
Schu])penhildung hat aufgehört. Die Milchzähne sind ihr aus¬
gefallen und durch neue ersetzt worden. Die Hände sind viel
länger geworden, auch die Bildung der Nase hat sich wesentlich
verbessert.
Die Brustdiäisen sind mein' als faustgroß, die Puhes haben
sich behaart. Seit zehn Monaten sind die Menses eingetreten.
Die Kranke ist jetzt sehr munter und beweglich geworden,
aufgeweckt, voll Lebensfreude, interessiert sich sehr für die Be¬
handlung; singl zu Jlause viel, was sie früher nie getan hatte,
kann alles arbeiten.
Aehulich günstig in bezug auf das Wachstum, nicht aber
in anderen Richtungen, war der Erfolg im Falle 19.
Das im Beginne der Behandlung IßVajährige Mädchen lialle
damals eine Körperlänge von 102 cm. Es ist im Ixiufe einer
vierjährigen Behandlung bis auf 134 cm gewachsen, also um
32 cm; um 25 cm mehr, als dem Duichschnitt des Wachstums
in diesen .Jahren entspricht. Es Avar anfangs um 48-5 cm hinter
dem Durchschnitte zurück, jetzt nur mehr 23-5 cm. Dabei hat
es sicher die Tabletten in dem letzten Jahre nicht regelmäßig
eingenommen.
Das anfangs sehr entwickelte Jlyxödem ist nahezu ge¬
schwunden, ebenso wie der anfänglich voihandene Kropf. Das
Genitale, anfangs noch ganz kindlich, begann sich im letzten
Jahre zu entwickeln; doch sind die Menses noch nicht einge-
treten. '
Dagegen ist die geistige Entwicklung des hochgradig sidiwach-
sinnigen Alädchens nur sehr wenig fortgi'schritten. Vor allem
hat das Gehör, das fast vollständig fehlt, siidi nicht gebessert.
Infolgedessen ist das Mädchen auch heuU^ noch sprachlos; es
sucht vom AJimde alizulesen, was es bis zu einem geringen
Grade gelernt hat und sucht auch, vom Alunde ahlesend, AVorte
nachzuahmen, was ihm aber nur hezüglicdi der Vokale halbwegs
gelingt.
Ganz ähidich A'crhielt sich Fall 33. Das im Beginne der
Behandlung 13j;ährige Mädchen hatte damals eine Körperlänge
von 125-5 cm, also um 1614 cm hinter denn Durchschnitt zurück;
es wuchs in vier Jahren auf L50-5 cm, also um IIV2 cm mehr,
als dem Durchschnitt enlsiuicht, so daß es jetzt nur mehr
um 4 cm hinter demselben zui ückhleiht.
Das Alyxödem ist l)ei ihm gesidiAVunden, ebenso die kreti-
nische Gesichtsbilduug ; es ist lebhafter und flinker geworden.
Aber die* Intelligenz hat siidi niidit bedeutend gehoben. Auch
haben Sprache und Gehör sicdi nur wemig gi'besserl.
In diesem Falle ist mit gi'oßer Wahrscheinlichkeit anzu-
Tiehmen, daß der Erfolg ein viel h('fii(Mligend('r geworden wärrp
wenn die Behandlung viel frühen' begonnen hätte; denn die
Gehörstörung ist hien' nicht viel ärger als in den bereits he-
sprochenen Fällen 7, 55, 59, 40 und 45, hei demni sich, aller¬
dings in einem früheren Aller, Sprache und Gediör noch be¬
deutend gebessert haben.
38
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2
An diese beiden Fälle lassen sich die drei Fälle der
Familie St. anschließen, indem hei zwei von denselben noch
ein ganz unzeitgemäßes Wachstum beobachtet wurde. Es
sind das die Fälle 5, 6 und 57. An dem letzteren Falle
konnte ich übrigens noch, wie sich ergeben wird, eine Be¬
obachtung von besonderem Interesse machen.
Fall 5, ein im Beginne der Behandlung zehnjähriges Mäd¬
chen, hat weniger Interesse. Das Mädchen steht seit 5V2 Jahren
in Behandlung; es ist in dieser Zeit von 107 cm auf 147-Ö cm
gewachsen. Während es also anfangs um 18 cm hinter dem
Durchschnitt zurückgehlieben ist, hat es denselben jetzt nahezu
erreicht. Im übrigen sind die gewöhnlichen Erfolge der Behand¬
lung zu verzeichnen; Sprache und Gehör haben sich aber wenig
hei ihm gebessert. Vor allem war der psychische Zustand nur
wenig der Behandlung zugänglich, denn das Mädchen leidet an
Epilepsie; alle zwei l)is drei Wochen bekommt es eine Serie
von Anfällen und danach ist es immer wieder viel benommener
und unaufmerksamer.
Fall 6. Bruder des vorerwähnten Mädchens, ein 23jähriger
typischer, vollständig taubstummer Kretin; er wurde in Behand¬
lung genommen, um zu sehen, ob in diesem Alter noch ein
Wachstum unter Schilddrüsenbehandlung zu erzielen ist. Tat¬
sächlich wurde bei ihm in den ersten vier Jahren der Behand¬
lung noch ein Zunehmen der Körperlänge um I2V2 cm, von 137 cm
auf 149-5 cm, beobachtet. Im letzten, fünften Jahre der Be¬
handlung ist er trotz fortgesetzten Gebrauches der Tabletten
(ein Stück täglich) nicht mehr gewachsen. Außerdem hat er einen
ziemlich großen Kropf und keuchenden x4tem rasch und dauernd
verloren, ist viel mägerer geworden und geht viel besser. Die
auffallendste Veränderung ist auf psychischem Gebiete vor sich
gegangen. Der Knabe war früher das Prototyp blödsinniger
.\pathie, saß den ganzen Tag auf einem Fleck, ohne sich für etwas
zu interessieren und sich im mindesten zu l)eschäftigen. Jelzt
ist er voll Lehen, den ganzen Tag in Bewegung, interessiert sich
für allerlei, was ihm früher vollkommen fremd war; er geht
mit Vorliebe in die Kirche oder zu den Soldaten in die Kaserne,
ist sorgsam auf .^ein Gewand und auf Reinlichkeit, ist eitel
und trägt einen Spiegel mit sich herum. Er ist jetzt zu allerlei
leichten Arbeiten zu gebrauchen. Auch sein Gehör soll sich
gebessert haben; während früher behauptet wurde, er höre nur
einen Kanonenschuß, hört er jetzt, wenn man sehr laut ruft;
auch Pfeifen hört er. Ob es sich in diesem Falle um wirkliche
Besserung des Gehörs oder um Erweckung der Aufmerksamkeit
gehandelt hat, muß dahingestellt bleiben. Er sowohl wie seine
Schwester haben während der Behandlung erst die zweite Den¬
tition durchgemacht; die Milchzähne sind aber vorne gehlieben,
so daß sie da eine doppelte Zahnreihe haben.
Fall 5 ist also deswegen von Interesse, weil er vom 23. bis
26. Jahre noch so beträchtlich (um I2V2 cm) gewachsen ist,
während er vorher im Wachstum schon ganz stillgestanden war.
Außerdem isl aber die sonstige Veränderung von ihm bemerkens¬
wert. Wenn dieselbe auch nicht annähernd einer Heilung gleich¬
kommt, was bei dem Alter des Individuums auch gar nicht zu
erwarten war, so zeigt sie doch recht deutlich die Wirksamkeit
des Heilmittels. Und für die Angehörigen ist auch die gering¬
fügige erzielte Besserung schon ein großer Gewinn, indem sie
ihnen doch die Pflege des Burschen sehr erleichtert, ja ihnen
ermöglicht, seine Arbeitskraft bis zu einem gewissen Grade aus¬
zunützen.
Bei meinen Besuchen in diesem Hause sah ich noch einen
Burschen von 27 Jahren, einen Bruder der beiden soeben be¬
schriebenen Kretins, ständig im Bette. Derselbe war in sehr
hohem Grade im Gesichte gedunsen, so daß sein Ko[)f ein ganz
unförmliches Aussehen hatte; er batte (dne ganz l)leiche Ge¬
sichtsfarbe, die Nase hatte die typischen Charaktere des Kreti¬
nismus in hohem Grade ausgebildet. Sein Genitale war sehr
unvollkommen entwickelt, fast ohne Pubes; er hatte keine Spur
von Bart. Er ließ den Urin hei Tag und Nacht unter sich, wo¬
durch die Atmosphäre in dem engen, von der sehr armen Familie
bewohnten Raume ungemein verschlechtert wurde. Sein Ge¬
sichtsausdruck war finster, apathisch; er kümmerte sich um
nichts, wenn man sich nicht direkt mit ihm befaßte.
Es wurde mir gesagt, daß er einige Worte spreche; ich habe
aber damals nie eines von ihm gehört. Uehei’ seine Gewohnheiten
wurde nur mitgeteilt, daß er bei Tag meist schlafe, bei Nacht un¬
ruhig sei. Er esse nur einmal im Tage und sei sehr bösartig.
Wenn man ihm etwas nicht nach seinem Willen tue, so beiße
und schlage er; oft schlug er sich in seiner Wut selbst auf den
Kopf. Er hatte gewisse Gewohnheiten, an denen er mit großer
Hartnäckigkeit festhielt und die, wie sich besonders im weiteren
Verlaufe herausstellte, auf Zwangsvorstellungen zurückzuführen
waren. So z. B. ging er, wenn er sein Bett verlassen halte,
immer nur rückwärts schreitend in sein Bett zurück. Er mußte
beim Ein- und Aussteigen aus dem Bette, sowie heim Gehen
immer unterstützt werden, obwohl er ganz gut gehen und sich
bevmgen konnte. Es genügte ihm aber, wenn man ihn mit der
Hand berühi te, ohne ihm eine wirkliche Hilfe zu leisten.
Er hatte in der einen Hand immer irgendeinen Gegenstand,
z. B. ein Läppchen oder einen Knopf, um welchen Gegenstand
er die Hand krampfhaft geschlossen hielt. Diese Haltung der
Hand hatte er seit Jahren unverändert beibehalten.
Ueber die Entwicklung des Zustandes erfuhr ich, daß der
Bursche offenbar schon von Kindheit .an kretinisch war; er war
schon seit jeher gedunsen, konnte nur undeutlich reden, war
aber dabei beweglich, hatte allerlei kleine Arbeiten gemacht und
war ein Sammler.
Vor acht Jahren hat sich sein Zustand verschlimmert, in¬
dem seine Gedunsenheit mehr und mehr zunalmi und damit
seine Apathie. Seit dieser Zeit verließ er das Bett fast gar nicht
mehr. Seit drei Jahren war er nicht mehr im Freien.
Es hatte sich also bei einem von Haus aus kretinischeii
Individuum im Alter von 19 Jahren eine Verschlimmerung des
Zustandes eingestellt, der sich körperlich durch bedeutende Zu¬
nahme der myxödematösen Schwellungen, geistig durch Steigerung
der Apathie und durch eine Geistesstörung kundgab, die haupt¬
sächlich auf Zwangsvorstellungen beruhte. In Parenthese will
ich anführen, daß ich bereits in meinen im Jahre 1892 an den
Kretins des Frohnleitner Bezirkes in Steiermark durchgeführten
Untersuchungen*^) zwei Fälle gefunden habe, in denen bereits
erwachsene Kretins (in den Dreißigerjahren) eine starke, auf
Myxödem beruhende Schwellung der Haut und des Unterhautzell-
gewehes erfahren haben.
Vor drei Jahren wurde nun der Versuch gemacht, ob auch
dieser so schwere, lang dauernde Krankheitszustand durch Be¬
handlung mit Schilddrüsensubstanz gebessert werden könne; und
wirklich war der Erfolg ein ganz unverkennbarer.
Schon nach drei Monaten war der Bursche sichtlich leb¬
hafter; er reichte mir hei meinem Kommen die Hand und schaute
mich verständnisvoll an. Er war bedeutend mägerer geworden,
hatte bedeutend inehr und öfter im Tage gegessen und war auch
nicht mehr so wählerisch wie früher. So nahm er z. B. Wasser
und Brot zu sich, was er früher stets zurückgewiesen hatte.
Seine Zwangsvorstellungen und seine Heftigkeit, wenn den¬
selben zuwidergehandelt wurde, bestanden dabei anfangs noch
fort. So hatte er die Kaprice, daß das Brot, das er übrigließ,
immer auf seinem Bette liegen bleiben mußte. Als seine Schwester
einmal dieses Brot wegnahm, geriet er in große Wut; er, der
sonst nie ohne Unterstützung aufstehen konnte, war mit einem
Satze aus dem Bette, lief in die Küche und wollte mit einem Messer
auf seine Schwester losgehen und als diese fortlief, auch auf
seinen Vater, der sich dazwischen stellte.
Im weiteren Verlaufe wurde sein Zustand immer . besser.
Er hörte auf, unrein zu sein; er hörte mit dem Bettliegen auf,
war den größten Teil des Tages außer Bett, läßt sich jeden Tag
ins Freie bringen und geht ums Haus herum. Er hat nicht mehr
die Wutanfälle wie früher. Auch die Zwangsvorstellungen hat
er ganz verloren und ist jetzt ganz freundlich, gutmütig und
trätabel geworden. Er schaut jetzt lebhaft drein, achtet, wenn
von ihm gesprochen wird, lächelt oft, schaut Bilder an, spielt mit
der Katze und treibt Spässe mit seiner Schwester. Er hat die
Schwellungen der Weichteile fast ganz verloren, ißt reichlich
und hat regelmäßigen Stuhl, während er früher oft nur einmal
in der Woche einen gehabt hatte. Er ist, obwohl bereits
29 Jahre alt, doch in den letzten zwei Jahren unter Schilddrüsen-
hehandlung noch um 4 cm gewachsen. Auch bekommt er jetzt
einen Bart.
Diese beiden Fälle beweisen also, daß selbst in
schweren und im Alter bereits vorgeschritteneoi Fällen durch
die Schilddrüsenbehandlung noch immer eine gewisse Besse¬
rung zn erzielen ist.
♦
Ein besonderes Interesse beanspruchen die vier Kinder
der Familie K.
Von denselben wurde mir zuei'st der damals zweijährige
Lorenz K. vorgestellt. Das Kind konnte damals nicht nur nicht
gehen oder stehen, sondern nicht einmal sitzen. Die Nasen¬
wurzel war derartig eingezogen und abgeflacht, daß von einer
Nasenwurzel überhaupt kaum die Rede sein konnte; unter der¬
selben saß ein äußerst kurzer ■Nasenstunmiel. Die Wangen, Lider,
Lippen, ja das ganze Gesicht waren äußerst gedunsen; auch am
Jahrbuch für Psychiatrie, Bd. 12.
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
B9
übrigen Körper sehr viel schlaffes Fett. Die Gesichtsfarbe extrem
bleich, die Haut fast durchscheinend. Der Mund war weit offen
und aus demselben hing die Zunge heraus. Diese Makroglossie
war schon bei der Geburt vorhanden, während die Hautschwel-
lungen hei der Geburt noch nicht in so hohem Grade entwickelt
waren. Die Nahrungsaufnahme war sehr mangelhaft; der Stuhl
selten und hart. Schilddrüse nicht vergrößert, aber durch Pal¬
pation deutlich nachweisbar. Keine Pseudolipome. Die große
Fontanelle war noch offen.
Von irgendeiner geistigen Entwicklung war bei dem Kinde
noch keine Spur vorhanden; es fixierte nicht, zeigte auf keine
Weise irgendeine Aufmerksamkeit auf Sinnesreize. Gehör daher
nicht zu prüfen.
Auffallend war bei dem Kinde die Neigung, den Kopf immer
nach rückwärts gebeugt zu halten. Beim Versuche, das Kind
aufzurichten, konnte man das etwa als eine Schwäche der den
Kopf aufrecht haltenden Muskeln deuten; es war aber auch im
Liegen die Neigung, den Kopf nach rückwärts zu beugen, be¬
merkbar.
Die Dosis der verabreichten Tabletten betrug zuerst eine
halbe pro die; nach drei Monaten wurde auf eine Tablette täglich
gestiegen. Nach einem Jahre wurde die Dosis weiter auf eine und
nach zwei Jahren endlich auf zwei Tabletten pro die gesteigert.
Der Erfolg war ein sehr wenig befriedigender. Die vorher
retardierte Zahnung wurde beschleunigt, so daß das Kind bald
alle Zähne seines Alters hatte. Die Fontanelle schloß) sich; die
Makroglossie wurde ganz rückgängig; auch die Schwellungen am
Körper und Gesicht schwanden, so daß das Kind schließlich
ziendich abgemagert war. Doch behielt es unverändert seine
extrem blasse Hautfarbe. Vor allem aber trat in psychischer
Beziehung nicht die mindeste Besserung ein. Das Kind konnte
nach dreijähi'iger Behandlung nicht nur nicht stehen oder gehen,
es konnte nicht einmal sitzen. Es wurde daher nach drei Jahren
außer Behandlung gesetzt und ist bald darauf gestorben.
Von ungünstigem Einfluß mag in diesem Falle wohl
gewesen sein, daß das Kind während der Behandlung Keuch¬
husten und Masern durchmachte.
Während dieses Kind in Behandlung war, brachte dessen
Mutter eines Tages ein anderes Kind, ein zehn Monate altes
Mädchen, das ebenfalls noch gar keine Zeichen geistiger Ent¬
wicklung darbot, ebenfalls die Neigung hatte, den Kopf nach rück¬
wärts zu beugen und ebenfalls die Zunge aus dem Munde heraus¬
ragend hatte. Von myxödematösen Schwellungen war damals
noch nicht viel zu sehen.
Nach weiteren drei Monaten waren aber die myxö'dematösen
Schwellungen ebenso stark entwickelt, mit derselben extrem
bleichen Gesichtsfarbe, die Nasenbildung typisch wie beim Bruder;
die große Fontanelle noch offen, noch kein Zahn im Durchbruch.
Von da ab wurde auch die Behandlung eingeleitet, mit demselben
unvollkommenen Erfolge wie bei dem früher beschriebenen Kinde.
Die Zähne kamen rasch zum Vorschein; die Makroglossie schwand
im Laufe längerer Zeit und es trat Abmagerung ein. Die Fonta¬
nelle blieb in diesem Falle bis zum Tode offen.
Im übrigen blieb der psychische Zustand und die Blässe
der Gesichtsfarbe unverändert; auch dieses Kind konnte nach
zweijähriger Behandlung, also über drei Jahre alt, noch nicht
sitzen und wurde deshalh aus der Behandlung gegeben.
Das Kind starb ein Jahr später. Bei der von Prof. Schla¬
gen häuf er ausgeführten Obduktion zeigte sich die Schilddrüse
vorhanden, weder besonders vergrößert, noch atrophiert. Die
histologische Untersuchung zeigte aber, daß das Gewebe der
Schilddrüse pathologische Veränderungen allerhöchsten Grades
aufwies u. zw. bezogen sich diese Veränderungen auf die Drüsen¬
zellen selbst. Die genaue Beschreibung des Präparates wird durch
Prof. S c h 1 a g e n h a u f e r an anderem Orte sta ttfinden.
Das Gehörorgan dieses Falles wies ebenfalls schwere Ver¬
änderungen u. zw. im inneren Ohre auf, worüber Dr. Alexander,
der das Gehörorgan histologisch untersucht hat, seinerzeit be¬
richten wird.
In diesen beiden Fällen handelte es sich offenbar um ange¬
borenen Kretinismus. Ich selbst habe die Fälle zwar erst im
Alter von zwei Jahren, resp. zehn Monaten gesehen ; ich, konnte
mich ferner im ersten Falle durch die Angaben der Mutter, im
zweiten Falle durch eigene Beohachtung überzeugen, daß das
Myxödem, d. h. die demselben angehörige Hautschwellung, erst
im extrauterinen Theben zur Entwicklung kam. Anderseits ließ
die bestimmte x\ngabe der Mutter, daß die Makroglossie schon
bei der Geburt vorhanden war, keinen Zweifel darüber aufkommen,
daß es sich um eine angeborene Störung handelt, um so mehr,
nls die Richtigkeit dieser Angabe durch die an dem gleich zu
erwähnenden dritten und vierten Kinde derselhen Mutier gemachte
Beobachtung bekräftigt wurde.
Die Erfahrung an den zwei eben geschilderten Fällen
hatte gezeigt, daß dieselben zwar auf die Schilddrüsen¬
behandlung reagierten (Beforderiing der Zahnung, Fonta¬
nellenschluß, Schwinden der Haiitschwellungen und der
Makroglossie), daß aber anderseits die ausgebliehene Gehirn¬
entwicklung durch die Behandlung gar nicht beeinflußt
wurde; das erste Kind konnte z. B. mit vier Jahren noch
nicht einmal sitzen, geschweige denn stehen oder gehen.
Von Sprachentwicklung war noch keine Spur vorhanden;
auch die charakteristische Anämie erwies sich der Behand¬
lung gegenüber refraktär.
Es lag daher nahe, in analogen Fällen mit der Behand¬
lung noch viel früher, möglichst bald nach der Geburt zu
beginnen, um möglicherweise die zwar angeborene, aber
in den ersten Lebensmonaten rasch fortschreitende (Myx¬
ödem) Erkrankung in einem früheren Stadium vielleicht
doch intensiver zu beeinflussen.
Die Gelegenheit dazu hot sich bald.
Im Mai 1904 kam die Mutter der beschriebenen zwei Fälle
mit einem erst sechs Wochen alten Kinde, das bereits eine aus¬
geprägte Makroglossie zeigte, die es nach Angabe der Mutter be¬
reits bei der Geburt gehabt hatte. Schwellungen der Weichteile
waren noch nicht ausgeprägt. Doch war schon die charakteri¬
stische bleiche Gesichtsfarbe nachweisbar; auch die extrem kurze,
typische Sattelnase fehlte nicht.
Es war zu befürchten, daß dieses Kind das Schicksal seiner
Geschwister teilen werde und es wurde daher sofort mit der Be¬
handlung begonnen, indem dem Kinde täglich eine halbe Tablette
verabreicht wurde.
Im Alter von elf Monaten fing dieses Kind an, aufrecht zu
sitzen; die Fontanelle war noch weit offen und noch kein Zahn
im Munde. Die Zunge ragte noch aus dem Munde heraus. Mit
17 Monaten machte das Kind schon Versuche zu Gehbewegungen;
es schaute lebhaft um sich. Die Gesichtsfarbe war eine gute ge¬
worden. Die Fontanelle war schon beinahe geschlossen, sieben
Zähne waren diirchgebrochen und die Zunge ragte kaum mehr
aus dem Munde heraus. Es bestand starke Salivation. Die Neigung,
den Kopf nach rückwärts zu ])eugen, die andeutungsweise auch
in diesem Falle bestanden hatte, war verschwunden.
Mit zwei Jahreii ging das Kind schon allein heruni, machte
die ersten Sprechversuche und es waren bereits 13 Zähne durch¬
gebrochen. Das Kind war ziemlich lebhaft und lächelte oft.
Im Alter von 2V2 Jahren hatte das Kind im Gesichtsausdruck
nichts an Kretinismus Erinnerndes mehr; speziell die Nase war
entsprechend lang, die Nasenwurzel scharf und nicht mehr ein¬
gesunken ; dabei war das Kind im letzten Jahre um 14 cm ge¬
wachsen (87 cm); die Fontanelle war vollkommen geschlossen.
Das Kind ging ganz allein und sicher, war lebhaft, machte auch
im Sprechen, wenn auch etwas langsam, Fortschritte. Die Dosis
war im letzten Jahre eine Tablette täglich gewesen.
Wenn sich auch nicht mit apodiktischer Gewißheit sagen
läßt, daß das Schicksal dieses Kindes ohne frühzeitige Einleitung
einer Behandlung dasselbe gewesen wäre, wie das seiner früher
beschriebenen Geschwister, so ist dies doch in höchstem Grade
wahrscheinlich ; der Anfang wenigstens war genau so. Die Rich¬
tigkeit dieser Annahme vorausgesetzt, würde also die weitere Ent¬
wicklung einen großen Erfolg dei' Behandlung bedeuten.
Im vorigen August kam übrigens die Muttei' der erwähnten
Kimh'r mit einem vierten Kinde, das ehetifalls' erst sechs Wochen
alt war, einen kleinen Kropf hatte, die typische, abnorm kurze,
stark gesattelte Nase, die Neigung, den Kopf stark nach rückwärts
zu beugen, Makroglossie, eine abnorm große Fontanelle. Aber
noch kein deutliches Myxödem. Auch in diesem Falle wurde
die Behandlung sofort eingeleitet; doch konnte das Kind seither
noch nicht neuerdings besichtigt werden.
Daß es sich bei den vier Kindern dei’ Familie K. nicht um
ein vereinzeltes Vorkommnis handelt, sondern um eine Fomi,
in der angeborener Kretinismus in Erscheinung tritt, beweist der
Umstand, daß; mir am selben Orte, dem diese Kinder entstammen,
in Zeltweg, noch einige ähnliche Fälle unterkamen. So der Fall
Nr. 20, ein Ifljähi’iger Knabe, der in Nasenbildung, Gesichtsfarbe,
Makroglossie, hochgrarligem Blödsinn, mit Lorenz K. vollständig
übereinstimmte. Auch die Rückwärtsbeugung des Kopfes fehlte
nicht . Die Zähne kamen erst im Laufe der Behandlung (eine
halbe Tablette täglich), dann aber rasch.
Auch dieser Fall wurde nach drei Jalnen außer Behandlung
gesetzt, da er gar keinen Fortschrilt in physischer Richtung
40
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2
zeigte, SU z. L>. mit vier Jahren noch nicht einmal sitzen konnte.
Gewachsen war er in den drei Jahren der Behandlung um 22 cm,
von 61 cm auf 83 cm, also dem Durchschnitt entsprechend.
Ganz ähnlich war ein weiterer Fall, ein bei der ersten
Vorslellnng zirka einjähriges Mädchen, das auch nach einem
Jahre wegen Erfolglosigkeit außer Behandlung gesetzt wurde.
*
m
Vom ätiologischen Standt3unkt interessant sind die
beiden Fälle 9 und 10 (Brüder).
Dieselben sind gesund und frisch zur Welt gekommen.
Beide hatten schon zu gehen und zu sprechen angefangen. Da
erkrankten beide an einem schweren Scharlach, der eine mit
IV2, der andere mit drei Jahren. Fraisen waren mit dem Schar¬
lach nicht verbunden. Nach dem Scharlach haben beide zu
sprechen aufgehört und sind sehr schwerhörig geworden. Der
jüngere hat auch zu gehen aufgehört; der ältere ist sehr schwer¬
fällig gegangen.
Erst ein Jahr nach dem Scharlach haben die beiden Knal)en
wieder zu sprechen angefangen. Sie sind dann stark im Wachs-
tume zurückgeblieben.
Sie sind beide in die Schule gegangen; der ältere hat es
in sieben Jahren nur bis zur zweiten Klasse gebracht. Er kann
Diktat schreiben. Der jüngere ging zur Zeit, als die Behandlung
begann, noch in die Schule; konnte nur nachschreiben.
Die Knaben waren I2V2 und 14V2 Jahre, als die Behandlung
begann. Der ältere, Nr. 9, hatte damals eine Körperlänge von
124 cm, war also um 25 cm hinter dem Durchschnitt zurück¬
geblieben. Er hatte eingezogene und abgeflachte Nasenwurzel.
Deutliche Weich teilschwellungen im Gesicht, blasse Gesichtsfarbe,
keinen Kropf. Er sprach mit etwas mangelhafter Artikulation,
hörte Flüsterstimme undeutlich, Temperament apathisch, in seinen
Bewegungen trag.
Im Laufe der 3V2jährigen Behandlung ist er um 13-5 cm ge¬
wachsen, was dem durchschnittlichen Wachstum seines Alters
entspricht, während früher sein Wachstum weit unter dem Durch¬
schnitte geblieben war. Gleich im Beginne der Behandlung nahmen
die Weichteilschwellungen rapid ab, er wurde viel mägerer, be¬
kam einen riesigen Appetit, während er früher nur wenig gegessen
hatte. Er wurde viel lebhafter, aufgeweckter, gesprächiger, flinker
in seinen Bewegungen. Die Urinsekretion stieg anfangs bedeutend
und es trat vorübergehend nächtliche Enuresis auf, was vor
der Behandlung nicht der Fall gewesen war, auch nach etwa
einem halben Jahre wieder aufhörte.
Die leichte Störung von Sprache und Gehör schwand \ oll-
ständig. Bei einem Besuche vor einem Jahre fand ich den Knaben
nicht mehr vor; er war in den Dienst gegangen und befand sich
auf einer Alm; auch vorigen Sommer war er, bei einem Bauer
bedienstet, auswärts.
Der jüngere Bruder zeigte alle Störungen in etwas höherem
Gi'ade als der ältere. Er maß zum Beginn der Behandlung 410 cm,
war also um 29-5 cm hinter dem Durchschnittsmaß seines Alters
zurückgeblieben. Der kretinische Charakter in Gesichtsbidung und
Weichteilschwellungen war bei ihm stärker ausgeprägt, als beim
Bruder, ebenso die Gehörs- und Sprachstörung. Der Mund
meist offen.
Die Behandlungserfolge im Laufe von vier Jahren waren
ganz ähnliche wie bei seinem Bruder, Zunahme der Körperlänge
von 110 auf 132 cm, also mehr als dem Durchschnitte entspricht,
während er vorher um 29 cm hinter dem Durchs(dmitte zurück¬
geblieben war. Sein Aussehen ist j(,‘tzt blühend, die Charaktere
des Kretinismus sind wesentlich gebessert, amdi die kretinische
Nascnbildnng. Er hört jetzt Flüstei^stimme gut, spricht besser
arlik\diert, fängt an zu arbeiten.
Ein ähnlicher Fäll, was die ‘\eliologie aiihelangt, ist
Fall 11.
Das im Beginne der Behandlung 7V2jäbrige Mädchen maß
damals 100 cm, war also um 11 cm hiider dem Durchschnilt
zurück. Es halle damals (diarakteristische kretinische Gesichls-
Inldnng; vor allem typische, außerordenilicli kurze Sattelnase;
starke Scbwel hingen der Whucbbule, besomhus im G('sicbt; v/ar
sidiwmJiörig, s]uacb mangelhaft artikuliert.
Das Mädchen hat mit drei .labren Kenebhusten gehabt und
soll laut Mitteilung der '\Iutier, erst von da an zu wmchsen auf-
gcdiört haben.
Im Laufe der vierjährigen Behandlung wuchs es um 30-5 cm,
so daß es jetzt die seimmi Alliu' (mlispieidiende Größ<' vollkommen
(u-reiedd, liat; es ist ein lebhafh's, blühend anssebendes Mädchen
geworden, das gar keine Merkmale des Kretinismus mehr an sich
trägt. Es besucht die dritte Klasse der Aolksscbub', spiächt jetzt
gut artikuliert und hört fast normal.
Diese Kasuistik ließe sich noch bedeutend vemiehren;
doch mögen die angeführten Fälle als Typen genügen.
Zum Schlüsse möchte ich nur noch eine Zusammen¬
stellung der Wachstumserfolge bei den drei Jahre und länger
behandelten Fällen, in einer Tabelle übersichtlich zusam¬
mengestellt, bringen.
Aus der Tabelle ergibt sich:
1. Daß in der großen Mehrzahl der Fälle eine Wachs¬
tumstörung vorhanden ist, ein Zurückbleiben hinter der
durchschnittlichen Körperlänge des betreffenden Alters.
2. Daß die Wachstumstörung um so heträchtlicher ist,
je älter das Individuum; begreiflicherweise, da sich die
Wachstumstörung aus der Differenz der erreichten und der
zu erwartenden Körperlänge ergibt und diese Differenz mit
den Jahren immer größer werden muß.
In den unteren Altersstufen, vom fünften Jahre ab¬
wärts, finden wir sogar ei'um Ueberschuß der erreichten
über die zu erwartende Körperlänge, woraus hervorzugehen
scheint, daß die Wachstumstörung in der Regel nicht das
erste Symptom des Kretinismus ist, sondern sich häufig
erst später, vom vierten bis fünften Lehens jalire an, einstellt .
3. Daß das Längenwachstum im ersten .Jahre der Be¬
handlung fast ausnahmslos das durchschnittliche nonnale
Wachstum übertriffl, häufig sogar in sehr bedeutendem
Grade.
4. Daß die Wachstumsenergie in den späteren Jahren
der Behandlung zwar a])niramt, aber meistens auch dann
noch eine übernormale ist oder wenigstens die Norm er¬
reicht, was vor der Behandlung in der Regel nicht der
Fall war. Daraus resultiert, daß auch bei Betrachtung län¬
gerer Zeiträume (drei bis sechs Jahre) das in dieser Zeit
erreichte Whchstum meist viel über das normale hinaus¬
geht (siehe Rubrik IX der Tabelle).
Das Wachstum ist in den späteren Jahren nicht immer
gleichmäßig und düiTten dabei verschiedene Momente mit-
wirken. So scheint es, daß gegen die Pubertätsentwicklung
zu ein neuerlicher Anstieg des Wachstums Vorkommen kann,
Ferner dürften einige weniger günstige Resultate von un¬
regelmäßigem oder ganz unterlassenem Einnehmen der Ta¬
bletten herrühren.
Auch dürfte das verabfolgte Präparat nicht immer gleicli
wirksam gewesen sein. Es hat sich herausgestellt, dak
auch bei Schafen nicht selten Kröpfe Vorkommen. Wenn
nun solche kropfige Schafschilddrüsen mitverarbeitet wer
den, so können dadurch die erzeugten Tabletten weniger
wirksam werden. Es dürfte sich daher empfehlen, Schaf¬
schilddrüsen, von denen der einzelne Lappen mehr als drei,
höchstens vier Gramm wiegt, nicht zur Tablettenerzeugung
zu verwenden.
Ueher das Ergebnis meiner an einzelnen Fällen schon
fünf und sechs .Jahre, an einer großen Anzalil von Fällen
durch drei und vier Jahre fortgesetzten Beohachtungen läßl
sich folgendes aussprechen:
Der Kretinismus wird in allen Graden und auch nocl:
in vorgeschrittenerem Alter (meine Beobachtungen reichen
bis zum 27. liebensjahre) durch die Behandlung mit Schild
drüsensuhslanz günstig beeinflußt.
Der Erfolg ist um so besser, je früher mit der Behänd
lung begonnen wird.
ln den leichteren Fällen von (wohl meist erworbenem,
Kretinismus, in denen keine helrächtlichere Schädigung des
Gehörorganes vorhanden ist, kann eine volle Heilung erzielt
d. h. es können alle Symptome des Kretinismus beseitig'
werden, wenn mit der Behandlung frühzeitig, zwischen den
zweiten und drittem Le'bensjahre, begonnen wird. Diesei
Erfolg ist ein hleilxmder, d. h. er hleihl auch bestehen, wenr
nach längerer Behandlung die Zufuhr der Schilddrüsensub
stanz eingestellt wird.
Bei einer Anzahl von schweren Fälbm von Kretinis
]nus (es dürfte sich in denselben meist um angeborener
Krelinisrnus gehandelt haben) gelingt es auch heim Ein
setzen der Behandlung in einem frühen Alter (ein bis dre:
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, ml.
41
1
H
HI
IV
V
VI
VH
VIII
IX
Z u
nähme
der Kör
perlänge im
Nummer
des Falles
Alter im
Beginn
der Be¬
handlung
Körper¬
länge im
Beginn
der Be¬
handlung
durch¬
schnittliche
Körper¬
länge dieses
Alters
Differenz
zwischen
IV und HI
Dauer der Be¬
handlung
in Jahren
Zunahme
der
Körper¬
länge
während
der Be¬
handlung
Durch¬
schnitt¬
liche Zu¬
nahme
während
dieser Zeit
bei gesunden
Kindern
Differenz
zwischen
VHu. VHl
1. Jahre
1
2. Jahre
1
3. Jahre
4. Jahre
5. Jahre
1
6 Jahre
Z
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met
e r
57
27
125-5
168
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3
4
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35
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1-5
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23
137
167-5
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5
12-5
0-5
12
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0-5
3
65
56
19
107
157
50
3
28
1
27
15
7
6
41
16
154-5
155-5
1
3
13-5
10
35
7-5
6
4
19
15-5
102
1505
48-5
4
32
7
25
12
65
6-5
7
15
15
105
151
46
4
43
14
29
13
9-5
11
9-5
9
14-5
124
149
25
3
13-5
12
1-5
55
3-5
4-5
33
13-5
125-5
142
16-5
4
25
13-5
11-5
8
6-5
7
3-5
24
13
132
140
8
3
14-5
12
25
9
3
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10
12-5
HO
139-5
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4
22
17-5
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9
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6
35
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1395
19-5
4
20
17-5
2-5
7
6-5
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3
21
12
109
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28-5
3
19
14
5
8
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4
,
37
12
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1375
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4
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11
4-5
7
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16
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117
135
18
3
15
145
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6
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4-5
,
39
11
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10
4
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19
0-5
7
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4-5
4-5
49
H
138
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4
25
19
6
11
6
5
3
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H
113
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17
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8
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,
5
10
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10
5
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105
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4
31
20
11
11
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5
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23
9
113
122
9
4
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5
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6
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9
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15
4
27
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6-5
10
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4
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17
8
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4
30
21
9
11
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6
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8
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114
18-5
4
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21
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8
6-5
4-5
2 5
40
8
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12
3
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2
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6
5
,
55
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4
4
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5
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5
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7
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19
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12-5
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5
5-5
26
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111
9
4
22 5
21
1-5
10
5-5
2
5
69
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—7
3
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16-5
0
6
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5
,
25
7
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6-5
4
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4
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6
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4
,
30
7
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4
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5
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5
7
29
6-5
92
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4
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14
10
6
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1
6
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41
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9
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4
4
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6
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3-5
4
26
23
3
8
6
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6-5
64
6
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2
3
21
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4-5
10
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18
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3
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7
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•
•
12
5
96
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3
4
31
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7-5
11
9
4-5
6-5
14
5
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3
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16-5
7
10
7
6-5
31
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6
4
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1
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7
3
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65
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8
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3
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4
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7
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4
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4
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11
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7
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67
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3
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18
85
85
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3
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4
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4
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4
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6
11
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4
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2
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3
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6
8
58
2
84
79
—5
3
23
19 5
8-5
9
8
6
•
Jahren) nicht, einen vollen Heilerfolg zu erzielen. Ob in
solchen Fällen ein noch früherer Beginn der Behandlung
(mit sechs Wochen, wie in den beiden früher angeführten
Fällen) zu einem vollen Erfolg führen wird, kami ich bei !
der Kürze der Behandlungsfrist noch nicht sagen.
Was speziell die Störung der Gehörsfunktion an, be¬
langt, ist zu bemerken, daß sowohl die anf Mittelohrerkran-
kung, als auch die auf Labyrintherkrankung beruhende
Schwerhörigkeit der Kretins durch die Behandlnng gebessert
wird. Jedoch erweist sich dieses Symptom widerspenstiger
als die anderen Symptome des Kretinismus; und höhere
Grade von Störungen der Gehörsfunktion können auch bei i
Beginn der Behandlung im zweiten oder dritten Lebens¬
jahre nicht behoben werden. Ob ein noch früherer Beginn
der Behandlung auch auf diesem Gebiete bessere Resultate
zutage fördern wird, kann ich mangels einschlägiger Er¬
fahrungen noch nicht sagen.
Es ergibt sich also aus dem Gesagten, daß man trach¬
ten muß, mit der Behandlung so früh als möglich zu be¬
ginnen, also sofort, wenn die Krankheit erkennbar wird.
, Wir stoßen aber da auf ein bisher noch dunkles Ge-
I biet; es wird von allen Seiten anerkamit, daß die Diagnose
des Kretinismus in den ersten Lebensjahren großen Schwie-
! rigkeiten begegne. Was den angeborenen Kretinismus an¬
belangt, glaube ich, daß die Makroglossie und in Fällen,
wo er vorhanden ist, der angeborene Kropf in den meisten
Fällen schon von der Gehurt an die Diagnose ermöglichen
werden. Die eigentümliche j’Vasenbildung (außerordentliche
iVbflachung der Nasenwurzel und Kürze der Nase) halte
ich für weniger charakteristisch, da sie auch anderen Er¬
krankungen zukommt. C e r 1 e 1 1 i und P e r u s i n i,^) die sich
mit der Diagnose des Krelinismusi in der ersten Kindheit
eingehender beschäftigt haben, legen ein großes Gewicht
auf die Beschaffenheit der Weichteile und auf die Gesichts¬
farbe. Ich möchte nach meinen Erfahrungen bezweifeln,
daß dieses Kriterium für die ersten Wochen und Monate
des extrauterinen Lebens, bei den Fällen von angeborenem
Kretinismus, verwendbar ist; denn hei den beiden älteren
®) Studii sul Cretinismo endemico. Annali dell’ Isütuto Rsichiatrico
della R. Universita di Roma 1904.
42
WIEWEK KLIJN'ISCIIE VVüCllEiNSClllUET. 1907.
Nr. 2
Kindern der Familie K., über die ich früher berichtet habe,
konnte ich mich teils nach den Angaben der Mutter, teils
durch eigene Beobachtung überzeugen, daß die Hautschwel¬
lungen erst am Ende des ersten Lebensjahres sich ein¬
stellten.
Noch schwieriger ist aber die Frühdiagnose des er¬
worbenen Kretinismus, da die Symptome sich alhnählich
und unmerklich einstellen und erst nach einigem Bestände
der Erkrankung deutlich in Erscheinung treten, ln diesen
Fällen wird vor allem das Ausbleiben des Gehen- und
Sprechenlemens einen wichtigen Anhaltspunkt geben. Wenn
sich dann die charakteristische bleiche Gesichtsfarbe und
mehr oder weniger hochgradige Hautschwellungen und die
charakteristische Apathie dazu gesellen, wenn der Ver¬
schluß der Fontanelle, der Durchbruch der Zähne auf sich
warten lassen, die charakteristische Nasenbildung da ist
und das Wachstum nicht recht fortschreitet, ist die Stellung
der Diagnose für den Arzt nicht so schwierig.
Die große Schwierigkeit liegt aber darin, daß, um das
Kind einer rechtzeitigen Behandlung zuzuführen, die Eltern
frühzeitig die Diagnose machen oder wenigstens auf die
Vermutung eines begiimenden Kretinismus kommen müssen.
Das kann nur im Laufe der Zeit erreicht werden, indem
die Bevölkerung in den Gegenden, wo der Kretinismus hei¬
misch ist, auf die Möglichkeit einer Behandlung dieses
Leidens aufmerksam gemacht und dadurch auch der Blick
für die Erkennung der frühen Anzeichen desselben ge¬
schärft wird.
Dieser Zweck wird erreicht, wenn anfangs auch
ältere, weniger Aussicht auf volle Heilung darbietende Kin¬
der in Behandlung genommen werden. li)ie immerhin auch
in solchen Fällen eintretenden Besserungen erregen die
Aufmerksamkeit nicht nur der Eltern, sondern auch wei¬
terer Kreise und führen dazu, daß allmählich immer mehr
Kinder und endlich auch solche aus den ersten Lebensjahren
von ihren Eltern ganz spontan der Behandlung zugeführt
werden.
Ich habe das an den Orten, an denen ich diese Ver¬
suche machte, selbst erlebt. Anfangs hatte ich vorwiegend
im schulpflichtigen Alter stehende und selbst ältere Kinder
in Behandlung; nach und nach kamen zuerst andere, in
diesen Altersklassen stehende Kinder dazu und erst in der
letzten Zeit werden mir öfters auch zwei- bis dreijährige
und selbst noch jüngere Kinder vorgeführt.
Ich hoffe daher, in einem künftigen Berichte über
eine viel größere Anzahl von Kindern aus diesem Alter
berichten zu können.
Aus der” chirurgischen Abteilung des städtischen allge¬
meinen “Krankenhauses in Linz a. d. Donau. (Primar¬
arzt: Dr. A. Brenner.)
Ein weiterer Fall von Totalluxation der Hals¬
wirbelsäule mit Ausgang in Genesung.
Von Dr. Hermann Biedb Assistenten der Abteilung.
ln Langenbecks Archiv für klinische Chirurgie,
Band 78, veröffentlicht F. Steinmann eine Zusammen¬
stellung von 20 Fällen von Totalluxation der Halswirbel¬
säule, darunter einen eigenen, welche ohne irreparable
llückenmarksläsion am Leben geblieben sind, teils nach
erfolgter Reivosition, teils ohne eine solche.
Als 21. Fäll kann ich dieser Reihe einen solchen an¬
schließen, der heuer im Allgemeinen Krankenhause in Linz
zur Beobachtung kam und durch Röntgenuntersuchung
sichergestellt wurde. Von den Fällen, die Stein mann ge¬
sammelt hat, sind nur zwei mit Röntgensirahlen unter¬
sucht worden, sein eigener und ein Fäll von Ringrose
(Lancet, 1904).
Die Krankengeschichte des von uns beobachteten Falles
ist folgende:
Am 24. August 1905 stürzte die 45jährige Frau K. H.
Leim Ausnehmeu eines Ilühnernesles von einer Leiter sieben
Sprossen tief herab. Sie schlug dabei mit der rechten Schulter
und wahrscheinlich auch mit dem Hinterkopfe auf den festen
Erdboden auf, verspürte sofort einen stechenden Schmerz im
Genick und konnte sich nicht mehr rühren, so daß sie vom
Platze getragen werden mußte. Am ersten Tage war sie vollständig
gelähmt. Arme und Beine waren ihr „wie wächsern“. Gleichzeitig
plagten sie heftige Schmerzen, die vom Nacken den Rücken
herab und in die Anne ausstrahlten. In den ersten drei Tagen
hatte sie mehrmals Schwindel- und Olmmachtsanfälle, Erschwerung
der Sprache, außerdem Harnverhaltung.
Während sie die Beine schon am zweiten Tage nach dem
Unfälle im Bette ein wenig regen konnte, blieben die Arme durch
vier Monate, bis gegen Neujahr, vollständig gelähmt. Bei jeder
Bewegung des Körpers im Bette hatte sie heftige Schmerzen in
Nacken, Schultern, Armen und Beinen, zeitweise aber auch in
der Ruhe.
Pat. befand sich zuerst durch zwei Wochen in häuslicher
Pflege, hernach fast fünf Monate im Spital der Elisabethinen
zu Linz, während welcher Zeit die Schmerzen zurückgingen und
die Lähmungserscheinungen sich fortschreitend besserten. Am
23. Januar 1906 wurde sie sodann vom Anstaltsaxzt Herrn Doktor
Ehrl, welcher bereits die Diagnose: Verrenkung der Halswirbel¬
säule gestellt hatte, entlassen und auf die chirurgische Abteilung
des allgemeinen Krankenhauses gebracht.
Fig. 1.
Bei der Aufnahme wurde hier folgender Befund erhoben :
Ziemlich kleine, zart gebaute Frau. Muskulatur und Fettpolster
mäßig ..entwickelt, Hautfarbe normal, Gesicht ein wenig gerötet,
Gesichtsausdruck und Blick ängstlich, starr, Temperatur und Puls
normal, innere Organe ohne nachweisbare krankhafte Ver¬
änderungen.
Pat. kann sich im Bette ohne fremde Hilfe nicht erheben,
vermag aber, mit Unterstützung zu sitzen, ermüdet dabei rasch
und klagt über Schmerzen im Nacken und Rücken, ebenso auch,
wenn sie, was sie selbständig nicht kann, im Bette von einer
Seite zur anderen gedreht wird. Beim Sitzen ist der Kopf steif
vorgestreckt und mäßig nach vorne gebeugt, mit geringer Neigung
nach links hin, das Kinn ist der Brust nicht wesentlich genähert
(Fig. l). Drehbewegungen des Kopfes sind frei ausführbar. Seit¬
wärts-, Vor- und Rückwärtsbewegung eingeschränkt; Vemuche,
diese passiv zu erweitern, rufen lebhafte Schmerzensäußerungen
hervor.
Bei der Untersuchung der Halswirbelsäule tastet man hinten
zunächst deutlich die Vertebra prominensi, weiter hinauf die Dorne
des fünften und sechsten Halswirbels, dann fühlt man eine sattel¬
förmige Einsenkung Und weiterhin keine Dome mehr. Die Massae
laterales der Halswirbel sind durch die Muskulatur nicht deutlich
Nr. 2
WIEWEK KLINISCHE VVOCIIENSCHKIET. 1907.
43
diircliziifühlen. Vom Munde aus läßt sich, soweit man von liier
aus die Vorderfläche der Halswirhelkörper untersuchen kann,
nichts Abnormes tasten. Im Bereiche der Brustwirbelsäule besteht
geringgradige Skoliose nach rechts, die linke Schulter steht um
ein weniges tiefer als die rechte.
Die Arme werden in nahezu vollkommener Streckstellung
an den Thorax adduziert gehalten; Unterarme und Hände fühlen
sich kühl an und sind leicht zyanotisch. Die Finger der rechten
Hand sind in sämtlichen Gelenken gebeugt, die der linken jedoch
in den Me takaipophalangeal gelenken gestreckt, in den übrigen
gebeugt.
Aktiv ist bloß leichtes Erheben der Arme nach vorne und
geringgradige Innenrotation möglich; Beugung in den Ellbogen¬
gelenken ist nicht ausführbar, Pro- und Supination links aufge¬
hoben, rechts nur in geringem Maße ausführbar. Bewegungen im
Handgelenk, dann Beugung und Streckung, Spreizen der Finger
sind eingeschränkt.
den, auch keinerlei Sprachstörung. Funktionen von Blase und
Mastdaim sind intakt. Die Patellarreflexe sind gesteigert, Fuß-
klonus und Babinsky sches Phänomen beiderseits vorhanden.
Periostreflexe im Bereiche der oberen Extremitätiui feiden, ebetiso
der Bauchdeckenreflex. Bachen- und Analreflex sind auslösbar.
Die Sensibilitätsprüfung ergab leichte Herabsetzung
der taktilen Empfindung an den imteren Extremitäten und vorne
hinauf am Stamme bis zur Höhe des zweiten Interkostalraumes,
hinten bis zur Höhe des dritten Brustwirbeldomes, ferner eine in
distaler Bichtung zunehmende Verminderang der Sensibilität für
Berührung an den oberen Extremitäten.
■Hyperästhesie fand sich nur in einer Zone, die vorne sym¬
metrisch in der Höhe des zweiten Interkostalraumes beginnt,
über die Klavikula zum Nacken zieht und hinten von der Höhe
des dritten Bmstwirbeldornes hinauf bis zum sechsten Hals¬
wirbel reicht.
Fig
Bei passiver Bewegung der Arme wird der Abduktion Wider¬
stand entgegengesetzt, ebenso Beugungsversuchen in den Ellbogen¬
gelenken; passives Strecken der gebeugten Finger ist nach Ueber-
windung leichten WiderstaJides möglich.
Deutlich atrophisch im Bereiche der oberen Extremitäten
sind beiderseits der Muschlus deltoideus, supra- und infraspinatus
und die kleinen Handmuskeln, in geringem Grade auch der Bizeps.
In den beiden unteren Extremitäten, die im Hüft- und Knie¬
gelenk gebeugt gehalten werden, besteht hochgradige spastische
Parese. Aktive Bewegungen erfolgen hier nur langsam, mit An¬
strengung, unter Sclimerzensäußerungen und in geringer Aus¬
dehnung. Spontan erfolgen ab und zu schmerzhafte Streck- und
Beugebewegungen. Passive Bewegungsversuche erfahren starken
Widerstand. Die Füße sind kalt und zyanotisch.
Auch die Bauchmuskulatur findet sich in einem tonischen
Kontraktionszustand.
Im Bereiche der Hirnnerven*) ist keinerlei Störung nach¬
weisbar. Es bestehen weder Schluck- noch Respirationsbeschwer-
*) Pat. wurde auch auf der inneren Abteilung des allgemeinen
Krankenhauses von Primararzt Dr. Lindner einer eingehenden Unler-
2.
Deutliche Störungen des Temperatursinnes ließen sich nir¬
gends nachweisen.
Die Röntgendurchleuchtung ergab mit großer Deut¬
lichkeit eine doppelseitige, totale Luxation der Halswirbelsäule.
Die Stelle der Verrenkung findet sich zwischen dem vierten und
fünften Halswirbel; als luxiert ist nach der gebräuchlichen No¬
menklatur also der vierte zu betrachten.
Ins Atige fällt sofort die winkelige Knickung der Halswirbel¬
säule, welche einen nach vorne offenen Winkel von ca. 130® ein¬
schließt. Die Aufnahlmen (Fig. 2 und 3) von rechts und von
links her geben ganz identische Bilder. Der Körper des vierten
Halswirbels ist über den des fünften derart nach vorne gerutscht,
daß er ganz der Vorderfläche desselben aufruht. Die Gelenks¬
fortsätze der beiden Wirbel haben sich beiderseits aus ihrer Ver¬
bindung gelöst, die oberen sich nach vorne verschoben, die unteren
sehen mit ihren nun kahlen Gelenksfläohen frei nach hinten.
Verfolgt man die Spitzen der Wirbeldorne von oben nach abwärts,
suchung unterzogen. Aus dem Ergebnis derselben sind manche, insbe¬
sondere die auf den Nervenslatus bezughabende Daten auszugsweise hier
mitgeteilt.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2
so findet man zwischen dem aus der Reihe zurückiretenden l'om
des vierten Halswirbels und <lem nächst unteren fünften ein
gegen die Norm beinalie doppelt so großes Spatium.
Bei der Durchleuchtung der Halswirbelsäule von vorne nach
hinten war eine Seitenverschiehung des luxierteu Wirbels mit
Sicherheit auszuschließen. Die Luxationsstellung als solche war
hier nicht deutlich zur Anschauung zu bringen.
Auch während der Beobachtung im Allgemeinen Kranken¬
hause zeigte sich eine langsam fortschreitende Besserung des
Zustandes der Patientin. Die ausstrahlenden Schmerzen ließeji
nach, Hände und Arme wurden beweglicher und die Krarnpfzu-
stände in den Beinen schwanden allmählich. Pat. lernte frei
am Bettrand sitzen und war schließlich schon so weil gekräftigt,
daß sie mit Unterstützung Gehversuche machen konnte. Ihr (lang
war damals noch ausgesprochen spas tisch-p are tisch.
Dieses langsame Zurückgehen der Krankheitssymptome ließ
mit großer Wahrscheinlichkeit eine schwere Schädigung des Hals-
Fig
markes und der Wurzeln ausschließen. Gleichwohl schien die
Befürchtung gereclitfertigl, daß an und für sich geringfügigie
Traumen die Luxationsstellung der Wirbel möglicherweise ver¬
größern und dadurch eine plötzliche Verschlimmerung des Zu-
slamles der Patientin herbeiführen könnten. Die Möglichkeit, daß
durch Kaliusproduklion an der Luxationsstelle der Rückenmarks¬
kanal noch weiterhin verengt werden könnte, durfte man hier
wohl ausschließen, nachdem seit der Verletzung bereits ein halbes
.lahr verstrichen war.
Von dem Gedanken geleitet, eine Restitutio ad integrum
herheizuführen und d;us Lohen der Patientin dauernd zu sichern,
kam man zu dem Entschlußi, jetzt doch noch einen operativen
Lingiiff zu wagen und wenigstens den Versuch zu unternehmen,
<li('se veraltete Luxation zu beheben. Freilich lagen nur Mit-
hulungen über günstige Erfolge bei frischen Halswirbelverren¬
kungen vor. Steinmann (s. o.) sagt in seiner Publikation aus¬
drücklich, daß es Erfahrungen über die Reposition aller Beuge¬
luxationen nicht gäbe, doch meint er, daß man auch in solchen
Fällen mit der Methode <ler einfachen Extension ineist keinen
Schaden stiften würde; im übrigen kämen in neuerer Zeit auch
blutige Eingriffe mehr in Frage.
Nachdem sich Pal. mit einer Operation einverstanden er¬
klärt hatte, wurde am 13. März 1906 zunächst versucht, auf un¬
blutigem \\Wge durch Suspension am Kopfe mittels der Glisson-
schen Schlinge, gleichzeitigem Gegenzug an den Schultern und
Druck von hinten auf die untere Halswirbelsäule eine Einrenkung
zu erzielen. Die Extension wurde in Narkose hei gleichzeitiger
Röntgen du rchh'uchtung vorgenommen. Beim Aufziehen der Pa¬
tientin konnte man ein leichtes Auseinanderweichen der Körper
der über und unter der Luxationsstelle gelegenen Halswirl)el sehen,
eine Stcllungsveränderung der übereinander verschobenen Wirbel
ließ sich jedoch, auch nach Vermehrung der Spannung durch
Gegenzug aii den Schultern, nicht nachweisen.
!Die Extension hatte der Palientin keinerlei Schaden gestiftet.
Nach vorübergehenden Schmerzen am Halse und im Kopfe fühlte
sich Pat. die folgenden Tage ganz wohl, teilweise sogar frischer
und freier als vorher. -Dadurch ermutigt, entschloß man sich,
nachdem die Extension das eigentliche Ziel nicht erreiclil hatte.
. 3.
noch einen l)lutigen Eingriff zu wagen, um auf diesem Wege
die erstrebte Reposition herheizuführen.
Bei der Operation, die Primarius Dr. Brenner am 17. März
1906 vornahm, wurde zunächst an der linken Halsseite durch
einen Schnitt am vorderen Rande des Musculus cucullaris der
Processus articularis des fünften Halswirbels und der vor und
oberhalh desselben tastbare Gelenksfortsatz des vierten freigelegf.
Trotz der sowohl vom Kopfe, als auch vom Fußende aus sehr
kräftig wirkenden Extension wichen die verhakten Gelenksfort-
sätze nicht um Haaresbreite voneinander, selbst hei, gleichzeitiger
Zuhilfenahme eines Elevatoriunis.
Durch einen zweiten Schnitt am vorderen Rande des linken
Kopfnickers wurde nun noch die Vorderseite der Halswirl)elsäule
zugänglich gemacht, um zu versuchen, von hier aus auf die über-
einandergeschobenen Wirhelkörper einzuwirken. Da sich aber liier
eine feste Verwachsung zwischen denselben nachweisen läßt, wird
von einem weiteren Vorgehen Abstand genonimen. Der Gedanke,
<lurch Resektion der miteinamler verkeilten Gelenksfortsätze eine
Stellungsverbesserung herbeizuführen, wird elienfalls fallen ge-
, lassen, da die Befürchtung besteht, daß dadurch die aufeinander
.\'r. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
15
gepreßten und miteinander verlöteten Wirbelkörper ihren Halt
verlieren und sieh gegenseitig noch stärker verschieben könnten.
Die Wunden wurden drainiert und geschlossen, der Hei-
hingsveiiaul war ein glatter. Acht Tage nach dem Eingriff konnte
Pal. wieder das Bett verlassen. Die sensiblen und motorischen
Störungen besserten sich auch noch weiterhin. Am 25. April löOG
verließ Pat., leidlich gehend, das Spital.
Ueberrascliend war die Besserung, die Pat. bei iiirer Selbst-
vorslellung im Juni 1906 aufweisen konnte. Der Gang war jetzt
ohne Unterstützung sicher. Pat. kann ihrer Angabe nach den
ganzen Tag uinhergehen, muß aber oft rasten, da sie ,,im Rücken
leicht ei'inüdet“. iMorgens beim Aufsteben verspürt sie noch
Steifigkeit in den Beinen. Die Kopfbewegungen zur Seite hin
waren eingeschränkt, sonst aber frei; die Arme wurden noch
an den Körper adduziert gehalten, der rechte konnte sowohl
nach vorne, als auch zur Seite bis zur Horizontalen erhoben
werden, der linke erreichte diese Exkursionsweite jedoch nicht.
Beide Ellbogengelenke waren aktiv beweglich, Bewegungen links
jedoch eingeschränkt, Hand- und Fingerbewegungen frei, die Kraft
beider Hände herabgesetzt. Deutliche Störungen der Sensibilität
ließen sich nirgends nachweisen.
Die Kopfhaltung war die gleiche wie vordem ; der durch
den Dorn des fünften Halswirbels bedingte Vorsprung hinten am
Halse schien jetzt etwas stärker vorzutreten als friiher.
Der hier mitgeteilte Fall lehrt alsO’, daß hei veralteleii
Fällen von totaler Halswirbelluxation die Aussichten, welche
das Extensionsverfahren bietet, davon ahhängen werden, ob
zwischen den luxierten Wirbeln bereits ausgiebige binde¬
gewebige oder gar knöcherne Verwachsungen stattgefunden
haben. Dies wird um so wahrscheinlicher sein, je später
der Fall zur Behandlung kommt. Jedenfalls kann aber, wie
auch Steinmann meint, der Versuch der Extension ohne
Schaden für den Patienten gewagt werden. Nach dem
Röntgenhild hier allein zu urteilen, wird nicht angehen, da
Bindegewebsneubildung nur schwer und selbst knöcherne
Verwachsungen nicht immer zu sehen sein werden.
An den Röntgenhild ern des vorliegenden Falles, sechs
Monate nach dem Unfall, die sonst an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig lassen, sieht man bloß zwischen den
Kör])ern des vierten und fünften Halswirbels vorne unten
einen schmalen Streifen, den man allenfalls noch als Zeichen
einer bereits eingetretenen Verwachsung annehmen könnte.
Ist die Extension nicht mehr imstande gewesen, eine
Reposition zu erzielen, so wird ein blutiger Eingriff wohl
nur dami angezeigt sein, wenn schwerere Schädigungen
von seiten des Rückenmarkes vorliegen oder wenn die be¬
reits vorhandenen Störungen progressiv zunehmen. Nach
Konstatierung stärkerer Verwachsungen wird es sich aber
nicht mehr darum handeln, eine Reposition anzustreben,
sonderu durch Resektion geeigneter Wirhelstücke dem Hals-
niark Platz zu schaffen. Imim'rhin aber wird man sich hier
die Gefahr vor Augen haltcTi müssen, die ein solches Vor¬
gehen für die Stahilität der Wirbelsäule und somit auch
für das Rückenmark in sich schließt.
Die Frage nach der Art der Rückenniarksschädigung,
welche den vorühergehenden Lähmungserscheinungen
infolge Totalluxation der Halswirhelsäule zugrunde liegt,
hat Steinmann eingehend bearbeitet. Nur eine Möglich¬
keil, nämlich die einer vorübergehenden Kompression des
Rückenmarkes durch Rlutextravasate, welche durch Ver¬
letzung des Venenplexus der Dura entstehen, findet sich
dort nicht hervorgehohen, und es scheint diese Art der
Erklärung gerade in dem vorliegenden Fälle sehr plausibel.
Die Lichtung der von den Querfortsätzen gebildeten,
zum Durchtritte der Rückenmarkswurzeln bestimmten Fora¬
mina intervertebralia erleidet durch die Luxation keine Ein¬
buße. Viel eher erscheint sie eine Erweiterung zu erfahren,
wie dies aus der Retrachlung des Röntgenl)ildes, sowie der
Skelettwirbelsäule hervorgeht. Eine Quetschung der durch-
Iretenden Nervenwurzeln ist also- jedenfalls ausgeschlossen.
Bezüglich des Verhaltens der Dura mater bei der Tötal-
luxation kann man wohl annehmen, daß das innere lockere,
durch das Ligamentum denticulatum mit dem Rückenmark
verbundene Blatt derselben erhalten hleild, während die
äußere, der Wandung des Rückgratkanals anliegende La¬
melle wenigstens teilweise einreißen muß.
Ein Punkt wäre zum Schlüsse noch zu streifen, nämlich
die Frage: Was verhindert das weitere Ahgleiten der schon
luxierten Wirbelsäule und damit eine tödliche Rückenmarks-
durclufuetschung ?
Stein mann nimnd hiefür das Erhaltenblelhen des
Ligamentum anterius und posterius als notwendig an. Beide
dürften für den nach vorne gleitenden Wirbel eine Art
Retinakulum bilden, in welchem er sich fängt. In zweiter
Linie kommt dann die reflektorische Kontraktion der Mus¬
keln der Halswirhelsäule als Sicheningsmittel in Betracht.
Außer dem Erhaltensein der beiden Längsbänder und
der Fixierung durch die Muskulatur scheinen hier aber
auch die Tubercula anteriora der Gelenksfortsätze des nächst
unteren Halswirbels, wenn auch nicht immer, eine Rolle
zu spielen. Dieselben sind zuweilen stärker und höher ent¬
wickelt, so daß nach erfolgter Tötalluxation beiderseits eine
Art Verhakung zwischen diesen und den Gelenksfortsätzen
des luxierten Wirbels eirdritt, wodurch einerseits derselbe
eine Stütze erhält, anderseits ein weiteres Ahgleiten nach
vorne verhindert wird. Dieses Verhällnis wird aus der
Zeichnung einer skelettierten Halswirhelsäule (Fig. 4) er¬
sichtlich, an welcher die Luxationsstellung künstlich herhei-
geführt wurde. Zur leichteren Orientierung sind die Wirbel
mit ihren zugehörigen Teilen abwechselnd hell und dunkel
gehalten. '
Die Radioaktivität der Teplitz-Schönauer
Urquelle.
Von med. Dr. Artur Hauser in Teplitz-Schönau.
Die eigenartige Stellung, welche die sog. Wildbäder
oder A k rat other me 11, weniger glücklich auch ,, indiffe¬
rente Thermen“ genannt, unter den Heilquellen einnehmen,
wird durch den geringen Gehalt an festen Bestandteilen
bei hoher natürlicher Wärme charakterisiert. Die bekann¬
testen Repräsentanten dieser Rädergruppe sind Gaslein,
Plombieres, Ragaz-Pfäfers, Teplitz-Schönau, Schlangenbad
und Wildbad. Mit ihrer Armut an fixen Reshindteilen korre¬
spondiert nun eigentümlicherweise die Armut an neuerer
balneologischer Literatur. Diese Erscheinung ist leicht zu
erklären. Als der gewaltige Aufschwung der physiologischen
und pathologischen Chemie die innere Medizin befruchtete,
da mußte auch die Balneologie, dem Zuge der Zeit folgend.
46
WIENER KLINISCHE WOCHENSCIIRIFT. 1907.
Nr. 2
sich das Rüstzeug der experimentellen Forschung zu eigen
machen. Sie suchte — mit mehr oder weniger Erfolg — sich
aus dem bisher überreich bepflügten Gebiete klinischer Em¬
pirie zur Höhe exakter wissenschaftlicher Forschung zu er¬
heben. Daß hiebei die von der Natur mit chemischen Be¬
standteilen so stiefmütterlich bedachten Akratothermen
Zurückbleiben mußten, ist begreiflich und tatsächlich zeigt
die baineologische Literatur der obgenannten Bäder in den
letzten zwanzig Jahren eine gegenüber der früheren Schreib¬
freudigkeit der Badeärzte auffallende Sterilität. Gestehen
wir es nur ruhig ein, daß wir bei der Erklärung der un¬
leugbar höheren Heilkraft der natürlichen Thermen gegen¬
über derjenigen künstlich erwärmten Wassers von gleicher
Temperatur und Zusammensetzung bisher — trotz aller Fort¬
schritte der exakten Wissenschaften — ungefähr auf dem¬
selben erleuchteten Standpunkte uns befanden, wie unsere
mittelalterlichen Kollegen, die sich mit dem mythischen
,,,Archäus“ oder „Brunnengeiste“ behalfen. Erst die aller¬
jüngste Zeit hat auch für die Akratothermen die Möglichkeit
eröffnet, einen ihrer wirksamen Faktoren greifbar festzu¬
stellen u. zw. war es nicht die Chemie, sondern ihre
Schwesterwissenschaft, die Physik, der wir diesen ersten
Blick in ein noch unbekanntes Land verdanken. Die Ent¬
deckung des Radiums und der Radioaktivität durch
das Ehepaar Curie hat eine fast unübersehbare Zahl von
Arbeiten hervorgerufen. Die Radioaktivität wurde als eine
universelle Eigenschaft der Materie erkannt. Jene Form der
radioaktiven Energie, welche wegen ihres allgemeinen Vor¬
kommens in der Atmosphäre und in den Kapillaren des
Erdbodens, sowie wegen ihres — uns hier besonders inter¬
essierenden — Auftretens in Quellwässern vorzugsweise in
Betracht kommt, ist die ,,Ema nation“. So bezeichnete
Rutherford das radioaklive materielle Gas, welches ge¬
wisse radioaktive (speziell Radium enthaltende) Körper fort¬
während entwickeln, und das die Eigenschaft besitzt, die
Körper in dem Raume, in dem es' sich befindet, radioaktiv
zu machen. Thomson und Himstedt haben gezeigt, daß
diese Emanation in Quellwässern enthalten ist und aus den¬
selben durch Auskochen oder Durchperlen von Luft ent¬
fernt werden kann. Seither sind an zahlreichen Orten Unter¬
suchungen dieser Art angestellt worden, von welchen be¬
sonders diejenigen von Curie und Labonde, Elster und
Gelte 1, Mache und Meyer hervorgehoben seien. Die
beiden letztgenannten Autoren haben die Heilquellen Oester¬
reichs, zuerst Gastein, dann die böhmische Bädergruppe
(Karlsbad, Marienbad Teplitz-Schönau, Franzensbad) und
die niederösterreichischen Thermen (Fischau, Vöslau. Baden)
einer eingehenden Untersuchung auf Radioaktivität unter¬
zogen, deren Resultate in mehreren iVrbeiten^) nieder¬
gelegt sind.
Die Methode, nach welcher die Untersuchung erfolgte,
und deren auch ich mich bei meinen in Teplitz durchge¬
führten Messungen bediente, beruhte auf der zuerst von
Elster und G eitel eingeführten Anordnung und sei im
folgenden nach Mach es Beschreibung (1. c.) wiederge¬
geben.
,,Ein zylindrischer, iiiiien mit dicht anschließendem Messing-
drahtnelz ausgekleideter Glassturz von 13-7 Liter Inhalt wurde mit
seinem abgeschliffenen Rande auf einen massiven Kupferteller
aufgesetzt und mit Vaselinfett vollkommen gedichtet. Unter dem
Sturze stand ein Exnersches Elekiroskop mit Bernsteinisolation
und Spiegelahlesung nach Elster und Geitel, auf das der zy¬
lindrische Zerstreuungskörper aufgesetzt war. Das Ablesen des
Elektroskops geschah durch ein Eens I er aus Spiegelglas, das
Laden vermittels einer Magnetnadel, die von außen durch einen
kleinen Stabmagnet zum Kontakt mit dem den Zerstreuungskörper
tragenden Stifte gebi'acht und durch eine den Kupferteller isoliert
durchziehende Zuleitung geladen werden konnte. Zwei Hähne,
der eine im Teller, der andere in einer Oeffnung des Glassturzes
') H. Mache, Wiener Ber. 1904,113, Abt. Ila, 1329; H.jMache
und St. Meyer, ebenda 1905, 114, Abt. Ila, 355 und 545; H. Mache,
St. Meyer und E. v. S c h w e i d I e r, Wiener Anzeigen vom 16. Fe¬
bruar 1905; H. Mache und St. Meyer, Physik. Zeitschrift 1905,
6, 692; H. Mache und St. Meyer, Wiener Anzeigen 1905, 118.
angebracht, ermöglichten die Ausführung der folgenden Operation :
Es wurde vermittels eines durch einen Motor oder die Hand be¬
triebenen Gummigebläses die unter dem Glassturz enthaltene
Luft durch den einen Habn aspiriert, weiter in heftigem Blasen¬
strom durch das ’untersuchte Wasser gepreßt und liierauf über
eine Chlorkalziumvorlage und durch den zweiten Hahn in den
Apparat zurückgebracht. Bei einer Förderungsmenge von zirka
3V2 Liter Luft pro Minute und bei der gewöhnlich verwendeten
Wassermenge von 400 cm® war dann der Gleichgewichtszustand
in längstens einer halben Stunde erreicht. Da die in den Apparat
getriebene Emanation sofort auf dessen Wände induzierend ein¬
wirkt, so war der nach dem Aufhören des Durchpumpens im
Apparat gemessene Wert des Sättigungsstromes bereits zu hoch
und mußte um diesen auf die Aktivierung durch Induktion ent¬
fallenden Teilbeti'ag korrigiert werden. Das geschali in der Weise,
daß. man den Apparat durch Abheben des Sturzes und kräftiges
Ausblasen lüftete und hierauf, nachdem der Sturz wieder auf¬
gesetzt worden war, durch zumindest eine halbe Stunde das
Abklingen der induzierten Aktivität beobachtete. Der aus der
hiefür erhaltenen Kurve für den Zeitpunkt Null extrapolierte
Wert wurde dann in Abzug gebracht. Eine zweite Korrektur
bezog sich auf denjenigen Betrag der Emanation, der in der
Trockenvorlage, dem Gebläse, den Schlauchverbindungen und
endlich noch im Wasser nach Erreichung des Gleichgewichts¬
zustandes zurückbleibt und sich bei der Messung des Sättigungs-
sü’omes im Apparat selbst nicht bemerkbar macht. Diese letztere
Korrektur erhöht unter den gegebenen Verhältnissen die Werte
um ca. ilO®/o.“
Der beschriebene Apparat ermöglicht es, aus der Ge¬
schwindigkeit, mit welcher die von außen her durch eine
Zambonische Säule geladenen und zur Divergenz gebrach¬
ten Blättchen des Elektroskopes in der sie umgebenden
emanationshaltigen Atmosphäre wieder zusammenfallen,
einen direkten Schluß auf die Menge der aus der untersuchten
Flüssigkeit ausgetriebenen Emanation zu ziehen. Der be¬
obachtete, in Volt ausgedrückte Spannungsabfall des Elektro¬
skopes, bezogen auf einen Liter Wasser und 15 Minuten,
gibt somit ein brauchbares Maß der Emanationsmenge. Wird
dieser Wert in absoluten elektrostatischen Stromeinheiten
ausgedrückt (oder in Tausendsteln derselben), bezogen auf
einen Liter Wasser, so bildet er ein absolutes, von der Ver¬
suchsanordnung unabhängiges Maß des Emanationsgehaltes.
Es wäre zu wünschen, daß bei ähnlichen Untersuchungen
— im Interesse der Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse —
die Mache sehe Einheit allgemeine Anwendung fände.
Die erste Untersuchung der Teplitz-Schönauer Quellen
durch H. Mache und St. Meyer wurde in Wien in der
Zeit zwischen dem 5. Oktober und 25. November 1904 vor¬
genommen.
Die Entnabine der bezüglichen Wasserprobeii erfolgte unter
meiner Aufsicht im Wasserspiegel der Quellschächte, wobei jede
Vermischung mit Luft sorgfältigst vermieden wurde. Die Ver¬
sendung der his an den Rand gefüllten und luftdicht verschlossenen
Flaschen geschah derart, daß die Messungen in der Regel am
folgenden Tage vorgenomnien werden konnten. Auch das Quell¬
gas, welches in den Teplitz-Schönauer Thermen nur sehr spär¬
lich auftritt (zur Ansammlung von einem Liter Gas aus der
,, Urquelle“ in einer über einen Trichter gestülpten Flasche be¬
nötigte ich 24 Stunden) wurde der Untersuchung ziigeführt. Die
Resultate derselben gild folgende Tabelle wieder:
Volt in
15 Minuten
i. 10^ in
E. S. E.
Temperatur
in Grad
Celsius
a) Gas:
Urquelle .
503-6
21 9
—
b) Wasser:
Steinbadquelle .
151
6-56
32-5
Schlangenbadquelle .
150
6-52
39-0
Frauenquelle .
134
5-81
48-8
Urquelle .
114
4-96
45-9
Augenquelle .
72-2
313
21-9
Wie aus der Tabelle ersichtlich ist, erscheinen auch
in Teplitz — entsprechend den anderorts, z. B. in Gastein
und Baden-Baden, gemachten Beobachtungen — die kühle¬
ren Quellen gegenüber den wärmeren bezüglich des Emana-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
47
(iüiisgeluiltes ein wenig bevorzugt zu sein, wenn auch die
Differenzen sich in engen Grenzen halten.
Im Anschlüsse an diese Untersuchungen von Mache
und Meyer habe ich fortlaufende, über den Zeitraum eines
Jahres sich erstreckende Messungen der Radioaktivität des
Teplitzer Thermal wassers durchgeführt. Dieselben wurden
an der ,, Urquelle“ vorgenommen, der ältesten und berühm¬
testen Quelle, welche auch in praktischer Beziehung am
wichtigsten ist, da sie wegen ihrer großen Ergiebigkeit die
meisten Bäder speist. Die Methode der Untersuchung folgte
der olien beschriebenen Anordnung, mit der einzigen, bereits
von Mache und Meyer angegebenen Modifikation, daß
die einfache Bodenplatte des Apparates durch zwei kon¬
zentrische, ineinander gestellte, giserne Schalen ersetzt
wurde, deren ringförmiger Zwischenraum mit Kolophonium¬
wachskitt einige Millimeter hoch ausgegossen und darüber
etwa 2 cm hoch mit Quecksilber aufgefüllt wurde. Das Re¬
sultat der Messungen enthält die folgende Tabelle:
Datum
Luftdruck
Volt in
15 Minuten
i. 10^ in
E. S. E.
4. Februar 1905 ...
747
112
4-83
7.
» .
747
114
4-96
17.
.
746
HO
4-78
24.
» .
741
116
5-04
27.
TO .....
—
113
4-94
4. März
t» .
744
102
4-44
15.
* ....
739
108
4-70
17.
» , , . . ,
—
108
4-70
20
» .
744
107
4-65
7. April
» .
739
105
4-57
11.
» .....
733
112
4-89
14.
y> .
745
107
4-66
17.
y> .
740
HO
4-78
27.
» .
744
HO
4-78
18. Juli
» .
745
90
3-92 i
2. August
» .
743
96
4-17 i
27. Oktober
» .
751
122
5-31
3. November
» .
743
HO
4-78 ;
10.
» .
742
106
4-61
15.
» .
731
113
4-94
11, Dezember
» .
762
113
4-94
18. Januar 1906 ....
745
108
4-70
5. Februar
> .
744
99
4-31
Ziel der fortlaufenden Beobachtung einer Quelle war
es vor allem, festzustellen, ob die Radioaktivität ein kon¬
stanter oder variabler Faktor ist, eventuell einen etwaigen
Zusammenhang der beobachteten Schwankungen mit ande¬
ren, der Messung zugänglichen Faktoren nachzuweisen. Ein
Ueberblick der obigen Tabelle zeigt, daß in dem Beobach¬
tun gszeitraume (ein Jahr) auffallend große Schwankungen
nicht wahrgenommen wurden. Der größte Teil der ermittel¬
ten Zahlen liegt in der Wähe des mit 108 Volt errechneten
Durchschnittswertes, hinter welchen der Minimalwert um
• 17 o/o zurückbleibt, während der Maximalwert ihn um nur
130/0 übertrifft.
Ich glaube mich daher zu dem Schlüsse berechtigt,
daß die Radioaktivität der Teplitzer Urquelle als
eine Eigenschaft von hoher Konstanz anzuspre¬
chen ist, und daß sie speziell von der Jahreszeit voll¬
kommen unabhängig zu sein scheint. Daß sich in dieser
Beziehung nicht alle radioaktiven Quellen gleichmäßig ver-
verhalten, geht aus einer Notiz Sievekings^) hervor,
welcher an den in ihrem Aktivitätsgrade ungefähr den Tep¬
litzer Thermen entsprechenden Friedrichsquellen zu Baden-
Baden Schwankungen von über 50o/o beobachtete und zu¬
gleich — auf Grund einer brieflichen Mitteilung von Mache
— berichtet, daß auch die Marienbader Quellen stark schwan¬
kende Werte der Aktivität aufweisen.
Was den etwaigen Zusammenhang der festgestellten
geringfügigen Variationen mit anderen Faktoren betrifft, so
war zunächst ein solcher mit der Eigentemperatur der Ur¬
quelle schon deshalb nicht anzunehmen, weil dieselbe mit
großer Beständigkeit den Wert von 45-7 bis 45-9® C einhielt.
*) Berl. klin. WochenschrifL 1906, Nr. 23 und 24.
Ebenso war eine Abhängigkeit von der Lufttemperatur
von vornherein unwahrscheinlich und die Beobachtung be¬
stätigte diese Vermutung, so daß die Anführung der bezüg¬
lichen Zahlen in der Tabelle unterlassen werden konnte.
Am ehesten wäre noch eine Abhängigkeit des Emana¬
tionsgehaltes vom Luftdrucke anzunehmen gewesen, ob¬
wohl der geringe Gasgehalt der Urquelle auch dieser An¬
nahme nicht günstig war. ln der Tat lassen sich engere
Beziehungen zwischen Barometerstand und Aktivität aus
meinen Messungen nicht ableiten, und es genüge der Hin¬
weis, daß der beobachtete höchste und niedrigste Wert
(90 Volt am 18. Juli 1905, bzw. 122 Volt am 27. Okto])er 1905)
bei ungefähr gleich hohem Luftdrucke (745, bzw. 751 mm)
festgestellt wurden.
Die Ursachen für die Beständigkeit des Emanations¬
gehaltes sind wohl in der eigentümlichen geologischen Be¬
schaffenheit des Quellursprunges zu suchen, welche es auch
erklärt, daß sowohl Temperatur wie auch Quantität drr
Therme merklichen Schwankungen nicht unterliegen. Die
Teplitzer Thermen entspringen aus Pörphyrspalten von
großer Tiefe und zählen zu jener Gruppe der warmen Quellen,
welche Eduard Suess als ,,juvenile Thermen“ be¬
zeichnet hat. In dem klassischen Vortrage, welchen der
Altmeister der Geologie auf der Karlsbader Versammlung
deutscher Naturforscher und Aerzte (1902) gehalten hat,
unterschied er ,,vadose“ und ,, juvenile“ Heilquellen. Mit
dem ersteren — von Posepny (1893) herrührenden —
Namen umfaßt er alle jene Quellen, die „aus der Infiltra¬
tion von Tägwässern hervorgehen“ ; die Bezeichnung ,, juve¬
nil“ gibt er jenen, welche „als Nebenwirkungen vulkani¬
scher Tätigkeit aus den Tiefen des Erdkörpers aufsteigen
und deren Wässer zum erstenmal an das Tageslicht
treten“. Zu den vadosen Thermen oder Wildbädern zählt
Eduard Suess Bormio, Ragaz-Pf äf ers und Gastein.
wobei bezüglich des letztgenannten die Frage nach dem
Zutritte juveniler Wässer offen bleibt, zur Gruppe der juve¬
nilen Thermen Te plitz und Plombieres. Es wäre in¬
teressant, festzustellen, ob und in welcher Hinsicht sich
die Radioaktivität vadoser und juveniler Thermen verschie¬
den verhält, doch scheint mir der Zeitpunkt für eine diesem
Gesichtspunkte folgende Gruppienmg des vorhandenen Be¬
obachtungsmateriales mangels genügender Vollständigkeit
des letzteren noch nicht gekommen.
Neben der fortlaufenden Beobachtung der Urquelle
wurden gelegentlich auch Einzelmessungen der übrigen
Quellen vorgenommen. Ferner wurde in einem Versuche die
— der Radiumemanation genau entsprechende — Abklin-
gungskurve der Urquellenemanation festgestellt. Da die Re¬
sultate mit denen Mach es und Meyers übereinstimmen,
sei auf ihre Wiedergabe verzichtet.
Wenn wir uns nun der Frage zuwenden: Hat die
Radioaktivität der Thermen die Bedeutung eines
wirksamen und heilenden Faktors?, so ergibt eine
Uebersicht der bisherigen Literatur, daß diese Frage ein¬
hellig mit einer Sicherheit und einem Vertrauen bejaht wird,
welchem der Umfang des vorhandenen exakten Beobach¬
tungsmateriales vorläufig noch nicht entspricht. Letzteres
erscheint begreiflich, wenn man einerseits die Kürze des
Zeitraumes, über welchen sich die diesbezüglichen For¬
schungen erstrecken, anderseits die Schwierigkeiten erwägt,
welche sich der experimentellen Feststellung der reinen
Emanationswirkung entgegentürmen. Es liegt nicht im Rah¬
men dieser Ausfühi-ungen, alles zusaiPmenzutragen. was
wir bisher über den biologischen Effekt der Radiumstrah¬
lungen wissen. Nur kurz sei folgendes hervorgehoben :
Bouchard, Curie und Balthazard,^) sowie Dorn
und Wall stab e^) haben Mäuse emanationshaltige Luft ein-
atmen lassen und sahen die Tiere hiebei nach neun Stunden
bis vierzehn Tagen zugrumle gehen. Der intensive, bei
stärkerer Dosierung entzündungserregende Einfluß der Ra-
Comptes Rendus 1904, 138, 1384.
*) Physikal. Zeitschrift 1904, Nr. 18.
48
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2
(liunislralilung auf die Haut ist von vielen Seiten studiert
und zur Grundlage erfolgreicher therapeutischer Verwen¬
dung (bei Epitheliomen, Lupus^ Nävis usw.) gemacht worden.
In der Netzhaut des geschlossenen Auges erregen Radium¬
strahlen eine Lichtempfindung. Die hypertrophische Pro¬
stata soll nach Altmann^) durch die Emanation des
Gasteiner Wassers günstig beeinflußt werden. Bakterizide
Wirkungen der Emanation wurden mehrfach festgestellt,
unter anderen von Kalmann*^) am Gasteiner Thermal¬
wasser. Endlich scheint die Emanation — nach Versuchen
von Bickel — Femiente aktivieren zu können.
Dieser kurze Ueberblick des bisher ermittelten Beob-
acbtungsmateriales läßt erkennen, daß wir iin dem Radium
und den von ihm emittierten Strahlungen ein Agens von
hoher Wirksamkeit auf den Organismus besitzen, und macht
es l)egreiflich, daß man geneigt ist, der in den Thermen
enthaltenen Radiumemanation bei der Erklärung der hei¬
lenden Wirkungen eine bedeutungsvolle Rolle zuzuteilen.
Daß Emanation vom menschlichen Ko'rper aufgenommen
wird, haben Elster und GeiteF) ziierst festgestellt. Nach
ihren yersuchen kann der Körper durch fortgesetztes Ein¬
atmen emanationshaltiger Luft merkliche Mengen von Ema¬
nation aufspeichern, die zum Teil beim Atmen in inaktiver
Luft wieder abgegeben wird. Den Vorschlag der beiden
l^’orscher, die Aufnahme radioaktiver Substanzen durch den
Körper nach dem Genüsse emanationshaltiger Wässer zu
untersuchen, haben später R. Stegmann und G. Just®)
an der Büttcpielle (Baden-Baden) durchgeführt. Tranken die
Autoren ein Quantum (bis zu einem Liter) der stark radio¬
aktiven Büttquelle, so enthielt die nachher ausgeatmete Luft
größere Mengen von Emanation. Die Ausscheidung erreichte
etwa 15 bis 25 Minuten nach dem Trinken ein Maximum,
um dann allmählich — innerhalb ein bis zwei Stunden
— auf Null zu sinken. Eine approximative Berechnung er¬
gab, daß die durch die Lunge ausgeschiedene Emanations¬
menge den weitaus größten Teil der überhaupt mit dem
Wasser eingeführten Emanation darstellte. Auch bei Ein¬
verleibung der Büttquelle per Klysma wurde ,die Emanation
in der Exspirationsluft nachgewiesen. Hingegen zeigte der
Urin keinen vermehrten Emanationsgehalt, so daß jedenfalls
auf diesem Wege größere Mengen der eingenommenen Ema¬
nation den Körper bei normaler Nierenfunktion nicht ver¬
lassen dürften.
Aus diesen Untersuchungen ergi])t sich die balneo-
therapeutische Konsequenz, beim Gebrauche radioaktiver
Thennen sich nicht auf die Badekur zu beschränken, son¬
dern auch die Trinkkur damit zu kombinieren. Auch in
Teplitz-Schönau, wo übrigens das Thennalwasser von alters-
ber vielfach getrunken wird, wird der Trinkkur künftig er¬
höhte Aufmerksamkeit zu schenken sein.
Daß beim Bade in radioaktiven Quellen Emanation
in den Körper aufgenommen wird — zum mindesten durch
Inhalation des mit Emanation geschwängerten Wasser¬
dampfes — steht als sicher zu vermuten, obwohl der ein¬
wandfreie Nachweis weder Wick,^) noch Stegmann und
Just (1. c.) bisher gelungen ist. Mit Recht hat Wiek die
Forderung aufgestellt, daß durch zweckmäßige Zuleitung des
Thermalwassers zu den Badewannen der Emanalionsverlust
möglichst einzuschränken sei. In Teplitz-Schönau ist dieser
Forderung Rechnung getragen, und durch mehrfache Mes¬
sungen konnte ich mich überzeugen, daß die Aktivitätsdiffe¬
renz zwischen Quellursprung und Badewanne die zulässigen
Grenzen nicht überschreitet. Die oben erwähnte Armut der
Teplitzer Thermen an Quellgas scheint mir bezüglich des
Badegebrauches direkt vorteilhaft zu sein. ,, Quellen mit
starker Gasentwicklung sind naiurgemäß schwächer radio¬
aktiv wie gasarme, da durch die Quellgase die Emanation
entsprechend verdünnt und ein großer Teil derselben aus
®) Wiener klin. Wochenschrift 1905, Nr. 49.
Q Wiener klin. Wochenschrift 1905, Nr. 22.
U Physikal. Zeitschrift 1904, 5, Nr. 22.
®) Wiener klin. Wochenschrift 1906, Nr. 25.
") Berliner klin. Wochenschrift 1906, Nr. 15.
dem Wasser entfernt wird.“ (v. d. Borne.^®) Nebenbei be¬
merkt, halte ich die Gasarmut auch für die Hauptursache
jener Eigenschaft d'er Teplitzer Thermen, Welche seit Jahr¬
hunderten an ihnen gerühmt wird : daß sie nämlich in keiner
Weise aufregend auf den Körper wirken und daher auch von
alten, dekrepiden Patienten, Arterioskerotikern u. dgl. vor¬
züglich vertragen werden. I
Fragen wir uns nun aber, wo und in welcher Weise
bei jenen Krankheitszuständen, deren günstigste Beeinflus¬
sung durch die Akratothermen seit Jahrhunderten erprobt
ist: chronischer Gelenks- und Muskelrheumatismus, 'Arthri¬
tis deformans, Gicht, Neuralgien, speziell Ischias etc., die
in den Körper auf genommene Emanation lihre Wirksamkeit
entfaltet, so stehen wir vor Rätseln, deren Dunkelheit wohl
noch lange auf Erhellung warten wird. Noch immer sind
wir auf den problematischen Begriff der ,, Umstimmung“
des kfanken Organismus angewiesen. Wir müssen zufrieden
sein, daß es der Physik gelungen ist, in der radioaktiven
Energie eine — vermutlich sehr bedeutungsvolle — Kom¬
ponente der Heilkraft ermittelt zu haben. Damit ist zugleich
die Erklärung der längst bekannten Tatsache gegeben, daß
die Heilquellen ihren maximalen Effekt nur an Ort und
Stelle entfalten, durch Abfüllung und Versendung hingegen
eine wesentliche Einbuße an Wirkung erfahren: die Ema¬
nation verschwindet nach wenigen Tagen spurlos aus dem
Wasser, dessen chemische Zusammensetzung nicht alteriert
zu sein braucht.
Analog der künstlichen Herstellung von Mineralwässern
auf chemischem Wege fehlt es auch nicht an Versuchen,
künstliche ,, Radiumbäder“ zu erzielen. Neuss er ist
unter Benutzung der bei der Urangewinnung in Joachims¬
tal erübrigenden hochaktiven Pechblendenrückstände auf
diesem Wege vorangegangen. Die Zukunft wird lehren, ob
diese künstlich radioaktivierten Wässer mit den natürlich
radioaktiven erfolgreich konkurrieren können. Jedenfalls er¬
scheint es bemerkenswert, daß bereits eine Beobachtung
vorliegt, welche dafür zu sprechen scheint, daß natürliche
und künstliche Emanation sich nicht identisch verhalten.
Sie stammt von Rei nh ol dt,^^) der die bakterizide Wirkung
des frischen Kissinger Rakoczy-Brunnens mit derjenigen
künstlich radioaktivierten alten Rakoczy-Wassers verglich
und hiebei zu der Annahme gelangte, ,,daß die künstlich
zugeführte Radiumemanation viel rascher aus dem Wasser
entweicht als die natürlicherweise im Wasser enthaltene“.
Eines steht fest: Durch die Entdeckung der Radio¬
aktivität ist für die Thermalquellen ein neuer,z ahl e nm äßi g
aus gedrückter Faktor gewonnen worden, der in Zukunft
— neben dem Temperaturgrade ■ — bei der Charakterisierung
der Thermen eine große Rolle spielen wird. Ich würde Vor¬
schlägen, das Produkt aus Emanationsgehalt und Tempera¬
tur als den ,,Aktivitäts Wärmekoeffizienten“ oder
,,physi kalis dien Wertkoeffizienten“ der Thermen
zu bezeichnen.
Zwischen Wärme und Aklivitätsgrad besteht ein ge¬
wisser Autagonismus, über welcheu Mache (I. c.) folgendes
sagt: ,,Ein einfacher Zusammenhang des Emanationsgehaltes
mit der Temperatur begeht nicht und ist in Anbetracht der
vielen, für diesen Gehalt mitbestimmenden Faktoren wohl
auch nicht zu erwarten. Jedenfalls ist es eher noch wahr¬
scheinlich, daß die kälteren Thermen vor den heißen be¬
günstigt sind, da die Absorptionsfähigkeit des Wassers für
radioaktive Emanation, sowie für jedes andere Gas mit stei¬
gender Temperatur abnimmt, ln der Tat ist die kälteste
unter den Quellen Gasteins, die Grabenbäckerquelle, die an
Emanation reichste, während die heißeste, die Quelle im
Rudolf-Stollen, unter den Thermen an vorletzter Stelle steht.“
Es ist sonach wohl die Behauptung berechtigt, daß einer
Therme — unheschadet ihrer empirisch festgestellten Wirk¬
samkeit — a iiriori ein um so höherer Rang zuzuerkennen
sein wird, je höher ihr ,, physikalischer Wertkoeffizient“ ist.
1®) Jahrbuch für Radioaktivität und Elektronik 1905, Bd. 2, Heft 1.
") Berl. klin. Wochenschrift 1906, Nr. 20.
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCIIRIET. 1907.
49
d. h. je liöliere Temperatur und Aktivitätsgrade sich in ihr
vergesellschaften. In dieser Hinsicht nehmen die Teplitz-
Schönaiier Thermen eine hervorragende Stellung ein,
da sie mit hoher Temperatur (47 bis 49° C) einen relativ
großen Emanationsgehalt verhinden. Ihr ,, Aktiv! tätswärme-
koeffizient“ wird speziell unter den von Mache und Meyer
untersuchten Heilquellen Oesterreichs nur von den Gasteiner
Thermen, sowie vom Karlsbader Mühlbrunn und Schloß-
hriinn übertroffen.
Aus dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien.
(Vorstand: Prof. A. Weichselbaum.)
Ein Fall von Aktinomykose der großen Zehe.
Von Dr. Klilbi?.
Bei dem 27jähi'igeii Kellner C. P. entzündete sich, atigel)-
lich durch den Druck sehr enger Schuhe veranlaßt, im Jahre 1898
die große Zehe des rechten Fußes und schmerzte heftig. Auf
dem Rücken der Zehe bildete sich ein Geschwür, das reichlich
Eiter produzierte. Später war die ganze Zehe geschwollen, ge-
rölet; der Nagel lockerte sich unter Eiteiimg langsam, so daß
ihn nach drei Wochen der Patient seihst entfernte. Dann klang
die Entzündung bald ab, der Nagel wuchs wieder, die Zehe ge¬
wann ihr früheres Aussehen. Einige Monate darauf glaubte der
Patient zu bemerken, daß die Zebe etwas dicker wurde. Schmerzen
oder Beschwerden hatte er zu dieser Zeit nicht. Im Herbst 1900
(also zwei Jahre nach der Abstoßung des Nagels) liegann d i e
Zehe sich ziemlich rasch zu vergrößern und (u--
reichte bald einen fast dreimal so großen Umfang
wie die normale linke. Zugleich bildeten sich auf der Haut
kleine Blasen mit einem wässerigen Inhalt, die später eiterten.
Pat. hatte keine Schmerzen, verspürte nur hie und da
ein Jucken und ein unangenehmes Hitzegefühl. Da die an Umfang
immer mehr zunehmende Zehe beim Gehen sehr stark genierte,
ließ Pat. sich im Januar 1901 in das 'Wiener allgemeine Kranken¬
haus (Klinik weil. Albert) aufnehmen. Hier wurde dann dem
Manne die Amputation der Zehe vorgeschlagen und nach Aus¬
führung der Operation das enukleierte Glied zwecks Feststellung
der Diagnose dem pathologischen Institut übergeben.
Pat. wurde einen Monat später geheilt entlassen.
P a t h 0 1 o g i s c h - a n a t o m i s c h e r B e f u n d :
Die von der Nagelspitze bis zum Metatarsophalangeal gelenk
7V2 cm lange und maximal 7 cm breite große Zehe, hat eine
keulenförmige, plumpe Gestalt, indem der Hals der Keule dem
Metatarsophalangealgelenk entspricht, während der Kopf zirka
15 cm an Umfang messend, dem Nagelgliede angehört. Die Haut
ist blaurot, mit Borken und sich abstoßender Epidermis bedeckt.
Der schmale Nagel zeigt in der Mitte eine längs verlaufende
Knickung in seiner Substanz und ist an den Rändern von der
umgebenden Haut überdeckt. Auf dem Durchschnitt sieht
man ein gleichmäßig glänzendes, grauweißes Gewebe, das sich
ziemlich derb, jedoch nicht knochenhart anfühlt, ohne Eite¬
rungen und Fistelbildung. Der Knochen ist unverändert,
die Epidermis bedeutend verdickt.
Das mikroskopische Bild ist folgendes :
Die Epidermis ist an der Plantar-, wie an der Volarseite
sehr stark verdickt. Unterhalb der Epidermis befindet sich ein
auffallend derbes, kernarmes, teilweise in hyaliner Degeneration
begriffenes Bindegewebe, welches auffallend breite Faserzüge zeigt.
In diesen sieht man einzelne aktinomyzesähnliche Herde von
folgender Beschaffenheit: Die Mitte wird eingenommen von eine'm
Gewirre von Gram -positiven Myzelfäden, die breit und an den
Enden abgerundet sind. Bei schwacher Vergrößerung scheint cs,
als ob die Fäden segmentiert wären; bei Oelimmersion erkennt
man in den Fäden deutlich runde oder ovale, intensiver gefärbte
Stellen, die mit blassen Verbindungsgliedern abwechseln. Dia
stets iidensiv gefärbten Endpole treten besonders deutlich hervor,
so daß die kürzeren Fäden Bazillen mit Polfärbung gleichen.
Die längeren Fäden zeigen echte Verzweigungen, ln den nach
G ram- Weigert oder Boström gefärbten Schnitten sind die
Pilzfäden einzeln gut zu erkennen, in Schnitten nach Schlegel,
Sata, Unna (Wasserblau) färbt sich das Zentrum diffus. Säure¬
fest sind die Pilzfäden nicht. Umgeben wird das zentrale Faden¬
werk von einem hellen, eigentümlich glasigen, oft sehr breiten
Ring, der bei Gram-W’'eigert- oder Boström-Färbung hell-
gell), bzw. gelbrol erscheint. An einigen Stellen füllt diese glasige
Masse die Milt(“ ganz aus und nur vereiuzelh', eben angedeulele
Fäden, oft nur die deutlicher gefärbten Pole oder mikrokokkeji-
artige Kügelchen sind bei Oelimmersion nachzuweisen. Isolierte
einzelne Kolben finden sich nirgends. An die homogene Schiebt
schließt sich unmittelbar nach außen eine aus Rundzellen be¬
stehende Zone an, die wiederum von einem gefäßreichen Granu-
lationsgewebc umgeben ist und in die früher erwähnten Bitule-
gewebsbündel übergeht.
Nicht selten werden aber die Myzelfäden, oder die homo¬
genen Partien direkt von Granulationsgewebe eingescblossen. Die
beschriebenen Pilzberde finden sich nur ausnahmsweise unterhalb
einer deutlich verschmälerten Epidermisschicht, ein Fistelgang
nach außen ist auch in Seriensebnitten nicht uachzuweisen.
Iti Uehereinstimmiing mit der Anamnese dürfte dieser
Befund so zu deuten sein, daß die subku tauen Eiterherde
über kurz oder lang auf gebrochen wären, ähnlich* so, wie es
nach Angabe des Patienten vor zwei bis drei Monaten zeit¬
weise der Fäll gewesen war.
Nimmt man an, daß während der Nagelbettentzündung
die Infektion mit Aktinomyzes eintrat (und hiefür sprechen
sowohl die Angabe des Patienten, daß die Zehe bald nach
Abstoßung des Nagels sich schon ein wenig vergrößerte,
wie die Tatsache, daß anfangs die Haut der Zehe intakt
blieb), so haben wir eine Latenzdauer von zwei
Jahren. Vielleicht durch eine äußere Ursache veranlaßt,
fand der Mikroorganismus einen neuen Angriffspunkt, von
dem aus er in drei Monaten die große Zehe zu der er¬
wähnten Dicke auf trieb.
Es liegt der Gedanke nahe, daß die Transporteure
des Krankheitserregers Stroh oder Einlegesohlen von Stroh
waren und besonders das letztere gewinnt angesichts des
Berufes des Patienten eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Doch
konnte ich nähere Aufschlüsse darüber nicht mehr be¬
kommen. I
Von Wichtigkeit ist ferner die Lokalisation und das
klinische Krankheitsbild, ln der ausführlichen Kasuistik von
mich aus dem Jahre 1892 sind 421 Mitteilungen gesammelt,
von denen
218 den Kopf und Hals,
16 die Zunge,
58 die Lunge,
89 den Bauch,
11 die Haut ah Eingangspforte hatten und
29, deren Infektionsino lus nicht ermittelt werden
konnte. Seitdem fanden sich bis zum 1. Januar 1906 in
der mir zugänglichen Literatur 530 neue einschlägige Mit¬
teilungen, die nach der Invasionspforte sich folgendermaßen
verteilen ;
Kopf und Hals: 295 ((Infektionspforte: Schleimhäute),
Lunge : 90,
Bauch : 105,
Haut : 21,
? : 19.
Unter insgesamt 951 Fällen also 32, in denen die In¬
fektion von der Haut ausgeht, und unter diesen 32 Mit¬
teilungen 4 Fälle von Aktinomykose des Fußes.
Was das Krankheitsbild angeht, so sehen wir hier
gegenüber der gewöhnlichen Form der eitrigen Ein Schmel¬
zung und Fistelbildung ein derbes Bindegewebe, das
den Charakter der Entzündnng fast vollkommen verbarg
und, abgesehen von den vorübergehenden Geschwüren, eher
einen rapid gewachsenen Tumor vermuten ließ. Verwechs¬
lungen von Aktinomykose des Menschen mit Tümoren in
klinischer, wie histologischer Richtung sind allerdings schon
häufiger betont worden. Aktinomykose der Niere, die wie
Fibrom aussah (Birch-H i rschf eld, Eulenburg) Tumo¬
ren der Unterlippe und Zunge, die ein Karzinom (Koch),
bzw. ein Gumma (G arein, Schlange) vortäuschten ; einem
Fibrosarkom sehr ähnliche Ileocökaltumoren (Hofmeister)
und andere. Zu erwähnen wäre hier auch eine von Friis
beschriebene Aktinomykose, die als ein großer fester Tumor
die ganze linke Fossa iliaca ausfüllte, ohne Eiterherde. Der
Tumor wurde als Sarkom betrachtet, mit dem Mikroskop
aber als Aktinomykose erkannl.
Die Entwicklung des Krankheilsbildes erinnert an
zwei ähnliche Beobachtungen in der Literatur. E. Müller
sah nach einer Latenzdauer von zwei Jahren (Handver-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2
lelzuiig mit Holzsplitter) eiitzündliclie Symptome auftreteii,
Bollinger 16 Jahre (vielleicht sogar 50 Jahre) nach der
Infektion eine aktinomykotische Osteomyelitis sich ent¬
wickeln. Der Fall von Bollinger gleicht anch Insofern dem
vorliegenden, als bindegewebige Venvachsmigen, fibröse In¬
duration und Verdickung der äußeren Weichteile die Aktino-
myzeskolonien einschlossen.
Während die erwähnten Einzelheiten die Interessen¬
sphäre des Pathologen und Klinikers berühren, dürfte dem
Bakteriologen eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Madura-
fuß anffallen. Die Art der Infektion und die strenge Lokali¬
sation, der chronische, gutartige Verlauf und die bedeutende
Verdickung der Epidermis einerseits ; anderseits die Ab¬
kapslung der Eiterherde durch derbes, hyalin degeneriertes
Bindegewebe, der degenerierte, glasig-homogene, stark aus¬
gebildete Strahlenkranz, die zeitweise offenen Fistelgänge
nach außen könnten an eine Identifizierung mit, dem Madura-
fuße denken lassen. Da aber die Schnittfärbungen darüber
keinen Aufschluß geben und die kulturelle Untersuchung des
erst nachträglich gefundenen Pilzes fehlt, möchte ich zu
dieser Frage keine Stellung nehmen, zumal, da über den
Erreger der Madurafuh genannten Gewebsveränderungen
eine einheitliche Auffassung vorläufig nicht besteht.
Literatur:
Bollinger, Heber primäre Aktinomykose der Fußwurzelknochen
München, med. Wochenschrift 1903, Nr. 1. — II lieh, Beitrag zur
Aktinomykose. Wien 1892. — v. Li eh lein, Heber die Aktinomykose
der Haut. Beitrag zur klin. Chirurgie, Bd. 27. — Schürmayer, Heber
Aktinomykose des Menschen und der Tiere. Zentralblatt für Bakteriologie,
Bd. 27, Nr. 2. — T u s i n i, Heber Aktinomykose des Fußes. Archiv für
klin. Chirurgie, Bd. 62. — Schlegel, Aktinomykose in Kolle und
Wassermann. Handbuch der path. Mikroorg. — Babes, Madurafuß, in
Kolle und Wassermann. Handbuch der path. Mikroorg.
Erwiderung auf den Vortrag L Töröks „Die
Angioneurosenlehre und die hämatogene Haut¬
entzündung.^'
Von Prof. Dr. K. Kreihicli.
In der Auffassung des Zustandekommens vieler Haut¬
krankheiten stehen sich, heute zwei Ansichten schroff gegen¬
über. Schaltet man, um die Sache so einfach wie möglich
zu gestalten, die schwerer verständlichen, exsudativen Ery¬
theme aus und sieht für die vorliegende Diskussion von
anderen Autoren, welche für diese oder jene Ansicht sind,
ab, so ist das strittige Objekt die Urtikaria und die Streiten¬
den sind Török und ich. Török leugnet jede angioneuro-
tische Entzündung, faßt die Quaddel als eine durch toxische
Beeinflussung der Gefäßwand entstandene seröse Entzün¬
dung auf; ich behaupte, „jede Quaddel entsteht als angio-
neurotisches Oedem durch Neiweneinfluß. Auf die Quaddel
kann echte Entzündung folgen; diese kann nun ihren Grund
entweder in der direkten Schädigung der Gefäßwand durch
jenes Toxin haben, welches anfangs durch Einwirkung auf
den Gefäßnerv die Quaddel verursachte (Urticaria externa);
oder sie kann die Folge der ersten intensiven Nervenerre¬
gung sein (Urticaria interna).“
Jeder sucht seine Ansicht durch Experimente zu
stützen. Philipp son, der sich, wie ich glaube, in der
Frage bereits längere Zeit nicht geäußert hat, sowie Török
und Hari stützen sich auf Tierversuche, ich mich auf
klinische Beobachtungen und Experimente. In einer aus¬
führlichen Darstellung des Gegenstandes versuchte ich den
Beweis zu erbringen, daß die Versuche Philipp sons und
Töröks nicht ausreichen, beim Zustandekommen der Quad¬
del den Nerveneinfluß auszuschließen. Gegen die Versuche
Philipp SOUS läßt sich einwenden, daß z. B. nach Durch¬
schneidung des Halssympathikus am Ohre nicht, jeder Ner¬
veneinfluß erloschen ist, weil nach den Versuchen von Gor¬
ge ns, Weher, VelCli und Lewascher wahrscheinlich
periphere Ganglien die Funktion proximaler Zentren über¬
nehmen. Um diesem Einwand zu begegnen, haben Török
und Hari an Hunden derart operiert, daß sic vorwiegend
in der Unterbauchgegend mittels feiner Glaskapillaren
toxische Substanzen meist in höherer Konzentration in¬
jizierten und danach Quaddelbildung beobachteten. Sie imi¬
tierten also den Insektenstich und ich kann nicht finden,
daß bei diesem Versuch der Nerveneinfluß ausgeschaltet
ist, zumal ihre Aufzeichnungen Phänomene enthalten, die
nur durch Nerveneiniluß erklärt werden können : z. B. es
eignet sich nicht jeder Hund, nicht jede Gegend des Tieres,
in der Nähe von toxischen Quaddeln erzeugen sonst un¬
wirksame Substanzen Quaddeln, wurde an einem Hunde
länger operiert, so bringen auch unwirksame Substanzen
Quaddeln hervor und der Hund ist einige Zeit nicht brauch¬
bar. Alle diese Tätsachen lassen sich nicht erklären, wenn
es sich bei der Quaddel nur mn eine bloße Schädigung
der Kapillarwand allein handeln soll; sie finden aber ihre
Erklärung in der gesteigerten nervösen Erregbarkeit des
betreffenden Hautbezirkes.
Eine zweite, bereits anderwärts geführte Kontroverse
ergab sich bei der Kritik der Untersuchungen von Török
und Vas über den Eiweißgehalt ,,urtikarieller“ Pro¬
zesse. Ich ging zusammen mit Po 11 and von der Ansicht
aus, daß für das Wesen der Quaddel nur jenes Sekret in
Betracht komme, welches auf der Höhe des urtikariellen
•Effektes eventuell zu erzielen sei; Török und Vas imter-
suchten exsudative Entzündungen, wie Pemphigus, Erysipel,
Erfrierung, ferner Prozesse, welchen sie die klinische Be¬
zeichnung Urtikaria gaben, deren Effloreszenzen vielleicht
im Beginne Quaddeln, zur Zeit der Untersuchung aber sicher
exsudative Entzündungen waren. Wir bekamen natürlich
nur wenige TTopfen und konnten dieselben nicht ohne
Schwierigkeit, ehe das Fibrin ausgefallen war, bloß mit
dem Zeis-Refraktometer untersuchen, ihnen stand exsuda¬
tives Blasenserum zur Gewichtsmethode zur Verfügung. Wir
fanden hohe Brechungszahlen, wie sie kein Exsudat mehr
aufweist und nur unter bestimmten Voraussetzungen das
Blutplasma, i. e. Serum + Fibrinogen ergibt. Wir schlossen
daraus, daß bei der Quaddel Blutplasma austritt, welches
auch die Härte der Quaddel bewirkt, worauf nach dieser
Sekretion die Gefäßwand wieder zur Norm zurückkehrt.
Wäre dieses hoch brechbare Sekret im Siime Töröks be¬
reits Ausdrack der Gefäßwandschädigung, müßte nicht auf
jede Quaddel die intensivste Entzündung folgen, während
dies doch bei einfacher Urticaria interna nie der Fäll ist?
Dies sind die Beweise, mit welchen Török seine hä¬
matogene Hypothese stützt. Seine letzten Untersuchungen
sind im Jahre 1902 angestellt; seither hat er nichts mehr
beigebracht. Dafür war er um so eifriger tätig, fremde
Befunde und Autoren zu ,,kritisieren“ ; auf andere folgte
jetzt ich. Meine Befunde müssen auf jeden Fall verschwin¬
den und dies wird durch den Vorwurf der Täuschung durch
Simulation von seiten der vier, jetzt fünf Versuchspersonen
besorgt. Ich nehme den Vorwurf Töröks zum Anlaß, um
die Frage „neurotische Gangrän und Simulation“
noch einmal zu erörtern; weitere Aeußerungen erscheinen
mir überflüssig, einerseits, weil sich im Gegenstand mittler¬
weile andere geäußert haben, anderseits, weil ich zusammen
mit D Oswald im Dezemberheft der Monatshefte für prak¬
tische Dermatologie (Unna) über Versuche berichtet habe,
die an Gesunden vorgenommen wurden und daher von allen,
die sich für die Frage interessieren, relativ leicht nachge¬
prüft werden können.
Im Jahre 1874 berichtet Kaposi anscheinend über
den ersten Zoster atypicus, rezidivierende Zostereruptionen
in geröteter und ödematöser Haut. Im Jahre 1886 beschreibt
Doutrelepont den ersten Fall von akuter, multipler Haut¬
gangrän, der nach 21 Monaten in Zoster übergeht, im Jahre
1890 deutet bereits Renaut den Begriff IMicaria gangrae¬
nosa an. Die Fälle sind kongruent meinem ersten und zwei¬
ten Fälle, den auch J arisch -nach monatelanger Beobach¬
tung als neurotische Hautgangrän beschreibt. Rechnet man
die Fonn derselben Erkrankung dazu, die sich als Pem¬
phigus neuroticus darstellt, so liegen heute vielleicht mehr
als hundert Beobachtungen vor. Liegt nicht etwas ungemein
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
61
Beschämendes für unsere klinische Beobachtung darin, daß
1906, also 32 Jahre nach der ersten Beschreibung, Rona
den Zoster hystericus vollkommen leugnet? Die spontanen
Veränderungen meines ersten Falles sind vollkommen iden¬
tisch mit den experimentellen, weiter identisch mit den
spontanen und experimentellen des zweiten Falles.
Unter beiden gleichen Voraussetzungen treten im
ersten Fäll Phänomene auf, die sich spontan und experi¬
mentell im dritten und vierten Fälle wieder finden und sich
mit den Beschreibungen in der Literatur decken. Bei allen
vier Personen wurden mehr als 60 Versuche angestellt,
wiederholt die Phänomene vom Anfang an verfolgt und trotz¬
dem sollten sich ich, meine Umjgebung und auch alle
fräheren Beobachter getäuscht haben? Die Veränderungen
sollen durch eine Flüssigkeit erzeugt sein und diese soll
seit 32 Jahren nur den Betrügern, nicht aber den Betrogenen
und deren Entlarvem bekannt geworden sein. Nach ihrem
Gebrauch mußten auftreten : verschiedene Grade der Hyper¬
ämie mit tiefem Oedem, eventuell ein bis zwei Tage blei¬
bend, dann sich ohne Oberflächenerscheinung rückbildend;
Erytheme mit Neikrose der Basalzellen unter gut erhaltenem
Rete; Nekrose längs der Gefäße bis zum Fett; alle Formen
der Zosterblasen; anämische Oedeme, über welchen stür¬
misch die Epidermis abgeworfen wird und unter hohem
Druck Serum herausgepreßt wird. Alle Veränderungen
müssen sich im Verlauf einer Viertelstunde abspielen können,
ohne daß man von der Flüssigkeit etwas nachweisen kann ;
unter dem versiegelten Gummigewand klebt die normale
Watte an und ist nur schwer ablösbar usw.
Uebrigens liegt — wie erwähnt — in der Frage : Haut¬
gangrän und Simulation, eine Arbeit vor, die bereits aus
der Zeit nach meiner ersten Publikation stammt. Mit Rück¬
sicht auf eine Publikation von Groß hat Zieler (Deutsche
Zeitschrift für Neiwenheilkunde, Band 38, Seite 184) die
Unterschiede von Salzsäurenekrose und neurotischer
Hautgangrän studiert und er verweist auf die Klinische Aehn-
lichkeit, aber auch auf die Verschiedenheit im Ablauf beider.
Fast die gleichen Beobachtungen habe ich bei Verwendung
von Aetznatron in Substanz bei mir und bei meiner ersten
Kranken gemacht und wenn auch ich für meine Person
die Unterschiede zwischen der neurotischen Hautgan¬
grän und Verätzung schon klinisch für ausreichend erachte,
so muß ich doch Zieler zustimmen, wenn er bei der Selten¬
heit der Erkrankung und bei der dadurch bedingten Un¬
sicherheit in der klinischen Diagnose jene scharfen anatomi¬
schen Differenzen fordert, die er für beide Zustände ge¬
funden hat.
Er hat anatomisch eine eigene Beobachtung und
Doutreleponts ersten Fall untersucht, findet eine völlige
Uebereinstimmung zwischen seinen und meinen Präparaten
und obwohl ihm damals nur meine erste Publikation vorlag,
scheint er nicht abgeneigt zu sein, mit mir in dem anämi-
sierenden urtikariellen Oedem der Papillarkörper das patho¬
genetische Prinzip der neurotischen Hautgangrän zu er¬
blicken.
Mikroskopisch ist nach ihm die Hautgangrän ein Kutis-
prozeß, bei welchem jede Andeutung einer von der Haut¬
oberfläche kommenden Einwirkung fehlt, während bei
der Verätzung (Salzsäurenekrose) die Kutis Veränderungen
nur die Reaktion gegen den von außen einwirkenden Reiz
darstellen, vorwiegend nur die obersten Schichten einnehmen
und tiefere Partien unbeeinflußt lassen. Es ist selbstver¬
ständlich, daß sowohl Herrn Török, sowie jedem, der sich
für die Frage interessiert, meine zahlreichen Präparate zur
Verfügung stehen.
Nach dem bisher Gesagten kann ich mich über Form,
Ausbreitung, Lokalisation der erzeugten Phänomene und
über die technischen Kautelen der Experimente selbst kürzer
fassen. Bei der Patientin J, bei welcher bislang nach Urtica
urens nur Zoster auftrat, kommt es nach Färadisation zu
einer anscheinend phlegmonösen Rötung des Rückens, die
sich zum Teil ohne Oberflächenverändenmg erst nach Tagen
rückbildet; nach Reizung auf dem eineai Arm tritt Erythem
auf dem anderen auf. Der Versuch wiederholt sich mit Zoster
bei der Patientin II, welche zum erstenmal an die Klinik
kommt und sofort faradisiert Avird. Rötung und Oedem, das
z. B. nach Kelenisierung der Ulnaris auftritt, erscheint bei
Patientin HI nach Faradisation. Sie wurde ebenfalls beim
ersten Besuch elektrisiert und hat vorher diese ausgebreitete
Rötung bei sich nie beobachtet. Török sali vielleicht in
einem ähnlichen Fäll nach elektrischer Reizung am zweiten,
vierten und fünften Tage Veränderungen auftreten und, wenn
hier auch der Zusammenhang nicht sicher ist, eine Aelm-
lichkeit mit dem dritten Falle besteht doch.
Der von Auspitz angestellte Urtikariaversuch gelingt
bei der Patientin dreimal, nach dem Bad tritt in der
hinteren Voigt sehen Grenzlinie des Oberschenkels ein
nekrotisierendes Erythem auf. Wie vermag eine Kranke auf
diese Linie zu verfallen oder auf die zweite schwächere,
parallele nach innen, wie sie charakteristisch ist für streifen¬
förmige Erkrankungen dieser Gegend. Noch mehr, beide
Elektroden sind in der Lendengegend und das Erythem tritt
linear in einer Grenzlinie des Unterschenkels auf, verwandelt
sich in Zoster gangraenosus nach einer Reizimg am Ober¬
schenkel ; Patientin Übertritt sich den Füß imd die ganze
bereits pigmentierte Linie vom Fuß bis zur Glutäalfalte
flammt von neuem auf; alle diese Veränderungen sind, wie
sich leicht erweisen läßt, identisch jenen, die Weir-
Mitschell nach partieller Nervenverletzung gesehen haben,
sind fast identisch einem Falle, der kürzlich in einer Sitzung
der Berliner dermatologischen Gesellschaft gezeigt wurde
und so weiter. Ich kann heute füglich die Technik der ersten
Versuche, die verschiedenen komplizierten Verbände usw.
aus der Zeit, wo die Versuchsperson prinzipiell als Simu¬
lantin aufgefaßt wurde, übergehen. Sie sind selbst in der
ersten Mitteilung nur zum Teil wiedergegeben. Selbst nach
Versuch, 11. c., wo die Veränderungen sich unter meinen
Augen nach einer Viertelstunde abspielten, mußten noch
einige Zweifel, die sich aus dem Nichtauftreten .zarter Hyper¬
ämie an gedrückten Stellen, z. B. Pflaster, daim wieder
stärkerem Auftreten an von Druck befreiten, jetzt traumatisch
hyperämisierten Stellen ergaben, beseitigt werden. Erst als
an der schwer berauschten Patientin — man hatte sich, um
auf Anraten eines Kollegen die Alkoholwirkung zu studieren,
in der Dosis vergriffen — nach Frottieren an einer Stelle
ein Pemphigus neuroticus gangraenosus sich vom Anfang bis
zum Ende unter meinen Augen abspielte, war ein Zweifel
nicht mehr möglich und die nächsten Phänomene wurden
in der Gesellschaft der Aerzte in Wien demonstriert, wobei
ein dort geschilderter komplizierter Verband nur mehr aus
Gründen der Demonstration angelegt wurde. Eine Diskussion
des Einwandes, daß eine Haut allein ohne Mitwirkung des
Zentralnervensystems eventuell nach einer Latenzzeit, zum
Beispiel auf mechanische Reize, mit obigen Veränderungen,
das ist also auch mit Gangrän antwortet, glaube ich mir er¬
sparen zu können.
Ich kann dies um so eher tun, als ich — wie bereits
erwähnt — zusammen mit Doswald im Dezemberheft der
Monatshefte für praktische Dermatologie über Versuche be¬
richte, welche den in meiner Monographie noch nicht so
sicher ausgedrückten zerebralen Einfluß auf die Vasomotoren
mit voller Sicherheit ergeben. In diesen VersucJien entsteht
posthypnotisch, unter den Augen eines vierten Kollegen,
bei einem dritten Kollegen in zehn Minuten eine linsengroße
Blase und bei der Versuchsperson I, mit Rücksicht auf die De¬
monstration, wieder zurückgreifend auf einen komplizierten
Verband, ein Erythem mit Gerinnung des Epithels, Gerinnung
der Kutis und Entzündung bis in ihre tiefsten Schichten,
welches Erythem in diesen anatomischen Verände¬
rungen übereinstimmt mit der Blase, die bei dem Kollegen
entstanden war und überhaupt übereinstimmt mit den Ver¬
änderungen bei der neurotischen Hautgangrän. Beide Phä¬
nomene sind urtikarielle Effekte des Papillarkörpers und
identisch mit der ])osthypnotischen Quaddel, die Forel unter
seinen Augen entstehen sah. Beide und ein dritter, aus
äußeren Gründen nicht publizierter Versuch zeigen, daß
52
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2
die Frage, von deren allgemeiner Beantwortung unser fer¬
neres pathogenetisches Denken in der Dermatologie ahhängt,
am (lesnnden beantwortet werden kann. Hier ist somit Ge¬
legenheit 7Ai einem entscheidenden Versuch.
Prag, am 25. Dezember 1906.
{Referate.
Das pathologische Institut der Universität Leipzig.
Von Prof. Dr. F. Marcliainl.
Arbeiten aus dem pathologischen Institut zu Leipzig Heft 3.
Leipzig 1906, 8. Hirsch.
Die vorliegende Schrift, die aus Anlaß der Eröffnung des
neuen patliologischen Institutes in Leipzig herausgegeben wurde,
enthält die Geschichte dieses Institutes, sowie eine Beschreihung
des Nei]])aues, eine Uebersicht über die in dem palliologiscli-
analoniischen Museum aufgestellten Präparate, eine statistische
Zusammenstellung der im Institute seit der Uehernahrne desselben
durch den gegenwärtigen Leiter, Geh. Rat Marchand
(l. Ainil 1900), ausgeführten pathologisch -anatomischen Obduk¬
tionen, endlich ein Verzeichnis der hisherigen Assistenten des
Inslilutes, sowie der unter Leitung Marchand s angefertigten
wissenschaftlichen Puhlikalionen.
Das neue pathologische Institut der Universität Leipzig ist
ein stattliches Gebäude, das in erster Linie für den Unterricht
aus allgemeiner Pathologie und pathologischer Anatomie bestimmt
ist, daneben aber auch als Leichenhaus des städtischen Kranken¬
hauses dient und die Sektions- und Leichenräume des Institutes
für gerichtliche IMedizin enthält. Wie aus der Beschreibung und
den heigegebenen Tafeln hervorgeht, ist hier ein wissenschaft¬
liches Institut geschaffen worden, von welchem sein Direktor mit
Hecht hehaupten kann, daß es ,,an Schönheit, Größe und Aus¬
stattung die meisten pathologischen Institute im Deutschen Reiche“
— man kanüi unhodenklich hinzufügen: und sämtliche analoge
Institute Oesterreichs — „ühertrifft“. Der Pflege der pathologischen
Anatomie und ihrer Hilfswissenschaften wurde hier ein würdiges
Heim bereitet, in Avelchem Unterricht und Forschung gedeihen
können; der Name des Leiters des Institutes bürgt dafür, daß die
stattliche Reihe wissenschaftlicher Arbeiten, die der vorliegende
Bericht bereits aufzuzählen vermag, im neuen Hause, in dem
unter so günstigen Verhältnissen gearbeitet werden kann, eine
entsprechende Fortsetzung erfahren wird. Das neue Institut für
pathologische Anatomie der Universität Leipzig ist bereits das
zweite große und mit allen notwendigen Behelfen für die wissen¬
schaftliche Forschung ausgerüstete pathologische Institut, das in
der Frist von wenigen Monaten in Deutschland tertiggestellt wurde;
bekanntlich fand erst vor kurzem die Eröffnung des großartig
angelegten Orth sehen Institutes in Berlin statt.
Atlas der Blutkrankheiten nebst einer Technik der
Blutuntersuchun g.
Von Priv.-Doz. Dr. Ksirl Sclileip.
Wion und Berlin 1907, Urban und Schwarzenberg.
Auf 45 prachtvoll ausgeführten Täfeln führt Verf. in 71
überaus gut gelungenen Abbildungen alle wichtigen Blutbilder
vor. Der Auswahl und Herstellung der Präparate und der voll¬
endeten Reproduktion derselben muß das größte Loh gespendet
werden. An Schönheit und Klarheit der Bilder wird wohl dieser
Atlas von keinem anderen AVerke der Fachliteratur erreicht. Man
kann ohne Uehertreihung behaupten, daß fast an jeder einzelnen’
Zelle selbst alle Details mit wunderbarer Schärfe und Deutlich¬
keit erkennbar sind, so daß diese Bilder tatsächlich Original¬
präparate für den Unterricht ersetzen können und das Buch, der
Absicht des A^erfassers entsprechend, sowohl eine ausgezeichnete
,, Hilfe hei dem klinischen Unterricht, als auch ein Führer hei dem
Selhststiudium“ sein wird.
Sämtliche farbigen Abbildungen sind nach Präparaten
hergestellt, die nach der Roma no wäky sehen Methode
(und zwar mit der Le i s h m an sehen Flüssigkeit) gefärbt
wurden. So groß die Amrzüge dieser Methode auch sein mögen
(panoptische Färbung, leichte Ausführharkeit usw.), wäre es doch
vorleilhaft gewesen, auch andere Färb<Mnetboden zu berücksich¬
tigen. Insbesondere bei Darstellung der granulierten Leukozyten
wäre die AViedergahe wenigstens einzelner mit Ehrl ich schein
Triazid gefärbter Präparate zum Vergleich sehr wünschenswert
gewesen. Auch in der kurz gefaßten ,, Technik der klinischen
Blutuntersuchung“, die lediglich die wichtigsten und (echnisch
leicht ausführbaren Methoden aufzählt, führt Verfasser aus¬
schließlich die Romano wsky sehe Methode in der Lei sh man¬
schen Modifikation an. Auch hier wäre es angezeigt, wenigstens
einige der wichtigsten anderen Färbemethoden anzugeben, die
praktisch ebenso leicht und schnell auszuführen und für manche
Untersuchungen überaus empfehlenswert, ja zum Teil sogar un¬
entbehrlich sind. Der Text zu den einzelnen Tafeln enthält eine
knappe, präzise Beschreilmng der Präparate und kurze Daten
über den klinischen Verlauf des Falles, von dem die Präparate
angefertigt wurden. Besonders ist noch hervorzuhehen, daß AVr-
fasser hei Benennung der einzelnen Blutzellen lediglich die all¬
gemein anerkannten Und allgemein gebräuchlichen Bezeichnungen
gewählt hat Und alle theoretischen Spitzfindigkeiten, die in neuerer
Zeit auf dem Gebiete der Hämatologie leider so überaus beliebt
sind, vermeidet. ' Carl Sternberg.
*
Zur Kenntnis der Variabilität und Vererbung am Zentral¬
nervensystem des Menschen und einiger Säugetiere.
Von J. K. Karplus.
162 Seiten, 6 Tafeln.
AV i e n 1 907, D e u t i c k e.
Die Anschauung, daß die Mehrzahl der Nervenkrankheiteji,
die sogenannten exogenen nicht ausgenommen, sich nur auf einem
geeigneten Boden entwickeln könne, daß eine gewisse Veraidagung
vorerst bestehen müsse, bricht sich immer mehr Bahn und läßt
selbstverständlich die Frage aufwerfen, ob diese Veranlagung
nicht auch strukturell, im Aufbau des Nervensystems sichtbar
zum Ausdruck koimne.
Um an die Lösung dieser Frage, besonders auch mit Rück¬
sicht auf eine hereditäre Veranlagung herantreten zu können,
schien es notwendig, sein Augenmerk auf die Variationen im
Hirn- und Rückenmarksbau zu lenken u. zw. vorzüglich mit
Bezug auf ihre AATederkehr hei verschiedenen Gliedern einer
Familie. Dieser mühevollen Arbeit hat sich der Autor mit lobens¬
werter Ausdauer während einer Reihe von Jahren, erst am neu¬
rologischen, dann am physiologischen Institute in AATen unter¬
zogen und ist dabei zu höchst bemerkenswerten Resultaten ge¬
langt, die zum Teil bereits in einer früheren Arbeit mitgeteilt
wurden. In der gegenwärtigen Publikation beschränkt er sich
nicht auf die Großhirnfurchen des Menschen, sondern zieht auch
andere Teile des Zentralnervensystems, sowie die Gehirne von
Affen-, Hunde-, Katzen- und Ziegenfamilien mit in den Bereich
seiner Untersuchung. Es ist erfreulich und zeugt für die gute
Beobachtung, daß auch das neu hinzugekommene menschliche
Material die beiden in der ersten Arbeit ausgesprochenen Grund-
sälze von der \'’ererbharkeit der Großhirnfurchen und von der
Gleichseitigkeit der Uebertragung nur zu stützen vermochte.
AVeiterhin konnte Karplus auffallende Vererbbarkeit des
Klangstabes, des Tractus peduncularis transversus, der Fasciculi
arcuati superiores isthmis, ferner der eigentümlichen kleinzelligen
Gruppen im Hypoglossuskerne, der abgetrenntien Haufen von Suh-
stantia gelatinosa im Funiculus cuneatius, der Pick sehen Bündel
auf finden. Für das bekannte wechselnde Verhalten der Pyramiden¬
bahnen ist aber eine derartige Vererbbarkeit kaum nachzuweisen.
Bemerkenswert hingegen erscheint das familiäre Auftreten von
Hydromyelie, sowie die bei drei Geschwistern Vorgefundene auf¬
fällige Entwicklung der Stützsubstanz.
Am Makakusgehirne, das sehr weitgehende A^arietätcn
aufweist, ergibt sich gegenüber dem Menschenbirne eine frap¬
pante Uehereinstimmung beider Hemisphären desselben Gehirnes,
aber eine Familienähnlichkeit läßt sich nur ausnahmsweise auf¬
finden. Es kann daraus geschlossen werden, daß im Laufe der
phylogenelischen Entwicklung, die ursprünglich in bezug auf die
Furchenvarietäten entsprechende Uehereinstimmung zeigenden
Gehirnhemisphären voneinander mehr und mehr differieren und
unabhängig wurden und daß die voneinander abweichenden Fnr-
chenvarietäten der beiden Hemisphären eines hoch differenzierhm
Gehirns in weit höherem Alaße die Neigung zu liereditärer Ueher-
tragung zeigen ; zugleich würde . besonders in gewissen Hirn-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
5ä
l)artien die Variabilität geringer werden. Hund und Katze zeigen
neben großer Uel)ereinstinunung Ixdder Hetnispliären desselben
Gehirns unverkennbare Faniilienäbnlichkeit, was sich wold da¬
durch mit obigem Salze in Einklang bringen läßt, daß man die
genannten Tiere als Gipfell'ormen ihrer Reihe ansiebt, während
der iMakakus in seiner Reihe recht tief steht.
Im Rückenmark und Hirnstamm — und vielleicht auch
an der Großhirnoberfläche — ■ weisen die phylogenetisch jüngeren
Teile, trotzdem gerade sie besonders stark variieren, weniger
deutliche Familienähnlichkeit auf, als die nicht so stark variieren¬
den, phylogenetisch älteren.
Aus dieser flüchtigen Uehersicht der wichtigsten Resultate
ersieht man, daß die Studien von Kar plus eine weitgehende
theoretische und wohl auch praktische Verwertung gestatten; es
werden da allgemeine Fragen berührt, die von größter Wichtig¬
keit für unsere Grundanschauungen über den Aufbau und die Ent¬
wicklung des Nervensystems sind und möglicherweise den Weg
für noch viel bedeutungsvollere Untersuchungen eröffnen.
0 h e r s t e i n e r.
♦
Vorlesungen über spezielle Therapie innerer Krank¬
heiten für Aerzte und Studierende.
Von Dr. Norbert Ortiier, Professor für innere Medizin an der Univer¬
sität Wien, k. k. Primararzt.
Mit einem Anhänge von Professor Dr. Ferdinand Früliwald.
Vierte, vermehrte und verbesserte Auflage.
Wien 1907, Rraumüller.
Der Umfang dieses Buches ist in der neuesten Auflage
erfreulicherweise etwas kleiner geworden.
Bewunderungswürdig ist der ganzi enorme Fleiß, mit welchem
der Riesenstoff immer wieder durchgearbeitet, gesiebt, verbessert
und alles auf modernste Höhe gebracht wird. Was aber die Ein¬
beziehung der neuesten Methoden und Mittel betrifft, so beschränkt
sich Verf. nicht etwa auf die Anführung derselben und Besprechung
auf Grund fremder Publikationen, sondern, was er bringt, das
hat er bereits selbst aus eigener Anschauung kennen gelernt
und geprüft und bringt auch schon sein kritisches Urteil mit.
Es ist ja bekannt, wie schwer es oft ist, sich über eine neue Heil¬
methode oder ein neues Heilmittel ein sicheres Urteil zu bilden.
Es bedarf zu diesem Zwecke oft großer Versuchsreihen und
viel Zeit und viel Pdeiß sind notwendig, um zu einem Abschlüsse
zu gelangen. Zu solchen therapeutischen Studien und Beobach¬
tungen ist eine mit alten klinischen Behelfen ausgestattete Ab¬
teilung notwendig. Und erst dann, wenn die Ergebnisse eigener
Beobachtungen mit jenen anderer Forscher ühereinstimmen, dann
kann man getrost sagen: das ist gut, heilsam, unschädlich, von
zweifelhaftem Werte, unzuverlässig, wertlos, schlecht etc. Der
Praktiker kann sich mit solchen Versuchen und Studien nicht
befassen, er muß mit sicheren Alitteln arbeiten, er muß sichere
Wege geben. Das ist nun der Hauptwert des vorliegenden Buches,
daß kurz und bündig, ohne viele Umschweife, alle iMittel und
Methoden besprochen werden, die nach dem Stande neuester
Forschung zur Anwendung kommen können und sollen und von
denen man mit mehr oder weniger Sicherheit oder Wahrschein¬
lichkeit einen Erfolg erwarten kann.
Der Stoff ist sehr übersichtlich angeordnet; allgemeine Ein¬
leitungen und Besprechungen werden, wo dies zweckdienlich er¬
scheint, vorausgeschickt. Hierauf werden Indicatio causalis, morbi
und symptomatica nach allen Richtungen, häufig bis in die
kleinsten Details, erörtert. Alle Handgriffe, Verrichtungen, kleinen
Operationen, werden besprochen. Die einzelnen Formen der
Therapie (Klimato-, Balneo-, Älechano-, Elektro-, Sero-, Flydro-
u. a. Therapie) werden, soweit es der einzelne Fall erfordert,
besprochen u. zw. in der Praxis vollauf Rechnung tragender
Weise. Zum Beispiel, wenn es sich um die Anwendung von
Mineralwässern handelt, erfahren wir nicht nur, was für ein
Wasser der Kranke trinken solle, sondern auch, wo, zu welcher
Jahres- und Tageszeit, wie viel täglich, von welcher Temperatur
es sein muß u. a. m. Es werden alle \Heilbehelfe besprochen,
auch was zur Krankenpflege gehört. Es wird Rücksicht auf
die Verhältnisse des Kranken genommen. Es wird überhaupt
stets erörtert, wie man den Kranken, nicht nur, wie man
die Krankheit zu behandeln hat. Und immer ist noch ein
Milled oder ein Mitleichen zur Hand und immer findet der Arzt
noch etwas zu tun!
Das Buch ist so recht für den Praktiker geschrieben und
liest sich sehr angenehm. Besonders zu empfehlen sind die
Kapitel : Therapie der Hytlropsien und Stauungszustände hei
inkompensierten Flerzfehlern, Therapie der Chlorose, des Diabetes
mellitus (in der Einleitung das sehr wichtige Kapitel ,, Grundzüge
der Lehre von der Ernährung des Menschen“), Tdierapie der
Lungentuberkulose, allgemeine Therapie der Magen- und Darm¬
krankheiten u. a. m.
Im Anhänge tritt uns der Geist Wider hofers entgegen.
Schon die ,, Einleitung“ bietet eine sehr anregende Lektüre. Es ist
hauptsächlich die Fieberbehandlung, von welcher ausführlich ge¬
sprochen wird. Da wirkt es nun außerordentlich wohltuend, wenn
man liest, mit welcher Ueherzeugung Prof. Frühwald für die
Hydrotherapie eintritt. Man muß das nur oft gesehen haben, welche
Zauberwirkung die Wasserprozeduren auf die kleinen Dulder
ausüben, ohne je zu schaden. Vorurteile und Furcht vor schlimmen
Folgen sind in intelligenteren Kreisen längst verschwunden.
Verf. spricht auch noch über Hygiene, Prophylaxe, Des¬
infektion etc. und geht dann zur Erörterung der Therapie der
einzelnen akuten Infektionskrankheiten (Scharlach, Masern, Pmhe-
olen, Varizellen, Mumps, Diphtherie, Keuchhusten) über. Auch
hier ist bei Besprechung der verschiedenen Heilmethoden in
erster Linie dem praktischen Bedürfnisse Rechnung getragen.
Das ärztliche Publikum ist den Verfassern für jede neue
Auflage dankbar; das Buch dringt in immer weitere Kreise.
V. Kogerer.
Äus versehiedenen Zeitsehriften.
13. Der gegenwärtige Stand der Lehre von der Bierschen
Stauung. Sammelreferat von Dr. Ernst Venus.
Seit der Erfindung der Asepsis und Antisepsis hat wohl kein
neues Verfahren solches Aufsehen erregt und sich mit solcher
Schnelligkeit in der Chirurgie Bahn gehrochen, als die von Bier
angewandte und empfohlene Stauungshyperämie als Heilmittel.
Durch sie sind altliergebrachte Anschauungen wankend geworden,
alte, man möchte fast sagen, ,, ehrwürdige“ Regeln der (drirurgie
wurden umgestoßen, manches, das bis heute als feststehend galt,
sollte falsch sein und was bisher als falsch angesehen wurde,
sollte von nun an zur Regel werden. In folgenden Zeilen 'isoll
vor allem dem praktischen Arzte, der nicht in der Lage ist,
stets die Literatur genau zu verfolgen, ein Bild des gegenwärtigen
Standpunktes der Fragen über die Behandlung akuter und chro¬
nischer Entzündungen und Eiterungen, durch die venöse Stauungs¬
hyperämie nach Bier, ihrer Theorie und Technik, sowie ihrer
Anwendung in den einzelnen Zweigen der Medizin, auf Grund
der bisher erschienenen Literatur gegeben werden.
Die Theoriv? der therapeutischen Wirkung der Stauungs-
hyperäniie wurde von verschiedenen Seiten erörtert. Ham¬
burger ist der Ansicht, daß als einer der wichtigsten Heilfak¬
toren der vermehrte Kohlensäuregehalt des Stauungshlutes an¬
zusehen ist. Dieser Kohlensäurereichtum steigert das bakteri¬
zide Vermögen des Serum aus drei Gründen : 1. wirkt die Kohlen¬
säure selbst auf Bakterien ab tötend; 2. quellen unter ihrem Ein¬
flüsse die roten Blutkörperchen, dem Senmi wird Wasser ent¬
zogen und so seine Konzentration erhöht; 3. nimmt das Serum
an diffusiblem Alkali zu, welch’ letzteres auf die Blutflüssigkeit
eine antibakterielle Wirkung ausübt. Nötzel und Buchner
führen die Wirkung der Stauungshyperämie gegenüber Bakterien
auf die bakterizide Kraft des Transsudates zurück. Nötzel
impfte Kaninchen in gestaute Glieder sonst tödliche Mengen von
Milzbrandhazillen oder höchst virulenter Streptokokken ein, ohne
daß die Tiere zugrunde gingen, während die Kontrolltiere oder
dieselben Tiere einige Wochen später mit gleicher Menge der¬
selben Bakterien, ohne Stauung, geimpft eingingen. Wiewohl nach
Nötzels Untersuchungen zwar die bakterizide Wirkung des
Stauungstranssudates kaum die des normalen Blutserums über¬
trifft, so kommt die Wirkung der Stauungshyperämie durch die
reichliche örtliche Ansaimnlung der bakteriziden Flüssigkeit und
der da.mit bedingten Vermehrung der anlihakteriellen Kräfte zu¬
stande. Auch B u ebne r führt die Wirkung der Stauungshyperämie
WIENER KLINÜSCIII'; WUCllENSCilRlET. 1907.
Nr. 2
nicht anf die Blutslanung, sondern auf die vermehrte Ansammlung
der Leukozyten am Infektionsherde zurück, welche dann durch
.4usscheidung von Alexinen die Bakteiien töten. Das Blut und
insbesondere die zerfallenden Leukozyten enthalten Enzyme, durch
welche die Vernichtung der Bakterien bewirkt wird. Laqueur
fand, daß. die bakterizide Kraft des Blutes im Stauungsbezirke
nach sehr kräftiger, zweistündiger Stauung zunahm. Bei längerer
Stauung trat dies nicht regelmäßig ein, sondern war nur bei
starker Anwendmig derselben konstant. Stehr untersuchte das
Blut in zehn Fällen Bier scher Stauung und fand, daß in den
Körperteilen zu einer Zeit, wo die Gewebe noch nicht mit Ge-
webssaft durchtränkt sind, lokale Leukozytose mit vorwiegender
Beteiligung der Lymphozyten bestand. Diese lokale Leukozy¬
tose deutet jedenfalls auf eine Steigemng der phagozytären Be¬
teiligung der Lymphozyten hin, woraus sich nach Stehr teil¬
weise der therapeutische Effekt der Stauungshyperämie erklären
läßt. Nach Heller hält die Stauungshyperämie die Stoffwechsel¬
produkte der Bakterien zurück, die dann durch erstere getötet
weixien.
Colley entnahm Eiter einem Empyem des Ellbogengelenkes,
in dem sich Streptokokken in Reinkultur fanden und impfte
mit einer Aufschwemmung der Streptokokken in Bomllon Mäuse.
Die Mäuse gingen meist zugmnde, während sie zwar erkrankten,
aber nicht zugiunde gingen, wenn dem Eiter vorher die dreifache
Menge der Oedemflüssigkeit zugesetzt wurde’, die durch Einstich
in das gestaute und mächtig geschwollene kranke Glied gewonnen
wurde. Oedemflüssigkeit, die dem gesunden gestauten Arme ent¬
nommen war, war wirkmigslos. Daher schloß Colley, daß in
der Oedemflüssigkeit Antikörper sich befinden und hier durch
die Stauungsbinde ,,das abgeschnürte Glied zu einem Organ wird,
in dem mehr minder unabhängig vom anderen Körper biologische
Prozesse sich abspielen“. Auch Joseph stellte Versuche über
die Wirkung des natürlichen Oedem und künstlicher Oedemisierung
an. Das Oedem bei der Bindestauung ist nach Joseph kein
statisches. Es tritt bei jenen Entzündungen, deren Erreger rasch
und reichlich Giftstoffe erzeugen, auch rasch und reichlich auf.
Die Bakterien können in der Giftlösung, die sie sich bereitet
haben, nicht leben, sondern werden durch das Oedem auf ihren
primären Herd beschränkt tmd verhindert, größeren Schaden zu
stiften. Die Hauptarbeit der Entgiftung besorgt die große ver¬
dünnte Flüssigkeitsmenge des Oedems unmittelbar. Neben dieser
direkt diluierenden Wirkung des Oedems' macht sich noch eine
indirekt resorptionshem'mende geltend. Ein größeres Oedem stört
die Zirkulation schon durch die Raumbeengung, verschließt durch
die Anämie den Giften die Resorption und wirkt auch auf diese
Weise entgiftend.
In ausgedehnter Weise beschäftigte sich mit der Theorie
der Stauung, sowie ihren Gefahren Lexer, der in ihr ein zwei¬
schneidiges Schwert erblickt. Lexer betrachtet die Stauung
vom Standpunkte der Endotoxinlehre und komint am Schlüsse
seiner eingehenden Auseinandersetzmugen zu folgendem Schlüsse :
Die veränderten Resorptionsverhältnisse bewirken nur in leichten
Fällen keine Nachteile. Die Vermehrung der Schutzkörper infolge
der Stauungsbehandlung ist bezüglich antitoxischer Stoffe ohne
wesentliche Bedeutmig, bezüglich der bakteriziden in leichten
Fällen vorteilhaft, in schweren Fällen schädlich durch das Frei¬
werden größerer Endotoxinmengen infolge der Bakteriolyse ; nur
große und frühzeitig angelegte Spaltungen des Gewebes könuen
gegen diese Nachteile schützen. Die Vermehrung des proteolyti¬
schen Fermentes infolge der Stauungsbehandlung wirkt in infi¬
zierten Verletzungen und Operationswunden günstig. Die Ein¬
schmelzung des entzündlichen Infiltrates dagegen muß überall,
wo es sich nicht um ganz leichte Formen handelt, durch früh¬
zeitige Schnitte verhindert werden. Die vermehrte Transsudation,
bzw. Exsudation während der Stauung wirkt in geschlossenen
oder nicht genügend inzidierten Entzündungsherden durch Ver¬
breitung der Giftstoffe im Gewebe schädlich, nützlich dagegen
in breit geöffneten und in infizierten Wunden durch die mecha¬
nische Anschwemmung der Infektionsstoffe. Ihm schließt sich
W o Tf - E i s n e r in einer Betrachtung der Bier sehen Stauung
vom Standpunkte der Endotoxinlehre vollständig an, indem von
diesem Gesichtspunkte aus die Stauung nur günstig wirkt, so
lange durch die Bakteriolyse nicht sehr große Mengen von Endo¬
toxinen auf einmal frei werden. Daher ist die Stauung am besten
im Beginne der Infektion, während man in späteren Stadien die
großen Inzisionen nicht entbehren können wird, um die Gifte
mischädlich zu machen. Die letzte diesbezügliche Erwägung und
experimentelle Untersuchung sind in Form einer vorläufigen Mit¬
teilung von Baumgarten erschienen, worin er sich teilweise
gegen N ö t z e 1 wendet und Lexer anschließt. Baumgarten
stellte seine experimentellen Untersuchungen an Kaninchen an,
welchen er als Infektionsträger Tuberkel- und Milzbrandbazillen,
sowie Staphylokokken teils intraartikulär in das Kniegelenk ein¬
impfte und durch eine Stairungsbinde in der Schenkelbeuge eine
,, heiße“ Stauungshyperämie hervorrief. Die günstigsten Resultate
zeigten sich bei der Impfung mit Milzbrandbazillen, wo es ge¬
lang, die Infektion durch Stauung zu unterdrücken, wenn letztere
sofort nach der Infektion durch 36 bis 48 Stunden angewendet
wurde. Nach Ablauf dieser Zeit waren die Bazillen bis auf
minimale degenerierte Reste verschwunden und die Tiere blieben
dauernd gesund. Bei kleinen Haut- oder Gelenkseiterungen, durch
Staphylokokken hervorgerufen, ging die Heilung mit Hilfe der
Stauung rascher von statten. Ausgedehnte Abszedierungen er¬
fuhren eher eine Verschlimmerung. In den Gelenkmembranen der
anscheinend unter Stauung geheilten Gelenke fanden sich viru¬
lente Staphylokokken. Fast wirkungslos blieb die Stauung bei
Infektion mit Tuberkelbazillen. Es gelang Baumgarten, einen
klassischen Tumor albus des Kniegelenkes hervorzurufen. Bei
der histologischen Untersuchung, sowohl des mit Stauung behan¬
delten, als auch des nicht behandelten Tümor albus ergaben sich
keine Unterschiede und ebenso gelang es nicht, durch Stauung
die von dem lokalen Herde ausgehende Allgemeininfektion der
Tuberkulose zu unterdrücken. Die allerdings unbedingt günstigen
Resultate der Stauungsbehandlung bei akuten Infektionsprozessen
(Milzbrandbazillen und Staphylokokken) sind nach Baumgarten
wahrscheinlich verschiedener Ursache. Zweifellos spielt das bak¬
terizide Vermögen des Stauungstranssudates eine Rolle, wenn
auch nicht im Sinne Nötzels dem Stauungstranssudate eine
größere bakterizide Kraft innewohnt; diese ist nach den Unter¬
suchungen von Hey de schwächer als die des entsprechenden
Serum; doch gibt Baujmgarten Nötzel recht, wenn er die
reichliche Ansamknlung einer bakterizid wirkenden, Flüssigkeit
im Gewebe, wie es die venöse Stauung mit sich bringt, als einen
Faktor der Heilwirkung mit anspricht. Eine weitere Rolle spielt
die Hemmung der Resorption durch die Stauungsbinde. Kaninchen
konnten durch 36- bis 48stündiges Liegenlassen der Stauungs¬
binde gerettet werden, während sie der Infektion erlagen, wenn
die Binde nach 24 bis 30 Stunden abgenomhien wurde;
Weiter wirken als Heilfaktoren die Zirkulationsverlangsamung
und Verminderung der Blutzufuhr, wodurch den Bakterien das
nötige Sauerstoffquantum herabgemindert wird; auch die Ver¬
dünnung der Toxine dürfte günstig wirken. Schließlich wirkt die
venöse Stauung aber auch günstig, indem die durch sie be¬
wirkte pathologische Veränderung des Gewebsstoffwechsels auf
die Bakterien u. zw. in viel höherem Maße als auf die Gewebs¬
zellen schädigend einwirkt und dadurch letztere von ihren An¬
greifern befreien hilft. „Sehen wir die Verstärkung der Einwirkung
des bakteriziden Serums und die Herabsetzung der für die be¬
treffenden Bakterien geeignete Nährbödenqualität als die Haupt¬
faktoren der günstigen Wirkung Bier scher Stauung bei infek¬
tiösen Prozessen an, so ist es begreiflich, daß diese Behandlung
bei den tuberkulösen Prozessen versagt, da die Tuberkelbazillen
gegen die bakteriziden Seren des Normalserum so gut wie un¬
empfindlich und auch gegen Hunger äußerst widerstandsfähig
sind.“
Hof mann studierte die Veränderungen im' Granulations¬
gewebe fistulöser fungöser Herde durch Hyperämisierung mittels
Saugapparaten. Als Untersuchungsmaterial dienten die Granu¬
lationen der Fistelgänge fungöser Lymphome oder Knochenherde.
Nach drei^^erte]stündigem Saugen fand .sich im Verhältnisse der
roten und weißen Blutkörperchen kaurU ein Unterschied zum
normalen Befunde. In dem Interstitium sind fast alle Leukozyten
verschwunden, die Gewebsmaschen erweitert und mit serösem
Gerinnsel erfüllt. Das beim Saugen gewonnene Transsudat erweist
sich als vorwiegend aus Leukozyten bestehend, so daß das Granu¬
lationsgewebe förmlich ausgewaschen wird. Mit den Elementen
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCllENSClllIIl'T. 1907.
55
des Blutes werden in allererster Reihe Bakterien mitgenommen.
Nach dem Saugen ist eine Menge von Mikroorganismen an die
Oberfläche der Granulationen getreten. Die histologischen Bilder
der Gefäßerweiterung, verbunden mit annähernd normaler Blut¬
körperchenzusammensetzung sowie sdas Atiswaschen der Gewebe,
beleuchten die Wirkung der Saughyperäimie. „Es muß für den
Heilungsvorgang von größter Bedeutung sein, daß, wenn auch
nur auf kurze Zeit, das erki*ankte Gewebe eine ausgiebige Blut-
durchströmung erhält, mit der eine reichliche Drainage verbunden
ist, die eine Elimination zweifellos schädlicher Elemente gestattet.“
Da von der richtigen Anwendung und Technik der ve¬
nösen Stauung sowohl mittels der Binde, als auch des Schröpf¬
kopfes, der Erfolg des Verfahrens in so hohem, wohl alleinigem
Maße abhängig ist, so werden wir uns auch im Sammelreferate
ausführlicher damit beschäftigen und uns genau an die Original¬
arbeiten von Bier und Klapp zu halten trachten.
Anfänglich ließ Bier die Stauungsbinde bei tuberkulösen
Prozessen Tag und Nacht ununterbrochen tragen, wechselte nur
zweimal täglich die Stelle der Anlegung der Binde, um DmcJk
zu vermeiden und entfernte sie wöchentlich nur einmal. Die
Resultate waren wechselnd und es traten unangenehme, ja ge¬
fährliche Folgezustände auf. Es traten öfters rasch große und
zalilreiche Abszesse auf, große wuchernde Granulationsmassen
entstanden und in den aufgebrochenen Gelenken kam es zu den
schwersten akuten Entzündungen, heißen Abszessen, Lymphgefäß-
und Drüsenentzündungen, sowie Erysipel.
Die Form, in welcher jetzt nach Bier die Staimngshyperämie
bei tuberkulösen Knochen- und Gelenkserkrankungen angewandt
wird, ist folgende; Die Binde darf imter keinen Umständen
Schmerzen hervorTufen, im Gegenteil, sie muß schmerzlindernd
wirken; stets soll das gestaute Glied warm bleiben und der Puls
peripher von der Binde deutlich zU fühlen sein. Am besten em¬
pfiehlt es sich bei der Tuberkulose, die Binde zweimal täglich
je eine Stunde tragen zu lassen. Bei aufgebrochener Tüberkulose
wird der Verband während des Liegens der Binde entfernt. Tam¬
ponade ist schädlich. Kalte Abszesse müssen frühzeitig erkannt
werden ; werden mittels kleiner Einschnitte gespalten und mit
dem Schröpfkopf ausgesaugt. Die erkrankten Gelenke werden
nicht ruliig gestellt, sondern vorsichtig aktive und passive Be¬
wegungen ausgeführt, im der drohenden Versteifung entgegen¬
zuwirken.
Kontraindikationen bilden beginnende Amyloidose, schwere
Lungentuberkulose, die ganze Gelenkhöhle ausfüllende Abszesse
und fehlerhafter Stand der Gelenke.
Etwas anders gestaltet sich die Technik der Stauung bei
akuten Eiterungen. Nach Biers Vorscliriften legt man oberhalb
des befallenen Gliedes, wennmöglich nicht zu nahe dem Krank¬
heitsherde, eine Gummibinde an, die womöglich zu einem feurig¬
roten Oedem der gestauten Extremität führen soll. Die Binde
darf niemals Schmerzen erzeugen, sondern gerade ihre schmerz¬
stillende Wirkung ist das Zeichen für eine richtige Lage, ebenso
darf sie nie Blaufärbung des Gliedes hervoriufen. Das akut ent¬
zündete Glied muß mächtig anschwellen, ödematös werden, sich
warm anfühlen und möglichst feurigrot werden (heiße Stauung).
Auftreten von Blässe zeigt, daß entweder die Binde zu fest anliegt
oder ein Abszeß auftrat, der gespalten werden muß. Die Binde
wird bei akuten Eiterungen tägheh mindestens zehn Stunden
getragen, in schweren Fällen wird sie täglich 20 bis 22 Stunden
angewendet, während der übrigen zwei bis vier Stunden wird
das Glied hochgelagert. Bei akut entzündeten Gelenken, oder
Sehnenscheidenphlegmone, werden, sobald dies unter dem schmerz¬
stillenden Einflüsse der Binde möglich ist, vorsichtige aktive
und passive Bewegungen vorgenommen. Abszesse werden ge¬
spalten, doch kommt man meist mit kleinen Inzisionen aus ;
sobald die Blutung steht, wird wieder die Binde angelegt. Die
Abszesse werden nur ausnahmsweise drainiert, Tamponade, be¬
sonders bei Sehnenscheidenphlegnionen, wird niemals angewandt,
um nicht durch Aufsaugen der Sekrete austrocknend auf die
Sehne zu wirken Und so sie durch Emährungsstöining zur Nekrose
zu bringen. Auch über lymphangoitische Stränge am Oberarm
oder Oberschenkel legt Bier die Stauungsbinde an.
K e p p 1 e r beschreibt die Anwendung der Stauungsh yperämie
am Kopfe. In den letzten drei Jaliren wurden an der Bonner
Klinik fast alle Entzündungen und Eiterungen am Kopfe in dieser
Weise behandelt. Eine einfache Baumwollgummibinde, 3 cm breit
für den Erwachsenen, 2 cm für die Kinder, wird unter gelindem
Drucke nach Art eines Strumpfbandes um den Hals gelegt, nach¬
dem die Binde vorher mit einer einfachen Lage gewöhnlicher
Mullbinde unterfüttert wurde. In erster Linie wirkt auch hier
die Binde schmerzstillend; anfangs ruft sie leicht das Gefühl
der Enge und Unbequemlichkeit hervor, doch hören diese Klagen
bald auf. Auch die Kopfstauung wird täglich 20 bis 22 Stunden
getragen, worauf eine vierstündige Pause eintritt. Sind die Ent¬
zündungserscheinungen abgelaufen, so wird die Binde auch dann
noch einige Zeit, zehn bis zwölf Stunden täglich, getragen. Stö¬
rungen sah Keppler nie, auch bei Arteriosklerotikern nicht;
das Auftreten einer starken ödematösen Schwellung im Gesichte
hat nichts zu bedeuten.
, Biers Schüler und ehemaliger Assistent Klapp hat dann
die Saugbehandlung wieder aufgenommen und eine spezielle Tech¬
nik für die lokale Entzündung ausgebildet. Es ist das Prinzip
des Schröpfkopfes, ein Glas, an dessen oberes Ende der Saug¬
ball aus Gummi sich befindet, durch den die Luftverdünnung
im Glase und hiedurch die Saugwirkung hervorgerufen wird. Vor
allem eignen sich zur Saugbehandlung Furunkel, Karbunkel, Bu¬
bonen, Panaritien, akute Abszesse, Mastitiden, infizierte Wunden
und so weiter. Man muß das Saugglas sanft und ohne Schmerzen
an- und absetzen; die Luftverdünnung darf nicht zu weit ge¬
trieben werden, sondern man saugt nur schwach an, läßt den
Schröpfkopf drei bis fünf Minuten liegen, macht hierauf eine Pause
von zwei bis drei Minuten, um dann wieder den Schröpfkopf
aufzusetzen und setzt dies drei Viertelstunden fort. Abszesse,
oder z. B. abszedierende Mastitiden eröffnet man nur durch
kleine Stichinzisionen unter Aethylchloridspray, ebenso Furunkel,
bei welch’ letzteren man oft nur die oberste Kuppe abzu tragen
braucht und saugt dann den Eiter aus.
Bei tuberkulösen Fisteln, die sich auch sehr gut für diese
Behandlung eignen, saugt man etwas fester an, so daß beim An¬
setzen eine tiefere Delle gedrückt wird. Werden dann die schlaffen,
blassen, tuberkulösen Granulationen rot und hart, dann lasse man
zwischen jeder Sitzung eine Pause von zwei, drei, zuletzt acht
Tagen eintreten. Die Granulationen werden nicht geschabt, eben¬
sowenig tamponiert. Fisteln und Geschwüre werden mit einem
einfachen aseptischen Verband bedeckt.
Die Wirkung der Stauung auf die Eiterang ist verschieden.
Manchmal bringt sie die Eiterung zum Stillstände und zur Re-
soiption; manchmal werden heiße Abszesse in kalte umgewandelt
oder der Eiter in Serum. In der Regel tritt durch ,die Stauung
eine Vermehrung der Eiterung auf. Der Ablauf der Eiterung pflegt
unter dem Einflüsse der Stauungshyperämie rascher zu erfolgen.
Sie führt rascher zur Abstoßung des schon brandig gewordenen
Gewebes und erhält Körperteile am Leben, mit deren Absterben
bisher die Chirurgie als etwas Selbstverständlichem gerechnet
hat ; sie lokalisiert ferner die Eiterung in hohem Maße und erspart
große verletzende und verstümmelnde Schnitte. Diese Vorteile
werden von vielen Autoren bestätigt. Alle heben den Wegfall
der großen verstümmelnden Schnitte, die schmerzlindernde Wir¬
kung, das Verhüten von Sehnennekrosen, abgekürzte und ver¬
einfachte Behandlungsdauer hervor (B erlin, Van Li er, Ranzi,
Danielsen, Stich, Loosen, Kaefer, v. Brunn, Jerusa¬
lem, Catharet, Beny, Baumbach, Cathearf, Manninger
und andere). Guth hebt unter den Vorteilen auch hervor, daß
dem Arzte durch die Stauungs- und Saugtherapie sehr oft der
Kampf mit dem messerscheuen Patienten erspart bleibt ; T o m a-
schewsky lobt vor allem die bakterizide und resorbierende
Wirkung ; nur Ranzi hebt eine längere Dauer der Behandlung
hervor. Bonheim meint, die Behandlung ist zwar umständ¬
licher als die bisher übliche, führt aber rascher zum Ziele,
doch bleiben Mißerfolge nicht aus. Manchmal beobachtete Bon¬
heim das Auftreten erysipelartiger Zustände, die aber keine
Gefahr in sich bargen. Bestelmeyer kam doch nicht immer
mit den kleinen Stichinzisionen zum Ziele, besonders bei größer
ausgedelmten Phlegmonen, mit großer Virulenz der Bakterien,
waren größere Einschnitte notwendig. Arnspurger verzichtet
doch nicht in allen Fällen auf die Drainage und Tamponade. Ru-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. ä
r)G
brilius, sonst ein Anhäjiger der Stannngsbehandiung, warnt
bei seplischer Allgeineininfektion, die Süumjigsbebandlung zii-
lange hinzuzielien. Lexer behandelte pycäinische Metastasen, ans¬
gebend von einer eiternden Kopfwunde, im Fuß^ und Schulter¬
gelenke an deniselhen IMenschen mittels der Stauungsbinde, mußte
diese aber wegen starker Schmerzen an der Schnürstelle wietler
ahnehmen und beobachtete in der Folge das Auftreten von Ab¬
szessen, genau an der Stelle der geweLsenen Bindentouren. Lexer
ist der Ansicht, daß die Binde durch den Druck das Gewebe ge¬
schädigt und damit einen Locus minoris resistentiae geschaffen
habe, an dem sich die im Blute kreisenden Bakterien nieder¬
lassen konnten. Lexer fand im Gegensätze zu Bier, welcher
in Bonn nur selten Streptokokken als Erreger akuter Eiterungen
fand, in Königsberg und Berlin diese und Mischinfektionen mit
Sta])hyIokokken nicht selten. Hier versagt nach Lexer nicht
nur die Stauung in ihrer Heilwirkung, sondern führt sogar ört¬
liche und allgemeine Verschlinmierung herbei. Daher smll mmr
jedeii Fall bakteriologisch untersuchen, da sich die einzelnen
bakteriologischen Infektionen der Wunde gegenüber verschieden
zu verhalten scheinen. Lexer unterscheidet vier Typen der
Wirkungsweise der Stauungshyperämie: 1. das Infiltrat geht voll¬
kommen zurück; ist der Fall bei leichten Entzündungen, wenn
bald gestaut wird; 2. das Infiltrat erweicht rasch, ohne sich
zu vergrößern; kann der Fall sein bei leichten, fieherlosen, mehrere
Tage alten Entzündungen, oder schon von geringem Fieber be¬
gleiteten, welche frühzeitig gestaut werden; 3. das Infiltrat er¬
weicht und vergrößert sich durch Fortschreiten in die Umgebung
und Tiefe, das Fieber bleibt unbeeiiiflußt oder steigt; das kommt
meist bei Streptokokkeninfektionen vor; dazu tritt noch eine
erysipelartige Rötung bis zur Binde; 4. das Infiltrat wächst rasch
unter dem Bilde der akut fortschreitenden Phlegmone, das Fieber
steigt unter schweren Allgemeinerscheinungen, im Blute werden
leicht Bakterien nachgewiesen. In leichten Fällen wird die Bior-
sche Methode nie versagen, in schweren stets, in mittelschweren
wird ihre Wirkung zweifelhaft sein, da von der Schwere der
Infektion und der Widerstandskraft des Organismus alles ab¬
hängt. Dazu kommt noch, daß die Giftstoffe durch die Stauung
zwar verdünnt, aber auch beträchtlich vermehrt werden. Daher
fordert Lexer, daß überall, wo die örtlichen Erscheinungen
auf die hescliriebenen Giftwirkungen schließen lassen, die Stau¬
ungsbehandlung sofort unterbrochen und erst durch größere Ein¬
schnitte der Abfall der Temperatur herbeigeführt wird, bevor
man weiter staut, oder daß man von vornherein durch genügend
große Inzisionen das Auftreten jener Endoloxinwirkung verhindert.
Die bei der Behandlung von Phlegmonen und S eh n e li¬
sch e id enphle gm onen gewonnenen Resultate sind im allge¬
meinen als sehr günstige zu bezeichnen. Herhold berichtet,
daß eine Unterschenkelphlegmone sehr rasch zurückgegangen ist;
von fünf Sehnenscheidenphlegmonen heilten zwei mit gutem Resul¬
tate aus, ein Fall kann nicht mitgerechnet werden, weil er schon
zu weit vorgeschritten war, in einem Falle mußte aus äußeren
Gründen mit der Stauung aufgehört werden, im letzten Falle
kam es im Anschlüsse an die Stauung zu hohen Temperatur¬
steigerungen und Fortschreiten der Lymphangoitis über die Binde.
Derlin sah zwei Sehnenscheidenphlegmonen unter Anwendung
der Binde mit gutem Resultate ausheilen. Lossen hat sehr
günstige Re.sultate; drei Fälle, in welchen unter gewöhnlicher
Behandlung sämtliche Sehnen vereitert und entweder nekrotisiert
wären, oder sich kiarmüi gezogen hätten, heilten günstig aus.
Danielsen behandelte 19 Fälle von Phlegmonen poliklinisch;
hei acht Fällen wurde in wenigen Tagen, ohne daß es zur
Eiterung gekommen wäre, Heilung erzielt, in den übrigen elf
Fällen, die bereits vorgeschritten waren, kam man mit kleinen
Stichinzisionen aus. Be'stelmeyer gelang es in 14 Fällen von
subakuten oder subfaszialen Phlegmonen am Arm oder Bein sieben¬
mal durch Stauung eine Amllständige und ziemlich rasche Heilung
hei’heizufüliren. Eine phlegmonöse Bursitis praepatellaris, mit suh-
faszialer Phlegmone des Oberschenkels, konnte durch Stauung
nicht zur Heilung gebracht werden, sondern hier mußte man
breite Inzisionen anlegen ; dagegen gelang es in drei Fällen von
Bursitis praepatellaris, deren Exsudat teils eitrig, teils trübserös
war, durch kleine Stichinzisionen und Anlegen der Stauungs-
hinde, sehr rasch Heilung zu erzielen. Rubritius konnte in
der Mehrzahl der Fälle von Sehnenscheidenp)hlegmonen eine
Heilung ohne Nekrose der Sehne erzielen und beobachtete mit
Ausnahme eines Falles eine sehr stark herabgesetzte Heilungs¬
dauer. Bonheim hatte in zwei Fällen sehr guten Erfolg, einmal
wurde die Sehne nekrotisch und einmal gelang es nicht, die Ent¬
zündung aufzuhalten. Lindenstein fand, daß die Phlegmonen
unter der Stauungshyperämie stets gut ausheilen, während dies
nach seinen Erfahrungen bei den Sehnenscheidenphlegmonen nicht
stets der Fall ist, da es ihm unter elf Fällen nur viermal gelang,
die Sehne mit guter Funktion zu erhalten. Manninger konnte
in 14 Fällen von Schnenscheidenphlegmonen durch Anwendung
der Slauungshinde deren Progredienz aufhalten ; in frischen Fällen
war das günstige Resultat ganz auffallend, da diese Fälle in
neun bis elf Tagen mit gutem funktionellen Resultate zur Heilung
gebracht werden konnten. Günstig sprechen sich ferner noch
aus Stabs, Jerusalem, Stich, Tomasc he wsky. Arns-
p u r g e r hält die Zellgewebsentzündung sowie die Sehnenscheiden¬
phlegmone als weniger gut für die Stauungsbehandlung
geeignet.
Lieber die Resultate der Behandlung akuter Osteomye¬
litis durch Stauungshyperämie läßt sich derzeit noch kein defi¬
nitives Urteil fällen. Bier seihst teilt das Resultat von 14 selbst-
behandelten Fällen akuter eitriger Osteomyelitis mit; von diesen
heilten sechs ohne Nekrose, fünf mit geringer, zwei mit ausge¬
dehnter Nekrose aus; ein Fall starb an Pyämie. Colley sah
drei Fälle unter Stauungsbehandliuig, ohne Nekrose ausheilen,
auch heilte Derlin einen Fall schwerer traumatischer Osteo¬
myelitis mit gutem Erfolge. Ebenso beobachteten Bonheim und
C a t h a r e t günstige Resultate. Manninger legte nach Spal¬
tung des Abszesses die Binde an und beobachtete in allen vier
Fällen Nachlassen des Schmerzes und Schwinden des Fiebers.
Ebenso ist Froimnier mit dem Erfolge zufrieden. Stich er¬
zielte in einem schweren Falle von Osteomyelitis kein zufrieden¬
stellendes Resultat, Bestelmeyer konnte bei einem Falle, in
dem er erst am 13. Tage nach der Erkrankung Gelegenheit hatte,
zu stauen, keinen Erfolg erzielen. Arnspurger findet die akute
Osteomyelitis für die Stauungstherapie nicht sehr geeignet.
Auch über die Erfolge der Behandlung des Erysipelsi
mittels Stauung läßt sich noch wenig sagen. Keppler selbst
hält hier noch die Skepsis für angezeigt. Er behandelte 13 Kopf-
erysipel mit Kopfstauung; einmal ging das Erysipel bis an die
Binde heran, in den übrigen Fällen blieb es beschränkt und
heilte nach kurzer Zeit ah. Hoch aus beobachtete unter sechs
Fällen von mit Stauung behandelten Kopferysipeln dreimal ein
Sistieren der Progredienz des Erysipels und ein Abfallen des
Fiebers. Bestelmeyer hält diese Behandlung des Erysipels
für unzuverlässig ; in drei nicht besonders schweren Fällen konnte
durch Anlegen der Binde Stillstand erzeugt werden, in zwei
anderen Fällen wurde kein Einfluß konstatiert; besser bewährte
sich die Stauung bei Lymphangoitis, die dann in der Regel in
sieben Tagen ausheilte.
Vereiterte große Gelenke behandelt Bier ebenfalls
mit der Stauungshyperämie. Schon einige Stunden nach Anlegen
der Binde wird unter dem auffallend schmerzlindernden Einflüsse
der Stauungshyperämie, mit vorsichtigen aktiven U2rd passiven
Bewegungen des erkrankten Gelenkes begonnen und auf Ruhig¬
stellung desselben durch einen fixen Verband verzichtet. „Die
Stauungshyperämie im Vereine mit frühzeitigen Bewegungen hat
uns aber selbst bei den schwersten Gelenfcseiterungen die
vollständige Funklion, ohne die geringste Einschränkung er¬
zielen lassen. Bier erzielte sehr günstige Erfolge bei Ver¬
eiterungen des Ellbogen-, Knie- und Schultergelenkes. In
einigen Fällen gelang es, heiße Gelenksabszesse zuerst in kalte
zu verwandeln und dann zum Schwinden zu bringen. Linden¬
stein und Manninger hatten ebenfalls in diesen Fällen sehr
günstige Resultate erzielt. Bestelmeyer hat zwei Gelenksver¬
letzungen mit bestem Erfolge gestaut, während drei Gelenks¬
eiterungen erfolglos mit Stauung behandelt wurden. Stabs sah
vier Fälle infektiösen Kniegelenksergusses (drei Sticliverletzu.ngen
und eine metastatische Entzündung) ohne Drainage unter dem
Einflüsse der Slauungshinde sehr günstig verlaufen. Luxem¬
bourg rühmt sowohl bei akuten, als auch chronischen Gelenks¬
entzündungen dem Verfahren außer der schmerzlindernden Wir-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
5(
kling die baldige Wiederkehr aktiver und passiver Bewegliclikeit,
sowie eine Lösung der Versteifung nach; elienso riihrnt Arns-
purger das Nachlassen der Schmerzen und das gute funktionello
Kesultal. ßonheim versagte hei akuteitrigen Gelenksentzün-
dungen die Stauung teilweise den Erfolg. Hingegen beobachtete
ILubritius bei zwei Gelenkseiterungen, die mit Stauungshyper-
.ämic behandelt wurden, Forlschreiten des Prozesses auf die be¬
nachbarten AVeichteile und septische Allgemeininfektion.
Sehr günstige Resultate hatte Hier bei der gonorrhoi¬
schen Arthritis. Hirsch, der 25 Fälle dieser Art behan¬
delte, lobt besonders <las rasche und iirompte Nachlassen der
Schmerzen. Eine Abkürzung der Heihingsdauer fand er aber
nicht. Ebenso sprechen sich sehr günstig über die Stauung bei
gonorrhoischer Arthritis aus Stabs, Laqueur, Till mann,
Luxembourg, Jerusalem, Bum, v. Tiling; während Bon-
heim in drei Fällen keinen Einfluß konstatieren konnte.
Die Stauungshyperämie findet auch bei versteiften Ge¬
lenken ihre Anwendung und wird teils durch die Binde her¬
vorgerufen, teils durch von Bier eigens konstruierte große Saug¬
apparate. Auf die Technik letzterer näher einzugehen, würde im
Bahnieii eines Sammelreferates zu weit führen und müssen wir
daher schon auf Biers Originalarbeiten selbst verweisen. Aber
auch mit der durch die Stauungsbinde hervorgerufenen Hyiier-
ämie wurden gute Erfolge erzielt. (Till mann, Frankel, Habs.)
Ausgezeichnete Erfolge erzielt die venöse Hyperämie bei
den tuberkulösen Knochen- und Gelenkserkmnr-
kungen. Habs, der 200 Fälle von Tuberkulose mit Bier scher
Stauung behandelte, hat günstige Resultate erzielt. Besonders
günstig erwies sich die Behandlung bei Kindern. Mehrfach konnte
beobachtet werden, daß Stellen, an denen anfangs Fluktuation
zu finden war, hart wurden und im weiteren Verlaufe auch diese
harten Verdickungen schwanden. Immerhin aber wanit Habs
bei offener Tuberkulose, sowie bei schweren Knochenzerstörungen,
insbesondere bei Sequesterbildung, nicht zuviel Zeit zu verlieren.
Luxembourg fand sowohl bei frischen tuberkulösen Gelenks¬
entzündungen, als auch in veralteten Fällen, bald nach Beginn
der Stauung ein Aufhören der Schmerzen, die Granulationen be¬
kamen ein frisches Aussehen, bald trat Resorption der fungösen
Massen ein und die Beweglichkeit der versteiften Gelenke wurde
besser. Konnte von einer Besektioii nicht Ahstand genommen
werden, so ergab die Nachbehandlung der Resektionswunden mit
Slauungshyperämie ausgezeichnete Resultate ; die Fisteln schlossen
sich und die Vei'steifung der Gelenke sieß sich mehr oder weniger
verhüten. Verschlimmerung des Leiden, Auftreten kalter Al)szesse
oder großer wuchernder Granulationsmassen, sowie Symptome
beginnender Sepsis wurden nie beobachtet. Auch iManninger
findet die Erfolge für die Mehrzahl der Fälle ausgezeichnet, nur
kann man gute, dauernde Resultate erst nach monatelanger, oft
ein bis zwei Jahre fortgesetzter Behandlung emarten. Geb eie
und Eber may er fanden die Erfolge besonders bei jugendlichen
Individuen, wenn es sich um Granulationstuberkulose, besonders
aber Um Gelenkseiterungen handelte, sehr gut. Ebenso empfehlen
die Stauung Tillmann, Frommer, Lindenstein. Gängele
sah eine entschiedene Beschleunigung der Heilungsdauer in
frischen Fällen tidoerkulöser Fisteln, die teils mit dem Saugball,
teils mit der Stauungsbinde behandelt wurden. Klapp behan¬
delt auch die Gelenkstuberkulose mit dem' Saugball, eventuell
mit eigens konstruierten Saugapparaten und konstatiert dabei
ein Rot- und Körnigwerden der schwammigen Granulationen;
die Gelenke verlieren ihre Spindelform. Besonders günstig wird
die Synovitis tuberculosa beeinflußt.
Heber den großen Werl der Stauungshyp<'rämie, sei diese
durch die Binde oder den Sehröpfkopf hervorgerufen, in der
Behandlung von Panaritien, Furunkel, deren Heihingsdauer auch
durch ihre Anwendung wesentlich herabgesetzt wird, sowie der
Karbunkel, Bubonen etc. sind alle Autoren in ihren diesbezüg¬
lichen Publikationen einig. Arnspurger und Stich erwähnen
den günstigen Einfluß der Hyperäinie auf meta,shitis(die Eiterungen,
letzterer speziell in einiMii Falle einer puerperalen Midastase.
Golley behandelte eine Appendizitis mit abgekapseltein Eiter-
lierde, da <lie Oiieration kontraindiziert war, mit der Saugglocke.
Nach dreitägiger Bcdiandlung ließen die Schiit hdfröste nach, die
Resistenz verschwand, Eiterung trat nicht auf; als nach einigen
Monaten die Oireration vorgenominen wurde, fand man die Appen¬
dix mit narbig verengtem Lumen dicht am Gökuni.
Frommer wandü' Stauungshyperämie in einem Falle von
Gangraena prai'Cox an. Er beobachtete rasche Verminderung der
Schmerzen, rasche Reinigung des Geschwüres, Beschleunigung
der Demarkation und .Mistoßung, sowie der Vernarbung und Er¬
wärmung der Extremitäl. Joseph empfiebll die frühzeitige, pro¬
phylaktische Stauung infiziei'ter Wunden; besonders bei den
schweren Verletzungen (Sehnenzerreißungen) der Arbeiterhände,
in welchen Fällen er durch Naht der Sehnen und Wunden und
gleichzeitigem Gebrauche dm- Stauungshyperämie sehr gute Er¬
folge zu verzeichnen hat.
Von Klapp wurde zuerst die Behandlung der Mastitis mit
der Saugglocke empfohlen. Nach seinen Vorschriften müssen
die Patientinnen in der gestauten Brust das Gefühl der Füllung
der Brust bis zum Platzen haben, ohne alrer dabei Schmerzen
zu empfinden. Vorhandene, deutlicli fluktuierende Abszesse Aver-
den unter Aethylchlorid durch Vs bis 1 cm lange Stichinzisionen
eröffnet und ausgesaugt. Der Milchstauung ist besondere Aufmerk¬
samkeit zuzuwenden; entleert sich beim Ansetzen der großen
Saugglocke keine IMihdi, so ist diese mit dem khunen Milchsauger
zu entfernen. Klapp, ferner van hier, (toi ley und Eng¬
länder haben sehr gute Erfolge erzielt. Fällt doch gerade hier
der kosmetische Effekt den Frauen gegenüber sehr in die Wag¬
schale, da die großen, die Brust dauernd entstellenden Narben
wegfallen.
Robbers malmt, bei allzu großer Spannung der Weiebteile
von der Stauung abzusidien und lieber durch Entsiiannungsschnitte
für die Regelung der Zirkulation zu sorgen. Er beobachtete einen
Fall einer Infektion am rechten Daumen durch einen Glassplitter,
der mit dem IMunde herausgezogen wurde. Am fünften IVage der
Infektion (es wurden Pneumokokken nachgewiesen) Anlegen der
Stauungsbinde. Es kam zur Gangrän der Hand und des Vorder¬
armes, die die Enukleation iin Ellbogengelenk notwendig machte.
Da aber Pneumokokken nachgewiesen wurden, so ist es nach
Robbers nicht zu entscheiden, ob die Gangrän auf diese oder
die Stauungsbinde zurückzuführen ist.
Von mehreren Autoren (Frommer, Joseph) wird die
Stauungshyperämie auch zur Heilung postoperativer Wunden em¬
pfohlen. Kaefer empfiehlt sie besonders dann, wenn Wunden
nach wegen nicht eitriger Affektionen vorgenoinmenen Opera¬
tionen die ersten Zeichen gestörten Heilungsfortganges zeigen.
Ever sin an'n ist hesonders mit dem Effekt der Saugbehandlung
eiternder BauchdeckenAvunden nach Laparotomien sehr zufrieden.
Er setzt den Saugapparat zAveimal täglich auf je eine halbe
Stunde an (nach je fünf Minuten eine Minute pausierend). Ist
schlechte Tendenz zur Heilung \mrhanden, so Avird nach Ent¬
fernung der Saugglocke eine 2%ige Argentum nitricum- Salbe
auf die Wunde gestrichen.
Bei Frakturen der Knochen wurde oft mit gutem Erfolge
die Stauungsbinde angelegt. Deutschländer staut bei Frak¬
turen täglich mit einer kurzen Unterbrechung sechs bis acht
Stunden lang. Als besondere Vorzüge dieser Therapie nennt
Deutschländer die außerordentliche Einfachheit in der An-
Avendung, eine raschere Kallusbildung und damit herabgesetzte
Heilungsdauer, das Ausbleiben atrophischer Prozesse und eine
schmei’zlindernde Wirkung. Luxe m I) o u r g behandelte durch
Stauung eine Knochenfraktur im Bereiche des Gelenkes mit sehr
gutem Erfolge. Wessels beobachtete sehr gute Resultate der
Behandlung bei Radiusfrakturen. Linden stein sah in ZAvei
Fälten schlecht heilender Frakturen unter deni Einfluß der
Stauungshyperämie ra.sche Konsolidierung der Frakturen. Ca-
tharet behandelte Knochenverletzungen gut mit der Slauungs-
binde. Joseph empfiehlt sie bei scliAvereii, komplizierten Frak¬
turen. Rubritius hatte einen IMißerfolg; er beobachtete bei
einer komplizierten Fraktur Vereiterung des gesammteii, durch
die Stauungsbinde erzeugten Oedenis, Avas zur .4mputation nötigte.
Die in der Gynäkologie durch Anwendung der Stauimgs-
hyperämie erziidlen Besultate sind im allgemeinen als befriedigende
zu bezeichnen. (G)lley hat pe timet ritische Exsudale und gonor¬
rhoische Sjilpingiliden, die . bislang jeder konservativen Behand¬
lung getrotzt haben, durch die Saugglocke in Verbindung mit
Beckenhochlagerung mit gutem Erfolge Ixdiambdt. Krömer ein-
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Nr. 2
pl'iehll die Siiklioiismetliode zur Lokalisation des Tnfektions-
lierdes l)ei akuten Ei)lzündungen des weiblichen Genitales. Ein
sei)tischer Abortus bei Placenta praevia kam nach drei Siiktioiis-
silzungen spontan zur Heilung. Ferner empfiehlt Krömer das
\’erfahren zur Hehandlung der Folgeerscheinungen entzüiullicher
I’rozesse u. zw. entweder zur Erzielung einer aktiv-passiven Hyper¬
ämie zwecks Erweichung von Strikturen und Narben oder in
Verbindung mit Skarifikationen zur Beseitigung passiver Flyper-
äniie. Bauer setzte direkt auf die Portio eigens konstruierte
Sauggläser auf, um sowohl auf diese, wie auf den Uterus direkt
eine kräftige Saugwirkung auszuüben. Bei chronischer Metritis
konnte öfters eine sehr wohltuende, schmerzlindernde Wirkung
heobachtet weiden. Bei Amenorrhoe konnte einmal die Men¬
struation hervorgerufen werden. Wegen der Gefahi' der Blutung
warnt aber Bauer, das Verfahren zur Einleitung des künstlichen
■Vbortus zu gebrauchen. Bei Endometritis gelang es bisweilen,
durch Ansaugen des Sekretes zwar eine wesentliche Besserung,
niemals aber eine Heilung zu erzielen. Auch Evers mann ver¬
suchte durch direktes Ansaugen des Sekretes, dessen Entfernung
und Hyperämisierung des Uterus in diesem eine bessere Blutzirku¬
lation bei Endometritis und starkem Ausfluß herbeizuführen, wo¬
bei er sehr zufriedenstellende Erfolge beobachtete; sogar derbe,
schmerzhafte Stränge im Douglas konnten zum Schwinden ge¬
bracht werden. Turan, welcher mittels eigens konstruiertem
gefensterten Katheter die Hyperämie intrauterin erzeugte, rülimt
bei Endometritis und Metritis die gefahr- und schmerzlose An¬
wendung der Methode, sowie den guten Erfolg derselben. Lewith
gebrauchte die Methode der Suktion bei Erosion, Dekubitus, Zer¬
vikalkatarrh, Endometritis und Metritis, chronischer Perimetritis,
dysmenorrhoischen Beschwerden, sowie Hypoplasia uteri. Bei De¬
kubitus und Erosionen beobachtete Lewith keinen Erfolg. Bei
Zervikalkatarrh, Endometritis und Metritis trat zwar rasch eine
Besserung des Zustandes ein, nacJi Aufhören der Behandlung setz¬
ten jedoch die Beschwerden rasch wieder ein. Bei chronischer
Perimetritis war die Wirkung analog der Massage. Bei Hypoplasia
Uteri mit Dysmenorrhoe oder Amenorrhoe wurde kein gutes Re¬
sultat erzielt. Tränen -Rain er sah gute Erosionen, auch bei alter
Endometritis mit Adnextumoren, doch sind ihre Fälle wohl noch zu
wenige, um daraus Schlüsse ziehen zu können. Rudolph
empfiehlt die älethode.
In der Ophthalmologie wurde sowohl die Stauung mit¬
tels der um den Hals angelegten elastischen Binde, als auch
dureb Sauggläser versucht. Keppler behandelte zwei Fälle von
Dakryozistitis mit Kopfstauung; in einem Falle kam er mit einer
kleinen Stichinzision aus, während der andere Fall durch die
Stauung allein ausheilte. Renner wandte die Kopfstauung bei
Kindern und Erwachsenen bis zu 40 Jahren an, wenn keine
krankhaften Veränderungen des Herzens, oder im Zirkulations
system vorhanden waren. Fünf Fälle von Keratitis parenchymatosa
wurden durch zwei bis vier Woeben täglich sechs his zwölf
Stunden gestaut.
Wenn man auch die Besserung aller Fällein wenigen Wochen
nicht als beweisend anseben kann, so wurde doch ein entschieden
günstiger Einfluß konstafierl. Bei ekzematös-phlyktänulösen und
katarrhalischen Hornhautgeschwüren, ebenso wie bei alten Horn¬
hauttrübungen wurde kein Eitd’luß beobachtet. Berry fand die
passive Hyperämie bei Augenentzündungen nützlich. Wenn Oedem
auftrat, besserten sich die Schmerzen. Hesse macht eine vor¬
läufige Mitteilung eines Versuches, lokale Stauung am Auge durch
ein an den Orbitalrand angesetztes Glasgefäßi hervorzurufen, in
welchem durch einen Saugapparat negativer Druck erzeugt wer¬
den konnte. Da liei Druckdifferenz von 100 mm Quecksilber
konjunktivale Blutungen entstanden, wurde nur mit 20 his 50 mm
Quecksilber gearbeitet. Der Apparat wurde so angelegt, daß die
Lider nicht geschlossen werden konnten. Hesse entwickelte Che¬
mosis der Konjunktiva bis zur Eversion des Lides, starke Füllung
aller vorderen Gefäße, eventuell auch panöser und kornealparen-
chymatöser. Bei Kaninchen trat nach vorhergehender subkutaner
Fluoreszininjektion Grünfärbung der vorderen Kammer auf. Einen
therapeutischen Erfolg dürfte die Stauungshyperämie haben bei
Phlegmone oder Furunkel der Lider, Hordeola, Blepharitis, 'tra-
chom. Bei einem erfolglos mit dem Thermokauter behandelten
Ulcus serpens corneae war ein deutlicher Erfolg der Hyperämie
nachzuweisen. Hoppe konstatierte einen günstigen Einfluß der
Stauungshyperämie auf Hoixleolum und Furunkel der Augmem-
brane. Bei Chalazeon halte nian sich vorläufig, wenn nicht bald
offenkundige Besserung eintritt, tdcht zulange mit der Saugbehand¬
lung auf, sondern greife besser zum scharfen Löffel. In einer
zweiten sehr allst uhiiichen Arbeit berichtet Hoppe über die
Ergebnisse einer großen Reihe ausgeführter V^ersuche über den
Einfluß der sogenannten Kopfstauung auf das normale Auge utul
den Verlauf gewisser Augenkrankheiten. Wenn man die Kopf¬
stauung nach Bier, die an sich kein indifferentes V'^erfahren ist
und Beherrschung ihrer keineswegs scdiweren Technik verlangt,
richtig anwendet, so wird auch dem kranken Auge aus ihr kein
Schaden erwachsen. Bei geringfügigen oder durch einfachere
Mittel leicht heilbaren Augenkrankheiten wird man von ihr ab-
sehen, hingegen soll man bei schweren, anderer Therapie trotzen¬
den Augenleiden vor einem Versuche der Anwendung der Stauung
nicht zurückschrecken. Eine mehrstündige, maßvolle Stauung
pflanzt sich bis in die Hülle des Augapfels und bis in das Innere
des Auges fort, letzteres allerdings nur im abgeschwächlen Zu¬
stande. Hoppe begann mit der Stauung täglich viermal zehn
Minuten lang und schritt bald bis zu zwölfstüncliger, schließlich
20- bis 22stündiger Stauung fort. Zur Beobachtung gelangten :
Heukatarrh der Bindehaut und Nase, Conjunctiva phlyctaenulosa,
breite, ulzeriert.e Phlyktäne, Keratitis superficialis vasculosa, Kera¬
titis herpetiformis, Infiltratio corneae profunda et ulcus corneae,
Keratitis parenchymatosa et Lues hereditaria. Iridocyclitis trau¬
matica. Die Fälle wurden mit drei Ausnahmen ambulatorisch
behandelt und kamen zur Heilung. Nachteiliger Einfluß konnte
nie nachgewiesen werden. Die sclunerzstillende Wirkung ist beim
Entzündungsschmerz am auffallendsten. Bei einigen Kranklieits-
prozessen schien die Stauung den Prozeß, der bis dahin entweder
ohne Besserung, oder unter Zeichen einer Verschlimmerung ein¬
herging, deutlich zum Stillstände oder zu einer nachweisbaren
und. andauernden Besserung zu bringen. Unter ungünstigen Ver¬
hältnissen bewirkte die Stauung auffallend bessere Atropinwirkung,
was wahrscheinlich auf die längere Zurückhaltung des Atropins
im Bindehautsack in konzentrierter Form, infolge einer Verlegung
der Tränenabflußwege zurückzuführen ist.
Weniger günstig sind die Erfahrungen, die mit Kopfstauung
in der Otiatrie gewonnen wurden. Keppler seihst hat günstige
Resultate erzielt, unter 23 eitrigen Erkrankungen des Mittelohres,
davon 13 im akuten, die übrigen im chronischen Stadium zur
Stauungsbehandlung kamen und die sämtliche, mit einer einzigen
Ausnahme, durch Beteiligung des \Varzenfortsatzes kompliziert
waren, sind alle akuten Fälle ausgeheilt, während bei den chro¬
nischen Fällen kein guter Erfolg eintrat. Ist es zur Seguester-
bildung gekommen, oder das Ohr mit Cholesteatommassen aus¬
gefüllt, dann ist die Behandlung mittels Kopfstauung von vorn-
hei'ein nutzlos. Heine, Fleischuiaun, Ißmer sind gegen die
Behandlung der Otitis media mit der Kopfstauung oder wollen
sie nur sehr vorsichtig durchgeführt wissen, weil durch sie leicht
der richtige Zeitpunkt zur Operation versäumt werden kann.
Besonders gefährlich scheint Schwarze die protrahierte Kopf¬
stauung bei der Diplokokkenotitis zu sein. Absolut verwerflich
scheint sie nach Schwarze und Ißmer hei intrakraniellen
Komplikationen und Arteriosklerose, Nach Heine wurden nur
Mastoiditiden mit Infiltration der Weichteile und Abszeßbildung
durch die Stauung günstig beeinflußt. Viel günstiger sprechen
sich nach ihren Erfahrungen Stenger und Haßdauer aus.
St enger behandelte elf akute Mittelohrentzündungen ohne und
sieben mit Komplikationen. Die Ohreneiterungen waren im An¬
schlüsse an Erkältungen, Anginen und unbekannte Ursachen,
jedenfalls nicht an Infektionskrankheiten, entstanden. Ein Fall
kam zur Operation, ein Fall blieb unbeeinflußt, einmal mußte
wegen Auftreten von Reizerscheinungen am anderen Ohre mit
der Stauung ausgesetzl werden, sonst trat stets Heilung ein; üble
Zufälle winden nicht beobachhd, die subjektiven Schmerzempfin¬
dungen ließen sofort nach, die lokale Druckempfindlichkeit
schwand, die Eiterung nahm anfangs zu, um dann rasch abzu-
nelnnen, das Fieber ging lytisch zurück. Stenger empfiehlt,
sofort die Stauungsbehandlung in die Reihe der therapeutischen
Maßnahmen aufzunehmen, wenn bei einer akut eitrigen Otitis
media bedrohliche Ersclieinungen auftreten, ohne dabei den rieh-
Nr. 2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
59
ligeii Zeitpunkt ziun operativen Eingreifen zu verscäuinen. Das
Vorhandensein von Rachenwuclierungen ist eine Kontraindikation
der Kopfstauung. Haß lauer erklärt die Behandlung der Ohren¬
eiterung mit der Stauung als einen bedeutenden Fortschritt. Wenn
sie auch kein Allheilmittel für sämtliche Ohreneiterungen ist,
so werden doch bei der Otitis media acuta et perforativa und
bei Warzenfortsatzeiterungen unstreitig Erfolge erzielt.
Auch bei Erkrankungen der Rachenorgane ve7--
suchte man die Stauungshyperämie als therapeutischen Faktor
zu verwenden. Prym behandelte die entzündlicheu Erkrankungen
dej' Tonsillen mit eigens konstruierten Sauggläsern. Das richtig
sitzende Saugglas machte selbst bei akuten Anginen keine Be¬
schwerden; unangenehm war nur die starke Salivation. Prym
empfiehlt das Saugglas, von dessen Anwendung er übrigens nie
Nachteile sah, nicht länger als fünf Minuten liegen zu lassen.
In vielen Fällen wurden die Beschwerden der Kranken auffallend
gelindert. Ein schöner Erfolg wurde bei dironiscber Angina er¬
zielt. Hochaus erzielte bei 25 Dipbtheriefällen recht zufrieden¬
stellende Resultate, rasches Abstoßen des Belages, baldiges
Schwinden der subjektiven Beschwerden, Komplikationen, be¬
sonders Albuminurie, Herzstörungen !und Nervenlähmungen waren
sehr selten. Bei zehn meist schweren Anginen besserten sich
die Beschwerden im Halse auffallend schnell, jedoch war eine
Abkürzung der Krankheitsdauer nicht nachweisbar.
Fein und Retbi versuchten die Stauungshyperämie auch
in der Therapie der Ozäna. Fein versuchte durch eine .(Vrt
Tamponade nach Belloque, das oberflächliche Venensystem
dort, wo die Venen über den Rand der Choanen nach hinten
laufen, zu stauen. Bei vier Kranken blieb das Verfahren ganz
erfolglos, während dagegen bei zwei Kranken eine eitrige Otitis
media, bzw. deren Rezidiv auftrat. Auch Rethi erzielte keine
Erfolge, höchstens eine ganz vorübergehende Besserung, indem
nach der hinteren Tamponade eine Verflüssigung des Sekretes,
leichte Rötung der Schleimhaut und Verringerung des Gestankes
beobachtet wnirde.
Ullniann wandte die Stauungs- und Saugtherapie bei
einigen Affektionen der Geschlechtsorgane an und rühmt
besonders ihre gute Wirkung bei der Tuberculosis testis, dei
Epidydiniitis und den Bubonen.
Schmieden konstruierte einen großen Apparat, bei dem
der Kranke den ganzen Kopf unter eine Saugglocke steckt, ver¬
wandte diesen zur Behandlung des Lupus im Gesichte und
teilt einen schweren, alten Lupusfall mit, der auf mehrwöchent¬
liche Behandlung durch Stauung mittels des Apparates zurück¬
ging, indem teilweise Narben an Stelle der Geschwüre traten.
Doch warnt Schmieden selbst, daraus schon voreilige Schlüsse
zu ziehen.
Die Saugapparate auch bei Diabetes (z. B. Furunkulose
infolge von Diabetes) anzuwenden, warnt Colley. Hingegen hat
Grube die Hyperämie nach Bier auch bei einigen Erkrankungen
der Diabetiker in Anwendung gebracht. Bei Furunkulosis ist
nach Grube das Verfahren viel schonender, führt rascher zur
Heilung und scheint in schweren Fällen vor dem Auftreten des
Corna diabeticum zu schützen. Diabetische Fußgeschwüre und
diabetische Gangrän wurden von Grube in ungefähr 20 Fällen
mit gutem Erfolge mit heißer Luft behandelt, indem die kranke
Extremität täglich eine Stunde lang im Heißiuftkasten einer Tem¬
peratur von 60 bis ausgesetzt wurde. Oft schwanden die
Schmerzen schon nach einigen Sitzungen, die vorher kalten und
livid gefärbten Füße wurden warm und bekamen ein normales
Aussehen und bestehende Fußgeschwüre zeigen oft eine über¬
raschend schnelle Heilungstendenz.
In der internen Medizin wandte Bier und Keppler
die Kopfstauung an. Bier konstatierte oft einen sehr günstigen
Einfluß derselben auf Kopfschinerzen, besonders auf anämischer
Basis bei'uhenden, aber auch dann, wenn diese durch eitrige
oder tuberkulöse Meningitis verursacht waren. In zwei Fällen
von Chorea nach Bier eine günstige Wirkung, während Epilepsie
anscheinend nicht beeinflußit wurde. Keppler behandelte zehn
Fälle von Epilepsie mit Kopfstauung einige Wochen hindurch.
Nach Keppler führt die venöse Hyperämie zu keiner Vermehrung
der Anfälle; in einem Falle trat eine Verschlimmerung ein, in¬
dem die epileptischen fVnfälle zwar nicht häufiger auftraten, aber
schwerer und von längerer Dauer wurden, in sechs Fällen wurden
die Anfälle zweifellos herabgesetzt, in drei Fällen wurde kein
Einfluß wahrgenonnncn. Hand in Hand mit der ilerahsetzung
der Zahl der Anfälle ging eine Bessenmg der seelischen und
geistigen Störungen einher. Von <lrei Choreafällen scheint einer
in hervorragender Weise gebessert worden zu sein; einige aus¬
gezeichnete Resultate erzielte Keppler bei neiwösen Kopf¬
schmerzen.
Gewiß läßt sich noch kein erschöpfendes, abschließcndi's
Urteil ül)er die Stauungshyperämie, speziell ihren Wert in den
einzelnen Zweigen der Medizin fällen; dazu ist ja auch die Zeit
seit ihrer allgemeinen Anwendung eine zU kurze und die Zahl
der Beobachtungen, vor allem auf den Gebieten der Gynäkologie,
Ophthalmologie und Otiatrie, eine zu geringe. Sicher is(, daß
sie bereits beute für den Chirurgen ein notwendiger und unent¬
behrlicher Teil seiner therapeutischen Maßnahmen wurde und
gerade auf den) Gebiete der Chirurgie ihre größten Triumphe feiert.
Sicher ist die Stauungshyperämie nach Bier berufen, auch auf
den anderen Zweigen der medizinischen Wissenschaft und der
Therapie weitgehenden Einfluß auszuüben und neue Perspektiven
zu eröffnen. "Wei' von ihr erwartet, daß sie eine Panazee sei,
wird allerdings Enttäuschungen erleben. Welches Mittel ließe
aber nicht in einzelnen Fällen doch im Stiche! Mißerfolge, die
von dieser oder jener Seite gemeldet werden, dürfen das Verfahren
aber nicht diskreditieren, denn es ist sicher, daß ein Teil der
Mißerfolge auf eine noch nicht richtige Technik, auf technische
Fehler in der Anwendung zurückzuführen ist; betont ja Bier
selbst immer und immer wieder, daß gerade von der richtigen
Anwendungsweise der Haupterfolg abhängt und haben auch Bier
und seine Schüler, deren aller Arbeiten ein ungemein bescheidener
und streng kritischer Ton auszeichnet, auf Grund ihrer Erfahrnng
vor allen Autoren die günstigsten Resultate aufzuweisen.
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1906, Nr. 2.3.
Vermischte ^'laehrichteti.
Vorlieben: Dein Privatdozenlen für Usycliiatrie und Ner¬
venheilkunde Dr. Ha ecke in Kiel der Hrofessortitel.
:!<
H a ]j i 1 i 1 io r t : Dr. Brückner für Augenheilkunde inWürz-
hurg. — Dr. Op pik of er für Ohrenheilkunde in Basel.
*
llofral Prof. Dr. Leopold Schrott er R. v. Kristelli
feiert am 5. Februar seinen 70. Gehurtstag. Aus diesem Anlaß
findet an diesem Tage im Hörsaale der Hl. mediz. Klinik eine
Feier statt, hei dm' auch eine Fesitschrift von den Schülern des
Jubilars überreicht werden wird.
*
G e s t o r he n : Dr. B. U n t e r h o 1 z n e r, Direktor und Primar¬
arzt des Leoimldstädter Kinderspitales in Wien. — Der Professor
der .\ugeulHnlkunde in Löwen Dr. Vennemann.
*
Dr. Julius Donath, Dozent der Nervenpathologie in Buda¬
pest, wurde von der Pariser Societe Medico - Psychologicpie zum
auswärtigen Mitglied erwählt.
Mt
In der Hauptversammlung des Aerzte Vereines des
X. Bezirkes in Wien am 28. Dezember 1906 wurde als Ob¬
mann Dr. K. G. Koch, als 1. Ohmannstellvertreter Dr. S. Lie Il¬
tens lein, als 11. Ohmannstellvertreter Dr. ]\T. Rosenthal, als
Kassier Dr. N. Handl und zu Schriftführern Dr. B. Back und
Dr. M. Ernst gewählt.
Mt
Zur B e k ä m p f u n g der S ä u g 1 i n g s s t e r 1) 1 i c h k e i t .
Des Säuglings Ernährung und Pflege. Anleitung für Mütter aller
Stände, Kinder- und Wocheniiflegerinnen von Dr. Fritz Toep-
I i t z, Kinderarzt in Breslau. Mit einer Einführung von Professor
Dr. A. Schloßmann in Düsseldorf. Verlag von Preuß & Jünger.
Breslau 1907. Preis IMk. 0-40. Vm'f. dringt darauf, daß jede
flutter, der nicht vom Arzte das Nähren verboten ist, mindestens
versuchen soll, zu stillen. Alle Einzelfragen, wie oft, wie lange
das Kind die Nahrung erhalten solle, die Ammenwahl usw. finden
ihre Ih'antwortung. Die künstliche Einährung wird in leicht fa߬
licher Weise kurz und klar behandelt. In einer ühersichtlichen
'rahelle wird für jcalen Monat des ersten Lebensjahres die Zu¬
sammensetzung der Nahrung bestimmt. Im letzten AI)schnitt,
der Säuglingspflege gewidmet, findet die Alutter für jede Pland-
reichung hei ihrem Säugling di(' auf der rfdehen Erfahrung des
Kinderarztes Ix'rulunuh' Anweisung. Dem Büchlein ist (dne em¬
pfehlende Einführung von Prof. Dr. S c h 1 o ß iii a n n - Düsseldorf
vorangestelll.
Mt
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 51. Jahreswoche (vom 16. bis
22. Dezember). Lebend geboren, ehelich 583, unehelich 270, zusammen 853.
Tot geboren, ehelich 43, unehelich 33, zusammen 76. Gesamtzahl der
Todesfälle 684 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
18'2 Todesfälle), an Bauchtyphus 2, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 11,
Scharlach 5, Keuchhusten 3, Diphtherie und Krupp 6, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 7, Lungentuberkulose 84, bösartige Neu¬
bildungen 35, Wochenbettfieber 5. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 39 (-f- 8), Wochenbettfieber 7 (-j- 4), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 149 (-f- 60), Masern 326 (-V 57), Scharlach 105 (-|- 16), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 6 (=), Ruhr 0 ( — 1), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 102 ( — 18), Keuchhusten 20 ( — 19), Trachom 0 ( — 6)
Influenza 0 (0).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstellen für die Sanitätsgemeinden in
Oberösterreich. D ie r sb a c h, Bezirk Schärding, 2551 Einwohner, Ge¬
halt K 766, Landessubvention K 500. Feldkirchen, Bezirk Urfahr,
2992 Einwohner, Gehalt K 700, Landessubvention K 800. Ga f lenz, Be¬
zirk Steyr, 1427 Einwohner, Gehalt K 500, Landessubvention K 800.
Gilgenberg, Bezirk Braunau, 2483 Einwohner, Gehalt K 760, Landes¬
subvention K 400. K i r c h h a m, Bezirk Gmunden, 2696 Einwohner,
Gehalt K 800, Landessubvention K 400. Hop fing, Bezirk Schärding,
1474 Einwohner, Gehalt K 600, Landessubvention K 800. St. Marien¬
kirchen, Bezirk Wels, 2361 Einwohner, Gehalt K 900, Landessubvention
K 400. N e u s t i f t, Bezirk Steyr, 1434 Einwohner, Gehalt K 400,
Landessubvention K 1000 nebst freier Wohnung. Pr am et, Bezirk Ried,
2621 Einwohner, Gehalt K 620, Landessubvention K 400. Ried, Bezirk
Steyr, 1857 Einwohner, Gehalt K 700. S ar 1 e i n s b ac h, Bezirk Rohr¬
bach, 3584 Einwohner, Gehalt K 1040, Landessubvention K 400. Traun¬
kirchen, Bezirk Gmunden, 1269 Einwohner, Gehalt K 400, Landes¬
subvention K 700. Bewerber um eine dieser Stellen wollen ihre mit den
Nachweisen der ärztlichen Befähigung, der österreichischen Staatsbürger¬
schaft, der physischen Eignung und moralischen Unbescholtenheit sowie
des Alters und der Konfession versehenen Gesuche bis längstens
15. Februar 1907 an den oberösterreichischen Landesausschuß in
Linz einsenden. In dem Gesuche können auch mehrere der erledigten
Stellen bezeichnet werden, wenn auf dieselben für den Fall der in¬
zwischen etwa erfolgten Wiederbesetzung der an erster Stelle bezeiclmeten
Gemeindearztesstelle reflektiert wird.
Programm
• der am
Freitasf den ix. Januar 1907, 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Chrobak stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
I. Administrative Sitzung.
Dr. Autoii Löw: Rechenschaftsbericht pro 1906 und Voranschlag
pro 1907.
II. Wissenschaftliche Sitzung.
Dr. Carl Reitter: Zur differentiellen Diagnose der Knochenver¬
dickungen (mit Demonstration).
Prof. Dr. S. Stern: Psychognostische Erklärung des statischen
Sinnes. (Fortsetzung.)
Vorträge haben angemeldet die Herren; Dr. Martin Engländer,
Regimentsarzt Dr. Doerr und Dr. Oskar Senieleder.
Bergmeister, Paltauf.
Um die reclitzeltlKC Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermögiiehen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer uocli am Sltzuu^sabeud zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Neusscr Dounerstag
den 10. Januar 1907, um 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz: Hofrat Professor v. Neusser.
Programm:
1. Demonstrationen: Angemeldet Doz. Dr. Türk.
2. Dr. Felix Kauders: Zur Kenntnis der Beziehungen zwischen
Blutgerinnung und Leber.
3. Dr. L. Hofbaner: Ueber Orthopnoe.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Montag, den 17. Januar 1907, 7 Uhr abends, im Silzungssaale des
Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn Professor
Englisch stattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
Doz. Dr. Wilhelm Schlesinger: Ernährungstherapie bei quanti¬
tativen Anomalien des Stoffwechsels.
Vorantwortlichtr Badakttor: Adalbert Karl Trupp. Yarlag von Wilhelm Braumttller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien, XVIII., XberesiengaaM 3.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R, Paltauf,
Adam Politzer, G, Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIIl/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 17. Januar 1907. Nr. 3.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 17.618.
Redaktion:
Telephon Nr. 16.282.
INH
I. Origiualartikel: 1. lieber Hornhaiitpfropfung. Von Dr. E. Zirm,
Primararzt in Olmütz.
2. Aus der I. medizinischen Klinik in Budapest. (Direktor:
Prof. Friedrich v. Koränyi.) lieber metamere Sensibilitäts¬
störungen bei Gehirnerkrankungen. Von Dr. Heinrich
Benedict, vormaligem I. Assistenten.
3. Aus der II. med. Klinik in Budapest. (Direktor: Professor
Dr. Karl v. Kötly.) lieber chyliforme Trans- und Exsudate
im Anschluß zweier Fälle. Von Dr. Ladislaus v. Kötly, Privat¬
dozent und Adjunkt der Klinik.
4. Die Diagnose der typhoiden Krankheiten des Menschen. Von
Dr. Wilhelm Spät, k. u. k. Regimentsarzt.
II. Referate: D^s Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen
zur modernen Kultur. Von Dr. med. Iwan Bloch. Die Ehe¬
schließung vom gesundheitlichen Standpunkte. Von S. E.
ALT:
Henschen. Unseren Söhnen! Aufklärung über die Ge¬
fahren des Geschlechtslebens. Von Dr. med. F. Siebert.
Die Aetiologie der Syphilis. Von Prof. Erich Hoffmann.
Syphilis du Poumon chez l’enfant et chez l’adulte par le
Dr. Beriel. Ref.: Finger. — Experimentelle Studien über
die Durchgängigkeit des Magendarmkanals neugeborener
Tiere für Bakterien und genuine Eiweißstoffe. Von A. Uffen-
heimer. Die intestinale Tuberkuloseinfektion mit besonderer
Berücksichtigung des Kindesalters. Von Livius Fürst. Ref.:
J. Bartel.
III. Aus verscbiedeueu Zeitschriften.
IV. Nekrolog. Paul Julius Möbius. Von E. R a i m a n n.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhaudlnngen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßbericlite.
lieber Hornhautpfropfung.*)
Von Dr. E. Zirm, Primararzt in Olmütz.
Hornhaiitpfropfimg ist der Ersatz uadurclisichtigen
Hornhaiitgewebes durch ein anderes durchsichtiges zu opti¬
schen Zwecken.
Der Gedanke zu dieser Operation entstand im An¬
fänge des vorigen Jahrhunderts. Im Jahre 1824 gab R ei¬
sin ge r nach der Darstellung, die v. Hippel^) über die
historische Entwicklung dieser Angelegenheit veröffentlicht
hat, dem Gedanken Ausdruck,**) die getrübte menschliche
Kornea durch die eines Tieres zu ersetzen, ein Verfahren,
welchem er den Namen Keratoplastik gab. Er brachte aber
dasselbe am Menschen niemals zur Ausführung, sondern
begnügte sich mit wenigen Versuchen an Kaninchen. Von
einer Reihe der hervorragendsten Chirurgen wurde Rei-
singers Gedanke mit Begeisterung aufgenommen und
durch zahlreiche Versuche au Tieren zur Ausführung ge¬
bracht, so von Dieffenbach u. a., wobei verschiedene
Modifikationen ersonnen wurden. Eine 1840 von der Mün¬
chener medizinischen Fakultät ausgeschriebene Preisfrage
gab eine weitere Anregung in dieser Angelegenheit und ist
ein Reweis, wie lebhaft das Interesse für dieselbe war.
Drei Arbeiten erhielten den Preis. Mühl bau er, der die un¬
vollständige Keratoplastik einführte, d. i. den Ersatz nur
der vorderen Schichten der getrübten Kornea; Munk, der
ein locheisenförmiges Instrmnent verwendete; Königs-
*) In der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien am 14. Dezember
1906 gehaltener Vortrag.
**) Nach der Darstellung von Hirsch bestreitet Hirn ly R. die
Priorität.
höfer, der ein gabelartiges Doppelmesser zur Ausschnei¬
dung des Lappens ersann, llmen folgten zahlreiche andere,
so Marcus, welcher zum erstenmal die von dem Opera¬
teur zu überwindenden Schwierigkeiten klar formulierte :
1. Die Uebereinstinunung der Größe und Form von Lappen
und Oeffnung; 2. die schnelle Uehertragiing des Lappens;
3. die leichte Befestigung; 4. die Verhinderimg des Hervor-
stürzens der inneren Teile des Auges aus der Oeffnung.
Strauch bediente sich eines doppelten Starmessers, Stein¬
berg eines trepanartigen Instrumentes.
Alle diese Bemühungen führten zu keinem Ergebnis,
so daß es nicht wundernehmen kann, wenn die Frage nach
Desmarres, welcher gleichfalls Kaninchenkornea über¬
pflanzte, durch fast dreißig Jahre zu voller Rulie kam und
erst in neuerer Zeit wieder auftanchte. Erst 1872 kam die
Angelegenheit wieder in Fluß durch einen Vortrag, den
Power auf dem internationalen Ophthalmologenkongreß zu
London hielt, insbesondere aber durch v. Hippel, welcher
1877 über seine Versuche berichtete. Während die früheren
Versuche fast ausschließlich nur an Tieren ausgeführt
werden, berichtete Power, daß er an zwei Kindern die
Keratoplastik mit Kaninchenkornea wollzogen habe. Es er¬
folgte Einheihmg, aber Trübung der Lappen, v. Hippel
transplantierte Hundekornea auf die trübe Hornhaut des
Menschen, mit dem gleichen negativen Ergebnis. Den ersten,
allerdings nur vorübergehenden Erfolg erzielte S eil er¬
be ck^) 1878, welcher auf die leukomatöse Kornea eines
durch Ophthalmogonorrhoe erblindeten Mannes die Kornea
eines 2i/4jährigen Mädchens pfropfte, dessen Auge wegen
Glioma retinae entfernt werden mußte. Der Lappen heilte
reaktionslos ein, die durchsichtige Linse befand sich an
WIENER KLINISCHE WOCIlENSCIIRiFT. 190?.
Nr. B
02
ihrem Orte, der Kranke konnte am 14. Tage mittelgroße
Schrift erkennen, jedoch am 21. Tage trübte sich der
Lappen vom Rande her, und das Sehvermögen schwand
wieder vollkommen. Fünf IMonate nach der Operation war
das transplantierte Hornhantstück, wie Schweigger^) mit¬
teilte, durchwegs stärker getrübt als der stehengebliehene
Randteil des Leukoms. Auch die später aiisgeführten Opera¬
tionen, so von Fuchs^) u. a., hatten das gleiche Schick¬
sal, die Lappen heilten größtenteils ein, trübten sich aber
gleich oder nach wenigen Tagen. Durch diese andauernden
Mißerfolge wurde die Operation neirerdings aufgegeben,
wenigstens insoweit sie optische Zwecke verfolgte; es er¬
schienen in den letzten Jahren keine weiteren Veröffent¬
lichungen in der Literatur. Dagegen hat man sie nach dem
Vorgänge von Fuchs in anderer Richtnng nutzbringend
zu verwerten getrachtet, näjwlich bei ektatischen Homhaut-
narben und ährdichen Hornhautprozessen, um eine solidere
Vernarbung zu erzielen, also in einer ganz neuen Richtung,
welche mit dem ursprünglichen Zwecke der Keratoplastik
nichts gemein hat.
gleicher Zeit bereits e i n h ö c h s t e r f r e u 1 i c h e s Seh¬
vermögen: Fingerzählen auf 3V2 ni, Jäger Nr. 19, welches
sich im Verlaufe der nächsten Zeit noch wesentlich hob.
Ini Juni 1906 betrug es Vöo, -kiger Nr. 16. Gegenwärtig wird
V.50 Ziffern unterschieden, Jäger Nr. 15 auf 8 cm, von
Jäger Nr. 12 einige Buchstaben. Mit Konvexgläsern ist das
Sehvermögen noch besser: mit convex 4 Dioptr. Vso sehr
gut, mit convex 8 Dioptr. Jäger Nr. 10. Dr. Meller, 1. Assi¬
stent an der Klinik des Hofrates Fuchs, hatte die Güte,
gelegentlich der Vorstellung meines Falles an der Klinik
am 14. Dezember 1906, Leseproben anzustellen. Er er¬
mittelte: „Mit stenopäischer Lücke Vse? (»och besser O
+ 5), in der Nähe mit starken + Gläsern (+16 bis +20)
Jäger Nr. 6 gut, Jäger Nr. 4 mühsam. Fundus sehr leicht
sichtbar.“ Das Gesichtsfeld hat eine normale Ausdehnung.
Der Mann geht wieder seiner Beschäftigung vor der Erblin¬
dung als Kleinhäusler nach, schneidet Gras, füttert und
putzt sein Vieh, reinigt den Stall, macht allein seine Wege
und Reisen (z. B. aus seiner Heimat zu mir nach Olmütz,
orientiert sich in der ihm fremden Stadt usw.).
Hier schließt nun in der Zeitfolge mein eigener FälR)
an, dem auch meinerseits vergebliche Versuche voraus¬
gegangen sind, bei welchem zum erstenmal ein blei¬
bendes Ergebnis erzielt wurde. Der Mann, den ich die
Ehre habe hier vorzustellen, wurde von mir an beiden
Augen am 7. Dezember 1905, also vor mehr als Jahres¬
frist operiert. Er war infolge einer schweren Kalkver¬
ätzung bis auf Lichtempfindung auf beiden Augen voll- i
kommen erblindet, beide Hornhäute dicht weißgrau, völlig
undurchsichtig, nur die oberen Randpartien leicht durch¬
scheinend. Das Pfropfmaterial wurde dem Auge eines elf¬
jährigen Knaben entnommen, das nach einer Eisensplitto«;
Verletzung entfernt werden mußte. Acht Tage nach der
Operation waren die transplantierten Lappen in beiden
Augen noch klar, doch nur mit dem linken wurden Finger
gezählt. Nach weiteren zehn Tagen traten im rechten Auge
Schmerzen auf, unter Vermehrung der Tension wölbte sich
die leukomatöse Kornea in Form eines Kegels hervor, dessen
Spitze der ziemlich durchsichtig gebliebene überpfropfte
Lappen bildete. Nachdem auch eine Sklerotomie kein Auf¬
hören der Schmerzen bewirkt hatte, trug ich die Spitze des
erwähnten Konus einschließli(di des Lappens ab, worauf sich
der Rrdbiis l)ernhigte. Am linken Auge bestand zu
Der eingepfropfte Lappen markiert sich als eine
schwarze Scheibe, wie ein Guckfenster, inmitten der weiß-
grauen, vollkommen undurchsichtigen Umgebung, er hat
genau seinen ursprünglichen Durchmesser von 5 mm und
ist vollkommen durchsichtig. Nur in seiner unteren
Hälfte befindet sich eine bloß bei fokaler Beleuchtung
erkennbare, überaus zarte, oberflächliche Trübung,
i welche seit Monaten völlig stationär geblieben ist. Man
unterscheidet den inneren-oberen, mit der Hinterfläche des
Lappens anscheinend verwachsenen Rand der Pupille, an
welchem die blaugraue Iris in ihren feinsten Details erkenn¬
bar ist. Wie man sich mit der Sonde überzeugen kann,
besitzt der Lappen Sensibilität. Von Interesse ist ferner
das Verhalten der Gefäße, welche an der Oberfläche des
Leukoms sich verzweigen. Das stärkste kommt von außen
unten aus der Bindehaut und verzweigt sich büschelförmig
bis gegen den Rand des Lappens, ihn, mit zwei Endästchen
unten und außen oben umkreisend. Auch unten und innen
liegt ein ganz feines Gefäßstämmchen auf dem Leukom,
welches bis an den Rand des Lappens heranzieht. Aeußerst
dünne Gefäße befinden sich im oberen Teile der narbigen
Kornea. Alle diese feinen Gefäßverästelungen
hören am Rande des Lappens auif, ohne seinen Rand
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIET. 1907.
{);>
ZU ühersclireileii, so ersclieiut es weuigstens bei einfacher
Fokal beleuclitung. IVlit dem Koniealmikroskop ist aber das
Bild ein anderes. Man sieht, daß. die konjunktivale üeck-
schichte, welche die Gefäße enthält, glatt über den Lappen
hinüberzieht und feinste Gefäßästdien, ihr folgend, die Ober¬
fläche der ganzen unteren Lappenhälfte überziehen, nur die
obere, auch oberflächlich absolut klare und glatte Hälfte
des l^appens erscheint vollkommen gefäßlos. Die tieferen
Schichten des Lappens zeigen überall vollkommene Durch¬
sichtigkeit und keine Spur von Vaskularisation. Die Grenze
des Lappens gegen seine undurchsichtige Umgebung bildet
eine äußerst schmale, seimigweiße Kreislinie, die aber nur
innen oben deutlicher ist, als Ausdruck der neugebildeten
Verbindungsschichte zwischen Lappen und Mutterboden.
Bei Durchleuchtung mit dem Augenspiegel läßt sich
erkennen, daß die Linse in situ geblieben und vollkommen
ungetrübt ist, man unterscheidet deutlich die nor¬
mal beschaffene Papille.*)
Wenn es nun beinahe ein Jahrlnmdert gedauert hat,
bis der geniale Gedanke Reisingers trotz tausendfacher
Versuche und der Bemühungen einer langen Reihe von
Forschern sich in der Tat verwirklichte, so ist es gewiß von
höchstem Interesse, den Gründen einer so verspäteten Er¬
füllung nachzugehen. Uns, die wir auf den Schultern der¬
jenigen Männer stehen, welche uns vorgearbeitet haben,
ist es heute weit leichter gemacht, ein Urteil darüber zu
fällen, weshalb ein Erfolg in früherer Zeit nicht erreicht
werden konnte. Dies gilt vor allem von den Bestrebungen
in den ersten Jahrzehnten nach Reisinger, wo der da¬
malige Stand der operativen Technik, insbesondere die
höchst mangelhafte Reinlichkeit bei den Operationen in
unserem Sinne, der Mangel eines geeigneten Insti'umentes
zur Trepanation, die noch unbekannte Chlorofornmarkose
die Möglichkeit eines Erfolges vollkommen ausschloß.* Wir
haben aus der historischen Einleitung ersehen, daß bereits
einzelne Männer sich bestrebt hatten, ein geeignetes In¬
strument zur Ausführung der Operation zu ersinnen. Denn
es mußte bald die Erkenntnis sich Bahn brechen, was zuerst
Marcus in klarer Form präzisierte, daß eine genaue Ueber-
einstimmung der Größe und Form von Oeffnung und ein¬
zusetzendem Lappen eine Conditio sine qua non eines Er¬
folges ist. Es rückt daher unsere Angelegenheit erst von
dem Zeitpunkte an in das Stadium des möglichen Gelingens,
wo der um die Förderung der Keratoplastik auch in anderer
Hinsicht hochverdiente v. Hippel in seinem Trepan mit
Uhrfederbetrieb (einer Verbesserung des von Darwin er¬
fundenen Hornhauttrepans) ein in jeder Hinsicht brauch¬
bares Instrument erfand. Es war dies 1887. Wenn auch jetzt
noch weder v. Hippel, noch andere zu einem Erfolge ge¬
langten, so liegt dies in anderen Umständen, die uns, mit
heutigen Augen besehen, als Fehlerquellen erscheinen
müssen. So vollführten z. B. die einen die Uebertragung
des Lappens mittels des mit Kammerwasser befeuchteten
Fingers. Andere wieder hauchten den Lappen an, um ihn
warm zu erhalten, oder es wurden desinfizierende Lösungen
„zur sorgfältigen Reinigung“ des Lappens verwendet, wovon
schon WagenmanrU) 1888 abgeraten hatte, und noch
Czermak rät in seinem Lehrbuche der augenärztlichen
Operationen, das eingesetzte Läppcheiii mit feingepulvertem
Jodoform zu bestreuen. Anderseits war das Losmachen
des aus trepanier ten Lappens mit Pinzette und
Starmesser allenthalben im Gebrauche, erscheint nur aber
als eine Haupt Ursache der Mißerfolge, da das Ge¬
lingen in allererster Linie von einer peinlichst genauen, mög¬
lichst idealen Uebereinstimmung von Bohrloch und Lappen
abhängt. Eine weitere Fehlerquelle liegt zweifellos auch in
der bis in die jüngste Zeit vorwiegenden Verwendung von
Tierkornea. Es ist geradezu überraschend, wie verhältnis¬
mäßig selten bisher eine geeignete Menschenhornhaut in
*) Hievon haben sich gelegentlich der Vorstellung des Falles in
Wien zahlreiche Fachkollegen, unter ihnen auch Hofrat Fuchs u. a.
überzeugt.
Verwendung kam. Und doch ist der Gedanke so naheliegend
und durch Erfahrungen auf anderen Gel)ieten der Trans¬
plantation gestützt, daß nur die in Schichtung und Dicke
und gewiß auch in den feineren Lebensvorgängen von tieri¬
scher Kornea verschiedene menschliche Hornhaut ein ge¬
eignetes Propfmaterial beim Menschen abgibt, besonders
dann, wenn sie von einem jugendlichen Individuum
stammt. Ich verkenne nicht die häufigen Schwierigkeiten
der Beschaffung solchen Materials, leide selbst darunter
höchst empfindlich, doch ist dies an jeder mit größerem
Krankenmaterial arbeitenden Augenklinik doch nur eine Zeit¬
frage, die um des Erfolges willen überwunden weiden muß.
Eine weitere Quelle der bisherigen ausnahmslosen Mi߬
erfolge sehe ich in einer oft planlosen Auswahl der Fälle,
indem man sich zumeist gerade an solche heranwagte, welche
einem Gelingen die größten Schwierigkeiten entgegensetzen
mußten, Augen mit gefäßarmen, schwieligen Leukomen und
destruierten Bimienmedien. Es sind ja die Einheilungsbedin¬
gungen in einer narbigen Kornea, welche — namentlich in
den tieferen Schichten — noch Reste ihrer ursprünglichen
Struktur besitzt, ferner bei noch vorhandener Vorderkammer
zweifellos um vieles günstigere, als in einer schwieligen
Hornhautnarbe, deren Rückfläche verflüssigter Glaskörper
berührt.
Es erübrigt mir noch, die Ursachen der bisher regel¬
mäßig eingetretenen L a p pent r Übung hinsichtlich der
Ernährungs Verhältnisse zu erörtern.
Gehen wir davon aus, wie wir uns unter normalen
Verhältnissen die Ernährung der zentral gelegenen Horn¬
hautpartie vorstellen, von welcher die Erhaltung ihrer
Struktur und daher auch ihrer Durchsichtigkeit abhängt,
so müssen wir uns zunächst sagen, daß ihr Stoffwechsel
und ihr Nahrungsbedürfnis äußerst gering sein muß. Sie
könnte bei ihrer Gefäßlosigkeit sonst nicht ihr Auslangen
finden mit der vom Rande her, aus den Randgefäßen dif¬
fundierenden Gewebsflüssigkeit, ihrer hauptsächlichsten
Nahrungsquelle, neben welcher in viel geringerem Maße die
Diffusion aus dem Kammerwasser in Betracht kommt
(Leber). Sie bedarf aber zur Erhaltung ihrer Integrität
des Schutzes der deckenden Zellschichten an ihren
freien Flächen. Aus den Untersuchungen Lebers imd
Wagenmanns wissen wir, daß Beschädigung derselben
— insbesondere des Endothels der Membran Descemeti —
zur Trübung führt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit,
den einzupfropfenden Lappen vor jedem Insult auf das
sorgfältigste zu sichern. Es kann aber das K a m in e r w a s s e r
noch in anderer Weise seine schädigende Wirkung
üben. In allen Fällen beobachtete man den Beginn der
Trübung vom Rande des Lappens her, oft unter starkem
Aufquellen desselben, was offenbar damit zusammenhängt,
daß das Kammerwasser von den Seiten her in den Lappen
eindringt. Es ist nun in hohem Maße wahrscheinlich, daß
derselbe in kürzester Zeit, wie v. Hippel annimmt, schon
nach wenigen Minuten durch eine fibrinöse Schicht mit
seiner Umgebung verklebt. Doch nur, wenn er tatsächlich
von diesen nur durch einen feinen Spalt ringsum getrennt
ist, wird die Verklehung eine so vollständige sein können,
daß das Kammerwasser abgehalten wird. Deshalb erscheint
mir auch die ausschließliche Verwendung des Trepans, mit
Ausschluß anderer Instrumente zur Freimachung des
Lappens, unerläßlich.
Allen diesen Voraussetzungen kann eine Tierkornea
im Menschenauge niemals gerecht wenlen.
Ein in dieser Weise richtig eingesetzter und gut pas¬
sender Lappen wird zunächst seine Durchsichtigkeit be¬
wahren, zu deren Erhaltung er nahezu keiner Stoffzufuhr
bedarf. Diese Genügsamkeit des Kornealgewebes erklärt die
bisherigen zahlreichen, rasch v o r ü b e r g e g a n g e n e n Er¬
folge. Denn schließlich hat auch die Anspruchslosigkeit des
Korneallappens hinsichtlich der Nahrungszufuhr seine natür¬
lichen Grenzen. Eine andauernde Uiderernährung muß zu¬
letzt doch, sei es nach Tagen oder günstigsten Falles nach
Wochen, molckulären Zerfall und somit Trübung herbei-
64
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
führen. Derart ist es denn auch bislier immer geschehen. So
berichtet Fuchs'^) über seine Fälle: „Der Verlauf der Heilung
war der gewöhnliche, daß nämlich nach einigen Tagen der
Lappen vom llande her sich trübte, dami Gefäße in den¬
selben eindrangen mid unter zunehmender Gefäßbildung
die Trübung vollständig wurde; späterhin trat in einigen
Fällen eine teilweise Wiederaufhellung des Lappens ein.
Der Beginn der Lappentrübung Avurde zumeist erst nach
dem dritten Tage bemerkt, ja in sechs Fällen erst nach
dem zehnten Tage, ln einem Falle war der Flornhautlappen
bis zum 15. Tage vollkommen klar geblieben.“
Die Trübung des Lappens wird nur dann ver¬
mieden bleiben können, wenn das umgebende Ge¬
webe noch über eine genügende Saftzirkulation
verfügt, um vom Bande her die Zufuhr des Er¬
nährungsmateriales zu besorgen, oder so weit
genügend vaskularisiert ist, daß das Nahr ungsbe¬
dürfnis des Lappens seine Befriedigung findet.
Aus diesen Gründen halte ich nur solche Leukome für ge¬
eignet zur Keratoplastik, bei welchen noch Reste der ur¬
sprünglichen Kornealstruktur, insbesondere in den tieferen
Lagen sich erhalten haben, während mir in wahrem Sinne
totale, also bis in die tiefsten Schichten durch Narben-
geAvebe substituierte Leukome Aveit Aveniger verheißungs¬
voll erscheinen.
Aus den feineren Details an dem hier vorgestellten
Falle glaube ich mit Recht Beweise für die ausgesprochene
Ansicht ableiten zu können. Wir haben gesehen, daß die
obere Hälfte des transplantierten Lappens auch in seiner
Deckschicht vollkommen Idar und gefäßlos ist, Avährend
an der Oberfläche der unteren von Anbeginn eine leichte
Trübung wahrzunehmen ist, welche, unter dem Koin.eal-
mikroskop besehen, sich in ein Netz feinster Gefäße jen¬
seits der Grenze der Sichtbarkeit mit dem bloßen Auge
auflöst. Wie läßt sich dieser Unterschied erklären? Die
Existenzbedingungen, die der Lappen nach seiner Einpflan¬
zung vorfand, Avaren jedenfalls die denkbar günstigsten.
Es kann nach dem Endergebnis nicht bezweifelt werden,
daß er vom Anbeginn nicht nur seiner Umgebung genauest
angepaßt Avar, sondern auch keine Einbuße der schützenden
Zellschichten der vorderen und hinteren Fläche erlitten
hatte. So entging er der Trübimg beAvirkenden Einwirkung
des Kammer Wassers. Für sein genaues Einpassen in die
Bohröffnung spricht ferner die äußerst scliAvache Ausprä¬
gung der Aveißen Kreislinie, Avelche als Ausdruck der neu¬
gebildeten Verbindungsschicht einen transplantierten Kor-
neallappen immer mngrenzt und zu obigem im Gegensatz
bei verfehlten Transplantationen als relativ breiter Saum
sich markiert. Aber es nmßte der eingepfropfte Lappen
in meinem Falle auch vom ersten Anfang an aus seiner
Umgehung genügendes Erjiährungsmaterial empfangen
haben; so konnte er nicht nur einheilen, sondern auch
durchsichtig bleiben, indem er sich seinen physiologischen
Charakter beAvahrte. Wir Avissen, daß die normale Kornea
gefäßlos ist und es bleibt, solange sie unter physiologi¬
schen Bedingungen steht. Auf jede Veränderung der letz¬
teren reagiert die Umgebung durch das Hineinsprossen von
Gefäßen, da nur die normale Hornhaut bei Gefäßlosigkeit
bestehen kaim, jede pathologische Veränderung
einen größeren Stoffbedarf in sich begreift, als
er durch Diffusion gedeckt werden kann. Daher
sehen Avir bei den stofflichen Veränderungen der tieferen
Schichten bei Keratitis parenchymatosa tiefe Gefäße in die
Kornea hineinsprossen, während oberflächliche Gefäße alle
in den oberen Kornealschichten tablaufenden Krankheits¬
vorgänge begleiten. Von denjenigen Gefäßen aus, Avelchen
iiormalerAveise schon der Transport von Ernährungsmate¬
rial bis zum Rande der Kornea obliegt, von avo aus es
durch Diffusion Aveiterbefördert wird, wachsen auch die
neugebildeten Gefäße in die betreffenden Schichten hinein,
um sie vor dem Zerfall zu bewahren und sich daim erst
wieder rückzubilden, wenn der physiologische Tiefstand der
Stoffzirkulation wieder genügt. Die regelmäßig vorhandene
Vaskularisation an der Oberfläche von Hornhautnarben er¬
klärt sich eben auch daraus, daß in diesen wegen ihrer
dichteren Beschaffenheit Diffusion zur Erlialtung nicht aus¬
reicht, so daß direkte Nahrungszutühr durcli Gefäße nötig
AAÜrd. Wo unter pathologischen Verhältnissen Gefäße nicht
Zeit finden zu genügendem Vordringen, tritt eitriger Zer¬
fall, soAvie Nekrose ein (GescliAvür).
Die gleichen Voraussetzungen dürften nun auch für
den transplantierten Korneallappen Geltmig haben. Weil er
in meinem Fälle stets aus den tieferen Schichten der in
ihrer Struktur nicht gänzlich veränderten Umgebung offen¬
bar genügende Stoffzufuhr erhielt, blieb er klar, erhielt
sich seinen physiologischen Charakter und es kam nie zur
Vaskularisation durch tiefe Gefäße. Nur in seiner unteren
Partie ziehen zarteste, oberflächliche Gefäße auf ihn hin¬
über, all dies Avohl im Zusammeidiang damit, daß der Lappen
oben an den noch besterhaltenen Teil der Kornea angrenzte,
der bei der Kalkverätzung einigermaßen durch das obere
Lid geschützt Avar und wo geAviß- noch ursprüngliche Textur
und Saftströmung am besten erhalten geblieben war (ich
erinnere daran, daß der Kornealrand oben noch leicht durch¬
scheinend geblieben Avar). Der untere Teil des Lappens
grenzte dagegen an durch die vorausgegangene Kalkver¬
ätzung tiefer zerstörte Partien, welche der Oberfläche des
Lappens eine mindere Ernährung bieten mußten. Deshalb
gingen hier feinste Gefäße auf den Lappen über. Diese Er¬
wägungen scheinen mir von großer TragAveite in prognosti¬
scher Beziehung und geben mir vielleicht die Berechtigung
zu der Behauptung, daß in einem gefäßarmen Leukom nach
vollständiger Zerstörung der Kornea bis in die tiefsten
Lagen hinein ein transplantierter Lappen über¬
haupt nicht durchsichtig bleiben wird, solange
es nicht gelingt, das Leukom selbst in seiner
Textur insoweit zu verändern, daß es dem Ernäh-
rungs'bedürfnis eines transplantierten Lappens dauernd ge¬
nügt. Man sollte daher zunächst nur solche Fälle zur Ope¬
ration auswählen, bei welchen die tieferen Lagen der
Kornea noch teilweise erhalten sind, also Fälle von Ver¬
brennung, KalkA^erätzung, schwerem Pannus, nicht allzu tief
greifenden Narben nach Geschwüren, hingegen Fälle vor¬
läufig noch ausschließen, in welchen man nicht mehr von
narbig getrübter Kornea sprechen kann, sondern eine schwie¬
lig-schwartige, meist ektatische Narbe an die Stelle der gänz¬
lich zerstörten Kornea getreten ist.
Die Ersetzmig solch Narbengefüges durch Plastik, ich
möchte sie Na r b e n p 1 a s t i k nennen im Gegensatz zur Horn¬
hautplastik (Keratoplastik) im getrübten Kornealgewebe, hat
eine dauernde Veränderung des Narbengewebes in oben
angedeutetem Sinne zur A'oraussetzung, wenn ein Erfolg
die Mühe krönen soll. InwieAveit dies möglich mid erreich¬
bar ist, wird die Zukunft lehren. Ich habe bereits zur Er¬
reichung dieses Zieles an anderer Stelle^) einen Vorschlag
gemacht und ilni in einem Falle auch seiÜier zur Ausfüh¬
rung gebracht. Ich trug um die stehengelassene Mitte des
Leukoms, den Ort der später auszuführenden Pfropfung,
die oberflächlichen Schichten des Leukoms mit dem Lan¬
zenmesser ab und nähte hierauf die am Limbus zirkum-
zidierte und lospräparierte Augapfelbindehaut durch eine
Tabaksbeutelnalit rings um die Mitte fest. An dieser Avar
in der nächsten Zeit eine deutliche Sukkulenz nicht zu
verkennen. Leider fehlte mir bis heute ein geeignetes Pf ropf-
material, um erproben zu können, ob die sichtlich saft¬
reicher gcAvordene Narbe einen transplantierten Lap¬
pen ernähren würde. Eine staphylomatöse Narbe müßte
zuvor durch Exzision flacher gemacht Averden, bevor an
diese präparatorische Bindehautplastik geschritten
werden könnte. Auch nach Ausführung der letzteren müßte
einige Zeit verstreichen, bis die nach' Aufheilung der Binde¬
haut auf das Leukom eintretende starke Schwellung und
Hyperämie vorübergegangen ist, doch wieder nicht allzu
lange, da jedenfalls die auf das Leukom transplantierten
Gefäße sich wieder zurückbilden müssen, weil ihnen ohne
darauffolgende Narbenplastik eine zweckmäßige Bestim-
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
65
mimg fehlt. Rechnet man die unvermeidliche Wartezeit
hinzu, bis geeignetes Material zur Plastik zur Verfügung
kommt, so ergibt sich wohl stets das Erfordernis eines
längeren Zeitraumes. Ferner wird angesichts der nicht ge¬
ringen technischen Schwierigkeiten die Keratoplastik wohl
stets nur ein Wirkungskreis besten operativen Könnens sein.
Das Hi nein wachsen der Gefäße aus dem Konjunktivalüber-
zug des Leukoms in den eingesetzten Hornhautlappen fürchte
ich nicht. Jene sollen nur die Emährungsverhältnisse im
Umkreis des Lappens heben und werden in ihn nach meinen
obigen theoretischen Voraussetzungen nicht hineinsprossen,
wenn er durch ausreichende Saftzirkulation sich die phy¬
siologische Eigenart des Hornhau tgewehes zu wahren ver¬
mag. Eine Beobachtung möchte ich hier nur kurz erwähnen,
welche ich an einem anderen Fälle von Keratoplastik als
dem hier vorgestellten machte. Es trat vom ersten Tage
an Trübung des Lappens auf, welche von reichlicher Vas¬
kularisation gefolgt war. Nach Rückbildung derselben hellte
sich die Trübung zwar einigermaßen auf, doch zu wenig,
um eine nennenswerte Besserung des Sehvermögens zu
bewirken. Einige Monate nachher war unzweifelhaft zu be¬
merken, daß die Umgebung des Lappens, also die stehen¬
gebliebene Randzone des Leukoms, deutlich heller geworden
war, ein Verhalten, das sich durch den entzündlichen Reiz
des transplantierten Lappens auf seine hiedurch einem stär¬
keren Stoffwechsel ausgesetzte Umgehung erklärt. Eine
ähnliche Beobachtung scheint bereits Desmarres (nach
V. Hippel^) gemacht zu haben, nach welchem der prak¬
tische Wert der Keratoplastik darin bestünde, daß das
Sehen nicht durch den aufgepflanzten Lappen, sondern
durch die alte Hornhaut vermittelt wird, welche sich „re¬
produziert“.
Nach allen diesen Erwägungen ist somit durch den
von mir erzielten operativen Erfolg die ganze Frage der
Keratoplastik noch keineswegs endgültig gelöst, er bedeutet
nur den augenblicklichen Schlußstein in der langen Kette
der bisherigen Versuche. Ich hege jedoch nach meinen
Erfahrungen und theoretischen Erwägungen die feste Ueber-
zeugung, daß es gelingen wird, die ganze Etage befriedigend
zu lösen. Wurde ja überhaupt an die Möglichkeit, trans¬
plantierte Kornea durchsichtig zu erhalten, angesichts der
bisherigen ausnahmslosen Mißerfolge nicht mehr geglaubt.
Die drohende Klippe der anscheinend unvermeidlichen
Schädigung durch das Kammerwasser veranlaßte v. Hip¬
pel,'^) auf die partielle Keratoplastik Mühlbauers zu¬
rückzugehen; Salzer®) behauptete die Unmöglichkeit eines
optischen Erfolges der Keratoplastik, weil der Lappen re¬
sorbiert und ’’durcJh hinein wachsendes Narbengewebe aus
der Umgebung ersetzt werden müsse, Fuchs^) sah in der
organischen Einwachsung die Ursache der Vaskularisation
und Trübung. Ich zitiere nur als Beispiel zaKl reicher ähn¬
licher Aussprüche die Worte von Schweigger:®) ,,Daß
eine transplantierte Kornea überhaupt anwächst, ist alles,
daß sie auch noch durchsichtig bleiben soll, ist mehr, als
wir erwarten können. .Ta, wenn es ein Stück Glas wäre !
Eine aus so vielfachen Gewebselementen zusammengesetzte
Membran, wie die Kornea, kann nur durchsichtig sein unter
der Bedingung einer wunderbaren Gleichheit der Brechungs¬
exponenten aller ihrer einzelnen histologischen Bestand¬
teile. Daß aber diese hohe physiologische Vollkommenheit
auch erhalten bleiben sollte unter so gewaltsam veränderten
Emährungsbedingungen, wie sie die Transplantation setzt,
scheint denn doch über die Leistungsfähigkeit der Natur
hinauszugehen.“
Durch den hier vorgestellten Fäll, bei welchem schon
mehr als ein ganzes Jahr die Durchsichtigkeit des über¬
pfropften Lappens unverändert erhalten blieb, dieser sich,
wie die genaue Untersuchung mit dem Kornealmikroskop
ergibt, in fester organischer Verbindung mit seiner Um¬
gebung befindet, also gewiß von einem Dauererfolg mit
Recht gesprochen werden kann, ist der positive Beweis
erbracht — und darin liegt die Bedeutung desselben —
daß die Keratoplastik einen optischen Erfolg
bringe nkann; so steht zu hoffen, daß er zum Ausgangs¬
punkt weiterer erfolgreicher Bestrebungen werden wird,
welche diesen bisher sterilen Zweig der operativen Augen¬
heilkunde zu einem fruchtbaren gestalten mögen!
*
Nachtrag. Die wesentlichen Punkte, auf die es mir
bei der Keratoplastik anzukommen scheint, soweit mir ans
eigenen fehlgeschlagenen Fällen und dem einzigen gelun¬
genen Falle Schlüsse zu ziehen erlaubt ist, sind in kurzer
Zusammenfassung des Vorstehenden folgende:
1. Ausschließliche Verwendung von Mensch-enkornea,
möglichst von einem jugendlichen Individuum und nur von
einem solchen Auge, dessen Kornea noch in günstigem
Ernährungszustand sich befindet.
2. Ausschließliche Verwendung des Trepans v. Hip¬
pels zur Operation. Eserininstillation vor der Operation,
wenn noch die vordere Kammer besteht.
3. Tiefe Narkose, strenge Asepsis, keine Antiseptika.
4. Der Lappen wird zwischen zwei mit steriler, phy¬
siologischer Kochsalzlösung befeuchteten Gazeläppchen über
warmen Dämpfen bis zur Verwendung aufbewahrt, durch
Aufklappen des tTazeläppchens in die Bohröffnung ge¬
bracht. Instrumente sind zu vermeiden.
5. Erhaltung des transplantierten Lappens in seiner
Lage durch zwei über ihm sich kreuzende Fäden, welche
durch die Conjunctiva bid bi gezogen werden (Kreuznaht).
6. Auswahl geeigneter Fälle, eventuelle vorbereitende
Eingriffe. Eine bisher noch nicht auf ge stellte In¬
dikation zur Keratoplastik könnten auch nur zentral
gelegene Narben abgeben, insbesondere wenn sonstige
Komplikationen fehlen. Nach Anstrepanierung der Narbe
würde der transplantierte Lappen von wenig veränderter
Kornea umgeben — ähnlich den Kanincheuversuchen W a-
genmanns — die denkbar günstigsten Ernährungsbedin¬
gungen vorfinden und deshalb die beste Aussicht hin¬
sichtlich des optischen und kosmetischen Er¬
folges geben, was von der optischen Iridektomie und Irido¬
tomie keineswegs immer gilt, da die Kornea vor dem anzu¬
legenden, immer exzentrischen Koloboma selten ganz klar ist.
Bei Keratoplastik könnte in solchen geeigneten Fällen die
Pupille wieder als Sehloch funktionieren und deshalb ein
vorzügliches Sehvennögen wieder erzielt werden.
Solche zentrale Narben entstehen bekanntlich nach
septischen Hornhautgeschwüren, deren fast ausnahmslos
zentraler Sitz dafür zu sprechen scheint — was übrigens
schon a priori vorauszusetzen ist — daß die Ernähnrngs-
bedingungen auch unter physiologischen Verhältnissen im
Zentmm der Kornea, wo sie auch dünner ist, minder gün¬
stig sind als am Rande, wo Erosionen deshalb leichter
heilen und daher seltener in Geschwüre septischen Charak¬
ters sich venvandeln. Sollte darin ein Hinweis liegen —
ein Gedanke, welchen auch Fuchs im mündlichen Ge¬
spräche mit mir ausdrückte — daß die periphere Kornea
ein besseres Pf ropf material abgibt als die zentrale?
Tatsächlich war in meinem erfolgreichen Fälle erstere zur
Verwendung gekommen. Auch könnte daran gedacht wer¬
den, die Traüsplantation dann etwas exzentrisch vor¬
zunehmen, wenn an einem Rande noch restliches Hornhaut¬
gefüge als durcihschemender Saum erhalten blieb, näher
dem letzteren.
Die beigegebene Photographie wurde am 10. Dezem¬
ber 1906, also mehr als Jahresfrist nach der Operation
auf genominen.
Literaturübersiclit;
9 V. Hippel, Archiv für Ophthalmolog. 1877, Bd. 23,11.—
9 Seiler beck, Archiv für Opbthalmolog. 1878, Bd. 2 t, IV. —
Schweigger, Archiv für Ophlhalmolog. 1878, Bd. 2-k, IV.
9 Fuchs, Wiener klin. Wochenschrift 1894, Nr. 45. — 9 Zi rm, Archiv
für Ophthalmolog. 1906, Bd. 64, HI. — 9 Wagen mann, Archiv für
Onhthaliuolog. 1888, Bd. 34,1. — 9 v. Hippel, Archiv für Ophthalmolog.
1888, Bd. .34, I. — ®) Salzer, lieber den künstl. Ilornhautersatz 1898.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
CO
Aus der I. medizinischen Klinik in Budapest. (Direktor:
Prof. Friedrich v. Kordnyi.)
Ueber metamere Sensibiiitätsstörungen bei
Gehirnerkrankungen.
Von Dr. Heliiricli Beiicdictj vormaligem I. Assislenlen
Die j\Iögliclikeit metainer aiigeordnetcr Seiisibilitäls-
störungeii bei zerebralen iierdeii kam zum ersten Male ge¬
legentlich einer Diskussion in der neurologischen Sektion
der „Budapester Gesellschaft der Aerzte“ zur Sprache/)
welche sich im Anschlüsse an einen Vortrag Schaffers,
,,Ueher die zerebralen Sensibilitätsstörungen vom klinischen
und anatomischen Gesichtspunkte“ entwickelte. Schaffer
hatte bezüglich der Verteilung der Sensibilitätsstörungen drei
Typen unterschieden: 1. die insuläre Form; 2. die wirk¬
liche Hemianästhesie, bei welcher entweder eine ganze
Körperseite anästhetisch wird oder aber an den Extremi¬
täten distalwärts immer stärker vorschreitet; 3. die doppel¬
seitige Hemianästhesie oder Anästhesie des ganzen Körpers,
eine Form, die nur selten zugleich mit doppelseitiger Hemi¬
plegie zur Beobachtung gelangt.
Ich bemerkte hierauf, daß als vierte und fünfte Form
noch zwei, bisher nicht gewürdigte Typen hinzngefügt
werden könnten: die eine ließe sich die pseudopontine
nennen, indem sie die Hemianaesthesia cruciata nachahme.
Ich hatte diese zweimal bei Frauen mit schmerzhaften
Großhirntumoren heohachtet, die neben Hemiparese und
distalwärts zunehmenden Hypästhesien der gekreuzten Ex¬
tremitäten an der erkrankten Seite eine oherflächliche Kopf¬
haut- und Gesichtsanästhesie besaßen, welche alle Charak¬
tere der hysterischen Gefühllosigkeit besaß und mit den
gleichzeitigen Kopfschmerzen an Intensität und Ausdehnung
zun ahm.
Der andere Typus ist der pseudo spinale oder me-
taniere. An der 1. medizinischen Klinik war ein Fall zur
Aufnahme gelangt, in welchem die Hemianalgesie zu un¬
serer Ueberraschung exquisitest segmentäre Verteilung auf¬
wies — eine Beobachtung, wie sie bisher noch nicht ge¬
macht worden war. Durch sie schien eine Tatsache er¬
schüttert, die dem eisernen Bestände unserer neurologischen
Diagnostik anzugehören schien.
Es galt als ausgemacht, daß hei Erkrankung peri¬
pherischer Nerven das anästhetische Gebiet dem anatomi¬
schen Innervatioiisbezirke derselben entspreche. Bei Erkran¬
kungen der sensiblen Wurzeln und des Rückenmarkesi
kommt der spinal-metarnere Charakter der Sensihilitätsstö-
rung zum Ausdruck: die anästhetischen Partien am Rumpfe
sind gürtelförmig, diejenigen an den Extremitäten streifen¬
förmig und verlaufen im ganzen und großen parallel der
Extremitätenachse. Bei Erkrankungen der höheren sensiblen
.Neurone : der Schleifenbahn, der thalamo-kortikalen Bahnen
und der sensorischen Rindenfelder, werden gewisse Ab¬
schnitte der Extremitäten — Finger, Hand, Fuß, Unterarm,
Unterschenkel — anästhetisch. Gewöhnlich ist die An¬
ästhesie an den am stärksten gelähmten Extremitäten¬
abschnitten am intensivsten und nimmt — der Verteilung
der Lähmung entsprechend — distalwärts zu. Die anästhe¬
tischen Partien lassen sich von den normal empfindenden
durch eine zirkuläre Linie abgrenzen, welche zur Extremi¬
tätenachse mehr weniger senkrecht steht. Da den moto¬
rischen Rindenfeldern und den von ihnen ausgehenden Pro¬
jektionsfasern bloß Beziehungen zu den einzelnen Extremi¬
täten und Extremitätenabschnitten zuerkannt werden, war
es naheliegend, auch für die sensorischen Funktionen
eine ähnliche kortikale Repräsentation nach Extremitäten¬
abschnitten anzunehmen.
Mit dieser Annahme schien nun die metamere An¬
ordnung der Gefühlstörung in unserem Falle in Widerspruch
zu stehen — und da Russel und Horsley^) in einer
b Neurologischos Zeiilralblalt 1905, S. 591.
*) Note on apparent re-representation in the cerebral corlex of
the type of sensory representation, as it exists in the spinal cord. Brain,
190G, S. 137.
jüngst erschienenen, weiter unten näher zu hesprechenden
Arbeit gleichfalls zu dem Schlüsse gelangten, daßidie spinale
Repräsentation des Tastsinnes in den sensorischen Rinden¬
feldern ihr Echo finde (that the spinal representation of
tactility finds an echo int the arrangement of that function
in the sensory cerebral cortex), halte ich es für aktuell, den
Fall in extenso mitzuteilen.
Johann H., 47jähriger Feldgendarni. Aufgenonnnen am
8. November 1904. Die Familienanamnese des Kranken enthält
nichts Bemerkenswertes. Er hat mit 23 Jahren Gonorrhoe und
mit 43 Jahren einen Schanker akquiriert. Ob sekundär syphilitische
Symptome vorhanden waren, weiß er nicht anzugeben, doch
wurde er mehrere Wochen lang mit Quecksilberinunktionen be¬
handelt.
Vor zwei Monaten l)egann er sich matt zu fühlen und über
Kopfschmerz zu klagen. Vor einem Monate wurde er auf freiem
Felde plölzlich vom Schwindel übermannt; er sank zusammen
und wurde in fast bewußtlosem Zustande auf einem Leiterwagen
nach Hause befördert. Ins Bett gebracht, schwand sein Bewußt¬
sein ganz. Nach 14 Stunden kam er zu sich, hatte aber starke
Kopfschmerzen, konnte bloß schwer verständlich sprechen und
die linken Extremitäten nicht bewegen. Das linke Augenlid hing
herab, das Schlucken war erschwert, im linken Ohre fühlte er
beständiges Sausen. Die ganze linke Seite war so gut wie ge¬
fühllos. Nach drei Tagen begann die Beweglichkeit der ge¬
lähmten Glieder zurückzukehren, so daß er nach weiteren zehn
Tagen das Bett verlassen konnte. Doch konnte er das linke
Lid noch immer nicht gut lieben, das linke Bein wurde nach¬
geschleppt, der linke Arm hing herab. Die Sprache besserte
sich ziemlich rasch, doch war das Schlucken weiterhin mit
Schwierigkeiten verbunden. Während des Gehens fürchtete er
nach links zu fallen, das linksseitige Ohrensausen ([uälte ihn
gleichfalls Aveiter, ebenso die Gefühllosigkeit der linken Seite.
Trotzdem die Gehfähigkeit im Laufe der nächsten zwei Wochen
immer mehr zunahra, suchte er auf Anraten seines Arztes die
1. medizinische Klinik in Budapest auf.
Status praesens: Hochgewachsener, kräftiger, gut ge¬
nährter Mann. Muskulatur voluminös, stramm, Fettpolster erhalten.
Am rechten Ellbogen eine psoriatische Plaque. Am Hals kleine
Drüsen. Brustkorb gewölbt, Atmung normal. Puls 68 pro Minute,
mittelvoll und von mitllerer Spannung, Gefäßwand ziemlich weich.
Lungen- und Herzgrenzen normal. Keine auskultatorischen Ab¬
weichungen. Ini iVhdomen nichts Ahnormes. Harnmenge 1400 cnF
in 24 Stunden, spez. Gewicht 1018, eiweiß- und zuckerfrei ; schwach
sauer; keine abnormen Sedimentbestandteile.
Nervensystem: Das linke Augenlid hängt liefer herab
als das rechte; es reicht bis zur Mitte der Pupille und kann bloß
unter forcierter Zuhilfenahme des Musculus frontalis ganz ge¬
hoben werden. Die Bulbushewegungen sind frei. Kaubewegungen
normal. Die Stirne kann in Längs- und Ouerfalten gelegt werden ;
die linke Augenlwaue ist gewöhnlich hochgezogen. Die rechte
Nasolabialfalte ist etwas ausgeprägter als die linke. Beim Sprechen,
Zähnezeigen, beim Auf blasen des Gesichtes, zeigt sich keine
Asymmetrie. Er kann pfeifen und die Labiallaute gut aussprechen.
Beim Schlucken fester Speisen ist größerer Kraftaufwand nötig,
beim Schlucken von Flüssigkeiten entsteht häufig Husten. Die
Zunge deviiert ein wenig nach rechts. Kopfhaltung normal, ebenso
die Kopfbewegungen.
Die motorische Kraft der linkeri Extremitäten ist ver¬
mindert, ihre Exkursionen sind gering, ihre Ermüdbarkeit groß.
Doch besteht in keiner IMuskelgruppe wirkliche Lähmung. Nirgends
Atrophie. Im Schulter- und Ellhogengelenk, noch stärker im Hüft-
und Kniegelenk, wird der passiven Bewegung ein gewisser Wider¬
stand entgegengesetzt. Das linke Bein wird heim Gehen nach¬
geschleppt, doch scheint auch das rechte ein wenig geschwächt.
Einfache Berührung wird am ganzen Körper, rechts ebenso¬
gut wie links gespürt. Schmerzgefühl ist bis auf sehr
starke Reize, auf der linken Seite nach nebenstehen¬
dem Schema aufgehoben. Das Gefühl für warm und kalt ist
links weniger lebhaft als rechts, doch vermag er Unterschiede
von zehn Graden anzugehen. Die Tliermohypästhesie der linken
Seite ist nirgends unterbrochen. Die Stereognosie der linken Hand
ist unvollkommen; Schlüssel, Uhr erkennt er; er vermag auch
einen Gulden von einer Krone, doch eine Krone nicht von einem
Zweihellerslücke zu unterscheiden. Lagegefühl der linken Extremi¬
täten ist unsicher; mit seiner linken Hand und seinem linken
Fuß ausgeführte i)assive Bewegungen kann er nur hei größeren
Exkursionen ii(ddig angelxm, keim' Ataxie, kein Tremor.
Reflexe: Die Pupillen sind gleich, reagieren gut; di('
Kornealreflexe sind vorhanden, Gaumenreflex nicht auslösbar.
Nr. 3
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Trizeps, Radial- und Ulnarreflex, Patellar- und Achillesselinen-
reflex links gesteigert, doch auch rechts stärker als normal. De-
fäkalion, Miklioii intakt, geschlechtlicher Verkehr wegen mangeln¬
der Libido Jiicht versucht. BauchdeckeiLreflexe vorhanden. Kie-
niasterreflex fehlt. Kein Bahinsky.
Geruchsinn intakt, Geschmacksempfindungen werden rechts
und links gleich mangelliaft angegehen. Visus rechts Vt, links 'Vis.
Augenhintergrund normal, Gesichtsfelder intakt (am 11. November
untersucht). Das linke Ohr hört das Ticken der Uhr in einer
Entfernung von 25 cm nicht mehr (die Stimmgabeluntersuchung
wurde nicht vorgenommen).
Die Sprache ist etwas schleppend, doch ist die Wort- und
Satzbildung nicht gestört. Kein Intelligenzdefekt.
auf eine Läsion des Pärietallappens (etwa in der Gegend
des Gyrus inarginalis') oder der von diesem ausigelienden
Stabkranzfasern schließen lassen. Doch kann maji die Be¬
teiligung des linken Ohres, das Taumeln nach 'links, die Arli-
kulations- und Schlingbeschwerden mit einem derartigen
Herde nur schwer in Einklang bringen. Zur Erklärung dieser
letzteren Symptome müßte man — da eine Beteiligung des
verlängerten Markes und der Brücke mangels gekreuzter
Symptome so gut wie ausgeschlossen ist — eventuell zur
Annahme eines zweiten, kleineren Herdes iu der linken
Hemisphäre greifen, da ja ein solcher oftmals genügt, um
beim Vorhandensein eines anderseitigen großiereiT Herdes
Verlauf: W'ährend seines lötägigen Aufenthaltes an der
Klinik zeigte sich stets fortschreitende Besserung. Die Beweg¬
lichkeit der linken Seite nahm zu; am 13. November bestanden
keine Schlingbeschwerden mehr, die Zunge deviierte nicht. Der
Bachenreflex war vorhanden. Ueher Gleichgewichtsstörungen
wurde nicht mehr geklagt. Das Temperatur- und Schmerzr
gefühl war auf der ganzen linken Seite zurückgei-
kehrt. Ptosis bestand noch in ganz geringem Grade. Die Spraclie
ist fast fließend zu nennen.
Die Behandlung bestand in Jodkalidarreichung.
Am 24. November wurde er auf eigenes Ansuchen entlassen.
Es handelt sich hier offenbar um eine organische Er¬
krankung der rechten Hemisphäre. Angesichts der einge-
slandenen Lues wäre am ehesten an einen akut einsetzenden
Gefäßverschluß zu denken. Doch stößt die nähere Lokali¬
sation des Herdes' auf kaum zu überwindende Schwierig¬
keiten. Das Ueberwiegen der sensiblen Störungen, welche
die Lähmung überdauerten und die Ptosis würden am ehesten
die Lähmungen der Schling- und Sprechmuskulatur, sowie
Gehörstörungen manifest zu machen. Eine sichere Lokali¬
sationsdiagnose ist um so weniger möglich, als die Sym¬
ptome bereits im Abklingen begriffen waren. Mag sein,
daß auch Hemianopsie bestanden hatte, was sodann die Mög¬
lichkeit einer Lokalisation im hintersten Abschnitte der
Capsula interna oder in der Regio subthal arnica nahelegen
könnte.
Doch liegt das hauptsächlichste Interesse des Falles
nicht in der Lokaldiagnose, sondern — wie erwähnt — in
der eigentümlichen Verteilung der Analgesie. Die Analgesie
der Kopf- und Gesichtshaut wird durch einen schmerzem¬
pfindlichen Streif unterbrochen, der die Vorderseite des
Ohres einnimmt und sich etwas verschmälernd zum Mund¬
winkel zieht. Sodann setzt sich die Analgesie auf Hals,
Brust, Rücken und obere Extremität fort, um an der Hals-
brustgrenze vorne und rückwärts scharf abzuschneiden.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
Diese untere Grenzlinie setzt sich sodann auf die obere
Extremität als Axiallinie fort und scheidet den Arm scharf
in eine präaxiale analgetische und eine postaxiaJe schmerz¬
empfindliche Hälfte. Erstere umfaßt die fünften bis siebenten
Zervikalsegmente, letztere die ersten bis- dritten Dorsal¬
segmente. Die Scheidung ist am Unterarme weniger scharf,
die Hand ist sowohl volar als auch dorsal analgetisch.
Am Rumpfe folgt gleichfalls ein schmerzempfindliches Band,
welches vorne bis zur Mamilla, rückwärts bis zum dritten
Dorsaldornfortsatz reicht und das erste) bis dritte Dorsal¬
segment umfaßt. An diese schließt sich eine analgetische
Zone an, die vorne bis zum PToceslsus xiphoideus, rück¬
wärts bis zum zehnten Dornfortsatz reicht und sodann eine
schmerzempfindliche, die etwa dem siebenten und neunten
Dorsalsegment entspricht. Unterhalb dieser beginnt wieder
eine ausgedehnte Analgesie, die den Unterleib und die ganze
untere Extremität umfaßt; bloß der innere Teil des Unter¬
schenkels ist schmerzempfindlich und schneidet gegen das
analgetische Gebiet an der typischen Grenzlinie zwischen
dem sakralen und lumbalen Wurzelterritoriam scharf ab.
Die Hemianalgesie wird also durch vier schmerz¬
empfindliche Gebiete unterbrochen. Diese sind:
1. Das Gebiet des unteren Trigeminusastes;
2. die erste bis dritte Dorsalzone;
3. die siebente bis neunte Dorsalzone, und
4. die vierte Lumbalzone.
Es erleidet demnach keinen Zweifel, daß die
Hemianalgesie bei Läsionen der zentralen, sen¬
siblen Elemente exquisit segmentäre Anordnung
aufweisen kann.
Bevor ich auf die Bedeutung dieses Befundes eingehe,
soll kurz über die eingangs erwähnte Studie Bussels und
Horsleys berichtet werden.
Horsley hatte in Uebcreinstimmung mit anderen
Autoren das charakteristische der zentralen Empfindungs¬
lähmung darin gesucht, daß diese an den Extremitäten dis tal¬
wärts immer zunimmt. Den prägnantesten Ausdruck dafür
fand H o r s 1 e y in den Lokalisationsfehlern bei Berührungen,
der ,,Atopognose“. Diese Atopognose ist gewöhnlich eine
,, proximale“, d. h. der Kranke lokalisiert die stattgehabte
Berührung an einem dem Rumpfe nähergelegenen Extremi¬
tätensegment, z. B. die Berührung des Fingers in der Hohl¬
hand, die der Hohlhand am Unterarm usw. Nun machten
Bus sei und Horsley neuerdings die Beobachtung, daß
Personen, die an Läsionen der Zentral- und Parietalwindun¬
gen leiden und deren Oberextremitäten mehr minder anästhe¬
tisch sind, nicht bloß proximal, sondern gleichzeitig ent¬
weder postaxial oder ipräaxial lokalisieren, d. h. eine vor
der „midaxial line“ — der entwicklungsgeschichtlich ]je-
deutsamen Extremitätenrichtungslinie ' — gesetzte Berührung
wird hinter derselben lokalisiert und umgekehrt. Bei einem
und demselben Kranken ist der Lokalisationsfehler immer
gleichsinnig. In drei Fällen war er postaxial, in zwei Fällen
präaxial.
Sie schließen daraus, daß mindestens diese Mittelaxe
der oberen Extremität in der Hirnrinde repräsentiert sein
muß; sie wird nach ihrer (wohl nicht allgemein geteilten)
Ansicht vorne und rückwärts vom achten Zervikalsegment
innerviert und erstreckt sich bis zur Spitze des Mittel¬
fingers und vielleicht des Ringfingers. Als weiteren Beweis
für die zentrale Repräsentation dieser Zone führen sie an,
daß in zahlreichen Fällen kortikaler Epilepsie die sensorische
Aura genau in dieser Linie beginne.^)
Ferner berufen sie sich auf einen im .Jahre 1894 mit¬
geteilten Fall G rain ger-S te warts :^) Ein Mami mit einem
3) Hieher gehört vielleicht die interessante Beobachtung Mus kens,
daß vor dem Eintreten des Anfalles bei genuiner Epilepsie die unterhalb
der Mittellinie gelegenen obersten Dorsalsegmente anästhetisch werden.
(Onderzoektingen omtrent Pijngevoelstornissen etc. Nederlandsch
Tijdschrift voor Geneeskunde 1901, S. 340.)
9 A clinical Lecture on a case of perverted sensation or
Allachaesthesia. British medical Journal 1894, S. 1.
I funktionellen Nervenleiden wies an der linken Seite eigen¬
tümliche Lokalisationsfehler auf. Bloß in der vorderen und
rückwärtigen Mittellinie der Extremitäten lokalisierte er die
Berührungen richtig; sonst wurden äußere Berührungen
innen lokalisiert und vice versa. (Doch entspricht die Mittel¬
linie der unteren Extremität — soweit ich dies' der Abbil¬
dung entnehmen kann — keiner segmentären Grenze. Ich
glaube daher mit Grainger-Ste wart selbst annehmen
zu müssen, daß es sich um eine Abart der hysterischen
Allochirie gehandelt habe.)
Wenn auch in meinem Fälle gerade die Axiallinie
der oberen Extremität es war, die sich an der Grenze zwi¬
schen dem analgetischen und schmerzempfindlichen Gebiete
besonders scharf abzeichnete und obzwar die Analogie
zwischen dem Befunde Bussels und Horsleys und dem
meinigen auf der Hand liegt, möchte ich mir doch vorder¬
hand bezüglich der Rückschlüsse auf die Lokalisation in
den höheren sensorischen Bahnen und Rindenfeldern Re¬
serve auferlegen. Hier gibt es noch zu viel Möglichkeiten
zu bedenken. Zur Erklärung meines eigenen Befundes: des
Ausgespartbleibens gewisser Segmentgruppen bei einer
Hemianalgesie, wäre zuerst zu erwägen, ob nicht ge¬
wisse peripherische Neurone durch ihre eigentümliche
Anordnung (größere Fäserzahl, stärkeres ,, Overlapsing“) von
Haus aus stärker schmerzempfindlich sind? Von diesen
aus würden bei einer unvollkommenen Läsion der zen¬
tralen Bahnen Empfindungen länger zum Kortex geleitet
werden, als von anderen Segmenjgnippen aus. An unserer
Klinik hat Bälint — teilweise auch durch diesen Fall an¬
geregt — diese Frage an einer großen Zahl gesunder Per¬
sonen studiert; die demnächst zu veröffentlichenden Unter¬
suchungen führten u. a. tatsächlich' zu dem Resultate, daß
gerade die unterhalb der Halsbrustgrenze gelegenen obersten
Dorsalmetameren auch normalerweise überempfindlich sind.
Eine zweite Möglichkeit wäre diejenige, daß ein Teil der
sensiblen Rückenmarkssegmente doppelte zentrale Inner¬
vation besitzen kann. Diese doppelseitig innervierten Seg-
mentgnippen könnten es sein, die in meinem Fälle schmerz¬
empfindlich blieben und auf welche die Kranken Bussels
und Horsleys die anderwärts gesetzten Berührungen loka¬
lisierten. I
Hier drängt sich fast von selbst eine Analogie mit dem
Verhalten der hemiplegisch gelähmten Muskulatur auf. Be¬
kanntlich waren es Wernicke®) und Mann,*") die auf
die ungleiche Beteiligung der verschiedenen Muskelgruppen
hinwiesen, welclie auch in den typischen Kontrakturstellun¬
gen der Hemiplegiker ; der Beugekontraktur der oberen
Extremität und der Streckkontraktur des Beines', ihren Aus¬
druck findet. Nach den Ausführungen Manns werden an
der oberen Extremität — im großen und ganzen gesprochen
— jene Muskeln stärker gelähmt, welche die Extremität
verlängern (Strecker, Abduktoren. Supinatoren). An den
unteren Extremitäten werden vorwiegend jene betroffen,
die eine Verkürzung des Beines bew irken, also die Ober- und
Unterschenkelbeuger, die Dorsalflexoren des Fußes und der
Zehen. An der oberen Extremität steht die Verteilung der
Lähmungserscheinungen einen nukleoradikulären Lokalisa¬
tion nahe : die stärker betroffenen Muskeln werden von
den oberen, die weniger betroffenen von den unteren Seg¬
menten der Zervikalanschwellung innerviert. Die natürliche
Folge ist das Ueberwiegen der Antagonisten und das Zu¬
standekommen der typischen Kontrakturstellungen. Auch
hier wurde die Vermutung laut, daß die Muskelgruppen mit
überwiegender Fünktion von beiden Hemisphären aus inner¬
viert werden. Doch ist diese Erklämng, angesichts der Tat¬
sache, daß bei spinaler Paraplegie — also bei Unterbrechung
beider Pyramidenbalnien — dieselbe Erscheinung eintritt,
kaum aufrechtzuerhalten.
9 Gesammelte Abhandlungen, herausgegeben von A. Westphal.
Bd. 2.
«) lieber den Lähmungstypus bei der zerebralen Hemiplegie.
Samml. klin. Vorträge, Nr. 132.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WUCIIENSCIIlUFT. 190?.
09
Die wahrsclieinlielisie Deiiliuig dieses Vorganges ergibt
sich, wenn Avir die Theorie Monakows^) durch diejenige
D e j e r i n e s ergänzen :
Erstere lautet: Wird infolge Pyramidenunterhrechung
die Ueherti’agnng der sensiblen Erregungswellen, die von
der Peripherie nnd höher liegenden Zentreai her dem Gro߬
hirne Zuströmen, in geordnete Bewegimgen unmöglich, so
Avird sich der ganze reflektorisch angeregte, zentrifugal ge¬
richtete Erregungsstrom auf die niederen Bewegungszentren
tHaube, Brücke, verlängertes Mark) ergießen und sie nebst
dem Vorderhorne der gegenüberliegenden Seite in über¬
mäßiger Weise belasten. Dadurch entsteht ein allgemeiner,
auf alle motorischen Elemente jener tiefer liegenden Zentren
nicht ganz gleichmäßig sich verteilender Reizzustand;
an diesem sind auch die Zellen des Vorderhornes beteiligt.
Dieses „nicht ganz Gleichmäßige“ des Reizzustandes
Avird aber diircli diese Theorie nicht erklärt. Hier setzt die
x\nnahme Dejerines ein, daß die Extremität der Be-
Avegung jener Muskeln folgt, die auch normalerweise an
Volumen und Kraft überwuegen : dies sind an der oberen
Extremität die Beuger, an der unteren Extremität die
Strecker.
xVllerdings ist zu bemerken, daß dieser Typus sich in
einer Minderzahl der Fälle unikehrt. Sahli ist daher der
x\nsicht, daß nicht die Masse und Kraft der Muskulatur,
sondern die spezielle Beschaffenheit der einzelnen peripheri¬
schen, motorischen Neurone — z. B. ihre Faserzahl — für
den Typus der Kontraktur von Bedeutung ist.
Da nun — was als erwiesen betrachtet Averden muß
— die einzelnen Empfindungsqualitäten nach Spinalseg¬
menten mehr oder Aveniger beteiligt sein können und der
Erregungszustand der subkortikalen und spinalen motori¬
schen Zentren von der Menge der ihnen zentripetal zu¬
fließenden Erregungen abhängt, ist es' nicht unmöglich, daß
die eigentündiche Verteilung der motorischen Redzsymptome
auch durch die Verteilung der sensiblen Störungen nacJi
Segmenten mitbedingt ist.
Dies zu verfolgen, wäre eine dankbare Aufgabe für
spätere Untersuchungen an Hemiplegikern. Doch müßten
hauptsächlich die Muskel- und Gelenksempfindungen berück¬
sichtigt werden. •
Hiemit soll die Möglichkeit, daß die segmentäre An¬
ordnung der sensiblen Elemente in den höheren Bahnen
und den Zentren selbst einen erneuerten Ausdruck findet,
nicht bestritten Averden. Die Frage ist jener anderen aiui-
log, Avoher die Sensibilitätstörungen von zentralem Typus
bei sicheren spinalen Affektionen stammen? Auch dieses
Problem, das Brissaud zur Annahme seiner, die Rücken-
marksmetameren senkrecht gliedernden ,, sensiblen Rücken¬
marksegmente“ geführt hatte, ist noch kontrovers. Ich habe
mich gelegentlich des Studiums der hyperalgetischen Zonen
bei Herzkrankheiten auch mit dieser Frage beschäftigt und
gedenke, meine diesbezüglichen Erfahrungen demnächst zu
veröffentlichen.
Aus der II. med. Klinik in Budapest. (Direktor :
Prof. Dr. Karl v. Ketly.)
Ueber chyliforme Trans- und Exsudate im
Anschluß zweier Fälle.
Von Dr. Ladislaus v. Ketly, Privatdozent und Adjunkt der Klinik.
Die chylöse Eigenschaft der in den Pleurahöhlen unter
pathologischen Verhältnissen vorkommenden Flüssigkeits¬
ansammlungen kann aus verschiedenen Gründen entstehen.
So kann aus dem Ductus thoracicus infolge von Lymph-
stauung Cliylus zur Flüssigkeit kommen, ohne daß die
Lymphwege dabei eine Kontinuitätsverletzung haben mü߬
ten. Bei Tuberkulose aber ■ und bei bösartigen Geschwülsten
T Gehirnpathologie, 1. Aufl., S. 316.
. *) Traitö de Pathologie g6n4rale, Bd. 5, S. 485.
Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden, 3. Auflage,
S. 836.
der Pleura können diese nekrotisierenden Prozesse auch
dc)i Ductus thoracicus öffnen und dadurch die Ursache
chylöser Flüssigkeitsergüsse Averden. ln allen diesen Fällen
erkennt man die wirklich chylöse Natur der Flüssigkeit,
indem man mit dem Mikroskop keine gröberen Fettröpfchen
sieht, nur feinere, welche nur mit sehr starker Vergrößerung
auszunehmen sind und die Größe von Mikrokokken hahen;
sie zeigen auch gewöhnlich die Brownsche molekulare Be¬
wegung. Im Vergleiche mit den Mikroorganismen färben
sie sich im Trockenpräparat bedeutend schwächer als diese
und ihre Menge ist so groß, daß, Avenn sie Mikroorganismen
Avären, es kaum möglich Aväre, daß sie keinen Eiter produziert
hätten. Sie unterscheiden sich auch dadurch, daß sie beim
Zentrifugieren auf der Oberfläche eine Lage bilden. Ueb.ri-
gens kann man sich einfach überzeugen, ob man es mit
Fett zu tun hat, wenn man mit Aether ausschüttelt. Die
chylösen Flüssigkeiten charakterisiert chemisch auch das,
daß in ihnen die im Blute vorhandene Zuckermenge nicht
überschritten ist, weil der Zucker aus dem Darme nicht direkt
in die Chylusgefäße gelangt, sondern nur im Wege der
Darmvenen in der Form von Blutserumzucker, Avie dies
Pascheies und Reichel behaupten.
Es ist zu bemerken, daß in den Pleurahöhlen chylöse
Eigenschaften zeigende Flüssigkeiten aus bisher nicht er¬
klärten Gründen auch dann Amrkommen, wenn Aveder Chylus-
stauung, noch eine Beschädigung der Chylusgefäße anzu¬
nehmen ist. ln solchen Fällen haben wir zu glauben, daß
die Chylusgefäße abnorm durchlässig sind für Fettröpfchen,
welche im Blute, wie wir Avissen, nach Nahrungsaufnahme
in großen Mengen vorhanden sind. Mit diesen wirklichen
chylösen Exsudaten und Transsudaten darf man nicht ver-
Avechseln die fettige Trübung der Flüssigkeit, welche aus
der Vermischung grober Fettropfen besteht, ln diesen Fällen
ist mit dem Befunde verfetteter Zellen zu beweisen, daß in
diesen Fällen das Fett aus dem fettigen Zerfall der Endothel¬
zellen der Pleura stammt oder aus Neopiasmazellen.
Die chylösen Flüssigkeiten finden Avir schon in ältesten
Zeiten erwähnt. So erzählt die Sage, daß beim- Köpfen des
heiligen Apostels Paulus und der alexandrinischein Katharina
aus ihren Körpern inerkAvürdigei’weise statt Wasser milch¬
artige Flüssigkeit floß (nach Bartholin) und seit 1638
wurden in der medizinischen Literatur luizählige Fälle be¬
schrieben, in welchen in der Brust- und Bauchhöhle chylöse
Flüssigkeit vorhanden Avar, ln den letzteren .lahren aber
erschienen über dieses Thema nur wenige Publikationen.
Die Ursache davon ist, daß die chylösen Flüssigkeiten, außer
denen, welche durch die Verletzung des Ductus thoracicus
hervorgerufen werden, schwer zu erkennen sind. Bei den
chylösen Flüssigkeiten sind nämlich die physikalischen
Zeichen dieselben, .Avie bei anderen Ergüssen und daher
kann nur die Punktion oder Sektion über ihre Eigenschaft
xVufschluß geben. Es kommt auch öfters vor, daß die chy¬
löse Flüssigkeit für Eiter oder eitriges Ex- oder Transsudat
angesehen Avird und daher die chemische und mikrosko¬
pische Untersuchung unterlassen Avird. Es ist auch in Be¬
tracht zu ziehen, daß die chylösen Flüssigkeiten auch spon¬
tan resorbiert werden können, ln den Chylusgefäßen ist
nämlich der Druck kleiner als in der Umgehung, daher
heilen ihre Verletzungen rasch ab und das Herausdringen
des Chylus hört auf. Aus all diesem glaube ich folgern zu
können, daß die chylösen und ähnliche Ergüsse im allge¬
meinen öfter Vorkommen, als man nach den bisher publi¬
zierten Fällen denken Avürde.
Rein chylöser Erguß entsteht nach Operationen in
der Gegend des Ductus thoracicus infolge der Verletzung
dieses letzteren (Br egehold, Busch), ln solchen Fäillen
kann die Diagnose nicht fehlen. Die Erkennung Amn aus
anderen Ursachen entstandenen solchen Ergüssen ist schon
schwieriger. Chylöse Exsudate und Transsudate kommen
als selbständige Krankheiten nicht vor, man findet sie nur
als Begleiterscheinung hei Erkrankungen, avo aus der die
Krankheit herbeiführenden Ursache der Duclus thoracicus
oder ein Zweig desselben verletzt oder geplatzt ist und sein
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. n
Inhalt in die Bauch-, Brust-, oder llcuzheutelhöhle gelangt
ist. Solche l'rsachen können sein: 1. Trauma, Pleurakrebs,
die Zusammendrückung der Vena suhclaAÜa sinistra oder
des Ductus thoracicus, ein malignes Lymphom, die Erkran¬
kung der Lymphgefäße, die Verstopfung des Ductus thoraci¬
cus durch Parasiten (Filaria) ; 2. kann Chylus auch durch
die mit der Pleura und Bauchhöhle anastomosierenden
Chylusstomata hindurchtrelen. Fs kann auch Vorkommen,
daß das Chylusgefäß nicht reißt, sondern daß seine Wand
sich nur verdünnt und dadurch in ihrer Ernährung leidet,
wodurch sie durchlässig wird.
ln dem Thorax sind, mit Ausnahme der chirurgischen
Fälle, die Verletzungen des Ductus thoracicus selten, weil
dieser keine größeren Verzweigungen hat und, neben den
großen Gefäßen liegend, schwer verletzbar ist. (Fs sind viel¬
leicht acht bis neun Fälle bekannt nach der Zusammen¬
stellung von Hahn. Hieher gehört auch E. Hahns Fall,
wo hei einem überfahrenen Kutscher während sechswöchentr
liclier Krankheit, welche mit dem Tode endigte, 29.650 cm'^
Chylus aus der Pleurahöhle entnommen wurden. Bei der
Sektion zeigten sich der neuide und zehnte Brustwirbel
verletzt und dort war auch die Ruptur des Ductus
thoracicus.)
ln solchen Fällen, wo der Ductus thoracicus unregel¬
mäßige und vielfache Verzweigung zeigt, kann er leichter
verletzt werden und die Zweige können auch leichter ge¬
drückt werden. Es ist in so’chen F^ällen auch häufiger, daß
eine Krankheit aus der Nachbarschaft auf sie übergreift.
Der Ductus thoracicus zeigt in der Bauchhöhle zahlreiche
Verzweigungen. Er ist hier daher mehr Schädlichkeiten aus¬
gesetzt und so kommt es, daß der chylöse Aszites auch häu¬
figer ist als die pleuralen chylösen Ergüsse. Diese letzteren
kommen als selbständige Krankheiten auch seiten vor; wir
können auf diese bei solchen Leiden denken, welche die
Verletzung bedingen, wie bei malignen Tumoren der Pleura,
hei Neubildungen der Chylusgefäße und der Drüsen, bei
der Thrombose der Vena subclavia, dann, wmnn der Abfluß
im Ductus thoracicus verhindert ist. Weiter können wir auch
bei allgemeiner Flrkrankung der Lymphdrüsen annehmen,
daß der in der Pleura- oder Bauchhöhle ohne Entzün-
dungssyniptome gebildete Erguß chylöse Eigenschaft hat.
ln der Bauchhöhle geht die mäßige Obstruktion der Chylus¬
gefäße vielleicht nicht immer mit dem Austritt von Chylus
einher, weil der Chylus nach Hamburger teilweise auch
durch die Gedärme resorbiert werden kann. Dieser Autor
hat nämlich heim Hunde die zu einem Teil des Dünndarmes
führenden C’hylusgefäße unterbunden und tauchte dieses
Darmstück in eine Lipaninemulsion ein. Er analysierte dann
nach fünf Stunden diesen Darmabschnitt und fand, daß auch
in diesem Teile des Darmes ein Teil des F"’ettes resorbiert
wurde, wenn auch nicht so viel, wie im übrigen Darme,
wo die Chylusgefäße nicht unterbunden waren.
]\lan fand chylöse Flüssigkeiten in den serösen Höhlen
im 2. bis 62. Lebensjahr, am häufigsten jedoch um das
35. Lebensjahr herum.
Unter Chylus verstehen wir eine milchartige, manch¬
mal eiterartige, weißlichgelbe Flüssigkeit, welche Fett und
Faweiß enthält, dessen Trübung durch Fett erzeugt wird.
Das Filtrieren klärt diese Flüssigkeit nicht, sie koaguliert
auch nach längerem Stehen nicht und zeigt auch kein Faulen.
.Vn ihrer Oberfläche schwimmen fettige Fläutchen und punkt¬
förmige weiße Körner. Die chemische Reaktion ist alkalisch
oder neutral. Spezifisches Gewicht 1017 bis 1022. Ihr Ge¬
schmack ist nach Barge buh r sehr süß. Im Mikroskop
zeigt der Chylus viele fein verteilte, stellenweise ziisammen-
geflossene Fettröpfchen. Zellige Elemente enthält er ver¬
hältnismäßig wenige. Senator hält den Zuckergehalt für
den Chylus diagnostisch für sehr wichtig, weiter den Um¬
stand, daß, wenn wir dem Patienten Oel oder Butter geben,
man diese Stoffe in der chylösen Flüssigkeit auffinden kann,
während Ouincke das Gewicht auf die mikroskopische
Fntersuchuiig legt.
F. Erben fand hei exakter Untersuchung im Chylus
Glyzerin, Cholestearin, Kapron- oder KapiTlsäure, Essig-,
Ameisen-, Araklyn-, Oel-, Palmitin-, Stearin- und Myristin¬
säure; weiters auch ein Getnisch von Monoxystearinsä Liren,
welches vielleicht im Organismus aus Oelsäure gebildet
wird. Strauß untersuchte den Chylus von einer Frau, bei
welcher der Ductus thoracicus während des Herausschnei¬
dens tiefliegender Halsdrüsen durchgeschnitten wurde, so
daß sich eine Fistel gebildet hat. Physikalisch fand er, daß
der Chylus seinen osmotischen Druck gegen alimentäre Ein¬
flüsse stark behauptet; so hat das Trinken eines halben
Liters Wasser oder 10 g Kochsalzes (in 500 g Wasser) den
osmotischen Druck des danach ausgeflossenen Chylus kaum
verändert. Aehnlich ist es mit dem Kochsalzgehalt des
Chylus, welcher, unabhängig von der in den Organismus
gebrachten Salzmenge, stets auf 0-527 bis 0-630 ®/o bleibt,
daher dem Salzgehalt des Blutes entsprechend ist. Der Fett¬
gehalt des Chylus steigt mit der Nahrungsaufnahme aber
auch nicht grenzenlos, das Blut wird daher nicht mit Fett
überhäuft. Das Blut verträgt auch noch 6% fetthaltigen
Chylus gut, weil darin das Fett fein emulgiert ist und weil
das Blut eine zu den roten Blutzellen gebundene, starke,
lipolytische Kraft hat. Vom Chylusfett werden kaum 10 o/o
gespalten. Nachdem aber das per os in den, Darm gelangte
Fett gespalten zur Resorption kommt, so muß man an¬
nehmen, daß die Schleimhaut des Darmes eine synthetische
Wirkung hat und das F"ett wiederhergestellt in den Chylus
hefördei t.
Vom wirklichen Chylus ist wohl zu unterscheiden die
chyliforme Flüssigkeit; diese stammt nicht aus den Chylus-
gefäßen, sondern sie kommt so zustande, daß verfettete
E,ndothelzellen, Eiterzeilen und Fibrin mit den Exsudaten
oder Transsudaten eine milchartige Flüssigkeit bilden. In
solchen Fällen wird der Erguß als Hydrops adiposum, Ex-
sudatum und Transsudatum adiposum, weiters als chyli¬
forme oder chyloide Flüssigkeit bezeichnet. Weil hier das
F"ett aus dem Zerfall zelliger Elemente stammt, so sind die
Fettröpfchen größer und in kleineren Vlassen verteilt zu
sehen als beim Chylus. Im Absatz der Flüssigkeit findet
1113.11 immer Zellen mit Fettröpfchen und gefüllten Kernen,
so^^^e runde, teilweise polygonale Zellen mit großen Kernen,
welche ebenso wie das Protoplasma Fettröpfchen enthalten.
Die auf der Oberfläche schwimmenden Häutchen bestehen
teilweise aus eng aneinander liegenden F'ettnadeln, teilweise
aus Konglomeraten von verschieden großen Fettröpfchen.
Bei diesen Flüssigkeiten stammt daher der Fettgehalt aus
degenerierten Zellen. Senator hält bei den chylösen Flüs¬
sigkeiten deren Zuckergehalt für ein wichtiges, unterschei¬
dendes Zeichen, weil sie immer Zucker enthalten. Auch
die neueren Untersuchungen zeigen, daß ein größerer Zucker¬
gehalt für chylöse Natur spricht. Aber die Anwesenheit
von nur wenig Zucker oder dessen gänzliche Abwesenheit
spricht nicht unbedingt gegen die chylöse Abstammung.
Während einerseits auch in chylösen Fdüssigkeiten der
Zucker zweifellos fehlen kann, so können anderseits nicht-
chylöse Ergüsse, so auch die gewöhnlichen Exsudate und
Transsudate, auch oft Zucker enthalten. In den chylösen
Flüssigkeiten fehlt, nach einigen Autoren, dann der Zucker,
wenn der Chylus so verdünnt wird, daß dadurch der Zucker¬
gehalt unter die Grenze der Nachweisbarkeit sinkt. Nach
den FIntersuchungen von Paschel es und Fleichel kann
man Zucker in jedem Exsudat und Transsudat finden, wenn
man das Eiweiß früher sorgfältig wegschafft. In Aszites¬
flüssigkeiten von Cirrhosis hepatis findet man oft Zucker.
Die Anasarkaflüssigkeit enthält stets 0-055 bis 0-F120/o
Zucker.
Der Zuckergehalt der Flüssigkeit der serösen Höhle
ward daher nur dann für dessen chylöse Natur zeugen,
wenn er in größerer (über 0-2 '^/o) Menge vorhanden ist. Bei
der Untersuchung des Zuckers darf man sich mit den Re¬
duktionsreaktionen nicht begnügen, weil in diesen Flüssig¬
keiten auch zahlreiche andere reduzierende Stoffe vor-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
71
Nr. 3
koiniiien, sondern wir müssen audi die Gärnngs- und Phe¬
nyl Ii y drazi iireak ii on ans teilen .
Bernert erwähnt von den inilc-hartigen, trüben Trans¬
sudaten, daß die Tidibung ■manchmal nicht vom emulgierten
Fett, sondern vom Eiweiß herrührt, was man durch das
Verhalten zum Aether und durch das Ausfällen des Eiweißes
erkennt. Die Trübung verursacht hier ein zur Globulin¬
gruppe gehöriger Eiweißkörper. Der Fettgehalt der Flüssig¬
keit ist gering und in seinem Verhalten ist dieses Fett ähn¬
lich dem, welches durch Degeneration entsteht. Dio Menge
der anorganischen Bestandteile ist gleich der bei serösen
Transsudaten vorkommenden.
Pascheies und Reichel fanden, daß alle patho¬
logischen Flüssigkeiten Zucker in den Gehalt des Blut¬
serums annähernden Mengen entlialten. Die pleuritischen
Exsudate enthalten im Durchschnitt 0082 To, die Aszites¬
flüssigkeiten 0 093 To Zucker. Es scheint, daß bei der Stau¬
ung der Vena portae etwas mehr Zucker in die Flüssigkeit
gelangt (OTI8T0).
Man sieht aus dem bisher Gesagten, daß die bei den
Bauchhöhlenexsudaten oder -transsudaten öfter, bei den
pleuralen seltener vorkommenden chyJöseu Flüssigkeiten
aus viererlei Ursachen entstehen können : 1. Aus wirklichem
Chylusausfluß oder Durchsickern desselben; 2. aus De¬
generation von Endothel- oder Tumorzellen,; 3. aus von
diesen stammenden Eiweißkörpern ; 4. aus dem Zusammen¬
wirken der drei erwähnten Ursachen. Aber es ist aus all
diesem einleuchtend, daß wir klinisch am Krankenbette
weder durch chemische, noch durch mikroskopische Unter¬
suchung imstande sind, sicher zu, entscheiden, aus welcher
der erwähnten Ursachen die chylöse Beschaffenheit der
Flüssigkeit entstanden ist. So können wir auch die von
Senator u. a. empfohlene. Einteilung und Benennung —
chylöse (wirklicher Chylusausfluß oder Transsudation),
chyloforme (wenn sich aus degenerierten Endothel- oder
Tumorzellen stammendes Fett zum Trans- oder Exsudatum
mischt) und gemischte Formen — nicht annehmen. Von
chylöser Form kann man nur in jenen seltenen Fällen
sprechen, wo der Ductus thoracicus sichtbar verletzt ist; wo
aber dies nicht der Fall ist, oder wo man auch hei der
Sektion die Verletzung der Chylusgefäße oder deren durch
Neubildungen oder Tuberkulose erfolgte Erosion nicht auf¬
finden kann, da bat man trotz des Fettgehaltes der Flüssig¬
keit nicht die Berechtigung, eine durch Stauung verursachte
Transsudation des Chylus anzunehmen. Wir hahen ja keine
sichere Stütze dafür, daß die Flüssigkeit nicht eine aus
ähnlichei- Ursache vorkommende sog. chyliforme Flüssig¬
keit ist, welclie durch die Degeneration der Endothel- oder
Tumorzellen ihre Beschaffenheit erhalten hat. Ebenso unbe¬
rechtigt ist die Annahme von gemischten Formen hei neben
Neubildungen entstandenen chylösen Trans- und Exsudaten.
Die in der Literatur gefundenen Fälle sind datier auch
kaum zu verwerten, weil, wie wir sahen, man in neuerer
Zeit gezeigt hat, daß besonders hei Neubildungen die Trü¬
bung der chylusähnlichen Flüssigkeiten bei minimalem Fett¬
gehalt oft von Eiweißkörpern hervorgerufen ist. Mi che Ti
und Mattirolo schreiben die Trübung der pseudochylösen
Flüssigkeit nicht dem Kasein, Seromukoid oder den Glyko-
proteidstoffen zu, weder der eigentümlichen Konstruktion
der Globuline, sondern dem Lezithin, von welchem 0T5 g
genügen, um 1000 cm^ Flüssigkeit opaleszierend zu machen.
Zypkin glaubt, die Trübung mit dem Eiweißgehalte in
Verbindung bringen zu können. Er sah in einem Falle,
daß mit der allmählichen Aufklärung des Ergusses der Ei¬
weißgehalt zunahm. Er glaubt, daß das Eiweiß die Lösungs¬
verhältnisse verändert und dadurch die milchige oder klare
Beschaffenheit der Flüssigkeit bestimmt.
Einen echt chylösen Erguß beobachtete neuerdings
Sommer, wo der Fettgehalt zwischen 1-28 und 2-2 To
schwankte. Es war in der Flüssigkeit anfangs kein, später
wenig Zucker enthalten und es waren mikroskopisch zahl¬
reiche Fettkugeln zu sehen. Die Sektion ergab, daß der
Ductus thoracicus oberhalb der Cysterna cliyli durch kar-
zinomatöse Drüsen komprimiert war.
Durch das bisher Besprochene glaube ich berechtigt
zu sein, die oben erwähnte Senatorsche Einteilung und
Benennung für unrichtig zu halten, weil mit unserem jetzi¬
gen Wissen, abgesehen von den erwähnten seltenen Aus¬
nahmen, die Unterscheidung der nadi seiner Auffassung
chylösen und chyliformen Formen nicht nur am Kranken¬
bett, sondern auch am Sektionstisch unmöglich ist. Es wäia;
am richtigsten, wenn wir ausgesprochen fetthaltige Trans-
und Exsudate chyliform benennen würden, während der
Name chylös nur auf solche Fälle paßt, wo der Ausfluß
von Chylus unbedingt nachweisbar ist.
Nachdem auch diese Erörterung genügend zeigt, daß
unser Wissen über chyliforme und pseudochylöse Trans- und
Exsudate noch sehr unklar ist, ist es wünschenswert, für
die Klärung dieser Frage mehr exakt beobachtete Fälle,
besonders mit exakter Analyse der Flüssigkeit, zu publi¬
zieren.
Ich halte daher auch die Bekanntmachung folgenden
Falles für berechtigt:
P. K., 26 Jahre alt, Taglöhner; wurde auf die 11. mediz.
Klinik am 3. Juni 1903 aufgenominen. Diagnose: Exsudatum
pseudochylosum et verosim. Endothelioma pleurae 1. d.
Anamnese: ln seiner Familie war nichts Bemerkens¬
wertes. Er seihst hatte keine Kinderkrankheiten, auch keine ge¬
schlechtlichen. Alkohol mißbrauchte er nicht. Im Mai 1902 hatte
er Atemheschwerden und viel Durst. Sein x\rzt konstatierte da¬
mals Brustfellentzündung und empfahl ihm Punktion, welche er
aber zurückwies.
Wegen dieser Krankheit konnte er nicht arbeiten, Aveil ihn
Atemnot und Husten daran behinderten. Seitenstechen hatte er
aber nie. Im Januar 1903 steigerten sich die Atembeschwerden
und der Husten derart, daß er sich ins Spital aufnehmen ließ.
Hier wurde er punktiert und es kam aus der Seite bei zwei Liter
trübe Flüssigkeit. Während seiner Krankheit fühlte er weder
Fieber noch Schüttelfrost. Er lag im Spital fünf Tage lang,
dann ruhte er sich zu Hause den ganzen Winter hindurch aus.
Im Frühling 1903 stand er wieder zur Arbeit ein und arbeitete
den Sommer durch. Sein jetziges Leiden fing am 15. Juni 1903
an, als er während der Arbeit Atemnot und Erstickungsaufälle
bekam, dann hustete er und spuckte weißlich -schleimig aus.
Fieber fühlte er nicht. Seine jetzigen Klagen sind Atemnot und
Husten. Appetit und Schlaf ist gut.
Status praesens: Der Patient ist gut entwickelt, wohl
genährt, seim* Haut braun, das Unterhautgewehe mäßig fetüialtig.
Muskulatur gut entwickelt. Knochensystem und Gelenke sind
intakt. Pupillen sind gleich und reagieren gut. Die Zunge ist
etwas belegt, das Schlucken ist frei. Der Hals symmetrisch. Der
Brustkorb gut entwickelt, seine rechte Hälfte bleibt beim Atmen
zurück, sie wölbt sich auch mehr vor, ihre Rippen stehen weiter
voneinander als links ; die Zwischenräume der Rippen sind ab¬
geflacht. Atmungszabl p. M. 20. Der Umfang der rechten Thorax¬
hälfte in der Höhe der dritten Rippe ist 52 cm, links 49 cm,
in der Höhe der fünften Rippe rechts 47-5 cm, links 46 cm, in
der Höhe der siel>enten Rii)pe rechts 47 cm, links 46 cm. Rechts
in der Fossa supraclavicularis ist der Perkussionsschall ge¬
dämpfter Trommelschalt, in der Fossa infraclavicularis Dämpfung,
welche von hier in allen drei Linien bis hinunter reicht. Hinten
rechts von der Spitze bis binunter gedämpft. Links voller Schall
in der parasternalen Linie bis zur vierten, in der Jiiittleren
axillaren Linie bis zur neunten Rippe. Rechts ist über der
Dämpfung kein Atemgeräusch zu hören, auch ist hier die Broncho-
phonie und der Pektoralfremitus aufgehoben. Links überall
weiches Atmen. Herzpulsation ist über der linken Thoraxhälfte
nicht zu sehen ; Herzspitzenstoß im sechsten Zwischenraum außer¬
halb der Mamillarlinie zu fühlen. Die obere Grenze der Herz¬
dämpfung ist in der liidven Parasternallinie, an der vierten Rippe,
nach rechts fließt die Herzdämpfung mit der Dämpfung der rechten
Thoraxhälfte zusammen; nach links geht sie bis zum Herzspitzem
stoß. Die Töne des Herzens und der großen Gefäße sind rein.
Der zweite Ton der Pulmonalis ist akzentuiert. Puls ist mäßig
voll, etwas steif, rhythmisch, Zahl p. M. 92. Der Bauch wölbt
sich mäßig Vor, Fluktuation oder Resistenz ist darin nicht zu
fühlen. Die obere Grenze der Leberdämpfung Hießt mit jener
der rechten Thoraxhälfte zusammen, ist daher nicht zu bestimmen,
ihre untere Grenze überschreitet den Rippenbogen in der Ma¬
millarlinie um zwei Querfinger. Die Milzdämpfung begrenzt nach
oben die neunte Rippe, der untere Pol der Milz ist auch bei
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. S
•/2
tieleni Eiiiatnieii iiichl l'ühJI)ar. Der Urin ist weingelb, durcli-
sichlig, von sauerer Reaktion, sein spez. Gew. 1021, enthalt
keine abnormen Bestandteile.
Verlauf: Am 4. Juni wurde init Probepunktion aus der
rechten Seite gelblicliweiße, trübe Flüssigkeit genommen, deren
spez. Gew. 1019, Eiweißgehalt 2°,o war. Mit Punktion bekamen
wir 1500 cm'‘ gelldichweiße, milchartige, trübe, geruchlose Flüssig¬
keit, von neutraler Reaktion, 1016 spez. Gew. und Ipigo Eiweiß;
Zuckerreaktion (Cupr. sulf., Bisnmt, Nitropropiol, Gäruugsprobe)
war negativ. Auf der Oberfläche bildete sich auch nach längerem
Stehen keine Fettlage. Unter dem Mikroskop waren wenig ver¬
fettete Leukozyten zu sehen, keine Bakterien. Die Fettröpfchen
waren nicht frei in der Flüssigkeit. Am 5. Juni nach der Punk¬
tion war die obere Grenze der Dämpfung rechts in der Para¬
vertebrallinie und Skapularlinie an der fünften Rippe, vorne in
der Parasternal- und Mamillarlinie an der vierten Rippe; von
der zweiten Rippe herab ist der Perkussionsschall etwas lym]')ani-
lisch. Der Herzspitzenstoß ist auch jetzt noch im sechsten Zwi¬
schenraum außerhalb der Mamillarlinie. Der untere! Rand der Leber
reicht drei Querfinger breit unter den Rippenbogen, lieber den
Lungen ist keine wesentliche Atmungsveränderung zu hören.
Körjiergewicht 56-5 kg.
6. Juni: Der Patient hustet nichl und hat keinen Auswurf.
Von der aus der Brusthöhle genommenen Flüssigkeit wurden 20cm''^
einem Meerschweinchen injiziert. In der Flüssigkeit sieht man
außer fettig und körnig zerfallenen Leukozyten, frei schwimmende
Fettröpfchen, Cholestearin- und Fettkristalle.
8. Juni: Heute wurde wieder punktiert; es kamen 1500 cnU
der vorigen ähnlich aussehende und zusammengesetzte Flüssig¬
keit, mit 1016 spez. Gew. und 2°/o Eiweißgehalt.
10. Juni: Lungengrenzen: Vorne in der Parasternal- und
Mamillarlinie an der fünften Rippe, in der mittleren Axillar¬
linie am oberen Rand der sechsten Rippe, hinten an der sechsten
Rippe. Herzspitzenstoß ist nicht fühlbar, perkutorisch reicht das
Herz bis zur Mamillarlinie.
11. Juni: Das injizierte Meerschweinchen krepierte; Sek¬
tionsbefund ist für Tuberkulose negativ.
12. bis 15. Juni: Körpergewicht 68-5 kg. Die obere Grenze
der Dämpfung ist vorne in allen drei Linien die fünfte Hippe,
hinten die siebente Rippe.
Am 16. Juni ist die Dämpfung hinten von der achten Rippe,
in der mittleren Axillarlinie ebenfalls. Der Herzspitzenstoß ist
noch immer im fünften Zwischenraum außerhalb der Mamillar¬
linie. Lungenspitzen sind frei.
20. Juni: Punktion: 1500 cm^ weißlichgelbe Flüssigkeit,
welche sich fettig anfühlt; spez. Gew. 1016; Eiweißgehalt 3°/'o.
21. Juni : Nach der Punktion ist die Dämpfung fast gänzlich
verschwunden; hinten bis zur neunten Rippe, in der mittleren
Axillarlinie bis zur sechsten, vorne bis zur fünften Rippe, lieber
den Lungen kein verändertes Alemgeräusch. Körpergewicht 68-5 kg.
Er verließ die Klinik.
Am 31. August 1903 wurde er wieder aufgenommen. Nach¬
dem er die Klinik verlassen hatte, war er wohl, nur im Rücken
fühlte er etwas Schmerzen. Er stand wieder zur Arbeit ein
und arbeitete bis Ende August; er fühlte dahei nur zeitweilig
geringe Alembeschwei'den. Am 4. August rückte er zur Waffen¬
übung ein, wurde jedoch bei der ärztlichen Untersuchung zurück-
gehalten, da man rechts Flüssigkeitsansammlung konstatierte.
Appetit ist gut, Stuhl normal. Er hustet wenig. Nachts schläft er
gut, schwitzt nicht.
Status bei der Aufnahme: Die rechte Thoraxhälfte bleibt
beim Almen zurück, die Zwischenräume der Rippen sind unten
weiter als links, und die rechte Thoraxhälfte ist ständig in In-
spiiationsstellung. Rechts in der Parasternallinie bekommen wir
vom oberen Rand der vierten Rippe, in der Mamillarlinie von
der vierten Rippe, in der mittleren Axillarlinie von der fünften
Rip])e, hinten von der sechsten Rippe Dämpfung; bei Inspiration
sinkt diese Grenze nicht. Ueber dieser Dämpfung ist das Atem¬
geräusch, der Pektoralfremitus und die Bronchophonie geschwächt.
Sonst ist über den Lungen normales Atmen. Der Herzspitzenstoß
ist nach auswärts verlegt, in der Mamillarlinie im fünften Zwi¬
schenraum fühlbar. Die obere Grenze der Herzdämpfung ist an
der vierten Rippe, nach rechts fließt die Herzdämpfung mit der
Dämpfung der rechten Thoraxhälfte zusammen, nach litdcs reicb.t
sie bis zum Spilxensloß. Die Töne des Herzens und der großen
Gefäße sind rein. Ihds ist ihythmisch, mäßig voll. Der Hauch
mäßig erhaben, auf Druck fühlt der Patient urder dem rechten
Rippenbogen Schmerz. Körpergewicht 60 kg.
.\m 1. September Probepunktion. Die Nadel trifft festen
Widerstand, durch welchen mari sie schwer durchdrängen kann.
Es wurde hinten im siebenten Zwischenraum und in der mittleren
Axillarlinie im fünften eingestochen; an beiden Stellen kam
reines gelbes Serum mit 1013 spez. Gew. und 5To Eiweißgehalt.
4. Seplemher: Blutbefund: Rote Blutkörperchen 5,216.000,
weiße Blutkörperchen 8900. Spez. Gew. 1050. Hämoglobin¬
gehalt 600,0. Körpergewicht 68 kg.
13. September: Körpergewicht 69-5 kg.
14. September: Die obere Grenze der Dämpfung ist um
eine Rippe tiefer als früher. Weil aber der Patient nach Hause
will, wird er punktiert. Der Einstich wird in der mittleren Axillai'-
linie im fünften Zwischenraum gemacht und es kamen 1800 cm'’’
klares, gelbes Serum mit 1016 spez. Gew. und 3o/o Eiweißgehalt.
Nach der Punktion ist die obere Grenze der Dämpfung vorne
an der fünften Rippe, in der mittleren Axillarlinie der untci’e
Rand der fünften Rippe, hinten an der neunten Rippe. Ueber den
Lungen ist überall weiches Atmen zu liören.
Am 16. September verläßt der Patient die Klinik. Er wurde
dann zum dritten Male am 31. Jänner 1904 aufgenommen. Nach
dem Verlassen der Klinik fühlte er sich wohl und stand wieder
in Arbeit ein. Zeitweilig fühlte er zwar im Rücken geringe
Schmerzen. Um Weihnachten 1903 bekam er stechende Schmerzen
im Rücken, besonders rechts, hauptsächlich, wenn er etwas
Schweres liob. Bei tiefem Atmen verspürte er auch Schmerzen.
Diese Schmerzen zwangen ihn, die Arbeit einzustellen, obzwar
er sich genug kräftig fühlte. Er suchte wieder einen Arzt auf,
w-elcher in der redden Brusthälfte Flüssigkeit konstatierte. Bei
seiner Aufnahme hatte er Rückenschmerzen und fühlt seinen
Rücken steif, er kann ihn nicht mehr beugen oder drehen wie
früher. Die Dämpfung an der rechten Thoraxhälfte ist in der Para¬
sternallinie vom unteren Rande der vierten Rippe, in der Mamillar¬
linie ixnd mittleren Axillarlinie vom oberen Rande vier fünften
Rippe, hirden von der sechsten Rippe hinab. Pektoralfremitus
und Bronchophonie ist hier sehr abgeschwächt und Atemgeräusch
nicht zu hören. Der Umfang des Thorax in der Höhe der Mamillen
ist 97 cm, wovon 49 cm auf die rechte Hälfte entfallen; der
Unterschied von der linken beträgt 1 cm. In der Höhe des fünften
Rippenknorpels ist der Umfang 92 cm, wovon 47 cm auf die rechte
Hälfte entfallen, der Unterschied beträgt 2 cm. ln der Höhe
des Proc. xiphoideus ist der Umfang 88 cm, wovon auf rechts
45 cm entfallen, der Unterschied beträgt 2 cm.
1. Februar: Das durch Probepunktion an zwei Stellen (in
der Skapularlinie im siebenten, in der mittleren Axillarlinie im
sechsten Zwischenraum) gewonnene Serum ist durchscheinend.
Mikroskopisch zeigte es viele verschieden große, glänzende Fett¬
tröpfchen und einige Leukozyten. Körpergewicht 67-5 kg.
Am 12. Februar wird abermals punktiert, es kamen 1800 cm^
opaleszierendes, gelbes Serum, mit 1017 spez. Gew. und 2To
Eiweißgehalt. Unter dem Mikroskop zeigte es viele Fettröpfchen.
Vom 13. bis 16. Februar hatte er ständig Rückensclnnerzen.
Am 18. Februar wieder Punklion: 650 cin^ der vorigen
ähnliche Flüssigkeit, nur das spez. Gew. ist geändert: 1020.
19. Februar: In der Dämpfung ist keine Aenderung.
Am 21. Februar verläßt er die Klinik.
Zum vierten Male wurde er am 18. Vlärz 1904 auf ge¬
nommen. Körpergewicht 67-5 kg. Er lag bis 20. März auf der Klinik
mit Bauchschmerzen.
Zum fünften Male wurde er am 25. Oktober 1904 aufge¬
nommen. Er stand jetzt, seitdem er die Klinik verließ, nicht
in Arbeit. Er lag unterdessen wegen seinen Rückenschmerzen
in einem Spitale, dann noch zwei Wochen in seiner Wohnung;
er fühlte sich dann wieder besser, konnte aber der Schtncrzen
wegen nicht arbeiten. Sein jetziger Status ist derselbe wie bei
seinem letzten Aufenthalte in der Klinik. Die rechte Thorax¬
hälfte ist mehr vorgewölbt, die Zwischenräume der Rippen sind
abgeflacht.
Am 26. Oktober wurde an zwei Stellen (in der mittleren
.Axillarlinie im sechsten Zwischenraum, hinten in der Skapular¬
linie im achten Zwischenraum) Pjobepunktion angestellt, wobei
die Nadel großen Widerstand traf; eine Flüssigkeit wurde nicht
bekommen.
Am 2. November ist der Umfang der rechten Thoraxhälfle
in der Höhe des vierten Rippenknorpels 48 cm, links 47 cm,
in der Höhe des sechsten Rippenknorpels 45-5 cm, links 46 cm.
Am 6. November verließ der Patient die Klinik, seither haben
wir keine Nachrichten mehr von ihm.
Bei diesem Kranken bestand ^ilso 2V2 Jahre liindiirch
ein Exsudat von großer Menge in der rechten Pleurahöhle,
welches trotz der wiederholten Punktionen, immer wieder¬
kehrte, endlich aber verschwand, abgesehen von der Däm¬
pfung, welche die pleuralen Verwachsungen und Verdickun¬
gen verursachten, und auch mit Röntgendurchleuchtung
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
73
ausgesprochenen Schatten gab. Dieser lange fieberlose Ver¬
lauf, der ständige wohlerhaltene Kräfteznstand des Patien¬
ten, der normale Befund der Lungens])itzen, das negative
Uesidtat des in das Meerschweinchen injizierten Serums
lind so weiter lassen eine tuberkulöse Pleuritis mit
Sicherheit ausschließen. Einen bösartigen Tumor an der
Pleura konnten wir beim Fehlen einer Kachexie und stän¬
digem Fehlen von Blut in der Flüssiglkeiit ab ovo nicht an¬
nehmen, auch die Heilung des Patienten spricht dagegen.
Trauma oder Verletzung ging nicht voraus, wovon man
auf einen Ausfluß von Chylus aus seinen Gefäßen folgern
hätte können. Auch sind wir nicht berechtigt, eine Trans¬
sudation von Chylus anzunelnnen, weil die mit Punktion
gewonnene Flüssigkeit, nachdem die mikroskopische Unter¬
suchung und der Zuckergehalt keinen sicheren iVufschluß
über ihren chylösen, chyliformen oder pseudochylösen Cha¬
rakter gaben, zweimal einer iiünktlichein Analyse unterzogen
wurde, welche zeigte, daß sie neben minimalem Fettgehalt
hauptsächlich Eiweiß enthält.
Die exakten Analysen sind folgende :
1. Die Flüssigkeit vom 26. Juni 1903: Spez. Gew.
10169; 100 cm^ Flüssigkeit enthalten: Trockensubstanz
4-61 g, mineralische Bestandteile (Asche) 0 86 g, organische
Substanz 3-75 g, Nitrogen (nach Kjeldahl) 0-58 g, Nitrogen
in dem nach Ritthausen abgesonderten Niederschlag 0-57,
d. h. der Eiweißgehalt (N+6'25) 3-57 g, Fett 0-06 g. Zucker
ist auch nicht in Spuren. Die Reaktion der Flüssigkeit ist
alkalisch. Aus der Uebereinstimmung des Nitrogen nach
Kjeldahl und nach Ritthausen folgt, daß die in der
Flüssigkeit befindlichen nitrogenhaltigen Substanzen Ei¬
weiße sind, ln 100 Teilen Substanz sind: Minerale 18-66To,
organische Substanzen 31-34To, Eiweiß 77440/o und Fett
1-3880/0.
2. In der am 1. Oktober 1903 entnommenen Flüssig¬
keit sind in 100 Teilen 5-77 g Trockensubstanz, wovon
0-701 g Asche sind und 5-076 g organische Substanz; Nitro¬
gen 0-781 g, Fett 0-007 g; es ist daher bedeutend mehr
Eiweiß als Fett.
Diese Analysen zeigen daher, daß unser Fall als
pseudochylöses Exsudatum aufzufassen ist, wo die Aehn-
lichkeit zum Chylus durch Eiweißstoffe verursacht wird.
Nachdem dies nur mit dem Zerfall von Endothel- oder
Tumorzellen zu erklären ist und nachdem bei diesem Pa¬
tienten ein maligner Tumor durch die Heilung ausgeschlossen
isl, so sind wir berechtigl, auf ein gutartiges Endotheliom
zu denken. Freilich, ob dieser Patient endgültig geheilt
ist, könnte man nur nach einigen Jahren mit Sicherheit
aussprechen.
Wie schwer es ist und oft auch unmöglich, ohne exakter
Analyse am Krankenbett oder auch am Seklionstisch bei
chylusähnlichen Flüssigkeiten zu unterscheiden, ob sie chyli-
form oder pseudochylös sind, zeigt der folgende Fall:
F. K., 36 Jahre alte Frau. Wurde am 14. März 1903 auf
der Klinik aufgenommen. Starb am 9. Juni 1903. Die Patientin
bemerkte im Februar 1902 an ihrem Brustbein eine Geschwulst,
welche, sich vergrößernd, im August 1902 Hühnereigröße er¬
reichte. Man operierte diese Geschwulst im israelitischen Spital
und es kam eitriges Blut daraus. Im November war die Wunde
geheilt, aber bald darauf bildete sich neben der Narbe ein hasel¬
nußgroßer Knoten, welchen man im Februar 1903 operierte. Neben¬
bei leidet die Patientin seit dem Sommer 1902 an Schluckbescbwer-
den, ISO daß sie zur Zeit ihrer Aufnahme nur noch sehr klein
gesclmiltene Bissen hinuiderhringt ; sie hustet außerdem und
hat schweren Atem. Wir bekamen von dem betreffenden Spital
die Aufklärung, daß die damalige Operation wegen Periostitis
chronica ahscedens durchgeführt wurde.
Status bei der Aufnahme: Der Hals mittellang, symme¬
trisch, heiflerseits sind mehrere höhnen- bis haselnußgroße Drüsen
fühlbar. Uebi'r dem Angulus Ludovici ist eine talergroße, hell¬
rote Narbe mit unregelmäßigem Rande. Um diese Narbe herum bis
zur vierten Rippe, nach rechts ein Querfinger vom rechten
Sternumrand, nach links zwei Querfinger vom linken
Slernumrand, ist eine Dämpfung. Sonst ist keine Veränderung des
Perkussionsschalles über den Lungen zu finden; überall ist auch
etwas rauhes Atmen zu hören. Das Herz ist normal. Kehlkopf¬
untersuchung: Das linke Stimmband ist paretisch, das rechte ist
etwas gerötet. Bei Röntgendurchleuchtung sieht man nelien dem
linken Rand des Sternums, in der Höhe der zweiten und dritten
Hippe, bis 3cm' nach links einen sich verhreiternden Schatten. Ende
April 1903 zeigte sich rechts von der sechsten Rippe hinab eine
Dämpfung, wo bei der Probepunktion milchigtrübes, opaleszieren¬
des Serum bekommen wurde, dessen spez. Gew. 1026 und Eiwei߬
gehalt war. Die Patientin starb durch Erstickung am
9. Juni,
Diagnose: Lymphosarcoma durum mediastini anterioris,
verosimiliter e thynio ortnm cum pi-opagatione tumoris ad pnl-
monem sinistrum, oesophagum et tracheam, et perioratione eorun-
dem fistulisque. Progressio tumoris ad venam anonymam'sinistram
cum obliteratione totali eiusdeni. Metastases complures pericardis
pleurae visceralis parietalisque, diaphragmatiis, glandularum lym-
phaticarum colli, peripancrealicarum et periportalium. Hydrothorax
lateris dextri cum compressione lohi inferioris et medii ilextri.
In der rechten Pleurahöhle waren 1500 g kraulsaftähnliche, gelb¬
lichgraue Flüssigkeit, in welcher einige rötliche, weiße, lose Fibrin¬
felzen schwimmen. An der parietalen und viszeralen Pleura ist
keine Fibrin- oder eitrige Ablagerung. In der linken Pleurahöhle
waren 50 g etwas blutiges und opaleszierendes Serum ohne freies
Fibrin. Der Ductus thoracicus ist in. seinem ganzen Verlauf
mittel weit.
In diesem Falle verursachte die Opaleszenz der Flüssig¬
keit wahrscheinlich die alhuminoide Substanz der zer¬
fallenen Tümorzellen ; zwar kann man auch die Alög-
lichkeit nicht ausschließen, daß der Tumor einen kleineren
Ast des Ductus thoracicus zusammendrückte oder ver¬
stopfte und daß dadurch eine Transsudation des Chylus
in die Pleurahöhle verursacht wurde. Eine exakte Ana¬
lyse wurde leider nicht gemacht und so konnten wir nicht
entscheiden, oh es sich in diesem Falle um ein chyliforrnes
oder pseudochylöses Transsudat handelte.
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Nr. 34. — Sommer, T’her d. Gegenw., H. 11.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr.
7i
1
Die Diagnose der typhoiden Krankheiten des
Menschen * *)
Von Dr, Willielm Spät, k. u. k. Regimentsarzt.
Meine Herren ! Idi liabe die Diagnose der typhoiden
Erkrankungen zum Gegenstände des heutigen Vortrages ge¬
wählt, nicht nur wegen des überaus häufigen V'orkommens
derselben in unserer Garnison, sondern vor allem aus dem
Grunde, weil in der letzten Zeit auf diesem Gebiete so¬
wohl in ätiologischer, als diagnostischer Hinsicht bedeu¬
tende Umwandlungen vor sich gegangen sind. Ich will
es versuchen, den gegenwärtigen Stand dieser Frage und
zwar hauptsächlich vom Standi)unkte des praktischen Arztes,
zu schildern.
Unter dem Namen Typhus faßte die alte Medizin be¬
kanntlich lange Zeit hindurcli eine ganze Reihe verschie¬
dener Krankheiten zusammeti. Es seien nur neben dem
echten Typhus, die Miliartu Irerkulose, der Flecktyphus, der
Typhus recurrens und die infektiösen Gastroenteritiden ge¬
nannt. Diese mannigfachen Affektionen hatten lediglich im
Fieberverlaufe, in der mehr oder minder ausgesprochenen
Beteiligung des Nervensystems, namentlich des Sensoriums,
sowie in der hochgradigen Prostration und langsamen Re¬
konvaleszenz, mit einem Worte, in dem sogenannten ty¬
phösen Zustande, eine äußerlich täuschende Aehnlichkeit.
Von besonderem Interesse ist die noch im Jahre 1864 von
Griesinger^) vertretene Auffassurcg, welcher verschiedene,
wie er es nannte, ,, Krankheitsformen“ — als welche er
den Typhus exanthematicus, Typhus abdominalis, Febris
recurrens, das biliöse Typhoid und die Pest aufzählte —
auf Grund von einer xVnzah! gemeinsamer Erscheinungen zu
einer Gruppe von ,,t y p h o i d e n K r a n kh e i t e n“ zusammen¬
gefaßt hat. Allmählich lernte man auf Grund genauer klini¬
scher und epidemiologischer Beobachtung die Besonder¬
heiten der einen und der anderen Kraiikheitsformen kennen;
die pathologische Anatomie sonderte in ihrem Sinne die
einzelnen stärker ausgeprägten und konstant vorkommenden
Veränderungen von einander und so kristallisierten sich aus
diesem Komplexe schon in der vorbakteriologischen Aera
genau charakterisierte und scharf begrenzte Krankheits¬
bilder. So gelang es, sei es klinisch, sei es anatomisch, die
Miliartuherkulose, den Flecktyphus, den Typhus recurrens
und andere auszuscheiden. Als nun E berth den Erreger
des nun verbliebenen, durch die bekannten klinischen Sym¬
ptome charakterisierten Krankheitshildes entdeckt hat, wurde
ganz allgemein unter Abdominaltyphus nicht allein eine
klinisch und anatomisch, sondern auch ätiologisch einheit¬
liche Krankheit verstanden.
Heute stehen die Verhältnisse ganz anders. Wir kehreii
allmählich immer inehr zur früheren, freilich sehr wesent¬
lich modifizierten Anschauung der Altmedizin zurück. Da¬
nach stellt diese scheinbar einheitliche Infektionskrankheit,
der enteritische Typhus, einen Sammelbegriff einer Reihe
untereinander differenter Krankheitsprozesse dar. Auch
diesmal wurde für einen Komplex verschiedener Affek¬
tionen, allerdings unter einer ganz anderen Begründung,
.die Bezeichnung typhoide Erkrankungen gewählt. Es
gehört hieher nicht allein eine Reihe von differenten Krank¬
heiten des IMenschen, sondern auch eine heute schon be-
Irächtliche Anzahl von Epizootien, von denen einzelne, zum
Beispiel die Schweinepest und die Kälberruhr, spezifische
Erkrankungen mancher Tierarten, und von welchen an¬
dere für diverse Tierspezies, so zum Beispiel Kanin¬
chen, Mäuse, Ratten, Papageien, Hühner und Fasane,
wie es scheint, nur gelegentliche Affektionen darstellen.
Allein für die Spezies ,, Mensch“ wurden bis heute
sieben differente, hieher gehörige niorbi sui generis
ermittelt. Alle diese eiiidemischen und epizootischen Erkran-
*) Nach einem in der Versammlung der Militärärzte der Garnison
Prag am 15. Dezember 1906, gehaltenen Vortrage.
*) Infektionskrankheiten in Virchows Handbuch der speziellen
Pathologie und Therapie. 2. Aufl., S. 106.
kuiigen sind miteinander — das haben in überzeugender
Weise die Untersuchungen von Zupnik“) dargetan — in
ätiologischer, klinischer und anatomischer Hinsicht aufs
engste verwandt.
ln den heutigen Ausführungen wollen wir uns nur auf
die typhoiden Krankheiten des Menschen beschränken. Es
sind dies : der eigentliche Abdoniinaltyphus, den wir im
folgenden zum Unterschiede von den übrigen, den Eberth-
schen Typhus nennen wollen, die Paratyphen, von welchen
wir heute bereits drei verschiedene kennen u. zw. der
Schottmüllersche (B), der Bri on-Kay se rsche (A)
und der Longcopesche und drei verschiedenartige typho¬
ide Fleischvergiftungen; es sind dies die Hol st sehe, die
Gär tn ersehe und die We s e n b erg sehe.
Nachdem der E berth sehe Typhus und die Paratyphen
hinlänglich bekannt sind, erscheint es nur notwendig, den
Begriff Fleischvergiftung des näheren zu spezifizieren. Es
werden nämlich ganz wesentlich voneinander verschiedene
Gruppen von Affektionen unter dem Namen Fleischver¬
giftung zusammengeworfen. Gemeinsam haben sie nur das,
daß sie nach Fleischgenuß entstehen.
Ein Teil derselben stellt wirkliche, von Person zu
Person nicht übertragbare Vergiftungen dar. Hieher ge¬
hören die P t o m a i n V e r g i f t u n g e n und der Botulismus.
Sie entstehen durch den Genuß von Fleisch, welches anfäng¬
lich nicht gesundheitsschädlich war, sondern erst nachträg¬
lich infolge schlechter Konservierung, durch Invasion von
Saprophyten, der Zersetzung anheimgefallen ist, wobei Pto¬
maine sich bildeten, die dann die eigentliche Vergiftung ver¬
ursachen. Die hier in Betracht kormnenden, das Fleisch
zersetzenden Fäulnisbakterien können natürlich ganz ver¬
schiedene Arten darstellen; klinisch erzeugen alle diese ge¬
faulten Fleischsorten das Bild einer akuten, sehr rasch ab¬
laufenden, gewöhnlich ohne Fieber einhergehenden Gastro¬
enteritis. Eine Sonderstellung unter ihnen verdient der Bo¬
tulismus insoferne, als er einerseits durch eine einzige
Bakterienart, durch den von van Ermen gern entdeckten
Bacillus botulini erzeugt wird und anderseits', weil er ein
klinisch eigenartiges, durch Fieberlosigkeit, Obstipation und
Lähmungen im Bereiche der Gehirnnerven wohlcharak¬
terisiertes Krankheitsbild bietet.
Die nun restierenden Fleischvergiftungen stellen wirk¬
liche, akute, vom Menschen zu Menschen übertragbare In¬
fektionskrankheiten dar. Im Gegensätze zu den vorigen
werden sie von einem Fleisch erzeugt, das, obzwar es ein
tadelloses äußeres Aussehen bietet, doch von kranken Tieren
stammt und von den EiTegern der betreffenden tierischen
Erkrankung durchsetzt ist. Klinisch zeigen diese Fleisch¬
vergiftungen mehr oder weniger das Bild des Abdominal¬
typhus und wurden aus diesem Grunde von Zupnik
typhoide Fleischvergiftungen®) genannt. Aus einem Bei¬
spiele werden Sie, meine Herren, ersehen, daß die in Rede
stehenden Fleischvergiftungen tatsächlich typhoide, das heißt
weder klinisch noch anatomisch vom echten Abdominal¬
typhus unterscdieiidbare Erkrankungen darstellen. Ich er¬
wähne die zwei großen Epidemien in Andelfingen (Im Jahre
1839) und Kloten (1878).'^) Bei beiden sind viele Hunderte
von Personen (bei der ersten 391; liei der zweiten 65l)
aus gleichem äußeren Anlasse fast gleichzeilig erkrankt und
zwar hei einem großen Volkssängerfeste, nach welchem die
Sänger und die geladenen Gäste mit kalten Fleischspeisen
") Heber gattungspezifische Immunitätsreaktionen. Zeitschrift für
Hyg. und Infekt. 1905, Bd. 49.
9 Von van Ermengem (Kolle-Wassermanns Handbuch) werden
diese Prozesse »Fleischvergiftungen der Gruppe des Bac. enteritidis« ge¬
nannt, sonst wurden sie allgemein als choleriforme Erkrankungen, so
z. B. von Bonhoff (Arch, für Hyg. 1904, Bd. 50) oder direkt als
Cholera nostras z. B. von Durham (Brit. Med. Journ. 1889, Bd. 2) und
Schottmüller (Mönchen, med. Wochenschr. 1904, Nr. 8) bezeichnet.
Nur in der H u s e m a n n sehen Darstellung der Vergiftungen mit
tierischen Giften findet sich für eine Gruppe derselben die Bezeichnung
Zootrophotoxismus typhoides (Handbuch der Ther. innerer Krankheiten
von Penzoldt und Stintzing. 2. Aufl.)
*) cf Suter, Die Fleischvergiftungen in Andelfingen und Kloten.
München 1889.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
76
bewirtet wurden. Viele fühlten sich sofort nach dein Genuß
des Fleisches unwohl und nach einigen Stunden, bzw. am
nächsten Tage, lagen fast alle Teilnehmer schwer krank
danieder. Klinisch bestand das Bild des Typhus, mit der
charakteristischen Kontinua, Milztumor, Roseola, erbsenbrei-
ähnlichen Stühlen, Enterorrhagien, Rezidiven, posttyphösen
Thrombosen etc. Die Typhusähnlichkeit war auch in ana¬
tomischer Hinsicht so vollständig, daß E berth selbst, der
eine Anzahl von Verstorbenen (bei der Epidemie in Kloten)
sezierte, die Diagnose Typhus gestellt hat. Es hat nun die
klinische und anatomische Identität dieser Massenerkran¬
kungen mit dem Abdominaltyphus einerseits und anderseits
das explosive Auftreten derselben einige Stunden nach Ge¬
nuß von Fleisch die Ursache für eine durch Jahre und
Dezennien, unter den hervorragenden Aledizinern fortbe¬
stehende Meinungsdifferenz abgegeben. Für die einen, denen
das klinische und anatomische Bild maßgebender erschien,
waren diese Erkrankungen eine Typhusepidemie ; für die
anderen, die dem augenfälligen und später auch nachgewie¬
senen Zusammenhänge mit dem Fleisch und ferner der sich
innerhalb von Stunden abspielenden Inkubationszeit, eine
wesentlichere Bedeutung beigelegt haben, als der Sympto¬
matologie, stellten diese Erkrankungen eine dem Typhus ab¬
dominalis zwar verwandte, aber von ihm verschiedene, eigen¬
artige, septische Infektion dar. Heute zweifelt wohl nie¬
mand daran, daß es sich in diesen Fällen nicht um eine
Typhusepidemie, sondern um typhoide Fleischvergiftungen
gehandelt hat.
Nach dieser At)schweifung wollen wir uns dem eigent¬
lichen Thema zuwenden. Aus dem bisher Gesagten geht
hervor, daß in jedem Falle, wo die Untersuchung am
Krankenbett den Symptomenkomplex Typhus ergibt, eine
der sieben genannten typhoiden Erki'ankungen vorliegen
kann. Aus vielen Gründen entsteht nun für den Arzt die
Pflicht, in solchen Fällen nicht allein die allgemeine Dia¬
gnose einer typhoiden Krankheit, sondern jedesmal eine
spezialisierende ätiologische Diagnose zu treffen. Es hat
nämlich diese Frage nicht nur ein rein wissenschaftliches,
sondern auch ein hohes, praktisches Interesse. Vor allem
ist, wie die Erfahrungen gelehrt haben, die Prognose bei
all diesen Krankheiten nicht gleich. Während der Eberth-
sclie Typhus eine Mortalität von ca. 15% aufweist, ist die
Sterblichkeit der Fleischvergiftungen und — soweit schon
jetzt geurteilt werden kann — auch der Paratyphen eine
sehr geringe: 1 bis 3%. Ferner nähern wir uns immer
mehr dem Zeitpunkte, wo hoffentlich die Bestrebungen nach
einer kausalen Therapie — etwa einer Serumbehandlung —
ihrer Verwirklichung entgegengehen und dann wäre die Fest¬
stellung der ätiologischen Diagnose von grundsätzlicher Be¬
deutung. Von schwerwiegendster praktischer Wichtigkeit
aber ist die ätiologische Diagnose für die Prophylaxe. Es
braucht kaum betont zu werden, daß es nicht gleichgültig
ist, in welcher Richtung sich die Forscliung nach der In¬
fektionsquelle bewegen soll, ob die LTrsache beispielsweise
im Laden des Metzgers, oder in der Wasserversorgung ge¬
sucht werden soll.
Prüfen wir nun der Reihe nach die einzelnen Mo-
metde, die eine solche Diagnose ermöglichen könnten. Die
klinische Untersuchung gibt, wie bereits angedeutet,
keine Ardialtspunkte dafür. Die einzelnen klinischen Sym¬
ptome, wie wir sie beim Unterleibstyphus kennen, finden
wir ebenso ausgeprägt bei den einzelnen Paratyphen und
typhoiden Fleischvergiftungen. So wird in sämtlichen bis
jetzt bekannten Publikationen über Paratyphus immer wieder
betont, daß klinisch nicht die geringsten Abweichungen vom
Bilde des echten Eberthschen Typhus zu verzeichnen
waren. Das gleiche gilt im großen und ganzen von den
Fleischvergiftungen. Sowohl der Fieberverlauf, als auch alle
Feränderungen im Körper, wie Milztumor, Roseola, Be¬
schaffenheit der Stühle, sind mindestens in einzelnen Epi¬
demien in gleicher Weise zu finden.
Wohl könnte die Anamnese bezüglich der Inkubations¬
dauer uns einen wichtigen Fingerzeig geben, da wir wissen,
daß diese Inkubationsdauer bei den Fleischvergiftungen
immer eine sehr kurze, kaum nach Stunden rechnende
(G bis 3G Stunden), bei den Paratyphen und dem Eberth¬
schen Typhus eine weit längere (10 bis 21 Tage) ist. Allein,
handelt es sich um einen sporadischen Fäll oder um die
ersten Fälle einer Epidemie, so ist die Feststellung des
Zeitpunktes der Infektion unmöglich, wenn der Zusammen¬
hang mit der Infektionsquelle — etwa dem Genüsse des
verdächtigen Fleisches — nicht augenfällig ist.
Auch die hämatologische Untersuchung des Blutes,
der ja für die Diagnose des Abdominalis eine sehr große
Dignität zukommt, dürfte uns in der äliologischen 'Diagnose
nicht weiter^ bringen. Es haben nämlich die Untersuchungen
von Gütig“) gezeigt, daß die bis dahin einzig und allein
für den Eberthschen Abdominaltyphus als pathognomo-
nisch geltende, qualitativ eigenartig beschaffene Leukopenie
auch den Paratyphen zu kommt.
Von der pathologischen Anatomie erhalten wir
-- abgesehen davon, daß uns damit nicht gedient ist, da
wir ja eine Diagnose am Krankenbette anstreben müssen
— ebenfalls keine für die Aetiologie entscheidenden Mo¬
mente. Daß bei den Fleischvergiftungen der anatomische
Befund sich durchaus typhusähnlich gestalten kann, ist be¬
reits erwähnt worden. Für die Paratyphen liegen nur einige
Obduktionsbefunde vor. ln zwei derselbeiU) sind die
gleichen Veränderungen wie beim Eberthschen Typhus
konstatiert worden.
Es vermag also weder die Klinik inklusive der Hämato¬
logie, noch die pathologische Anatomie Anhaltspunkte für
die ätiologische Diagnose der typhoiden Erkrankungen zu
bieten. '
So drängt sich von selbst der Gedanke auf, die Dia¬
gnose auf den Nachweis des Erregers zu stützen. Leider
ist dieser Weg, der ja der natürlichste und zugleich der
verläßlichste wäre, noch lange nicht so geebnet, daß er
auf jeder Klinik, geschweige denn in der Praxis zur An¬
wendung gelangen könnte.
Die Reinzüchtung der betreffenden iVlikroorganismen
aus dem Stuhle ist deshalb mit den größten Schwierig¬
keiten verbunden, weil im menschlichen Darme schon nor¬
malerweise Bakterien Vorkommen, die sehr schwer von den
hier in Frage kommenden Arten zu differenzieren sind.
Ueberdies bietet der gelungene bakteriologische Nachweis
des Erregers in den Fäzes — schon davon abgesehen, daß
zur Durchführung dieser Untersuchungen oft nur sehr gut
eingerichtete Laboratorien befähigt sind mul daß dieselbe
unter Umständen mehrere Wochen in Anspruch iiimndA)
— keine Verläßlichkeit, da die sog. ,, Bazillenträger“
auch Dezennien nach überstandenen typhoiden Erkran¬
kungen die betreffenden Erreger in ihrem Darme beher¬
bergen können.
Der Versuch, die Bazillen aus dem Blute zu züchten,
wo die Möglichkeit der Verwechslung mit ähnlichen Arteti
nicht besteht, führt auch nicht immer zum Ziele, da die
Krankheitserreger sich nur zeitweise und in sehr geringen
Mengen im kreisenden Blute aufhalten. Im übrigen ist auch
diese Methode aus demselben Grunde, wie die Unter¬
suchung der Stühle, wenig geeignet, Gemeingut der prak¬
tischen Aerzte zu w'erden.
Weitere diagnostische Mittel sind in den Immun¬
körpern gegeben, in den Stoffen, mit denen der infizierte;
Organismus auf die Infektion antwortet. An erster Stelle
wäre hier die Agglutination zu nennen. Vom Momente ihrer
Entdeckung an (1896) bis zur allerletzten Zeit, wurde ihr
ganz allgemein in der wissenschaftlichen Welt eine verläß-
9 Prager med. Wochenschr. 1903, Nr. 20.
A s c 0 1 i, Zeitschrift für klin. Med. 1903, Bd. 48. Cf. ad. hoc.
die Ausführungen von Z u p n i k in der Zeitschrift für Hyg., Bd. 49,
S. 500 und die von Jürgens in der Zeitschrift für klin. Med., Bd. 52.
— Der zweite Paratyphusfall mit einem anatomischen Typhusbefund
wurde vou Kayser mitgeleilt. (Versammlung deutscher Naturforscher und
Aerzte, Meran 1905.)
9 H. Pribram, Heber die Eigenschaften des E b e r t h-
Gaffky sehen Bazillus. Zeitschrift für Hyg. 1906, Bd. 54.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
liclie diagnostische Bedeutung l)eigemessen. Ein Serum, das
hei Anstellung der G ruh er-Wi dal sehen Reaktion hei einer
Verdünnung 1 :5() ein positives Resultat gal), war durch
diesen Ausfall als ein Typhusserum charakterisiert. Dem
gegenüber haben zahlreiche Ihitersuchungen gezeigt, daß
nicht nur Typhusbazillen, sondern auch andere ]\Iikroorga-
nismen von demselben Serum auf gleiche Weise, manchmal
sogar in hohen Verdünnungen, beeinflußt werden. Aus
diesem Grunde haben viele namhafte Autoren, wie Jür¬
gens,^) V. 1) ri ga 1 s k i,^) Kayser^*^) der Agglutination über-
überhaupt jeden diagnostischen Wert abgesprochen.
Ganz analoge Verhältnisse liegen hei der Bakteriolyse
und der Präzipitation vor. Ein und dasselbe Krankenserum,
bzw. Immunserum löst, resp. präzipitiert nicht allein die
zugehörigen, krankheitserregenden, sondern außerdem noch
andere Rakterienarten (deren Produkte).
So hätte es also den Anschein, als oh kein einziges
von den spezifischen bakteriellen Gegenkörpern eine Unter¬
scheidung zu treffen erlaube. Und doch ist es mit Hilfe der
Agglutination möglich, eine präzise ätiologische Diagnose
in jedem Fälle zu stellen.
Verst.ändnishalher muß zuerst eine rein bakteriologi¬
sche Frage erörtert werden.
Untersucht man eine größere Anzahl von Bakterien,
so findet man, daß eine gewisse Summe aus der unerme߬
lichen jMenge differenter Arten eine Reihe von gemeinschaft¬
lichen Merkmalen besitzt. Sie zeigen z. B. das gleiche Aus¬
sehen unter dem Mikroskop, färben sich in derselben Weise,
wachsen auf verschiedenen Nährböden in gleicher Weise,
und rufen in ihnen die nämlichen chemischen Ver¬
änderungen hervor. Es ist nur natürlich, daß man
solche Arten als untereinander verwandt anffaßt und
zu einem Komplex, einer Gattung in naturhistorischem
Sinne vereinigt. Ebenso werden mehrere solcher Gat¬
tungen auf Grund gemeinsamer Eigenschaften zu Ver¬
bänden nächst höherer Ordnung zu Gruppen oder zu
Familien zusammengefaßt. Trotz des mächtigen Auf¬
schwunges und der großartigen Fortschritte der Bakterio¬
logie ist man heute noch weit davon entfernt, alle bereits
bekannten Mikroorganismen in ein natürliches System, wie
dies beispielsweise in der Zoologie und Pflanzenkunde der
Fall, ist, gebracht zu haben. Aber eine größere Anzahl von
Bakterienarten ist bereits eingehend studiert und auf Grund
der natürlichen Verwandtschaft im angedeuteten Sinne zu
Gattungen geordnet worden. Eine derartige, besonders
meisterhafte Zusammenstellung verschiedener Mikroorganis¬
menarten verdanken wir Zupnik. Durch Prüfung der mor¬
phologischen, mikrochemischen und kulturellen Eigen¬
schaften und dementsprechende Sortierung der betreffen¬
den Bakterien, ergab sich deren verwandtschaftliche Zu¬
sammengehörigkeit gleichsam von selbst. Nachdem er auf
diese Weise den Begriff Gattung und einzelne hiezu gehörige
Arten charakterisiert hatte, unterwarf er dieselben nochmals
einer genauen Prüfung u. zw. hinsichtlich ihrer Toxine,
sowie mittels der spezifischen Immunkörper. Diese galten
alle l)is dahin als artspezifisch, das heißt, man war der
Ansicht, daß z. B. ein Immunserum, das mit Hilfe des
Typhusbazillus dargestellt wurde, nur den Typhusbazillus
agglutiniert, löst, und nur seine Stoffwechselprodukte prä¬
zipitiert. Dasselbe galt auch für menschliche Krankensera.
Dieselbe artspezifische Auffassung bestand ferner bei Be¬
urteilung der Spezifität der L'akteriellen Toxine. Man war
der Meinung, daß jede giftbildende Bakterienart ein Gift
produziert, das in seiner Wirkungsweise einzig dasteht. Als
nun die Wirkung einzelner Immimkörper auf verschiedene,
innerhalb derselben Galtung liegende Arten geprüft wurde,
da stellte sich heraus, daß völlig verschiedene, aber
ausschließlich innerhalb derselben Gattung
stehende Arten von ein und demselben Immunkörper
«) Zeitschrift für klin. Med. 190i, Bd. 52 und Deutsche med.
Wochenschrift 1904. Nr. 34.
»I Zentralblatt für Bakt. 1904, Bd. 35.
Deutsche med. Wochenschrift 1904, Nr. 49.
beeinflußt wurden. Ebenso haben sich die Gifte (Toxine)
innerhalb derselben Gattung als identisch oder fast identisch
erwiesen. Dadurch wurde bewiesen, daß die bakteriellen
Produkte und Gegenprodukte nicht art-, sondern gattungs¬
spezifisch sind.
Auf zwei dieser Substanzen wollen wir genauer ein-
gehen: auf die Toxine, weil sie ein Verständnis für das
eigenartig ähnliche Verhalten der typhoiden Erkrankungen
bringen und dann auf die Agglutinine, weil ehe genauere
Kenntnis ihrer Beschaffenheit die Grundlage für die von
uns gesuchte spezialisierende ätiologische Diagnose liefert.
Was die Toxine anhelangt, so leuchtet es von selbst
ein, daß Arten, welche ein gleiches, bzw. fast identisches
Gift produzieren, d. i. gattu ngsverwandte Arten, auch ähn¬
liche, resp. identische Krankheitsbilder erzeugen werden.
Merkwürdig und in hohem Grade bestechend ist der Hin¬
weis auf die Tatsache, daß hei Krankheiten, welche einer¬
seits durch die Klinik und anderseits durch die paÜiologische
Anatomie schon lange als nahe untereinander verwandt
bezeichnet wurden, nachdem ihre Erreger entdeckt wurden,
auch diese letzteren vom bakteriologischen Standpunkte als
durchaus natürlich verwandt bezeichnet werden müssen.
Diese Erscheinung nennt Zupnik das ätiologische Kor-
relationsgesetz, welches demnach besa,gt, daß Bakterien¬
arten derselben Gattung, wenn sie pathogen sind — gleich¬
wohl bei Menschen wie Tieren — nur ähnliche Krankheiten her-
vorrufen. Die uns heute interessierenden Krankheitserreger,
der Eberthsche Bazillus, der Schottmül 1er sehe, Brion-
Kays ersehe und Longcopesche Paratyphusbazillus,
ferner die Fleischvergiftungsbazillen von Gärtner, Holst
und W e s e n b e r g, gehören alle infolge ihrer gemeinschaft¬
lichen morphologischen, kultarellen und mikrochemischen
Eigenschaften in dieselbe Gattung, die Typhusgattung; und
so wird es verständlich, warum sie alle klinisch und ana¬
tomisch dieselben Krankheiten erzeugen und ferner, warum
weder die Symptomatologie, noch die Hämatologie, noch die
pathologische Anatomie eine Differentialdiaignose zwischen
den einzelnen zu bieten vermag.
Nun kehren wir zur Diagnosestellung zurück. Wie
bereits erwähnt, gestattet die Agglutination — allerdings
in einer anderen Versuchsanordnung, als sie bei der
Gruber-Widalschen Reaktion geübt war — eine präzise
Ermittlung des vorliegenden Krankheitsprozesses. Obzwar
sie, wie gesagt, nicht für eine Art, sondern für die ganze
Gattung spezifisch ist, zeigen sich doch bei Titrierung der
Agglutinationskraft eines Serums für alle Arten derselben
Gattung quantitative Differenzen. Anfänglich war Zupnik
der Meinung, daß sowohl Krankensera wie Immunsera den
höchsten Agglutinationstiter nur für die eigene Bakterien¬
art besitzen und erblickte demnach in der Ermittlung des'
höchsten Agglutinationstiters für alle in Betracht kommenden
Erreger der typhoiden Erkrankungen das Mittel, das trotz
der Gattungsspezifität der Agglutination, in jedem Fälle eine
artspezifische Diagnose zu stellen erlauben wird. Bald stellte
es sich jedoch heraus, daß es Sera (gibt, welche den höchsten
Agglutinationstiter nicht allein für die eigene Art aufweisen,
sondern in gleicher Stärke, oder — was sich besonders
kritisch gestaltete — in noch höherer Verdünnung andere,
zwar gattungsverwandte, aber an der Krankheit nicht be¬
teiligte Arten agglutinieren. Dieselbe Wahrnehmung wurde
auch von anderen Autoren gemacht und darum der Agglu¬
tination, wie bereits erwähnt, überhaupt jede diagnostische
Bedeutung abgesprochen.
Indessen haben weitere Untersuchungen Zupniks^^)
Tatsachen zutage gefördert, die eine sichere ätiologische
Diagnose zu stellen erlauben. Es ergab sich, daß im Ver¬
halten des höchsten Agglutinationstiters nicht, wie es
scheinen könnte, eine unbestimmhare Laune herrscht, son¬
dern daß jede Serumart einen gewissen konstanten Befund
aufweist. Wurden nämlich sämtliche Bakterien der Typhus¬
gattung der Reihe nach mit den Seren aller dieser Arten
**) Deutsche nicd. Wochenschrift 1905, Nr. 44 und Zeitschrift für
Hyg. 1906, Bd. 52.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
77
Fig. 1. Gärtnersches Serum = Gg'. Fig. 5. Holstsches Serum = Hlisp.
Fig. 2. Eberthsches Serum = Ee (sb). Fig. 6. Preiszsches Serum = Ppli.
Fig. 3. Brion-Kaysersches Serum = Bb. Fig. 7. Longcopesches Serum — LI bp.
78
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
agglutiniert, so zeigten die Sera einer jeden Art im höchsten
Agglutinationstiter stets dasselbe, qualitativ ganz eigen¬
artige Verhalten. Manche Seren agglutinierten in starken
Verdünnungen nur eine Art: es war dann immer die korre¬
spondierende, krankheitserregende; andere agglutinierten in
der stärksten noch wirksamen Verdünnung immer zwei und
drei verschiedene Bakterienarten zugleich. Wies aber ein
Semm für mehrere Arten denselben Agglutinationstiter auf,
dann waren es immer dieselben Arten und — erfreulicherweise
— bei verschiedenen Seris verschiedene. So stellte es sich
heraus, daß innerhalh der Typhusgattung keine
zwei gleich beschaffene Serum arten existieren.
Daraus ergibt sich, daß das Serum einer jeden Bakterien¬
art eine eigenartige Agghitinatiorisstruktur besitzt, welche
sich nur im höchsten Agglutinationstiter deutlich ausprägt.
Bezeichnet man das Kranken- oder Immunserum mit
dem Anfangsbuchstaben des Bazillus, welcher die be¬
treffende Krankheit erzeugt und mit kleinen Buchstaben
die Bakterienarten, welche dieses Serum im höchsten Agglu¬
tinationstiter beeinflußt (d. h. für welches dieses Serum
gleiche Agglutinationsanteile besitzt), so erhält man folgende
Versinnlichung der Agglutinationskultur:
1. Kranken- od. Immun-Serum d. Bazill. Eberth . . . Ee(sb)
2.
??
??
??
99
99
Brion-Kayse
r Bb
o
O.
??
J?
>9
99
99
Schottmüller Ss
4.
J?
??
99
99
99
Longeope
L 1 h p
5.
JJ
9?
99
99
99
Holst ....
Hh sp
6.
??
’5
??
99
99
99
Gärtner . . .
Gg
7.
??
99
99
99
Wesenberg .
W w
8.
??
??
??
99
99
99
Preisz . . . .
(Schweinepest)
Pp h'2)
ln Worten ausgedrückt, bedeuten diese Schriftzeichen:
Blutsera der S ch o t tmü Iler sehen, Brion-Kay ser-
schen , Ci ä r t n e r sehen und W e s e n b e r g sehen Erkrankun g
agglutinieren bei der Ermittlung des höchsten Agglutinations¬
titers die eigene zugehörige Art stets in einer Stärke, welche
die iVgglutinationskraft des betreffenden Serums für alle
übrigen Arten der Typhusgattung um ein mehrfaches Mul-
tiplum überragt.
Eberthsche Sera zeigen in der Regel dasselbe Ver-
iialten; manchmal jedoch agglutinieren sie in gleicher Stärke
noch zwei andere Bakterienarten, ln diesem Fälle ist das
immer entweder der Schottmüllersche oder der Brion-
Kays ersehe Bazillus.
Paratyphussera der Lon gcopeschen Art und Fleisch¬
vergiftungssera der Holstschen Art agglutinieren immer
in gleich starker Weise drei Bakterienarten zugleich. Außer
dem krankheitserregenden sind das beim ersten Serum die
llolstsche und Frei sz sehe, beim zweiten außer dieser
letzteren noch die Schottmüllersche Art.
Diese differente Agglutininsitruktur habe ich für
den heutigen Vortrag graphisch darzusitellen versucht
(lüg. 1 bis 8). Die vertikalen Striche sitellen die ein¬
zelnen Bakterienarten der Typhusgattung vor. Die Aufein¬
anderfolge derselben ist in allen Figuren die nämliche und
wir können darum die hier sLattgefundene Gruppierung ein¬
zelner Arten als ein starres System betrachten. Namentlich
angeführt sind acht Arten u. zwe die sieben Erreger typho¬
ider Erkrankungen des Menschen und die Frei sz sehen
Schweinepesterreger. Die Kurve stellt den Agglutinations¬
titer eines jeden, durch die Aufschrift charakterisierten
Seiiims, für alle uns beschäftigenden Bakterienarten dar.
Bei Betrachtung der Kurven ergeben sich auf den ersten
Blick bei einzelnen Seren beträchtliche Differenzen. Von der
Breite der Kurvenbasis muß hiebei abgesehen wmrden : die
Agglutination ist gattungsspezifisch und bis zu einem ge¬
wissen Werte (der mitunter 1 zu vielen Tausenden be¬
trägt), werden fast alle Arien von jedem Serum agglutiniert.
Diagnostisch verwamtbare Differenzen bieten einzelne Kurven
Diese Bakterienart besitzt für den Menschen keine pathogenen
Eigenschaften und kommt für unsere Erörterungen nur mit Rücksicht
auf gewisse Agglutinationseigentümlichkeiten einzelner menschlicher Sera
in Betracht.
zunächst durch ihre Lage in diesem als starr zu betrachten¬
den System und dann durch die Beschaffenheit des Kurven¬
gipfels :
Vier Kurven, diejenige des Serums Schottmüller
(Fig. 4), Brion-Kayser (Fig. 3), Gärtner (Fig. l) und
Wesenberg (Fig. 8) sind eingipflig (= der Gipfel umfaßt
nur eine Bakterienart). Diejenige eines Eberth sehen Se¬
rums ist in der Regel eingipflig, in seltenen Fällen zwei-
oder sogar dreigipflig. Die Kurve des Frei sz sehen Schweine¬
pestserums ist zweigipflig; die des Lon gcopeschen Para¬
typhusserums und des Holstschen Fleischvergiftungs¬
serums immer dreigipflig.
Hienach gestaltet sich die Agglutinationsuutersuchung
für diagnostische Zwmcke folgendermaßen:
Zu den Bouillonkultnren (oder Diagnostizis) sämtlicher
in Betracht kommenden Arten der Typhusgattung wird das
Krankenserum in entsprechender (niedriger) Verdünnung (im
ersten Versuch 1:40, 1:80 und 1:200*) zugesetzt. Ist nur
eine Art in allen drei Verdünnungen agglutiniert, während
die übrigen unbeeinflußt bleilien, so können wür ohne w^ei-
teres sagen, daß diese agglutinierte Art den Erreger der
fraglichen Krankheit darslellt. Zeigen dagegen mehrere
Arten eine Agglutination bis zu 1:200, so muß man, um
zu einer präzisen Diagnose zu gelangen, weitere Serumver¬
dünnungen anstellen, bis wür zur größten Verdünnung
kommen, wmlche noch eine Agglutination hervorruft, d. h.,
bis wir den höchsten Agglutinationstiter des vorliegenden
Serums ermittelt haben. Bei Kenntnis der Agglutininstruktur
der einzelnen Serumarten ist damit bereits eine speziali¬
sierende Diagnose gegeben.
Es sind nämlich nur folgende Eventualitäten möglich
(cf. ad hoc die Figuren) :
Ist im höchsten Agglulinationstiter der Eberthsche
Bazillus allein agglutiniert, so handelt es sich um einen
Eberth sehen Typhus. Aber auch in dem- Falle, wo neben
dem Eberth sehen noch der S c h o 1 1 m ü 1 1 e r sehe oder auch
noch der Brion-Kays ersehe Bazillus gleich stark agglu¬
tiniert wurden, kann auch nur ein Eberthscher Typhus
vorliegen (Fig. 2).
Wurden in hohen Verdünnungen nur der Schott-
niül 1er sehe, Brion-Kays ersehe, Gärtn ersehe oder
Wesen bergsche Bazillus agglutiniert, dann liegt die korre¬
spondierende Krankheit vor (Fig. 1, 3, 4, 8).
Agglutiniert das in Untersuchung stehende Serum in
gleicher Stärke die Arten: Holst, Schottmüller' und
Preisz, dann handelt es sich um eine Hol st sehe Fleisch¬
vergiftung. Ein Schottmüllersches Paratyphusserum
wmrde nämlich nur den S ch o ttmü Ile r sehen Bazillus
agglutinieren; der Bazillus Preisz kommt aber nicht in
Betracht, da er nach den bisherigen Erfahrungen nur für
Schweine pathogen ist (Fig. 5).
Endlich kann noch die gleichzeitige und gleich starke
Agglutination der Longeopes sehen, Holstschen und
Preisz sehen Bazillen Vorkommen. Der vorliegende Krank¬
heitsprozeß ist dann ein Long cope scher Paratyphus. Denn
nur das Serum diesbr Krankheit vermag den Loug-
cop eschen Bazillus (im höchsten Agglutinationstiter) zu
agglutinieren (Fig. 7).
So führt die Ermittlung des höchsten Agglutinations¬
titers bei Kenntnis der Agglutininstruktur, die eine kon¬
stante Eigenschaft der einzelnen Serumarten darstellt, zu
einer präzisen Diagnose — eines vorausgesetzt: daß man
für die Untersuchungen nicht etwa agglutininimmune oder
schlecht agglutinable Stämme verwendet, siondern solche
von erwüe.sener, ausgezeichneter Agglutina-
bilität.
Zum Schlüsse hätte ich noch zu bemerken, 'daß meines
Wissens die Firma Merck beabsichtigt, außer den Dia¬
gnostizis für Typhus und zwei Paratyphen, die sie bereits
*) Eine positive Reaktion der beiden ersten Verdünnungen kann
von einer lange zuvor überstandenen typhoiden Erkranknng herrühren.
Nur die letzte Verdünnung gestattet — dies aber in völlig verläßlicher
Weise — die Annahme einer- besteh en den typhoiden Erkrankung,
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
79
oiiigeführt hat, auch solche für die übrigen typhoiden Er¬
krankungen des Menschen in den Handel zu bringen. Es
wird dann für jeden Arzt die Möglichkeit bestehen, auf dem
geschilderten Wege zu einer präzisen ätiologischen Diagnose
zu gelangen. Dabei wäre es wünschenswert, daß die Agglu-
tinabilität dieser Diagnostika vor ihrer Ausgabe einer, wo¬
möglich amtlichen, Prüfung unterzogen werden.
{Referate.
Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen
zur modernen Kultur.
Von Dr. med. Iwan Bloch, Spezialarzt für Haut- und Sexualleiden in
Berlin. Verfasser von „Ursprung der Syphilis“ etc.
Berlin 1907, L. Marcus.
Auf Grund eingehender Studien und einer umfangreichen
Literaturkenntnis, nicht nur der wissenschaftlichen, sondern auch
der belletristischen Literatur, unternimmt der Verfasser den Ver¬
such, eine Enzyklop<ädie der gesamten Sexualwissenschaft zu ver¬
fassen und bringt in 33 Kapiteln so ziemlich alles, was sich
über Liebe, Ehe, Sexualleben, Sexualerkrankungen etc. sagen
läßt. Es ist unmöglich, hier auf den Inhalt des ganzen, groß
angelegten Buches einzugehen, deshalb seien nur die ITeber-
schriften der wichtigsten Kapitel angegeben; sie lauten: Das
Elementarphänomen der menschlichen Liebe; die Ehe; die freie
Liebe; Verführung, Genußleben und wilde Liebe; die Prostitu¬
tion; die Geschlechtskrankheiten, deren Verhütung, Behandlung
und Bekämpfung; sexuelle Reiz- und Schwächezustände; Psycho-
pathia sexualis; sexuelle Perversionen; das Rätsel der Homo¬
sexualität; Sadismus, Masochismus, Fetischismüs ; die Enthalt¬
samkeitsfrage; die sexuelle Erziehung; die sexuelle Hygiene
und so weiter. Die Sprache ist populär, aber ernst und würdig,
die Wiedergabe meist objektiv, doch ist Verf. nicht immer frei
von Uebertreibung, so im 21. Kapitel, in welchem er die breit
angelegte Erzählung eines sexuell perversen russischen Revolu¬
tionärs allen Ernstes als Beitrag zur Psychologie der russischen
Revolution wiedergibt.
Die Eheschließung vom gesundheitlichen Standpunkte.
Von S. E. Heiisclieii, Professor an der medizinischen Fakultät in
Stockholm.
Autorisierte Uebersetzung von Dr. Leo Klemperer, prakt. Arzt in Karlsbad.
Wien 1907, M. Perles.
Verf. hebt zunächst die hygienische Bedeutung der Ehe
für den einzelnen hervor, weist statistiscli nach, daß in jedem
Alter und bei beiden Geschlechtern die Mortalität der Ledigen
größer ist als die der Verheirateten und kommt dann auf jene
Erkrankungen zu sprechen, die der Ehe gefährlich sind inso¬
fern, als sie den anderen Teil oder die Nachkommenschaft un¬
günstig beeinflussen. Verf. bespricht von diesem Standpunkt die
Tuberkulose, Herzkrankheiten, Arteriosklerose, Aneurysma, Dia¬
betes, Nierenkrankheiten, Nerven- und psychische Erkrankungen,
Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten, erörtert deren Bedeutung
für die Ehe, die Bedingungen, unter denen dem Kranken die
Ehe gestattet werden kann, bespricht die Bedeutung der Ehe
unter Blutsverwandten und verlangt schließlich zum Schutze der
Ehe und der Nachkommenschaft die folgenden Maßregeln :
1. Obligatorischer Unterricht in den Schulen, betreffend
die Funktionen der Geschlechtsorgane und deren wichtigsten Er¬
krankungsformen, sowie der Gefahren der letzteren.
2. Obligatorischer, nicht qualifizierter Nachweis über den
Vollzug einer ärztlichen Untersuchung als unerläßliche Bedin¬
gung für die gesetzliche ^Eheschließung.
3. Strafbestimmungen für denjenigen, der mit Wissen und
Willen durch den geschlechtlichen Verkehr eine andere Person
einer venerischen Erkrankung aussetzt oder sie infizieit.
*
Unseren Söhnen! Aufklärung über die Gefahren des
Geschlechtslebens.
Von Dr. med. F. Siebert, prakt. Arzt.
Straubing 1907, Attenkofer.
Die Gründung der deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtski’ankheiten, deren zahlreicher Ortsgruppen, die
sich die Aufgabe stellen, in Wort und Schrift die ernste Bedeu¬
tung der Geschlechtskrankheiten in das rechte Licht zu ziehen,
Aufklärung über dieselbe zu verbreiten, hat in Deutschland eine
ganze Pdut von populären Aufklärungsschriften über dieses Thema
provoziert, zu der auch die Vorlage gehört. In einer warnnm
und würdigen, populären Sprache schildert Verf. die ernste Be¬
deutung der Geschlechtskrankheiten ohne Uebertreibung, be¬
spricht die sexuellen Vorgänge, die Bedeutung derselben für das
Individuum und die Erhaltung der Art, die Gattenwahl, die Pro¬
phylaxe der Geschlechtskrankheiten, die in ein waiines Plaidoyer
für die sexuelle Abstinenz der Unverheirateten ausklingt.
*
Die Aetiologie der Syphilis.
Von Prof. Erich Hoffmanii, Oberarzt der dermatologischen Klinik zu
Berlin.
Mit 2 Tafeln.
Berlin 1906, F. Springer.
Vorliegende Broschüre ist die erweiterte Publikation jener
Mitteilungen, die Hoffmann über dasselbe Thema auf dem Kon¬
greß der Deutschen dermatologischen Gesellschaft in Bern und
der 78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in
Stuttgart in diesem .fahre erstattet hat.
Nach genauer Wiedergal)e aller den Nachweis der Spiro-
chaete pallida im Sekret und Gewebe bezweckenden Unter-
suchungsmethoden bespricht Verf. zunächst die Morphologie der
Spirochaete pallida, die Charakteristika derselben, Zartheit, ge¬
ringes Lichtbrechungsvermögen, spitze Enden, steile und schmäch¬
tige Windungen, schlängelnde Bewegung, Elastizität und Form¬
beständigkeit, rötliche Färbung nach Giemsa. Ueber die Ent¬
wicklungsstadien und die Zugehörigkeit der Spirochaete pallida
zu den Bakterien oder Protozoen ist durch die bisherigen Unter¬
suchungen keine Klärung erfolgt. Die Spirochaete pallida wurde
bisher in fast allen syphilitischen Krankheitsprozessen gefunden,
interessant sind besonders die Nachweise im Blute, in frischen
Roseolen, in der Zerebrospinalflüssigkeit, in der Hel 1er sehen
Aortitis, der Arteriitis der Hirnarterien und in den Papeln der
Iris. Bei kongenitaler Syphilis wurde dieselbe in fast allen Or¬
ganen nachgewiesen. Interessant sind hier wieder die Nachweise
im Ovarium, Ovulum und in den Hoden. Auch bei der Affen¬
syphilis und bei den Impfungen auf Kaninchenkornea wurde
die Spirochaete pallida nachgewiesen. Dieser Nachweis gestattete
die Annahme der Spezifizität der Spirochaete pallida, wenn auch
deren Kultur und Ueberimpfung derselben bisher nicht gelang.
Die Entdeckung der Spirochaete pallida ist heute schon praktisch
bedeutungsvoll bei der Feststellung frisch auf getretener, klinisch
wenig charakteristischer Initialaffekte ; sie kann durch Nachweis
in der Drüsenpunktionsflüssigkeit von Bedeutung sein für die
Diagnose älterer, latenter Lues.
Die Spirochaete pallida ist vorwiegend ein Parasit der
Lymphe und des Bindegewebes.
*
Syphilis du Poumon chez Uenfant et chez l’adulte
par le Dr. Beriel, ancien interne des höpitaux de Lyon, Preparateur du
laboratoire d’anatomie pathologique.
Paris 1907, G. S t e i n h e i 1.
Die Vorlage stellt sich als eine monographische Bearbei¬
tung des Kapitels der Lungensyphilis, sowohl beim Neugeborenen,
als auch beim Erwachsenen dar, bei welcher Bearbeitung ins¬
besondere die pathologisch-anatomische Seite der Frage eine ein¬
gehende Würdigung erfährt. Nach einer ausführlichen histori¬
schen Eiideilung bespricht Verf. zunächst die anatomischen Ver¬
änderungen, das Gumma, die Schwiele, die syphilitische Pneu¬
monie des Neugeborenen und Erwachsenen, die Bronchiektasien,
weiters die nicht syphilitischen Komplikationen. Als Ausgangs¬
punkt aller syphilitischen Verändeiungen sieht Verf. die Blut¬
gefäße an. Im Bindegewebe um die Gefäße, also in den Trabekeln
der Alveolen, kommt es zunächst zur Infiltration mit kleinen
Zellen und zur Exsudation eines serösen oder serofibrinösen
Exsudates; der chronische Verlauf gibt dem Prozeß, als einem
syphilitischen, einen speziellen Anstrich. So eiitstehen katarrha¬
lische Erkrankungen, die als gelatinöse Pneumonie, subakute
Bronchopneumonie bezeichnet werden. Typischer und charak¬
teristischer sind die Veränderungen des zweiten Stadiums. Der
-T
WIENER KLINISCHE WUCHENSCIIRIET. 1907.
Nr. n
ÖC
hyperplastische Ctiarakler tritt deutlich zutage, wobei aber die
Bindegewehshyperplasie seltener einen Lappen betrifft, meist, ent¬
sprechend gi'ößeren Bindegewebszügen, die ganze Lunge durch¬
setzt. Zn dieser Wucherung des Bindegewebes gesellen sich förm¬
lich adenomatöse Vermehrungen der Epithelien der Alveolen und
auf diese Weise entsteht die Pneumonia alha des Kindes und
des Erwachsenen. Der natürliche Ausgang dieser Veränderungen
ist die Sklerose, die zur Schrumpfung und zur Bronchiektasie
führt. Aber in diesem Infiltrat kann es durch umschriebene
Hyperplasie der Gefäßwand innerhalb des hyperplasierten Binde¬
gewebes zur Bildung umschriebener Herde von Nekrose nach
dem Typus der Entstehung des Infarktes kommen und so ent¬
steht das Gunnna.
Der Verfasser bespricht nun die in vielen Punkten noch
ungenaue Symptomatologie der Lungensyphilis. Als diagnostisch
wichtig führt Verf. an, daß die Lungensyphilis die Neigung habe,
andere Lungenerkrankungen zu simulieren. Als Anhaltspunkte
für die Diagnose seien zu beachten : die Tatsache vorausge¬
gangener Infektion; der Nachweis des Bestehens anderweitiger
syphilitischer Kranklieitsformen ; die Lokalisation der Veränd(‘-
rungen in dem Mittellappen der Lunge; der Effekt antiluetischer
Behandlung; Ausschluß der Tuberkulose durch Sputimumter-
suchung mit negativem Resultat. Verf. bespricht nun die Dia¬
gnose der verschiedenen Formen, schließlich die Therapie. Er
hebt auf der einen Seite die oft lehensrettende Bedeutung einer
zur richtigen Zeit einsetzenden antiluetischen Therapie hervor,
anderseits aber auch deren Grenzen, indem er den Satz auf¬
stellt : Syphilitische, deren Lungenaffektion einmal in das Sta¬
dium einer kavernenbildenden Pseudotuberkülose eingetreten sind,
seien in der Regel nicht mehr heilbar. Wichtig sei das frühzeitige
Einsetzen der Behandlung, die in der Anwendung von Queck¬
silber und Jod in den bekannten Applikationsweisen zu bestehen
habe. Finger.
*
Expeiimentelle Studien über die Durchgängigkeit des
Magendarmkanales neugeborener Tiere für Bakterien
und genuine Eiweißstoffe.
Von A. Uffenheimer.
München und Berlin 1906, Verlag von R. Oldenbourg.
Uffenheimer wurde durch v. Behrings Hypothesen
zur Nachprüfung speziell der PTage der Durchlässigkeit des
Intestinaltraktes Neugeborener für Bakterien und ge¬
nuine Eiweiße angeregt. Diese Frage sei wichtig, nachdem sich
der Magendarmkanal Neugeborener wohl anders verhalte, wie
der des Erwachsenen, da. ja gewisse Verschiedenheilen in den
sekretorischen Funktionen unzweifelhaft seien (Biedert, L äu¬
ge rmann, Hamburger, Leo und Es che rieh u. a.). Als
Versuchstiere dienten vorzugsweise neugeborene Meerschwein¬
chen, einzelne Kaninchen, wie auch einige Untersuchungen am
IMenschen vorgenommen werden konnten. Es wurden Fütterungs¬
versuche mit Bakterien (Micrococcus Telragenus, Milzbrand- und
Tuberkelbazillen, sowie Bacillus prodigiosus) und mit Eiwei߬
körpern (Kuhkasein, Hühnereiweiß', hämolyt. Serum, Diphtherie-
und Tetanusantitoxin) angestellt. Ein besonderes Augenmerk
wurde auf den etwa mikroskopischen Nachweis eines Uebertrittes
von Bakterien durch die Schleimhäute gerichtet.
Die Verfüttere ng von Anthraxbazillen ergab außer¬
ordentliche Differenzen gegenüber den Versuchen von v. Beh¬
ring und Much, deren Erklärung Uffenheimer dahingestellt
sein lassen will. Unter 28 neugeborenen Meerschweinchen bleiben
25, die sowohl sporenfreie, wie sporenhaltige Kulturen erhalten
hatten, gesund, während nur drei mit sporenhaltigem Material
gefütterte an typischem Milzbrand zugrunde gingen. Bei diesen
drei Tieren, nimmt Uffenheimer minimale Verletzungen an,
zumal sich eines dieser Tiere bei der Fütterung sehr gewehrt
hatte. Bei den gesund gebliebenen Tieren konnten Bazillen in
der Schleimhaut oder im Körperinnern nicht nachgewiesen werden.
Mit Tuberkelbazillen wurden 40 Versuche vorgenom¬
men. Die verwendeten Bazillen entstammten menschlicheti Tu¬
berkelbazillen (Typ. hum. Kossel, Weber, HeussX Die Tiere
wurden kürzere oder längere Zeit nach der Füttenmg
obduziert, „jede nicht ganz geAvöhnliche Erscheinung“ histolo¬
gisch untersucht. Desgleichen wurde eine größere [leihe von
Drüsen im Quetschpräparat auf Tuherkelbazillen untersucht und
auch an weitere Meerschweinchen verimpft. Gelegentlich wurde
auch das Blut verimpft. Bezüglich des verwendeten Tiermaterials
bemerkt Uffenheimer: ,,Die sehr häufig vorgenommenen Wä¬
gungen der Tiere habe ich hier weggelassen, da durch oftmalige
Schwangerschaften (ich war gezwungen, jegliches Tiermaterial zur
Züchtung der für die Experimente notwendigen Jungen zu be¬
nützen) und Futterwechsel ziemlich jähe Gewichtsschwankungen
entstanden. Im übrigen zeigten sich bedeutendere Gewichtsab¬
nahmen nur bei sehr stark fortgeschrittenen tuberkulösen Pro¬
zessen.“ (Wenn man daraus schließen muß, daß auch von tuber¬
kulösen Muttertieren stammende und von ihnen gesäugte Junge
verwendet wurden, so stehen der Verwendung solcher Tiere nach
Anschauung des Referenten einige Bedenken entgegen. Referent
schaltete solche Tiere bei seinen einseblägigen Versuchen stets
aus und benützte stets nur Tiere aus gesunden Zuchten, die, stets
kontrolliert, keinen Fall von Tuberkulose unter der .Zucht auf¬
decken ließen.)
In der ersten Versuchsreihe erscheinen 26, mit Bazillen¬
aufschwemmung in Bouillon gefütterte Tiere. Das erste Tier starb
an Aspiration, vier waren alte Muttertiere, 21 neugeborene Meer¬
schweinchen.
Zunächst erscheint erwähnenswert, daß die verfütterten
Tuberkelbazillen ziemlich rasch wieder durch den Darm aus¬
geschieden werden. So konnte bei genauer Deckglasuntersuchung
nach drei Tagen nur mehr ein zweifelhafter Tuberkelbazillus im
Stubl entdeckt werden. Uffenheimer schließt aus den Erfolgen
seiner ersten Reihe: ,,Ucberb licken wir kurz, noch ein¬
mal die eben beschriebenen Versuche, so sehen wii-
regelmäßig bei den neugeborenen Meerschweinchen,
wenn sie lange genug am Leben gelassen wurden,
der einmaligen Verfütterung von Tuberkelbazillen
eine Erkrankung an Tuberkulose folgen.“ Ein Fall mit
schon zwölf Tage nach der Fütterung mit Bazillen erfolgtem
Tode an Tuberkulose erscheint dem Autor deshalb von Wichtig¬
keit, ,,w e i 1 er einen Fingerzeig dafür bietet, daß nie h t
jede kurz nach der Geburt tödlich endende Tuber¬
kulose des menschlichen Säuglings als eine prägen!-
t a 1 durch plazentare U e b e r t r a g u n g entstandene auf¬
zufassen ist“.
Die Infektionen waren bei dieser Reihe von der Mundhöhle,
wie vom Darme erfolgt. ,, Dafür, daß der intestinalen Infektion
zunächst ein Krankheitsbild folge, vergleichbar der menschlichen
Skrofulöse, wie v. Behring es schildert, hat sich kein Anhalts¬
punkt ergeben, vielmebr schien stets der erste Erkrankungsherd
bei der Obduktion auch der am weitesten vorge¬
schrittene zu sein.“
Bei der zweiten Reihe erfolgte die Fütterung init getrock¬
neten Tuberkelbazillen. Von 14 Tieren zeigten zehn frühzeitig
getötete keine Zeichen von Tuberkulose bei der Obduktion, wäh¬
rend vier Tuberkulose erkennen ließen. Aus denselben schließt
Uffenheimer:
,,Die Befunde an den mit trocken verabreichter
Tuberkelbazillenkultur gefütterten Neugeborenen
stimmen völlig überein mit den 1.) e r e i t s geschil¬
derten. Aspiration in die Lungen mit ihren Folgen
war dabei ausgeschlossen, tl a g e g e n zeigte sich bei
zwei sehr spät (67 und 68 Tage nach der Fütterung)
getöteten Tieren Darmtuberkulose.“ Diese wird bei
intakter Schleimhaut von Uffenheimer als retrograd von den
Lymphdrüsen aus erfolgt betrachtet. (Tendeloo.)
An vier erwachsenen Meerschweinchen vorgenommene Fütte¬
rungen mit Bazillenaufschwemmung zeigten Uebereinstimmung
mit den Neugeborenen. So schließt Uffenheimer: ,,Der Tu-
b e r k e 1 b a. z i 1 1 u s geht demnach ebensogut durch die
Schleimhäute der alten, wie d er jungen Me erschwein-
chen hindurch, es handelt sich lediglich, dem ver¬
schiedenen Alter und der verschied e n e n Schwere
der Tiere entsprechend, um Unterschiede in der
Größe, der zur Infektion erforderlichen Dosen.“
Bei weiteren Fütterungsvcu'suchen wurden Tiere sehr bald
nach der Fütterung mit Tuberkelbazillen (in Bouillon und trocken)
getötet und untersucht. Es gelang, wenn auch selten, Tuberkel-
Nr. S
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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hazilliMi in der Schleiiniianl des Daniies luieliziiweisen. (Heiclies ge¬
lang auch in Ausstrichpräparaten einer Pylorusdriise und divier
Netzdrüsen 5 Tage nacli der Fütterung. Ulfen hei in er schließt;
,,B e i V e r f ü t te r u n g sehr groß e r Mengen v o n T u h e r k e 1-
h a z i 1 1 e n finden sich einzelne Ex e in p 1 ar e sch o n n a c h
w e 11 i g e n T a g e n i n D r ü s c h e ii d e s N e t z e s u n d des Loher-
h i 1 u s. Bei Aufnahme kleinerer T u b e r k e 1 b a z i 1 1 e n-
mengen in den Darm mißlingt aber in dieser Zeit
der anatomische Nachweis der T u h e r k e 1 b a z i 1 1 e n in
den Drüsen. Der Durchgang der T u h e r k e 1 h a z i 1 1 e n
(Iure h d e n ÄI a g e n d a r m k a n a 1 geht w a li r s c h e i n 1 i c h s o h r
rasch nach der Fütterung vor sich“ (welche Beohach-
tungen sich mit denen des Referenten im Fütterungsversuche
am Kaninchen decken und dieselben bestätigen. Den Durchtritt
der Bazillen durch das Epithel zu verfolgen, war dem Referenten
hei zu wenig ausgedehnter Untersuchung nicht geglückt. Hier
decken sich die Beobachtungen Uf f enheimers mit jenen von
Dohroklonsky und Hilgermann.).
Ein eigenes Kapitel widmet der Autor der ,,K notch en-
lunge“. ,,Es sind Befunde, welche ich an denjenigen
Meerschweinchen machte, die m i t B lut u n d D r ü sen
vor kurzer Zeit mit T u b e r k e 1 h a z i 1 1 e n gefütterter'
Neugeborener geimpft wurden.“ Es konnten nämlich in
den Lungen solcher Tiere ,, außerordentlich große Lymphknöt¬
chen“ gesehen werden, die auch öfters eosinophyle Zellen ent¬
hielten, welche auch eine rege Vermehrung erkennen ließen.
Uffenheimer führt deren Anwesenheit auf die mit den Drüsen
und dem Blute der Fütterimgstiere mit einverleibten Bazillen
zurück, durch welche die schon normalerweise vorhandenen
Lymphknötchen zu reger Tätigkeit veranlaßt werden. Dabei nimmt
der Autor an, daß diese Bildungen im Tierkörper mit Imniunisie-
rungsvorgängen im Zusammenhänge stehen. Bindende Schlüsse
will Uffenheimer hier dermalen nicht ziehen. (Ref. kann
diese Beobachtung hestätigen. Allerdings schienen alle lympha¬
tischen Gewebe, nach seiner Ansicht, hiebei mitbeteiligt zu sein.
Bei Uffenheimer finden wir einen kurzen Hinweis auf ge¬
legentlich auch sichtbare Milzfollikel und möge auf Befunde des
Referenten an Impftieren mit Milzfollikeln und geschwollenen
Drüsen hingewiesen werden.) j
Bei seinen weiteren Untersuchungen kommt Uffenheimer
nun zu folgenden Schlüslsen : ,,1. Der spezifische Anti¬
körper des hämolytischen Serums wurde nie r e s o r-
h i e r t. 2. K a s e i n w u r d e nie resorbiert. Hühnerei w e i ß
w u r d e nur a u s n a h m s w e i s e hei drei s c h w ä c h 1 i (; h e n
.Tu Ilgen eines Wurfes, sonst nie resorbiert. 4. Diph¬
therie- und T e t a n u s a n t i t o X i n wurden (mit einer ein¬
zigen Ausnahme) stets resorbiert.“
Es zeigte ferner von acht mit Tetanus toxin gefütterlen
jungen Meerschweinchen eines einen sicheren Uehertritt des
Toxins in das Blut.
Bei Prüfung des Verhaltens der Schleimschichte des Inte¬
stinaltraktes der Fütterungstiere zeigte sich, daß „eine voll¬
kommen lückenlose S c h 1 e i m s c h i c li t die E p i t h e 1 i e n
des Magens nach seinem Lumen hin a h s c h 1 i e ß t. Aller¬
dings zeigte sich die Dicke dieser S c h i c li t e an ver¬
schiedenen Stellen ver, schieden s tark, aber ohne, daß
auffallend große U n t e r s c h i e d e v o r li a n d e n w a r e n.“ Es
handelte sich um Tiere im Alter von 24 Stunden bis zu drei Tagen.
*
Die intestinale Tuberkuloseinfektion mit besonderer
Berücksichtigung des Kindesalters.
Von Livlus Fürst.
Stuttgart 1905, Enke.
Die außerordentlich umfangreichen Ausführungen des
Autors, welche so ziemlich auf alle hier in Betracht kommenden
Fragen Rücksicht nehmen, lassen sich wohl in Kürze nicht refe¬
rieren. Wertvoll für den in dieser Richtung Arbeitenden ist die
Veröffentlichung durch die außerordentlich reichlich gesammelte
einschlägige Literatur. Wie sehr dieselbe gemäß dem großen
Interesse für diese Fragen ini Anwachsen begriffen ist, zeigen
die vielen Nachträge nach Abschluß des Buches.
Unter anderem widmet Fürst der Frage der ,, Disposi¬
tion“ gleichfalls ein Kapitel. Er meint hieliei: „Man mag nun
Anhänger oder Gegner einer , Disposition' sein, sie verdient auf
jeden Fall ausführlicher berücksichtigt zu werden. Durch ein¬
faches Negieren bringt man eine so wichtige Frage der Lösung
nicht näher, ebensowenig aber durch ein apodiktisches , Kredo'.
Dabei stehen Anschauungen von v. B a u m g a r t e n, Cohn h e i m,
Geller, v. Behring u. a. dem Standpunkte von Orth gegen¬
über. Orth erkennt eine gewisse Disposition im Zusammenhänge
mit der Konstitution an, (welche Anschauungen auch Ref. zu
teilen, nach seinen Beohachtungen für richtig findet). Auch
Gottstein, H neppe, Martins und Schlüter sehen in den
pathogenen Mikroorganismen nicht das auslösende Moment der
Infektionskrankheit. ,,Das ,Auszulüsende' ist die körperliche An¬
lage. Nicht alle Bazillen, wie die bakteriologische Aetiologie an¬
nimmt, sind für alle Menschen gleich infektiös; das Determinie¬
rende läge im Wirt, wenigstens zum großen Teile; also in der
individuellen Disposition. Diese ist nach den Genannten das
variable Verhältnis der pathogenen Wirkung eines Mikro¬
organismus zur Konstitutionskraft dos Menschen.“
Ein weiteres Kapitel ist der Frage der Latenz gewidmet.
,,Von der Konstatierung einer bedingten Disposition, die wir so¬
eben erörtert haben, ist die Annahme einer Latenz nicht gut
zu trennen.“ Im Nachtrage weist Fürst auf Befunde des Re¬
ferenten längerer Latenz von Tuberkelhazillen in nicht spezifisch
tuberkulös veränderten Lyinphdrüsen hin. Entscheidende Urteile
müßten freilich erst nach weiteren Ergebnissen abgewartet werden.
Seine Ausführungen faßt der Autor in 23 Schlußsätzen zusammen.
Erwähnt mögen aus denselben werden :
„7. An einer auf verminderter örtlicher oder konstitutio¬
neller Widerstandskraft beruhenden Disposition, bzw. Ausbreitung
ist nicht zu zweifeln.
9. Es besteht die Möglichkeit einer jahrelangen Latenz viru¬
lenter Tuberkelbazillen oder Perlsuchthazillen im menschlichen
Körper.“ (Typus humanus und Typus bovinus.)
14. Rinder, welche ohne klinisch nachweisbare Tuberkulose
reagieren, sind infektionsverdächtig, da ihre Milch virulente Perl¬
suchthazillen enthalten kann.
15. Die Persuchtbazillen können das Epithel und die Schleim¬
haut des Darmes passieren, ohne daselbst nachweisliche Läsionen
zu hinterlassen und sich erst in den Darmfollikeln deponieren.
20. Die kutane Kontaktinfektion des Menschen ist ein An¬
halt dafür, daß eine ahsolute Artverschiedenheit nicht be¬
stehen kann.
22. Zur Verhütung der Rindertuberkulose ist die Immuui-
sierung der Rinder, die Purifikation des Viehbestandes, die Pro¬
duktion keimfreier Milch und das Entkeimen derselben, neben
dem Fernhalten der irihalatorischen und Kontaktinfektion von
Mensch zu Mensch, von großer Bedeutung.“ J. Bartel.
Aus v/ersehiedenen Zeitschriften.
14. Ueher den bisherigen Verlauf der deutschen
Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit in
Ostafrika. Von Geh. -Rat Prof. Dr. R. Koch. Vier amtliche
Berichte Kochs an den Staatssekretär des Innern gelangen in
einer Sonderheilage zu Nummer 51 der ,, Deutschen med. Wochen¬
schrift 190Ö“ zum Abdruck. Wir geben im nachfolgenden einen
kurzen Auszug der wissenschaftlichen Ergebnisse. Die Schlaf¬
krankheit wird, wie frühere Untersuchungen ergehen haben, durch
das Tryjianosoma gamlnense bedingt, welches durch Fliegen von
Tieren auf die Menschen überlxasxen wird. Diese Fliegen, Glos-
sinen, leben ausschließilich von Blut und müssen jeden zweiten
bis dritten Tag Gelegenheit haben, frisches Blut zu saugen, sonst
gehen sie zugrunde. Unter den Glossinen war es besonders die
Glossina palpalis, welche sich als mit dem Trypanosoma infiziert
erwiesen hatte. Es gibt aber noch andere Arten von Glossinen,
von welchen ebenfalls behauptet wurde, daß sie Träger der In-
feklion sein können. Man fing nun solche Glossinen und züclitele
sie; die jungen, eben aus den Puppen kommenden Glossinen
wurden nun an Ratten gefüttert, die in ibrem Blute Trypanosoma
gambiense enthielten. Es zeigte sich, daß auch andere Glos¬
sinen, so die Glossina fusca und die Glossina tachinoides, die
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
InleklioiistriifK'r der Sclilul'kiaitklieii sein können. Das ist für
die Aetiülugie der Krankheit von großer Wichtigkeit. Den In-
h'klionsstoff, welchen die Glossinen auf die Mensclien ühertrageji,
holen si(; sicli aus dem Hlute des großen infizierten Wildes
(Antilope und Büffel), welches selbst nicht krank ist. Aber auch
einzelne Haustiere (Schafe und Ziegen), zahlreiche Wasservögel,
Fische, welche an der Oberfläche schwimmen, sodann Fluß])ferde
und Krokodile liefern den Glossinen das Blut, dessen sie zum
Lehen bedürfen. Auch Wildschweine und wahrscheinlich amdi
andere Lebewesen dienen dem Trypanosoma gambiense als Wirt.
Trotz des dichten Panzerkleides ist das Krokodil für den Stachel
der Glossinen zugänglich; im IMagen mehrerer Glossinen konnte
frisch gesogenes Krokodilblut mit Sicherheit nachgewiesen werden.
Im deutschen Muansagehiet herrscht die Schlafkrankheit nicht,
gleichwohl zeigten sich unter 228 gefangenen und sorgfältig unter¬
suchten Exemplaren der Glossina palpalis 39 (d. i. 17'’/o) mit
Trypanosomen infiziert. Diese Tiypanosomen wiesen erhebliche
Verschiedenheiten in Größe, Gestalt, Form der Geißel, Lage und
Gestalt der Blepharoblasten von dem Trypanosoma gambiense auf,
erst weitere Untersuchungen sollen ihr Verhältnis zum eigentlichen
Erreger der Schlafkrankheit feststellen. In dem Blute von vier
Krokodilen fand Koch auch eine Art von Hämogregarinen, die
eine entfernte Aehnlichkeit mit den Trypanosomen besitzen. Ob
diese Blntparasiten etwa zum Entwicklungskreis der Trypanosomen
gehören, was nicht unmöglich ist, sollen ebenfalls weitere Unter¬
suchungen lehren. Die Glossinen halten sich nur unmittelbar
am Seeufer auf; da, wo der im Wasser wachsende Ambatschhusch
das Ufer umsäuml, fand man recht oft zahlreiche Glossinen.
Sobald dieser Busch heruntergehauen oder abgebrannt war, ver¬
schwanden auch die Glossinen; durch Beseitigung des Busch¬
waldes könnten also die Inseln schon fliegenfrei gemacht werden.
Das deutsche Gebiet war keineswegs, wie nach den eingelangten
Berichten zu erwarten stand, von endemischer Schlafkrankheit
befallen ; die wenigen verstreuten Fälle, welche hier bisher be¬
obachtet wurden, stammen ausnahmslos aus englischem Gebiete.
Zu weiteren Studien begab sich daher die ganze deutsche Ex¬
pedition nach Sese bei Entebbe (Britisch-Ostafrika), woselbst ein
.Missionshaus und zahlreiche Hütten zur Unterkunft und zur Be¬
handlung v<m Kranken dienten; auch ein Lazarett der Weißen
Väter stand für die klinischen Studien und die Behandlung vor¬
geschrittener Fälle von Schlafkrankheit zur Verfügung. Als die
Krankheit vor etwa vier Jahren auf den ca. 40 größeren und
kleineren Inseln der Sese-G nippe erschien, betrug die Zahl der
Einwohner gegen 30.000; jetzt ist dieselbe nach der Schätzung
der Missionäre auf 12.000 gesunken und noch fortwährend werden
zahlreiche JMenschen, vorwiegend Vlänner im kräftigsten Alter,
durch die Krankheit w^eggerafft. Einzelne Inseln, die früher stark
bevölkert waren, sind jetzt schon menschenleer. Eines der kon¬
stantesten Kennzeichen heim Beginn der Krankheit ist die An¬
schwellung der Lymphdrüsen am Halse. In 163 Dzäisenpunklionen
wurden IGOmal Trypanosomen gefunden. In vergrößerten Lymph¬
drüsen auch solcher Menschen, welche sich für gesund hielten
und noch zur Arbeit gingen, konnten mehrfach Trypanosomen
nachgewiesen werden. Von den auf deu Sese-Inseln lebenden
IMenschen waren ca. 60 bis 70°/o sicher infiziert und da es auch
Infizierte gab, deren Drüsen noch nicht angeschwollen waren,
waren wahrscheinlich alle Menschen auf diesen Inseln schon
krank. Es galt nun, diese Menschen womöglich zu retten. Man
begann sofort mit dem Versuche, dies durch ein Heilmittel zu be¬
werkstelligen. Eine Arsenverhindung, das Atoxyl, welche Ehr¬
lich in Frankfurt der Expedition mitgegeben, diente diesem
Zwecke. Koch injizierte, langsam ansteigend, von 006 bis schlielT
lieh 0-5, w'elch hohe Dosis an zwei aufeinander folgenden Tagen
verabreicht wurde. Nach derartigen Dosen schwanden die Trypa¬
nosomen aus den Drüsen (Punktion derselben) und waren etwa
zehn Tage lang nicht mehr aufzufinden. In einzelnen Fällen
kehrten sie ausnahmsweise wieder, aber unter 20 Kranken, cvelche
nach dem 20. Tage untersucht wurden, waren nur in einem Falle
Trypanosomen nachzuweisen. Eine einmalige Behandlung mit
Atoxyl scheint noch nicht vollkommen wirksam zu sein, man
muß die Injektionen (so wie das Chinin zur völligen Abtötung der
Malariaparasiten) wiederholt in längeren Zwischenräumen ver¬
abreichen; etwa alle 15 bis 20 Tage. Acht Stunden nach der
ersten lujekliou, an beliebiger Köhlers teile appliziert, waren die
Trypanosomen in den Lymphdrüsen nicht mehr nachweisbar. Die
Zahl der so behandelten Kranken wuchs von Tag zu Tag, im
letzten Berichte vom 5. November sagt Koch: ,,\Vir behandeln
augenblicklich gegen 900 Kranke und werden, obwohl wir fast
nur noch Schwerkranke annehmen, in ein bis zwei Wochen
ein Tausend zu behandeln haben .... In zwei bis drei Monaten
werden wir so weit sein, daß wir hei der Mehrzahl unserer
Kranken die Kur beendigen können .... Die Besserung unserer
Schwerkranken, die ohne das Atoxyl wohl zum größten Teile
schon zugrunde gegangen wären, hat so bedeutende und sichtliche
Fortschritte gemacht, daß in bezug auf die spezifische Wir¬
kung des Mittels kein Zweifel mehr obwalten kann.“ Freilich
müssen die Behandelten noch monatelang beobachtet werden, ob
keine Rückfälle auftreten. Dann käme auch die Prophylaxis des
Leidens in Betracht. Auch nach dieser Richtung mliten die Studien
nicht. An vielen Stellen der Hauptinsel und auf einigen Neben¬
inseln wurden Glossinen gefangen und untersucht. Unter 1497
untersuchten Fliegen befanden sich 177, in deren Verdauungs¬
organen frisch gesogenes Menschenblut (Gestalt und Größe der
Blutkörperchen und das Vorkommen von Filaria perstans, ein
hier sehr häufiger Befund bei Menschen) gefunden wurde, bei
111 fand man Blut von Krokodilen. Es kann keinem Zweifel unter¬
liegen, sagt Koch, daß die Glossina palpalis sich vorzugsweise
vom Blute des Krokodils ernährt, und daß letzteres somit eine der
wichtigsten Existenzbedingungen für die Glossina palpalis, wenig¬
stens im Bereiche des Victoria-Nyanza, bildet. Aus dem Blute
zweier Krokodile wurden Kulturen von Trypanosomen angelegt,
welche jetzt künstlich weiter kultiviert werden; ob diese Trypa¬
nosomakulturen von den Hämogregarinen oder von den Trypa¬
nosomen des Krokodilblutes abstammen, das müssen weitere Ver¬
suche lehren. Die in den Verdauungsorganen gefangener Fliegeji
gefundenen Trypanosomen zeigten verschiedene, schon früher
kennen gelernte Typen, die vermutlich von Parasiten des Krokodil¬
blutes abstammen und mit der Schlafkrankheit keine Beziehung
haben. Nur eine einzige Fliege enthielt das Trypanosoma gam¬
biense, dessen Nachweis das Vorhandensein der Ansteckungs¬
gefahr an bestimmten Orten erkennen ließe. E. F.
*
15. Appendizitis oder Ab d oni i na 1 ty p h u s ? Von
F. Lejjars. Es gibt Fälle, wo eine Appendizitis vorliegt und
iVbdominal typhus angenommen wird, ebenso kommt auch das
Umgekehrte vor, schließlich gibt es Fälle, wo Abdoininaltyphus
und Appendizitis gleichzeitig bestehen, aber das Vorherrschen
bestimmter Symptome nur auf eine von beiden Erkranküngen
hinweist. Es sind Fälle bekannt, wo bei bestehendem Abdominal¬
typhus von der irrtümlichen Diagnose einer Appendizitis au,s-
gehend, ein operativer Eingriff vorgenommen und ein unver¬
änderter Wurmfortsatz vorgefuiiden wurde. Trotz der bereits be¬
stehenden schweren Allgemeiniiifektion wurde der Eingriff meist
gut vertragen und schien den weiteren Verlauf des Typhus nicht
zu beeinflussen. Wenn es auch seltener geschieht, daß eine
Appendizitis als Abdoininaltyphus diagnostiziert wird, so sind
die Folgen eines solchen Irrtums, wenn daran längere Zeit fest¬
gehalten wird, schwerer, weil der richtige Zeitpunkt für einen
operativen Eingriff versäumt wird. Die Differeutialdiagnose
zwischen Typhus und Appendizitis stützt sich auf die Analyse der
klinischen Symptome, die Serumreaktion, die Blut- und Harn¬
untersuchung. Die klinischen Symptome reichen in atypischen
Fällen zur Differentialdiagnose für sich allein nicht aus, da zum
Beispiel Diarrhoe, Kopfschmerzen, Prostration, auch bei Appen¬
dizitis, lokalisierter Schmei-z in der rechten Fossa iliaca, auch
bei Abdoininaltyphus vorkommt. Albuminurie ist bei Typhus
häufiger und inlensiver und ihr frühzeitiges Auftreten spricht
zugunsten dieser Diagnose, Indikanurie und Toxizität des Harns
liefern keine für die Klinik verwertbaren Aufschlüsse. Von großer
Bedeutung ist die Blutuntersuchung, da der Abdominaltypbus
gewöhnlich mit Hypoleukozytose, die Appendizitis, speziell die
zur Eiterung tendierende Form mit Hyperleukozytose einhergeht,
jedoch sind zur Entscheidung wiederholte Blutuntersuchungen
erforderlich und zu berücksichtigen, daß bei septischer Appen¬
dizitis die Hyperleukozytose oft fehlt und anderseits entzündliche
Komplikationen des Typhiis zu Hyperleukozytose führen können.
Nr. 3 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Kino Oiigene Gruppe hilclon jene, besonders iin Kindesalter vor-
kominenden Fälle, wo Ai)pendi/i|is und Abdoniinallyphus kom¬
biniert aui'treien. Gewöhnlich setzt hier die Erkrankung unter
dem Bilde der akuten Appendizitis ein, nach eitiigen Tagen geben
die akuten Abdominalsymptome zui'ück und es Ireteii Diarrhoen,
Prostration und Roseola auf. Von besonderem Interesse sind
hier jene Fälle, wo im akuten Sünlium operiert wurde und typhöse
Geschwüre im Wurnd’ortsatz seihst nachgewiesen werden konnten,
wo man aber eigentlich nur von einer Lokalisation der Typhus-
iid'ektion im Wurmfortsatz sprechen kann. Auch gibt es Fälle,
wo im Verlaufe eines zweifellosen Abdominaltyphus Erschei¬
nungen auftreten, welche als typhöse Darniperforation gedeutet
werden, während tatsächlich Appendizitis vorliegt, welche nicht
unbedingt perforiert sein muß. Jedenfalls erfonlern diese Fälle
rasches operatives Eingreifen. In zweifelhaften Fällen, wo im
Initialstadium die Entscheidung, ob Appendizitis oder Ahdominal-
lyphus vorliegt, getroffen werden soll, erfordert das Auftreten aku¬
ter, bedrohlicher Erscheinungen jedenfalls die Vornahme des opera¬
tiven Eingriffes. — (Sem. med. 1906, Nr. 44.) a. e.
*
16. Witterungseinf lüsse hei sieben Epilepti¬
schen. Von Oberarzt Dr. Georg Lomer in Neustadt (Holstein).
Die Beziehungen zwischen dem Auftreten von Krampfanfällen bei
Epileptikern und den meteorologischen Faktoren, bedürfen noch
einer endgültigen Klärung. Lomer versuchte diese Beziehungen
bei sieben epileptischen Frauen, durchwegs chronische Fälle, fest¬
zustellen und berücksichtigt hiebei Luftdruck, Bewölkutig, Wind,
Temperatur, Niederschläge, Gewitter, ferner auch kosmische Vor¬
gänge, wie Sonnenauf- und -untergärig, sowie Stellung des Mondes.
Von allen diesen Faktoren scheinen lediglich die Luftdruck¬
schwankungen das Auftreten der Anfälle in dem Sinne zu heein-
flussen, daß mit dem Steigen oder Fallen des Luftdruckes die
Zahl der Anfälle zunimint und die größten Luftdruckschwankungen
mit der Hauptziffer der Anfälle zusammenfallen. Es kommt auf
diese Weise eine mangelhafte Anpassungsfähigkeit an die Schwan¬
kungen des Luftdruckes bei Epileptischen zum Ausdruck. —
(Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 41, H. .6.)
S.
*
17. Ueber den therapeutischen Wert vollstän¬
diger S t i m m ruhe bei der A n s t a 1 1 s b e h a n d l u n g der
Kehlkopft uberkulose. Von Felix Semon in London.
Schon 1887 erkannte Moritz Schmidt, als er die Tracheotomie
in Fällen von Kehlkopftuberkulose empfahl, daß das wirksamste
Element dieser Methode die ,, Ruhigstellung des Kehlkopfes“ sei.
Nach der Tracheotomie erlischt oft der Prozeß ohne weitere
Behandlung. Vollständiges und durch längere Zeit fortgesetztes
Schweigen ist — wie Verf. ausführt — nur hei einer Anstalts¬
behandlung möglich und auch da nur, wenn der Leiter der An¬
stalt den Kranken in seinem schweren Vorhaben unterstützt (ge¬
eignete Tageseinteilung, Verordiuen einsamer Spaziergänge, Sitzen
zwischen zwei verständigen Patienten bei den Mahlzeiten, Be¬
lehrung der anderen Kranken). Dabei ist diese ungemein lästige,
den Kranken stark deprimierende Methode weder ausnahmslos
sicher, noch in allen Fällen von Kehlkopftuberkulose angezeigt,
noch macht sie immer die gleichzeitige Lokalbehandlung über¬
flüssig; sie ist vielmehr ein wertvolles Hilfsmittel, das, in schwe¬
reren Fällen mit geeigneter Lokalbehandlung komhiniert, letztere
trefflich unterstützt. Speziell indiziert ist diese Schweigmethodo
in Fällen entzündlicher Reizung des Kehlkopfes, bei der Lungen-
I uberkulose, besonders bei hartnäckigen Katarrhen des Kehlkopfes,
Kongestion der Stimmbänder, Relaxation der Taschenbänder und
— in weiter vorgeschrittenen Fällen — bei uinschriebener Ulzera¬
lion der Stimmbänder, Geschwüren in der Interarytänoidfalte, all¬
gemeiner Infiltration und Bewegungsstörungen desKiiko-Arytänoid-
gelenkes. Da, wo der ganze Kehlkopf tiefgehender Ulzeration und
teilweiser Perichondritis anheimgefallen ist, ist von der Methode
niclits zu erwarten, wie sie auch manchmal ganz versagt in Fällen,
in welchen man nach früheren Erfahrungen zu Hoffnungen be-
reclitigt sein konnte. Unter ihrer Befolgung sah Semon in einer
ganzen Reihe von Fällen, in welchen sie entweder allein oder
mit geeigneter Lokalbehandlung kombiniert angewandt wurde, Re¬
sultate, wie sie ihm kaum je zu Gesicht gekommen waren. „Hart¬
näckige enizündliche Reizungen, die jeder Lokalheliandlung g(‘-
Irotzt hatten, verschwanden, Infiltralionen nicht zu hohen Grades
gingen zurüc.k, isolierte Geschwüre an den Slimm- und Taschen-
händern und in der Interarytänoidfalte verheilten dauernd
und selbst Bewegungsstörungen im Kriko-Arytänoidgelerdc hesser-
(en sich oder gingen in ganz besonders günstigen Fällen gänzlich
zurück.“ Man lasse sich nicht durch anscheinenden Mangcd an
Erfolg im Anfang der Behandlung oder durch gelegen (liehe kleine
Rückfälle entmutigen. Zu dem Erfolge tragen alle jene günslig(m
Faktoren bei, welche eine Anstaltshehandlung den Kranken ülx'r-
haupt in hygienisch-diätetischer Hinsicht bietet. (Berliner
klinische Wochenschrift 1906, Nr. 47.) E. F.
*
18. Opsonine und bakterielle Vakzine. Von
G. W. Roß, Toronto. Das Rlutserum enthält bekanntlich Stoffe,
welche imstande sind, Bakterien verschiedener Art in der Weise
zu beeinflussen,' daß sie der Phagozytose zugänglich werden.
Man bezeichnet diese Stoffe als Opsonine. Wenn man die o])sn-
nische Kraft des normalen Blutserums gegenüber einem beistimm¬
ten Bakterium als Einheit nimmt, so wird das Verhältnis der
opsonischen Kraft irgendeines pathologischen Blutes zu der als
Einheit betrachteten des normalen als ,, opsonischer Index“' l)e-
zeichnet. Ist z. B. die opsonische Kraft irgendeines Blutes gegen¬
über dem Tuberkelbazillus halb so groß, wie die. des normalen,
so heißt es : „Dieses Blut hat den opsonischen Index 0-5.“ Liegt
nun klinisch eine Erkrankung vor, so ist zunächst der Erreger
derselben zu isolieren. Hierauf wird der opsonische Index des
Blutes gegenüber diesem Erreger bestimmt. Dann wird aus diesem
Erreger ein Vakzin bereitet und dasselbe dem Patienten in ent¬
sprechenden Zeitintervallen und bestimmter Dosierung inokuliert.
Die leitenden Gesichtspunkte dieser Behandlungsweise, welche
im wesentlichen von Almroth Wright und Douglas' ausge¬
arbeitet worden sind, bestehen in folgendem: Nach der ersten
Inokulation sinkt zunächst der opsonische Index; dies ist die
negative Phase. Nach einiger Zeit — die individuell verschieden
ist — steigt er jedoch wieder zur Norm und übersteigt dann
dieselbe; dies ist die positive Phase, die einige Zeit dauert.
Bald zeigt der opsonische Index die Tendenz, wieder zu sinken.
Dies ist der Zeitpunkt, die Inokulation zu wiederholen. Die
Hauptregel besteht nun darin, nie während der negativen Phase,
sondern stets während der positiven die Inokulation zu wieder¬
holen. Nach diesen Gesichtspunkten hat nun Verf. eine ganze
Reihe von Krankheitsfällen behandelt, die bakterieller Infektion
ihren Ursprung verdankten und deren Erreger zu isolieren mög¬
lich war. Besonderes Gewicht wurde auf tuberkulöse Infektionen
aller x\rt gelegt. Es handelte sich um Fälle von Lupus, voii tuber¬
kulöser Iritis, von tuberkulöser Zystitis und Drüsentuberkulo,se,
die sämtlich mit Erfolg behandelt wurden. Bei der Lungentuber¬
kulose, die eine Sonderstellung einnimmt, müssen vom opsoni¬
schen Standpunkt zwei Formen unterschieden werden: 1. Fälle
von Initialphthise, bei denen der Prozeß lokalisiert ist; bei diesen
ist der opsonische Index gering. 2. Fälle von mehr oder weniger
fortgeschrittener Tuberkulose, bei denen der opsonische Index
von Tag zu Tag schwankt. Von dieser letzteren Art hat Verfasser
sieben Fälle mit Tuberkulin behandelt. Die Fälle zeigten zwar
sämtlich eine ausgesprochene Besserung, doch glaubt Verfasser
nichf, daß dieselbe dem Tuberkulin zu verdanken ist und glaubt
überhaupt nicht, daß auch nur einigermaßen vorgeschrittene
Limgentuberkulose der Tuberkulinbehandlung zugänglich sei. Be¬
züglich der Initialphthise ist Verfasser ganz entgegengesetzter
Meinung. Er hat sechs Fälle unter Beobachtung der opsonischen
Kurve mit Tuberkulin behandelt. Sämtliche Fälle zeigten — ob¬
gleich sie sich während der Behandlungszeit in ungünstigen
Lebensbedingungen befanden — eine deutliche Besserung. Ver¬
fasser kommt zu dem Schlüsse, daß die Methode von Wright
und Douglas eine wertvolle Bereicherung unseres therapeuti¬
schen Könnens bedeute. — (British medical Journal, 24. Novem¬
ber 1906.) .1. Sch.
*
19. (Aus der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität
Berlin.) Untersuchungen über die perkutane Einver¬
leibung von Arzneistoffen durch Elektrolyse und
Kataphorese. Von, Doz, F, Frankenhäuser. Die experi-
8i
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
niontelleri UiilersiicTiungeu des Verfassers ergeben ein vollkoniinen
eindeutiges Resultat: Niemals findet an der menschlichen Haut
eine merkliche Einverleibung von Stoffen durch Kataphorese statt,
dagegen erweist sich die lonenwanderung nach dem Farad a y-
schen Gesetz (Iontophorese nacli Frankenliäuser) ausnahms¬
los und vollkommen wirksam. Der konstante galvanische Strom
ohne Stromwendung ergab sich als einzige praktische Kraft zur
perkutanen Einverleibung von Medikamenten. Alle Versuche zeig¬
ten, daß mit dem konstanten galvanischen Strom aus den Lösun¬
gen, mit welchen die Elektroden befeuchtet waren, gleichzeitig
alle Kationen von der Anode aus, alle Anionen von der Kathode
aus perkutan einverleiht wurden, proportional der Intensit.ät und
Dauer des Stromes, gleichgültig, in welchem Lösungsmittel
(Wasser, Alkohol, Glyzerin etc.) sie gelöst waren, vorausgesetzt,
daß eine wirkliche elektrolytische Lösung vorhanden war. Die
Konzentration der elektrolytischen Lösung kommt für die per¬
kutane elektrische Einverleihung nicht wesentlich in Betracht,
dagegen die Reinheit der Lösung und der Elektroden (blankes
Metall oder Ueherzug von chemisch reinem, hydrophilen Faser¬
stoff), da sonst die Wirkung anderer unerwünschter Elektrolyten
auch sich geltend macht. Nichtelektrolytische Substanzen (Zucker,
Gummi etc.) einer Lösung werden mit dem Strome nicht per¬
kutan einverleiht, ebensowenig die Lösungsmittel (Alkohol, Gly¬
zerin) in irgend bemerkenswertem Maße. Es' treten also unter
dem Einfluß des galvanischen Stromes, weder von der Anode,
noch von der Kathode, die Lösungen in die Haut ein, sondern
nur die Elektrolyte u. zw. gleichzeitig an der Anode die Kationen,
an der Kathode die Anionen aus den Lösungen proportional der
Intensität und Dauer des Stromes. Praktische Folgerungen aus
den Versuchen: Die Kataphorese von Medikamenten muß aus
der Liste der elektrotherapeutisch wirksamen Verfahren gestrichen
werden. Die Technik der perkutanen Einverleibung von Medi¬
kamenten mit Hilfe des elektrischen Stromes kann und muß sich
einzig und allein auf dem Gesetz der Iontophorese aufbauen.
Die Technik der Iontophorese ist einfach und sparsam. Ein typi¬
sches Beispiel hiefür ist die Behandlung des Kniegelenkes : Man
umwickelt das Gelenk mit mehrfacher Lage reiner, hydrophiler
Watte; diese wird mit einer Lösung derjenigen Flüssigkeit ge¬
tränkt, welche man anwenden will (Salizyl, Jodkali) und vor dem
I'mlegen ausgedrückt, so daß sie nicht mehr tropft. Nun legt man
über diese Watte ringsum einen Stanniolstreifen, so breit, daß
er auf keinen Fall über die Watte übergreifen kann. Man wickelt
dann den ganzen Verband mit einer Gummibinde zu und wickelt
dabei eine kleine Elektrode mit ein, die im Kontakt mit dem
Stanniolstreifen und der Leitungsschnur befestigt ist. Die Dosie¬
rung geschieht mit Galvanometer und Uhr; also sind scharfe
Kontrolle und Regulierung des Vorganges möglich, da die ein-
verleihten Klengen des angewendeten Medikamentes mathema¬
tisch genau proportional sind der Intensität des Stromes und
seiner Dauer. Die örtliche Wirkung ist aber noch abhängig von
der Fläche, auf welche sich die eingedrungenen fremden Ionen
in der Haut verteilen, i. e. abhängig vom Querschnitt der Ein-
Iritlstelle des Stromes. Daher ist die örtliche Wirkung der lonto-
])horese auf der Haut proportional der Dichte und Dauer des
Stromes. Die Berechnung der absoluten Mengen des Medika¬
mentes, welche durch die Iontophorese einverleibt wird, ist so
ohne weiteres nicht durchaus für alle Ionen möglich. Wichtiger
ist indes für die Praxis die direkte Beobachtung des Erfolges
der Iontophorese und dieser hängt von dem chemischen Charakter
der medikamentösen Lösung ab. So hat der Tierversuch gezeigt,
daß stark toxische Ionen (Strychninion von der Anode aus) den
sofortigen Tod des Tieres herheizuführen vermag. Daher ist
dringend zu warnen vor der Iontophorese sehr stark toxischer
Substanzen. Die betreffenden Versuche sind der beste und
sicherste Beweis der tatsächlichen Wirksamkeit der Iontophorese.
Die Wirkungen der Elekiropunktur gehören vollkommen in das
Gebiet der lorttophorese. Hydroelektrische Bäder sind unökono¬
misch und unzweckmäßig zur Einverleibung von Medikamenten,
da ihre Grundlage, die Kataphorese, nicht zu Recht besteht. — ■
(Zeitschi'ift für experimentelle Palhologie und Therapie, Bd. 3,
H. 2.) K. S.
*
20. (Aus dem palhologischen Institut der Universität Frei¬
burg i. B.) Leben- up tur mit tödlicher Blutung infolge
Berstens eines oberflächlichen Aneurysmas. Von
Oberarzt Dr. W^ ätz old, kommandiert zum Institut. Es handelt
sich um einen 44jährigen Mann, der Lues durchgemacht, stark
getrunken hat und in letzter Zeit über Schmerzen in der Leber¬
gegend zu klagen hatte. Dazu starkes Herzklopfen, Schwellung
des Leibes und der Beine; vor einigen Monaten ein Anfall von
Bewußtlosigkeit. Appetitlosigkeit. Die Untersuchung heii der Auf¬
nahme ergab : Pat. abgemagert., mit gelblicher Gesichtsfarbe, all¬
gemein hydropischen Erscheinungen, deutlicher Arteriosklerose.
Herz vergrößert, Herztätigkeit unregelmäßig. Abdomen aufge¬
trieben, Leber anscheinend verkleinert ; Aszites nicht deutlich.
Milz vergrößert. Im Urin Albumen. W’ährend der Htägigen
Krankenhausbebandlung klagte Pat. viel über Schmerzen in der
Lehergegend. Am 15. Behandlungstag trat plötzlich ohne irgend¬
eine äußere, nachweisbare Ursache Kollaps und große motorische
Unruhe ein ; nach IV2 Stunden Exitus letalis. Die am selben Tage
vorgenonnnene Sektion ergab als Diagnose : Leberruptur mit töd¬
licher Blutung in das Abdomen. Leberzirrhose. Hypertrophie
und Dilatation beider Ventrikel. Frische Endokarditis. Hochgradige
Sklerose der Aorta, Koronar- und aller übrigen Körperarterien.
Milztumor. Nephritis parenchyma tosa. Aus dem Sektionsproto¬
koll wäre noch zu erwähnen, daß bei Eröffnung des Abdomens
zirka zwei Liter flüssigen Blutes abflossen. Außerdeni fanden
sich zwischen den Darmschlingen in der oberen Hälfte des Ab¬
domens und die ganze Leber bedeckend reichliche Kruormassen,
zirka zwei Liter. An der Zwerchfellfläche des rechten Leber¬
lappens ist die Glissonsche Kapsel durch Kruormassen abge¬
hoben, zerrissen; darunter zeigt die Leber einen unregelmäßigen,
ca. IV2 cm langen Riß; der in einen kirscheingroßen Hohlraum
führt, der mit Kruormassen ausgefüllt ist. Die genaue und aus¬
führliche mikroskopische Untersuchung des Leberparenchyms er¬
gibt bei allen Gefäßen eine erhebliche Wmcherung der Intima,
die an manchen fast oder ganz zu Obliteration geführt hat, also
Gefäßveränderungen, wie sie bei Syphilis beschrieben werden.
Da in diesem Falle Lues nachgewiesen ist, nimmt Verf. sie
auch als Ursache dieser Veränderungen an. Infolge der geschil¬
derten Gefäß Veränderungen kam es zunächst zur Zerreißung und
zur Bildung eines Aneurysmas, das infolge fortschreitender Ver¬
änderungen der Whandung und Umgebung wieder geborsten ist
und schließlich durch den oberflächlichen Sitz und die hoch¬
gradigen Leberveränderungen zur Leberruptur geführt liat. Ver¬
fasser hebt noch hervor, daß sich Gummata in der Adventitia
der Aorta, der Gallenblasenwand und als Gumma verdächtige
Stellen in der Leber fanden. Der versuchte Nachweis der Spiro-
chaete pallida gelang jedoch nicht. In der Literatur fand Ver¬
fasser nur einen einzigen analogen Fall, über den Sacquepee
in der anatomischen Gesellschaft in Paris berichtete. Histolo¬
gisch fand sich hier geringe Zirrhose und starke Endarteriitis,
die auf eine überstandene Lues zurückgeführt wurde. Als ätio¬
logisch wichtig für die Aneurysmabildung der Arteria hepatica
sieht Grunert die Infektionskrankheiten an, die zu hochgradigen
Gefäßveränderungen und weiter zu Aneurysmabildung führen
können. Dieser Fall gewinnt jedoch nach Verf. besonders durch
den Umstand an Interesse, daß man bei ihm der Syphilis mit ab¬
soluter Sicherheit die* Ursache für die Gefäßveränderungen und
die Aneurysmabildung zuschreiben darf. — (Münchener medizi¬
nische Wochenschrift 1906, Nr. 43.) G.
*
21. Ein Beitrag zum Studium der Dissoziation
der Temperatur- und Schmer zempf in dung bei Ver¬
letzungen und Erkrankungen des Rückenmarks. Von
Dr. med. .1. Piltz, Professor der Psychiatrie und Nervenheil¬
kunde an der Universität in Krakau, gew. Primararzt der Nerven¬
abteilung am städlischen Prager Hospital in Warschau. Auf Grund
einer umfassenden Arbeit, in welcher eine reiche Literatur ebenso
Verwertung fand, wie eigene Beobachtungen, kam Piltz zu
Schlüssen, von denen hier der wichtigsten Erwähnung getan,
bezüglich der andeiun aber auf die Originalarbeit verwiesen sein
soll. Störungen der Temperatur- und Schmerzempfindung können
zerebralen Ursprungs sein (bei kapsulären und kortikalen Hemi¬
plegien, bei Hysterie), spinalen Ursprunges (Verletzungen und Er-
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
8ö
krankungen des Rückenmarkes) und endlich peripheren Urspiamges
(Kompression, Verletzüng oder Erkrankung der peripheren Nerven).
Spinale Thermoanalgesie kommt vor bei Syringomyelie, hei trau-
malischen Verletzungen des Rückenmarkes, bei Kompression des¬
selben, bei Hämatomyelia centralis, Apoplexie in den Seitenstrang,
Tabes, Pachymeningitis hypertrophica, Syphilis spinalis, Myelitis
ex compressione und bei chronischer Myelitis. Eine besondere
Bahn : hintere Wurzel, Hinterhorn, vordere Kommissur der grauen
Substanz, Vorderseitenstrang und seitliche Peripherie desselben,
aller Wahrscheinlichkeit nach das Gowers sehe Bündel, dient
zur Leitung der Temperatur- und Schmerzeindrücke. Sie ist von
den zur Leitung der taktilen Sensibilität und des Muskelsinnes
dienenden Bahnen anatomisch getrennt. Ist eine unilaterale
Läsion der grauen Substanz des Rückenmarkes auf das Hinter¬
horn beschränkt, so ergibt sich eine gleichseitige Thermoanalgesie,
zerstört sie die graue Substanz in der Nähe des Vorderhorncs,
so ist die Thennoanalgesie gekreuzt. Ist die Läsion der grauen
Substanz zirkumskript, so ist die Thennoanalgesie entsprechend
dem lädierten MedullarsegUient, auf eine bestimmte Hautoberfläche
beschränkt. Eine Läsion des Seitenstranges, mit Einschluß der
seitlichen Peripherie desselben, resp. des Gowers sehen Bündels,
bedingt immer eine totale, gekreuzte Thermoanalgesie. Gleich¬
seitige Thermoanalgesie beginnt in der Regel unmittelbar unter
der Läsionsstelle, kontralaterale ungefähr vier Wirbel unter der
Läsionsstelle, totale gekreuzte Thermoanalgesie findet ihre obere
Grenze ungefähr fünf Wirbel unter der Läsionsstelle, dann, wenn
sie durch eine Läsion der weißen Substanz, respektive des Seiten¬
stranges mit Einschluß des Gowersschen Bündels bedingt ist,
und ungefähr sechs Wirbel unter der Läsionsstelle, wenn sie
durch eine Läsion der .seitlichen Peripherie des Seitenstranges,
resp. des Gowersschen Bündels bedingt ist. Bei totaler ge¬
kreuzter Thermoanalgesie findet sich in der Gegend der oberen
Grenze desselben oft eine Dissoziation der Wärme-, Kälte- und der
Schmerzempfindung. Die Dissoziation der Wänne- und Kälte-
cuipfindung erreicht ihr Maximum bei der Anwendung von 50'^
und 0‘’. — (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten,
Bd. 41, H. 3.) S.
*
22. Ist Natriumsulfat ein echtes D arm an tisep ti¬
le um? Von John Mäher ly. Verf. wendete das Natriumsulfat
mit Erfolg bei einer Reihe von infektiösen Darmaffektionen an,
so bei den Enteritiden der Säuglinge, bei Dysenterie und bei
Typhus. Das Mittel ließ' ihn nur in einigen wenigen Fällen im
Stiche. Der Heileffekt hängt nicht nur nicht mit der abführenden
Wirkung des Mittels: zusammen, sondern tritt überhaupt nur dann
ein, wenn das Mittel nicht in abführenden Dosen gegeben wird,
auf welchen Umstand Verf. mit besonderem Nachdruck hinweist.
— (Lancet, 10. November 1906.) J. Sch.
*
23. Bemerkungen über eine Ausschaltung des
Magens vom direkten Einfluß der Arzneimittel durch
Anwendung von Sebum ovile. Von Prof. W. Jaworski
in Krakau. Mit Keratin überzogene Pillen lösen sich bekanntlich
erst im Darme, der Magen wird von der Arzneiwirkung verschont;
sie haben aber den Nachteil, daß sie zuweilen auch ungelöst
den Darm passieren. Verf. benützte darum als Pillenmasse (oder
l'eberzug) den Hannneltalg — Sebum ovile — , der bei der
Temperatur von ,45 bis öO** C schmilzt. Versuche an 52 Personen
an der Krakauer medizinischen Klinik lehrten, daßi diese Tälg-
])illen im Magen unverändert blieben. Bei Ausheberung des Magen¬
inhaltes nach einer halben bis einer Stunde waren die Pillen un¬
versehrt, der Mageninhalt selbst, wenn mit Kohlenstaub oder
Karmin versetzte Pillen benützt wurden, ungefärbt. Dagegen lösten
sich die Pillen im Darme ganz (gleichmäßige Färbung der Fäzes
mit Kohlenstaub oder Karmin, Untersuchung der Fäzes mit dem
Stuhlsieb, Entfaltung der Wirksamkeit der vom Darme resorbier¬
ten Medikamente; Jod, Atropin, Salizylsäure etc). Man kann also
Arsenpräparate, Jodnatrium, Aluminium- und Quecksilberpräpa¬
rate, dann Kreosot, Kopaivabälsam, Eisensesquichlorat, Argentum
nitricum, Tannin, Menthol, Thymol etc. in Talgpillen verordnen.
Wichtig ist, daß inan auf dem Rezept den Schmelzpunkt des Talges
mit 45® C vermerke, da ein Fett von niedrigerem Schmelzpunkt
schon im Magen schmelzen würde; daß: in einer Pille nicht mehr
als 0-1 Sebum ovile und höchstens ebensoviel von der zu ver¬
wendenden Substanz enthalten sei; wenn die Pillen wenig, zum
Beispiel nur 0 01 wirksame Substanz enthalten, so ersetze man
den Rest mit einigen Zentigrammen Pulv. liguir. oder Magnesia
usta; endlich vergesse man nicht auf ein Streupulver, um das
Zusam'menkleben der Pillen zu verhindern. Verf. gibt schlie߬
lich einige Rezeptformeln; Rp. Acidi arsenicosi 010, Sebi ovilis
р. liquefacti 45° C 10 00, Pulv. liquir. q. s. f. pil. xNo. centum,
Consp. c. pulv. Lycopodii D. S. Oder ; Podophyllini 0-20, Sebi
ovilis p. liquef. 45° C 1-00, Magnes. ustae 9-5, Div. in part. X,
f. pilula. Consp. c. Magn. ust. D. S. Oder: Natrii jodati Sebi
ovilis liquef. p. 45° C ana 10 0, M. f. pilulae No. centum, Consp.
с. Magn. ust. D. S. Oder: Acidi salicylici, Sebi ovilis liquef. p.
45° C ana 10-00, M. f. pilulae No. centum, Consp. c. pulv. Lyco¬
podii. D. S. — (Therapeutische Monatshefte 1906, H. 11.) E. F.
*
24. Zwei Fälle atypischen, syphilitischen Schan¬
kers. Von Mesch tschersky. Verf. beobachtete in zwei Fällen
den Primäraffekt am inneren Blatt© des Präputiums in Form einer
breiten Erosion. Das atypische Verhalten bestand darin, daß
I. die Inkubationszeit bis zu drei Monaten betrug und daß 2. die
Induration nicht gleichzeitig mit der Erosion auftrat, sondern
sich erst nach dem Verschwinden dieser bildete. Im übrigen
konnte nach den iVusführungen des Verfassers an der syphiliti¬
schen Natur der Erosionen kein Zweifel bestehen. — (Prakti-
tschesky Wratsch 1906, Nr. 32.) J. Sch.
*
25. Ueber einen, durch reine, sterilisiert© Milch
her vor gerufene 11 Fall von infantilem Skorbut. Von
J. Com by. Unter zehn Fällen von infantilem Skorbut, welche
der Verfasser bisher beobachtete, ist nur einer, ein etwa einjähriges
Mädchen betreffend, auf die Ernähnmg mit reiner, sterilisierter
Milch zurückzuführen, während die übrigen Fälle durch Er-
nähiämg mit verschiedenen Arten sterilisierter und noch ander¬
weitig modifizierter Milch heryorgerufen wurden. Wenn man
die außerordentliche Verbreitung der Anwendung ehifach steri¬
lisierter Milch berücksichtigt, so läßt sich feststellen, daß sie
hinsichtlich der Hervornifung von infantilem Skorbut weit hinter
den modifizierten Arten der sterilisierten Milch zurücksteht. Der
infantile Skorbut tritt erst nach längerem, drei- bis achtmonat¬
lichem Gebrauch der sterilisierten Milch auf, ebenso wie der
Skorbut der Erwachsenen eine länger dauernde Ernährung mit
Konserven voraussetzt. Der infantile Skorbut ist eine Erkrankung
des Säuglingsalters und es treten Wucherungen und Ekchymosen
des Zahnfleisches nur bei solchen Kindern auf, welche bereits
Zähne besitzen. In der großen Mehrzahl der Fälle sind Zeichen
der Rachitis vorhanden. Das Hauptsymptom des infantilen Skor¬
buts ist die schmerzhafte Paraplegie besonders der pmteren Extre¬
mitäten, welche manchmal mit Schwellungen verbunden ist, die
zur Diagnose von Rheumatismus, Syphilis, Osteomyelitis, etc. An¬
laß geben. Die Schwellungen sind durch subperiostale Hämatome
bedingt. Die Diagnose muß möglichst frühzeitig gestellt wei-den,
weil die Prognose davon abhängig ist und stützt sich auf die
schmerzhafte Paraplegie, eventuell auf den Nachweis subperiostaler
Hämatome und charakteristischer Zahnfleischveränderungen. Die
Behandlung besteht in Ersetzung der sterilisierten Milch durch
einfach gekochte frische Mildi, gleichzeitig werden einige Tage
hindurch einige Kaffeelöffel Orangen- oder Traubensaft, oder ver¬
dünnter Zitronensaft verabreicht. In den leichten Fällen wird
die Heilung nach einer Woche, in den mittelschweren Fällen
nach zwei, in den schweren Fällen nach drei bis vier Wochen
erzielt. — (Bull, et Mein, de la Soc. med. des hop. de Paris,
4906, Nr. 30.) ‘“i- e-
26. Aus der H. medizinischen Klinik zu München (Voistaml;
Prof. Friedrich Müller). Ueber eosinophile Darinerkran-
ku 11 ge 11. Von Dr. Otto Neubauer und Dr. Karl btaubli,
Assistenzärzten der Klinik. Ueber den diagnostischen Wert der
Eosinophilio bei Darnierkrankimgen gehen die Meinungen aus¬
einander. Leichtenstern sieht sie als pathognomisch für Wur'm-
krankheiten an in dem Siime, daß den Befund von Charcot-
Leyden sehen Kristallen in den Entleerungen, resp. die \er-
mehrung der eosinophilen Zellen im Blut ©in sehr häufiges, für
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. l‘J07.
Nr. 3
l)estimnite Parasiten (Ankyloslominn, AnguiUiila) ein nahezu kon¬
stantes Symptom sei. Andere (Grawitz) haben bei Darmpara¬
siten, auch hei Ankylostomiasis vergebens nach den Kristallen
gesucht. Die Verfasser haben die Kristalle sowohl bei akuten, wie
hei chronischen Darmaffektionen hin und wieder gefunden. Sie
teilen zunächst z\vei Fälle von akutem Brechdurchfall mit. In
beiden Fällen schwer gestörles Allgemeinbefinden mit kleinem
Puls, eingezügener Leih, Diarrhöen, Erbrechen, Albuminurie mit
vielen Zylindei’n, usw. ln beiden Fällen im Höhestadium der
Erkrankung, neben der Eosinophilie des Danninhaltes vollständiges
Fehlen der Eosinophilen im Blut. Erst mit dem Abklingen der
Symptome treten diese wieder auf. Ein dritter Fall, der nach
seinem klinischen Verlauf als akute Dysenterie zu bezeichnen
ist, bei dem weder Amöben noch typische Dysenteriehazillciii
nachgewiesen Averden konnten, zeigt, daß die Darmeosinophilio
nicht nur hei der Amöhendysenterie vorkommt, sondern auch bei
anderen dysenterischen Zuständen Unklaren Ursprungs, ln einem
vierten Falle handelt es sich um einen eosinophilen Katarrh des
Dünn- und Dickdarms, Atonie und Enveiterung des Magens, Hypo¬
chondrie. Der entleerte Schleim war in diesem Falle besonders
reich an Kristallen, sowie an eosinophilen Zellen, deren Zahl
auch im Blut weit über die Norm gesteigert war. Die letzten
drei mitgeteilten Fälle betreffen eine wohl charakterisierte, cosioo-
phile Affektion des untersten Darmabschnittes, deren Beobach¬
tung durch die Rektoskopie Avesentlich erleichtert wurde. In allen
drei Fällen handelt es sich um jugendliche Patienten, die Avegen
schwerer Diarrhöen, Abgang von Schleim und Blut, die ärztliche
Hilfe in Anspruch nahmen. Die mikroskopische Untersuchung
ergab in allen drei Fällen Charcot- Ley den sehe Kristalle, in
zwei Fällen auch noch zahlreiche, gut erhaltene eosinophile
Zellen. Darmschmarotzer oder Eier, spezifisclie Bakterien, Avurden
trotz eifrigen S Lichens nicht gufuuden. Die Untersuchung mit^
dem Rektoskop ergab in allen drei Fällen ein übereinstimmendes
Bild; Auf der geröteten, samtartig aufgelockerten Rektalschleiin-
haut fanden sich linsen- bis erbsengroße, gelblichweiße, leicht
abstreifbare Auflagerungen, die bei der mikroskopischen Unter¬
suchung als charakteristische, eosinophile Bestandteile, eosino¬
phile Leukozyten, Granulahaufen und Charcot-Leydensche
Kristalle enthielten. Nach dem Abstreifen des Belages blieb eine
Erosion zurück. Nirgends war ein GeschAvür zu sehen. Offen¬
bar entstehen die mitunter beträchtlichen Blutungen aus solchen
oberflächlichen Erosionen nach dem Abstreifen des Belages durch
die vorbeistreifenden Fäkalmassen. Der lokalen Eosinophilie ent¬
sprach in ZAvei von den drei Fällen eine recht beträchtliche
Vermehrung der eosinophilen Zellen im Blut. Das Leiden ist da¬
durch charakterisiert, daß es in einzelnen, mitunter sehr heftigen,
Wochen bis Monate andauernden Schüben auftritt. Zwischen
diesen Schüben können tlie Veränderungen vollständig fehlen
oder ein leichter chronischer Zustand bestehen bleiben. In ver¬
schiedenen Punkten erinnert dieses Leiden an die eosinophilen
Affektionen des Bronchialbauines, speziell an das Asthma bron¬
chiale. Auch die Beziehung zu gewisser nervöser V^eranlagung,
die auch bei anderen eosinophilen Affektionen (Asthma, Enteritis
membranacea) besteht, ist nicht zu verkennen. Auch häufig sich
wiederholende Hautausscldäge in der Kindheit, die bei den asthma¬
tischen Zuständen Avohl bekannt sind (Diathese asthmatique der
Franzosen), finden sich bei zAvei Patienten dieser Fälle. So
dürften Avohl auch die geschilderten Zustände Amn eosinophiler
Proktitis mit herdförmigen Auflagerungen, die nach x\nsicht der
Verfasser eine Avohlcharakterisierte Krankheitsgruppe bilden, als
örtliche Aeußerungen einer allgemeinen Konstitutionsanoinalie auf¬
zufassen sein. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1906, Nr. 49.)
G.
*
27. Studien über die Bestimmung der unteren
i\I a g e n g r e n z e n, mit besonderer B e r ü c k s i c h ( i g u n g der
Radiographie. Von Prof. Schüle- Freiburg i. B. Die
sicherste und absolut einwandfreie Bestimmung der unteren und
seitlichen Magengrenzen geschieht vermittels der Röntgenstrahlen
und zwar bei aufrechter Stellung des Menschen. Von den kli-
nisclum Methoden ist keine veillig sicher, am heslen ist noch
die Pe'rkussion des gefüllten Magens im Stehen. ,\ufhlähung mil
Luft führt leicht zur Ueberdehnung des Organs, wodurch eine
abnorme Vergrößerung vorgetäuscht Averden kann. — (Archiv
für Verdauungskraiikheiten, 11. Bd., 6. H.) Pi.
*
28. Eine physio-pathologische Studie über ve¬
nöse Hyperämie. Von Dr. E. Hornberger in Frankfurt
am Main. Verf. gibt zu, daß, trotzdem die Lehre von der Ent¬
zündung noch keine geklärte ist, in dem auf dieser Lehre aufge-
hauten Stauungsverfahren nach Bier ein ausgezeichnetes Heil¬
mittel gefunden worden ist: durch leichte Stauung Averde eine
arterielle Hyperämie, wie sie zAveifellos bei der Entzündung be¬
steht, in eine A'enöse Hyperämie umgewandelt und dadurch die
natürliche Schutzvorrichtung des Organismus, ,,die Verbrennung“,
in ihrer nützlichen Wirksamkeit gefördert. ,,Es ist aber zu be¬
denken, ob Bier mit Recht die frühere Heilmethode, die Be¬
kämpfung der Entzündung mit Kälte, usav. verwirft.“ Die Kälte
dient nur dazu, die allzustarke arterielle Hyperämie, hei Avelcher
der Sauerstoff zur Verbrennung infolge zu raschen Kreisens nicht
gehörig ausgenützt wird, in eine venöse Hyperämie zu ver¬
wandeln; diese unterscheide sich in nichts pathologisch-anatomisch
von der durch die Stauungsbinde erzeugten. — (Archiv für kli¬
nische Chirurgie 1906, 80. Band, 4. Heft.) F. H.
*
29. Zur Behandlung der Eihautverhaltung. Von
Prof. Dr. Otto v. Herff in Basel. Ein großes Verdienst Kalten¬
bachs ist es, gelehrt und beAviesen zu haben, daß eine Eihaut¬
retention im Wochenbette keine besonderen Gefahren für die
Wöchnerin mit sich bringt. Der Hausarzt gebe in solchen Fällen
im Wochenbett nur regelmäßig Ergotin und lasse desinfizierende
Scheidespülungen machen, unterlasse also jeden intrauterinen Ein¬
griff. Zahlreiche Fälle (558) des Frauenspitales Stadt- Basel, die
streng nach dieser Methode behandelt Avurden, sind in einer
Arbeit Schneiders in den ,,He gär sehen Beiträgen zur Ge¬
burtshilfe und Gynäkologie“ hinsichtlich der therapeutischen Er¬
folge jetzt A'eröffentlicht Avorden. Der Einwand Walthards,
daß man eine extragenitale Ursache des Fiebers erst dann mit
Sicherheit annehmen dürfe, wenn man die Uteruslochien unter¬
sucht und sie keimfrei befunden habe, sei nicht stichhaltig. Frei¬
lich müsse der Nachweis einer wohl charakterisierten ander¬
weitigen Erkrankung einwandfrei erfolgen, so z. B. einer der
mit Fieber regelmäßig einhergehenden Erkrankungen, Avie Angina,
Bronchilis, Pleuritis, Bronchopneumonie, Pneumonie, Tuberculosis
puhn., Enteritis, Zystitis, Pyelonephritis, Appendizitis, Influenza
und so weiter; gelingt dieser NacliAveis nicht, so wird ein Fieber
genitalen Ursprunges angenommen, selbst wenn das Genitale noch
keinen Anhaltspunkt für eine solche Erkrankung darbietet. Bei
jeder fiebernden Wöchnerin die Uteruslochien untersuchen zu
lassen, ist aber untunlich. Einmal ist die Belästigung der Frau
eine erhebliche, dann kann man ihr damit leicht schaden, dann
ist das Resultat, Avie immer es ausfällt, nicht maßgebend ; findet
man in den Uteruslochien Keime, so Aveiß man anderseits, daß
zahllose Wöchnerinnen mit keimhaltiger Gebärmutter nicht
fiebern, es beweist dies also noch keinesAAregs, daß diese Spalt¬
pilze das hestehende Fieber verursachten. Urrd umgekehrt be-
Aveist selbst Keimfreiheit der Uteruslochien keineswegs, daß das
bestehende Fieber extragenitalen Ursprunges sein müsse, da geni¬
tale Fieber, seihst tödliche Erkrankungen, sich von anderen
Stellen der Geschlechtsteile entAvickeln können, ohne daß sich
die Eingangspforte klinisch irgendAvie als solche manifestierte.
Der Verfasser bestreitet keineswegs die wertvollen wissenschaft¬
lichen Ergebnisse der hakteriologischen Diagnose der Fterus-
lochien, AAÜchtiger erscheint ihm für die Praxis die genaue kli¬
nische Untersuchung. Während seiner 16jährigen Tätigkeit hat
Verf. in mehr als 1000 Fällen die Kaltenbach sehe Lehre der
Behandlung von Eihautreteiition befolgt, in keinem einzigen Falle
ist eine scluArerere Erkrankung oder gar der Tod durch die Nicht¬
entfernung der Eihautreste veranlaßt worden. Zahlreiche andere
Geburtshelfer haben dieselben Erfahrungen gemacht. Allenfalls
werden nach Eihautverhaltung leichte unschuldige Temperalur-
steigerungen beobachtet. Von 3661 Wöchnerinnen (1902 bis 1905)
fieberten aus dieser Ursache z. B. 48, von Avelchen 33 nur einen
Tag und 15 nicht über drei Tage Temperatursteigerungen zeigten.
Der Verfasser sieht jeden intrauterinen Eingriff in und nach der
Nachgeburtsperiode, Avie im Wochenbette, als eine Gefährdung
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WÜCHENSCIIRIFT. 19Ü7.
87
der Frau an, auch wenn der Arzt Gummihandschuhe heniUzt,
sicli die Hände gehörig desinfiziert; mit Handschuhen solche
Eihautfetzen zu entfernen, sei schwierig, gelinge nicht immer voll¬
kommen. ,,Die beste Vorbeugung des Kindhettfiehers besteht
darin, möglichst selten während und besonders nach der Gehurt
des Kindes einzugreifen.“ — (Korrespondenzhlatt für Schweizer
Aerzte 1906, Nr. 22.) E. F.
Nekrolog.
Paul Julius Möbius.
Mit Möbius ist eine interessante Persönlichkeit dahin¬
gegangen, ein Neurologe von Namen, ein geistvoller Mensch und
Schriftsteller. Geboren am 24. Januar 1853 in Leipzig, studierte
er daselbst, in Jena und Marburg, wurde 1876 promoviert, war
von 1883 bis 1893 Dozent an der Universität Leipzig, seither
kurz P. J. M ö b i u s. Er blieb unverehelicht und soll nun an
einem Osteosarkom gestorben sein.
Publizistisch war er in hervorragender Weise tätig, eine
überaus große Zahl von Arbeiten ist in den verschiedensten
medizinischen Zeitschriften zu finden. Möbius hat eine heute
fast allgemein anerkannte Theorie der Basedow sehen Krank¬
heit begründet, ein Symptom dieser Krankheit trägt seinen Namen,
er hat das Krankheitsbild der Akinesia algera abgegrenzt, zur
Lehre von der Hemiatrophia facialis progressiva Stellung ge¬
nommen, in den Streit der Meinungen über das Wesen
der Hysterie entscheidend eingegriffen usf. In den weitesten
Kreisen aber wurde er bekannt durch seine psychiatrischen Ab¬
handlungen, die sich an die breite Masse des gebildeten Publikums
wenden, um dieses für Fragen der Psychopathologie und psy¬
chiatrische Betrachtungsweise zu gewinnen ; er hat die sogenannte
Pathographie popularisiert. Aus der Liste seiner Bücher ist er¬
sichtlich, wie er sich langsam vom neurologischen zum psychiatri¬
schen Schriftsteller wandelte und wie gern er namentlich in
Grenzgebieten verweilte. Auf den Grundriß des deutschen Militär¬
sanitätswesens (1878) folgen das Nervensystem des Menschen
(1880), die Nervosität (1882), Allgemeine Diagnostik der Nerven¬
krankheiten (1885), Abriß der Nervenkrankheiten (1894), fünf
Bände neurologischer Beiträge (1894 — 1898), über die Behandlung
der Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten (1886),
eine Suite über das Pathologische bei Goethe, Rousseau,
Schopenhauer, Nietzsche (1898 — 1902), eine Ehrenrettung
Franz Josef Galls; vielumstritten, über den physiologischen
Schwachsinn des Weibes, welches Büchlein 1905 die 7. Auflage
erlebte; weiters noch, im Grenzlande, über Kunst und Künstler
(1901), über Kopfschmerz (1902), die Migräne (1903), Geschlecht
und Unbescheidenheit (1904), über den Schädel eines Mathe¬
matikers (1905), 12 Hefte Beiträge zur Lehre von den Geschlechts¬
unterschieden, können die Tiere Schönheit wahrnehmen und em¬
pfinden? die Nervosität, über Robert Schumanns Krankheit
(1906), über Scheffels Krankheit mit einem Anhang, kritische
Bemerkungen zur Pathographie (1907), die 2. Auflage von, die
Hoffnungslosigkeit aller Psychologie, ein ebenso wahres, als depri¬
mierendes Bekenntnis.
Das letzte, was Möbius wohl überhaupt geschrieben hat,
ist das Gutachten über die zu errichtende Nathaniel Freiherr
V. R 0 t h s c h i 1 d - Stiftung, von Hofrat Chrobak im Namen
des vorbereitenden Komitees von ihm verlangt. Die Aktualität
der Sache möge gestatten, gerade diese Arbeit hier kurz zu
referieren. Unter Berufung auf die von ihm schon früher publi¬
zierten Anschauungen befürwortet Möbius bei der vorliegenden
Stiftung den kleinen Mittelstand, die relativ Unbemittelten
namentlich zu berücksichtigen, eine kleine Verpflegsgebühr ein¬
zuheben, die von Fall zu Fall ermäßigt oder erlassen werden
könnte, weiters in medizinischer Hinsicht alle jene aufzunehmen,
die im gewöhnlichen Leben nervenkrank zu werden pflegen,
keine Morphinisten, keine Hysteriker mit großen Anfällen.
Schwere Epileptiker, Geisteskranke und Träger anatomischer Er¬
krankungen des Gehirns und Rückenmarks sind durch das Testa¬
ment des Stifters ausgeschlossen. In einem zweiten Abschnitt
folgen allgemeine Ratschläge bezüglich der Größe der Anstalt,
von Anfang an für 300 Kranke, über die Einrichtung in einfach
ländlichem Stil, wobei namentlich für Ruhe und vielseitige Arbeits¬
gelegenheit vorzusorgen sein wird, über das Personal — Möbius
wünscht die Aerzte so gut gestellt, daß sie heiraten und ihr
Ivcben lang an der Anstalt hleiben können — über die Verbindung
mit einem Stadtbureau, da die Anstalten selbst jedenfalls aufs
Land hinaus müßten. Schließlich beantragt er noch, die Anstalt
absolut alkoholfrei zu erhalten.
Möbius führte eine gute Feder. Mit einer glänzenden
Darstellungsgabe wußte er seine obendrein originellen Ideen in
Worte zu prägen. Seine Ueberzeugung vertrat er rücksichtslos.
Mit dem physiologischen Schwachsinn des Weihes hat er die eine
Hälfte der Menschheit beleidigt, darüber hinaus sich noch Gegner
geschaffen. Und dies gar, wenn er unerbittlich kritisch sichtete
und richtete. Die kritischen Sammelreferate in Schmidts
Jahrbüchern, deren Redakteur er seit 1885 war, zu lesen, bildete
für den Unbeteiligten geradezu einen Genuß ; allerdings hat er¬
sieh auch dadurch Feindschaften in Menge zugezogen. Aber wemr
irgendwo ein Wort gilt, so gilt es vom überlegenen Geiste, der
für Wahrbeit und Wissenschaft kämpft: Viel Feind, viel Ehr.
Ehre auch seinem Andenken ! E. R a i m a n n.
\/ermisehte flaehriehten.
Ernannt: In Bonn: Die Privatdozenten Dr. Grouven
(Hautkrankheiten), Dr. Hummelsheim (Augenheilkunde) und
Dr. Julius Straßburger (Innere Medizin) zu Titularprofessoren.
— In Basel: A. o. Professor Dr. Fritz Egger (Innnere Medizin)
und Dr. Gustav Wolff (Psychiatrie) zu ordentlichen Professoren.
— Dr. H e d i n g e r in Bern zum a. o. Professor der pathologischen
Anatomie als Nachfolger des nach Göttingen übersiedelten Pro¬
fessors Kaufmann. — Dr. K e i f f e r zum a. o. Professor
der Geburtshilfe in Brüssel. — Der a. o. Professor der Hygiene
Dr. A. Semaire in Löwen zum a. o. Professor der medizinischen
Pathologie. — Dr. Mingazzini in Rom zum Professor der
Nervenheilkunde.
*
Hofrat Prof. Dr. Wilhelm Winternitz in Wien feierte
am 14. Januar sein goldenes Doktorjuhiläum.
*
Verliehen: Dem a. o. Professor der Cbirurgie an der
Universität in Wien, Regierungsrate Dr. Anton Ritter v. Frisch
der Orden der Eisernen Krone dritter Klasse, — Dem Privat¬
dozenten für innere Medizin Dr. Friedrich Richter in Berlin
der Professorlitel. — Dem Prof. G. Anton in Halle der Titel
Geh. Medizinalrat und dem Privatdozenten Dr.. W ul 1 stein
(Chirurgie) in Halle der Professortitel.
*
Habilitiert: Dr. S p i e 1 m a y e r für Psychiatrie in Frei¬
burg i. B.
*
Gestorben: Der Professor der gerichtlicben Medizin in
Washington Dr. Watts.
*
Blaschkes Dolmetscher am Krankenbette,
herausgegeben von Paul B 1 a s c h k e unter Mitwirkung von
Dr. med. B resin, Robert Le win, Dr. med. Shepard, Privat¬
dozent an der Universität Syracuse (Amerika). Mit einem Vor¬
worte des internationalen Komitees der Vereine vom Roten Kreuz
in Genf. Verlag Dr. Walter Rothschild, Berlin und Leipzig.
Von Blaschkes Dolmetscher liegen jetzt Ausgaben in folgenden
Sprachen vor: deutsch-französisch, deutsch-englisch, französisch¬
deutsch, englisch-deutsch und deutsch-russisch. Jeder Teil hat
zwei, auch einzeln käufliche Teile. Teil I ein Medizinisches Kon¬
versationsbuch. Teil H ein Medizinisches Wörterbuch. Die Kon¬
versationsbücher sind zweisprachig. Eine weitere in den Werken
angewandte Methode ermöglicht, jede Redensart nach dem Be¬
dürfnisse zu verändern. Während die Konversationsbücher ledig¬
lich praktischen Zwecken dienen, ist der H. Teil, das Wörter¬
buch, wissenschaftlichen Zwecken gewidmet. In demselben sind
drei Sprachen in einem Alphabet vereinigt, u. zw. in dem vor¬
liegenden Bande deutsch, französisch, englisch. Die Anschaffung
des Werkes wird allen Aerzten und Krankenpflegern, die mit
Kranken mehrerer Nationen zu tun haben, von Nutzen sein.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 52. Jahreswoche (vom 23. bis
29. Dezember), Lebend geboren, ehelich 658, unehelich 285, zusammen 943.
Tot geboren, ehelich 53, unehelich 28, zusammen 81. Gesamtzahl der
Todesfälle 743 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
19 7 Todesfälle), an Bauchtyphus 3, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 9,
Scharlach 8, Keuchhusten 4, Diphtherie und Krupp 8, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 1, Lungentuberkulose 110, bösartige Neu¬
bildungen 50, Wochenbettfieber 4, Angezeigte Infektionskrankheiten :
An Rotlauf 31 ( — 8), Wochenbettfieber 4 ( — 3), Blattern 0 (0), Vari-
8b
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
zellen 75 ( — 74), Masern 288 ( — 38), Scharlach 88 ( — 17), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 4 (— 2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 86 ( — 16), Keuchhusten 13 { — 7), Trachom 1 (-}- 1),
Influenza 0 (0).
Freie Stellen.
Primararztesstelle für das neuerbaute Bezirkskrankenhaus
in Komotau (Böhmen). Jahresgehalt K 3600 und Anspruch auf fünf
Quinquennien zu je K 300. Bewerber deutscher Nationalität, welche
das 4J). Lebensjahr noch nicht überschritten haben, wollen die mit dem
Tauf- und Heimatscheine, dem Curriculum vitae und insbesondere mit
den Nachweisen über ihre spezielle chirurgische Ausbildung belegten
sowie ordnungsmäßig gestempelten Gesuche bis 31. Jänner d. J. beim
Bezirksausschüsse Komotau-Sebastiansberg überreichen. Der Dienstantritt
hat spätestens bis 1. September 1907 zu erfolgen und werden die Be¬
werber ersucht, anzugeben, zu welchem Zeitpunkt ihnen der Antritt der
Stelle möglich ist.
Stelle eines Volontärarztes im Landesspitale zu Laibach
(Krain) mit dem Adjutum jährlicher K 600 und 20‘’/o Teuerungszulage.
Bewerber um diese Stelle haben ihre Gesuche unter Nachweisung des
Alters, des Doktorates der Medizin und der Kenntnis der slowenischen
oder einer anderen" slawischen sowie der deutschen Sprache bis 20. Ja¬
nuar d. J. bei der Direktion der Landeswohltätigkeitsanstalten in Laibach
einzubringen.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeinde Grün-
b u r g - S t e i n b a c h, Bezirk Kirchdorf (Oberösterreich), mit dem Silze
des Arztes in Grünburg bis 1. März 1907 zu besetzen. Einwohnerzahl
der Sanitätsgemeinde 4500, fixe Bezüge K 1350, nebst lohnender Kassen-
und Privatpraxis. Gesuche von körperlich rüstigen Bewerbern deutscher
Nationalität sind bis 1. Februar d. J. bei der Gemeindevorstehung
Grünburg einzureichen, woselbst auch weitere Auskünfte erteilt werden.
Eingesendet.
Aufruf au d i e ehemaligen Frequentanten des k. k, Operateur¬
zöglingsinstitutes in Wien.
Das k. k. chirurgische Operationsinstitut in Wien wurde am
7. Februar 1807 von Prof. Ritter v. Kern begründet. Der 100jährige
Bestand dieser segensreichen Einrichtung, die so viel zur Ausbildung
der österreichischen Aerzte beigetragen und einen so wesentlichen Ein¬
fluß auf die Entwicklung der Chirurgie in Oesterreich überhaupt ge¬
nommen hat, soll festlich begangen werden.
Die Unterzeichneten gegenwärtigen Vorstände der beiden chi¬
rurgischen Universitätskliniken zu Wien wenden sich daher an alle
gewesenen Frequentanten des Operationszöglingsinstitutes mit der Auf¬
forderung, sich an der geplanten Feier zu beteiligen.
Es besteht die Absicht, an einem noch näher zu bestimmenden
Tage eine Feierlichkeit zu veranstalten, die die ehemaligen und gegen¬
wärtigen Frequentanten des Institutes vereinen wird. Außerdem wird
eine Festschrift herausgegeben werden, in welcher die Geschichte des
Institutes, die Namen und die Schicksale seiner Frequentanten nieder¬
gelegt werden sollen.
Um hiefür möglichst vollständige und authentische Daten zu
erhalten, wenden sich die Unterzeichneten schon heute an die gewesenen
Zöglinge mit der Bitte um möglichst baldige Beantwortung nachfolgender
Punkte an die Adresse eines der beiden Unterzeichners.
1. Wann und mit welchen Kollegen gemeinsam haben Sie als
Operationszögling an einer der Kliniken gedient?
2. Wie gestaltete sich Ihr weiterer Lebenslauf und welche ist
Ihre dermalige Stellung? Wir bitten ferner, uns Ihre eventuellen wissen¬
schaftlichen Publikationen bekannt zu geben.
Mit kollegialem Gruße
Prof. V. Eiseisberg, Prof. Dr. H o c h e n e g g,
Vorstand der I. chirurgischen Klinik. Vorstand der zweiten chirurgischen Klinik.
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 6. Dezember 1906
(siehe Nr. 49 der Wiener klinischen Wochenschrift 1906)
für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
in Empfang genommen. Nr. 4.
a) Geschenke von der Wiener klin. Wochenschrift:
Bunge C. v., Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu
stillen. Fünfte Auflage. München 1907. 8“.
Edwardsou, Woher kam das Leben? Leipzig 1906. 8«.
Frunze F. C., Die Behandlung der Herzkrankheiten mittels kohlensaurer
und elektrischer Bäder, Massage etc. München 1906. 8°.
Fürth E., Die rationelle Ernährung in Krankenanstalten und Erholungs¬
heimen. Leipzig und Wien 1906. 8®.
Glax J., Klimatotherapie. Stuttgart 1906. 8®.
Glax J., Balneotherapie. Stuttgart 1906. 8®.
Haeherlin H., Staatsarzt- oder Privatarztsystem ? Zürich 1906. 8®.
Hahn F., Ueber den gegenwärtigen Stand der Aseptik in der Chirurgie*
Wien 1907. 8®. °
llanimerschlag V., Th4rapeutique des Maladies de l’oreille Paris
1906. 8®.
Lengerkeii Otto v., Handbuch neuerer Arzneimittel. Frankfurt a. M.
Maack F., Polarchemiatrie. Leipzig 1905. 8®.
Martin A., Physikalische Therapie der akuten Infektionskrankheiten.
Stuttgart 1906. 8®.
Hiithy 0. 1)., Physikalische Therapie der Skrofulöse. Stuttgart 1906. 8®.
Stumpf J., lieber ein zuverlässiges Heilverfahren bei der asiatischen
Cholera etc. Würzburg 1906. 8®.
Vogel A. und E. Ludwig, Kommentar zur achten Ausgabe der Oester-
reichischen Pharmakopöe, 3. Bd. (Text der achten Ausgabe in
deutscher Uebersetzung.) Wien 1907. 8®.
Annalen der Schweizerischen baineologischen Gesellschaft. Aarau
1906. 8®. II.
Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiete
der Erkrankungen des Urogenitalapparats. Redigiert von N i t z e,
S. Jacoby und K 0 1 1 m a n n. Berlin 1906. 8®. 1. Bd.
Sanitätshericht des österreichischen Küstenlandes für die Jahre 1901 bis
1903. Triest 1905. 4®.
Verhandlungen des Vereines süddeutscher Laryngologen 1906. Würzburg
1906. 8®.
Thompson Yates and Johnston Laboratories Report. Vol. VI/2, VIl/1.
Liverpool 1905 — 1906. 4®.
Transactions of the Clinical Society of London. Vol. XXXIX. London
1906. 8®.
Le Scalpel. Liege 1905—1906. 4®.
b) Verschiedene Geschenke:
Da Costa Alfredo, L’orientation foetale et la loi de pajot. Lisboa 1006. 4®.
Von Herrn Hofrat C h r 0 b a k.
Da Costa Alfredo, Quelques renseignements statistiques sur la maternity
provisoire de Lisbonne. Lisba 1906. 4®. Von Herrn Hofrat
C h r 0 b a k.
Lehrbuch der speziellen Chirurgie für Studierende und Aerzte. Auf
Grundlage von Ed. Alberts Lehrbuch der Chirurgie neu be¬
arbeitet von dessen Schülern. Herausgegeben von Professor Doktor
J. Hochenegg. Berlin und Wien 1906. 8®. Vom Herausgeber.
Pommer G., Ein anatomischer Beitrag zur Kenntnis des Wachstums im
Bereich angeborener Defekte. (S. A.) Leipzig 1906. 8®. Vom Autor.
Medizinalbericht von Württemberg für das Jahr 1904. Heraugegeben
vom königl. Medizinalkollegium. Stuttgart 1906. 8®. Von Herrn
Dr. Joannovics.
Schüller A., Die Schädelbasis im Röntgenbilde. Hamburg 1905. 4®.
Vom Autor.
Stern S., Allgemeine analytisch-synthetische Psychognosie. Wien 1906.
8®. Vom Autor.
Teleky L., Die Sterblichkeit an Tuberkulose in Oesterreich 1873—1901.
(S. A.) Wien 1906. 8®. Vom Autor.
Teleky L., Der erste internationale Kongreß für Gewerbekrankheiten.
(S. A.) Leipzig 1906. 8®. Vom Autor.
Teleky L., Literatur von 1905 über öffentliche Gesundheitspflege und
soziale Medizin. (S. A.) Wien 1906. 8®.
Frankl Oskar, Die physikalischen Heilmethoden in der Gynäkologie.
Berlin und Wien 1906. 8®. Vom Autor.
Gynäkologische Rundschau. Zentralorgan für Geburtshilfe und Frauen¬
krankheiten. Herausgegeben von Bossi, Chrobak, Dührssen
etc. Redigiert von Dr. Oskar Frankl. Berlin und Wien 1907. 8®.
Von Herrn Dr. Oskar Frankl.
Anzeiger der kais. Akademie der Wissenschaften. Wien. Jahrg.'XVHI bis
XXXI, XXXVII, XXXVIII, XL. Wien 1881—1903. (Ergänzung.) Von
der kais. Akademie.
Jahresbericht über die Fortschritte in der Lehre von den pathogenen
Mikroorganismen etc. XX. Jahrg. 1904. Leipzig 1906. 8®. Von Herrn
Prof. Dr. P. V. Baumgarten.
Jahresbericht des Vereines Heilanstalt Alland für das Jahr 1905. Wien
1906. 8®. Von der Direktion der Heilanstalt Alland.
Jahrbücher für folkloristische Erhebungen und Forschungen zur Ent¬
wicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral. Herausgegeben von
Dr. F. Krauß. Leipzig 1906. 8®. 3. Bd. Von Herrn Dozent
Dr. K u n n.
luaugaration. Die feierliche, des Rektors der k. k. Deutschen Karl
Ferdinands-Universität in Prag für das Studienjahr 1906/07. Prag
1906. 8®. Von der k. k. Deutschen Karl Ferdinands-Universität.
Bolletiiio della Associazione medica Triestina 1905, Annata VIII. Trieste
1906. 8®. Von der Associazione.
Xllle Cougres international de M4decine. Paris 1900. Section de Medecine
de l’enfance. Section de Chirurgie de l’enfance. Paris 1900. 8®.
Von Herrn Dr. Galatti.
L’aiijou medical. Revue mensuelle. Dr. Monprofit. Angers. Ann4e X,
XI, XII, 1903 — 1905, complet. Von Herrn Dr. Galatti.
Lavori dei Cougressi di medicina interna. 1891, 1893. Milano. Roma.
1892-1894. 8®. 2. Vol. Von Herrn Dr. Galatti.
Transactions of the American otological Society. Thirty-ninth Annual-
Meeting. New-York 1906. New-Bedford 1906. 8®. Von der Society.
Universite Libre de Bruxelles. Annuaire pour Fannie acad4mique
1906/07. Bruxelles 1906. 8®.
Angekauft wurden:
Bier A., Hyperämie als Heilmittel. Vierte Auflage. Leipzig 1906. 8®.
Borst Max, Die Lehre von den Geschwülsten. Wiesbaden 1902. 8. 2. Bd.
Festschrift, gewidmet Herrn Geh. Medizinalrath Prof. Dr. Emil P 0 n-
f i c k zum 25jährigen Jubiläum als Professor Ordinarius von seinen
Schülern. Breslau. 1899. 8®.
Romberg E., Lehrbuch der Krankheiten des Herzens und der Blut¬
gefäße. Stuttgart 1906. 8®.
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
89
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. Verein für Psychiatric nnd Neurologie in Wien. Sitzung vom
Sitzung vom 12. Januar 1907. 11. Dezember 1906.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 12. Januar 1907.
Vorsitzender: Hofrat Prof. R. Chrobak.
Schriftführer; Prof. R. Paltauf.
Der Vorsitzende macht Mitteilung vom Tode des lang¬
jährigen Mitgliedes Herrn Primarius Dr. Unter holzner;
die Mitglieder erheben sich von ihren Sitzen.
Der Präsident macht Mitteilung von der Einladung der
k. k. Gesellschaft zur Ehrung des Herrn Hofrates Professor
Dr. Leopold Schrötter Ritter v. Kr i stellt, anläßlich seines
70. Geburtstages ; die Feier findet am 5. Februar 1. J. im Hör¬
saale der IH. medizinischen Klinik statt. Ferner ist ein Aufruf
vom Ausschuß für die Errichtung eines Adalbert Stifter-
Denk males in Wien mit dem Ersuchen um Beiträgen ein¬
gelangt.
Der Schriftführer verliest hierauf folgendes von Geh.
Rat V. Bergmann an die Redaktion der Wiener klin. Wochen¬
schrift eingelangtes Dankschreiben, welches von derselben in
Ansehung seines Inhaltes dem Präsidium der k. k. Gesellschaft
übermittelt wurde.
Berlin, 28. Dezember 1906.
An die „Wiener klinische Wochenschrift“, Organ der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte in Wien.
Zu den vielen mich so ehrenden Ueherraschungen, die
mein 70. Geburtstag brachte, gehörte auch das Erscheinen Ihres
geschätzten Mitarbeiters, Prof. Freiherr v. Eiseisberg, der
mir das Festexemplar Ihrer klinischen Wochenschrift überbrachte.
Ich bin stolz, Mitglied und Ehrenmitglied der Wiener Gesellschaft
der Aerzte zu sein und habe mich daher um so mehr gefreut,
auch mit den gegenwärtigen Mitgliedern derselben in so schöne
Beziehungen zu treten, wie die es sind, welcher die Festnummer
gedenkt.
Wie in der Redaktion des Archives für Chirurgie, der
Wiener Chirurg mit dem Berliner Hand in Hand geht, so wünsche
ich auch, daß die Beziehungen der beiden großen Gesellschaften
in Oesterreichs und Deutschlands Metropole dauernde und innige
bleiben.
Empfangen Sie für Ihre Freundlichkeit den wärmsten Dank
Ihres treu ergebenen
E. V. Bergmann.
A. Administrative Sitzung.
Der Vermögensverwalter Herr Dr. Anton L o e w trägt den
Rechnungsabschluß für das Jahr 1906 vor, er enthält zum ersten¬
mal die Einnahmen durch die Bibliothekskarten ; derselbe schließt
scheinbar mit einem Ueberschusse von K 10.612‘45 ; dagegen ist
anzuführen, daß die Kosten für die Hausadaptierungen nicht
einbezogen sind, weil die Rechnungen erst nach dem Abschluß
eingelangt sind; diese Kosten betragen K 8107'27 und wurden
durch einen Skontonachlaß auf K 7701'91 reduziert. Der Prä¬
sident spricht Herrn Dr. A. L o e w den Dank für die erfolg¬
reiche und mühevolle Verwaltung des Gesellschaftsvermögens
m Namen der k. k. Gesellschaft aus.
Der Präsident fragt an, ob jemand Anfragen oder Ein-
Iwendungen zu erheben hat; das ist nicht der Fall und der Prä¬
sident erteilt dem Herrn Vermögensverwalter das Absolutorium.
Herr Dr. A. Loew berichtet über den dermaligen Ver¬
mögensstand der k. k. Gesellschaft und über den Stand der
Stiftungen, endlich trägt derselbe das Präliminare pro 1907 vor,
welches sich im Rahmen des Vorjahres bewegen wird. Dasselbe
wird genehmigt.
B. Wissenschaftliche Sitzung.
Dr. Paul Albrecht stellt aus der Klinik Hochenegg eine
Frau als geheilt vor, bei welcher er vor fünf Wochen eine 35 Jahre
getragene Struma cystica wegen einer Kropffistcl entfernt
hat. Vor sieben Monaten war Strumitis aufgetreten, seit vier
Monaten bestand die Fistel. Die Operation war deshalb sehr
schwierig, weil die Zyste durch entzündliches Gewebe mit der
Trachea, der Glandula submaxillaris und den großen Gefäßen
innig verwachsen war. Erörterung der Aetiologie der Strumitis;
möglicherweise hat sich in dem demonstrierten Falle die Stru¬
mitis derart entwickelt, daß bei einer rracheitisi die infizierenden
Mikroorganismen auf dem Wege der Lymphbahnen in die Struma
gelangt sind. Dafür würden die innigen Verwachsungen der¬
selben mit der Trachea sprechen.
Von Kropffistel nach Strumitis sind im ganzen 16 Fälle
bekannt. , ■ i ^ ■
Darlegung des Begriffes der Kropffistel, ihrer Aetiologie,
sowie pathologischen Anatomie und Klinik nach den Ausfüh¬
rungen Payrs.
Ueher die Histologie der Strumitis ist sehr wenig bekannt,
ln dem vorliegenden Falle fand sich, dem Parenchymmantel der
Zyste entsprechend, ein Fremdkörpergranulationsgewebe, das aus¬
gezeichnet ist durch besonders reichlich vorlmndene Riesenzellen.
Dieselben finden sich um Kolloidschollen und Cholestearinnadelu
gelagert. Derartige Befunde wurden einmal erhoben bei einer
akuten, nichteitrigen Thyreoiditis (de Quervain) und ein zweites-
mal bei einer Basedow- Struma (Farner).
Prof. R. Kraus: ln einer früheren Arbeit (Sitzungsbericht
der kais. Akademie der Wissenschaften in Wien 1905, Bd. 114)
konnte ich in Gemeinschaft mit 0. Kren zeigen, daß es ge¬
lingt, bei Affen (Macacus rhesus) mit tuberkulösem Material von
Affen sowohl als von Menschen Haut(Lupus-)veränderungen her¬
vorzurufen, die sich histologisch als Tuberkulose erwiesen haben
und die makroskopisch ein Bild darhoten, welches dem liupus
vulgaris, Gommes scrophuleux und der Lymphangitis tuberculosa
des Menschen ähnlich sah. Auch Neisser hat später über ähn¬
liche Untersuchungen berichtet. Wovon diese verschiedene Form
der Hauttuberkulose abhängen dürfte, haben wir nicht entscheiden
können. Und auch einige Versuche mit Reinkulturen haben uns
zwar gelehrt, daß die Infektion haftet; näheren Aufschluß konnten
sie uns nicht bringen (Wiener klinische Wochenschrift 1905,
Nr. 43). Die Versuche, mit Reinkulturen Hauttuberkulose zu er¬
zeugen, habe ich wieder auf genommen und sie in Gemeinschaft
mit Herrn Dr. S. Grosz fortgeführt. Wir haben nun Makaken
mit Reinkultur von Tuberkelbazillen verschiedener Prove¬
nienz geimpft. Es wurden hiezu Stämme gewählt, die aus tuber¬
kulösen Organen von Menschen stammen und solche, die vom
Rinde herrühren. Mit allen Stämmen gelang es uns, Infektionen
hervorzurufen. An der Impfstelle entstehen nach 10 bis 14 Tagen
Infiltrate, die derb gerötet sind. Die Erscheinungen können lang¬
sam wieder zurückgehen und vollständig mit Hinterlassung einer
geröteten, strahligen Narbe ausheilen.
Der tuberkulöse Prozeß schreitet aber auch weiter auf die
gesunde Haut über. Diese Formen der ausheilenden und fort¬
schreitenden Hauttuberkulose erhielten wir mit Stämmen mensch¬
licher Provenienz. Ein ganz anderes Bild der Hauttuberkulosc
erhielten wir nach der Impfung mit Perlsuchtbazillen. Die in¬
fizierte Haut erscheint nach einiger Zeit gerötet, infiltriert und
zerfällt. Der tuberkulöse Prozeß schreitet auf die Nachbarschaft
über, indem wieder zunächst die Infiltration auftritt, dann aber
wieder zerfällt und große, tuberkulöse Geschwüre bildet. Ob es
eine Eigenheit der Perlsuchtbazillen ist, bei Makaken diese mit
Zerfall einhergehende Form der Hauttuberkulose zu bilden oder
ob nicht auch menschlichen Stämmen dieser zukommt, müssen
erst weitere Untersuchungen entscheiden. Jedenfalls ist es auf¬
fallend, daß wir bisher mit Stämmen menschlicher Provenienz
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
Sülche Furnieii nicht erzeugen konnten. Wovon die Verschieden¬
heit des Verlaufes der durcli Tuherkelsläninie ineiischlicher Pro¬
venienz erzeugter HauHuherkulose abhängig sein dürfte,
das Ausheilen und das Fortsclireiten der Affektion, niiissen
noch eingehende Untersuchungen entischeiden. Daßi Stämme
derselben Provenienz verschiedene tuherkrdöse Prozesse her-
vorrnfen können, haben Kossel, Weher und HeuB: ge¬
zeigt. Einzelne Stämme führen bei Kindern nach suhkidaner
Applikation zu lokaler, fortschreitender Tuberkulose, andere
rufen nur lokale Tuberkulose, örtlich begrenzt, hervor, die
spontan ausheilen kann. Es ist wahrscheinlich, daß auch die
llaulaffektionen, mit menschlichen Stämmen hervorgerufen, von
der Virulenz der Stämme ahhängen dürften. Interessant ist ein
Hefund, den wir mit einem Stamme (Septikämie Löwenstei.n)
erhielten. Histologisch sind massenhaft Bazillen nachweisbar in
Zellen und aucb frei in Haufen. Die anatomische Veränderung
ist aber nur sehr gering und geht vollständig zurück. Im Gegen¬
satz dazu haben wir in der erwähnten Arbeit bei den fortschrei¬
tenden, ausgebreiteten Formen nur spärliche Tuberkelbazillen ge¬
funden. Jedenfalls geht daraus hervor, daßi die Menge der Bazillen
im Gewebe nicht maßgebend sein muß für die nachweisbaren
Veränderungen (Lupus des Menschen).
Zusammenfasisend kann man aus diesen Versuchen schon
jetzt schließen, daß mit Reinkulturen von Tuberkolb a z i 1-
1 e n verschiedener Provenienz, tuberkulöse .H au t-
a f f e k t i o n o n bei M a k a k e n e r z'e u g t werden k ö n neu, die
verschiedenes Aussehen d a r b i e t e n.
Dr. Wahe Minassian; lieber einige Rassenmerk¬
male der Armenierinnen. Ergebnisse von Becken¬
messungen an denselben.
Während meiner nunmehr zehnjährigen ärztlichen Tätig¬
keit im Orient hatte ich Gelegenheit, Frauen und Mädchen armeni¬
scher Abstammung, die in meine Behandlung gelangten, auf ge¬
wisse äußere Rassenmerkmale und speziell den Gynäkologen inter¬
essierende Eigentümlichkeiten, betreffend den Beginn und die
Dauer der Menstruation, die Fruchtbarkeit und die Beckenweite,
hin zu prüfen.
Die Anzahl der Fälle, die von mir nach diesen beiden Rich¬
tungen hin einem genauen Examen unterzogen wurden, ist aller¬
dings nicht groß. Sie beträgt etwas über 600. Sie ist zusammen¬
gestellt aus Fällen, die zum geringeren Teile in Smyrna und in
Magnesia bei Smyrna, zum größeren Teile aber in Konstantinopel
zur Beobachtung gelangt sind. Der Grund, waiaim ich nicht eine
größere Anzahl von Fällen zur Grundlage dieser Arbeit heran¬
gezogen habe, liegt wohl in der großen Scheu der Orientalin
vor jeder eingehenderen Untersuchung, so daß der Arzt nur
selten in die Lage kommt, einen Fall auch gynäkologisch zu prüfen.
Es ist eine von allen Ethnographen und Sprachforschern
fast einstimmig festgestellte Tatsache, daß die Armenier im großen
und ganzen der arischen Rasse angehören. Das alte armenische
Hochland, begrenzt von Georgien, Persien, Kappadozien und
Assyrien, war einst der Site zweier Stämme, eines herrschenden
indogermanischen und eines unterjochten turanischen und das
heutige armenische Volk ging aus der Vereinigung dieser zwei
Rassen hervor. Die Masse des Volkes ist brünett, von mittlerer,
gedrungener Gestalt und ausgesprochener Brachy-, resp. Vfeso-
zephalie, obgleich blonde Elemente mit Dolichozephalie und großer
Statur dai'in eingestreut in allen Teilen Armeniens, vornehmlich
aber im Gebirge vielfach Vorkommen.
Unter meinen Fällen waren 308 Frauen und Mädchen von
ausgesprochen brauner Gesichtsfarbe mit schwarzem, bald glattem,
bald etwas gekraustem Kopfhaar und dunklen Augen, d. i. etwas
mehr als die Hälfte aller Fälle. 270, also etwas weniger als die
Hälfte, halten minder dunkle bis lichte Hautfarbe und kastanien¬
braunes Kopfhaar und nur 22 waren ausgesprochene Blondinen
mit blauen Augen und ganz lichter Gesichtsfarbe.
Ihre Köii)erhöhe betrug 140 bis 150 cm; sie waren also
klein bis mittelgroß und ein boher Wuchs kam unter ihnen nur
selten, etwa einmal unter 100 Fällen vor.
Viel Auffälliges wies ihre Gesichtlsbildung nicht auf, wenn man
etwa von den bei vielen unter ihnen vorkommenden markanten
Zügen des Antlitzes, den großen Augen und dichten Augen¬
brauen und von der mitunter stark proniinierenden Nase absieht,
die zusammen jenen Komplex von mehr oder weniger charak¬
teristischen äußeren Merkmalen abgeben, vermöge deren im Orient
das geübte Auge die Armenierin von der zumeist ebenso brünetten
Türkin, Griechin oder Jüdin unterscheidet.
Die Konstitution ließ bei vielen unter ihnen zu wünschen
übrig. Sie waren zart gebaut, schwächlich und ihre hlaßbraune
Gesichtsfarbe mit dem leichten Stich ins Gelbliche erhöhte den
krankhaften Eimlruck ihres Aussehens. Ein anderer Teil und wohl
auch der überwiegende, war kräftiger konstituiert, erfreute sich
einer gewissen Körperfülle und sah gut aus, was auch den gün¬
stigeren wirtschaftlichen Verhältnissen, unter denen er lebte, voll¬
kommen entsprach.
432 voll den 600 Fällen waren Frauen und 168 Mädchen. Ihr
Alter schwankte zwischen 13 und 55 Jahren.
Die Armenierinnen menstruieren alle frühzeitig, und zwar
im 13. und 14. Lebensjahr. Unter den angeführten 600 Fällen
menstruierten 260, also etwas weniger als die Hälfte oder, in
Zahlen ausgedrückt, 43V3"/o mit 13 Jahren, 146 (= 24V3Vo) mit
14 Jahren. Bei 84 Armenierinnen traten die Menses im 12., bei
42 im 11., bei je 25 im 15. und 16., bei 8 im 10. und bei je 5
im 17. und 18. Lebensjahr ein, was den Prozentsätzen 14, 7,
6, iVa und 0-8 entspricht.
Menstruationsanomalien kamen häufig vor und waren durch
Affeklionen des Uterus und seiner Adnexe bedingt. Bei den
meisten der 600 Fälle hatte die Menstruation nach dem ersten
Eintreten mehrere IMonate lang pausiert und sich später wieder
dauernd eingestellt.
Der vierwöchentliche Menstruationstypus, mit Ausnahme von
sechs Fällen, hei denen die Menses sich alle drei Wochen ein¬
stellten, war der allgemein gültige. Bei dem weitaus größten Teile
der Fälle dauerten die Menses drei bis vier Tage und waren mit
mehr oder weniger heftigen Schmerzen verbunden, während sie
sich bei einer beschränkteu Anzahl von Fällen von ein- bis zwei¬
tägiger, resp. fünf- bis achttägiger Dauer und ganz oder fast
ganz schmerzlos gestalteten. Es ist vielleicht von einigem Inter¬
esse, wenn ich hier nicht ohne Erwähnung lasse, daß acht von
jenen Fällen, die mit 16, resp. 17 Jahren menstruiert haben,
durchaus dem blonden Typus angehörten und daß vier andere,
ebenfalls ausgesprochene Blondinen, schon ndt elf Jahren die
Periode bekommen hatten.
Das Klimakterium tritt bei den Armenierinnen gewöhnlich
mit 40 bis 45 Jahren ein, aber die Fälle sind nicht gar so selten,
in denen die Menses bei vorgerückterem Alter noch bestehen.
Zehn meiner Fälle, darunter zwei Virgines, menstruierten, ob¬
wohl sie bereits irn Alter von 47 bis 55 Jahren standen, noch
regelmäßig und sahen auch sonst körperlich wohl aus. Anderseits
trat das Klimakterium infolge von anämischen Zuständen zu¬
weilen viel früher, schon vor dem 35. Lebensjahr ein. Unter den
432 Frauen, die, wie bereits erwähnt, zusammen mit den 168 Mäd¬
chen die 600 Fälle ausmachen, hatten 400 konzipiert. Als höchste
Zahl der Konzeptionen ergab sich elf u. zw. zweimal bei fast
gleichaltrigen Frauen von 38 und 40 Jahren; die nächst höchste
Zahl war 9 bei 8 Fällen; dann folgten je 8 Konzeptionen bei 18,
je 7 bei 7, je 6 bei 59, je 5 bei 48, je 4 bei 64, jo 3 bei;' 62,
je 2 bei 56 und schließlich je 1 bei 76 Frauen.
Die geringere Anzahl der Konzeptionen setzte nicht immer
ein jüngeres Aller voraus, sondern es gab Fälle, in denen die
Frauen trotz, ihres überschrittenen 30. Lebensjahres nur ein-
oder zweimal konzipiert hatten, weil sie spät in den Ehestand
getreten waren. Es gab aber aucb solche, die vor vielen Jahren
nach einmaliger Konzeption jung verwitwet waren und sich
seitdem nicht wieder verheiratet hatten.
Interessant sind ferner die Daten, die sich über die Häufig¬
keit des Abortus in denselben Fällen ergaben. Beinahe die Hälfte
davon hatte ein- bis viermal abortiert. Der Abortus kam zumeist
im dritten, seltener im zweiten und ersten, noch seltener im
vierten Schwangerschaf Ismonat vor. Der Abortus wurde in vielen
Fällen auf rohe Weise, z. .B. durch Einführung eines Holzstabes
in den Uterus, herbeigeführt, was begreiflicherweise Infektion
und Puerperalfieber mit mehr oder weniger langer Dauer zur
Folge hatte. In anderen Fällen waren es verschiedene Absude
(Anis, Safran, Juniperus, Oleander usw.), die nach mehr oder
weniger heftigen Intoxikationserscheinungen den Abortus be¬
wirkten.
Beachtenswert war weiters das häufige Vorkommen von
Zwillingsgeburten, indem unter den 400 Fällen achtmal Zwillings¬
kinder in die Welt gesetzt wurden, was soviel heißt, daß auf
jede 50. Entbindung eine Zwillingsgeburt entfiel.
Bei den übrigen 32 Frauen, die nie konzipiert hatten, fand
ich Stenosis cervicis. Atresia vaginalis und Lageanomalien des
Uterus.
Das so wichtige Moment der Beckenweite habe ich eben¬
falls an diesen 600 Fällen zu studieren versucht, wobei ich zu
beachtenswerten Resultaten gelangte.
Die von der Schule aufgestellten Beckenmaße : Distantia
spinarum 25 bis 26 cm, Distantia cristarum ossis ilei 28 bis 29 cm,
Nr. 3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
91
Disiaiilia trochuiileruin 80 bis 81 cm, Uistanlia Baudeloque 19 bis
20 cm, Coiijugata diagonalis 12 bis 18 cm, Coiijugata vera lOV^ bis
IIV2 cm, die, meines Wissens, nur aus Beckeumessungen an
Europäei'innen gewonnen worden sind, entsprechen einem be¬
deutenden Teile der 600 Fälle nicht. 320 Becken ei'wiesen sich
bei meinen Messungen als im großen und ganzen übereinstim¬
mend mit den obigen Maßen. 48 Becken wichen schon hievon
etwas ab und die übrigen 232 Becken zeigten so auffällige Unter¬
schiede von denselben Maßen, daß ich mich veranlaßt sah, sie
von den ersteren abzusondern und in eine eigene Gruppe ein¬
zureihen. '
Während die Distantia spinarum nach dem Schulmaße 25 his
26 cm beträgt, zeigte sich dieselbe an einem Teile der Becken
dieser Gruppe von nur 22 bis 24 cm Länge, wobei die Distantia
cristarum ossis ilei 25V2 bis 29 cm betrug, so daß diese um
3V2 bis 5 cm mehr ergab, statt nur 3 cm mehr zu ergehen. Die
Distantia trochanterum beträgt nach dem bekannten Maße nur
um 5 cm mehr als die Distantia spinarum. An diesen Becken
aber betrug sie um 6, 7, 8 bis 9 cm mehr. Bei dem anderen Teile
der Gruppe betrug die Distantia spinarum 27, 28 und 29 cm, wo¬
bei die Distantia cristarum sich his 30 cm lang erwies. Es war
überhaupt auffallend, daß an sämtlichen Becken dieser Gruppe
der Unterschied zwischen der Distantia spinarum und jener der
Distantia trochanterum höchst selten nur 5 cm, gewöhnlich aber
6, 7, 8 bis 9 cm betrug. Die Distantia Baudeloque betrug 18 bis
22 cm, die Conjugata diagonalis zumeist 13 cm und auch mehr,
so daß das Promontorium nicht immer erreicht werden konnte.
Der Gedanke, daß es sich möglicherweise um pathologische
Veränderungen, also um Rachitis, in den Becken-, resp. Ober¬
schenkelknochen handle, war anfangs nicht ganz von der Hand
zu weisen. Allein er mußte fallen gelassen werden, sobald es
sich Lerausstellte, daß diese Ahweichungen sehr häufig (232mal
unter den 600 Fällen) vorkamen und somit einen gewissen ein¬
heitlichen Typus zeigten, daß die der Rachitis zukommenden
Veränderungen sich im ganzen nur zehnmal nachweisen ließen
und daß die Fälle, mit Ausnahme weniger Virgines, sämtlich
einmal bis mehrere Male spontan und leicht geboren hatten.
Diese Erscheinung konnte daher nichts Pathologisches an
sich haben; sie ist vielmehr eine normale Eigentimdichkeit, die
einem Teile der Armenierinnen zukommt.
Die Frage, warum diese Eigentümlichkeit nicht von allen
Armenierinnen geteilt wird, kann am besten jene im Verlaufe
dieser Studie erwähnte Annahme beantworten, wonach das heutige
armenische Volk hauptsächlich aus zwei Rassenelementen, dem
arischen und dem turanischen, hervorgegangen ist. Die 320 Ar¬
menierinnen, deren Beckenmaße mit jenen der Europäerinneir
ühereinstinirnten, liefern hiefür einen wertvollen Beweis. Die
übrigen 280 Armenierinnen mit den beschriebenen Beckeneigeu-
tümlichkeitcn, die höchstwahrscheinlich turanisch sind, vvdirden
aber diesen Beweis nur erhärten.
Dr. C. Reitter: Zur elifferentiellen Diagnose der
Knochen Verdickungen. (Erscheint ausführlich in dieser
Wochenschrift.)
Diskussion ; Prof. Lang erklärt, daß M u 1 1 i i) 1 i z i t ä t der
Krankheitsherde hei Lues oft genug fehlt. Singuläre Krankheits¬
herde, auch solche der Knochen — heispielsweise am Schädel —
können Jahre hindurch für sich allein bestehen.
Hierauf führt Prof. Dr. S. Stern seinen am 7. Dezember
vorigen Jahres begonnenen Vortrag; ,,Psychognostische Er¬
klärung des statischen Sinnes“ zu Ende. Grundlage des¬
selben bildet, wie der Vortragende im ersten Teile seines Vor¬
trages ausführte, sein Werk „Allgemeine analytischrsynthetische
Psychognosis“ (Verlag Dorfmeister, Wien- Leipzig).
Die Erkenntnis der Orientierung am Leibes- und Weltramn
setzt vor allem genauere Kenntnis der Ra um Wahrnehmung
voraus. Diese erweist sich als eine Erinnerungshilderverknüpfuug
von Leibesbewegungsempfindungen. Erinnerungsbilder sind selbst¬
ständige, geis'ige Gebilde, die von allen Empfindungen und Ge¬
fühlen Zurückbleiben und durch das ganze Lehen fortbestehen.
Ihre Intensität wächst mit der Zahl der Wiederholungen ihrer
primären Empfindungen. Die Erinnerungshilder mehrerer nach¬
einander folgender Primärwahrnelnnungen assoziieren
sich miteinander anfangs nur in lockerer Weise. Je häufiger
aber die Aufeinanderfolge derselben primären Wahrnehmungen
sich wiederholt, um so inniger und fester werden die Asso¬
ziationen ihrer Erinnerungsbilder, so daß aus den Assoziationen
schließlich feste K o n g 1 o m e r a t e werden. Solche Konglo¬
merate hängen dann jeder der wieder auf tauchenden Priinär-
wahrnebmungen untrennbar an.
Jeder wahr ge nomine ne Raum ist ein Konglomerat
von Erinnerungsbildern vieler Bewegungsempfindungen. Es gibt
einen Sehraum und einen Tas träum. Beide bilden sich aus
den unuuRrhrochen sicli folgenden Bewegungen am Seh- und
Tastorgan, verbunden mit deren Empfindungen. Der eigene
Leihesraum wird nur durch die verschiedensten Bewegungen
aller Körperteile, im Zusammenhang mit irgendeinem Tastkon¬
takt, zur Kenntnis des Bewußtseins gebracht, der Weltraum
hingegen durch die verschiedensten Bewegungen der Augen über
die äußeren Gesichtsfelder. Um nun das Verhältnis des je¬
weiligen Leihesraumes zum Weltraum dem Bewußtsein zuzu¬
führen, muß der Leibesraum in irgendeiner Normalstellung
des Leibes allen möglichen äußeren Gesichtsfeldern * gegenüber-
gestellt werden und die sinnliche Wahrnehmung des Verhältnisses
zwischen beiden dem Bewußtsein zugefülirt werden, so daß die
Erinnerungshilder dieser Verhältnisse durch häufige Wiederholung
der bezüglichen sinnlichen Wahrnehmungen schließlich in feste
Verbindung oder Konglomeration geraten.
Kennt nun der Mensch alle Bestandteile seiner Normal¬
stellung und alle jene Bewegungen des normal gestellten Leibes,
die ihn mit den verschiedensten äußeren Gesichtsfeldern in Seh¬
kontakt bringen, dann ist auch seine Orientierung über das
fragliche Verhältnis jederzeit sichergestellt.
Die Elemente einer aufrechten Normalstellung sind
verschiedene T a s t d r u c k- und Kraft ä u ße r u n g s empfindungen,
so z. B. Tastdruck an der Fußsohle, Muskelkraftempfindungen
an den Unter-Oberschenkeln, Rücken- und Nackenmuskeln, ein¬
fache Druckempfindungen an den verschiedenen Gelenken, Fuß-
Unterschenkeln und Kniegelenken.
Solange die genannten Empfindungen, wenn auch qualität-
los, fortbestehen, ist der Mensch sich der aufrechten Stellung
seines Leibes bewußt, ebenso auch der verschiedenen äußeren
Gesichtsfelder seiner Umgebung. Er ist sich auch dessen bewußt,
mit welchen neuen Bewegungen seiner Leibesteile dieses oder
jenes Weltraumstück zusammenhängt, darin besteht die Orien¬
tierung. Aendert er seine Normalstellung z. B. in eine hori¬
zontal auf dem Boden aufliegende um, so geschieht dies auch
nur durch eine Anzahl neuer Leibesbewegungen, deren jede ein¬
zelne einen neuen Weltraumteil zur sinnlichen Wahrnehnumg
bringt. Alle Einzelbewegungen und die ihnen entsprechenden
Aenderungen des Weltraumes hinterlasisen ihre Erinnerungs¬
bilder. Ist nun die Normalstellung in die neue horizontale Rücken¬
lage übergegangen, so erkennt er diese neue Lage an dem Weg¬
fall aller Bestandteile der aufrechten Normalstellung und dem
Neuauf tauchen von T a s t d r u c k an der ganzen rückwärtigen
Körper fläche, ohne jede Kraftempfindung. Ebenso erkennt
er den neuen Weltraum aus der Aneinanderreihung aller Einzel¬
änderungen während der Bewegungen. Ist er aber bewußtlos in
die Rückenlage umgefallen, so wird er beim Erwachen eben nur
seine Rückenlage sofort erkennen, nicht aber den ihn umgeben¬
den Weltraum, falls er zum erstenmal im Leben in diese
Lage gekommen war.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 11. Dezember 1906.
Vorsitzender : 0 b e r s t e i n (> r.
Schriftführer: Pilcz.
Zu ordentlichen Mitgliedern wurden gewählt die Herren
Julius Flesch und Max Kessel ring.
Der Präsident verliest eine Zuschrift des niederösterreichi¬
schen Landeskomitees, betreffend die Ausstellung für Schulhygiene
in London.
A. Demonstrationen; 1. Dr. Rud. Neurathdemonstriert
aus seinem Ambulatorium (I. öffentliches Kinderkrankeninstitut)
ein vier Jahre altes Mädchen mit angeborener Okulomoto¬
riuslähmung. Bald nach der rechtzeitig und spontan erfolg¬
ten leichten Geburt bemerkte die Mutter, daß. das Kind schiele
und schon in den ersten Monaten, daßi das linke Auge wenig
geöffnet werde. Die Anamnese ergibt weiter nichts von Belang;
die Anomalie blieb bisher stationär. Wir sehen an dem Kinde
eine starke linksseitige Ptosis, die nur ganz wenig durch die
Funktion der Stirnmuskulatur korrigiert werden kann. Wir
finden weiters eine hochgradige Einschränkung der Be¬
weglichkeit des linken Bulbus nach innen und die Beweglichkeit
nach unten und oben nahezu aufgehoben. Beim Versuch, nach
92
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 3
unten zu blicken, tritt Rollung im Sinne der Trochleariswirkung
auf. Nach außen ist die Beweglichkeit des Bulbus erhalten. Die
Pupille reagiert prompt, der Fundus ist normal, die Muskulatur
im Versorgungsgehiet des rechten Mundfazialis etwas weniger
funktionstüchtig, die elektrische Erregbarkeit hier qualitativ un¬
verändert.
Der Fall von unzweifelhaft kongenitalem, einseitigem Futik-
tionsdefekt, der sich auf die vom Okulomotorius versorgten ex-
terioren Augenmuskeln erstreckt, ist in die Reihe jener Fälle
von Funktionsdefekten der Hirnnerven kongenitaler Natur ein¬
zureihen, die zuerst Moehius klinisch gesichtet und patlio-
genetisch auf angeborenen Kernschwund bezogen hat. Es han¬
delt sich um Funktionsausfall, weil doppelseitig, der verschie¬
denen Augenmuskeln, öfters kombiniert mit Fazialis- oder Hypo-
glossuslähniung. Später hat Kunn die Kasuistik der Fälle in
lückenloser Reihe gesichtet und um schöne Fälle bereichert, gleich¬
zeitig aber auch auf Grund kritischer Wertung wichtiger Mo¬
mente sich gegen die Annahme eines Kernschwundes, einer krank¬
haften Schädigung der angelegten motorischen Stirnkerne und
für eine Aplasie des peripheren Neurons, des Kernes, des Nerven
oder auch der Muskulatur ausgesprochen. Ein von Heubner
genau untersuchter Fall, ein lV2jähriges Kind betreffend, hat
die Ansicht Kunns sicher fundiert, insoferne sich tatsächlich
ein vollständiges Fehlen von drei motorischen Hirnnervenkernen
ohne jedes Zeichen von Entzündung, Pigmentierung oder Sklero¬
sierung ergab.
Ich möchte aus der Kasuistik der letzten Jahre nur zwei,
auch histologisch untersuchte Fälle hervorheben, den von Mar¬
fan und Armand- Delille, die bei einem SVa Monate alten
Kinde mit Funktionsdefekt des rechten Fazialis und Verbildung
der Ohrmuschel und das Gehörganges, Fehlen des Fazialis-
stanmies im extra- und intraossalen Verlaufe, Fehlen des Akusti-
kus und des inneren Ohres und Verbildung des Felsenbeines
fanden. An der Stirnbasis waren Akustikus und Fazialis, aller¬
dings atrophisch, zu erkennen. Die Kerne des Abduzens und
Fazialis waren auf der betroffenen Seite zellärmer und zeigten
alle Kriterien der Atrophie. Die Autoren nehmen an, daß die
gestörte Entwicklung des Felsenbeines zur Schädigung des Nerven-
stammes geführt habe und daß erst sekundär — wie nach alten
Fazialislähmungen — die Kernzellen atrophiert wären.
Zu anderen Resultaten kamen Rainy und Fowler bei
histologischer Untersuchung eines Falles von doppelseitiger Fa¬
zialislähmung, ein zehn Wochen altes Kind betreffend. Sie fanden
bei Mar chi -Untersuchung ausgesprochene Degenerationen in
allen Partien der Fazialiswurzel und die Fazialiskerne selbst
reich an Ganglienzellen von dem ausgesprochenen Charakter hoch¬
gradiger Degeneration, die Ni s sei sehen Körper irregulär, die
Fortsätze schlecht entwickelt. Es müsse sich nach Ansicht der
Autoren um eine allmähliche Wirkung toxischer Produkte auf
die Zentren handeln, also um einen Kernschwund; vielleicht wäre
im Heubner sehen Falle, in dem cs sich um ein Kind im zweiten
Lebensjahre handelte, der Prozeß schon abgelaufen gewesen und
wären die Zeichen der Atrophie schon einem Ruhestadium ge¬
wichen, das die Kernagenesie vortäuscht.
Von den bisnun publizierten anatomischen Befunden ange¬
borener Funktionsdefekte im Bereiche der Hirnnerven, spricht
also der Fall Heubners zugunsten der Annahme einer kon¬
genitalen Kernaplasie, der von Marfan und Armand-Delille
nach Auffassung der Autoren für eine Entwicklungsstörung des
peripheren Nervenstammes und die Beobachtung von Rainy
und Fowler wird im Moebiusschen Sinne als kongenitaler
oder pränataler, degenerativer Kernschwund aufgefaßt.
Ich kann nun über den weiteren Verlauf und den anato¬
misch-histologischen Befund des Falles von multiplen Mißbil¬
dungen und einseitigem Funktionsdefekt des Fazialisgebietes be¬
richten, den ich der geschätzten Gesellschaft vor einigen Mo¬
naten vorgestellt habe. In obductione fanden sich noch mannig¬
fache Verbildungen innerer Organe. Die Nervenkerne und Hiim-
nervenstämme waren vollständig normal, leider waren mir Mus¬
kulatur und periphere Nerven nicht reserviert worden, doch spricht
der normale Befund des Zentralnervensystems in diesem Falle
am ehesten für die Annahme einer pränatalen Entwicklungshem¬
mung der peripheren motorischen Organe, also kongenitaler
Muskeldefekte oder -dysplasien.
Derartige primäre Muskelaplasien müssen keine sekundäre
Gangliopexie (der Kerne) im Gefolge haben.
Diskussion: Obersteiner schließt sich ganz der An¬
schauung des Referenten an und betont auch seinerseits speziell
wieder, daß auch die genaueste Untersuchung des VH. Kernes
nicht den geringsten pathologischen Befund ergab.
Alexander fragt, ob das Ganglion geniculi untersucht
worden ist. In dem demonstrierten Falle bestanden Ohrverände¬
rungen. Die kongenitale Taubheit liefert außerordentlich häufig
gleichfalls einen vollkommen negativen Befund im Kerngebiet
und in diesen Fällen scheinen, wie aus embryologischen Unter¬
suchungen hervorgeht, die primären Veränderungen in einer
Hypoplasie des Ganglion acusticum gegeben zu sein. Nachdem
das periphere Akustikus- und das Knieganglion aus einer gemein¬
samen Anlage hervorgehen, wäre es wohl möglich, daß besonders
die mit Störungen im Ohrgebiet kombinierten kongenitalen Paresen
des VH. Kernes auf kongenitale Veränderungen des Knie¬
ganglions zurückgehen.
Neurath erwidert, daß das Ganglion nicht untersuch!
wurde. Man fand auch gelegentlich eine Aplasie des Felsenbeines
und speziell französische Autoren wollen darin den Silz der
Läsion erblicken. Allein, es ist dabei nicht gut zu begreifen,
warum gerade nur gewisse Gebiete im Bereich des VH. Kernes
steärker betroffen sind.
2. Marburg berichtet unter Demonstration zahlreicher
histologischer Präparate über eine im Institut Obersteiners
ausgeführte Arbeit von Myake (aus Tokio). (Erschien in extenso
in den Arbeiten aus dem neurologischen Institut der Wiener
Universität, Bd. 13.)
B. Vortrag von Feri: Zur vergleichenden Ana¬
tomie der Akustikuskerne in der Säugetier reihe. (Er¬
scheint demnächst anderwärtig ausführlich.)
Programm
der am
Freitas: den i8. Januar <907, 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. Ed. Laug stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. 0. v. Frisch: Technik der Sehnennähte. (Demonstration.)
2. Dr. Martin Engländer: Der Harntemperatur einfache Messung
und Bedeutung als Körpertemperatur.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Regimentsarzt Dr. Doerr
und Dr. Oskar Seineleder.
Bergmeister, Paltauf.
Um die reclitzeltisre Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer uocU am Sltziiugrsabeud zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Escherich Donnerstag den 17. Januar 1907, um 7 Uhr
abends, statt.
Vorsitz: Hofrat Professor Escherich.
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Dr. Beta Schick: Ueber die Nachkrankheiten des Scharlachs.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag, den 21. Januar 1907, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rolenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Prim. Doz. Dr. Lotheisen slattfindenden wissenschaftlichen
Versammlung.
Assistent Dr. N, v. Jagid: Die Untersuchung des Blutes und ihre
diagnostische Bedeutung.
Wiener Dermatologische Gesellschaft.
Einladung zu der am 28. Januar 1907 (Mittwoch) um ‘/a® Uhi' •‘vbeiids
im Hörsaale der Klinik Riehl stattfindenden Sitzung.
Tagesordnung:
1. Administrativer Dienst.
2. Demonstrationen von Kranken.
3. Dozent Dr. Oppenheim : Ueber Phosphaturie bei Gonorrhoe.
Brandweiner. Fiuger.
Varan twortlichtr Badaktaur: Adalbert Earl Trapp. Varlag ron Wilhelm BranmBller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien, XVIIt.. ThoresiengasBe 3.
„Wleuer kllulsclie
Woclieiisclirifi'*
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an dieVerlags-
handlung.
Redaktion:
Telephon Nr. 16.282.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Ghrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Faltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
, Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Sohrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte In Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Aboiiiieiiieutsprels
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Insertions-
Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
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lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
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werden mit 60 h = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebereinkommen.
Verlagshandlung:
Telephon Nr. 17 .618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
XX. Jahrgang.
Wien, 24. Januar 1907.
Nr. 4.
INH
I. Originalartike! : 1. Aus der Kinderspitalabteilung der allgemeinen
Poliklinik in Wien. (Vorstand: Prof. Dr. Alois Monti.) Zur I
Kasuistik der malignen Tumoren der Nierengegend im Kindes¬
alter. Von Dr. T. 0 s h i m a, Japan.
2. Aus der Klinik Chrobak. Ueber einen seltenen Ausgang einer
Tubar-Gravidität Von Dr. Konstantin I. Bucura, Assistenten
der Klinik.
3. Aus dem gewerkschaftlichen Krankenhause in Orlau. Ueber
Schußverletzungen des Pankreas. Von Dr. Josef Gebiet,
chir. Ordinarius.
4. Aus der I. chirurgischen Abteilung der k. k. Krankenanstalt
Rudolfstiftung. (Primararzt Doz. Dr. Karl Funke.) Penetrierende
Schußverletzung des Abdomens durch eine Exerzierpatrone.
Von Dr. Artur Neudörfer, dzt. Volontärarzt der Klinik
Chrobak.
5. lieber Asthmabehandlung. Von Dr. W Siegel, Arzt in Bad
Reichenhall.
6. Bemerkungen zu der Erwiderung Prof. Kreibichs auf meinen
Vortrag „Die Angioneurosenlehre und die hämatogene Haut¬
entzündung“. Von Dr. Ludwig Török, Budapest.
ALT:
n. Referate: Ueber Vorschläge zu Reformen des Hebammenwesens
und die Bekämpfung des Puerperalfiebers. Von E. Eckstein.
Indikationsverschiebungen in der Geburtshilfe. Von A. M er¬
mann. Ueber die Verletzungen des Kindes während der Geburt.
Von K. Birnbaum. Indikationen, Erfolge und Gefahren der
Atmokausis und Zestokausis. Von L Pincus. Die Mechanik
der Geburt. Von Hugo S e 1 1 h e i m. Die Beziehungen des
Geburtskanales und des Geburtsobjektes zur Geburtsmechanik.
Von Hugo Seilheim. Die neue königliche Frauenklinik in
Dresden. Von Prof. Leopold und Geh. Baurat Reich eit.
Physikalische Therapie der Erkrankungen der weiblichen
Sexualorgane. Von A. Foges und Dr. 0. Fellner. Handbuch
der Geburtshilfe. Von F. v. Win ekel. Untersuchungen über
den Bau der menschlichen Tube zur Klärung der Divertikelfrage
mittels Modellrekonstruktion nach Born. Von Dr.Paul Kroemer.
Ref. : K e i 1 1 e r.
ill. Aas yerschiedeaen Zeitschriften.
IV. Tlierapeulisclie Notizen.
V. Nekrolog. Wilhelm Ritt. v. Hartei. Von Sigmund Exner.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Aus der Kinderspitalabteilung der allgemeinen Poliklinik
in Wien. (Vorstand: Prof. Dr. Alois Monti.)
Zur Kasuistik der malignen Tumoren der
Nierengegend im Kindesalter.
Von Dr. T. Oshima, Japan.
Die malignen Niereiiliimoren, an sich wohl eine von
den selteneren Erkrankungen, haben für den Kinderarzt
deshalb erhöhtes Interesse, weil sie, wie die meisten Au¬
toren statistisch nachweisen konnten, in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle dem Kindesalter angehören. Eine kleine
diesbezügliche Uebersicht möge dieses Verhalten illustrieren.
Roberts^) fand unter 67 Fällen
Rohrer2) „ „ 107 „
Ebstein^) „ „ 102 „
Hirschspring^) „ „ 69 „
Winalcr^) „ „ 40 „
Im Kindesalter selbst finden wir
fünf Jahre ganz besonders bevorzugt.
Monti^) fand unter 50 Fällen 44
Walker®) „ „ 138 „ 116
Steffen«) „ „ 219 „ 168
LachmannO „ „ 251 „ 81
Guillet^) „ „ 132 „ 45
47
37
39
39
33
wieder
bei Kindern
unter
10 Jahren
die ersten
unter 5 Jahren
» 5 n
h „
n h „
„ 5
*) Zitiert nach Senator, Erkrankungen der Niere, Nothnagels
Handbuch, XIX, 1.
Rohrer, Das primäre Nierenkarzinom. Dissertation, Zürich ISTL
Zitiert nach Steffen, Die malignen Geschwülste im Kindi's-
alter, 1905.
O Monti, in Gerhardts Handbuch der Kinderkrankheiten 1878, III, 1.
®) Walker, Annals of Surg. 1897.
Steffen, Die malignen Geschwülste im Kindesalter. Stuttgart 1905.
Außerdem sind Fälle in der Literatur iiiedergelegt, wo
es sich um derartige Geschwülste heim Neugeborenen ge¬
handelt hat (Weigert,^) Semb,^) Hasse,^) Jacobi^*^) und
andere). Das Auftreten solcher Tumoren in den ersten
Lebensjahren, sogar schon beim Neugeborenen, legte den
Gedanken nahe, daß dieselben kongenitalen Ursprungs
seien, daß bereits im Fötus der Grundstein zum Baue dieser
Geschwülste gelegt sei.
Diese Annahme wurde noch wahrscheinlicher gemacht,
als man den eigentümlichen Bau der meisten dem ersten
Kindesalter angehörigen Nierentumoren in Berücksichtigung
zog. Die überwiegende Anzahl derselben gehört den so¬
genannten ,, Mischgeschwülsten“ au, Neubildungen, in denen
die verschiedensten Gewebselemente anzutreffen sind.
Man war früher gewohnt, rein nach dem histologischen
Bau diese Tumoren zu klassifizieren und je nach den am
hervorragendsten vertretenen Ge websarten zu differenzieren.
So wurden sie vielfach in der Literatur als Sarkome, Karzinome,
Myxosarkome, Adenosarkome, Adenokarzinome, alveolare
Sarkome, Sarkome mit eingelagerten Muskelzellen und so
weiter geführt.
Es war das Verdienst Birch-Hirschf elds,^^) darauf
hingewieseii zu haben, daß alle diese Tumoren, mögen sie
histologisch auch weithin differenzierbar sein, doch gene¬
tisch einer einheitlichen Gruppe angehören.
9 Weigert, Virchows Archiv, Bd. 57, S. 492.
*) Semb, Zentralblatt für Gynäkolog. 1894.
®) Hasse, Ziemsens Handbuch, Bd. 9. S. 129.
'®) Jacobi, Journal of obstetrics 1880.
’9 Birch-Hirschfeld, Zentralblalt für Erkrankungen dec.Harn-
und Sexualorg. 1894.
94
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
Sic seien v()ii)(‘hjnlif'h ciiarakterisieii durcli das koii-
slaiile \'ürkonini('ii von qii'-]‘u:i*slreilter .Muskulatur und \ oii
di'üsigeu Elenient(*u. J> i i cli-11 i rs c li te 1 d laßl sie uiilei'
der llezwcliiiung d(‘r ,,eiul)ryonal<ui i )rüseiigeschwulsl der
A’iereugegeiul ini Kindesalter d-'Jnhryonales Ad(Mii)sarkoni)“
zusainineii. Mit l{ück;siclil auf den JRd'und der qu('rgesii*eif(en
Muskulatur, einem (tewebe, das in der norjualen Ai(*re nicht
anzutrefieji ist, leitet er den Ursiu'ung dieser Tuiuoj'en aus
versprengten l{est('n des Wolt'f sehen Körpers al), dessen
Zwisehengewebe, wie schun K berth nachgewiesen hat, seJir
i'eieh ist an l\(ninz(‘lleii für JMusk(dzelJen und Bindegewebe;
außerdem s(hen räumlich sehr (uige Bezieh iingeii zwisclum
dem A\’ ul rischen Körper und der .\i(U’('nanlage vorhanden.
Auch die scharfe Abgrenzung (li(‘S(U- Tumoren gegen das
A'ierengewebe gälx* zu der Anschauung \’oranlassung, daß
die Entstehung di(‘S(U' (ieschwülste außerhalb der A’iere zu
suchen sei.
AAiiientlich mit Bihdcsiclit auf dieses letzte Verhalten
haben dann auch amhu'e Autoren fllib bert,^“0 Pert bes.^'O
\’ugler^‘^) den Ursiirung derartiger 'rumoren außerhalb der
A'iere gesucht.
Im Jahre 18ÜÜ sind fast gleichzeitig drei Arbeiten er¬
schienen, die sich eingehend mit dem Thema beschäftigten,
es sind die von Muus,^"’) Busse^*^) und die erschöpfende
Bearbeitung von Wilnis.^')
IMuiis kommt auf (li'und der histologiscben Enter-
suchung von sechs hieher gehörigen Eällen zu der Annahme,
daß es nicht notwendig sei, dii' Entwicklung dieser Ge-
scdiwülste außerhalb der A'nu’e zu suchen, da in der embryo¬
nalen Aiere ein Gewebe zu finden ist, welches gerade einen,
dem Geschwulstgewelie sein ähnlichen Bau zeigt; die Ent¬
wicklung der Tumoren gehe in iler Winse vor sich, daß ein
abgegrenzter Teil der Aierenanlage in einer früheren Zeit
des Eötalleheiis eine pathologische Wucherung eingehe,
während die ülirigen 'Teile normal foiTwuchern. IGir die
Entstehung dei' (luergestreitieu Muskidatur läßt er die Frage
offen, ob sie auf \Vucheruiig der Mesodermzellen in frühester
Zeit der Aierenanlage, wo durch exzessive Wucherung der-
scdben. nicht nur die verschiedenen Bindegewidismodifika-
tionen, sondern auch Muskulatur gebildet wurde, zurück¬
zuführen sei, oder oli sie durch Metaplasie aus glatter AIus-
kulatur hervorgebt. Als Bildungsstätte für die epitbelialen
Bestandteile d(U' Geschwülste betrachtet Muus elienfalls
die Aierenanlage, nicht die Frniere (Birch- II i rsch fe I d).
ln ganz ähulicher Weise sucht auch Busse den Ur¬
sprung der 'Tumoren in der Aiere sellist. Die Geschwülste
stimmen in der Struktur durc haus mit der in der Entwicklung
begriffenen Aiere überein. ,,Ein Abschnitt der Agiere' gerät
auf irgendwelche, uns nicht näher bekannte \'eranlassuug
in Wucherung, an der sich sowohl das Ei)ith(d, wie auch
(las interstitielle Geuvebe beteiligt. Das Produkt dieser Wu¬
cherung sind unreife oder reife drüsige oder krebsige Bil¬
dungen einerseits und unreife oder i’eife Eormen des fibro¬
muskulären Gewebc's anderseits, aus dem sieb durch Meta¬
plasie andere' Gewebstypeii, wie quergestreifte Muskelfasern
oder Knorpc'l ('iitwickeln können.“
Die eingehendste Arbeit über dc'n Gegenstand in den
letzten Jahren verdanken wir Wilms. Auf Grund seiner
umfassenden Untersuchungen kommt der Verfasser zu der
Anschauung, daß die embryonalen Aierenturnoren bereits
zu einer Zeit entstehen, in webdier 'Teile des Mesoderms
sich in. einem Etadium befinden, wo auch die Urniere noch
nicdit ausgehildet ist. Es handelt sich um eine Versprengung
von Tc'ilen des Urwirbels (Myotorn) und von Elementc'ii der
Urnierenanlage (Aeplirotom und Teile; des Mesenchyms),
die dann gewissermaßen uubenützt liegen bleiben, um sich
dann später, wenn die bleibende Aiere zur Entwicklung
'h Ribberl, Virchows Archiv, Bd. 80.
‘h Perthes, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1896, Bd. 42.
’*) Vogler, Iiiaug.-Dissertaliou Müiicheii 1897.
'^) Muus, Virchows Archiv, Bd. l.äÖ. ' ■
‘®) Busse, Virchows Archiv, Bd. 157. ■'
‘h VVilms, Die Mischgeschwülste der Niere..
gelangt, in derselben u. zw. unter dem Bilde eines degene¬
rierten 'J'eiles derselben weiter zu entwickeln. Daß diese
Geschwülste fibröses, myxomatoses, elastisches Gewebe,
Fettgewebe, Knochen- und Knorpelgewebe, glatte und quer¬
gestreifte Muskulatur, endlich drüsige Bildungen enthalten,
erklärt sich daraus, daß sie aus Zellen des Myotoms, des
Mesenchyms und der Mittelplatte oder in letzter Instanz
aus Zellen des mittleren Keimblattes hervorgehen. Wilms
greift also bezüglich der Genese dieser Tumoren bis auf die
Mesodermzellen zurück.
Die Theorie, die Wilms aufgestellt hatte, ist nicht
ohne' (iegner geblieben, ln neuerer Zeit hat u. a. JenkeG*^)
auf Grund seiner Befunde und im Anschluß an die An¬
schauung von Muus und Busse gegen die Wilms sehe
Deutung Etellung genommen. Der Autor faßt seinen Stand¬
punkt folgendermaßen zusammen: ,,Es ist nicht nötig, für
alle Aierengeschwülste nach der Hypothese von Wilms
eine Keimversprengung aus frühester Eötalperiode anzu¬
nehmen, da in der Aierenaiüage selbst ein Gewebe vor¬
handen ist, aus welchem sich alle Bestandteile, welche die
Mischgeschwuüst zusammensetzen, erklären, resp. ableiten
lassen. Das Vorkommen ektodermaler Bestandteile in diesen
kompliziert zusammengesetzten Aiereidumoren spricht eher
gegen als für die Theorie von AVilms, da die Beziehungen
zwischen dem Wolff scheu Gange und Ektoderm erst her-
vortreteii zu einer Zeit, wo die Differenzierang des Meso¬
derms in Myo- und .Aeplirotom bereits durchgeführt ist.
Jedenfalls lassen sich die oktodermalen Bestandteile durch
Etörungen in dem späteren Stadium der Entwicklung als
Produkte der Aierenkeimanlage selbst erklären.“
Aus der vorstehenden kurzen Skizzierung läßt sich er¬
sehen, wie wenig geklärt noch bis heute die Entwicklungs¬
geschichte dieser komplizierten Tumoren ist, ivie differierend
die Anschauungen der einzelnen Autoren sind.
Darüber herrscht wohl Einigkeit, daß die hier in Frage
kommenden Geschwülste einer einheitlichen Gruppe ange¬
hören, daß dieselben kongenitalen Ursprungs sind; (^ler von
Birch-llirschf eld eingefühiie Aaine des „embryonalen
Adenosarkoms“ wird von den meisten Autoren als zweck¬
mäßig akzeptiert.
Die embryonalen Mischgeschwülste der Aiere lassen
sich durch folgende Syniptome einigermaßen charak-
lerisieren. f
1. Gehören sie, wie schon oben betont, mit geringen
Ausnahmen (Hoishol t,’^) l\Iuus, Busse, Jenkel) dem
ersten Kindesalter an.
2. Zeichnen sie sich durch ein exzessiv rasches Wachs¬
tum aus. ln kurzer Zeit erreichen die 'Tumoren eine be¬
trächtliche Größe, man findet Geschwülste, die eine Bauch¬
hälfte vollständig einnehmen, ja sogar die Mittelliuie über¬
schreiten, während den Eltern der zunehmende Banchumfang
ihres Kindes erst seit wenigen Wochen auffällt.
3. Die embryonalen Mischgeschwülste der Aiere greifen
selten aut Nachbarorgane über und zeigen geringe Nei¬
gung zu Metastasenbildung (Birch-Hirschf el d u. a.).
Aach Birch-Hirschf eld handelt es sich in den sel¬
tenen ,Uälle]i von Metastasen bildung um große Geschwülste,
welche die Kapsel durchbrochen haben und hier spricht
der Sitz der sekundären Geschwidst für embolische Ver¬
schleppung; in keinem Fall scheint eine Metastase durch
die Lynqdibahn nachgewiesen, insofern, als Metastasen in
(len Lymphdrüsen fehlen.
ln rien fällen von Busse wird voir Metastasen nichts
erwähn!, bei Muus findet sich uider sechs Fällen einmal
eine Metastase in der Leber.
4. Von den meisten Autoren wird angegeben, daß der
Tumor stets gegen das Aierengewebe durch eine mehr oder
minder dicke Bindegewebsschichte scharf abgegrenzt ist.
Dabei kann der 'Tumor durch sein Wachstum einen großen
'leil des Organs durch Druck zur Atrophie oder zum Schwin-
‘h Jenkel, Zentralblatt für Chirurg., Bd. 60, S. 500.
"•j Hoisholt, Virchows Archiv, Bd. 104.
Nr. 4
WIKNEU KLINISCHE WOCHENSCHKlET. 1907.
95
(len l)ringeu. lnfillri(‘rl wird das Ni(M’ono('w(d)(' g(‘W()liiilic]i
iiicdit von den Tuniorinasson.
Außer dies('n „embryonalen MiscbgesclivvüLslen“ d(n‘
Aiere finden sieb bei Kindern Tninoren der Nierengegend,
die unter den malignen Nierenlumonm abgehandelt \verd(‘n,
klinisch wohl als solche imponieren, ibren Ansgangspnnkl
jedoch vielfach von (h'r rmgel)nng ( Ncdienniere, pnrirrvnales
(lewebe, retroperiloneale IJrüsen) nehmen, die Ni(n'e in ihren
Bereich ziehen, mit ihr verwachsen, oder sie vielfach in¬
filtrieren. linier den 219 Bällen Steffens geht der Tumor
viermal von den retroperilonealen Drüsen aus (iVlonti-* *^)
[zwei Fälle], Wiederh of er,^^) W'inge““). ln derselb(m
Zusammenstellung finden sich neun Geschwülste, die ihren
Ausgang von der Nebenniere nehmen (die Fälle von Cohn,^''^)
Selter,“'^) Carpenter,“]’) lliiyter,“'^) Pitt man n,-F
P e p p e r,“®) Dickinson,-®) 11 e i m a n n,®®) Barn a r d '* ’ ) uml
in einer jüngst erschienenen Arbeit von R a c h m a n i n o w,®®)
der sechs maligne Tumoren der Nierengegend heschreibt,
finden sich drei von der Neljenniere ausgehende Fälle.
Diese Tumoren zeigen nicht den charakteristischen
Bau der embryonalen Mischgeschwülste, wachsen nicht so
exzessiv rascli wie diese, greifen häufig auf die Umgehung
über uml zeigen eine auffallende Neigung zu Metastasen¬
bildung. Von den drei näher zu beschreibenden Fällen ge¬
hören zwei dieser Kategorie an, während der erste Fäll
eine typische embryonale Mischgeschwulst der Niere vor¬
stellt. Nachstehend die Krankengeschichten:
Fall 1. C. K., am 21. März 1905 in der Kinderambulatiz
der Poliklinik erschienen. Das 2V4jälirige Mädchen ist am nor¬
malen Schwangerschaftsende geboren. Brustkind, glänzendes Ge¬
deihen, angeblich ohne Störungen; keine Rachitis.
Das Kind war bisher niemals krank. Bis vor drei Tagen
wurde von seiten der Eltern nichts Ahnormes bemerkt. Um diese
Zeit kam es zu plötzlichem Erhrechen, das am seihen Tage
sich mehrere Male wiederholte ; gleichzeitig hegann das Kind
über Schmerzen im Unterleib zu klagen, die sich zeitweise so¬
gar zu krampfartigen Anfällen steigerten, während deren es neuer¬
dings zu Erhrechen kam. Das Gehrochene soll Speisereste, ge¬
mischt mit Schleim, enthalten. Stuhl normal. Der Urin soll klar,
jedenfalls nicht hlutig gefärbt gewesen sein.
Der Vater des Kindes ist angeblich stets gesund gewesen,
die Mutter leidet an einer ,, Senkung der Niere“. (Selbe lebt in
einer Provinzstadt und kam uns nicht zu Gesicht.) Bemerkens¬
wert ist es, daß ein Onkel des Kindes (Bruder der Mutter) an
einer ,, Neubildung der Niere“ leiden soll und der Großvater
mütterlicherseits an einem Nierenleiden zugrunde gegangen sein
soll. Das Kind wird auf die Kinderahteihmg aufgenommen.
Aus dem Status praesens sei hervorgehoben: Dem
Alter entsprechend großes Kind mit gut gefärbter Hautdecke,
reichlichem Panicidus adiposus, kräftiger Muskulatur und ent-
spr(‘chendem Knochenbau. Keine Zeichen stat tgehabter Rachitis.
Zunge leicht belegt; leichte Rötung der Rachengebilde. Lunge
und Herz bieten durchaus normale Verhältnisse.
Abdomen : Der Bauch erscheint stark kugelig auEgetrieben,
doch erscheint die rechte Ahdominalhälfte nach der Flanke stär¬
ker ausladend. Erweiterte Hautvenen sowohl um den Processus
xijjhoideus herum, als auch an den lateralen Partien des Al)domens.
Der Naliel erscheint vorgetriehen.
Perkussion: In der Medianlinie tympanitischer Schall
bis ungefähr zwei Querfinger oberhalb des Nabels, von da nach
abwärts deutliche' Dämpfung bis zwei Querfinger oherhalh der
Symphyse, von da nach abwärts tym])anitischer Schall, ln der
Monti, Jahrbuch für Kinderheilkunde, VI, 1863, S. 179 und
Jahrbuch für Kinderheilkunde. N. F. V, 1872, S. 321.
*9 Wiederhofer, Handbuch für Kinderkrankheiten, Bd. 4 a, 6,
5. 446.
Winge, Norsk. Mag. für Lägevidensk, Bd. 13, ref. Jahrbuch
für Kinderheilkunde, XX, 1883, S. 502.
Cohn, Berliner klin. Wochenschrift 1894, 11.
Selter, Jahrbuch für Kinderheilkunde 1901, Bd. 54, S. 122.
*0 Carpenter, Lancet 1902, I, S. 377.
Ruyter, Archiv für klin. Medizin 1890, XL, 1, S. 98.
Pittmann, Handbuch der Kinderheilkunde, Bd 4, c, S. 499.
Pepper, Jahrbuch für Kinderheilkunde 1901, Bd. 54, S. 779.
Dickinson, Lancet 1898, I, S. 556.
Reimann, Prager med. Wochenschrift 1902, XXVII, 25.
Barnard, Lancet 1903, II, S. 123b.
Rachmaninow, Archiv für Kinderheilkunde Bd. 44, H. bis 4
6, S. 317.
roohten Mamillarlinic' begimit oino Dämpfung (iiueii Qutn'fiuger
unterhalb des Rippenbogens und reicht bis zum Poupar Ischen
Band('. In di'i' linken Mamillarlinie tyinpaniüscher Sciiall bis
zwei Qnerting(‘r oberlialb (h's 1' o n p a r I sehen Bandes, von da
ab gedäm])ft tympanitischer Schall. In der Nal)elborizonl:ileu von
(•('chts nach litdes <*iue inlensixn* Däni[)fnng, die nach links hin
au Intensität abuimmt, nm drei Querfinger links vom Nalx'l
lympanil.ischein Schalle zu weichen. Di(' Palpation des Abdomens
(U'gibt einen Tumor, der nahezu die ganze rechte Bauchbälflc!
einnimmt und nach links ungefähr drei Querfinger links vom
Nab(d reicht und nach unten sich ungefähr zwei Qnerfiuger
von d('r Symphyse ahgrenzeu läßt; nach oben kann inan d(*n
Tumor undeutlich vom Rippenbogen abgrenzen. Der Tumor ist
von derber Konsistenz, liat eine glatte Oberfläche, zeigt gröbere
Unebenheiten, nirgends Fluktuation. Die Geschwulst läßt sich
nach der Seite hin verschieben. Bei Aufblähung des Darmes
konfiguriert sich das Colon transversum deutlich vor dem Tumoi'
und an der medialen Seite desselben erscheint eine von oben
nach unten verlaufende Zone mit gedämpft tym))anilischem Schall
(Colon ascendens ?). Bei der Untersuchung per rectum findet man
das kleine Becken leer und ist nicht imstande, den unteren Pol
des Tumors zu tasten. Der Bluthefund zeigt die Zeichen einer
geringgradigen Anämie (4,350.000 rote Blutkörperchen, 9200 weiße,
50Co polynukleäre neutrophile Zellen, 45% Lymphozyten, 2-5%
eosinophile Zellen, 1-5% mononukleäre Leukozyten; Hämoglobiii-
gehalt 70%). Im Urin kein Blut, kein Eiweiß, im Sediment nichts
Ahnormes.
Diagnose: Tumor renis d ex tri. Klinisch kein An-
haltspuukt für Metastasenhildung. Der heigezogene Chirurg
schlägt die Operation vor. Die beiden folgenden Tage keine Ver¬
minderung am Status und Befinden des Kindes. (Seit der Spitals¬
aufnahme erbrach das Kind nicht wieder.) Im Urin (Tagesmenge
350 und 410 cm®) nach wie vor nichts Pathologisches zu finden.
14. März 1 905. Operation. Unter Billroth scher Mi¬
schungsnarkose wird auf transperitonealem Wege der Tumor samt
der mit ihm verwachsenen rechten Niere ohne besondere tech¬
nische Schwierigkeiten exstirpiert.
15. März. Das Kind hat in der Nacht niehrere Male er¬
brochen. Temperatur 8 Uhr früh 381°, Puls 164; Spannung deut¬
lich herabgesetzt. Spontan uriniert (Urin klar, nichts Abnormes).
Mittags: Kollabiertes Aussehen, Puls schlecht, gespannt. Koch¬
salzinfusion (300 cm®), Kampfer. Tagsüber öfters Erbrechen. Hie
und da Hustenanfälle (vereinzelte hronchitische Geräusche an
den abhängigen Lungenpartien).
16. März. Unruhige Nacht. Zweimal Kampfer und Stro¬
phantus. Spontan uriniert. Auf Klysma ein wenig Stuhl. Früh:
Puls 140, Spannung unter der Norm, Temperatur 38 2“. Erbrechen
sistiert. Das Kind sieht weniger kollabiert aus als am Vortage.
Leichte Bronchitis. Abends: Temperatur 38-4°.
17. März, ln der Nacht wieder erbrochen, seit gestern
nachmittags vier flüssige, stark stinkende Entleerungen. Früh :
Temperatur 390°, Puls 190. Zunge feucht, Augen halloniert;
Bauch nicht aufgetrieben, nicht druckempfindlich. Bronchitis wie
am Vortage. Abends : Temperatur 391° ; das Kind ist sehr apa¬
thisch, Zunge trocken. Puls klein, äußerst frequent, Diarrhöen
(tagsüber viermal) hestehen fort. Nahrungsaufnahme sehr gering.
Kochsalzinfusion (zweimal je 250 cm®), Kam])fer, Nährklystier.
18. März. Früh: Temperatur 38-4°, Puls 135, sehr klein.
Flüssige Stühle; Zunge sehr trocken; Apathie, kollabiertes Aus¬
sehen. N.aehmittags 5 Uhr Exitus.
Obduktion (Prof. Albrecht): Anaemia cum degenera-
tione ])arenchymatosa myocardii, lu'patis et renis sinistri. Ex-
stirpatio sarconiatis regionis renalis d('xtri et renis dextri et
processus vermiformis facta aide dies IV. Enteritis intestini tenuis
acuta cum intumescentia folliculorum intestini. Pneumonia chro¬
nica et Peribronchitis chronica prohahiliter tuberculosa circum¬
scripta lobi superioris dextri. Bronchitis luirulenia diffusa prae-
cipue imlmonis sinistri.
Das durch die Nähte zusammengezogene Bett des Tumors
vollständig reaktionslos. Das Peritoneum glänzend, glatt. fm
Bauchraume wenige Kuhikzentimeter klarer Flüssigkeit. IJeber
dem vcrschorften Stumpfe des Appendix wenige Tropfen dicken,
gelblichen Eiters. Die U(‘hernähungsnähte vollständig reaktious-
los, desgleichen die Bauchdeckennaht. Im Bereiche derselben,
dem subkutanen Fettgewebe entsprechend, nur sehr wenig schmie¬
riges Sekret. Im Oberlappen der rechten Lunge ist das Lung('u-
gewebe in Form eines etwa fingerbreiten Streifens induriert, von
weißlichen Bindegewebszügen und von knötchenähnlichen kleinen
Herden durchsetzt. Außerdem finden sich einige bis über erbsen¬
große Brouchiektasienv- voii schwieligem Gewebe umgeben, in
den zugebörigeu Lymphdiiisen einzelne graue oder gelbliche.
Nr. i
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. .1907. .
kiiötcliciiälui liehe Hefde. Dh' Milz isl (dwas vergrößert, liellrul,
ziemlich derb, ohne Besonderheiten.
Befund des c x s I i r p i e r t e n T u m o r s : *) Die zirka
kindskopf große Beschwnlst (Gewicht L800 g) zeigt
einen knolligen Bau, eine glatte Oherflilche und isl
auf der S c h n i 1 1 f 1 ä che von s c li 1 e i m i g - g,e 1 a t i n ö s e r B e-
sc haften heit.
Die Niere ist vollständig erhalten und intakl,
sitzt de m T u m or auf, ist a b er v o n (16 in's eiben durch
11 e bindegewebige M e in h r a n streng differenzier t
und wird nirgends von Tumorinassen infiltriert,.
Histologische Diagnose:**) Mi s c h ge s c h w ul s t
der re c h t e n N i e r e (W i 1 m s, E in b r y o n a 1 e s Ad e n o s a r-
conia. au tor um).
Fall 2. S. K., l'Vdähriges Mädchen, auf die Kinderabteilung
der allgemeinen Poliklinik aufgenommen am IG. April 1905. Ein¬
ziges Kind gesunder Eltern. Zur rechten Zeit spontan geboren.
Bis zum Ende des ersten Lebensjahres an der Brust. Gutes
Gedeihen; niemals A'erdauungsstörungen. Die ersten Zähne be¬
kam das Kind mit sechs Monaten; mit einem Jahre hegaim das
Kind zu gehen. Am Ende des ersten Lebensjahres Morbillen
(glatter Verlauf). Sonst war das Kind stets gesund. Gegenwärtige
Erkrankung seil zirka drei Wochen. Um diese Zeit bemerkte die
.Mutter, daß der Bauch des Kindes größer geworden sei. Zugleich
klagte das Kind über Bauchschmerzen. Durch einige Tage soll
auch Fieber bestanden haben. Von da ab magerte das Kind zu¬
sehends ab. Dabei war die Nahrungsaufnahme befriedigend (täg¬
lich ein Liter Milch, Milchspeise, Gemüse). Stühle (ein- bis zwei¬
mal täglich) normal. Seit vier bis fünf Tagen bemerkt die Mutter,
daß das Kind ,, schwer“ atmet. Kein Husten, kein Auswurf. Die
Urinsekretion soll in der letzten Zeit etwas herabgesetzt gewesen
sein (das Kind verlangt nur drei- bis viermal täglich den Topf) ;
der frische Urin war stets klar, nie dunkel (blutig) gefärbt. In der
letzten Zeit schwitzt das Kind auffallend stark, namentlich des
Nachts.
Auszug aus dem Aufnahmsstatns : Temperatur SG-d*^,
Puls 124, regelmäßig, Spannung stark herabgesetzt. Respira¬
tion 4G, Atmung vorzugsweise kostal; Einziehung im Jugulum
und Epigastrium, Nasenflügelatmen. Die Respiration ist oft keu¬
chend und stöhnend. Deutliches Zurückbleiben der linken Seite.
Das Kind liegt in linker Seitenlage mit gebeugtem Hilft- und
Kniegelenk. Seusorium frei. Stimmung weinerlich; bei Berührung
fängt das Kind sofort zu schreien an und ist schwer zu be¬
ruhigen. Sonst liegt das Kind gewöhnlich apathisch dahin. Die
Hautdecken sind wachsartig blaß. Paniculus adiposus nahezu
ganz geschwunden; Muskulatur schlaff, Knochenbau äußerst
grazil. Keine Oedeme.
Schädel symmetrisch; leichte periostale Auflagerungen. Fon¬
tanelle vollständig geschlossen. Starke Seborrhoe am Kopfe. Kon¬
junktiven sehr blaß; Pupillen mittelweit, prompte Reaktion. Rhini¬
tis acuta. Zähne vielfach kariös; Rachengebilde sehr blaß; massen¬
haft Schleim an der hinteren Rachenwand.
Thorax: Umfang rechts 21 eni, links 22 cm. Rachitischer
Rosenkranz; stark ausladende Flanken. In der linken Supra-
klavikulargrube gedämpft tympanitischer Schall, rechts normaler
Perkussionsschall. Links vorne von der Klavikula nach abwärts
intensive Dämpfung, die ohne Grenzen in die Herzdämpfung
übergeht und nach rechts bis einen Querfinger an den linken Stcr-
nalrand heranreicht. Rechts vorne normaler Schall, Lungengreuze
in der Alamillarlinie der obere Rand der sechsten Rippe. In der
linken Axilla gedämpfter, rechts normaler Schall. Links hinten
gedämpft tympanitischer Schall bis zwei Querfinger oberhalb des
Angulus scapulae, von da nach abwärts leerer Schall. Links
von der IVirbelsäule in der Nierengegend eine deutliche Vorwöl¬
bung sichtbar.
Auskultation: Links hinten, ungefähr bis zum Angulus
scapulae, lautes Bronchialatmen zu hören ; von da nach abwärts
stark abgeschwächtes, hauchendes Atmen. Rechts hinten ver¬
schärftes Vesikuläratmon und vereinzelte trockene Rhonchi. Vorne
links und über der linken Axilla bronchiales Atmen, reebts Vesi¬
kuläratmen hörbar.
Herz: Nach rechts bis zum linken Sternalrand, Spitzen¬
stoß im vierten Interkostalraum, 1 cm einwärts von der Mamillar-
linie. Herztöne leise, rein.
Abdomen stark aufgetrieben, die linke Seite stärker als
die rechte. Bei der Inspektion gewahrt man eine über die linke
*) Der Tumor wurde von Pollak am 28. März 1905 im »Klub der
Wiener Kinderärzte« demonstriert; vergl. Wiener allgem. med. Zeitung
1905, Nr. 16.
**) Die genauen histologischen Details dieses sowie der zwei
anderen Tumoren werden an anderer Stelle verölTenllicht.
Baiuhhälflc von rc^clds iiincm oben nach links außen unten vei
laufende Leiste, die namentlich bei der Inspiration deutlich her
vortritt. Bauchumfang in der Nahelhöbe 52 cm; Entfernung vom
Prociessus xiphoideus bis zur Symphyse beträgt 27 cm. Nabel ver¬
strichen. Venenektasien au beiden Flanken.
Perkussion: In der Medianlinie ineteoristischer Schall bis
ung(5fähr einen Querfinger oberhalb vom Nabel, von da abwärts
gedämpfter Schall, der nach unten an Intensität zunirnnit. ln
der Nabelhorizontalen gedämpfter Schall in der rechten Flanke;,
dann bis zum Nabel tympanitischer und von da nach links ge¬
dämpft tympanitischer bis leerer Schall. Bei der Palpation findet
man einen Tumor, der nahezu die ganze linke Bauchhälfte ein¬
nimmt, nach oben sich nicht gut abgrenzen läßt und nach unten
knapp an der Symphyse deutlich endet. Die Mittellinie über¬
schreitet der Tumor nur unterhalb des Nabels um ungefähr zwei
Querfinger. Der Tumor zeigt eine exquisit höckerige Beschaffen¬
heit, ist von verschiedener Konsistenz, knap]) am Rippenbogen
erscheint er sehr derb, in der Mitte und an seiner medialen
Seite von weicherer Beschaffenheit. Ungefähr über der Milte des
Tumors läßt sich eine von oben nach unten verlaufende Zone
mit gedämpft tympanitischem Schalle (Colon descendens?) ver¬
folgen. Ueber dem Tumor lassen sich an manchen Stellen, nament¬
lich unterhalb des Nabels, kleine, harte, erbsen- bis haselnuß-
große Knötchen durchtasten. Ungefähr in der Mitte zwischen
Processus xiphoideus und Nabel scheint vom Tumor nach rechts
ein knolliger Strang zu verlaufen. In axilla und inguine bis
haselnußgroße, harte Drüsen zu tasten. Bei der Rektalunter¬
suchung findet sich das kleine Becken leer. Die Aufblähung des
Darmes zeigt, daß das Colon descendens sich deutlich vor dem
Tumor konfiguriert. Urin stark konzentriert; kein Eiweiß, im
Sediment außer Uraten und vereinzelten Leukozyten nichts
zu finden.
Blut: Hämoglobin 35Co (Fleischl), 3,200.000 Erythro¬
zyten ; Poikilozytose (nicht sehr beträchtlich), Makrozyten, keine
kernhaltigen roten Blutkörperchen; 10.400 Leukozyten (38% poly¬
nukleäre neutrophile Zellen, 50% Lymphozyten, 9-5% eosino¬
phile Zellen, 3% große, mononukleäre Zellen). Die Probo-
punktion im linken Pleuraraum ergab eine stark hätnorrhagische
Flüssigkeit, in der Geschwulstzellen nicht mit Sicherheit nach¬
gewiesen werden konnten.
Klinische Diagnose: Maligner Tumor (Sarkom) der
linken Niere mit Aletastasen in den Mesenterial¬
drüsen und in der linken Pleura.
Unter zunehmendem Verfall Exitus am 19. April, 3 Uhr früh.
Obduktion (Prof. Albrecht): Körper dem Alter ent¬
sprechend groß; hochgradig abgemagert, Muskulatur sehr welk.
Haut atrophisch, fast weiß. Totenflecke äußerst spärlich an den
abhängigen Körperpartien.
Abdomen kugelig vorgewölbt ; im linken Hypochondrium bis
über die Mittellinie reichend ein derber, kleinhöckei’ige’r Tumor
tastbar. Etwa ein halber Liter hämorrhagische Aszitesflüssig¬
keit, desgleichen in der linken Pleurahöhle; rechts wenige Kubik¬
zentimeter gelblicher Flüssigkeit.
Schilddrüse klein, blutleer, körnig. Die Schleimhaut der
Zunge, des Gaumens, Pharynx, Oesophagus und Larynx dünn,
fast blutleer; die Tonsillen ohne besondere Veränderungen.
Bei der Herausnahme des Sternums findet sich zunächst
rechts am Ansatz des Zwerchfelles an der siebenten Rippe eine
etwa mandelgroße Geschwulst. Das vordere Mediastinum einge¬
nommen von ziemlich zahlreichen, erbsen- bis kirschengroßen,
weißlich-grauen, zum Teil hämorrhagischen, weichen Geschwül¬
sten, welche auch in ziemlich zahlreicher Menge das linke Zwerch¬
fell und die linke Pleura costalis bis an die Wirbelsäule hin be¬
decken. Die linke Lunge total luftleer, atelektatisch, ihre Pleura
grau, etwas verdickt. Die rechte Lunge ganz frei, lufthaltig, blut¬
arm, nur in den hinteren Partien in geringen Teilen atelektatisch.
Im Perikard wenige Tropfen Serum. Das Herz ziemlich groß,
kontrahiert, Kruormassen enthaltend; die Wand des linken Ven¬
trikels dicker, seine Höhle etwas erweitert. Rechtes Herz sehr
schlaff, lehmfarhen. Ueber dem früher erwähnten, im ganzen
etwa mannskopfgroßen Tumor des linken Hypochondriums zieht
das Colon descendens, etwa über die Mitte seiner Konvexität.
Das große Netz ist locker mit demselben verwachsen; die IMilz
ist gegen das linke Zwerchfell zu nach außen gedrängt, wie
platt gedrückt; der Magen ebenso wie die Leber nach aufwärts
und rechts verdrängt. Das Cökum an normaler Stelle; der Dünn¬
darm mehr nach rechts verschoben, indem die Geschwulst die
Mittellinie nach rechts überschreitet. In der Gegend des unteren
Milzpoles zwei erbsengroße Nebenmilzen. Das Pankreas von der
Geschwulst umwachsen.
Nr. 4;
97
WIENER KLINISCHE ‘WOCHENSCHRIFT. 1907.
Dieselbe besitzt eine ausgesprochen lappige Form und s.otzl
sich aus sehr zahlreichen, erbsen- bis pflaumengroßen Geschwül¬
sten, die ein reichliches Konglomerat bilden, zusammen. Di(?
Geschwülste sind teils graurot, teils mehr weißlich oder lüfmor-
rhagisch, sehr weich und reichlich Saft gebend. Auch an den
einzelnen Appendices epiploicae linsengroße Geschwülste. Ebenso
wächst die Geschwulst in die Radix mesenterii hiilein, reicllt
nach abwärts bis in das kleine Becken und ist nach hinten mit
der hinteren Thorax- und Beckenmuskulatur verwachsen, dieselbe
infiltrierend. n'
Der linke Ureter vom Harnblasenorifizium aus Picht sondier¬
bar, indem er von außen durch Geschwulstmassen komprimiert
ist, welche auch als bohnengroße Geschwülste in denselben hineiu-
wuchern. ln seinem oberen Anteil ist er erweitert, ebenso d'äs
Nierenbecken und einzelne Kelche. Beim Durchschneiden des
Tumors von außen her wird die linke Niere gerade halbiert; sie
ist von normaler Größe, etwas nach hinten zu in ihrer Form
komprimiert, von hellgrauer Farbe. Die auf der Schnittfläche etwa
kindskopfgroße Geschwulst wächst in das Nierenbecken hinein
und ist am oberen Nierenpol mit der Kapsel verwachsen. Letz¬
tere ist hier von der Geschwulstmasse komprimiert und läßt
sich vom oberen Pole nicht mehr abziehen ; von dem übrigen
Anteil der Niere ist sie jedoch leicht entfernbar.
Die Hauptmasse der Geschwulst besteht auf der Schnilt-
fläche aus haselnuß- bis über hühnereigroßen Geschwülsten, die
sich nur zum Teil durch bindegewebige Dissepimente abgrenzen,
zum Teil miteinander konfluieren. Der Tumor besitzt überall
eine zerfließlich weiche, medulläre Konsistenz und eine grau-
weißliche, hellrote oder dunkelhämorrhagisch schwarzrote Farbe.
Sowohl in der Radix mesenterii, als auch im Mesokolon, dort,
wo dasselbe mit der Konvexität der Geschwulst verwachsen ist,
finden sich sehr zahlreiche, hellrote oder blaurote, linsen- bis
haselnußgroße Geschwülste und ebensolche hellrote, linsengroße
sind hintereinander gereiht in den Appendices epiploicae.
Im Magen- und Darmtrakt nichts Besonderes. Die Aorta
beiderseits eingehüllt von Geschwulstmassen, den retroperitonea-
len Lymphdrüsen entsprechend. Ebenso sind die hinteren niedia-
stinalen Lymphdrüsen zu bis taubeneigroßen Geschwülsten um¬
gewandelt.
Die Leber von normaler Größe, ihre Ränder etwas schärfer,
glatt, von graubrauner Farbe, ohne deutliche Läppchenzeichnung,
blutarm.
Die Milz klein, durch die Geschwulst platt gedrückt, reich¬
lich gekerbt, ohne Besonderheiten.
Die rechte Niere von normaler Größe und Form, glatt, grau¬
gelblich, anämisch, ohne Besonderheiten.
Beide Nebennieren, die Harnblase und die Genitalien normal.
Histologische Diagnose; Kleinzelliges Rund¬
zelle n s ar k om.
Fall 3. R. K., 2V2jähriger Knabe, wird am 18. Juni 1906
von der niederösterreichischen Landesfindelanstalt wegen diph¬
therieverdächtiger Angina der Kinderspitalsabteilung der allge¬
meinen Poliklinik überstellt.
Es finden sich bei dem Kinde beide Tonsillen and Gaumen¬
bögen gerötet und beiderseits an den Mandeln kleine, teilweise
koufluierte, schmutziggraue Beläge ; im Ausstrichpräparat neben
zahlreichen Kokken und anderen Mundbakterien Nester von typi¬
schen Löffler sehen Bazillen. Temperatur bei der Aufnahme
(vormittags) 37-8®, Puls 98, rhythmisch, äqual, Spannung deut¬
lich herabgesetzt. Larynx nicht affiziert. 1500 A.-E. Behring-
schos Serum.
Am dritten Tage des Spitalsaufenthaltes sind die Beläge
völlig verschwunden, das Kind fieberlos, Herz und Niere
in Ordnung.
Körperstatus: Dem Alter entsprechend großes Kind mit
blasser Hautfarbe, reduziertem Paniculus adiposus und ziemlich
schlaffer Muskulatur. Sensorium frei. Das Kind ist auffallend
ruhig, nahezu apathisch, nur bei der Untersuchung abwehrend
und weinerlich.
Herz- und Lungenbefund normal.
Das Abdomen ist kugelig aufgetrieben, namentlich der linke
.Miteil tritt stärker hervor. Bauchumfang in Nabelhöhe 59-5 cm.
l-in den Processus xiphoideus herum und an den Flanken ektasierte
Hautvenen sichtbar.
ln der linken Bauchhälfte tastet man einen Tumor, der eine
höckerige Oberfläche aufweist, von teils derber, teils weicherer
Konsistenz; an manchen Stellen hat man den Eindruck undeut¬
licher Fluktuation. Der Tumor reicht vom Rippenbogen nach
abwärts bis einen Ouerfinger oberhalb des Darmbeinkammes,
nach rechts über die Mittellinie bis zwei Querfinger rechts vom
Nabel; die Grenzen ziehen dann nach links oben und zirka
zwei Querfinger links von der Mittellinie verschwindet der Tumor
unter dem Rippenbogen. Auch rückwärts ist auf <]er linken Seile
eine beinahe, bis an die Wirbelsäule reichende Vorwölbung zu
konstatieren, Von dem großen Tumor zieht nach links gegen
die Leber zu, etwas oberhalb des Nabels quer verlaufend", ein
ca. 6 cm langer, derber, knotiger Strang. Ueber dem Tumor leerer
Schall mit Ausnahme einer von oben nacli unten über die Mitte
der linken Bauchhälfle ziehende Partie, über die der Schall sich
deutlich auf hellt.
Freie Flüssigkeit im Bauchraum nicht nachzu weisen. Milz
nicht palpabel.
Der Urin, hochgestellt (s = 1025), ist leicht getrübt, ent¬
hält weder Blut, noch Eiweiß, weist ein mäßig starkes 'Sediment
auf, in dem spärliche Leukozyten und Plattenepithelien zu finden
sind ; Geschwulstelemente nicht nachweisbar.
Blut: 3,500.000 Erythrozyten, 25.000 Leukozyten, Hämo¬
globingehalt 45”/o (Fleischl). Bei der Durchsuchung der Trocken¬
präparate fällt neben dem Befund einer mäßigen Anämie eine
beträchtliche Vermehrung der eosinophilen Zellen auf. Prozen¬
lisch: 340/0 polynukleäre Zellen, 40/0 mononukleäre Zellen, 47o,o
Lymphozyten, 140/0 eosinophile Zellen.
Ich will an dieser Stelle gleich a n f ü h r e n, ( 1 a ß*
eine wiederhol te Durchsich tdes Blutes immer wie der
eine beträchtliche Vermehrung der azidophilen
Zellen zutage gefördert hat. Die Werte der einzelnen
Untersuchungen schwankten zwischen 12o/o und I80/0.
Die Gesamtzahl der Leukozyten schwankte zwischen 10.000
und 21.000. Die Erythrozytenzahl sank im weiteren Verlaufe
bis auf 2,600.000 herab.
Diagnose: Tumor der linken Niere mit Metastasen
der mesenterialen Drüsen (Leber?). Mit Rücksicht auf
den Befund (Metastasen) wird von dem konsultierten Chirurgen
die Operation abgelehnt.
Bemerkenswerte Daten aus der weiteren Krankengeschichte :
15. Juli. Der Bauch hat an Umfang zugenommen (62 cm);
das Kind ist blässer und deutlich abgemagert. Appetit befrie¬
digend. Im Urin nichts Abnormes zu finden.
19. August. Bauchumfang 64 cm. Hochgradige Venenektasieu
über dem ganzen Abdomen; dasselbe stark gespannt, glänzend.
Zunehmende Abmagerung und Kräfteverfall. Temperatur (bisher
normal) 38-3°. Oefters Husten und zweimaliges Erbrechen. Rasseln
an den unteren Partien beider Lungen.
20. August. Temperatur 38-2 bis 38-5''; kein Erbrechen.
Lungenbefund wie am Vortage.
21. August. Temperatur normal. Husten geringer. Bronchi-
lische Symptome im Abklingen.
12. September. Links von der Orbita, oberhalb des
J och 1)0 gen s bemerkt man eine zirka kreuz er große,
f 1 a che Vor w ö 1 b u n g, die von derber Konsistenz is t
und auf dem unterliegenden Knochen un verschieb¬
lich aufsitzt. Der Bulbus ist leicht prominent Und
etwas nach innen, und unten verschoben. Augen¬
hintergrund normal.
15. September. Bauchumfang 66 cm. Hochgradige Abmage¬
rung und Kachexie; Nahrungsaufnahme äußerst gering. Das Kind
liegt dahin, teilweise soporös.
Die Auftreibung am Schädel hat am Anfang etwas zuge¬
nommen, der Bulbus ist deutlich in der oben angegebenen Rich¬
tung verschoben.
An den abhängigen Lungenpartien kleinhlasiges Rasseln
zu hören.
Unter zunehmendem Marasmus Exitus am 28. Septem¬
ber 1906.
Obduktion (Prof. Albrecht): Linker Oherlappen der
Lunge frei, Unterlappen hochgradig atelektatisch. Eine Lymph-
drüse am Bronchus fast ganz verkäst. Rechte Lunge frei, luft¬
haltig, ödematös; Unterlappen atelektatisch. An der Pleura dia-
phragmatica rechts ziemlich zahlreiche, bis fast pflaumengroße,
weißlichgraue oder blaurote, weiche Geschwülste. Am linken
Zwerchfell ebenfalls einige derartige bis dattelgroße Geschwülste.
Schilddrüse klein, blutarm, klebrig, körnig. Die Schleim¬
häute der Halsorgane weißlich, blutleer. In der Trachea schaumige
Flüssigkeit.
Herz ziemlich klein; Epikard etwas getrübt. Linker Ven¬
trikel erweitert; Klappenapparate zart.
Bei Eröffnung des Abdomens wölbt sich zunächst ein über
kindskopfgroßer, zystischer, mit gelbem Serum gefüllter Sack vor,
welcher die übrigen Eingeweide überlagert und dent großen Netz
entspricht. Die linke Hälfte des großeii Netzes nach links zu
über einer ziemlich derben Geschwulst angewachsen und von
zahlreichen, linsen- his bohnengroßen, weichen, grauroten Ge-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
schwülsten dnvchsetzt. Eine Gruppe von größeren der.'irligen,
mehr kugeligen Geschwülsten fiiuhd sicli rechts zwisclien Gallen¬
blase und Colon transversuin. Beim Hinaufschlagen des letzteren
zeigt sich, daß sehr zahlreiche, bis kleinapfelgroße Geschwülste
in die Radix inesenterii hinein gewachsen sind.
Die Hauptgeschwulstmasse entspricht der linken Nieren¬
gegend und stellt zusammen mit den Geschwülsten der Radix
idncn fast mannskopfgroßen, derlaui Tumor vor, welcher die
.Milz weit nach links oben drängt. Die Milz selbst ist ziemli(di
slai'k ])latt gedrückt, die Leber etwas verkleinert, glatt, dunkel¬
braun; längs der Leberfurche wuchert die Geschwulstmasse eine
Str(‘(d<e weil, die Glissonsch(‘ Kapsel infiltrierend, in die Leber
hinein.
Die rechte Niere etwas größer als normal, braunrot, ohne
Veränderung.
Die linke Niere ist namentlich von der medialen Seite her
von der Geschwulstmasse eingesclundct; ihre Kapsel vielfach
infiltriei't, nach dem Hilus von der fast medullarweichen Ge¬
sell wulstmasse infiltriert.
Nierimbecken und Lreter im Anfangsteil von dem Tumor
komprimiert.
Die Aüi'la ist von Geschwülsten total eingescheidet. Nach
außen vom linken äußeren Augenwinkel uiul etwas nach oben
eine si(di flach vorwölbende, etwa viei'kieuzerstückgroße Ge¬
schwulst, welche nach innen zu die Dura mater vorwölbl, von
medullärei' Beschaffenheit und grauroter Farbe, einen Teil der
Hirnwand und der äußeren Orbitalwand substituiert und den
Orbitalinhalt nacli rechts unten einigermaßen vergrängt.
Das Hirn und seine Häute hochgradig ödematös; alle Ven¬
trikel erweitei't, klaren Liquor enthaltend.
Histologische Diagnose: K 1 (' i n z e 1 1 i g e s Rund-
z (‘ 1 1 e 11 s a r k o m.
Wie aus vorstehendem ersichtlich, handelt es sich in
allen drei Fällen um maligne Tumoren der Nierengegend
hei Kindern in frühem Lebensalter (zwischen 1^/4 und 2V2
Jahren) 11. zw. im ersten k'alle um eine typische ,, embryo¬
nale Mischgeschwulst“, im zweiten und dritten Fälle um
Sarkome mit multipler Metastasenbildung, die zu hochgra¬
diger Kachexie geführt haben.
Was die Metastasen in der Pleura und im Afediastiniim
anbelangt (im zweiten Fälle ist das linke Zwerchfell, die
linke Pleura und das vordere Mediastinum vollständig von
Geschwülsten bedeckt, im dritten Fäll finden sich multiple
metastatische Knoten an der rechten Pleura diaphragmatica),
so scheint deren Vorkommen bei den malignen Nierenge¬
schwülsten des Kindesalters ein ziemlich seltenes zu sein.
Steffen hat unter seinen 219 Fällen nur viermal pleurale
oder mediastinale Metastasen konstatieren können. Dagegen
wird der Befund von Knochenmelastasen (im dritten Fälle
in der äußeren Orbitalwand) des öfteren erwähnt.
Klinisch gemeinsam ist allen drei Fällen, daß außer
dem Nachweis einer retroperitoneal liegenden Geschwulst,
sonstige Symptome, die für das Bestehen eines Nierentumors
.\nhaltspunkte gehen könnten, fehlten. Die Angabe ganz
bi'stimmt lokalisierter Schmerzen (im ersten Fälle klagte
das Kind über ,, Bauchschmerzen“) war mit Rücksicht auf
das frühe Alter der Kinder nicht zu erwarten.
Di(' Untersuchung des Urins ergab in keinem Falle
einen diagnostischen Anhaltspunkt, nachdem weder Albumen
od(U' Geschwulstzellen nachgewiesen werden konnten, noch
jcMuals während unserer Beobachtung das Auftreten von
Hämaturie konstatiert wurde.
Das letztere Symptom, bei den Nierentumoren der
Frwachsenen ein überaus häufiges und charakteristisches,
wird nach Angabe der Autoren bei den Nierengeschwülsten
fies Kindesalters meistens vermißt. Nach Chevalier^^)
kommt Blutharnen während des ganzen Verlaufes nur in
etwa 25 No zur Beobachtung, in den von Steffen gesam¬
melten Fällen f219) wurde die Hämaturie nur ISmal im
Bf'ginne, neunmal im VäuJaufe der Erkrankung konstatiert.
So isl man in der Regel lediglich auf den Nachweis
df's Tumors zur Stellung der Diagnose angewiesfui.
Beim ersten Falle isl f's erwähnenswert, daß zw(‘i anderf'
Mitglieder der Familif' (Vabn und Bruder der Muller) eben-
®^) Ghjev aller, zitiert in Bruns Handbuch der praktischen Chirurgie
Bd. 3, 2. Teil, S. 631.
falls an Neubildungen der Niere gelitten haben, so daß man
allen Grund hat, an eine familiäre Anlage und an eine ererbte
Disposition zu denken. Solclie Vorkommnisse sind aus der
Literatur bekannt und sei besonders auf den Fall von Bal-
lard^'^) hingewiesen (drei Mitglieder einer Familie).
Ich möchte nun noch den Blutbefund der beiden letzten
Fälle hervorheben. Es fand sich besonders ausgeprägt im
letzten Fall, eine ausgesprocheiui Vermehrung dereosinophi-
len Zellen, die im dritten Falle bis zu I8N0 sämtlicher Leuko¬
zyten im Blute anzutreffeii waren. Die Vermehrung der
eosinophilen Zellen tritt manchmal bei Sarkomen, die zur
Kachexie führen, auf (Sahli), aber eine derart beträcht¬
liche Eosinophilie scheint mir doch bemerkenswert, zumal
andere Gründe, die für dieselbe in Betracht kommen
(Vennes, Dermatosen) nicht nachweisbar waren. Vergleicht
man das Blutbild der beiden letzten Fälle mit dem im ersten
Falle, wo die Zahl der Eosinophilen eine durchaus der
Norm entsprechende war, so könnte man vielleicht mit
einiger Reserve den Schluß ziehen, mit Hilfe des Blut¬
bildes einen differentialdiagnostischen Anhaltspunkt ge¬
wonnen zu haben, um die kongenitalen Mischgeschwülste
der Niere von den echten Sarkomen auseinander zu halten.
Was die Therapie anbelangt, so kann nur die Exstir¬
pation der Neubildung in Frage kommen. Und da kommen
wieder nur die meist ohne Aletastasenbildung einhergehen¬
den ,,emhryonaleu Adenosarkome“ in Betracht. Doch sind
bisher die Erfolge den* operativen Therapie bei diesen Ge¬
schwülsten sehr bescheidene gewesen. Schede^^) drückt
sich im Hinhlick auf das seltene Vorkommen verwertbarer
Initialsymptome folgendermaßen aus : ,,Fast immer werden
sie dem Arzt erst gebracht, wenn sie zu enormen Tumoren
angewachsen sind und die Zeit der günstigen Chancen für
einen operativen Eingriff längst vorüber ist. Da ihre Neigung
zur Metastasenbildung nicht groß ist, da amyloide Degenera¬
tion anderer Organe, wie sie bei den Hypernephromen vor¬
kommt, hier nicht beobachtet ist, würden die Resultate
einer operativen Thera])ie, d. h. der Exstiiijation, wahr¬
scheinlich ohne diesen Umstand viel besser sein, als sie
in der Tat sind.“ Walker^^) berichtet von 74 operierten
Fällen, von denen 27 unmittelbar nach der .Operation starben
(38-250/0) und von denen nur vier länger als drei Jahre
rezidivfrei blieben. Besser ist die Statistik von Albarrau
mit 30 0/0 Operationsmortalität unter 97 Fällen und elf ein
Jahr lang gesund gebliebenen Kindern. Nach Steffen
wurden unter 88 Operationen 18 Dauerheilungen konstatiert.
Es ist aus den Statistiken nicht zu ersehen, bei wie¬
viel von den operierten Kindern kongenitale und hei wie-
vielen Sarkome bestanden haben; daß letztere nach den
oben geschilderten Charakteren für die Operation weit un¬
günstigere Chancen bieten, ist ohne weiteres einleuchtend
und ich glaube, daß eine Statistik der für die 0/peration
einzig geeigneten Alischgeschwülste wahrscheinlich bessere
Resultate ans Licht fördern würde.
Aus der Klinik Chrobak.
Ueber einen seltenen Ausgang einer Tubar-
Gravidität.
Von Dr. Coustautiu I. Biicura, Assistenten der Klinik.
Während in früherer Zeit, hauptsächlich bevor die
enisprechende o])erative Behandlung ihren segensreichen
Einfluß auf die Heilung der Tubargravidität geltend machte,
der Ausgang dieser Erkrankung nicht selten der war, daß
(dne Perforation in den Darm und eine Ausstoßung des
verfaulten Graviditätsproduktes mit dem Stuhle erfolgte,
werden solche Beobachtungen heuh* immer seltener. Der
Fäll, den ich im folgend«'!) milteilen möchte, gehört im ge¬
wissen Sinne auch biezii, indem auch bi('r eine Kommuni-
"9 Ballard, Transact, of the pathol. soc. 1859, S. 189.
Schede in Bruns Handbuch der praktischen Chirurgie, Bd. 3,
2. Teil.
Walker, zitiert in Schede.
f
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
katiüii des exlrautcriiieii FTuchtsackes mit dem Darme zu¬
stande kam; die begleitenden Umstände und der Ausgang
sind so eigenartig und, soviel mir bekannt, bis heute noch
nirgends beschriehen, daß ich dieselben etwas genauer mit-
teilen möchte.
Am 21. Fobriiai' IbüO wurde E. Marie', 27 Jahre all, wegen
Blutungen aus dem Utei'us auf die Klinik aufgenonimen. Die letzten
regelmäßigen ^Menses halte die' Patientin ungefähr Mitte De¬
zember gehabt, docli waren dieselben bedeutend stärker als die
veu'hergehenden. Aiu'h sollen Inebei ganze Blutstücke abgegangen
sein. Abgang von i\rembranen hat sie nicht beobachtet. An¬
schließend an eliese starke Blulung bekam sie Schmerzen im
Uiderbauch von wechselnder Stärke und Dauer; es wechselte auch
die Lokalisation der Schmerzen, indem sie bald mehr rechts,
bald mehr links empfunden wurden. Dieselben waren von brennen¬
dem, stechendem, keinesfalls von wehenartigem Charakter. Eine
neuerliche Blutung war erst anfangs .Tanuar eingetreten, an¬
schließend an die Einnahme eines Sirups, der ihr von einem
Arzle veroi'dnet worden war. Diese Blutung, die von großer
Intensität war, dauerte bis zur Aufnahme, war in den letzten
Tagen nach Bettruhe etwas schwächer gewoi'den; größere Stücke
oder Membranen sind während dieser Zeit nicdit abgegangen.
Früher war Pal. nie krank. Die ersten Menses hatte sie mit
15 Jahren, immer i'c'gelmäßig, vierwöchenilich, von sieben- bis
achttägiger Dauei-. Seit Jahren litt sie an Fluor; war nie gravid
gewesen.
Milteigroße, zarle, anämische Frau, mit normalem Lungen-
uud Hei'zbefund, Herztöne allerdings über allen Ostien mit systo¬
lischem Geräusch. Kein Kolostrum. Die Schmerzen wurden auf
Bettruhe, und Kühlapparate geringer. Leukozytenzählung ergab
10.000. Temperatur 37-2, Puls 00. Am 26. Februar war etwas
Blut mit schleimig faserigc'u Tt'ilchen abgegangen, die ähnlich
wie Dezidua aussahen.
Der am Tage der Aufnahme erhobene Genilalstalus ergab
ein noj'males äußejes Genitale, 2 cm hohen Damm, Sekretion
wässerig -blutig, etwas schleimig; in der Urethra gelbliches Sekret.
Vagina milteilang, ziendich weit, glatt, Portio hochstehend, stark
aufgelockerl, der Muttermund für einen Finger dui'chgängig ; in
der Uterushöble wie plazetdares Gewebt' zu tasten. Uterus mit
seinem Fundus zirka di't'i Ouerfinger über der Sympbyse stehend.
Hinter dem Uterus eine derbe, schmerzhafte Resistenz, die auch
das rechte Parametrium mitbetrifft. Außerdem scheint rechts ein
größei’t'r Adnexlumor zu sitzen. Linkerseits besieht ein Tumor
von ül)er Apfelgröße, ebenfalls schmerzhaft. M'egen stärkerer
Druckschmerzhaftigkeit ist ein genauer Bt'fund nicht aufzunehmeu.
Die damals gestt'Hle Diagnose lautete Graviditas inlrauterina
Mi'usis IL, Abortus incompletus, beiderseitige Adnexschwellung
mit Parametritis, ln Erwägung wurde gezogen, ob nicht hei
bestehender intrauteriner (ii'avidität auch eine extrauterine vor¬
handen wäre.
Im leichten Aetherrausch wurde am seligen Tage der Uterus
ausgetastel, dabei Gewebe aus seinem Kavum entfernt, welches
als plazentares angesprochen wurde. Leider kamen diese Reste
irrtümlich('i\v('ise abhanden, so daß die histol-ogische Unter¬
suchung ausblieb. Am siebenten Tage nach der Ausräumung
trat eine Temjmratursteigerung bis 38-7 auf, w('iche rasch zurück-
ging. In zwei Tagen war Pal. vollkommen afebril und im besten
\Vohlb('findeji. Am 9. März vmren beiderseits neben dem Uterus
größt' Tumoren zu tasten, von derber Konsistenz. Nach wt'iteren
fünf Tagen trat wieder eine leichte Temperatursteigerung bis
38 auf. Der Genitalstatus änderte sieb fast gar nicht, bis auf
('ine undeutliche Zunahme der Größe des linksseitigen Adnex-
fumors. Es bestanden zwar Schmerzen, doch von geringer In-
lensität, Blutungen Iraten keine mehr auf. Pat. bekam Einreibungen
mit Unguentum Crede. Am 23. März klagte Pat. über stechende
Schmoizen im .Abdomen, die aber den Tag darauf nachließen.
Allgemeinbefinden und Appetit sehr gut; vollkommen afebril.
So weit man von außen tasten konnte, waren die Tumoren beider¬
seits sichtlich zurückgegangen. Am 8. April neuerliche Tem-
peratursteigeriing bis 38®, ohne Wecdisel im Allgemeinbefinden.
Am 10. April, ab('nds, plötzlich krampfartige Schmerzen im Ab¬
domen links, worauf eine rein hlntig(' Sluhlenlleerung folgte.
Das Blut war schwarzbrau II, gestockt. Nach einer Stunde wieder
eine hall»' Leihschüssel voll Blut von der gleichen Beschaffen-
heil. Die Nacht darauf hatte die Patientin dreimal flüssigen Stuhl
ohne makroskofiisch sicht hare Rlutbeirnengung. Die Harnunter¬
suchung ergab \veder .Azi'lon noch Eiweiß und Zucker. Tags
darauf flüssiger Stuhl, vc'rim'ugl nnt frischem Blut. Nach einer
Stunde- wieder ein gleicher Stuhl. Die vaginale Untersuchung
ergab einen ziemlich unvc'ränderten Befund : der Uterus in
Miltelstelhmg maximal nach links gc'drängt, durch einen fast
faustgroßen, teigigen, aber nicht flukhuerenden, rechts neben dem
Uh'rus gelegenen Tumor. Links vom Uterus ('ine undeullich('
Resistenz zu tash'ii. Aus d('in Genilah' ki'iiu' Blulung. Die rek¬
tale Uiih'i'suchung ('rgab dii* Aiiunille shirk gi'hlähl, sonst nirgends
clwas V('rdächtig('S (Perforalimi) zu lash'ii. Pal. wies ('ine Tempera-
lur von 38-4 auf, halte aber eiiu'ii kräfligc'ii Puls von 108 Schfägen
in der Alimite, sie fühlte sich nur elwas schwach, sonst wohl.
Sie bekam inU'i'ii lUdgo Gi'laliiieh'isung ('ßlöffelweise und Leiter-
schen Kiihlapparat auf (h'ii Bauch. Di'ii 'tag darauf erbrach die
Patientin die (h'latiiielösung. so daß dieselhe ansgesetzt wi'rden
mußte. Die Slühh' wari'ir bis auf h'ichte Blutbeimischung von
normale]’ Beschafh'nlu'il. Kochsalzinfusion, Opiumtropfen und Kof-
feininjektionen. Wbddhefimh'ii. ,\m 13. und 14. ('rfolgte ki'in
Blntabgang mehr aus (h'ni D;irm, doch nahm die. Prostration
immer mehr zu. .\in 14. nachinillags plölzlich unregelmäßige
Almung, Puls ;iusselzend, schließlicli sistierle die .Vtmung, der
Puls war noch längere Zeit nachwi'isbar, bis auch der Herz¬
schlag, nachdem früher Kampfer vc'i’abfolgt worden war, um
V22 Uhr aufhörte.
Die Obduktion ergab hochgradigi' Anämie, chronische paren¬
chymatöse Nephritis und chronisrdie, ausgeheilte ruberkulose der
Lungenspitzen. Beim Eröffnoi des .Abdomens zeigte 'sich das
ganze iiarietale Pi'ritoneum des Unti'ibiiuches und die Serosa
der Därme pigmentiert, ;ds Zeichen, daß Auir einigi'r Zeit flüssiges
Blut in der freien Bauchhöhle gewesi'ii ist.
Es sei betont, daß diese Pigmentierung nur die Serosa
betraf, nichl aber die ScbleimlumI und .Muskularis des Dannes ;
dies als Bi'weis, daß der Weg der Pigmentierung von außen
nach innen zurückgelegt wurde, nichl umgekehrt. Vom Genitale
sah man nur den Uterus, der stark vergi’ößert, mehr nach links
lag, rings um den Uterus lu'rum, hauptsächlich ri'chts von ihm,
war ein unentwirrbares Konvolut von schwarzbraun pigmentierten
Därmen, die mitc'iniinder innigst verkleid waren. Eist bei näherer
Betrachtung, Präparii'rung, hauptsächliidi ;iber nach Ihn’ ausnahine
des Genitales, konnten die Verhältnisse geklärt werden.
Die Besichtigung des herausgeschnittenen Gi'uilales ergab:
Vulva, Blase uml Scheide ohne Besonderheiten. Der Uterus
f2V2 cm lang, Tubenabsland 7^2 cm, vordere Uteruswiind 2V2 ein
dick, Zervikalkanal klaffend, für eiiU'ii Finger durchgängig. Das
üteruskavum le('r. Uterusinnenfläche fc'in gi’anuliert, schmulzig-
rötlichhr;um. D(*r hinteren l.Tc'ruswjind sind Därme breit ;ul-
bärent, mit, dern'n ;iuch die mich j’ückwärls geschhigenen linki'n
Adnexe unentwirrbar verbacken sind. Mit dem rc'chten Anteil
des Uteiusfundus ist der untere 4’eil di's Dickdarms so verwachsen,
(hiß gerade ;in dei’ ri'chten Uteruskiinti' hinten die Uebergangs-
stelle (l('r Flexur ins Rektum adhäri('rl. Das R('klum vei'läufi
dann hinter dem Uterus nach abwärts. R('chts nelioi dem Uterus
ist ein Tumor von Kleinfaustgröße ebenfalls, hauptsächlich hinten,
mit Darm fläclienhafl vi'iw.achsen. Der Inluill dii'ses 'l'umors
00
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
ist geronnenes Blut, wandständig aber noch flüssiges Blut zu
sehen. Nach Entfernung der Blutkoagula erweist sich die Kapsel
der Blutgeschwulst stellenweise bis über 1 cm dick, ist aber zum
großen Teil mit dem Darm so innig verwachsen, daß sie sich
nicht frei darstellen läßt; stellenweise bildet die Darmwand selbst
die Kapsel. In einer Länge von 5 cm, wie auch aus der Abbildung
ersichtlich, läßt sich die rechte Tube am oberen Pol des Tumors
verfolgen, geht dann in den Tumor selbst über. In aufeinander¬
folgenden Querschnitten der Tube läßt sich im ganzen Verlauf
derselben ihr Lumen darstellen ; je mehr distalwärts aber ^ das¬
selbe kommt, desto mehr nähert es sich dem Blutsack, bis es
endlich nicht mehr nachweishar ist: die Tube geht plötzlich!
in den Blutsack über, ohne weiter verfolgbar zu sein. Dieser,
dessen Wand in drei Viertel seiner Totalität über 1 cm dick ist,
erweist sich links oben hinter dem Uterus an einer fünfkronen¬
stückgroßen Stelle außerordentlich verdünnt und nur von Darm¬
wand (Uehergangsstelle der Flexur zum Rektum) gebildet. Hier
finden sich (vergleiche die Sonden im Bilde) drei Perforations¬
öffnungen, die vom Lumen des Darms in den Blutsack führen.
Die Ränder dieser Oeffnungen sind zackig, etwas schmierig be¬
legt. Der untere Teil des Rektum, der hinter dem Uterus nach
abwärts verläuft, erscheint im fixierten Präparate mit Blut wie
ausgegossen. Das rechte Ovar war mit dem Darm unentwirrbar
verklebt und ließ sich erst in verschiedenen Schnitten durch
das Darmkonvolut nachweisen.
Zur histologischen Untersuchung wurden Stückchen aus den
verschiedensten Partien herausgeschnitten und mit Hämatoxylin-
Eosin, nach van G i e s o n und mit Löfflers Methylenblau gefärbt.
Die aus der Uterusinnenfläche exzidierten Stückchen
zeigten zum Teil bloßliegende Muskularis, zum Teil Anhäufungen
von kleinen Rundzellen, zwischen welchen spärliche größere,
protoplasmareiche Zellen, mit bläschenförmigen, schwach tingier-
barem Kern erkennbar sind ; letztere Zellen, die als Dezidua-
zellen anzusprechen sind, finden sich hauptsächlich zwischen
den Muskelbündeln. Dort wo die kleinzellige Infiltration reich¬
licher ist, sieht man auch feinste, zartwandige Kapillarsprossen.
An der Basis der Zellanhäufungen sind oft stark verzogene und
komprimierte Uterindrüsen zu sehen. An anderen Stellen ist
der Muskularis zum Teile schon in Organisation begriffenes,
kleinzellig infiltriertes Fibrin aufgelagert, um mit allerhand Zell¬
detritus, kaum noch Farbstoff annehmend, abzuwechseln. Da
doch die Möglichkeit bestand, daßi es sich in unserem Falle um
eine Extrauteringravidität, kompliziert mit intrauteriner Gravi¬
dität, gehandelt habe, so richtete ich mein Augenmerk ganz be¬
sonders auf etwaige Reste von Chorionzotten im Uterusinnern ;
doch fanden sich hier nirgends Gebilde, die auch nur den leisesten
\''erdacht auf zugrunde gegangene Zotten hätten erwecken können.
Der interstitielle Teil der Tube ist nicht wesentlich ver¬
ändert. Die Schleimhaut ist nur ganz leicht kleinzellig infiltriert,
hat aber ihre Beschaffenheit sonst in allem und jedem beibehallen.
Anders verhält es sich mit dem Anteil der Tube, der zwischen
der Uteruskante und dem Blutsack verläuft. Das Lumen des
Eileiters ist hier erfüllt von großen polynukleären Leukozyten
in teils faserigen, teils homogenen Massen. In Methylenblau¬
präparaten finden sich zwischen den Leukozyten und in den¬
selben reichlich in Ketten angeordnete Kokken. In den dem Lumen
zugekehrten Schichten ist die Schleimhaut von einer kleinzellig
infiltrierten Masse ersetzt, die sich bis hinein in die Muskel¬
schichte erstreckt; in derselben finden sich ganz spärliche Reste
von Schleimhaut, an der noch hie und da Epithel zu erkennen
ist. Erst die äußeren Schichten der Tube zeigen normales Aus¬
sehen, aber auch hier sieht man haufenweise Ansammlungen vo)i
kleinen, mononukleären Leukozyten.
Der Blutsack zeigt verschiedene Bilder, je nach den
Stellen, die der histologischen Untersuchung zugeführt werden.
In dem größten Anteil des Sackes — mehr als drei Viertel
desselben ■ — sieht man von innen nach außen folgende Schictiten:
Zelldetritus, unter welchem noch deutlich Erythrozyten vermengt
sind, dann eine Schichte von großen protoplasmareichen Zellen,
mit schwach tingierbarem großen Kern. Dieser Zellschichte, die
als platt gedrückte Dezidua anzusprechen ist, folgt eine Muskel¬
schichte von an verschiedenen Schnitten verschiedener Mäctitig-
keit, dann eine Schichte von großen Gefäßen; in der über-
Aviegenden Mehrzahl der Schnitte schließt sich dann kontinuier¬
lich eine Bindegewebsfaserschichte an, in welcher deutliche Fett¬
zellen enthalten sind, dann eine doppelte Muskelschichte, wieder
Bindegewebe, auf welches dann die typische Darmschleimhaut
zu sehen ist. An Schnitten, die sich melir der Perforationsstelte
nähern, fehlen die Schichten, die der Tuhenwand entsprechen,
vollkommen und es liegt Detritusmasse und eine Fihrinlage der
Darmwand an. Im Detritus, der allenthalben der Blutsackwand
anliegt, sind in Methylenpräparaten Streptokokken in reichlicher
Anzahl sichtbar. Im Fruchtsack lassen sich histologisch vollkommen
frische Chorionzotten nachweisen, die in allen ihren Elementen
den P'arbstoff unbehindert annehmen und die Langhaus sehe
Schichte mit dem synzytialem Ueberzug unverändert erhalteji
haben. In den Zwischenzottenräumen sind intakte rote Blut¬
körperchen mit spärlichen polynukleären Leukozyten vermengt
zu sehen. Andere Stellen wieder, in denen keine Zotten sicht¬
bar sind, zeigen im ganzen Gesichtsfelde fast nur mehr mehr¬
kernige, weiße Blutkörperchen, mit hie und da eiiigelagerlen
Erythrozyten.
Perforationsstelle. Wie schon erwähnt, ist die Blut¬
sackwand in der Gegend der Perforation nur vom Darm gebildet,
dementsprechend sind die Perforationsgänge nur in der Darni-
wand gelegen. Man sieht als Auskleidung der Fistelgänge, in
allen drei gleich, massenhaft polynukleäre Leukozyten in fa¬
serigem Bindegewebe, mit Streptokokken. Im Inhalt der Fistel¬
gänge, der hauptsächlich aus Detritus und Erythrozyten besteht,
finden sich neben Streptokokken auch kurze, dicke Stäbchen.
In den Fistelgängen sellDst, ebenso an der dem Blutsack zuge¬
kehrten Seite der Perforationsstelle, finden sich Pigmentzellen
als Zeichen, daß die Blutung vom Blutsack in den Darm er¬
folgt war. '
Nach dem obigen makroskopischen und mikroskopi¬
schen Befunde handelt es sich in unserem Falle also um
einen unvollständigen Abortus bei Tubargravidität mit Per¬
foration des Fruchtsackes in den Darm und Verblutung aus
dem Fruchtsack durch die Perforationsöffnungen.
Versucht man, eine Erklärung zu geben für den Her¬
gang der ganzen Erkrankung, so ergibt sich aus der Anam¬
nese, dem Verlaufe und der histologischen Untersuchung
folgendes :
Die rechtseitige Tubargravidität kam zustande bei be¬
stehenden perimetrischeii Verwachsungen, vielleicht gonor¬
rhoischer Natur. Dafür und gegen ein sekundäreis Zustande¬
kommen der Verklebungen spricht der Befund der unent¬
wirrbaren Verwachsungen auch an den linken, picht gra¬
viden Adnexen. Bei Förtentwicklung der Schwangerschaft
entfaltete das am ampullären Teile haftende Ei das Fim¬
brienende der Tube und verblieb in dem durch die Ver¬
wachsungen der Därme präformierten, abigeschlossenen
Raume, indem es zugleich auch an der primären Stelle
in der Tübe haften blieb, so daß es forternährt werden
konnte und nicht abstarb. Durch Infektion kam es zu einer
purulenten Salpingitis, zur Eiterung des F’ruchtsackes, zu
eitriger Einschmelznng des schon durch den Druck des
wachsenden Eies geschädigten Darmes und zur Kommuni¬
kationsbildung zwischen Darm und dem noch das lebende
Ei beherbergenden Fnichtsack, aus welchem sich die Frau
verblutete.
Aus dem gewerkschaftlichen Krankenhause in Orlau.
lieber Schußverletzungen des Pankreas.
Von Dr. Josef Gobiet, chir. Ordinarius.
Die Schußverletz ungeu des Pankreas sind, soweit man
dies nach den in der Literatur niedergelegten Aufzeichnun¬
gen beurteilen kann, außerordentlich selten. Ich finde ins¬
gesamt 18 Fälle von Schußverietzung des Pankreas ver¬
zeichnet, von denen zwölf gestorben, sechs geheilt sind.
Körte^) stellte in seiner 1898 erschienenen Arbeit:
Die chirurgischen Krankheiten und V'erletzungen des Pan¬
kreas, sechs Fälle von Pankreasschuß zusammen. Es sind
dies drei Fälle von Otis, ein Fall aus dem' Sanitätsbericht
des deutschen Heeres 1870/71, ein Fall von Niemann,
ein Fall von Bertram. Alle diese Fälle sind unoperiert
gestorben.
Seit dem Erscheinen der Kört eschen Arbeit sind zwölf
weitere Fälle veröffentlicht, welche sämtlich operiert wurden.
Von diesen sind sechs geheilt, sechs gestorben. Geheilt
sind: Zwei Fälle von Bram a nn, 2) ein Fall von Hahn,^)
ein Fall von Ninni,^) ein Fall von Borchhardt,^) ein
Fall von^ Becker.®) Gestorben sind: Ein Fall von Sim¬
mon ds,') ein Fall von Braniann,®) der Präsident der
Nr.: 4 WIENER KLINISCHE
Vereinigten Staaten Mac Kinley,^) ein Fall von Körte/®)
ein Fall von Kindt/^) ein Fall yon Coniiel.^^)
Diesen 18 Fällen von Sclmßverletzimg des Pankreas
füge ich einen eigenen hinzu, welcher durch , Opera, tioi^ ge¬
heilt wurde : , ,, . , ; , ,
RI. J., 23 Jahre alt, Bergmann, schoß sich am 21. September
vorigen Jahres, nachmittags 5. Uhr, in selbstmörderischer,. Absicht
eine Revolverkugel in die Herzgrube. Ich sah den Patienten am
22. September vormittags 10 Uhr, also 17 Stunden, nach erfolgter
Verletzung. Pah ist vollständig bei Bewußtsein' klagt über, sehr,
heftige Schmerzen im Bauche, hat kurz vorher zweimal erbrochen'
Es besteht Verhaltung von Stuhl und Winden. , Gesichtsausdruck
leidend. Puls kräftig und regelmäßig. Pulszahl 84. Ahnung ober¬
flächlich, kostal. Temperatur 3ö-9°. . . , •
In der Herzgrube, etwas links vom Processus xiphoideus,
eine hellergroße Schußwunde. Der Bauch auf ge trieben, gespannt,
überall druckschmerzhaft, besonders aber im Epigastrium. Bei
der leisesten Berührung daselbst schreit Pat. auf. Leberdämpfung
um zwei Querfinger verkleinert. Beide Flanken gedämpft. Kein
Ausschuß.
Auf Grund dieses Befundes wird die Diagnose auf penetrie¬
rende Bauchverletzung gestellt und um 11 Uhr vormittags zur
Laparotomie geschritten (18 Stunden nach stattgehabter Ver¬
letzung). Morphin-Aethernarkose. RIedianschnitt von der Basis
des Processus xiphoideus bis zum Nabel. Nach Eröffnung des
Peritoneums sieht man die Eingeweide allenthalben mit frischem
Blute bedeckt. In den Lendengegenden beiderseits eine größere
Blutansammlung. Rleiige des Blutes schätzungsweise ein halber
Liter. Die Därme und der RIagen gebläht und ihre Serosa injiziert.
Nach Entfernung des Blutes mit Tupfern sieht man an der vorderen
oberen Fläche des linken Leberlappens eine dreistrahlige Wunde
von 2 cm Länge, welche mäßig blutet. Der linke Leberlappen ist
geschwollen und hyperämisch. Der Versuch der Naht der Leber-
wunde mißlingt wegen großer Briichigkeit des Lebergewebes. Da¬
her wird ein Gazestreifen in den Schuß.kanal der Leber ein¬
geführt. Nach dem Umklappen der Leber nach oben sieht man an
der unteren Leberfläche die Ausschußöffnung, welche etwas leb¬
hafter blutet und ebenfalls mit einem Streifen austamponiert
wird. Die Kugel hatte den linken Leberlappen in schräger Richtung
von vorne oben nach hinten unten durchsetzt. Bei Absuchen des
RIagens und seiner Umgebung findet sich ein ungefähr haselnußi-
großes Blutgerinnsel am kleinen Netze haftend, pilzfönnig über
dasselbe hervorragend, knapp am Ansätze des kleinen Netzes
an die kleine Kurvatur des RIagens. Nach Entfernung dieses Blut¬
gerinnsels sieht man, daß dasselbe ein ungefähr hellergroßes
Loch im kleinen Netze verstopft hatte. Dieses Loch wird stumpf
erweitert, die Ränder desselben mit Klemmen gefaßt und aus¬
einandergehalten. Die Leber wird stark nach oben gedrängt, dei‘
RIagen durch einen an der kleinen Kurvatur eingesetzten Spatel
nach unten gezogen. Auf diese Weise erhielt man einen guten
Einblick in die Bursa omentalis. In derselben fanden sich einige
Blutgerinnsel und etwas flüssiges Blut. Nach Austupfen des Blutes
sah man eine mäßig blutende Perforation des Pankreas, ungefähr
in der Rlitte des Pankreaskörpers. Die Ränder der Wunde waren
stark gequetscht, einzelne Drüsenläppchen vollständig aus dem
Zusammenhänge getrennt. Nach möglichster Reinigung der Bursa
omentalis wurde mit einem breiten Streifen zunächst die ver¬
letzte Stelle im Pankreas und die Bursa omentalis austamponiert.
Die Streifen wurden durch die Oeffnung im kleinen Netze heraus¬
geleitet und mit demselben Streifen der Raum zwischen RIagen
und Leber breit tamponiert. Die Bauchwunde wurde in einer
Etage mit starker Seide geschlossen bis auf kleine Zwischen¬
räume für die tamponierenden Streifen, von denen wir drei hatten.
Der eine tamponierte den Einschuß der Leber, der zweite den
Ausschuß, der dritte das Pankreas und seine Umgebung.
22. September. Nachmittags: Temperatur 37-6°; Puls: 92.
Pat. klagt über sehr heftige Bauchschmerzen; kein Erbrechen mehr.
23. September. Temperatur: 37-8°. Nachmittags: 38-5^.
Rechts hinten unten Pneumonie..
24. September. Temperatur 37-4°. Abgang von Winden,
Puls: 80. Ikterische Hautfärbung. Untersuchung des Urins auf
Zucker ergibt ein negatives Resultat. .
25. September. Temperatur: 37-6''. Auf Sennaklysrna reich¬
liche Stuhlentleerung, keine Fettstühle.
27. September. Temperatur normal. Puls : 76. Ikterus be¬
ginnt zu schwinden.
30. September. Verband stark durchtränkt. V^erbandwechsel.
Die Haut in der Umgebung des Pankreasstreifens in der Aus¬
dehnung eines Fünfkronenstückes angedaut. Nach Entfernung
dieses Streifens stürzt eine große Rlenge rötlichgelben Sekretes
hervor, in welchem zahlreiche Stecknadelkopf- bis linsengi'oße,
WOCHENSCHRIFT. 1907.
- : _
weißgelbliche feste Gebilde sclnyimmen. Diese Gebilde werden
als söqueölribrte^'Fötthekfo'sen angeseheh; was' 'auch durcli die
mikroskopische', Untersuchung" bestätigt' wird. ' Eihfülirüng ..eines
fingerdicken'^ 20 'b'm ''langen Drainrohres. ' , '
2. OM öbeFjT'ä’glifche'r Verbandwechsel. Sehr starke 'Sekretion
eines rötlichgelben .Sekretes aus deni zum Pankreas fübrenden
Drä.inrbhre. Ihij' Sekre'fe keine, Fettnekrosen mehr.
‘'" t). Oktöbpr. ' E'hiferqüng" der Nähte. Primaheilung. Sekre¬
tion aus der P'ankrcasfistei geringer.
20.' Oktö.ber;' Fistel völisiandig geschlossen. Eine Röntgen-
aufnahnte ergibt den' Si'tz der Kugel im Rücken, in der, Höhe
des dritten .Leridenwirbels. Da dieselbe (lern Patienten keine Be¬
schwerden macht, wird' von ihrer Eh tferiumg Abstand genommen.
28. Oktober, Geheilt entlassen. ' •
. Mit diesem': eben bescluriebenen FnUe . sind 19 Fälle
von Schußverletzmig des Pankreas bekannt. Sechs Fälle
wurden nicht operiert. Diese sind sämtlich gestorben. Von
den übrigen 13 operierten Fällen sind sieben geheilt, sechs
gestorben. Daraus geht hervor daß 'der sich selbst über¬
lassene Panlcreasschuß den Tod zur Folge hat, daß, aber
auch die operierten Fälle eine Mortalität von nahezu '50®/o
auf weisen.
Wenn wir der Todesursache nachforschen, so finden
wir angegeben : in den sechs älteren, nicht operierten Fällen
zweimal sofortiger Tod infolge mehrfacher Organverletzun¬
gen (Niemann, Bertram), einmal Nachblutung aus der
Arteria splenica (Otis), zweimal Lungenblutung (Sanitäls-
bericht 1870/71, Otis), einmal Peritonitis ((.)tis). In den
sechs verstorbenen Fällen der neueren Zeit findet sich als
Todesursache viermal Fett- und Pankreasnekrose (Sim-
nionds, Mac Kinley, Kindt, Körte), einmal Nekrose
der Magenwand (Connel). einmal eine Lungenaffektion
(Bramann). , ,
Daraus ist zu ersehen, daß hauptsächlich zwei Um¬
stände die Pankreasverletzung zu 'einer so gefährlichen
machen, erstens die komplizierenden Verletzungen anderer
wichtiger Organe, zweitens das A'ustreten von Pankreas^
sekret in die Bauchhöhle, von Borch'harclt die ,/pezifische
Pänkreasgefahr“ benannt. , \
Die versteckte Lage des Pankreas bringt es mit sich,
daß verwundende Gewalten, bevor sie das Pankreas er¬
reichen, zuerst eines der vielen Organe treffen müssen,
welche das Pankreas bedecken. Von vorne her überlagern
Leber, Magen, Colon transversüm', Milz die Bauchspeichel¬
drüse, von hintenher ist dieselbe von der Wirbelsäule, den
Nieren und den großen Blutgefäßen der Bauchhöhle be¬
deckt. Nach Eröffnung der Bauchhöhle ist das Pankreas
für gewöhnlicli an keiner Stelle , zu sehen. Diese. Lagever¬
hältnisse können allerdings eine Aenderung erfahren, einer¬
seits durch den wechselnden Füllungszustand von Magen,
Colon und Duodenum, anderseits durch pathologische Zu¬
stände, z. B. Leberschrumpfung, Gastroptose, Ptose des
Colon transversüm. Um ■ die' Lager ungsverhältnisse der
Nachbarorgane zum Pankreas aufzuklären, ' hat Körte
30 Leichenversuche angestellt. Nur in' zehn Fällen waren
einzelne Partien der Drüse derart von vorne zugänglich,
daß nach Durchdringen der Bauchwand nur noch das Liga¬
mentum gastrocolicum, bzw. gastrohopaticum das Organ be¬
deckte. Diese Stellen waren aber inuner so> beschränkt, daß
ein besonderer Zufall dazu gehören würde, um diese freien
Punkte zu treffen. Bei sechs Leichenversuchen, mittels
langer Nadeln durch die Dauchdecken.’ das Pankreas zu
treffen, gelang dies Körte nur zweimal. Beide Male waren
andere Organe mitverletzt,, einmal die Leber, das ändere
Mal der Magen. Auf Grund dieser Versuche hält K,örte
,,die Wahrscheinlichkeit der isolierten. Pankreasyerietzung
für eine sehr geringe“. Borchhardt hält eine isolierte
Pankreasverletzung für „fast ausgeschlossen“. Nur bei einem
Schüsse von hinten wäre es nach seiner Ansicht theoretisch
möglich, daß außer der Rückenmuskulatur auch einmal die
Bauchspeicheldrüse allein getroffen würde. Diese Ansicht
Borchhardts'ist allerdings durch den nach Erscheinen
der Borchhardtschen iVrbeit publizierten Fall Beckers
widerlegt, wo es sich mit Sicherheit um eine isolierte Schuß-
102
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
v^erletzuiig des Pankreas handelte. Der Einschuß befand
sich zwischen dem achten und iieLinteii Rippenknorpel links,
medial von der vorderen Axillarlinie. Bei der Operation
fand sich nur eine Kontusion des Magenfundus. Die Kugel
war weiterhin nach Durchsetzung des Ligamentum gastro-
lienale in den Pankreasschwanz eingedrungen. Dies ist der
einzige bisher Ijeobachtete Fall von Schußverletzung des
Pankreas ohne penetrierende Verletzung anderer Organe.
Becker sucht dies dadurch zu erkhären, daß die Patientin
den ganzen Tag nichts gegessen hatte, so daß der Magen
sich in vollständig leerem, kontraliiertem Zustand befand.
Ferner nimmt er mit Körte eine größere Beweglichkeit
des Pankreasschwanzendes an. Dasselbe ist durch das Liga¬
mentum pankreaticolienale mit der Milz verbunden und
mach! daher die Bewegungen der Milz mit, so daß unter
Lmständen das Pankreas nach links den Magen überragen
und isoliert verletzt werden kann. Diesem Beckerschen
Falle kommt am nächsten der Fall von Simmonds, wo
außer dem Pankreas nur noch die Vena lienalis verletzt
war. In den übrigen 17 Fällen waren zum Teil mehrfache
Organverletzungen vorhanden u. zw. sechsmal Verletzung
des Magens (Otis, Bertram, zwei Fälle von Bramann,
M a c K i n 1 e y, K i n d t), dreimal Verletzung der Leber (H a h n,
Bramann, (Io bi et), einmal waren Leber und Magen ver¬
letzt (C 0 n n e 1 1), zweimal der Darm (N i n n i. Kör te), einmal
Leber und xMilzgefäße (Borchhardt), einmal Milz und Milz¬
gefäße (Otis), einmal Milz allein (Sanilätsbericht 1870/71),
einmal Lunge, Zwerchfell, Leber (Otis), einmal Leber,
Zwerchfell, Herz (N i e m a n n). B o r c h h ar d t meint, daß
die von vorne in das Pankreas eindringende Kugel zwei
typische Wege einschlägt, cjitweder durch die Leber und
das kleine Netz oder durch den Magen. Von den bekannten
19 Fällen von Paiikreasschuß ist die Kugel 14mal von vorne
eingedrungen und durchsetzte hiebei siebenmal den Magen,
fünfmal die Leber, so daß die Bemerkung Borchhardts
im allgemeinen zuzutreffen scheint. Eine Ausnahme macht
der Fall von Körte, wo die Kugel durch eine Dünndarm¬
schlinge und das Mesokolon drang und der Fall von Becker
von isolierter Schußverletzung. In den drei Fällen, wo die
Kugel von hinlen eindrang, waren auch stets komplizierende
Verletzungen vorhanden. Fs sind dies der Fall von Ninni
(sieben Darmwunden), ein Fall von Otis (Lunge, Zwerch¬
fell, Leber), der Fall aus dem Sanitätsbericht 1870/71 (Milz).
Im Falle Simmonds sind keine Angaben über den Ein¬
schuß gemacht, ln einem Falle von (Otis drang die Kugel
von der linken Seite ein und durchsetzte die Milz und
das Pankreas in querer Richtung.
Der zweite Faktor, welcher die Pankreasverletzung zu
einer so gefährlichen macht, ist die von Borchhardt so
benannte „spezifische Pankreasgefahr“, d. i. die Gefahr,
die den Organismus dadurch bedroht, daß der Pankreas¬
saft in die Bauchhöhle fließt.
Durch zahlreiche Tiorexperimente, so von Hilde-
brandt,^^) Dettmer,^^) Körte, HeßO’'^) u. a., wurde sicher-
gestellt, daß unter dem Einfluß des Pankreassaftes im Fett¬
gewebe Nekrosen entstehen. Diese zuerst von Baiser be¬
schriebenen Fettgewebsnekrosen charakterisieren sich als
Stecknadelkopf- bis linsengroße, grau- oder gelbweiße, manch¬
mal auch reingelbe, opake Herde, in welchen man mikro¬
skopisch nekrobiotische Veränderungen des Fettgewebes
nachweisen kann. j\Ian findet Verlust der Färbbarkeit der
Kerne, Fettsäurekristalle u. zw. die leichtgebogenen Nadeln
der Palmitin- und Stearinsäure, besonders charakteristisch
aber ist der Befund von intensiv blaugefärbten, runden
und eckigen Schollen, die den einzelnen Fettzellen ent¬
sprechen und von Baiser mit Kugelschalen verglichen
wurden. Die große Affinität dieser Schollen zu Hämatoxylin
läßt auf das Vorhandensein von Kalk schließen. Langer-
hans^*') wies auch tatsächlich nach, daß diese Herde haupt¬
sächlich aus fettsaurem Kalk bestehen. Die Fettnekrosen
können überall im intraperitonealen und retroperitonealen
Fettgewebe auftreten, am zahlreichsten finden sie sich aber
im Fettgewebe des Pankreas und seiner Umgebung. Bleibt
das Individuum längere Zeil am Leihen, so können die Fett¬
nekrosen konfluieren und sequestriert werden, so daß große,
mit bröckligen, aktinomyzesähnlichen Massen erfüllte Höhlen
entstehen, in w'elcher man das völlig gelöste Pankreas
findet (Zahn).
In Gesellschaft der k ettgewebsnekrose findet sich fast
immer Nekrose der Drüseasiibstanz des Pankreas. Das Zu-
slandekommen der Fettgewehsnekrose und ihr Verhältnis
zur Pankreasnekrose erklärt Heß auf Grund seiner Ex¬
perimente folgendermaßen : ,, Irgendeine (häufig nicht er¬
kennbare) primäre Lä.sion des Pankreas bedingt einen Aus¬
tritt von Pankreassaft aus den Zellen in das intra- und para-
pankreatische Fettgewebe; hier wird das Neutralfett durch
das fettespaltende Ferment des Saftes zerlegt; es bilden
sich lösliche Seifen (fettsaures Natron) und durch Aufnahme
von Kalk aus Blut und Geweben unlösliche Kalkseifen,
welche in den durch diesen Vorgang abgestorbenen Fettzellen
nachweisbar sind (Langerhans); sodann breitet sich die
Nekrose auf das dem nekrotischen Fettherd benachbarte
Pankreasgewebe sekundär aus und es ist wahrscheinlich,
daß auch diese Nekrose durch Diffusion der löslichen Spal¬
tungsprodukte des Fettes vom Fettherd aus erzeugt wird.“
Die Fettgewehsnekrose entsteht also durch das fettspaltende
Ferment des Pankreassaftes, die Pankreasnekrose entsteht
sekundär als Folge der Fettgewehsnekrose.
Ausgedehnte Fettgewebs- und Pankreasnekrose führt
stets zum Tode. Die klinischen Erscheinungen, unter denen
der Tod erfolgt, gleichen denen der Perforationsperitonitis
oder des Ileus oder auch einer Vergiftung. Im Vordergrund
des Krankheitshildes stehen schwere Kollapssymptome. Die
eigentliche Todesursache ist noch nicht ganz aufgeklärt.
Von einigen Autoren wurde Peritonitis als Todesursache
angesehen. Aber gerade bei den schwersten, rapid ver¬
laufenden Fällen findet sich hei der Sektion keine Spur
von Peritonitis. Die Serosa ist überall intakt, das zumeist
in mäßiger Menge vorhandene, seröshämorrhagische Ex¬
sudat ist häufig steril. Andere Autoren nehmen einen ner¬
vösen Vorgang an. Danach wäre die Todesursache abdomi¬
naler Shock, hervorgerufen durch mechanische Beizung des
dem Pankreaskopf benachbarten Plexus coeliacus. Derartige
mechanische Vlomente (Blutung im Pankreaskopf, Vergröße¬
rung des Pankreas) sind jedoch in vielen Fällen gar nicht
vorhanden, so daß auch diese Erklärung der Todesursache
nicht haltbar ist. Auch der Ausfall der Pankreasfunktion
kann nicht die Ursache des raschen Todes sein, denn einer¬
seits sind in der Regel bei den schwersten Fällön keine
Ausfallserscheinungen von seiten des Pankreas (Diabetes,
Fettstühle) vorhanden, anderseits wüssen wir, daß Total¬
exstirpation des Pankreas (xMinkowski) nicht unmittelbar
tödlich wirkt. In der neuesten Zeit macht sich die Ansicht
geltend, daß wir es bei ausgedehnter Fettgewebs- und Pan¬
kreasnekrose mit einer schweren Vergiftung zu tun haben,
was ja auch mit den klinischen Symptomen übereinstim¬
men würde. Heß ist geneigt, den Tod als eine Seifen¬
vergiftung aufzufassen, hervorgerufen durch Resorption von
Seife aus den Nekrosenherden. Er weist auf die Experi¬
mente von Munk und Frieden thal hin, welche beweisen,
daß 0-1 g Seife pro Kilo Tier, in das Gefäßsystem injiziert,
den Tod unter Kollaps, fibrillären Zuckungen etc. hervmr-
ruft. Diese Erklärung trifft jedoch nicht zu für Fälle, wo
bei ausgedehnter Pankreaserkrankung nur geringe Entwick¬
lung der Fettgewehsnekrose gefunden wird. Mikulicz
sprach zuerst die Ansicht aus, daß die schädliche Wirkung
des Pankreassaftes nicht allein auf den Fermenten beruht,
sondern auch auf den Zerfallsprodukten der abgestorbenen
Pankreaszellen. Daß eine solche spezifische Giftwirkung des
erkrankten Pankreas die Ursache des infolge Pankreas¬
erkrankungen eingetretenen Todes ist, beweist D ober¬
aue r^^) durch eine Reihe interessanter Tierversuche, über
welche er auf dem deutschen Chirurgenkongreß 1906 re¬
ferierte.
Der experimentell erwiesene, von manchen Seiten
(Baiser, Po n fick, Langerhans) aber noch bestrittene
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
103
Zusammenhang von Fettgevvebsnekrose und Pankroasläsion
findet weiterhin seine Bestätigung durch die Befunde bei
Schußverletzungen des Pankreas. Nur in den Fällen der
älteren Zeit (drei Fälle von Otis, Sanitätsbericht 1870/71
— die Fälle Nie mann und Bertram kommen hier nicht
in Betracht, da dieselben unmittelbar nach der Verletzung
gestorben sind) finden wir in den Sektionsprotokollen keine
Frwähnung einer Fettgewebsnekrose, während bei den in
der neueren Zeit an Pankreasschuß Verstorbenen fast aus¬
nahmslos Fettnekrose gefunden wurde (Simmonds, Körte,
Mac Kinley, Kindt, Connell). Dies dürfte damit zu
erklären sein, daß die Fettnekrose, zum erstenmal von
Baiser im Jahre 1882 beschrieben, in den älteren Fällen
nicht beachtet wurde, obwohl sie, nach der Regelmäßig¬
keit ihres Auftretens in den neueren Fällen zu urteilen,
aller Wahrscheinlichkeit nach vorhanden war. Unter den in
der neueren Zeit nach Pankreasschuß Verstorbenen finden
sich drei Fälle, in denen die ausgedehnte Fettgewebs- und
Pankreasnekrose mit Sicherheit die alleinige Todesursache
abgab. Es sind dies die Fälle von Simmonds, Kindt,
ferner der Präsident Mac Kinley. Der Tod erfolgte in
diesen Fällen unter den Erscheinungen des Ileus oder der
Perforationsperitonitis. Bei der Sektion fanden sich die
charakteristischen Balserschen Fettgewebsnekrosen und
Nekrose des Drüsengewebes des Pankreas. In der Bauch¬
höhle war eine geringe Menge hämorrhagischer Flüssigkeit
vorhanden, das Peritoneum war vollständig intakt, die ge¬
nähten Wunden der anderen Organe in reizloser Verheilung
begriffen. Auch im Falle Körte, in welchem eine Dünn¬
darmschlinge reseziert werden mußte und der Tod bereits
einige Stunden nach der Operation im Kollaps erfolgte,
wurden bei der Sektion Fettnekrosen gefunden. Auch in
meinem Falle kam es zu einer beschränkten Fettgewebs¬
nekrose. Als am achten Tage nach der Operation der die
Pankreasgegend tamponierende Streifen entfernt wurde,
stürzte eine große Menge rötlichgelben Sekretes hervor, in
welchem eine Menge bis linsengroßer, gelblichweißer, fester
Gebilde schwamm, welche makroskopisch und mikroskopisch
als sequestrierte Fettgewehsnekrosen erkannt wurden. Da
die Operation relativ spät (17 Stunden nach der Verletzung)
ausgeführt wurde, war offenbar bereits genügend Pankreas¬
saft ausgetreten, um in der nächsten Umgehung des Pan¬
kreas Fettnekrosen zu erzeugen. Der weiteren Entwicklung
der Fettnekrose wurde durch die Operation Einhalt getan.
Durch diese Fälle ist es zur Genüge erwiesen, daß das Aus¬
treten von Pankreassekret in die Bauchhöhle Nekrose des
intraahdominalen Fettes erzeugt mit sekundärer Pankreas¬
nekrose, welche im Falle größerer Ausdehnung für sich
allein den Tod zur Folge hat.
Das Austreten von Pankreasisaft in die Bauchhöhle
einerseits, die komplizierenden Organverletzungen ander¬
seits machen die Schußverletzung des Pankreas zu einer
so gefährlichen. Inwieweit sind wir nun imstande, diesen
Gefahren durch geeignete Behandlung zu begegnen?
Die erste Bedingung ist möglichst rasche Laparotomie
in jedem Falle von Schußverletzung, wo der Verdacht auf
penetrierende Bauchverletzung besteht, ein Grundsatz, wel¬
cher heute wohl von allen Chirurgen akzeptiert ist. Aber
selbst nach operativer Eröffnung der Bauchhöhle kann die
Pankreas Verletzung sehr leicht ühersehen werden. Dies hat
seinen Grund darin, daß die Pankreasschußwunden auf¬
fallend wenig bluten. In meinem Falle bestand nur eine
unbedeutende parenchymatöse Blutung, welche zur Ansamm¬
lung einiger Blutgerinnsel und einer geringen Menge flüssi¬
gen Blutes in der Bursa omentalis führte. Aehnliches be¬
richten auch Borchhardt und Bramann. So ist es er¬
klärlich, daß die Pankreasverletzung bei der Operation
einige Male übersehen wurde (Simmonds, Mac Kinley,
Connell). Da aber ein Uebersehen der Pankreas Verletzung
nach unseren heutigen Erfahrungen gleichbedeutend mit
Tod ist, sollte man es sich bei jeder penetrierenden Schu߬
verletzung des Epigastriums zur Regel machen, auch das
Pankreas abzusuchen. Diese Untersuchung wird zur un¬
bedingten Pflicht, wenn die Leber und das kleine Netz
oder der Magen von der Kugel durchbohrt ist, da diese
beiden Verletzungen erfahrungsgemäß am häufigsten mit
Pankreasverletzung kombiniert sind. Den Zugang zum Pan¬
kreas kann man erhalten entweder durch das Ligamentum
gastrohepaticum oder das Ligamentum gastrocolicurn. Hat
die Kugel eines dieser Ligamente durchlöchert, so wird
man die bereits vorhandene Oeffnung stumpf erweitern,
wie ich es in meinem Falle getan habe. Sind diese Ligamente
nicht verletzt, ist z. B. die Kugel durch den Magen ge¬
gangen, so schafft man sich Zugang zum Pankreas durch
Einreißen einer gefäßlosen Stelle des Ligamentum gastro-
colicum, da dieser Weg bequemer ist und eine größere
Uebersicht verschafft als der Weg durch das Ligamentum
gastrohepaticum. Sitzt die Verletzung sehr weit nach links,
sind speziell Milz und Milzgefäße mitverletzt, so kann man
sich den Zugang sehr erleichtern durch einen Schnitt parallel
dem linken Rippenbogen, wie es Borchhardt getan hat.
Becker empfiehlt in diesen Fällen die Rippenknorpel der
siebenten bis neunten Rippe am Uebergange in den knö¬
chernen Teil zu durchschneiden und dann den Rippen¬
bogen nach außen oben zu verziehen, eine einfache MeÜiode,
wie sie ähnlich MarwedeU'^) für Operationen in den Hypo¬
chondrien angegeben hat.
Ist es uns gelungen, eine Verletzung des Pankreas
nachzuweisen, so muß unsere nächste Sorge sein, das aus
der Pankreaswunde ausfließende Sekret unschädlich zu
machen. Dies geschieht am besten durch eine ergiebige
Tamponade, nicht nur der Pankreaswunde selbst, sondern
auch der ganzen Umgebung. Der Tampon erzeugt rasch
schützende Adhäsionen gegen die freie Bauchhöhle und saugt
das gefährliche Pankreassekret auf. Von den sieben ge¬
heilten Fällen wurde in vier Fällen die Tamponade allein
ausgeführt (zwei Fälle von Bramann, Hahn, Gobiet),
in zwei Fällen wurde Naht des Pankreas und Tamponade
gemacht (Borchhardt, Becker), in einem Falle die Naht
allein (Ninni). Wie wir daraus ersehen, genügt die Tam¬
ponade allein voJlständig, um der Gefahr der ' Fettgewebs¬
nekrose vorzubeugen. Von Kindt wird zwar mit Bezug auf
seinen, mit bloßer Tamponade behandelten und trotzdem
infolge Fettgewebs- und Pankreasnekrose letal verlaufenen
Fall, die Forderung aufgestellt, außer der sorgfältigen Tam¬
ponade auch noch die Pankreaswunde mit tiefgreifenden
Nähten exakt zu verschließen. Soviel aus der Publikation
Kindts zu entnehmen ist, war wohl die Gegend hinter
dem Magen wegen einer Perforation der hinteren Magen¬
wand tamponiert worden, die Pankreasverletzung scheint
aber erst bei der Obduktion entdeckt worden zu sein. Daher
dürfte xlie Tamponade sich nicht bis auf den Schußkanal
im Pankreas erstreckt haben, so daß neben dem Tampon
Pankreassaft in die freie Bauchhöhle geflossen ist. In allen
übrigen mit bloßer Tamponade behandelten Fällen gelang
es, die Entwicklung einer ausgedehnteren Fettgewebsnekrose
zu vermeiden. Es sind dies die oben erwähnten vier ge¬
heilten Fälle und außerdem ein Fall von Bramann, welcher
infolge einer Lungenaffektion tödlich endete. Bei der Ob¬
duktion dieses Falles fand sich keine Spur einer Fett-
gewehsnekrose.
Die Naht einer Pankreaswunde ist wegen der tiefen
und versteckten Lage des Organes, sowie wegen seiner
engen Beziehungen zu großen Gefäßen (Vasa lienalia) tech¬
nisch schwierig. Es dient daher zur Beruhigung, zu wissen,
daß eine zielbewußte Tamponade allein zur Heilung genüge.
Wenn die Verhältnisse zur Ausführung einer Naht günstig
liegen, wie z. B. im Falle Beckers, wo sich der ver¬
letzte Pankreasschwanz bis in die Bauchwunde vorziehen
ließ, so wird man natürlich außer der Tamponade von der
Naht des Pankreas Gebrauch machen. Eine Naht des Pan¬
kreas könnte auch notwendig werden, wenn die Pankreas¬
wunde sehr stark bluten sollte, was jedoch, wie wir gesehen
haben, bei den Schußwunflen des Pankreas in der Regel
nicht der Fall ist.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
10 t
Ist es gelungen, eine Pankreas wunde durch Naht zu
■schließen, so ist unter allen Umständen eine ausgiebige
Tamponade anzuschließen, genau so, als ob die Wunde
nicht genäht worden wäre. Den Beweis für die Notwendig¬
keit der Tamponade erbringt v. Mikulicz,^^) welcher
80 Fälle von operativen Eingriffen am Pankreas gesammelt
hat. Von den tamponierten Fällen starben 38%, von den
nichttamponierten 80%. Allerdings hat Ninni in seinem
Falle von Schußverletzung des Pankreas die Naht ohne
Tamponade zur Anwendung gebradit und Heilung erzielt.
Dieses Resultat wird aber gewiß, Avie Borchhardt meint,
eine Ausnahme bleiben. Wie wichtig eine Tamponade trotz
exakter Naht der Pankreaswunde ist, zeigt der Fall von
Becker, in welchem es zur Ausbildung einer reichlich
sezernierenden Pankreasfistel kam, welche sich erst fünf
Monate nach der Verletzung schloß. Hätte Becker im Ver¬
trauen auf die Naht die Tamponade unterlassen, so hätte
sich das reichliche Pankreassekret unfehlbar in die freie
Bauchhöhle enlleert.
Wir haben gesehen, wie wir der ,, spezifischen Pan¬
kreasgefahr“ begegnen können. Selbstverständlich muß man
auch den komplizierenden Organverletzungen die größte Auf¬
merksamkeit schenken. Welch schöne Resultate man durch
rasches Eingreifen selbst bei den schwersten, die Pankreas-
wunde komplizierenden Verletzungen erzielen kann, zeigt
der Fall von Ninni, wo außer der Pankreaswunde sechs
Dünndarm- und eine Dickdarmwunde genäht wurde, und
der Fall von Borchhardt, der es mit einer Verletzung der
Leber und einer Zerreißung der Milzgefäße zu tun hatte.
Die Leberwunden wurden genäht, die Milzgefäße umstochen,
das Pankreas genäht. Es erfolgte Heilung. In zwei Fällen
von Bramann wurden je zwei Schußwunden des Magens
vernäht. Im Falle von Hahn und in meinem Falle wurden
je zwei W unden der Leber tamponiert.
Aus den bisherigen Mitteilungen über Schußverletzung
des Pankreas lassen sich folgende Schlüsse ziehen :
Der Pankreasschuß ist eine außerordentlich gefährliche
Verletzung, welche, sich selbst überlassen, den Tod zur
Folge hat. Die Gefahr besteht einerseits in den komplizie¬
renden Verletzungen anderer Organe, anderseits in der
„spezifischen Pankreasgefahr“, d. i. dem Austreten von Pan¬
kreassaft in die Bauchhöhle. Diese Gefahren sind abzu¬
wenden nur durch möglichst rasche Operation. Bei Schu߬
verletzungen des Epigastriums soll man prinzipiell das Pan¬
kreas untersuchen, falls der Weg durch die Kugel nicht
Amrgezeichnet ist, nach stumpfer Durchtrennung des Liga¬
mentum gastrocolicum. Im Falle einer Verletzung des Pan¬
kreas ist als einfachstes und zur Heilung vollständig ge¬
nügendes Verfahren die Tamponade der Drüse und der Um¬
gehung derselben zu empfehlen. Eine Naht der Pänkreas-
wunde kann im Falle leichter Zugänglichkeit ausgeführt
werden. Eine Naht ohne Tamponade ist unzureichend.
Literatur:
h Deutsche Chirurgie, Lieferung 45 d. — Langenbecks Archiv,
Rd. 60. — Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 58. — Refer.
Zentralblalt für Chirurgie 1901, S 1024. — ») Berliner klin. Wochen¬
schrift 1904, Nr. 3 und 4. — ®) Beiträge zur klin. Chirurgie, Bd. 44. —
h Münchener med. Wochenschrift 1898, Nr. 6. — ») Langenbecks Archiv,
Bd. 60. — “) Med. Record 1901. Bd. 2. — Verhandlungen der freien
chir. Vereinigung, Bd. 13. — Münchener med. Wochenschrift 1905,
Nr. 10. — Refer. Zentralblatt für Chirurgie 1905, Nr. 35. — Z'mlral-
blatt für Chirurgie 1895, Nr. 12. — Inaug.-Diss. Göttingen 1895. —
Münchener med. Wochenschrift 1903, Nr. 4L — Virchows Archiv,
Bd. 122. — *’) Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
1906. — ^8) Zenlralblatt für Chirurgie 1903, Nr. 35. — Grenzgebiete
Bd. 12. > / 6 ,
Aus der I. chirurgischen Abteilung der k. k. Kranken¬
anstalt Rudolfstiftung. (Primararzt Doz. Dr. Karl Funke.)
Penetrierende Schußverletzung des Abdomens
durch eine Exerzierpatrone.
Von Dr. Arthur Neudürfer, dzt. Volontärarzt der Klinik Chrobak.
Im folgenden soll über einen Fall berichtet werden,
den ich als supplierender Assistent in Vertretung meines
damaligen Chefs, des Herrn Primarius Funke, zu operieren
Gelegenheit hatte.
C. P., 28 Jahre alt, wurde am 11. August 1906, um
10 Uhr abends, in das Spital aufgenommen. Derselbe gab an,
am Tage seiner Aufnahme, um 11 Uhr vormittags, mit dem
Kavalleriekarabiner eines Soldaten gespielt zu haben. Derselbe
entlud sich und brachte ihm die später zu schildernde Ver¬
letzung bei. Wie er das Gewehr gehalten habe, konnte nicht
eruiert werden, da wir uns mit dem nur polnisch sprechenden
Patienten nur schwer verständigen konnten.
Die objektive Untersuchung ergab folgendes: Mittelgroßer,
ziemlich kräftiger Mann, von mäßig gutem Ernährungszustand.
Allgemeine Decken und sichtbare Sclileimhäute sehr blaß. Die
Augen halloniert, ängstlicher Gesichtsausdruck. Die unteren Ex¬
tremitäten werden im Knie und Hüftgelenk gebeugt gehalten.
Respiration 28 in der Minute, oberflächlich. Nasenflügelatmen.
Puls 128, rhythmisch, ziemlich gut gespannt. Herz und Lunge
ohne pathologischen Befund. Abdomen über dem Thoraxniveau,
ziemlich gleichmäßig ausgedehnt. In der linken Inguinalgegend
2 cm oberhalb der Mitte des Po up art sehen Bandes und parallel
zu diesem eine 5 cm lange, 3 cm breite, penetrierende Wunde
der Bauchdecken, aus welcher ein ca. 7 cm langes Stück Netz
vorgefallen ist. Die Perkussion ergibt überall hohen, tympaniti-
schen Schall, mit Ausnahme der beiden Flanken, welche ge¬
dämpften Schall geben. Leber- und Milzdämpfung erhalten. Deut¬
licher Schallwechsel bei Lageveränderung. Die Bauchmuskulatur
bretthart gespannt, Abdomen überall gegen Druck sehr empfindlich.
Es wurde die Diagnose auf eine Blutung in die freie Bauch¬
höhle gestellt und da außerdem eine Darmverletzung nicht aus¬
geschlossen werden konnte, wurde die sofortige Operation vor¬
genommen.
In Chloroformnarkose wurde vorerst der vorgefallene Netz¬
zipfel reseziert. Dann 10 cm langer Laparotomieschnitt parallel
dem Ligamentum Pouparti, die penetrierende Wunde erweiternd.
Im freien Peritoneum ziemlich reichlich koaguliertes und dünn¬
flüssiges Blut. Die unter dem Laparotomieschnitt liegende Flexura
signioidea kontrahiert, zeigt keine Verletzung. Dann wird mit
Spateln der mediale Wundrand möglichst weit nach rechts ver¬
zogen, das Cökum aufgesucht und von hier aus der Dünndarm
visitiert. Ueberall zwischen den Darmschlingen koaguliertes und
auch dünnflüssiges Blut, welches, so weit es möglich ist, entfernt
wird. Die Serosa des Darmes ist nicht injiziert und zeigt keinen
Fibrinbelag. Nach Absuchen des Ileums, das eng kontrahiert
und ohne Verletzung gefunden wird, zeigt sich beim Vorziehen
des Jejunums eine fast die ganze Zirkumferenz der Darmschlinge
einnehmende Blutunterlaufung der Darmwand. In der Ausdehnung
von ca. iy2 cm vom Mesenterialansatz der einen Seite, bis etwas
seitlich von der Kuppe der Darmschlinge, sieht man einen Defekt
der Serosa und der Muskularis von ca. Va cm Breite. Die Mukosa
scheint intakt zu sein, jedenfalls gelingt es nicht, eine Kom¬
munikation mit dem Darmlumen aufzufinden. Diese Stelle des
Darmes wird durch eine fortlaufende Seidennaht und eine zweite
Schichte von Seidenknopfnähten versorgt, die suffundierte Stelle
mit einer einfachen Schichte von Seidenknopfnähten überdeckt.
Da nach diesem Befund die Schußrichtung nach aufwärts gegangen
sein mußte, wurde die untere Laparotomiewunde provisorisch
mit Darmkompressen abgestopft. Hierauf mediane Laparotomie
zwischen Processus xiphoideus und Nabel; sofort nach Eröffnung
des Peritoneums zeigte sich, daß die Abtragungsstelle des Netzes
dicht an dessen Abgang vom Querkolon gelegen war. Das
Ligamentum gastrocolicum war in einer Ausdehnung von zirka
5 cm zerrissen. Ebenso erschien das Querkolon an seiner vor¬
deren Fläche in ca. 1 cm Länge von Serosa entblößt. Hier fand
sich auch ein zirka erbsengroßes Loch in der Darmwand. Nach
Uehernähung dieser Stelle mit zwei Schichten von Seidenknopf¬
nähten wurde das Querkolon emporgeschlagen und nun fand
sich als Quelle der Blutung ein 1 cm langer Schlitz im Mesocolon
transversum. Mehrere blutende Gefäße wurden abligiert, der
Schlitz im Mesocolon transversum stumpf erweitert und nun
fand sich in der Bursa omentalis ein zirka bohnengroßer, teil¬
weise verkohlter Rest des Pfropfens und an der hinteren Magen¬
wand eine unbedeutende Suggilation. Schließlich wurde noch
von der Flexura duodeno-jejunalis der Rest des Jejunums abge¬
sucht. Noch an zwei Stellen fanden sich subseröse Suggilationen
von geringer Ausdehnung und ohne Verletzung der Serosa, welche
eine Uehernähung als überflüssig erscheinen ließen. Colon as-
cendens und descendens kontrahiert und ohne pathologischen
Befund. Es blieb nur noch zu entscheiden, wie das allseitig
abgelöste Stück des Querkolons versorgt werden sollte, da er¬
fahrungsgemäß Abtrennungen desselben vom Ligamentum gastro-
colicuni besonders leicht die Ernährung desselben in Frage stellen.
Nr. 4
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Anderseits drängte der Zustand des Patienten zur Eile.
Es wurde seitlich die Vorderfläche des Colon transversum durch
Flächennähte mit dem Peritoneum parietale vereinigt und oben
durch das zerrissene Ligamentum gastrocolicum und unten bis
in den durch Nähte verengerten Schlitz, des Mesocolon transversum
durch zwei breite Jodoformgazestreifen ein ca. 7 cm langer Teil
des Colon transversum abtamponiert, so daß für den Fall einer
Gangrän, die Perforation nach außen erfolgen mußte. Schlie߬
lich wurde noch in die untere Laparotomiewunde ein Mikulicz¬
tampon eingeführt und beide Laparotomiewunden bis auf die Stelle
der herausgeleiteten Gazestreifen durch vierschichtige Bauch¬
deckennaht verschlossen. Dauer der Operation 50 Minuten.
Nach der Operation war Pat. sehr kollabiert (Puls 140,
klein, aber rhythmisch). Derselbe wurde in das Bett gebracht, in
heiße Tücher gewickelt und erhielt zwei Spritzen Kampfer und
1000 cm® Kochsalzlösung subkutan.
Aus dem Dekursus sei nur erwähnt, daß sich der Patient
sehr rasch nach der Operation erholte. Am folgenden Tage gingen
auf Klysma Stuhl und Winde ab.
Am 13. August prophylaktisch 30 cm® Wiener Tetanus¬
antitoxinserum isubkutan, welches rcaktionslos vertragen wurde.
Am fünften Tage wurden die Jodoformgazestreifen gelockert und
etwas vorgezogen, am 14. Tage konnten sie vollständig entfernt
werden. Die weitere Wundheilung verlief vollständig ungestört
und Pat. konnte am 10. September mit linear verheilten Lapa¬
rotomiewunden, ohne alle Beschwerden, entlassen werden.
Das Interessante an dieser Beobachtung scheint mir
die sehr bemerkenswerte Perknssionskrait des Pfropfens
von Exerzierpatronen zu sein.
In der einschlägigen Literatur konnte ich analoge Be¬
obachtungen nicht finden. Neudörfer erwähnt wohl in
seinem Handbuch der Kriegschirurgie, daß auch die Pfropfen
von Exerzierpatronen nicht zu unterschätzende Verletzun¬
gen hervorrufen können, ohne jedoch nähere Details an¬
zugeben. In anderen älteren Handbüchern (Stromeyer,
Demme) finden Verletzungen durch Exerzierpatronen über¬
haupt keine Erwähnung. H. Fischer (Kriegschirurgie.
Deutsche Chirurgie, Bd. 17 a, S. 32) berichtet über Ver¬
letzungen, welche von Selbslmördern durch bloße Pulver¬
schüsse ohne Projektil erzeugt wurden, beschreibt bei einem
Falle eines Schusses in den Mund die weitgehenden Zer¬
reißungen des weichen Gaumens, welche auf die Wirkung
des Luftdruckes zurückgeführt werden, ohne die Wirkung
des Pfropfens zu erwähnen.
Daß Verletzungen mit den Pbopfen von Exerzier¬
patronen nicht so selten sind, beweisen die Untersuchungen
von Schjerning (zit. nach Lotheisen) und Schmidt
in Breslau (Deutsche medizinische Wochenschrift 1904,
Nr. 8 und 76; Versammlung deutscher Naturforscher und
Aerzte in Breslau 1904) über den Zusammenhang von
Schußverletzungen und Wundstarrkrampf. Beide Autoren
konnten zeigen, daß die aus Filz gepreßten Pfropfen fast
stets Tetanussporen enthielten und diese Untersuchungen
waren auch der Anlaß, daß in Deutschland die Filzpfropfen
vor ihrer weiteren Verwendung durch strömenden Wasser¬
dampf sterilisiert werden.
Jedoch scheinen die Verletzungen an und für sich
durchaus harmloser Natur gewesen zu sein, da ich nirgends
Angaben über schwere Verletzungen durch Exerzierpatronen
gefunden habe. Die oben erwähnten Arbeiten von Schjer¬
ning und Schmidt, dann die Arbeit Lotheisen (Wiener
klinische Wochenschrift 1906, Nr. 24) waren auch die Ver¬
anlassung, daß in unserem Fälle am dritten Tage nach
der Verletzung, als der Mann sich ein wenig erholt hatte,
prophylaktisch Tetanusantitoxin gegeben wurde. Wie ich
nachträglich durch gütige Mitteilung des Stabsarztes Doktor
Dra stich erfahren habe, bestehen die Pfropfen der Exer¬
zierpatronen aus gepreßtem Filz und werden vor der Ver¬
wendung ebenfalls sterilisiert. Aus seinen Mitteilungen habe
ich auch erfahren, daß es den Offizieren bekannt ist, daß
die Filzpfropfen der Exerzierpatronen noch auf eine Distanz
von zehn Metern imstande sind, eine Päppenscheibe zu
durchschlagen.
Aus dieser und der von uns beschriebenen Beobach¬
tung ergibt sich, daß auch Exerzierpatronen sehr ernst zu
nehmende Verletzungen erzeugen können.
Herrn Primararzt Dr. Funke bin ich für die Ueber-
lassung dieses Falles zu besonderem Danke verpflichtet.
Ueber Asthmabehandlung.
Von Dr. W. Siegel, Arzt in Bad Reichenhall.
Das Asthma bronchiale ist bekanntlich charakterisiert
durch den asthmatischen Anfall, durch die anfallsweise
auftretende Atemnot. Die Meinungen über die Ursachen
dieser Atemnot, über die zugrunde liegenden Veränderungen
im Respirationsgebiet waren von jeher geteilt. Die haupt¬
sächlich von Wintrich und Bamberger verfochtene
Theorie vom Zwerchfellkrampf ist heutzutage verlassen,
nachdem Biermer in seinem berülnnt gewordenen Vortrag
dargelegt, daß das Astlima bronchiale auf einem Krampfe
der Bronchialmuskulatur beruhen müsse. „Das Prinzip des
sog. Bronchialasthmas liegt in der Exspirationsstörung und
die auffallend verlängerte und forcierte Exspiration mit den
sibilierenden Geräuschen spricht für ein Hindernis in den
mittleren und feineren Bronchien, welches fast mit Not¬
wendigkeit zur Annahme einer spastischen Bronchialver¬
engerung drängt.“ Der Versuch, diese Anschauung experi¬
mentell zu beweisen, mißlang; elektrische Reizung des
Vagusstammes oder seiner Endigungen im Respirationstrak-
tus erzeugte wohl Kontraktionen der Bronchialmuskeln, nie¬
mals aber Asthma.
Eine andere Theorie bezieht die Atemnot auf eine
ganz akute Schwellung und Hyperämie der Bronchialschleim¬
haut, durch welche es zu einer hochgradigen Verengerung
der Lumina, sowie zur Ansammlimg zähen Sekretes komme
(Störk, Weber). Tr ousseau, Leyden sprechen von
einem fluxionären Element, Curschmann von einem
Catarrhus acutiosimus infolge vasomotorischer Einflüsse..
Mit Recht macht A. Fränkel darauf aufmerksam,
daß eine ganze Reihe von Symptomen sich sowohl durch
die Krampf-, als auch die Schwellungstheorie erklären lasse ;
daß aber immer einige übrig bleiben, die durch keine von
beiden allein ganz verständlich würden; man müsse daher
annehmen, daß beide Faktoren, sowohl der Krampf, als
auch die hyperämische Schwellung, an dem Zustandekom¬
men des asthmatischen Symptomenbildes beteiligt seien.
Eine Unterscheidung, was von beiden im einzelnen Falle
das Primäre ist, dürfte oft unmöglich sein, da, wie Talma
sich ausdrückt, Bronchopathie zum Krampf und Krampf
zur Bronchitis führen könne.
Der Kampf um diese Theorien war für die Therapie
von geringem Wert. Weit mehr Bedeutung kommt den Be¬
obachtungen zu, die Talma, Sänger und Strübing ver¬
öffentlicht haben.
Talma verlegt den Ivrampf hauptsächlich in den
Larynx, Aditus laryngis und in die Bronchioli, wenigstens,
bezieht er die Dyspnoe und die Geräusche zumeist auf eine
krampfliafte Verengerung dieser Regionen, während er dem
Krampf der Muskulatur der Trachea und Hauptbronchien
nur geringen Einfluß zuschreibt, ihn für ,, nebensächlich“
hält. Zu dieser Auffassung kam er einesteils auf Grund
von Messungen, nach denen menschliche Bronchien durch
Muskelkontraktion erst bei einem Durchmesser von 4 mm
und abwärts vollkommen verschlossen würden, ferner auf
Grund von laryngoskopischen Untersuch imgen während des
Anfalles, wo er in vielen Fällen eine Verengerung der Stimm¬
ritze am Ende, selten während der ganzen Exspiration fest¬
stellte. StrülDing sah ähnliches, aber nur gegen- Ende
der Exspiration, weshalb er diese Befunde als nicht aus¬
reichend für die Erklärung der Atemnot verwirft, die immer
während der ganzen Exspiration und meist auch schon
[ während der Inspiration vorhanden ist.
Talma hatte ferner beobachtet, daß nicht nur Ge-
i Sunde und Asthmatiker durch Imitierung des im Anfall ein-
Nr, 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
setzenden x4temtypns den Krampf auslösen, einen Anfall
hervornifen konnten, sondern auch — darin liegt für die
Praxis der Schwerpunkt der Sache — daß viele Asthmatiker
imstande seien, den Krampf ,,Wcährend des Anfalles, aber
sicher in den Remissionsperioden“ zu unterdrücken. Zu
dem gleichen Resultate war im großen und ganzen auch
Strübing gekommen, der bei Leuten ,,mit und ohne
Asthma“ den Einfluß der pathologischen Atembewegungen
auf das Zustandekommen und den Verlauf des Leidens
untersuchte. Er ließ gleichfalls die Atmungsweise der Asthma¬
tiker nachahmen, d. h. ,,die Inspiration kurz, die Ex¬
spirationen dagegen forciert und gepreßt und unter Inan¬
spruchnahme der Hilfsmuskeln“ vornehmen und konstatierte
dabei die ^Möglichkeit einer willkürlichen Erzeugung eines
Asthmaanfalles, sowie den günstigen Einfluß, den die Kor¬
rektur der fehlerhaften Atmung ausübt. Wenn Strübing
also, mit gewisser Reserve, Talmas Angaben bestätigt, so
ist er doch mit gutem Recht weit davon entfernt, dessen
Schlußfolgenuigen anzuerkennen, daß ,, nämlich die Mus¬
keln der Luftwege dem Willen unterworfen seien oder unter¬
worfen werden können“, eine Behauptung, die mit allen
physiologischen Gesetzen über glatte und quergestreifte Mus¬
keln in grellem Widerspruch steht. Strübing bezieht den
Einfluß des Willens lediglich auf die Atmungsmuskulatnr ;
er sieht in den forcierten Exspirationen und in dem dadurch
bedingten abnormen Druck (Biermer) auf die nachgiebigen
Bronchien die Ursache der Verengerung, und wenn der
Wille diese Erscheinungen hervornifen oder mildern könne,
so müsse er eben auf die Tätigkeit der Atmungsmuskeln
einwirken, d. h. diese hemmen und ausgleichen.
Während Talma auf Grund seiner Beobachtungen an
Kranken und Strübing im Verlaufe seiner planmäßigen
Untersuchungen die Bedeutung der abnormen Atmung im
Asthmaanfall kennen lernte und demgemäß therapeutische
Rückschlüsse zog, war Sänger einen anderen Weg ge¬
gangen. Ihm lag daran, die nie fehlende akute Lungen¬
blähung als die Quelle aller Leiden des Asthmatikers zu
bekämpfen. Er sagte sich, die Lungenblähung steigert die
Atemnot, die Atemnot hinwieder führe zu tieferen Inspira¬
tionen, also zur Mehraufnahme von Luft, ohne daß durch
entsprechende Exspirationen eine genügende Menge ver¬
brauchter Luft abgegeben werden könnte, daraus resultiert
eine Steigerung der Blähung; infolgedessen müsse die In¬
spiration verflacht, resp. abgekürzt, die Exspiration aber
im Verhältnis zur Inspiration verlängert, jedoch keinesfalls
vertieft werden. Goldschmidt hat die Möglichkeit einer
Verkürzung der Inspiration negiert, indem er — worauf
schon Biermer aufmerksam gemacht — zeigte, daß bei
nicht allzu schweren Anfällen die Exspiration ohnehin schon
dreimal so lange dauere als die Inspiration und daß dieses
Verhältnis bei stärkeren Anfällen sich noch verschlechtere;
infolgedessen sei es ganz unmöglich, die Inspirationen zeit¬
lich noch mehr abzukürzen, ln Wirklichkeit legt Sänger
wie auch Strübing weniger Wert auf den zeitlichen Ab¬
lauf, als auf den Umfang der Inspiration, die er zwar kurz¬
dauernd, vor allem aber wenig kräftig wünscht.
Die Atembewegungen vollziehen sich l)ekanntlich nor¬
malerweise unwillkürlich in einem bestimmten Rhythmus
mit bestimmter Tiefe. Die Eiiialmung, Hebung des Thorax,
geschieht durch die Tätigkeit der Atemmuskelu, die Aus¬
atmung vollzieht sich passiv durch die Schwere (les Thorax
und die Elastizität der Lunge. In vielen Fällen, wenn das
Asthma bereits längere Zeit bestand, zeigt sich selbst in
der anfallsfreieti Zeit eine Vertiefung der Inspiration und
eine verlangsamte und sichtbar unter Muskelanstrengung
einhergehende Exspiration. Im schweren Anfall atmen die
Asthmatiker so, daß auf eine ganz kurze, angestrengt liefe,
gleichsam überhastete Insi)iration eine langgezogene, keu¬
chende Exspiration folgt, wie Strübing sagt: ,, Forciert,
l)ressend, unter Inanspruchnahme der Hilfsmuskeln.“ Es
kann nicht die .Absicht des Therapeuten sein, die in
solchen Källen obnehiii S( hoii langdauernde Exspira¬
tion zeillich noch mehr auszudehnen, vielmehr müssen
wir auf die Art, wie sie vor sich geht, noch be¬
sonders einzuwirken suchen, in der Weise, daß wir
die krampfhafte Tätigkeit der Muskulatur, die ja hindernd
auf den normalen Ablauf wirkt, nach Alöglichkeit aus¬
schalten. Gelingt dies, so reguliert sich die Inspiration
von selbst, sie dauert länger und verläuft langsamer, ruhiger
und nach und nach auch tiefer. Es ist leicht zu beob¬
achten, daß, wenn ein Anfall seinem Ende naht, zunächst
die forcierten Exspirationen an Heftigkeit und Spannung
verlieren, und daß dann erst die Inspiration sich ändert.
Deshalb setzen alle hier in Frage kommenden Bestrebungen
an der Exspiration ein; Sänger nennt seine Alethode ge¬
radezu Ausatmungsgymnastik.
Sänger läßt auf eine wenig tiefe Inspiration eine
länger dauernde, ebenfalls wenig tiefe Exspiration folgen.
Letztere läßt er tönend sich vollziehen, derart, daß der
Kranke ,,mit mäßig lauter Stimme und unter Dehnung der
Vokale“ zählt (z. B. eiiins, zweiii, dreiii usw.). Indem er
bis zu einer gewissen Zahl — pro Zahl eine Sekunde —
zählen läßt, fixiert er gleichzeitig die Dauer der Ausatmung,
die anfänglich ziemlich begrenzt, etwa bis vier, später länger
ausgedehnt werden soll. Dann folgt die Inspiration. In der
anfallsfreien Zeit soll diese Methode geübt, im Anfall selbst
diese Hebung öfter fünf bis zehn Minuten lang gemacht
werden. Wichtig ist das Einhalten eines bestimmten Tempos.
Die Einatmung reguliert er, indem er eine vorher bestimmte
Zahl, resp. deren Vielfaches ausfallen läßt und das dieser
Zahl zukommende Tempo zur Einatmung benützt, um dann
im unverändert gleichen 'Peinpo weiterzuzählen. Dadurch
sucht er zu umfangreiche Inspirationen zu vermeiden. Durch
das folgende Schema veranschaulicht er den Gang der
Hebung :
1 I 2 ! 3 I 4 I Insp. I 0 I 7 j 8 i 9 [ Insp. | usw.
Exsp. Exsp.
Im Verlaufe des vergangenen Sommers habe ich von
dieser Methode bei einer Pteihe von Patienten Gebrauch
gemacht. Es kam mir zunächst auf eine Nachprüfung an,
da wir um jedes einigermaßen brauchbare Hilfsmittel, sofern
es frei von Nebenwirkungen ist, froh sein müssen. Ich ent¬
schloß mich zur Anwendung gerade des Sänger sehen Ver¬
fahrens, weil sein Prinzip dem Kranken leicht verständlich
ist und dieser das Wesentliche rasch erkennt, ferner, weil
es dem Patienten recht präzise Vorschriften an die Hand
gibt, so daß er auch allein und fern vom Arzt imstande sein
kann, die Atemübungen korrekt durchzuführen. Die von
Talma gegebenen Anhaltspunkte sind zu allgemein ge¬
halten, als daß sie eine genaue Durchführung ohne ständige
ärztliche Aufsicht garantierten.
Trotzdem man im allgemeinen der Mefhode, vermutlich
wegen ihrer Einfachheit, starkes Mißtrauen entgegenbrachte,
konnte ich doch in einer ganzen Reihe von Fällen die Hebun¬
gen durchsetzen; ich ließ sie auch im anfallsfreien Inter¬
vall mehrmals täglich vornehmen und kontrollierte zeitweise
in der Sprechstunde. Aus Gründen, die aus meinen weiteren
Ausführungen ersichtlich werden, war ln allen Fällen die
A'erahredung getroffen, daß die Kranken, sobald ein Anfall
drohte, in die Sprechstunde kommen oder außerhalb der¬
selben mich rufen lassen sollten.
Die in Frage kommenden Fälle lassen sich ohne wei¬
teres in zwei Gruppen einteilen : die erste Gruppe besteht
nur aus zwei Fällen, Patienten im Alter vDii 27, beziehungs¬
weise 30 Jahren, bei denen in der anfallfreien Zeit nicht
der geringste Befund zu erheben war. Die Anfälle traten
nach der Schilderung der sich genau kontrollierenden Pa¬
tienten unberechenbar und von äußeren Einflüssen unab¬
hängig auf; auch Dauer und Intensität wechselte. Irgend¬
welche Gelegenheitsursachen werden ausdrücklich negiert,
jegliche ätiologische Anhaltspunkte fehlen. Die Anfälle
wurden bald mit dem Tuckerschen Apparat, bald mit Mor¬
phium bekämpft.
Bei allen Fällen der zweiten Gruppe bestand chroni¬
scher Bronchialkatarrh, zum Teil ohne, zmn Teil mit mehr
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
107
oder minder ausgeprägten Emphysem. Die Krankengeschich¬
ten bieten nichts Bemerkenswertes. Das allen Gemeinsame
war, daß von Zeit zn Zeit, wenn sich die Expektoration
verringerte oder erschwert war oder bei akuten Nach¬
schüben zunehmende Atemnot eintrat, diese sich allmählich
zu Asthma steigerte, bald mir in leichter, bald in schwerer
Form.
Während man bei der ersten Gruppe vasomotorische
Vorgänge mindestens mit ebenso gutem Recht wie einen
Bronchialmuskelkrampf annehmen kann, erklärt sich die
Entstehung des asthmatischen Anfalles bei der zweiten
Gruppe zwanglos durch Steigerung der hyperämischen
Schwellung der bereits katarrhalisch affizierten Bronchial¬
schleimhaut. Diese Schwellung führt zu Stenose, die Stenose
zu Steigerung des Exspirationsdruckes (Biermer) infolge
forcierter Exspirationen, der gesteigerte Exspirationsdruck
zu einer weiteren Verengerung der nachgiebigen Bronchien
und Bronchiolen (Sänger, Strübing).
Ich hatte Gelegenheit, bei beiden Fällen der ersten
Gruppe einen Anfall zu beobachten. Bei dem einen versagte,
wie im Falle Golds climid ts, der Versuch völlig, trotz¬
dem früher die Uebungen korrekt durchgeführt wurden. Das
Krankheitsgefühl, der Drang nach verstärkter Ausatmung,
die man hier als falsche Abwehrbeweigung auf fassen kann,
war so heftig, daß der Kranke an die Uebungen ganz Ner-
gaß und sich willenlos dem Anfall überließ. x\nch meine
persönlichen Bemühungen (Zureden, lautes Vorzählen')
waren zwecklos ; mit dem Einsetzen des xVnfalles war jede
Energie verschwunden, so daß mir nichts übrig blieb, als
jMorphium zu geben.
Glücklicher verlief der zweite Fall, dank der Willens¬
stärke des Patienten. Er hatte sofort zu zählen angefangen,
aber, wie mir schien, in der Angst vor den bevorstehenden
Oualen zu rasch ohne Einhaltung des Tempos, so daß von
einer Gleichmäßigkeit der Atmung, von einem Erfolg, zu¬
nächst keine Rede sein konnte. Hier zeigte sich von dem
Moment an, wo ich selbst vorzuzählen anfing, sofort eine
geringe, aber immerhin auffallende Beruhigung, und es ge¬
lang tatsächlich durch konsecpientes ,, Exerzieren“ den An¬
fall bald zum Schwinden zu bringen, ohne die Anwendung
der gebräuchlichen Asthmamittel oder des Tnckerschen
Apparates.
Wie weit bei der zweiten Gruppe ein Einfluß dieser
Atmungsgymnastik angenommen werden kann, läßt sich nicht
in allen Fällen mit Sicherheit entscheiden. Es muß berück¬
sichtigt werden, daß alle diese Katarrha liker am Badeort
unter viel günstigeren hygienischen Bedingungen leben,
ferner, daß sie alle eine ausgiebige Inhalations-, respektive
pneumatische und auch eine entsprechende hydropathische
Behandlung durchmachten, Faktoren, die ja an sich schon
eine bessernde oder heilende Wirkung auf diese Affek-
tioneii ausüben.. Auch ist zu bedenken, daß diese Kranken
bald nur von einem Beklemmungsgefühl, bald von richtigem
Asthma heimgesucht werden, und wie die Intensität der
Beschwerden, die, wie stark oder schwach sie auch seien,
vom Kranken stets Asthma genannt werden, so ist auch
die Häufigkeit und Dauer zu allen Zeiten wechselnd ; infolge¬
dessen ist die Beurteilung im einzelnen Fall sehr erschwert.
Wenn ich die Fälle, welche ich selbst im Anfall sah,
von denen, welche ich nicht sah, trenne, so lauten
die Berichte der Patienten selber zum Teil sehr skeptisch;
man sagte mir sehr richtig, daß die Anfälle ja immer an
Stärke und Dauer verschieden seien, daß also ein objek¬
tives Urteil über den Einfluß dieser Behandlung nicht mög¬
lich sei. Die begleitenden Personen dagegen glaubten eine
gute Wirkung des Verfahrens jedesmal gesehen zu haben,
wenn es nur gelang, die im Anfall der Methode wider¬
strebenden Patienten zum rechtzeitigen und konsequenten
Zählen zu veranlassen ; sie waren auch davon überzeugt,
daß es möglich sei, den übermäßigen Gebrauch der ver¬
schiedenen Astlimamittel bedeutend einzuschränken. Einige
Patienten glaubten, es gleichfalls der Metliode zuschreiben
zu müssen, daß bei ihnen schwerere Anfälle ausblieben;
sie schildern allerdings, daß sie beim geringsten Anzeichen
oder sofort nach einem heftigen Hustenanfall mit eiserner
Energie und unermüdlich zählten und ihre ganzen Ge¬
danken gewaltsam darauf konzentrierten und sich so zwan¬
gen, den Anfall quasi nicht zu beachten. Dadurch sei es
ihnen doch gelungen, wiederholt über Beschwerden Herr
zu werden, die sich nach ihrer Erfahrung — jeder Asthma¬
tiker pocht auf seine Erfahrung — sonst zu heftigen Attacken
auswuchsen.
Da, wo ich persönlich intervenierte, habe ich recht
Ermutigendes gesehen. In zwei Fällen, die sonst, zur An¬
wendung von Morphium oder Atropin Veranlassung gegeben
hätten, gelang es mir, ohne diese auszukommen. Dabei war
auffallend, daß, sobald der Kranke in den Pauseri sich
selbst überlassen blieb, sofort die Atmung in der fehler¬
haften Weise einzusetzen begann und daß die Atemnot
wuchs, so daß er von selbst wieder zu zählen anfing. Die
Spannung der Muskulatur ließ unter meinem Augen nach,
die Kranken aber waren froh, ohne Narkotikum ausge¬
kommen zu sein und überzeugte Anhänger der Methode.
In einem dritten Fall, wo man mich bat, gleich IMorphium
zur Einspritzung mitzubringen, gelang es gleichfalls durch
Geduld und ruhiges Auftreten mit Hilfe der Methode des
Anfalles Herr zu werden.
Die übrigen Fälle waren leichter Natur, wie sie auch
durch Räuchern oder durch eine Asthmazigarette ohne wei¬
teres beseitigt werden. Immerhin war der Einfluß der Atem¬
übung auf die Art der Atembewegungen eklatant, sie voll¬
zogen sich ruhig; man hörte nur wenig Geräusche.
Fasse ich mein Ihdeil zusammen, so mußi ich in dieser
Art von Atemgymnastik, welche die instinkliven forcierten
Atembewegungen (besonders in der Exspiration) auszu¬
schalten versucht, eine nicht zu unterscdiätzende Bereiche¬
rung unserer Behandlungsmethoden des asthmatischen An¬
falles sehen; über den Einfluß auf das Gesamtleiden ver¬
mag ich wegen der gleichzeitigen Anwendung anderer Mittel
kein objektives Urteil abzugeben. Ich teile nicht den Opti¬
mismus Talmas oder Sängers, sondern l)in gleich Strü¬
bing der Ansicht, daß das Verfahren - - ob nach Sängers
Vorschrift oder auf andere Weise — nicht in allen Fällen
gleichwertig ist. Nicht nur, daß dasselbe an sich, trotz
des besten Willens der Patienten und Ausdauer des Arztes,
versagen kann, eS scheitert oft auch an der Willensschwäche
und der geringen Widerstandskraft im Anfall. Gar oft wird
das Zählen, der Kampf gegen den Zug der Muskulatur den
Kranken ermüden, so daß er resigniert auf die Uebungen
verzichtet; daraus geht ohne weiteres hervor, daß selbst
schon bei mittelschweren i\nfällen ein Mißerfolg eintreten
kann oder muß, wenn der Kranke sich selbst überlassen
bleibt, wenn die Umgebung nicht genügend instruiert ist
oder Geduld und Ruhe verliert. Darin, daß in vielen Fällen
der Erfolg von der iVnwesenheit und Hilfe einer zweiten
Person, eventuell des Arztes, überhaupt abhängig ist, liegt
eine nicht zu beseitigende Schwäche der Methode; wer nicht
gleichzeitig irgend jemandem aus der Umgebung des Kranken
die Uebungen lernen läßt, darf sich über IMißerfolge nicht
wundem.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die psychische Ab¬
lenkung, die im Verlaufe der Uebungen, wenn sie erfolg¬
reich sind, stets eintritt, einen großen Anteil an dem Erfolg
hat; wie weit dies von Fall zu Fall stattfindet, läßt sich
ebensowenig präzis entscheiden wie die Frage, ob nicht
überhaupt der ganze Effekt auf Ablenkung beruht. Die Er¬
klärung hiefür wäre, daß die falschen Atembewegungen, die
— wie Strübing sagt — zwuangsmäßig eiiisetzen, auf psy¬
chischer Basis entstehen und nur dem Bestreben der Kranken
entspringen, sich durch forcierte Exspirationen ,,Luft“ zu
verschaffen. Indem auf diese Weise, wie dien ausgeführt,
durch gesteigerten Exspiralionsdruck und weiterer Verenge¬
rung der Bronchioli erst recht wieder Asthma enisteht, wäre
der Circulus vitiosus geschlossen und die Ablenkung wäre
nur Vermeidung kräftiger Atemzüge. Damit fiele die IMe-
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thode in das Bereich dessen, was Brügelmann fiducation
asthmatiqne nennt.
Die Tatsache aber bleibt unumstößlich, daß durch der¬
artige Beeinflussung der Atmung der Anfall günstig be¬
einflußt, ein Mißbrauch der gewöhnlichen Asthmamittel leicht
vermieden, insbesondere in vielen Fällen Atropin und Mor¬
phium entbehrt werden kann, ein Gewinn, der bei einem
chronischen und so qualvollen Leiden nicht hoch genug
eingeschätzt werden kann.
Literatur:
') B i e r n e r, Volkmanns klin. Vorträge, Nr. 12. — *) A. Fränkel,
Asthma broiich. Eul'^nb. Realenzykl. — Goldschmidt, Repert, für
praktische Aerzte 1906, 7/8. — Ü Sänper, lieber Aslhmabehandluiig.
Rathke, Magdeburg 1905. — ®) S t r ü b i n g, Deutsche med. Wocheri-
schrift 1906, Nr. 31 und 34. — ®) Talma, Berliner klin. Wochenschrift
1898, Nr. 52. _
Bemerkungen zu der Erwiderung Prof. Kreibichs
auf meinen Vortrag „Die Angioneurosenlehre
und die hämatogene Hautentzündung.
Von Dr. LndTrig’ Török (Budapest).
Ich werde mich in den folgenden kurzen Darlegungen bloß
mit jenen Behauptungen der Erwiderung Prof. Kreibichs be¬
fassen, welche sich strenge an das Wesen der Streitfrage über
die Existenz einer angioneurotischen Entzündung halten und einer
Korrektur bedürfen.
Auf eine Diskussion über spontane oder neurotische
Gangrän, lasse ich mich nicht ein. Ich habe in meinem Vortrage
expressis verbis angegeben, daß ich mich in demselben nicht mit
der Pathogenese von Hautnekrosen befasse. Ich hätte auch die
Experimente Prof. Kreibichs nicht erwähnt und er hätte vor
meiner Kritik Ruhe gehabt, wenn er nicht aus denselben Folgerungen
in bezug auf die Urtikaria gezogen hätte. Ich war daher ge¬
zwungen, dieselben in den Bereich meiner Betrachtungen zu
ziehen. Dabei überzeugte ich mich von der Unzulänglichkeit dieser
Versuche und der Unhaltbarkeit der aus ihnen gezogenen Folge¬
rungen. Ich könnte mich nun mit einem einfachen Hinweis auf
den diesbezüglichen Teil meines Vortrages begnügen, durch welchen,
wie ich hoffe, der Nachweis gelungen ist, daß die Hautverände¬
rungen in Kreibichs Versuchen, sofern sie nicht spontan,
d. h. unabhängig von dem Experimentator und von der Versuchs¬
person, als Folge der ursprünglichen Krankheit entstanden sind,
entweder als unmittelbare Resultate der experimentellen Einwirkung
oder als von der Versuchsperson sich selbst zugefügte artefizielle
Hautveränderungen zu betrachten sind. Ich muß hier aber doch
einen Versuch Kreibichs erwähnen, weil er auf die Streifen¬
form der Hautveränderungen ganz besonderes Gewicht legt, und
von Voigt sehen Grenzlinien spricht. Beim Versuche I. Nr. 15.
wird eine schmale, scharf-rote Linie beschrieben, welche am rechten
Unterschenkel, etwas nach einwärts von der Mitte der Kniekehle
gegen den Malleolus internus verläuft, ,,über demselben an dem
festliegenden Schuhrand aufhört“. Jedem Unbefangenen muß sich
da die Annahme aufdrängen, daß die Kranke die Hautreizung
ausgeführt, nachdem sie bloß die Strümpfe nach unten gestreift,
aber die Schuhe nicht abgelegt hatte. Dies erklärt das plötzliche
Aufhören der Linie ,,an dem festliegenden Schuhrand“.
Prof. Kreibich zieht in seiner Erwiderung seine histo¬
logischen Befunde heran, um den artefiziellen Ursprung der Haut¬
veränderungen auszuschließen. Diese Befunde sollen im Einklänge
stehen mit jenen von Zieler, laut welchen die Hautgangrän ein
Kutisprozeß ist, bei welchem jede Andeutung einer von der Haut-
obertläche kommenden Einwirkung fehlt, während bei der Ver¬
ätzung die Kutisveränderungen nur die Reaktion gegen den von
außen wirkenden Reiz darstellen, vorwiegend nur die oberste
Schichte einnehmen und tiefere Partien unbeeinflußt lassen. Ich
bitte aber Herrn Prof. Kreibich, das betreffende Kapitel seiner
Monographie (S. 25 und folg.), so wie ich es getan habe, durchzu¬
lesen. Da werden stufenweise die histologischen Veränderungen
beschrieben, die er bei seiner Patientin hervorgerufen hat. Nach
Veränderungen, welche „eine geringste entzündliche Reizung“ be¬
dingen, werden parallel verschiedene nekrotische Veränderungen
des Epithels und der Lederhaut beschrieben, welche ohne
Schwierigkeit auf lokale, äußere, schädigende Einwirkungen zurück¬
geführt werden können. Auf S. 32 wird als erstes Symptom der
Nekrose die Epithelriesenzellenbildung erwähnt, demnach eine ober¬
flächlich, (weil in der Epidermis) stattfindende Veränderung. Ueber-
haupt scheinen die Epithelveränderungen den Autor sehr stark
irnpressionirt zu haben, denn auf Seite 33 finden wir eine Zusammen¬
stellung aller der beobachteten Epitheldegenerationen. Prof. Krei¬
bich erwähnt in seiner Erwiderung, daß man ,, Erytheme mit Nekrose
der Basalzellen unter gut erhaltenem Rete“ beobachten kann. Da
zitiert er sich falsch. Auf Seite 35 seiner Monographie wird gerade das
Gegenteil hievon behauptet; nämlich, daß man gerade die Basal¬
zellen öfter normal findet, „während das Epithel darüber abge¬
storben ist“. Dieser letztere Befund steht mit der Annahme einer
ratefiziellen Entstehung der Hautveränderungen in bestem Einklang.
Denn nach Einwirkung einer äußeren Schädlichkeit können höhere
Lagen der Epidermis, welche unmittelbarer getroffen werden, des
öfteren stärker geschädi gt werden, als die tiefer gelagerten Basalzellen.
Ich könnte noch weitere Argumente für den artefiziellen
Ursprung der Hautveränderungen beiden Experimenten Kreibichs
Vorbringen. Für den Zweck, die Wertlosigkeit dieser Experimente
zu beweisen, genügt aber das bisher Vorgebrachte vollkommen.
Daran ändert die Anrufung anderer Autoren nichts. Professor
Kreibich hat seine Experimente durch Entkräftung der gegen
sie vorgebrachten Einwände zu verteidigen.
Und nun gehe ich zu dem Wenigen über, was Prof. Kreibich
gegen die Versuche von Philippson, Vas, Häri und mir vor¬
gebracht hat.
Auf das Jadassohn entlehnte Argument, daß durch die
Versuche Philippsons der Einfluß peripherischer Gefäßganglien
nicht ausgeschlossen sei, hat schon Philippson geantwortet;
ich habe diese Antwort in meinem Vortrage zitiert, ich verweise
daher Prof. Kreibich auf denselben.
In bezug auf die Versuche von Vas und Török wird be¬
hauptet, daß dieselben Gegenstand einer bereits anderwärts ge¬
führten Kontroverse gewesen seien. Dem muß ich widersprechen.
Die sogenannte Kontroverse beschränkte sich darauf, daß Vas
und ich Kreibich und P o 1 1 a n d gegenüber, welche behauptet
hatten, die ersten gewesen zu sein, welche einen höheren Eiwei߬
gehalt des iirtikariellen Exsudats nachgewiesen haben, ,,da die
von Török und Vas... erhobenen Zahlen nicht von urti-
kariellen Prozessen . stammten,“ unser Prioritätsrecht
wahrten. (Archiv f. Dermatologie, 67. Bd., 1. Heft.) Hierauf er¬
hielten wir das Manuskript einer längeren Erklärung von
Kreibich und P o 1 1 a n d, auf welches wir kurz antworteten,
daß wir uns auf keine Diskussion einlassen, sondern uns auf die
Konstatierung der Tatsache beschränken, daß wir zuerst den
höheren Eiweißgehalt des urtikariellen Exsudats nach gewiesen
haben. Kreibich und P o 1 1 a n d zogen hierauf ihre Ent¬
gegnung zurück und es blieb bei unserer ersten Berichtigung. In
dieser haben wir die ganz willkürliche Annahme Kreibichs,
daß wir keine Urtikaria untersucht hätten, zurückgewiesen. Es
ist auch heute nicht einzusehen, was Kreibich dazu berechtigt,
anzunehmen, daß die Prozesse, welche wir untersuchten, zur Zeit
der Untersuchung keine Urtikaria mehr waren. Den Beweis hiefür
bleibt er nämlich schuldig. Meine Annahme von der entzündlichen
Natur der Urtikaria stützt sich übrigens nicht bloß .auf den
höheren Eiweißgehalt des Exsudats, sondern noch auf andere
Tatsachen, welche Prof. Kreibich in meinem Vortrage nach-
lesen kann. Eine recht gute Zusammenstellung von Argumenten,
welche die entzündliche Natur der Urtikaria beweisen, findet man
in dem im Jahre 1904 erschienenen Lehrbuche der Hautkrank¬
heiten von Prof. Kreibich (auf S. 52). Ich empfehle ihre
Lektüre Herrn Prof. Kreibich angelegentlichst und mache ihn
gleichzeitig darauf aufmerksam, daß die urtikarielle Natur der
von Vas und Török untersuchten Hautveränderungen an der
betreffenden Stelle nicht im entferntesten in Zweifel gezogen
wird, obschon ihre Versuchsergebnisse ausführlich zitiert werden.
In bezug auf die Experimente von Häri und mir muß ich
betonen, daß dieselben nicht, wie Prof. Kreibich vorgibt, des¬
halb unternommen wurden, um dem Einwand zu begegnen, daß
bei der Entstehung der Urtikaria nach Ausschluß des zentralen
Nervenapparates periphere Gefäßganglien mitwirken. Dieselben
wurden, wie ich auch in meinem Vortrage angegeben habe, zu
dem Zwecke unternommen, um nachzuweisen, daß Stoffe, welche
in Fällen interner Urtikaria im Blute supponiert werden konnten,
tatsächlich die Fähigkeit besitzen, urtikarielles Oedem zu erzeugen.
Wenn ich die betreffende Stelle in der Entgegnung Professor
Kreibichs recht verstehe, so führt er die von Häri und mir
bei Hunden durch die lokale Einwirkung verschiedener Substanzen
bewirkte Quaddelbildung auf Nerveneinflüsse zurück u. zw. des¬
halb, weil in unseren ,, Aufzeichnungen Phänomene enthalten
sind, die nur durch Nerveneinfluß erklärt werden können :
z. B. es eignet sich nicht jeder Hund, nicht jede Gegend des
Tieres, in der Nähe von toxischen Quaddeln erzeugen sonst un¬
wirksame Substanzen Quaddeln; wurde an einem Hunde länger
operiert, so bringen auch unwirksame Substanzen Quaddeln her¬
vor und der Hund ist einige Zeit nicht brauchbar.“ Diese Phäno¬
mene erklären sich auf einfache Weise durch die verschiedene
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Empfindlichkeit der Tiere und der verschiedenen Hautregionen.
Des weiteren, daß durch Diffusion der zum Experiment benützten
Stoffe benachbarte Blutgefäße leicht geschädigt und dadurch em¬
pfindlicher werden. Und endlich dadurch, daß durch wiederholte
Reizung die Empfindlichkeit der Blutgefäße gesteigert wird, welch
letztere Annahme noch durch die Analogie mit der artefiziellen
Dermatitis und dem Ekzem gestützt wird. Die Erklärung, daß
es bei diesen Geschehnissen auf die Empfindlichkeit der Gefäße
ankommt, ist gar zu naheliegend.
Das Experiment, welches Prof. Kreibich im November¬
hefte der Monatshefte für praktische Dermatologie beschrieben
und welches er an dem klinischen Assistenten U. und an der
Wärterin J. G. ausgeführt hat, werde ich nicht wiederholen, weil
ich über kein so tüchtig angioneurotisch veranlagtes Aerzte- und
Wartepersonal verfüge wie Professor Kreibich.
I^eferatc.
Volkiiiaims Tortrilge.
Leipzig 1906, Breitkopf & Härtel,
lieber Vorschläge zu Reformen des Hebammenwesens
und die Bekämpfung des Puerperalfiebers.
Von E. Eckstein, Teplitz.
Gynäkologie, Heft Nr. 159.
Erörterungen rein polemischer Natur, welche sich gegen einen
Vortrag Wein dl er s (Archiv für Gynäkologie, Bd. 78) richten.
Zu kurzem Referate ungeeignet.
♦
Indikationsverschiebungen in der Geburtshilfe.
Von A. Mermaiin, Mannheim.
Gynäkologie, Heft Nr. 159.
Die Indikationsverschiebungen haben sich hauptsächlich nach
der Richtung hin vollzogen, daß heutzutage der Erhaltung des
kindlichen Lebens hei geburtshilflichen Komplikationen mehr Auf¬
merksamkeit zugewendet wird als früher. Hermann befürchtet,
daß diese Bestrebungen zu einer operativen Polypragmasie führen
könnten. Bossis Verfahren, die häufigere Anwendung
der hohen Zange, die Symphyseotomie, der klassische
Kaiserschnitt bei Eklampsie, sind Operationen, welche er auf
Grund seiner Erfahrungen ablehnt. Dagegen hält er die Pubio-
t o m i e für eine große Errungenschaft. Er will dieselbe bis herab
zu 7 cm beim platten, bis 7V2 cm C. v. beim allgemein verengten
Becken ausführen; ob bei schwer Fiebernden die Pubiotomie
ausgeführt \verden darf, ist fraglich. Gibt die Pubiotomie bessere
Resultate in bezug auf die Kinder, als die künstliche Frühgeburt,
so wird die Indikation zu letzterer mehr eingesclmänkt werden
müssen. Zum Schlüsse bespricht Hermann an der Hand selbst
erlebter Fälle die Komplikationen gynäkologischer Natur mit
geburtshilfliclien Fällen und die Aenderungen in der Behandlung
derselben im Vergleich zu früheren Zeiten. -i
*
lieber die Verletzungen des Kindes während der Geburt.
Von K. Birnbaum, Göttingen.
Gynäkologie, Heft Nr. 158.
Sehr übersichtliche und instruktive Zusammenstellung der
Geburtsverletzungen der Kinder, der Aetiologie und Prognose.
*
Indikationen, Erfolge und Gefahren der Atmokausis
und Zestokausis.
Von L. Pinciis, Danzig.
Gynäkologie, Heft Nr. 155.
In seiner bekannten Manier propagiert Verf. die von ihm
angegebene, einer Idee Snegiiireffs entsprungene Methode,
deren engumgrenztes Indikationsgebiet von Pincus mit unver¬
kennbarem Widerwillen jetzt selbst zugegeben wird; außerdem
reichlich Bemerkungen persönlicher Natur, die sich auf die Wür¬
digung seiner Verdienste beziehen usf.
*
Die Mechanik der Geburt.
Von Hugo Selllieim. Freiburg i. B.
Gynäkologie, Heft Nr. 156.
Enthält das Resümee der langjährigen Studien des Ver¬
fassers; über die Hauptpunkte wolle das unten folgende Referat
über seine ausführliche Publikation zu Rate gezogen werden.
Die Beziehungen des Geburtskanales und des Geburts¬
objektes zur Geburtsmechanik.
Von Hugo Selllieim, Düsseldorf.
Mit 42 Abbildungen.
125 Seiten.
Leipzig 1906, T hie me.
Jahrelange Beobachtungen an der Lebenden, anatomische
Untersuchungen, zum Teil komplizierte Phantome und mathema¬
tische Berechnungen haben Seil heim in die Möglichkeit ver¬
setzt, in ein Gebiet der geburtshilflichen Physiologie Licht zu
bringen, das bis jetzt größtenteils nur zu theoretischen Ucber-
legungen angeregt hatte. Wer erinnert sich nicht aus seiner
Studienzeit an die komplizierten Erklärungen, die die meisten
Lehrbücher für den Geburtsmechanismus, speziell für die innere
Drehung geben? Seil heims Untersuchungen sind zwar keines¬
wegs unkompliziert zu nennen. Die Lektüre der Monographie
erfordert große Aufmerksamkeit und einiges Verständnis für
mechanische Fragen. Die Resultate sind geeignet, früher wenig
verständliche Vorgänge durch eine einzige Tatsache zu erklären.
Selllieim fand nämlich, daß die Fruchtwalze — ! d. i. die Frucht
im Stadium der Geburt — : nach den verschiedenen Richtungen
ungleichmäßig biegsam ist und auf ihrem Wege durch den Ge¬
burtskanal zur Verbiegung gezwungen wird; hiedurch allein ist
schon die innere Drehung erklärt, da nämlich nach einem vom
Verf. experimentell und mathematisch bewiesenen physikalischen
Gesetz ungleichmäßig biegsame Zylinder sich bei eintretender
Verbiegung so lange um ihren Höhendurchmesser drehen, bis die
Stellung erreicht ist, in der sie sich am leichtesten verbiegen
lassen. ,,Die Natur handelt bei der Geburt nach dem sehr ein¬
fachen Prinzip, alle Vorgänge sich so abspielen zu lassen, daß
die Widerstände am leichtesten überwunden werden können. Zu
diesem Zwecke geschieht zweierlei: Erstens nimmt die Frucht
in allen Teilen womöglichst Kreiszylindergestalt an und dreht
sich zweitens bei der notwendig werdenden Verbiegung so, wie
sie am leichtesten verbogen werden kann.“
Nach diesen Leitsätzen erklären sich nonnale und abnormale
Haltungen der Frucht. Wenn die Anzeichen nicht (rügen, so
dürfte durch Sellheims mit Fleiß und großem Scharfsinn voll¬
endeten Arbeiten die Frage des Geburtsmechanismus gelöst sein.
*
Die neue königliche Frauenklinik in Dresden.
Von Prof. Leopold und Geh. Baurat Reichelt.
Dritter Band der Arbeiten aus der königl. Frauenklinik in Dresden.
Mit 35 Abbildungen und 12 Plänen.
Leipzig 1906, Hirzel.
Im Jahre 1898 beschloß die sächsische Staatsregierung in
Anbetracht des Raummangels, unter welchem die 1869 erbaute
kgl. Frauenklinik litt, den Bau eines neuen Instituts. Der Bau,
für den 2,100.000 Mark flüssig gemacht wurden, war 1902 nach
2V4jähriger Arbeit vollendet und wurde im März 1903 bezogen.
Das Institut bedeckt ein Areal von 35.000 m^ und liegt im Osten
der Stadt, begrenzt von der Pfotenhauerstraße, dem Fiedlerplatz,
der Terschekstraße und der Fürstenstraße. Der Gebäudekomplex
umfaßt: a) Ein Verwaltungsgebäude mit Räumen für die Wohnung
des Direktors etc.; b) ein gemeinschaftliches vierstöckiges Ge¬
bäude (Erd-, L, H. und vollkommen ausgebautes Dachgeschoß) für
die gynäkologische und geburtshilfliche Abteilung mit Bade-,
Operations- und Nebenräumen; c) ein Sonderhaus für die septische
Abteilung und d) ein Wirtschaftsgebäude mit angebautem Kessel¬
haus. Alle Gebäude, mit Ausnahme des Kesselhauses, sind unter
sich durch verglaste Gänge verbunden, die beiden ersten im Erd-,
I. und 11. Obergeschoß, die letzteren beiden nur im Erdgeschoß.
Unter den Verbindungsgängen befindet sich ein Rohrkanal, der
die Kellergeschoße sämtlicher Gebäude untereinander verbindet.
Rohrkanäle und Kellergänge beherbergen die Dampfhaupt- und
-Nebenleitimgen, die Warmwasser- und Niederdruckdampfheizung,
die Dampfsterilisier- und Koch-, die Warmwasser-, Kaltwasser-,
Kondens-, Abfallwasser- und Klosettabwasserleitungen; ferner die
elektrischen Licht- und Telephonleitungen, die Gasleitungen zum
Kochen des Wassers in den Teeküchen und für die Sterilisatoren.
In Seitengängen daselbst befinden sich innen glasierte, durch
Dampf zu sterilisierende, weite Steinzeugschlote, welche für die
110
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
verbrauchten Verbandstoffe, schmutzige Wäsche und Kehricht be¬
stimmt sind.
Im Wirtschaftsgebäude erzeugen vier Doppel - Cornwall-
Kesseln mit je 90 m'^ Heizfläche die nötige Dampfmenge; die
elektrische Kraft wird von zwei GOpferdigen liegenden Einzylinder¬
dampfmaschinen und zwei Dynamomaschinen geliefert.
Von Details, betreffend die Krankensäle, sei erwähnt, daß
für eine Wöchnerin samt Kind stündlich 70 cm^ Luftzuführimg
erzielt wird, welche aus Frischluftkammern durch Filter, Luft¬
verteilungskanäle und Vorwärmkamniern - durch Heizschlangen,
wenn nötig, erwärmt und befeuchtet — kommt. Eine Eisbereitnngs-
und Kühlanlage (durch Kohlensäure-Külümaschine) fehlen natür¬
lich nicht.
Die Anstalt ist berechnet für: 12 Betten für Gebärende,
82 Betten für Wöchnerinnen, 52 Betten für gynäkologische Kranke,
00 Betten für Hausschwangere, 0 Betten für kranke, isolierte
Hausschwangere, 82 Betten für Kinder; ferner je 82 Reserve¬
betten für Wöchnerinnen und Kinder, 30 Reservebetten für gynä¬
kologisch Kranke. Die Einrichtung der Zimmer ist nach jeder
Hinsicht musterhaft.
Die im Auszug gegebenen Dienstinstrnktionen für Aerzte,
Pflegerinnen und Hebammenschülerinnen zeugen von dem hohen
Organisationstalent L e op 0 1 d s. Statistische und orientierende An¬
gaben über den Unterricht für Aerzte und Hebammen, über die
gelieferten wissenschaftlichen Arbeiten und über den Tagesplan
der einzelnen Funktionäre lassen uns Leopolds Anstalt als
ein wahrhaftes Musterinstitut erscheinen, wenngleich die Behörde
die ursprünglichen Pläne Leopolds stark umgeändert hat.
Es ist nicht ganz überflüssig, zu erwähnen, daß sich die
Gebäude der neuen Frauenklinik von außen außerordentlich gün¬
stig präsentieren — ein Punkt, in welchem ihnen jene unserer
beiden neuen Kliniken wohl unstreitig weit nachstehen.
Physikalische Therapie der Erkrankungen der weib¬
lichen Sexualorgane.
Bearbeitet von A. Foges, Wien und Dr. 0. Fellner, Wien.
Mit 6 Textabbildungen.
Aus: Physikalisclie Tlierapie in Einzeldarstelluugen.
Herausgegeben von Marknse und Straßer.
Heft 22, 66 Seiten.
Stuttgart 1906, Enke.
Kach einer kurzen Einleitmig, in welcher auf die zu¬
nehmende Würdigung der physikalischen Therapie bei Frauen¬
leiden hingewiesen wird, folgt das Kapitel „Massage“ (Heilgym¬
nastik, Sport), bearbeitet von Fellner. Abgesehen von der er¬
müdenden Wiedergabe der Br an dt sehen Vorschriften, weiche-
schwer verständlich und äußerst umständlich ist, kann sich Re¬
ferent auch mit der Indikationsstellung des Verfassers nicht ganz
für einverstanden erklären ; daß die häufigste Anwendung die Mas¬
sage bei Erkrankungen der Eileiter und der Eierstöcke findet, dürfte
wohl nicht der heute geltenden Anschauung entsprechen. Auch
massiert man kaum je eine halbe Stunde (bei größeren Exsudaten)
oder bis zu 15 Minuten (bei kleineren Exsudaten). Als Autorität
hätte der Verfasser sich besser auf Olsh arisen u. a., denn auf
seinen Gewährsmann beziehen sollen. Das Kapitel Pessar¬
therapie (Fellner) hätte wohl eine viel breitere Behandlung
und auch Abbildungen erfordert. Die B el as tu n g s 1 age r un g
erfährt von Foges eine übersichtliche, abgerundete Darstellung.
Die Elektrotherapie (Foges) wird — was dankbar ane r-
kaimt sei — . recht kurz erledigt; die unglückselige Idee Sell-
heims über intrauterinen Gebrauch eines Elektromagneten zu
diagnostischen, ja sogar zu therapeutischen Zwecken, hätte besser
nicht erwähnt werden sollen. Ebenso kurz und doch genügend
instruktiv ist die Vaporisation (Foges) abgetan, während
der 11 e i ß 1 u f t b e h a n d lung ein wenig mehr Raum hätte ge¬
widmet werden sollen; auch über Balneotherapie (Felln ei)
hätte man gerne mehr gehört.
Ein kurzer Ueberblick über physikalische Behandlungs¬
methoden in der Geburtshilfe schließt das Heft.
*
Handbuch der Geburtshilfe.
Herausgegeben von F. v. Winckel, München.
3. Band, 2. Teil.
Mit zahlreichen Abbildungen im Text und auf dtn Tafeln I bis X.
1025 Seiten.
Wiesbaden 1906, Bergmann.
Mit bemerkenswerter Schnelligkeit schreitet die Herausgabe
des umfangreichen Werkes fort. Im .fahre 1903 begonnen, ist
sie bereits bis zum siebenten stattlichen Bande gediehen; es
berechtigt dies zur Hoffnung, daß das gesamte Werk bald ab¬
geschlossen vor uns liegt und die ersten Bände nicht, wie leider
so oft bei ähnlichen Handbüchern, bereits veraltet sind, wenn
die letzten erscheinen.
Fr. V. Winckel beendet seine liis torischen Beiträge zum
Handbuch dui’ch einen Ueberblick über die Geschichte der Gynä¬
kologie von den ältesten Zeiten bis zum Ende des XIX. Jahr¬
hunderts. Der schon im ersten Teil des zweiten Bandes be¬
gonnene Beitrag enthält die Italiener, Schotten, Irländer, Eng¬
länder, Holländer, Belgier, Franzosen und Skandinavier des
XIX. Jahrhunderts. Zahlreiche Holzschnittporlräts beleben die
historischen Daten.
Die siebente Abteilung des Werkes : Pathologie und Therapie
des Wochenbettes, leitet R. v. Braun-Fern wähl- Wien mit
den sorgfältig und ausführlich behandelten Kapiteln: Genital¬
wunden der Wöchnerinnen, Ein- und Umstülpung der Gebär¬
mutter bei AVöchnerinnen, Genitalblutungen im W^ochenbelt, ein;
trotzdem das Thema ein ziemlich eng begrenztes ist, so muß doch
bei aller Genauigkeit die Vermeidung jeglicher Weitschweifigkeiit
dankbar anerkannt sein.
Das folgende Kapitel ist einem Gebiete gewidmet, auf wel¬
chem seit dem Erscheinen des Peter Müll er sehen Handbuches
wohl die meisten Enideckungen gemacht wurden: dem Kind¬
bet tf i e 'b e ri.l
^Wenngleich zwischen zwei Autoren — v. Herff und Walt-
hard — geteilt (eine kleine Abhandlung über den Gonokokkus
stammt von W i 1 d b o 1 z - Bern), zeigt das mit ungeheurem Fleiße
bearbeitete Kapitel eine Einheitlichkeit, wie wenn es aus einer
Feder stammen würde, ein Umstand, der gerade dem in Frage
stehenden Thema unbedingt notwendig war. Man kann sich bei¬
läufig eine Vorstellung von dem Umfang des Gebietes machen,
wenn mau hört, daß die bezügliche Literatur ca. 10.000 Nummern
umfaßt. Für die Literaturangabe sind nur die Arbeiten nach
1889 verwendet und schließt dieselbe an die im P. Müllerscben
Handbuch gegebene an. Doch auch hier mußte noch eine Ein¬
schränkung — Raummangels wegen — gemacht werden,' inso-
ferne nur jene Arbeiten zitiert sind, die in irgendeiner Weise ver¬
wendet wurden. Nichtsdestoweniger füllt das Literaturverzeich¬
nis nicht weniger als 80 Druckseiten aus!
Die von v. Herff bearbeiteten Kapitel enthalten: Allgemeines,
Statistisches, den Kampf des Körpers gegen die Spaltpilze des
Kindbettfiebers, Uebertragungsweise der Spaltpilze in die Geburts¬
wunden, Verlauf der Infektion, die Gifte der Spaltpilze, Beteili¬
gung und Besonderheiten der einzelnen Spaltpilzarten an der
Entstehung des Kindbettfiebers. Aus seinen Thesen wäre hervor-
zLÜieben: ,,Als wichtigste Maßregel, um eine weitere Besserung
der puei-peralen Vlortalität zu erzielen, ist zu verlangen, daß
Aerzte und Hebammen sich nach einer jener Methoden desinfi¬
zieren, die den Alkohol einfügen, es sei denn, daß sie es vor¬
ziehen, Gummihandschuhe anzulegen oder sorgfältige vorbeu¬
gende Scheidenausspülungen zu machen.“ ,,Die Lehre, daß Kiiid-
bettfieber ausschließlich nur durch Uebertragung von FT’emd-
keimen durch die AVöclmerin selbst oder durch dritte Personen
entsteht, ist zweifellos falsch. Eigenansteckungen kommen wäh¬
rend der Schwangerschaft, wenn auch selten, besonders häufig
während und nacli der Geburt oder einer Fehlgeburt und im
Verlaufe des ganzen Wochenbettes vor, allerdings nur unter be¬
sonders begünstigenden Umständen.“ Ebenso wie in diesen stritti¬
gen Fragen, präzisiert v. Herff seinen Standpunkt in zahlreichen
anderen, über welche die Diskussion heute noch nicht ge¬
schlossen ist.
Walthards „Spezielle Bakteriologie der puerperalen Wund¬
erkrankungen“ verwertet zum erstenmal die zahlreichen mühsamen
Untersuchungen über dieses, seit mehr als einem Dezennium im
Nr. 4
WIENER KLINISCPIE WOCHENSCHRIBT. 1907.
Ill
Vordergrund des Interesses stehende Thema in zusammenfassen¬
der, übersichtlicher Weise. Der Gonokokkus erfährt eine spezielle
Besprechung durch Wildbolz. Hierauf folgt ein fast 400 Seiten
starker Abschnitt aus der Feder v. Herffs über pathologische
Anatomie, Diagnostik und Therapie der Puerperalinfektion. Auch
dieses Kapitel wird entsprechend den Fortschritten der Wissen¬
schaft seit dem Müll er sehen Handbuch das größte Interesse
erregen; vor allem die Abschnitte über Serumbehandlung und
operative Behandlung der Wochenbetterkrankungen. ,, Heilsera
können nur wirken, wenn sie vorbeugend oder doch so frühzeitig
dargereicht werden, daß nur wenige Keime zu bekämpfen sind. —
Kollargol beeinflußt in manchen Fällen sichtlich das Allgemein¬
befinden günstig; die Wirkung ist aber nur vorübergehend, wahr¬
scheinlich bedingt durch Abnahme der Toxinämie. — Je weniger
Alkohol fiebernden Wöchnerinnen gereicht wird, desto wohler
fühlen sie sich. — Durch eine Ausschabung kann eine an sich
harmlose oder doch wenig gefährliche Schleimhautentzündung
zu schwerer und schwerster Erkrankung gesteigert werden. Die
Anzeige zur Venenunterbindung bei Verschleppungsbakteriämie
wird mit einiger Klarheit zu stellen sein, sobald die Temperatur
und der Puls mit ausgesprochenen steilen An- und Abstiegen,
wenn mehr wie fünf bis sechs Schüttelfröste die Annahme einer
Verschleppungsbakteriämie zu stellen gestalten; wenn eine sorg¬
fältige Untersuchung die Abwesenheit örtlicher Eiterherde er¬
gibt und vor allem, wenn mit einiger Sicherheit der Nachweis
entzündeter und verstopfter Venen gelingt, alles- dieses ohne Vor¬
treten schwerer Allgemeinerscheinungen bei kräftigem Puls. Ins¬
besondere müssen mit einiger Sicherheit jene Verschleppungs¬
bakteriämien ausgeschlossen sein, welche ohne Venenentzündung
verlaufen. — Die Entfernung der infizierten Gebärmutter bietet
der Indikationsstellung große Schwierigkeiten und Unklarheiten;
der Erfolg wird im Einzelfall — auch bei Genesung der Kranken
— angezweifelt werden können.“
Diese Auswahl aus v. Herffs Schlüssen zeigt zur Genüge,
daß wir es nicht mit einem bloßen Referat, sondern mit einer
sorgsam durchgedachten, auch auf eigene Erfahrung sich stützen¬
den Arbeit zu tun haben.
Auch D öder lein, einer der verdientesten Arbeiter auf
dem Gebiete der Puerperalerkrankungen, liefert einen Beitrag. Er
bespricht die puerperalen Erkrankungen der Harnorgane.
Der vorliegende Band darf wohl im großen und ganzen als
der wertvollste des Handbuches bezeichnet werden.
*
Untersuchungen über den Bau der menschlichen Tube
zur Klärung der Divertikelfrage mittels Modell¬
rekonstruktion nach Born.
Von Dr. Paul Kroemer, Gießen.
Mit 26 Abbildungen im Text.
Groß-Oktav, 31 Seiten.
Leipzig 1906, Hirzel.
ln einer nach obiger Methode rekonstiarierten, makroskopisch
völlig normalen Tube fand Verf. nicht weniger als drei eebte
Divertikel. Daraus und aus anderen, teils grob anatomischen,
teils mikroskopischen Beobachtungen schließt Kroemer, daß an¬
nähernd ein Drittel sämtlicher Tuben Abnormitäten aufweisen.
Für eine abnorme Einbettung des Eies ist aber Jiur das partielle
Fehlen des Flimmerepithels verantwortlich zu machen; bei gänz¬
lichem Fehlen desselben kann überhaupt ein Transport des Eies
riicht stattfinden. K ei tier.
flus A/ersehiedenen Zeitschriften.
30. Ueber die Behandlung des Magengeschwürs.
Von Prof. Dr. A. Schmidt (städtisches Krankenhaus Friedrich¬
sladt in Dresden). Für die innere Behandlung des Magengeschwürs
hat V. Leu be die „diätetische Rubekur“ empfohlen, welche sich
aus Bettruhe, heißen Umschlägen auf den Magen, strenger Diät
und dem Gebrauche kleiner Mengen Karlsbader Mineralwassers
znsammensetzt. Jeder derartige Kranke gehört für niindestens
zwei bis drei Wochen ins Bett, sagt Verf., bei Neigung zu Blut-
brechen soll der Kranke auch im Bette alle unnötigen Bewegungen
vermeiden, v. Leu be verlangte nur zehn Tage Bettruhe, der
Verfasser geht darin weiter, da der günstige Einfluß der Bett¬
ruhe auf das Ulcus ventriculi feststehe. Bei frischen Blutungen
wird ein Eisbeutel auf die Magengegend appliziert, sind schon
drei Monate seit der letzten Blutung verflossen, ein Prießnilz-
Umschlag; sonst werden allgemein die von v. Leube empfohlenen
heißen Leinsamenumschläge bevorzugt. Sind diese heißen Brei¬
umschläge dem Kranken sehr unangenelrm, so gehe man ungc-
scheut zum anderen Extrem, der Eisblase, über. Die heißen Um¬
schläge läßt Schmidt nicht dauernd, sondern mit stundenweisen
Unterbrechungen applizieren, um den Eintritt einer Stase zu
vermeiden. Der Verfasser teilt sodann die v. Leubesche, von
Penzoldt noch weiter ausgebaute strenge Speiseonlnung mit,
erwähnt die Vorschläge von Lenhartz in Hamburg (sofortige
Darreichung einer eiweißreichen konzentrierten Kost, wie : zwei
geschlagene rohe Eier mit etwas Wein gequirlt und gekühlt, dazu
200 g Milch, rasches Ansteigen) und von Senator (Darreichimg
von Leim, Gelatine mit Fett und Zucker neben geringen Eiweiß,
z. B. Kalbfuß- oder Huhngelee oder Decoct. gelatinae, dann Sahne
oder Mandelmilch oder gefrorene Butterkügelchen) und äußert
sich hierüber: ,,Die Hauptvorteile der Le n h a r tz sehen und
Senator sehen Vorschläge liegen darin, daß sie uns von der
allzu schematischen Verfolgung des v. Leu besehen Speisezettels
entwöhnen. Bleiben wir ruhig bei dem Schonungsprinzip, worauf
er aufgebaut, aber erweitern wir die Kost, wo es irgend angängig
ist und besonders da, wo die Kräfte es erfordern, frühzeitiger, als
es von V. Leube vorgeschrieben ist, durch Zulage von Eiern,
Gelatine, Butter, Sahne, Mandelmilch, Zucker, etwas Wein, meinet¬
wegen auch von Milchreis. Mit Hackfleisch und geschabtem
Schinken (welchen Lenhartz in der IMenge von 35 g schon am
sechsten Tage gestattet) seien wir aber vorsichtig: das rohe
Bindegewebe stellt an die Verdauungskraft des Magens die größten
Ansprüche von allen Nahrungsmitteln!“ Bei Lenhartz’ Diät
erkennt Schmidt den Hauptpunkt, die Vermeidung der Unter¬
ernährung, für berechtigt an, hat aber gegen sie (mit Minkowski)
Bedenken bei frischen Blutungen und zieht bei höheren Graden
von überschüssiger Salzsäureabscheidung eine kohlehydratreiche
Schonungsdiät vor. Er begrüßt auch die Senat or sehen Vor¬
schläge und sieht in der Darreichung von Leim, Mandelmilch und
gefrorezier Butter eine Erweiterung der Ulkusdiät, glaubt aber nicht,
daß die im Magen verflüssigte Gelatine ebenso blutstillend wirke,
als die unverändert in die Blutbahn eingebrachte Gelatine, ln
arzneilicher Hinsicht billigt Schmidt die v. Leubesche Ver¬
ordnung von täglich einem Glas Karlsbader Mühlbrunnen (früh,
nüchtern, schluckweise und warm), hält sodann die Kußmaul-
sche Wismutbehandlung (durch die Schlundsonde werden alle zwei
Tage 10 bis 20 g Bismut. subnitric. in 200 cm® Wasser in den
vorher gereinigten Magen eingelassen, das Wasser nach einer
Viertelstunde abgelassen oder der Kranke trinkt schnell die obige
Aufschwemmung) während der Ruhekur für entbehrlich, doch
sei ein Versuch unter allen Umständen erlaubt. Die Höllenstein¬
behandlung (Ausspülungen mit lo/oigen Arg. nitric. -Lösungen
mittels Sonde oder Eingabe einer OT°/oigen Lösun.«;, eßlöffelweise
eine Viertelstunde vor dem Essen) eigne sich besonders für die
ambulante Behandlung in der Rekozivaleszenz. Die Genesenen
sollen noch weiter in Beobachtung bleiben, behufs Ueberwachung
der Ernährung, eventuell einer Nachkur in Karlsbad. Treten inner¬
halb kurzer Zeit wiederholte Rückfälle ein (dauernde Magen¬
schmerzen mit Erbrechen, zeitweise völlige Nabrungsabstinenz
und so weiter) und bestehen dabei Hypersekretion und zeitweise
verlangsamte Motilität des Magens, so ist die Gastroenterostomie
(nicht die Exzision des Ulkus) indiziert. Von den Komplikationen
des Ulkus bespricht Verf. vorerst den Eintritt schwerer, respektive
wiederholter Blutungen. Absolute körperliche und geistige Ruhe.
Eisblase auf die IMagengegend, Opium oder Belladonna in Zäpf-
chenforni, wenn der Kranke stark aufgeregt ist oder Brechreiz
zeigt, im Anfänge absolute Enthaltung der Nahrungsaufnahme,
eventuell, bei großem Durste, Eispillen; Ernährung per Klysma;
der Arzt kümmere sich selbst um die Herstellung der Nähr¬
flüssigkeit. Später eisgekühlte Milch, eiskaltes Fleiscbgelee etc.
Per OS kann man Plumb, acetic, (zweistündlich Ü-Ü5 g in Pul¬
vern) oder Adrenalin (l bis 2 cm® der 01°/'oigen Lösung) geben,
mehr zu em])fehlen sind Ergotininjektionen (Ergotin 20, Aquae
und Glyzerin ana 5-0, zweistündlich eine Spritze) oder Gelatine¬
einspritzungen. Berieselungen des blutenden Älagens mit Eis-
112
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr, 4
Wasser oder Eingießungen von Wismutaufschwemmungen sind
nicht angezeigt. Bei wiederholten und schweren Blutungen be¬
rate man sich mit einem Chirurgen wegen einer etwa indizierten
Operation, wiewohl im allgemeinen die Chancen einer Heilung
durch operativen Eingriff (Unterbindung der blutenden Gefäße,
Kauterisation, Exzision des Geschwüres oder Gastroenterostomie)
hier nicht groß sind. Bei drohender Perforation des Geschwürs
(deutliche peritonitische Reizerscheinungen, Hörbarwerden von
Reibegeräuschen in der Oherbauchgegend) ist, sowie bei erfolgter
Perforation oder bei Verdacht auf solcher, die sofortige Opera¬
tion angezeigt. Desgleichen wird man beim Fortbestehen der
für Ulkus charakteristischen Symptome nach erfolgloser Anwen¬
dung der innerlichen Behandlung, ferner bei Pylorusstenosen mit
einer motorischen Insuffizienz zweiten Grades (bei leichteren
Graden der Passagebehinderung kann man zuwarten, die Diät
strenge regeln, regelmäßige Spülungen vornehmen lassen) zum
Messer greifen müssen. Oft sind hiefür die äußeren Verhältnisse
des Kranken maßgebend. Fläcbenbafte oder strangförmige Ver¬
wachsungen des Magens mit den Nachbarorganen, sog. perigastri-
tische Adhäsionen, deren Diagnose zumeist recht schwierig ist,
können ebenfalls nur auf chirurgischem Wege beseitigt werden.
— (Deutsche med. Wochenschrift 1906, Nr. 47.) E. F.
*
31. Ueber Hyper azi di tät. Von Priv.-Doz. E. Schütz
in Wien. Nachdem Verf. den Wert der gegenwärtig üblichen.
Mageninhaltsprüfung für die Beurteilung der Aziditätsverhältnisse
auf Grund einer kritischen Sichtung der Literatur und eigener
Untersuchungen erörtert und die bei dieser Methode zu berück¬
sichtigenden Kautelen eingehend besprochen, geht er zur Frage
der Feststellung der normalen Aziditätsgrenzen über. Zu diesem
Zwecke dienten ihm die Ergebnisse seiner Untersuchung an 830
Kranken. Eine genaue Analyse der Fälle mit Hyperaziditäts-
beschwerden mit und ohne Erhöhung der Azidität und solcher,
bei denen neben hoher Azidität des Mageninhaltes entsprechende
Beschwerden fehlten (die Fälle sind in einer Reihe von Tabellen
übersichtlich zusammengestellt), führte ihn zu folgenden Er¬
gebnissen. Als hyperazid ist jener Mageninhalt anzusehen, dessen
Säurewert für A (eine Stunde nach Verabreichung eines PF)
über 75 liegt. Unter den Fällen mit Hyperaziditätswerten zeigt
nur die Minderzahl Hyperaziditätsbeschwerden; solche kommen
auch, wenn auch nicht allzuoft, bei nicht Hyperaziden, zuweilen
auch bei subaziden A -werten zur Beobachtung. Dort, wo solche
Beschwerden auftreten, sind in der Mehrzahl der Fälle ander¬
weitige Komplikationen von seiten des Magens (besonders Katarrh,
durch Insuffizienz) oder der Verdauungsorgane überhaupt vor¬
handen; besonders häufig zeigt der Mageninhalt in solchen Fällen
gewisse Anomalien (reichliche Menge, schlechte Chymifizierung).
Die Analyse des Mageninhaltes in Fällen, wo neben niedrigen
Aziditätswerten Hyperaziditätsbeschwerden auftreten, gab in
keinem Falle Anhaltspunkte für die Annahme einer sogenannten
„Hyperaciditas larv^ata“. Die Hyperazidität des Mageninhaltes spielt
bei Entstehung der Hyperaziditätsbeschwerden nur eine unter¬
geordnete Rolle; deren Zustandekommen ist vermutlich durch ein
Aufsteigen des Mageninhaltes in den Oesophagus durch reflek¬
torische Erweiterung der Kardia, infolge von Reizzuständen der
IMagenschleimhaut oder durch Erschlaffung der Kardia bedingt.
Unter allen Umständen erfordert jedoch das Vorhandensein einer
Hyperazidität aus prophylaktischen Gränden Berücksichtigung.
Zur besseren Charakterisierung der Fälle empfiehlt Schütz
die Bezeichnung „Hyperaziditas“ dort, wo es sich um eine ein¬
fache Hyperazidität des Mageninhaltes, ohne nachweisbare ana¬
tomische oder funktionelle Anomalien, von seiten des Älagens
und ohne typische Beschwerden handelt; dort wo erstere neben
Hyperazidität vorhanden sind, ist zu der entsprechenden diagnosti¬
schen Bezeichnung „cum Hyperac.“ hinzuzufügen; bei vorhan¬
denen Hyperaziditätsbeschwerden ohne nachweisbare sonstige ana-
tomisebe und funktionelle Anomalien ist die Bezeichnung „Dys¬
pepsia acida“, bei gleichzeitiger Hyperazidität „Dyspepsia hyper-
acida“ zu wählen. — (Wiener med. Wochenschrift 1906, Nr. 46
bis 49.) Pi,
♦
32. Einige Bemerkungen über die skro tum ähn¬
liche Beschaffenheit der Zunge. Von L. Dubreuil-
Chambardel, Die erwähnte Beschaffenheit der Zunge ist durch
das Vorhandensein tiefer, symmetrischer Furchen an der Dorsal¬
seite der Zunge gekennzeichnet, wodurch diese ein gerunzeltes
Aussehen, ähnlich wie die Skrotalhaut, annimmt. Man muß
zwischen der pathologischen Furchenbildung an der Zunge, im
Gefolge von Karzinom, Syphilis, Tuberkulose, Exanthemen und
den physiologischen Furchen, die sich bei der Mehrzahl der er¬
wachsenen Personen vorfinden und namentlich zu beiden Seiten
der Medianfurche ausgeprägt sind, unterscheiden. Von diesen
beiden Typen unterscheidet sich die skrotale Zunge durch die
Symmetrie und Tiefe der Furchen, durch deren Vorhandensein
an der ganzen Oberfläche des Organs und die Einkerbungen der
Zungenränder. Man kann hier einen blattartigen, transversalen
und gehirnrindenartigen Typus je nach der Anordnung und dem
Verlaufe der Furchen unterscheiden. Die skrotale Zunge zeigt
häufig eine Hypertrophie der Papillen, jedoch steht diese nicht
im Zusammenhang mit der Genese des Zustandes. Die skrotale
Zunge zeigt lebhafte Rötung, sowie abnorme Breite und Ab¬
flachung. Ebenso ist der Unterkiefer stark verbreitert, die Zähne
meist von sehr guter Beschaffenheit und regelmäßiger Anordnung,
die Speicheldrüsen sind hyper frophisch und die Speichelsekretion
vermehrt. In einzelnen Fällen wurde auch eine Hypertrophie
der Tränendrüsen beobachtet. Die skrotale Zunge steht in keinem
Zusammenhang mit pathologischer Heredität, dagegen wurden,
wie bei allen anatomischen Variationen, welche den Charakter
der Rückbildung tragen, ein günstiger Boden für Erkrankungen
des Organs, z. B. Aphthen, Leukoplakie^ Glossitis und Soor ge¬
schaffen. Die skrotale Zunge ist eine hereditäre tmd familiäre
Erkrankung, über deren Ursache nichts näheres bekannt ist. Auch
über die Histologie ist mangels einschlägiger Untersuchungen
nichts Näheres bekannt. Aufschlüsse sind am ehesten von der
Embryologie und vergleichenden Anatomie zu erwarten. — (Ar¬
chiv-. gen. de Med. 1906, Nr. 44.) a. e.
*
33. Aus der psychiatrischen Klinik in Freiburg i. B. (Pro¬
fessor Hoebe). Zur Frage der amnestischen Aphasie
und ihrer Abgrenzung gegenüber der transkortika¬
len und glossopsychischen Aphasie. Von Dr. Kurt
Goldstein, jetzt Assistenzarzt an der psychiatrischen Klinik
in Königsberg. An der Hand eines Falles, der das ziemlich
reine Bild einer amnestischen Aphasie im Sinne von Titres
bietet u. zw. wabrscheinlich auf der anatomischen Basis einer
allgemeinen Hirnatrophie erörtert Go Id stein das Wesen der
amnestischen Aphasie, bei der sich als einziges Symptom die
erschwerte Wortfindung bei erhaltenem Wiedererkennen ergibt,
während Wortbegriff und Objektbegriff intakt sind. Die drei
Aphasien : amnestische, transkortikale und glossopsychische, unter¬
scheiden sich einerseits durch die einer jeden derselben eigene
Art der Amnesie und ferner durch die Differenz der Störung
des Lesens und Schreibens. Bei transkortikaler Aphasie kommt
die Amnesie vorwiegend in der Verwendung von Worten, die zu
weiten Begriffen entsprechen, zum Ausdruck. Der glossopsychisch
Aphasische bringt die Worte wesentlich verstümmelt und para-
phasisch heraus, während der eigentlich amnestisch Aphasische
sich \delerlei Umschreibungen bedient. Bei der transkortikalen
Aphasie mangelt das Verständnis für Gelesenes oder auch Diktat¬
geschriebenes, es mangelt die Auffassung der Buchs tabenfonuen.
Bei der glossopsychischen Aphasie werden beim Lesen und
Schreiben die Buchstaben verwechselt; Worten gegenüber kommt
diese Stönmg noch stärker zum Ausdruck als bei einzelnen
Buchstaben, bei der amnestischen Aphasie sind die Schreib- und
Lesestörungen selten, betreffen am meisten das Schreiben und
sind dadurch charakterisiert, daß sie das Lesen und Schreiben
von Buchstaben weit mehr alterieren als das von Worten. —
(Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 41, H. 3.)
S.
*
34. (Aus der 11. medizinischen Klinik in Berlin.) Die Todes¬
ursache bei akuten Pankreaserkrankungen. Von Doktor
G. V. Bergmann. Den Ausgangspunkt für die Forschungen
V. Bergmanns über die Todesursache bei akuten Pankreas¬
erkrankungen bilden die Resultate der Arbeiten Gulekes, wel¬
cher durch künstliche Embolien und durch Injektionen verschie-
Nr. 4
113
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
dener Flüssigkeiten in den Hauptausführungsgang des Pankreas
am Tiere eine Pankfeaserkrankung (im wesentlichen Pankreas¬
nekrose) erzeugte, welche sowohl durch den Krankheitsverlauf,
als durch den pathologisch-anatomischen Befund der akuten Pan-
kreashämorrhagie des Menschen an die Seite zu stellen ist. Aus
weiteren Experimenten Gulekcs ergeben sich nämlich folgende
Schlüsse: 1. Es wird eine tödliche Wirkung ausgeübt vom Pan¬
kreas, das im Körper schnell nekrotisch zugrunde geht und zwar
gleichgültig, ob es das körpereigene Pankreas ist, in dem durch
das Experiment der Zerfall ausgelöst wird, oder ob das steril
gewonnene Pankreas eines anderen Hundes, in die Bauchhöhle
implantiert, der Nekrose verfällt. 2. Die zerfallende Drüse wirkt
im allgemeinen giftiger, wenn sie tätig gewesen, als wenn sie
geruht hatte. Die Arbeiten Gulekes wiesen also auf die Auf¬
fassung einer Intoxikation durch Pankreaszerfall hin. v. Berg¬
mann suchte nun durch seine, in Gemeinschaft mit Guleke
angestellten Experimente Aufschluß über die Natur des schädi¬
genden Agens zu gewinnen. Naheliegend war es, dasselbe zu¬
nächst im Trypsin zu suchen. Indes erlaubten die Ergebnisse
der Untersuchungen nicht, ein Urteil darüber auszusprechen, daß
Fermente, Profermente oder ähnliche Körper einen Zusammen¬
hang haben mit Giftigkeit und Immunität (welche sich gegen
die fragliche, schädliche Noxe erzeugen ließ durch entsprechende
Vorbehandlung). Dagegen läßt sich mit Sicherheit behaupten:
Die giftige Noxe ist enthalten oder entsteht in gleicher Weise im
frischen oder kranken Pankreas, im Pankreassekret und im Trypsin
Grübler (welches künstliche Präparat allein verwendet wurde).
Hunde, die mit den käuflichen Trypsinpräparaten vorbehandelt
sind, erweisen sich als immun, wenn eine Autodigestion des
Pankreas sich in ihrem Körper vollzieht, sei eis als akute Pan¬
kreatitis ihres eigenen Organs, sei es als Implantation eines
körperfremden Pankreas. In analoger Weise ist also jedenfalls
anzunehmen, daß vom Pankreas selbst die akute tödliche Ver¬
giftung ausgeht, an der viele Kranke mit akuter Pankreatitis und
Pankreasapoplexie zugrunde gehen, daß es sich also um eine
echte Autointoxikation handelt, gegen welche es vielleicht einen
Schutz auch beim Menschen durch vorbehandelnde Einspritzungen
geben kann. — (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und
Therapie, Bd. 3, H. 2.) K. S.
*
35. Aus dem kgl. Institut für Infektionskrankheiten zu Berlin
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Gaffky). Ueber das Vorhan¬
densein von Antituberkulin im tuberkulösen Ge¬
webe. Von Prof. Dr. A. Wassermann, Ab teilungs Vorsteher am
Institut für Infektionskrankheiten und Dr. C. Bruck, früherem
Assistenten am Institut, jetzigem Assistenten der kgl. dermatologi¬
schen Universitätsklinik in Breslau. Die beiden Verfasser sind
auf Grund früherer Versuche zu dem Schlüsse gelangt, daß im
tuberkulösen Gewebe Tuberkulin und beim Vorhandensein noch
reaktionsfähigen Gewebes als Reaktionsprodukt Antituberkulin sich
nachweisen läßt. Diesen Schluß machten sie deshalb, weil 1. der
Extrakt von tuberkulösen Organen, gemischt mit Serum von Tieren,
welche mit Tuberkelbazillenpräparaten vorbehandelt waren, Kom¬
plementbindung ergibt (Tuberkulinnachweis) und weil 2. der gleiche
Extrakt, mit dem entgegengesetzten Agens, d. h. Tuberkulin, ver¬
setzt, das gleiche Phänomen zeigt (Antituberkulirinachweis). Die
Verfasser sehen in der Anwesenheit eines Antikörpers gegenüber
Stoffwechselprodukten der Tuberkelbazillen (Tuberkulin) die Ur¬
sache für die spezifische Ueberempfindlichkeit des tuberkulösen
Gewebes im Vergleiche mit dem noraialen, gegenüber dem Tuber¬
kulin. Bail und seine Schüler dagegen stehen auf dem Stand¬
punkt, daß im tuberkulösen Organ Tuberkulin vorhanden sei,
daß aber nur dieses bei der Tuberkulinwirkung eine Rolle spiele,
indem das neu injizierte Tuberkulin sich zu dem, ursprünglich!
vorhandenen summiere und dadurch die Reaktion auslöse. Der
Unterschied ist: Die Verfasser sehen die Spezifität der Wirkung
in der natürlichen Avidität zwischen Antikörper und Tuberkulin ;
Bail und seine Schüler in einer Sunmiierung gleichartiger Sub¬
stanzen. Bail ließ nun durch Weil und Nakajama die gleichen
Versuche der • Verfasser ausführen. Diese Autoren sind nun der
Ansicht, daß Antituberkulin bis jetzt nur dann nachgewiesen ist,
wenn der betreffende Organismus mit Tuberkulin vorbehandelt
ist, daß aber die spontane Bildung von Anütuberkulin während
der tuberkulösen Infektion, wie die Verfasser es behaupten, nicht
bewiesen sei. Es obliegt also den Verfassern die Pflicht, zu be¬
weisen, daß auch in dem nicht spezifisch behandelten, tuber¬
kulösen Organismus sich Antituberkulin findet. In ihrer früheren
Arbeit haben die Verfasser das Antituberkulin im Serum nur bei
Rindern und Meerschweinchen, nicht aber beim Menschen nach¬
gewiesen. 13 darauf untersuchte, nicht spezifisch vorbehandel te,
tuberkulöse Menscben zeigten im Serum kein Antituberkulin.
Spätere Untersuchungen aber von Wassermann und Citron
an tuberkulösen, nicht spezifisch behandelten Menschen haben
in ihrem Serum Anütuberkulin gezeigt. In einem Falle fand sich
eine derartige Anhäufung von Anütuberkulin im Serum und
Pleuraexsudat, daß rein rechnerisch schon jeder Einwand der
Summierung auszuschließen ist. Aus dem beigegebenen Proto¬
koll geht hervor, daß selbst 0-04 cm* Tuberkulin mit 005 cm*
Serum noch die Reaküon ergaben, während OT cm* Tuberkulin
für sich allein noch lücht hemmt. Die Verfasser verfügen über
einen zweiten, niemals mit Tuberkulin behandelten Fall, bei dem
sie die Richtigkeit ihres Schlusses auf Vorhandensein von Anü¬
tuberkulin im Serum, durch die nachträgliche reaktionslose In¬
jektion von 10 mg Tuberkulin erhärteten. Demgemäß gelingt es
auch, im Serum nicht spezifisch behandelter, an ausgebreiteter
Tuberkulose leidender Menschen in einzelnen Fällen dieselben
Stoffe nachzuweisen, wie in dem Serum spezifisch behandelter,
i. e. Antituberkulin. Es ist deshalb nach Ansicht der Verfasser
experimentell bewiesen, daß im tuberkulösen Gewebe in einem
gewissen Stadium Antituberkulin vorhanden ist. — (Münchener
mediz. Wochenschrift 1906, Nr. 49.) ' G.
♦
36. Aus der I. cliir. Universitätsklinik in Wien (Professor
Freiherr v. Eiseisberg). Ein seltener Fall von Stenose
des Magens und des obersten Dünndarmes. Von Doktor
Hans V. Haberer, Assistent der Klinik. Bei einer 35jährigen,
auf Phthisis pulm. verdächtigen Patientin, bestanden seit drei
Vierteljahren Magen-Danubeschwerden (Obstipation, seit sechs
Wochen heftiges Erbrechen fester Speisen, Körpergewichts¬
abnahme). Nach Annahme einer Magen - Darmstenose wurde
Pat. am 2. September 1905 laparotomiert. Als Befund ergab sich
hochgradige Verengerung des Pylorus durch einen, den Magen
in einer Länge von 7 cm einnehmenden Tmnor, der mit Pan¬
kreas und Duodenum verwachsen war; ferner ein Tumor der
obersten Dünndarinschlinge, die durch denselben zirkular hoch¬
gradig verengt, mächtig auf ge trieben war. Weiters zaldreiche bis
walnußgroße Drüsen im dazugehörigen Mesenterium. Durch eine
breite Gastroenterostomia antecolica anterior und eine breite late¬
rale Enteroanastomose zwischen den zu- und abführenden
Schenkeln gelang es, beide strikturierenden Tumoren auszu¬
schalten. Per exclusionem wurde (nachdem nur eine makrosko¬
pische Betrachtung möglich war und die histologische Unter¬
suchung einer Mesenterialdrüse nichts Positives ergab), eine
Magen- Darmtuberkulose angenommen. Nachdem die Patientin
durch 7V2 Monate post Operationen! frei von allen Beschwerden
war, stellte sich neuerdings heftiges Erbrechen von nur gallig¬
wässerigem Magensaft ein; Nahrungsteile wurden nicht er¬
brochen. Gleichzeitig wurde wiederholt Darmsteifung im linken
Hypochondrium beobachtet. Auf dringlichen Wunsch wurde die
Patientin, die durch das Erbrechen der galligen Vlassen arg ge¬
quält war, am 21. März 1906 relaparotomiert. Es ergab sich: gute
Funktion der Gastroenteroanastomose, die mesenterialen Drüsen
waren wesentlich verkleinert; dasselbe schien bei dem Magen¬
tumor der Fall zu sein; hingegen besteht zwischen dem aus¬
geschalteten Darmtunior und dem Duodenum eine bandartige Ver¬
wachsung, wodurch letzteres komprimiert wurde; der Darmtumor
selbst war gegenüber dem ersten Operationsbefund deutlich ver¬
kleinert. Es wurde, da Gallen- und Magensaftabfluß durch die be¬
stehenden Anastomosen gesichert waren, der Darmabschnitt samt
zugehörigen Tumor (von der Gastroenterostomie, bis herab zur
Enteroanastomose) reseziert; die Enden blind vernäht. Die histo¬
logische Untersuchung ergab Lymphosarkom. Pat. verträgt nach
der Operation alle Speisen und hat sechs Wochen post Operationen!
an Körpergewicht zugenommen. Der Fall ist besonders des dia¬
gnostischen Interesses wegen mitgeteilt, zumal Lymphosarkom
als seltene Ursache, hochgradiger Stenosen anfangs ausgeschlossen
114
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
werden iimßle. Außerdein liegt eine Hestäligung der wiederholt
gemachten Beohachtnng, daß Lymphosarkome nach palliativen
Eingriffen sich teilweise rückbilden, vor. — (Mitteilungen aus
den Grenzgehielen der Medizin und Chirurgie 1906, Bd. XI I,
11. 3.) 1- II-
*
37. 1* a t h o 1 0 g i s c h - a Ji a t o m i s c h e V e r ä n d e r u n g e n
des Gehirns hei Lepra, L e p r a b a z i 1 1 e n i n Gasse r-
schen Ganglien und über die Anatomie und Patho¬
logie der Nervenzellen des Gehirns im allgemeinen.
Von Dr. med. Hugo Stahlberg, praktischer Arzt in Oger hei
Riga (Livland). Auf Grund seiner umfangreichen Untersuchun¬
gen kommt Stalilberg zu dem Schlüsse, daß der Befund von
Leprabazillen im Großhirn, Kleinhirn und in der Äledulla oblongata
nicht häufig ist. Sowohl die tuberöse, als die Nervenlepra führen
zu degenerativen Veränderungen im Gehirn, die sich an Nerven¬
zellen, wie an Nervenfasern abspielen. Diese Veränderungen am
Gehirn haben keinen spezifischen Charakter und dürften auch
hei anderen schweren Infektionskrankheiten zu finden sein.
Dringen Leprabazilien in Nervenzellen des Ganglion Gasseri, so
kommt es zu einer Art vakuolärer Degeneration, welche den
Untergang der Zellen herbeiführt. — (Archiv für Psychiatric
und Nervenkrankheiten, Bd. 41, H. 2 und 3.) S.
♦
38. Zur Präventivimpfung bei Tetanus. Von
E. Bär, Assistenzarzt am Kanton-Spiüil Münsterlingen. Die Prä¬
ventivimpfung bat, wie Verf. aus der Literatur nachweist, bis¬
her in 19 Fällen im Stiche gelassen, d. h. es trat Tetanus auf
trotz rechtzeitiger Präventivimpfung. Einen weiteren Fall eigener
Beobachtung teilt Verf. mit. Ein 13V2jähriger Knabe fiel von
einem hohen Baume und erlitt eine komplizierte Vorderarni¬
fraktur, bei welcher das obere Fragment beim Auffallen in den
Boden (Wiese) hineingedrückt wurde. Von einem .\rzte sorg¬
fältig verbunden, war der Kranke schon nach 3V2 Stunden im
Spital, bekam eine Injektion von 10 cm^ Berner Antitetanus¬
serum subkutan in die Bauchgegend und wurde nochmals und
intensiv desinfiziert (Freilegung der ganzen Verletzung, Beriese¬
lung mit Wasserstoffhyperoxyd und Sublimatlösung, daun mit
10,'üiger Kollargollösung, Verband). Trotzdem stiegen schon am
nächsten Tage aus der Wunde Gasblasen auf (Gasphlegmone),
das Sekret war stinkend. Am dritten Tage wird permanente
Irrigation mit H2O2 installiert, am Abend eine zweite Antitetanus¬
injektion (10 cm®) gemacht. WTederholt wird die Wunde erweitert,
werden abgestorbene Teile entfernt. Am achten Tage beginnt
der Tetanus. Exartikulation im Ellbogengelenk, Injektion von
20 cm® Berner Serum, weitere 8 cm® werden in den Operations¬
stumpf hinein, hauptsächlich in das Gebiet der Nerven injiziert.
Am neunten und zehnten Tage wurden wieder je 10 cm® Serum
injiziert. Der Tebanus nimmt an Schwere zu, es stellen sich
Krampfzustände mit Dyspnoe, dann Erstickungsgefühl (de. ein.
Brom, Chloralhydrat, Morphium. Am 16. Tage halbseitiger Schwei߬
friesel. Nun bessert sich allmählich der Zustand, die Starre und
Steifheit gehen zurück, der Kranke genest langisam. ln Münster¬
lingen sowohl, als im hygienischen Institut in Zürich, dem der
amputierte Arm zugeschickt wurde, konnten Tetanusbazillen
nicht nachgewiesen werden, die geimpften Tiere bekamen keinen
Tetanus. Das ist begreiflich, weil die Wunde inzwischen wieder¬
holt energisch desinfiziert worden war. Trotz dreimaliger pro¬
phylaktischer Injektion von je 10 cm® Antitetanusserum ent¬
wickelte sich also am achten Tage nach der Verletzung ein aus¬
gesprochener Starrkrampf, nach Rose ein Tetanus vehemens
incompletus tardior, nach anderer Benennungsweise ein Teta¬
nus descendens chronicus, der einen schweren Verlauf
erwarten ließ, schon mit Rücksicht auf die kurze Inkubations¬
zeit. Fast vier \Vochen lang hielt der Tetanus an, der Verlauf
war aber im ganzen eher ein leichterer, da die Kiefersperre
eine unvollständige war und die Agrypnie fehlte. „W^ar es eine
leichte Art der Infektion, war es die Präventivimpfung, die nach¬
trägliche Serumtherapie, war es die Amputation des verletzten
Armes oder die symptomatische Behandlung mit Nervinis und
Narkotizis, die Fernhaltung aller Reize durch den Aufenthalt
in stillem Dunkelzimmer? Wer will es entscheiden? Einer dieser
Möglichkeiten den Vorzug zu geben, hieße vielleicht eine andere
ungerecht liintausetzen.“ Dei' Verfasser bespricht noch die Älor-
talität in den bisher mit Prävontivimpfung hehandelten Tetanus¬
fällen, die (luantität und Qualität der benützten Seren und schließt,
daß aus seinem Falle hervorgetie, daß auch eine frühzeitigste
und fortgesetzte Injektion von im ganzen 30 cm® Berner Serum
nicht genügte, um Tetanus zu vermeiden. Der Fall lehre ferner,
daß eine minutiöse antiseptische Behandlung bei schwer ver¬
unreinigten, komplizierten Frakturen mit Gelenkseröffnung nicht
imstande sei, die in den Wundnischen verborgenen Infektions¬
keime unschädlich zu machen. Eine Gewebsauffrischung nach
Friedrich könnte hier aber nur in dem Umfange einer pri¬
mären, ausgedehnten Resektion zum Ziele führen. ■ — (Korrespon¬
denzblatt für Schweizer Aerzte 1906, Nr. 23.) E. F.
39. Ueber funktionelle Hypertrophie über¬
pflanzter Schilddrüsens tückchen beim Menschen.
Von Dr. H. Cristiani, o. ö. Professor und Dr. E. Kummer,
Privatdozent an der Universität zu G'enf. Die Beobachtung, welche
den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet, bietet nach
verschiedenen Richtungen ein Interesse. Die beiden Verfasser
betrachten sie nur von der pathologisch-anatomischen Seite. Es
handelt sich um einen Fall von Schilddrüsenübertragung beim
Menschen, wo, für den Menschen zum ersten Male, am trans¬
plantierten Drüsengewebe der Charakter einer regelrechten Hyper¬
trophie nachgewiesen wird. Bei einer 36jährigen Frau, bei der
wegen Kropf fast die ganze Schilddrüse entfernt werden mußte,
sind die unter die Akromialhaut verpflanzten Schilddrüsenpfröpf¬
linge angewachsen und hatten sich regelrecht weiter entwickelt,
ganz so, wie wenn das Drüsengewebe im Zusammenhang mit
dem Mutterboden und der normalen G'efäßversorgung geblieben
wäre. Diese überpflanzten Schilddrüsenstückchen haben nicht
nur weitergeleht, sondern haben sich sehr deutlich vergrößert,
so daß sie drei Jahre nach der Transplantation das mehrfache
ihrer ursprünglichen Grölk? aufwiesen. Eine histologische Unter¬
suchung eines nach drei Jahren exstirpierten Pfröpflings hat ein
mit der normalen SchiMdrüse ganz übereinstimmendes Aussehen.
Es ist ferner ganz außer Zweifel, daß die Pfröpflinge bei
dieser Patientin auch an der Gesamtschilddrüsenfunktion teil-
genommen haben. Schon die experimentellen Kenntnisse der
Verfasser lassen darüber keinen Zweifel. Aber die Erfahrungen
an einer anderen an Cachexia thyreopriva verstorbenen Patientin,
welche am gleichen Tage die gleiche Operation durchgemacht
hatte, bei welcher aber, bei Erhaltung von mehr Schilddrüse als
bei der ersten, eine Schilddrüsenpfropfung unterblieben war, diese
Erfahrung demonstriert die Nützlichkeit der Schilddrüsenpfropfung.
Es erscheint den Verfassern wichtig, darauf hinzuweisen, daß
der Pfröpfling von histologisch normalem Schilddrüsengewebe
eines Kropfes entnommen wurde. Dieser Umstand ist von größter
Wichtigkeit für die Ausführung der Schilddrüsenpfropfung, welche
auf diese Weise in einfacher und leicht zugänglicher Weise aus¬
geführt werden kann. Auf diesen Punkt werden übrigens die
Verfasser nächstens zurückkommen, bei Anlaß einer vergleichen¬
den Untersuchung über die verschiedenen Schilddrüsengewebe,
welche bei den verschiedenen Transplantationen als Pfröpflinge
gedient haben. Die Verfasser erklären zum Schlüsse; ,,Mit der
Methode der Schilddrüsenpfropfung ist es möglich, beim Men¬
schen neue Schilddrüsenorgane zu erzielen, die sich nicht nur
auf die Dauer erhalten und funktionieren, sondern die sich auch
nach und nach vergrößern, so daß kleine Pfröpflinge mit der Zeit
zu Neuschilddrüsen (Glandulae neothyreoideae) von ansehnlicher
Größe anwachsen.“ — (Münchener mediz. Wochenschrift 1906,
Nr. 49.) G.
*
40. Ueber die pneumonische Form der Tuber¬
kulose. Von Ch. Morel und E. Dalous in Toulouse. Die pneu¬
monische Form der Tuberkulose ist ihrem Wesen nach eine
tuberkulöse Bronchopneumonie. Die Infektion kommt in diesen
Fällen durch Aspiration zustande, wodurch Tüberkelbazillen in
großen Massen in die terminalen Bronchien und die Lungen¬
alveolen gelangen; die Aspiration erfolgt sekundär nach Durch¬
bruch eines käsigen Herdes in die Luftwege. Experimentell kann
man bei verschiedenen Tierarten eine analoge Erkrankung durch
intratracheale Einimpfung feinst pulverisierter Kulturen von Tu-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
115
Nr. 4
IjerkellKizillcii liervoirufeii. Aiialouiiscli ist die ])neuinoiiisclio
Fonu der Tuberkulose durch Exsudate in <leu l(*ruiinaleu Broncinoi
und Alveolen charakterisieri, welche rasch der käsigen Degene¬
ration verfallen. Die für die Tuberkel charakteristische Anordnung
der Zellen wird meist in diesen Exsudaten nicht heohachtet, eheirso
fehlen Riesenzellen. Es ist nicht die Erkrankung an sich, sondern
nur der äliologisclie Faktor in diesen Fällen si)ezifi,scli. Die;
Exsudate sind von einer Zone entzündlicher Reaktion um-
gelxui. Die lobulären Formen der tuberkulösen Rronchopneu-
monie sind im Verlaufe der chronischen Tuberkulose häufig.
Die Verstopfung der Bronchien mit tuberkulösen Massen ist auch
die Ursache der sukzessiven Eruption von Tuberkeln in den
Lungen der Phthisiker. — (Arch, gener. de Med. 1906, Nr. 39.)
a. e.
Therapeutisehe |4otizen.
Aus dem städtischen Krankenliause in Ludwigshafen a. Rh.
(Direkt or Dr. Westhoven). U e h e r B e h a n d 1 u n g v o n M a g e n-
u n d Darmblutungen mit flüssiger Gelatine. Von Doktor
.4rtur Mann, früher Assistenzarzt der Anstalt. Verf. hat in der
Zeit vorn 1. Oktober 1905, bis 1. Oktober 1900 in den Fällen
von Magen- und Darmblutungen, welche er zu behandeln Gelegen¬
heit hatte, flüssige Gelatine innerlich gegeben. Dieselbe wurde
genau nach der Vorschrift von Dr. Erich Kolm (Therapie der
Gegenwart 1905) angefertigt, unter Zusatz von 2 g Acid, citric,
und 20 g Syr. cort. aur. auf 200 g Mixtur. Von allen sonst üblichen
Arzneimitteln wurde Abstand genommen. Der damit erzielte Er¬
folg war ein so befriedigender, daß Verf. durch Bekanntmachung
seiner diesbezüglichen Erfahrungen dieser Medikation Eingang
in weitere Kreise wünscht. In den neun mitgeteilten Fällen handelt
es sich meist um Hämatemesis nach Ulcus ventriculi, Darmblu¬
tungen bei Abdominaltyphus, bei Carcinoma ventriculi, bei Dann¬
tuberkulose. Von der Gelatinemixtur wurde zweistündlich ein
Eßlöffel voll verordnet. Nur in einem äußerst schweren Fall
von Abdominaltyphus, in dem die Sektion zahllose Darmgeschwüre
ergab, hatte die Gelatinetherapie natürlich keinen Erfolg, ln den
acht Fällen war die Wirkung der innerlich gegebenen flüssigen
Gelatine eine so prompte und eklatante, daß an dem ursächlichen
Zusammenhang nicht gezweifelt werden kann. Verf. erwähnt noch,
daß selbst in der heißesten Jahreszeit das Mittel sieb während
einiger Tage gut hält und daß es von allen Patienten, denen es
verordnet wurde, gern genommen wurde. — (Münchener niediz.
Wochenschrift 1907, Nr. 1.) G.
J^ekrolog.
Wilhelm Ritt. v. Harte!
den wir heute zu Grabe getragen haben, gehörte zu den gi'ößten
Arbeitskräften, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Un¬
zählige Male hat er meine Bewunderung durch die Raschheit
erweckt, mit der er sich in komplizierten Fragen orientierte.
Dabei konnte er in unmittelbarer Aufeinanderfolge die heterogen¬
sten Dinge behandeln, stets sachgemäß', das ganze einschlägige
Gebiet überblickend.
So kam es, daß er, der Philologe, reiche Spuren seiner
Tätigkeit außer auf dem Felde der humanistischen Wissenschaften
auch auf dem anderer Wissenszweige, auf dem Felde der Künste,
der musikalischen, der sprechenden, der bildenden zurückgelassen
hat, daß er mit großartigem Erfolge in die Organisation der Be¬
triebe bei dieser Betätigung menschlicher Ideale eingreifen konnte,
ganz abgesehen von seinen politischen Leistungen als Herren¬
hausmitglied, Beamter und Minister. Es wäre zu erwarten ge¬
wesen, daß diese weitausgreifende Tätigkeit den Mann nervös
gemacht hätte. Trotzdem glaube ich nicht, daß man ihn jemals
in solchem Zustande gesehen hat. Ein Meister der Sparsamkeit
an Zeit, erschien er stets ruhig und ganz bei der Sache, fand auch
immer noch reichlich Muße, anregende und heitere Geselligkeit
zu pflegen. Eine Sitzung, der er präsidierte, erledigte die Tages¬
ordnung, dank der Präzision seiner Leitung und seines nüch¬
ternen Blickes für das Durchführbare in der Hälfte der Zeit, in der
es unter einem anderen Präsidium geschehen wäre. Schon vor
Jahren im Professorenkollegium, später so häufig in Kommissions¬
oder Plenarsitzungen der Akademie der Wissenschaften und bei |
zahlreiclien anderen Beralungen, konnte jnan sehen, wie er bei
dem Gegeneinanderprallen der Meinungen immer wieder einen
Ausweg fand, durch welchen das Stocken der Verhandlungen b(v
hoben und diese wieder auf gangbare Bahnen geleitet wurden.
Diesem seinen Geschick in der nach allen Riehl ungen aus¬
greifenden Tätigkeit verdankt auch die Wiener Aerztesebaft jene
Leistung, durch welche er sich in unserem Gedächtnis ein impo¬
santes Denkmal gesetzt und welche die k. k. Gesellschaft derAerzte
seinerzeit veranlaßt hat, ihm die größte Ehre zu erweisen, über
die sie verfügt : ihn zum Ehrenmitglied zu erwählen. Ich meine
die endliche Lösung der Krankenhausfrage. Jahrzehntelang wurde
gesprochen und geschrieben, wurden Akten gewechselt, ohne daß
es bei der entsetzlichen Kompliziertheit der Verhältnisse gelang,
die maßgebenden Faktoren, Unterrichtsministerium, Finanzmini¬
sterium, Land, Stadt und Krankenhausfonds, bzw. Statt halterei
und Ministerium des Innern aus diesem sterilen Vegetieren zu
einer fruchtbringenden Tätigkeit zu erwecken. Durch kluge Mäßi¬
gung und persönliches Eingreifen in vertraulichen Unterredungen
vermochte er die gegensätzlichen Interessen zu vereinen und
die im Jahre 1904 erfolgte Grundsteinlegung zu den neuen Kliniken
war wohl die größte Tat seiner xMinisterperiode.
Diese Zeit, in welcher er teils als Leiter, teils als Minister
an der Spitze der Unterrichtsverwaltung stand, war für ihn keine
leichte. Denn er war in Politizis von Haus aus ein Schwarzseher,
was im vertraulichen Gespräche besonders in der Beurteilung
unserer Nationalitätenschwierigkeiten häufig zum Ausdruck kam.
Und gerade diese Fragen gewinnen in der Unterrichtsverwaltung
täglich praktisclie Bedeutung. Trotzdem half ihm auch hier sein
Geschick, Auswege zu finden, in der Regel über die Schwierig¬
keiten hinweg. Es war aber auch in anderer Beziehung
für ihn schwer. So vorteilhaft es für die Sache ist, wenn ein Mann
an die Spitze des Unterrichtsministeriums tritt, der seit Jahr
zehnten nicht nur als Professor, sondern auch in vielerlei anderen
Stellungen das Getriebe des Unterrichtes mitgemacht und bis in
die kleinsten Details kennen gelernt hat, den Persönlichkeiten
gegenüber wird seine Stellung häufig überaus peinlich.
V. Hartei hat in dieser Zeit mir gegenüber wiederholt ge¬
klagt, daß seine Beziehungen zu seinen alten Freunden und
ehemaligen Kollegen vielfach getrübt seien. Mancher von diesen
glaubt irgendeinen langgehegten Wunsch, sei er nun sachlich
oder persönlich, erfüllt zu sehen, sobald sein altbefreundeter
Kollege das Ministerportefeuille in der Hand hält. Aber auch ein
Minister ist nicht allmächtig, auch mit dem besten Willen waren
nicht alle Wünsche auszuführen, manche von ihm nicht weniger
als von den Fachgenossen angestrebte Berufung mißlang, die
Abberufung einzelner hervorragender Männer nach dem Ausland
war nicht hintanzuhalten, die Ausgestaltung dieser und jener
Lehrkanzel vorläufig nicht zu erreichen; und so sah v. Hartei
zu seinem schweren Kummer, daß sich gerade in Professoren¬
kreisen die Stimmung gegen ihn wendete und trotz vieler zum
Vorteil der Unterrichtsanstalten und des Unterrichtspersonals er¬
griffener Maßregeln — ich erinnere an die unscheinbare Ver¬
leihung des ,, Charakters“ zum Hofrats titel der Professoren, wo¬
durch den Witwen die höhere Pensionsstufe gesichert wurde —
sich lange so erhielt. Erst in der letzten Zeit seiner Minister¬
laufbahn besserte sich dieses Verhältnis wieder.
Wenn in solchen Zeiten gegen den ehemaligen Kollegen Vor¬
würfe erhoben wurden und man ihn des Wandels seiner Ge¬
sinnung, wohl auch seines persönlichen Verhaltens zieh, so muß
ich, der ich ihn seit dem Ende der Sechzigerjahre kannte, ander¬
seits sa.gen, daß ich ihn als Privatdozent, Professor, Sektionschef,
Vlinister, als Mitglied wie als Vizepräsident der Akademie, im
Sitzungssaal und im Salon, in der Bauernstube meiner I^and-
wohnung und in dem Prunksaal bei einem Hofempfang immer als
den gleichen gefunden habe: jeden Ausdruck lebhafter Empfin¬
dungen vermeidend, zu ernstem und sachlichem Gespräch stets
geneigt, anregend und belehrend, jederzeit bereit, der Sache und
nicht minder in anspruchslosem Wohlwollen Personen zu dienen;
so war sein Leben ein ernstes und nützliches.
W'ien, den 17. Januar 1907.
Sigmund Exner.
Vermisehte flaehriehten.
Ernannt: Landessanitätsinspektor Dr. Julius Löcker zum
Statthaltereirat und Landessanitätsreferenten, bei der Statthalterei
in Linz. — Dr. Vanderstraeten zum Professor der Augenheil¬
kunde in Löwen. — Dr. Cannon zum Professor der Physiologie
an dör Harvard -Universität in Boston.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
Verliehen: Dein Oberbezirksarzte Dr. Wilhelm Blau in
Baden, anläßlich seiner Versetzung in den Ruhestand, der Titel
eines Ländessanitäteinspektors. — Hof rat Schauta in Wien
das Konunandeurkreuz des Ordens der Krone von Rumänien.
— Dr. Hans Kopf in Marienbad der preußische Rote Adler-Orden
vierter Klasse. — Dr. Leo Klemperer in Karlsbad das Ritter¬
kreuz erster Klasse des schwedischen Wasa -Ordens. — Doktor
Raoul R. V. Wolf in Wien das Ritterkreuz des fürstl. hulgav.
St. Alexander- Ordens. — Dr. Albert Konried in Edlach das
Ritterkreuz zweiter Klasse des herzoglich Sachsen - Erneslinischen
Hausordens.
*
Habilitiert: Dr. Ernst Lesser in Halle a. S. für Phy¬
siologie. — Dr. Stadler für innere Medizin in Leipzig. --
Dr. Hottinger für Urologie in Zürich.
*
Gestorben: Hofrat Dr. Franz Hektor R. v. Arneth in
Wien, ehern. Leibarzt der Großfürstin Helene Paulowna von
Rußland.
♦
Bei der am 15. Januar abgehaltenen Vollversammlung des
Aerz tlichen Vereines im: IX. Bezirk wurden Dr. J. Thenen
zum Obmann, Dr. J. Lamb erg er und Dr. K. Na tan son zu
Obmannstellvertretern, Dr. L. Stolper zum Schriftführer und
Dr. A. Foges zum Kassier gewählt.
♦
Donnerstag, den 24. Januar 1907, umi 7 Uhr abends, findet
im Sitzungssaale der Witwen- und Waisen-Sozietät des Wiener
mediz. Doktorenkollegiunis, Wien I., Rotenturmstraße 19, die
Generalversammlung des Unterstützungsvereines für
Witwen und Waisen jener Mitglieder des Wiener mediz. Doktoren¬
kollegiums, welche in die Witwen- und Waisen-Sozietät nicht
einverleibt waren, statt.
♦
Gar done Riviera am Gardasee als Winterkurort. Von
Dr. K. Koenig er. 5. Auflage. Verlag von J. Springer, Berlin.
Mk. 1-20. •
*
Unter Mitwirkung von Prof. Dr. A. Hoff a in Berlin er¬
scheint im Verlage von S. Karger in Berlin von diesem Monat
ah ein von Prof. Dr. 0. Vulpius in Heidelberg redigiertes Zen-
tralhlatt für chirurgische und mechanische Ortho¬
pädie, einschließlich der Heilgymnastik und Mas¬
sage. Das Zentralblatt stellt sich vor allem die Aufgabe, die
gesamte in- und ausländische Faclüiteratur in ausführlichen Re¬
feraten kurz nach Erscheinen der Originalarbeiten so zu bringen,
daß der Leser aus ihnen über den Inhalt der letzteren völlig
orientiert ist. Zeitweilig sollen kurze Originalarbeiten über aktu¬
elle Fragen, besonders interessante Fälle, technische Neuheiten
und dergleichen, sowie Vereins- und Kongreßberichte veröffent¬
licht werden. Das Zentralblatt erscheint in regelmäßigen Heften
von je ca. 50 Seiten, die am Schlüsse jedes Monats ausgegeben
werden. Der Preis des Jahrgangs ist auf Mk. 15 für das Inland,
Mk. 16-50 für das Ausland festgesetzt.
*
Priv.-Doz. Dr. M. Oppenheim ordiniert I., Schotten¬
ring 28, 1. Stock, von V22 bis 4 Uhr für Haut- und Geschlechts¬
krankheiten. Telephon Nr. 22.116.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im er¬
weiterten Gemeindegebiet. 1. Jahres woche (vom 30. Dezember 1906
bis 5. Januar 1907). Lebend geboren, ehelich 579, unehelich 241, zusammen 820.
Tot geboren, ehelich 43, unehelich 25, zusammen 68. Gesamtzahl der
Todesfälle 713 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
18'9 Todesfälle), an Bauchtyphus 1, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 12,
Scharlach 4, Keuchhusten 0, Diphtherie und Krupp 12, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 2, Lungentuberkulose 110, bösartige Neu¬
bildungen 38, Wochenbettfieber 5. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 35 (-)- 4), Wochenbettfieber 6 (-j- 2), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 103 (-f- 28), Masern 277 ( — 11), Scharlach 77 ( — 11), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 10 (-|-6), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 81 ( — 5), Keuchhusten 31 (-(- 18), Trachom 0 ( — 1),
Influenza 0 (0).
Freie Stellen.
Leopoldstädter Kinderspitalverein. Durch das am
5. 1. M. erfolgte Ableben des Herrn med. univ. Dr. Balthasar Unter-
holzner ist am Leopoldstädter Kinderspitale in Wien die Stelle des
dirigierenden Primararztes in Erledigung gekommen. All¬
fällige Bewerber um diese Stelle werden eingeladen, ihre Gesuche (be¬
legt mit einfachen Abschriften der betreffenden Zeugnisse über Studien
und bisherige Verwendung) längstens bis zum 1. Februar 1907,
mittags 12 Uhr, bei dem Vereinsvorstande Herrn Dr. Konrad Kluger
in Wien IV/2, Favoritenstraße 52, zu überreichen. Später einlan.!ende
Gesuche werden nicht berücksichtigt. Wien, am 11. Januar 19u7. Für
den Ausschuß: Dr. Kluger m. p., Vorstand.
Bei der k. k. Forst- und Domänendireklion in Wien ist die Stelle
eines k. k. Forstarztes lür den Kurbezirk Groß-Reifling
(Steiermark) zu besetzen. Mit der Stelle als k. k. Forstarzt ist ohne An¬
spruch auf Pension eine Jahresbestallung inklusive Reisepauschale von
K 1890, ein Holzdeputat von jährlich 9 rnP harten und 18 rm* weichen
Brennholzes zur Beheizung des Ordinationszimmers und ein Wohnungs¬
relutum von jährlich K 400 seitens der Religionsfonds-Gutsverwaltung
verbunden. Dem Arzte obliegt die unentgeltliche ärztliche Behandlung der
im Kurbezirke, d. i. in dem k. k. Forst- und Domänenverwaltungsbezirke
Groß-Reiflmg (Urisgemeinde Landl, Gams und Palfau) wohnenden Forst-
arbeiterschalt und Provisionisten samt deren Angehörigen, dann des im
Bezirke stationierten Forstschutzpersonales nebst Angehörigen, weiters die
Haltung einer Hausapotheke, aus welcher an die kui berechtigten Personen
die erforderlicnen Medikamente und Verbandstoffe gegen Bezahlung eines
vierteljährigen Pauschalbetrages von K 2 pro Kranken und Quartal seitens
der Religionsfonds-Gutsverwaltung abzugeben sind. Die Bestallung des
Arztes erfolgt auf unbestimmte Dauer unter Vorbehalt einer beiderseitigen
einvierleijährigen Kündigung. Der Antritt der Arztesstelle muß längstens
am 8. April 1907 erfolgen. Bewerber um diese Stelle haben ihre mit K 1
gestempelten Gesuche bei der k. k. Forst- und Domänendireklion in Wien,
XV., Tannengasse 6, u. zw. insofern sie in einer staatlichen Dienstleistung
stehen, im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde unter Beibringung nach¬
stehender Belege in Urschrift oder beglaubigter Abschrift bis 1. März 1907
einzureichen: a) Nachweis über den erlangten Doktorgrad, b) Alters¬
nachweis, c) Nachweis über die österreichische Staatsangehörigkeit,
d) über ihre untadelhafte staatsbürgerliche Haltung, e) amtsärztliches
Zeugnis über ihre physische Eignung und f) Nachweise über praktische
Ausbildung über bisherige ärztliche Tätigkeit. Jene Aerzte, welche neben
einer entsprechenden Spitalspraxis eine besondere Ausbildung in der
operativen Chirurgie und Geburtshilfe nachzuweisen imstande sind,
erhalten den Vorzug vor allen anderen Kompetenten. Auch haben die
Bewerber zu erklären, ob sie diese Stelle längstens zum obigen Termine
vom 8. April 1907 anzutreten imstande sind. K. k. Forst- und Domänen¬
direklion Wien, am 11. Jänner 1907.
Kundmachung. Im Studienjahre 1906/7 kommt ein Dr. Josef
Späth sches Reisestipendium im Betrage von K 3200 zur Ver¬
leihung, Anspruch auf den Genuß dieses Stipendiums haben kurz zuvor
an der Wiener Universität promovierte Doktoren der gesamten Heilkunde
ohne Unterschied der Konfession, welche in einem der im Reichsrate ver¬
tretenen Königreiche und Länder geboren und ihre deutsche Nationalität
nachzuweisen imstande sind. Von den Bewerbern erhalten jene den Vor¬
zug, welche ihr ernstes wissenschaftliches Streben und ihre sittliche Auf¬
führung während der Studienzeit, sowie insbesondere auch vorzügliche
Rigorosenkalküle aufzuweisen haben. Die Angehörigen Tirols erhalten bei
nachgewiesener Mittellosigkeit und gleicher Wür igkeit vor den anderen
Bewerbern den Vorzug. Die Auszahlung dieses Reisestipendiums geschieht
in zwei Hälften, wovon die eine sogleich, die andeie dann zu erfolgen
hat, sobald der Stipendist bei dem Professorenkollegium den Nachweis
erbracht hat, daß er die empfangene Unterstützung tatsächlich zur weiteren
Ausbildung verwendet hat. Die Bewerber um dieses Reisestipendium
wollen ihre an das Professorenkollegium der medizinischen Fakultät zn
Wien gerichteten, mit den aus den obigen Daten sich ergebenden legalen
Nachweisen belegten Gesuche bis 28. Februar 1907 beim Dekanate der
medizinischen Fakudät einbringen. Wien, am 15. Januar 1907.
Im Verwaltungsgebiete der k. k. niederösterreichischen Statthallerei
gelangt eine Oberbezirksarztes-, beziehungsweise Bezirks¬
arztes-, beziehungsweise Sanilätskonzipistenstelle mit den
Bezügen der VIII., beziehungsweise IX. und X. Ranssklasse zur Besetzung.
Bewerber haben ihre vollständig instruieiten Gesuche bis spätestens
20. Februar 1907 beim k. k. Statlhaltereipräsidium und im öffent¬
lichen Dienste stehende Kompetenten im Wege ihrer Vorgesetzten
Behörde zu überreichen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Schön¬
wald (Bezirk Aussig, Böhmen), umfassend die Gemeinden: Schön wald
mit Jungferndorf, Streckenwald mit Adolfsgrün, Ebersdorf und Nollen-
dorf mit 3161 Einwohnern und dem Amtssitze in Schönwald. Gehalt
K 1200, Reisepauschale K 180. Bewerber deutscher Nationalität haben
ihre mit dem Nachweise der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Be¬
rechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis, der moralischen Un¬
bescholtenheit und physischen Tauglichkeit belegten Gesuche bis
31. Jänner 1. J. beim Bezirksausschuß in Karbitz einzubringen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdislrikt Bensen A,
(Böhmen) mit dem Sitze in Bensen, bestehend aus den Ortsgemeinden
Bensen, Franzenf-thal, Hermersdorf, Voitsdorf, Groß-Wöhlen und Klein-
Wöhlen mit 7747 Einwohnern. Falls jedoch diese Stelle einem Ueber-
selzungsbewerber verliehen würde, so gelangt gleichzeitig die Stelle des
Distriktsarztes für den Sanitätsdistrikt Bensen B zur Ausschreibung,
web hem die Gemeinden Habendorf, Nieder Ebersdorf, Ober-Ebersdorf,
Groß-Bocken, Klein-Bocken mit 4163 Einwohnern zugeteilt sind. Für
jeden dieser beiden Dienstposten beträgt der Gehalt K 800 und das
Dienstreisepauschale K 160. Die Bewerber hiefür haben ihre Gesuche
bis 3 . Jänner 1. J. beim Bezirksausschüsse in Bensen einzubringen
und denselben die Nachweise über die Berechtigung zur Ausübung der
ärztlichen Praxis, über den Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft,
sowie über die moralische Unbescholtenheit beizuschließen. Mit der Ver¬
leihung dieser Dienststellen ist die Verpflichtung zur unentgeltlichen
Behandlung der Ortsarmen in den betreffenden Gemeinden verbunden.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
117
Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften nnd Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 18. Januar 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 10. Januar 1907.
Wiener dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 21. November 1906.
Wiener laryugologische Gesellschaft. Sitzung vom Dezember 1906.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 18. Januar 1907.
Vorsitzender: Prof. Ed. Lang.
Schriftführer: Dr. Fritz Hitschmann.
Präsident Hofrat Chrohak hält dom verstorhenen Ehrcn-
mitgliede Exzellenz Dr. Wilhelm Ritter v. Härtel, einen wann
empfundenen Nachruf, worin er dessen Verdienste um den Neu¬
bau der klinischen Anstalten hervorhebt.
Der Vorsitzende verliest ein eingelangtes Dankschreiben
der Familie U n t e r h o 1 z n e r, für die Beileidskimdgebung von
seiten der k. k. Gesellschaft der Aerzte.
Dr. Otto V. Frisch stellt einige Fälle aus der Klinik des
Hofrales v. Eiseisberg vor, an welchen die Sehnennaht
nach Lange ausgeführt wurde. (Erscheint ausführlich in dieser
Zeitschrift.)
Dr. Martin Engländer ; Der H a r n t e m p e r a t u r ei n-
fache Messung und Bedeutung als Körpertem¬
peratur.
Der Vortragende weist zunächst darauf hin, daß der Ge¬
danke, die Temperatur des frisch gelassenen Urins als Ausdruck
der jeweiligen Körpertemperatur zu messen, in der Literatur
nur sporadisch auftauche. Die diesbezüglichen Untersuchungen
von Mantegazza, Mestivier, Oertmann, Mosso und
Tiegel fanden eine abfällige Kritik. Die Methoden der Messung
erwiesen sich nicht einwandfrei, weil der Harn, der stets eine
höhere Temperatur als die atmosphärische Luft besitzt, sogleich
nach seiner Entleerung abzukühlen beginnt und die Wärme¬
abgaben des Harnes an das Meßgefäß und an die Luft bedeutende
sein können. Die Fehler, welche dieses Verfahren einschließt,
sind größer, als die bei direkten Bestimmungen der Körper¬
temperatur in der Achselhöhle etc.
Nach der Besprechung der von den genannten Autoren er¬
zielten Meßresultate, wendet sich der Vortragende zur Darstellung
seines eigenen Meßverfahrens.
L Der Leitgedanke.
Der Leitgedanke, nach welchem der Bef. sein Verfahren
einrichtete, läßt sich in drei Punkte zusammenfassen : 1. Messen
in einem Sammelgefäße und nicht im direkten Harnstrahle.
2. Wahl des Materiales für das Sammelgefäß derart, daß dasselbe
nicht vorerst vorgewärmt werden müsse. 3. Messung trotz des
Sammelgefäßes nicht im stehenden sondern im fließenden Harne.
H. Durchführung des Prinzipes.
Als Material zur Herstellung des Sammelgefäßes verwendet
Bef. das Filtrierpapier stärkerer Sorte. Jedes aus anderem Materiale
verfertigte Sammelgefäß muß zunächst künstlich vorerwärmt
werden, sonst entzieht es dem ausfließenden Harne Wärme. Das
Filtrierpapier hingegen imbibiert sich sofort mit dem körperwarmen
Harne und schon in den nächsten Sekunden fließt der Harn in
ein erwärmtes Gefäß. Allerdings wird auch das Sammelgefäß aus
Filtrierpapier trotz der sofortigen Imbibition nicht sogleich die
Temperatur des ausfließenden Harnes erreichen. Damit jedoch
dieser Ausfall in der Messung paralysiert werde, ist die Anord¬
nung getroffen, daß nach Anbringung einer Abflußöffnung Zu-
und Abfluß des Harnes derart geregelt ist, daß das Quecksilber¬
gefäß des Thermometers stets in der frisch zugeflossenen Harn¬
menge stecke.
Die Vorrichtung zur Messung besteht nun aus einem Trichter
aus Filtrierpapier und einem geprüften Maximalthermometer. Das
Papier sei von stärkerer Sorte, damit es nicht im Laufe der
Messung durchweicht zerreiße.
Nachdem man das Filtrierpapier wie zu einem gewöhn¬
lichen Filter gefaltet hat, wird es geöffnet und in frontaler
Richtung gefaltet. Es sieht nun so aus, falls man das Papier
linearrandig belassen hat, wie ein mit der Spitze nach unten ge¬
stürztes Dreieck mit einem schmalen oben aufgesetzten Recht¬
ecke. Zur Filterbildung wählt man am besten das »Papier in
der Form eines Höhenrechteckes mit der Höhe von 15 cm und
einer Breite von 12 cm. Die Spitze des Dreieckes wird ah-
geschnitten, damit eine Ausflußöffnung entstehe. Dieser horizontale
Schnitt ist 9 bis 10 mm lang. An der Kante, wo das Papier
sechsfach gefaltet liegt (an der anderen Kante liegt es nur zwei¬
fach) werden mit einer Schere senkrecht auf die Kante durch
die ganze Dicke des Papieres zwei Schnitte geführt vom Durch¬
messer des Thermometers. Der erste Schnitt liege von der Aus¬
flußöffnung zumindest so weit, als die Länge des Quecksilber-
hehälters es erfordert. Die Distanz des zweiten Schnittes erfordet
keine besondere Rücksicht. Das Filter wird nun geöffnet und das
Thermometer durch die entstandenen Papierspangen hindurch¬
gesteckt. Das untere Ende des Quecksilberbehälters reiche eben
bis zum Horizontalschnitte, rage keinesfalls in die Luft hinaus.
Das Thermometer sitzt in den Spangen fest und hält den nach
dem Oeffnen nurmehr dreiblättrigen Teil des Filters zusammen.
Nun kann mit der Messung begonnen werden. In der einen
Hand hält man Thermometer und Filter am oberen Rande des
letzteren, mit der anderen Hand wird das Membrum in das Filter
hineingesteckt. Ist dies geschehen, so kann man mit der einen
Hand auch ein Aufsaiigglas unter das Filter halten, falls die
Miktion im Zimmer geschieht. Das Orificium urethrae komme
knapp über das obere Ende des Quecksilberbehälters.
Die Miktion beginnt.
Vielfache Messungen ergaben, daß nach 7 bis 8, in maximo
10 bis 12 Sekunden bereits die maximale Temperatur erreicht
ist und daß nach dieser Zeit 100 bis 150 cm** Harn entleert
werden, ferner, daß diese Mengen genügen, um genaue Resultate
zu erzielen. Die ganze Mixtionsdauer und die hiebei gelassene
Harnmenge eines Erwachsenen bei gut gefüllter Blase betragen
natürlich mehr. Bef. mißt immer nach voller Miktion.
Das Quecksilbergefäß wird von allen Seiten vom Harne
umspült, mit Ausnahme jener Stelle, wo es an dem Filter an¬
liegt. Doch auch diese Stelle imbibiert sich sofort mit dem
körperwarmen Harne. *
Bei gut gefüllter Blase können anläßlich einer Miktion
auch zwei bis drei Messungen vorgenommen werden, unter den
gewünschten Bedingungen stimmen die Resultate der Einzel¬
messungen vollkommen überein.
Die Papierfilter bieten überdies den Vorteil, daß sie sich
in großer Zahl bequem ineinanderstecken lassen, so daß man
behufs Vornahme mehrerer Messungen viele davon mit sich
führen kann.
Die Messung ist allerorts mit Leichtigkeit durchzuführen.
Der Vortragende erklärt hierauf die physikalischen Ver¬
hältnisse, welche es verständlich machen, daß selbst bei Außen¬
temperaturen von unter 0" C während der Messung nur so wenig
Wärme des Harns verloren geht, daß dies thermometrisch nicht
zum Ausdrucke kommt.
Das Wasser ist ein schlechter Wärmeleiter, es nimmt die
Wärme schwer an und gibt sie auch schwer ab, im Gegensätze
zum Quecksilber, das ein guter Wärmeleiter ist.
Das Wasser hat eine große Wärmekapazität: zum Erwärmen
1 kg Wassers von 0'^ auf C ist eine Wärmemenge von einer
Kalorie nötig, das Quecksilber hat eine im Vergleiche ganz
bedeutend kleinere Wärmekapazität, zum Erwärmen 1 kg Queck¬
silbers von 0'' auf 1“ ist bloß eine Wärmemenge von 0'03 Ka¬
lorien nötig.
Hierin liegt der Schlüssel zu den Erklärungen der Ver¬
suche. Das Thermometer in warmes Wasser von z. B. 37“ C
gesteckt, schnellt nach wenigen (5 bis 6) Sekunden auf die
Skalenhöhe von 37“; aus dem Wasser entfernt, sinkt es auch
sehr rasch ab, falls es kein Alaximalthermometer ist.
Das Wasser hingegen kühlt sehr langsam ab. Wie die vom
Vortr. angestellten Abkühlungsversuche lehren, benötigen z. B.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 19Ü7.
Nr. 4
HOO cm' Wasser bei einer Zimmertemperatur von 15° C , um von
3(5" auf 35, 33, 33° etc. abzusinken, 2‘ 2, 3, 3',o etc. Minuten.
Das E''iltrierpapier als schlechter Wärmeleiter, das Imhibieren
desselben mit körperwarmem Harne, die langsame Abkühlung
des Harnes, die nur nach wenigen Sekunden dauernde Meßzeit,
innerhalb welcher das xMaximalthermometer seinen höchsten
Sland erreicht, begründen die fehlerfreie Messung.
Um die Brauchbarkeit dieses Meßverfahrens zu erproben,
wählte der Vortragende absichtlich ungünstige Verhältnisse :
.Messungen im Breien bei einer Lufttemperatur unter 0° C. Die
hiebei gleichzeitig, bzw'. unmittelbar ^'orangega^genen Achsel-
höblenmessungen im geschlossenen Baume ergal)en folgendes:
12 Uhr mittags:
10 Minuten 36’4
At
bei
Zimmertempeiatu r
von
16° C nach
15
20
36-8
36-8
lit
im
Freien bei — 5" ('
25
36‘8
37T
Differenz
0-3
11
Uhr nachts:
10 iMinuten
362
Al
bei
Zimmertemperatur
von
19° U nach
15
20
36 '3
367
Hl
im
Freien bei - - 6° ( '
1‘25
367
36-9
12
Uhr mittags:
Differenz
(r2
. 5 Minuten
10
36-3
36-6
At
bei
Zimmertemperatur
von
20° C nach .
15
20
— V/ ,,
36 '7
36-9
25
37-05
Ul
im
Freien bei — 7° (’
.
30
37-05
371
Differenz O'Ol
Zwei Momente stützen nun die Behauptung, daß selbst
Lufttemperaturen von unter 0° U das vom Vortr. angegebene
Meßverfahren als ein einwandfreies erscheinen lassen : erstens
die gleichzeitige Achselhöhlenmessung im geschlossenen Raume
und zweitens das volle Uebereinstimmen der erhaltenen Werte im
Freien mit den vielfachen Messungen f ü r d i e s e 1 b e T a g e s-
zeit, wie dies aus den demonstrierten Tabellen ersichtlich ist.
Damit begegnet aber auch dieses Verfahren wirksam dem Haupt¬
argument, das alle bisherigen Methoden der Harntemperatur¬
bestimmungen am empfindlichsten traf.
Der Vortragende wendet sich nunmehr der nächsten Frage
zu, ob seine Messungen die physiologischen Tagesschwankungen
der Körpertemperatur, den Ennfluß der Muskeltätigkeit und der
.Malilzeiten auf dieselbe zum Ausdruck bringt oder nicht.
Der Vortragende hat im Verlaufe von zwei Jahren über
250 Messungen durchgeführt. Die täglichen Messungen wurden in
ein Tagesjournal eingetragen; aus denselben sind die Ergebnisse
der Harntemperatur nach den gleichen Tagesstunden tabellarisch
zusammengefaßt. Die Zimmertemperaturen, bei denen gemessen
wurde, waren recht differente.
Wie nun aus den Tabellen und der beigefügten Harn-
lemperaturkurve ersichtlich ist, stimmen die Ergebnisse bezüglich
der physiologischen Tagesschwankungen mit jenen überein, welche
die Physiologie mit Hilfe der Rektalmessung ermittelt hat.
Die Mittelwerte betragen für (5 Uhr morgens 3615, für
8 Uhr morgens 36’3, für 9 Uhr morgens 361, für 10 Uhr vor¬
mittags 36'57, für 11 Uhr vormittags 36'7 und für die Mittags¬
stunde 371 ; das Maximum mit 37‘3 erreicht die Tagesschwankung
um 3 Uhr nachmittags. In den weiteren Nachmittagsstunden bis
7 Uhr abends hält sich die Temperatur um das Mittel von 37‘0,
von hier ab erfolgt bis zur zehnten Abendstunde ein leichtes
Ansteigen bis zum Mittel von 371, was durch die Muskeltätigkeit
zufolge von Bewegiaigen außerhalb des Hauses sich erklärt. Ln
weiteren Verlaufe findet sich ein konstantes Sinken der Tempe¬
ratur von .36 8 bis .36'0, d. i. um 4 Uhr morgens.
Energischere Muskeltätigkeit findet ihren Ausdruck in einer
Erln'ihung dei- Harntemperatur gegenüber dem Mittel der be¬
treffenden 'Fageszeit bei mehr ruhigem Verhalten.
So beträgt z. B. die Harntemperatur um die 11. Abend-
sTunde nach einem halbstündigen Spaziergange in rascherem
Schritte 37'2 gegenüber d(Mn Mittel von .36'7 ; um 12 Uhr nacht.'i
nach einem einstündigen Karambolspiele, .37‘3 gegenüber deni
Mittel von 36'7 ; um 2 Uhr nachts, nach einem halbstündigen
scharfen Gange, 37'0 gegenüber dem Mittel von 36‘2 und um
4 Uhr morgens, nach einem einstündigen Wegmarsche, 37'3
gegenüber dem Mittel von 36'0.
Die Temperatursteigerung während der Morgenstunden
bleibt bei andauernder Bettruhe zwar nicht aus, aber sie wird
doch wesentlich eingeschränkt. So betrug z. B. die Harn¬
temperatur um 12 Uhr mittags bloß 36'5, nachdem die Bettruhe
erst um 11 Uhr vormittags verlassen wurde, gegenüber dem Mittel
von 37'1 unter normalen Verhältnissen.
Die den Mittelwert erheblich überschreitende Körperwärme
bei einer leichten Influenza und einer durchgemachten Periostitis
findet ihren Ausdruck in der Harntemperatur genauer als in der
gleichzeitig gemessenen Achselhöhlentemperatur.
Die durchgeführten Rektalmessungen ergaben das Resultal,
daß dieselben mit den gleichzeitig erhobenen Harntemperatur¬
bestimmungen völlig übereinstimmen.
Nach diesen Ergebnissen glaubt der Vortragende berechtigt
zu sein, sagen zu können, daß die genau erhobene
H a r n t e m p e r a t u r d er Ausdruck der jeweiligen
Körpertemperatur ist.
Flingegen ergaben die Parallelmessungen in der Achselhöhle
ganz differente Resultate. Dieselben lassen sich folgendermaßen
zusammenfassen :
1. In keinem einzigen Fall übersteigt die Achselhöhlen¬
temperatur die gleichzeitig gemessene Harntemperatur ; letztere
steht also immer höher.
2. Die größte und konstanteste Uebereinstimmung zwischen
Ht und At findet im afebrilen als febrilen Zustande nur dann
statt, wenn die gemessene Person sich in der Bettruhe oder
unmittelbar danach noch im geschlossenen Raum befindet. Die
Differenzen schwanken zwischen Ü'05 und O’l bis 0’3° C. Als
Messungsdauer für die Axilla erwiesen sich für die Axilla 10 bis
15 Minuten als hinreichend.
3. Bei ambulanten Personen kann die Differenz zwischen
Ht und At in den Nachmittags- und Abendstunden sowohl im
afebrilen als auch im febrilen Zustande 0'8” C betragen, selbst bei
einer Messungsdauer von einer halben Stunde in der Axilla.
4. Nach Vi- bis stündigen Märschen können sich zwischen
Ht und At Differenzen von selbst 1'2° C ergeben, namentlich in
den Abendstunden bei einem Verweilen des Thermometers von
einer halben Stunde in der Axilla.
0. Nach Wannenbädern von 22 bis 29° C in der Dauer
von 10 bis 15 Minuten ergibt die At Messung bei Gesunden
niedrigere Werte von 0'9 bis 1T° U gegenüber der gleichzeitigen
Ht- Messung, bei einem Verweilen des Thermometers in der
abgetrockneten Axilla während einer halben Stunde.
Aus alldem geht hervor, daß die Achselhöhlen¬
messung unter Umständen mit großen Feliler-
quellen b e h a f t e t i s t, d a ß h i n g e g e n d i e v 0 m V or¬
trag e n d e n g e ü b t e M e t h o d e z u r B e s t i m rn u n g der
H a r n t e m p e r a t u r wohl geeignet ist, die jeweilige
Körperte m p e r <a t u r richtig zu ermitteln.
Zum Schlüsse weist der Vortragende auf die praktische
Verwendung seiner Methode hin, deren Vorzug darin besteht,
daß die Dauer der Messung nur wenige Sekunden beträgt und
daß die Resultate zuverlässige sind.
Die Einschränkung dieser Methode besteht allerdings darin,
daß sie nur dann durchführbar ist, wenn die Untersuchungs¬
person über die genügende Harnmenge verfügt.
Besonders geeignet hält er sein Meßverfahren bei der
Untersuchung ambulanter Kranken, ferner für physiologische
Untersuchungen bei Bergbesteigungen, Tunnel- und Kaissonbauten,
Ballonfahrten. Ferner empfiehlt er sein Meßverfahren zum
Studium der Temperaturverhältnisse bei Soldatenmärschen,
namentlich in den heißen Jahreszeiten, wo anläßlich dieser
Märsche Hitzschläge nicht so selten sind.
Zum Schlüsse betont der Vortragende, daß sein Meßver¬
fahren die bisher bestehenden wohl nicht entbehrlich macht,
daß aber, die Brauchbarkeit seiner Methode in Betracht gezogen,
dieselbe jedenfalls eine Bereicherung der Thermometrie bedeutet.
Diskussion: Hol rat W i n I e r 11 i t z : ’Tem])oralurmessungen
des Haines sind schon trüln'i' vielfach versucht worden,
doch s(di(n tcrlon di(‘ Ih'snilate immer an mannigfachen F'chbu-
(luellen der Melhode. Es ist keine Frage, daß die von dem Herrn
Vortragenden angegebem> IMolhode einen Fortschritt bedeutet,
wenn, wie er sagt, die Messung in wenigen Sekunden beendet
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
119
ist. AndernfalJs würde die rauhe Auß.eiifläclie dos Filtrierpapiers
einen großen Wtännevei'lnsl durch Straldung bedingen. Es ist von
allen Forschern, die sicli mit Tempei-aturuntersuchungen be¬
schäftigt haben, längst eikannt, daß (li(' .Vchselhöhle ein unver¬
läßlicher Ort für Teinperaturmessungen ist und der Herr Vor-
Iragemh' hat. seihst gezeigt, daß oft noch nach einer halben Stunde
die Te)n])eraturkonslanz daselbst nicht erredcht ist. Winternitz
kann aller nicht finden, daß die Harnteinperaturinessung, die ja
heim weiblichen Geschlechte geradezu untunlich wäre, nach der
Methode des Herrn Vortragenden, vor der Rektum- oder Vaginal-
messnng irgendwelche Vorzüge haben könnte. "W i n ter ni tz glaubt
im Gegenteil, daß der letztere Messungsort aus gar mannigfachen
Gründen der Haintemperaturmessung vorzuziehen sei. Tempe¬
raturmessungen hei und nach dem Bergsteigen sind auch schon
vielfach vorgenommen worden und wenn es gerade darauf an-
komml, sind sie mindestens ebenso leicht durchführbar, wie die
Harn teinperaturmessungen.
Dr. H. Teleky: xVueh ich glaube, daß die Messung im
Rektum am Krankenbette verläßlich und in wenigen Minuten
zu erreichen ist. Bei Messungen aber, die z. R. beim Berg¬
steigen gemacht werden sollen, vräre vielleicht die Messung im
Munde vorzu nehmen, doch weiß ich hierüber nicfits Bestimmtes.
Dr. IMartin Engländer: Es freut mich, zunächst kon¬
statieren zu können, daß Herr Hofrat Winternitz mein Meß-
vm’fahren im Prinzipe anerkennt. Der Bemerkung gegenüber, daßi
er der Rektalmessung doch den Vorzug gebe, erlaube ich mir,
zu erwiedern, daß' es doch Verhältnisse gibt, unter welchen die
Rcktalmessung nicht praktikabel ist. Wenn wir, um auf ein kon¬
kretes Beispiel hinzuvveisen, nach (dnei' Bergsteigung wissen
wollen, um wie viel die Köri)ertem})eratur durch den Berganstieg
sich erhöht hat, so ist cs, wie ich glaube, doch einfacher, sofort
die Hai'ntemperaturbestimiiumg vorzuiudmien, als erst das Ther-
momeler in das Rektum zu stecken. Ohendrein weise ich auch
auf di(' Untersuchungen von Zunlz hin, nach welchen nach
einem Berganstieg die erhöhte Körjiertemperatur sehr rasch v/ieder
ahsinkl, so daß dieselbe nach einer halben Stunde schon wieder
die Norm erreicht hat.
Bezüglich der Bemerkungen des Ib.urn Dr. Teleky,
die Temperatur nach (unem Berganstieg im Munde zu messen,
erlaube ich mir, darauf binzuweisen, daß nach dmi Ergebnissen
aller Physiologen gerade die Vlundhöhle di(^ am wenigsten verläß-
lichsletL Meßresultate ergibt.
Dem Einwande des Herrn Hofrat Wintemiitz gegenüber,
daß mein Meßverfahren für die Temperaturbestimmung bei
Weibern nicht geeignet ist, so gebe ich di(^s mit der Bemerkung
zu, die ich in meinem Voi'tj'age machte, fm Fiebei’zustande ist
zwischen Achselhöhlen und Harntemperatur kein wesentlicher
Dnterschied. AVir haben demnach ja Methoden genug, um das
Fii'ber hei Weibern zu messen.
Für die Avissenschaftlichen Untersuchungen bei Märschen,
Rergbesteigungen, Tunnel- und Kaissonbauten, Ballonfahrten ctc.,
kommt di(' Frage, glaube ich, wenig in Betracht, denn gegeinvärtig
besorgen das Geschäft, der wissenschaftlichen Untersuchungen
noch immer wir Männer.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 10. .1 a n u a r 1 907.
PMlix K anders: Zur Kenntnis deJ‘ Beziehungen
zwischen B 1 u t ge r i mn u n g und Leber, l'ortr. teilt einen
fall von Cholelithiasis mit, der vor 2^.4 Jahren inkomplett operiert
wurde (Gallenfistcl) und sich durch eine l)eim Husten akc[uirierte
Zerreißung eines kleinsten Muskelgefäßchens innerhalh zehn
Pagen in die Bamdidecken, sowie in (*in mannskopfgroßes, retro-
l)eritoneal gelegenes Hämatom langsam verblutfü hat. Da bei der
S(!ktion nirgends Aneurysmabildung an den größeren Gefäßen,
noch beträchtliches Atherom der Gefäße gefunden wurde, war man
darauf angewiesen, die Blutungsciuelle dort zu suchen, wo in
Form eines blauen Fleckes in der Rückenhaul über der rechten
Nierengegend die anfängliche Blutung vermulcM werden mußte. Die
Blutung fand von außen nach innen zu sl:itt und nach <lrei
Tagen konnte man unterhalh des Leheri'andes einen in diesei’
Zeit entstandenen Tumor (Hämatom) tasUm. Der Umstand, daß
bei der Sektion (P^riv.-Doz. Sto(M'k) das blutende Gefäßeben nicht
direkt nachg(‘wiesen werden konnte, läßt vcunuiten, daß das¬
selbe sehr klein gewesen sein muß. Es müssmi dahei' besondere
V(‘rbältnissi‘ mitgespielt babmi, die es ähnlich wie bei der Hämo-
t»hilie herbeig('füitrl habem, daß aus kleinster Blutuugscpu'lle eine
tödliche Blutung erfolgen konnte. K anders glaubt nun, daß
es die S c hw er g e r i n n b a r k e i t des Blutes war, dir* diesem
Folgezustande Vorschub leistete und meint weiter, daß dies(‘
Schwergeiinnbarkeit bedingt war durch eine schwere Schädi¬
gung der Lebei'. Dieses Raisonnemont findet seine Stütze
in der Erfaluimg der internen Klinik, die bei akutei' g(dber Lcber-
atropbie, bei Phos])horvei'giftung, kurz bei schweren Lebererkrau-
kungen von Neigung zu Blutungen si)ri(dit, und anderseits in dei-
vom Vortragenden eingehend berücksichtigten Literatur vorwiegend
französischer Physiologen, die Avirklich experinnmtell nachge-
wiesen haben, daß die Leber das Fibrinogen sezernierejide Organ
sei und daß demnach hei srdnverer Lebererkrankung odiu' Leber¬
schädigung das Fibrinogen im Blute fehle und das Rlut seine
( J erinnungsf ähi gkeit ein büße.
H. Teleky frägt, Avarum die Operation nicht zu Ihuh'
geführt Avurde und die Gallensteine entfernt Avurden.
Felix Kaudei s antAvortet, daß dies Avegen der morschen
Beschaffenheit de]' GallcuAvege nicht möglich Avar.
Jul. Schnitzler bestätigt, daß in vorgeschrittenen Fällen
von Cholelithiasis, namentlich in solchen, Avelche spät zur
Operation gelangen, es manchmal nicht möglich ist, die bc'ib-
sichtigte Operation zu Ende zu führen. Kehr gild an, daß in
lüCo der Fälle Nachoperationen bei Gallensteinoperationeu not-
Avendig Averden. Bisher hat man sich nur von den gefährlichen
Rlutungen bei Ikterischen gefüichtet, nun zeigt es sieb, daß aueb
solche Kranke, bei Avclchen die Galle nach außen abfließt, zu
Blutungen neigen. Schnitzler hat hei einem l’atienten jiiit
Gallenfistel eine schwere parenchymatöse Blutung auftreten sehen.
Die Beobachtung des Vortragenden lehrt, daßi man, Avenn eine
radikale Gallensteinoj)eration im Anfang nicht möglich ist, die¬
selbe möglichst bald nachtragen soll.
L. Plofbauer: Ueber Orthopnoe. Die Eigentümlicli-
keit, daß Patienten mit schAveren Erkrankungen der Zirkulatious-
oder Respirationsorgane nur im Sitzen ,, genug Luft haben“, im
Liegen aber von scliAverer Kurzatmigkeit geplagt Averden, erklärt
man damit, daß im Sitzen und Stehen der Thorax vom Körper-
gcAvicht mehr entlastet und das ZAverchfell vom Drucke der Bauch-
eingeAveide befreit sei, so daß die respiratorische Tätigkeit des
Brustkastens und des Diaphragmas sich ausgiebiger gestaltet.
Gegen die Richtigkeit dieser Annahme spricht deF Umstand, daß
viele Patienten nur nachts orthopnoisch sind, trotzdem doch
Tag und Nacht dieselben mechanischen Verhältnisse bestellen
bleiben. Fernerhin zeigten die Untersuchungen des V^ortragenden,
daß im Gegensatz zu dieser herrschenden Lehre die respiratori¬
schen ZwerchfellbeAvegungen im Liegen viel ausgiebiger sind als
im Sitzen und Stehen. Hiebei zeigt sich auch, daß die ZAverch-
fellkuppel im Stehen und Sitzen um vieles tiefer rückt als im
Liegen; es Averden daher in letzterer Körperstellung die Lungen
viel Aveniger ausgespannt als im Sitzen und Stehen, die elasti¬
schen Kräfte derselben, die noi'inaliter hauptsächlich die Exspii'a-
lion besoi'gen, Averden viel Aveniger stark in Aktion gesetzt. Diese
Exspirationski'äfte aber sind bei den pleuralen Erkrankungen, Avie
des Vortragenden frühere Untersuchungen ei'Aviesen, stark ge¬
schädigt und diese Schädigung veranlaßt die Atemnot der Pa¬
tienten. Daher vermeiden dic' Patienten die Aveitere Schädigung
der elastischen Kräfte der Lunge, Avelche im Liegen eintritt und
Avählen die aufrechte Körperlage, in A\mlcher dieselben die denk¬
bar gi'ößte Intensität erreichen, die Exspiration daher möglichsl
frei Avird. Am Tage können hier auxiliäre, exspiratorische Muskel¬
kräfte eintreten. daher ist am Tage die Atmung leichter möglich.
Tni Schlafe jedoch, avo die Aktion der exspiratorischen Avillküi-
lichen Muskulatur Avegfällt, nmß der Patient selbst dann im Bette
aufrecht sitzen, wenn am J'age noch die Korrektur durch die
exspiratorische]! Hilfsmuskehi genügt.
Wiener Dermatologische Gesellschaft.
S i t z u n g A" o m 21. N o v e ]i] h e r 1 90(1.
Vorsitzender: Riehl.
Schriftfülnau' : R r a n d av e i n e r.
Stoerk demonstriert ;i]i Präpa]’aten des i]i der letzten
Sitzung vo]i Riehl vorgestellte]] PMlles vo]i Xanthoma
li]l)erosum das Phäno]ue]i iler Doppidbrechung an den Tropfen
der fettäh]iliche]] Substaiiz. Stoerk hat sei]ierzeit in seiner
Veröffentlichung ,,üh<‘r Protagon“ und ,,übe]' die große Aveiße
Niere“ U auf das lu'zügliche Vei'h;ilt(m der Xiuitliome hingewiese]).
*) Sitzungsbericht der kais. Akademie der Wissenschaften in Wien
math. natiirAv. Klasse, Rd. IIB, Abteil. HI, Februar 1906.
130
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
Betreffs der Substanz, welche sich, trotz einer Anzahl
ähnlicher färherischer Reaktionen, durch charakteristische diffe¬
rentielle JMerkmale, insbesondere auch durch das Verhalten iin
polarisierten Licht, vom Fett unterecheidet, darf nunmehr als
feststehend ausgesagt werden, dah sie einerseits als physiologisches
Sekretions})ro(lukt in der Nehennierenrinde, anderseits als patho¬
logisches Produkt, vermutlich des Protoplasmaabhaues, sowohl in
epithelialen Bildungen, wie auch in solchen mit Herkunft vom
Zwischengewehe auftritt. Speziell für die Niere konnte der Nach¬
weis erbracht werden (Panzer), daß sich die unter pathologi¬
schen Umständen gebildete dopi)elbrechende Substanz im chemi¬
schen Sinne wesentlich von derjenigen der physiologischen Nehen¬
nierenrinde unterscheidet, indem letztere, in Uebereinstimmung
mit dem Protagon des Zentralnervensystemes P- und N-hallig
ist, die Substanz der Niere sich jedoch als Cholesterinestcr mit
Fettsäuren erweist. Wenn auch mangels genügender Quantitäten
die doppeltbrechende, fettähnliche Substanz der Xanthome bisher
der chemischen Untersuchung nicht zugeführt werden konnte,
so sprechen doch ihre mikroskopischen Merkmale mit Wahrschein¬
lichkeit dafür, daß sie nicht der Gruppe der Protagone des Zentral-
nervensyslemes und der Nebennierenrinde, sondern vielmehr der
P- und N-freien Gruppe einzureihen wäre, demnach auf die Be¬
zeichnung ,, Protagon“ keinen Anspruch liätte.
Feiner stellt aus dem Karolinen- Kinderspitale ein zwei
j\lonate altes Kind mit einer ausgebreiteten Vitiligo vor.
Von dieser in diesem Alter äußerst seltenen Pigmentanomalie
sind besonders die Genital- und Kreuzbeingegend, sowie die Innen¬
seite beider Oberschenkel auf große , Strecken hin betroffen. Am
Rücken und Abdomen sind kleine, kreisrunde Vitiligoflecke zu
sehen, die von einer deutlich hyperpigmentierten Zone begrenzt
sind. Das Kind litt bis vor kurzem an einem Ekzem der Gesä߬
gegend und der unteren Extremitäten. Nach x4ngabe der IMutter
sollen die weißen Flecke erst nach dem Abheilen des Ekzetns
aufgetreten sein. Ob diese Beziehung zwischen Vitiligo und Ekzem
tatsächlich voihanden ist, möchte ich dahingestellt sein lassen.
Diskussion: Riehl fragt, ob vielleicht Lues voraus¬
gegangen ist.
Feiner: Die Familie ist mir seit Jahren bekannt und
fehlt jeder Anhaltspunkt zur Annahme einer luetischen Vorer¬
krankung.
Ullmann stellt vor: 1. Einen seit einem Jahre mit zahl¬
reichen, etwa 30 Lupusknötchen behafteten 24jährigen Markör,
der im Röntgenlahoratorium des Allgemeinen Krankenhauses mit
Radium und Röntgen behandelt worden ist. Auf jeder Lupus¬
stelle wurde 128 ^Minuten lang die Radiumeinwirkung einer Menge
von 5 mg verteilt auf 1 enU zugelassen, die Zwischenpartien
einmaliger Röntgenbestrahlung aus weicher Röhre exp.oniert.
Der Erfolg ist nicht nur kosmetisch ein idealer, von der etwas
braunen Pipnentation abgesehen, sondern auch ein anscheinend
sehr giäindlicher ; denn es sind in wenigen IMonaten alle Knötclien
verschwunden, ohne daß stärkere Reaktion, geschweige Ulzeration
eingetreten wäre (Demonstration einer Photographie mit Ansicht
vor der Behandlung des Patienten).
2. Eine 46jähr. Pat. mit einem ausgehreileten Lupus erythema¬
todes des Gesichtes und der Kopfhaut. Ullmann hat sie viele
Jahre nicht gesehen, da sie aufs Land gezogen ist, um doil ihren
Spitzenkatarrh mit Bronchiektasien zu bessern. Dies ist auch
der Pall gewesen. Die PMtientin ist wesentlich stärker geworden.
Im S])utum finden sich derzeit keine elastischen P^asern und
keine Bazillen, auch der Lupus erythematodes hat im Bereiche des
einmal ergriffenen Areals wesentlich an Intensität ahgenommen.
Ueher die Natur der Affektion als Lupus erythema¬
todes ist kein Zweifel, wie schon die großen, ausgehreiteten
Atrophien an der Kopfhaut und an den Ohren dartun. Hingegen
spräche ein etwa kreuzergroßer, derber, dunkelroter, heetartig
])rominenler Placpie in der Mitte des Gaumens, der vor fünf
Jahren noch bestand und nun ohne Narben und ohne jede De¬
pression spurlos zur Resorption gelangte, eher für I.,upais der
Mukosa.
Iditer bisher — seil 1893 — genau beobachteten 34 Fällen
von Lupus erythematodes verfügt Ullmann über 28 reine und
sichere Ei'ythemafodesformen, vier Fälle von Tuberkuliden hei
Erwachsenen mit Erythematodes gemengt, also Fälle von Lupus
ei'ylhemalodes disseminatus Boeck. Letztere vier sind, sämtlich mit
Zfdehen von latenter, bazillärer Tuberkulose behaftet. Von den
ei'steren 28 Fällen von reinem Lupus erythematodes sind 23 ehen-
falls mit irgendwelchen Zeichen als tuberkulöse Ijidividuen quali¬
fiziert, indem sie entweder Spitzenveränderungen der Lungen,
oder Empyeme, hzw. Narben nach solchen Prozessen, Otitis
media, skrofulöse Hornhautnarben oder Älastdannfistel, oder
auch Lirpus vulgaris selbst, aufwiesen. In einigen Fällen war die
tuberkulöse Natur der Individuen allerdings nur anamnestisch,
in wieder anderen durch die Tuberkulinreaktion gesichert.
Wenn auch das Material klein ist, so entspricht
doch die Koinzidenz von Zeichen bazillärer Tuberkulose mit
I,iUi)us erythematodes in etwa SQo/o, so daßi es also heute nach
meiner Auffassung und Ueberzeugung nicht mehr gut angeht,
diese Koinzidenz lediglich auf ein zufälliges Zusammentreffen
etwa bedingt durch Häufigkeit der Tuberkulose überhaupt, zurück¬
zuführen, sondern daß wir uns unbedingt der alten französischen
Ansicht, die schon durch die Bezeichnung Cazenaves treffend
ausgedrückt ist, anschließen müssen. Ja, es erschiene mir der¬
zeit fast mehr nötig, nach einer Erklärung für solche P'ällc von
Lupus erythematodes - Affektionen zu suchen, die ohne Vorhanden¬
sein bazillärer Prozesse zustandegekommen sind, etwa wie die
Seborrhoea congestiva F. v. Heb ras. Vielleicht ist diese IMinder-
zahl der Pdille wirklich etwas anderes, dem Lupus erythematodes
nur ähnliclies. Vielleicht aber wird auch in diesen P''ällen die
latente Tuberkulose wegen Geringfügigkeit der anatomischen Herde,
wegen ihres versteckten Sitzes in Knochen, Bronchialdrüsen
einfach — selbst auch bei der Sektion — übersehen. Sicher
ist, daß ein häufigeres Nebeneinandervorkommen von I.jupus vul¬
garis und erythematodes und ein häufigerer Uebergang beider
lü'ozesse in loco zu finden ist, als angenommen wird.
Diskussion: Jungmann kennt die Patientin. Sie wurde
nach Holländer mit Tinctura jodi und Chinin behandelt und
wesentlich gebessert. Das madit die Diagnose zweifellos.
Spie gier: Die Diagnose zwischen Lupus vulgaris und
Lupus erythematodes ist manchmal .sehr schwierig. Er (udnnert
an die Bezeichnung Lupus syphiliticus. Es gibt aber nur Syphilis
oder Lupus. Der Zusammenhang des Lupus erythematodes mit
Tuberkulose ist durchaus nicht erwiesen, wie dies hei jenen
Fällen, die zu Exitus letalis geführt haben, feststeht und ans
der Zusammenstellung von I^rof. Riehl hervorgeht. Die Misch-
fonn ist mit großer Reserve zu betrachten. Es wird in jedem
Fall zu entscheiden sein, ob Lupus erythematodes oder Impus
vulgaris besteht.
Riehl hat seinerzeit die Fälle von Hehra, die von
Rokitansky obduziert wurden, zusammengestellt. Er fand
elf Fälle, darunter sieben ohne irgendein Zeichen von
Tuberkulose. Vor zwei Jahren starb ein Mädchen mit Lupus
erythematodes an einer interkurrenten Krankheit; sämtliche Organe
wurden genau untersucht, doch keine Tuberkulose gefunden. Es ist
richtig, daß die Kombination oft vorkommt. Aber die Tüherkulo-
toxintheorie ist nicht haltbar. Die eigentliche Ursache des Lupus
erythematodes kennen wir nicht. Es gibt Grenzfälle. Was die
jetzt hier bestehende Schleimhautaffektion betrifft, so ist sie
eine ganz andersartige (Gingivitis ulcerosa).
Ullmann: AVas die Veränderungen des Zahnfleisches der
Patientin betrifft, so halte auch ich sie nicht für tuberkulöse.
Wichtig war inir nu)' die Erwähnung der Affektion am Gaumen,
die ich seinerzeit für eine vulgär -lupöse halten mußte. Was
die von Prof. Riehl angeführten Fälle hei Sektionen l)etrifft,
so ist selbstverständlich, daß wir an deren Richtigkeit vorläufig
vollständig festhalten, nur ergäbe sich die Frage an die patho¬
logischen Anatomen, ob nach unseren heutigen Kenntnissen auch
bei von kundiger Hand durchgeführter Sektion, wenn nicht alle
Knochen, Drüsen (Bronchialdrüsen), untersucht wurden, nicht doch
häufig ein kleiner latenter Herd bazillärer Tuberkulose übersehen
werden kann, der aber schon genügte, um das Lupuserythem
hervorzurufen. Zumal aber gilt dies für Sektionshefunde, welche
retrospektiv aus allen Zeiten herangezogen werden, in denen
die Anschauungen über die Stellung der Diagnose von Tuberkulose
an der Leiche ebenso, wie über die Heilbarkeit derselben, denn
doch etwas andere waren, als sie gegenwärtig sind.
Neck er demonstriert einen Fall von Geschwürsbildungcn
auf endarteriitischei- Grundlage. Der 29jährige Patient suchte das
Ambulatorium der Abteilung Zuckerkandl wegen eines heller¬
großen, stark schmerzenden, kraterförmig vertieften, seit elf
Wochen bestehenden Geschwüres an der Streckseite der fünften
Zehe des linken Fußes auf.
Die Anamnese ergab, daß I’at. vor vier Jahren an ober¬
flächlichen Ulzerationen am Daumennagel des rechten, später
des linken Fußes litt, die viele Monate zur Verheilung brauchten,
Kältegefühl in den Füßen besteht auch hei keineswegs abnorm
niederen Temperaturen schon lange. Ebenso sei ihm aufgefallen,
daß oft einige Finger kalt und wachsbleich wurden, sich wie
tot anfühlten und erst nach einiger Zeit normale Farbe annahmen.
Nr. 4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Iiii August dieses Jahres versi)ürt I’al. ganz plölzlicli wälirend
eines Geschäftsganges intensive Schmerzen in der linken Wade,
er muß längere Zeit stehen hleil)en, bevor er wieder einige Schritte
gehen kann. Bald darauf traten die heftigen Schmerzen wieder
auf, so daß sein Gang oft plötzlich hinkend wurde.
Nach drei Wochen ließen diese Beschwerden nach und es
kam zur Bildung des beschriebenen kraterförmigen Ulkus an
der kleinen Zehe.
i\lit besonderer Deutlichkeit läßt sich an diesem Pa¬
tienten das Phänomen demonstrieren, welches Moskowicz
zur Funktionsprüfung der Arterien angab. Wird am kranken
linken Bein eine durch zwei Minuten am Oberschenkel angelegte
Esmarch sehe Dinde gelöst, so sehen wir, wie sich die ein¬
tretende Hyperämie scharf in der Mitte des Unterschenkels be¬
grenzt, ganz langsam gegen die Peripherie vorrückf, während
die Zehen und der Vorfuß noch lange schneeweiß, blutleer bleiben.
Puls der Arteria dorsalis pedis links mäßig deutlich, rechts
deutlich fühlbar.
Der Fall ist auch deswegen besonders interessant, weil
er in klassischer Weise einen von Erb vermuteten, bisher aber
noch nicht beobachteten Uebergang Raynaud scher Symptome
(symmetrische, intermittierende, vasomotorische Phänomene) in
die Dyshasia angiosclerotica darbietet.
Spie gl er demonstriert zwei Fälle von Lupus erythe¬
matosus und einen P e m p h i g u s foliaceus.
Riehl: Die Bezeichnung ,, foliaceus“ entspricht für den
demonstrierten Fall in seinem dermaligen Zustande nicht dem,
was Hehra so genannt hat, weil wir ja jetzt fast alle Stellen
mit normaler Epidermis bedeckt sehen.
Man sieht übrigens jetzt selten einen Fall, der als typischer
Pemphigus vulgaris chronicus verläuft. Die früher als x\usnahmen
bezeichneten Variationen sind weit häufiger geworden. Wir sehen
hier seit Jahren mehr atypische Fälle als dem gewöhnlichen
Typus entsprechende. Möglicherweise hat auch hier eine Ver¬
änderung im Typus der Krankheit stattgefunden.
Kren demonstriert aus der Klinik Riehl:
1. eine 57jährige Frau, die seit sieben Jahren an einer
ziemlich scharf umschriebenen Rötung der Nase und der an¬
grenzenden Wangenpartien leidet. Die Haut ist daselbst ein wenig
verdickt und zeigt an der Nasenspitze einige deprimierte
Narben. Drückt man an den betreffenden Stellen die Hyperämie
weg, so resultiert eine leichte Gelbfärbung, die einem diffusen
Infiltrat entspricht. Der rhinologische Befund ergibt Granulationen
und Geschwüre, von denen eines zur Perforation des knorpeligen
Septums geführt hat. Die histologische Untersuchung ergab tuber¬
kulöse Infiltration mit reichlichen Epitheloidzellen und eine diffuse,
chronische Dermatitis, so daß der Prozeß für eine Hauttuberkulose
mit sekundären Dermatitiden kompliziert gehalten werden muß.
Das klinische Bild erinnert durch die diffuse Ausbreitung an den
Lupus pernio, obwohl die zyanotische Färbung fehlt.
2. Eine 22jährige Patientin mit ausgedehnter diffuser
Sklerodermie, die im Winter 1904 an den Fingern be¬
gann. Befallen sind jetzt die oberen und unteren Ex-
Iremitäten, sowie in diffuser Weise das Gesicht, das maskenähn¬
liches Aussehen hat. Auffallend ist wieder das Befallensein des
Zungenbändchens, das verkürzt und blendend weiß ist, wie zu
zu einer Sehne umgewandelt. Der Effekt dieser Lokalisation ist,
daß die Patientin die Zunge kaum bis über die Zahnreihen her¬
vorstrecken kann und das ,,R“ schnarrend mit dem Beiklang eines
,,Sch“ ausspricht, was dadurch zustande kommt, daß die Pa-
lientin die Zunge nicht an den Gaumen bringen kann.
3. Einen siebenjährigen Knaben mit einem Ulzerationsprozeßi
in der linken Genitofemoralfalte und ad anum zur Diagnose.
Riehl demonstriert: 1. Einen Fall eines Quinckeschen
0 e d e m s. i
2. Bespricht Riehl die als Trichonodosis in jüngster Zeit
öfters erwähnte „Krankheit“ die keiner Krankheit entspricht, son¬
dern als rein mechanische Bildung von Knoten und Pseudoknoten
an Haaren aufzufassen ist, deren Cuticula, resp. Rinde durch
äußere Einflüsse geschädigt worden ist. (Siehe Protokoll der
k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien vom 30. November 1906;
eine ausführliche Mitteilung erscheint in dieser Wochenschrift.)
Wiener laryngologische Gesellschait.
Sitzung vom Dezernher 1906.
Vorsitzender: Prof. Chiari.
Schriftführer: Dr. Kahler.
Als Gäste anwesend: Dr. Bloch, Dr. Geyer, Dr. Lvnch
Dr. Tschi'rkoff.
Prof. Chiari stellt einen 55jährigen Patienten vor, hei dem
am 14. November wegen Karzinom die Totalexstirpalion des Larynx
nach Gluck, iiider Vornähung der Trachea ausgeführt wurdex
Es mußte auch ein Teil des Oesophagus (6 cm) und drei Tracheal-
ringe mitreseziert werden.
Priv.-Doz. Dr. Fein stellt eine 45jährige Frau vor, welcluj
eine linksseilige, anscheinend angeborene Choanala’tresie hat.
Die fjontal stehende Wand ist knöchern und nunmehr auch
von vorne gut sichtbar, nachdem eine die Nase fast vollständig
verlegende Crista septi abgetragen wurde. Sie wird unter Leitung
des Auges mit der elektrisch betriebenen Trephiue rlurchbohrt
werden, da die Kranke durch die Undurchgängigkeit der Nase
und die stattfindende Schleimansammlung sehr belästigt wird.
Der harte Gaumen ist zwar steil und hoch, jedoch symmetrisch
geformt.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Roth weist auf den auf¬
fallend hohen Gaumen hin, der wiederum die Körner- Waldo w-
sche Theorie bestätigt, zumal da der Gaumen auf der erkrankten
Seite deutlich höher ist.
Dr. Hanszel erinnert an einen von ihm seinerzeit hier
vorgestellten Fall von angehorener Choanalatresie, wobei nach
Messungen von Hofra t Z u c k e r k a n d 1 Chamäprosopie und ein
niederer, breiter Gaumen bestand.
Dr. Kahler erwähnt, daß er fünf Fälle von Choanalatre-
sien sah, bei denen trotz Chamäprosopie ein hoher Gaumen zu
finden war. Stets war die Gaumenhälfte der erkrankten Seite
höher.
Priv.-Doz. Dr. Fein (Schlußwort): Ich wollte mich mit
der’ Erwähnung der symmetrischen Beschaffenheit des Kiefers
durchaus nicht gegen die .in Rede sitehende Theorie, deren An¬
hänger ich vielmehr bin, aussprechen, sondern nur feststellen,
daß in diesem vorgestellten Falle beide Kieferhälften gleichmäßig
entwickelt sind. Ich habe die Ueberzeugung, daß keiner der
Herren aus dem Anblick des harten Gaumens allein hätte auf
diejenige Seite schließen können, welche der Artresie entspricht.
Dr. JMarschik stellt zwei Fälle von Kehlkopfver¬
letzung vor.
1. 34jähr. Kutscher erlitt vor zehn Tagen einen Huf¬
schlag gegen die rechte Halsseite. Bald darauf trat Anschwellung
derselben und Hämoptoe (zirka ein Viertelliter) auf. Die inten¬
siven Schmerzen und der blutige Auswurf dauerten noch vier
Tage an. Jetzt ist auch die Anschwellung ziemlich zurückgegaugen.
Dagegen trat Fieber auf, welches auf kalte Umschläge nicht zurück¬
ging, weshalb er auf die laryngologische Klinik aufgenommeii
wurde.
Die wichtigsten Merkmale des objektiven Befundes sind :
Fieber (bis 39°), Bronchitis mit lobulänDiieumonischen Herden
rechts, Verstrichensein der Konturen der rechten Halsseite bei
dem sehr mageren Menschen, in der Schildknori)elgegend inten¬
sive Druckschmerzhaftigkeit und Krepitieren. Schleimig¬
eitriger Auswurf, Stimme sehr heiser. Sprechen bereitet Schmerzen,
ebenso Schlucken. Laryngoskop! sch Fixation der rechten
Kehlkopfhälfte, Schwellung beider Aryknorpel, Suffusion der Inter-
arytärioidalfalte und des linken Aryknorpels. Rechtes Stimmband
nicht sichtbar, vom geschwollenen Taschenband überdeckt, man
hat den Eindruck einer Höhlung an der Stelle der rechten Stimm¬
lippe, in welche der eitrige Schleim durch den Exspirationsstrom
hineingeschleudert wird. Diagnose: Fractura cartilaginisi
thyreoideae. Therapie: vorläufig abwarten, da keine Stenose
besteht.
2. 16jähriges Dienstmädchen geriet am 15. Oktober
dieses Jahres zwischen die Bodenkanten zweier sich begegnender
Gemüsewagen, wodurch ihr Hals gequetscht und zugleich torquiert
wurde. Danach kurze Zeit Bewußtlosigkeit. In der rechten Sub-
maxillargegend war eine 8 cm lauge, klaffende Rißquetschwunde
entstanden. Dieselbe wurde vom herbeigeholten Arzt genäht. Die
Erscheinungen unmittelbar nach dem Unfall waren : keine An¬
zeichen von Dyspnoe, aber Stimmverlust und heftige Schmerzen
im Kehlkopf, die beim Schlucken Zunahmen, Blutung aus Mund-
und Nase. Noch im Laufe des Tages der Verletzung trat zu¬
nehmende Dyspnoe auf, weshalb sie von dem Arzt auf die
Klinik v. Eiseisberg gebracht wurde. Dort konstatierte Vor¬
tragender Oedem des Larynxeinganges und Einbruch der rechten
Kehlkopfhülfte in die linke, mit Verdrehung des Kehlkopfs. Lumen
WIENER KIRN ISCHE WUGHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 4
verscliwundeii, aus einem schmalen Spall wird eitriger Schleim
expektoriert. Es war sol'orligo Tracheotomie nötig. Hei der Fnn-
legung dei' Ti’achea hörte man jilötzlich imft aus der Tiefe der
Wunde zischen. Nach weiterer Hrä])aration ergab sicli eine
klaffende Fraktur des S chi 1 d k n o r p e 1 s in der Medianlinie,
aus d('i' ]’(‘ichlichei- (utriger Scdileim ausgehustet wurde. Wegen
der Nähe der Fj'akturstelh* am ()rl(‘ der Wahl wurde die tiefe
'l'iacheolomie ausgeführt. Hei' Jleilungsverlauf war reakt ionslos.
Hie vor dei' Tracln'otomie wiefler geöffnete Rißiquetschwuiule am
Halse heilte iier granulationem und das Cdottisödem ging soweit
zurück, daß • — nach sechs Tagen — die Kanüle ganz mitfernt
werden konnte. 14 Tage nach der Tracheotomie konnte A^’ortr. ein
laryngosk()i)isches Hild konstatieren, welches mehr oder weniger
dem jetzigen glich. Das auffallendste an diesem ist nun neben
dem noch immer ziemlich hochgradigen Üedem beider Aryknorpel
das Erscheinen vmn zwei sonderbaren, der Epiglottis dicht an¬
liegenden, mit den aryepiglottischen Falten in Verbindung stehen¬
den, von normaler Schleimhaut überkleideten Vorsprüngen in
der Höhe des Kehlkopfeinganges, welche den Eimlruck machen,
als wären die Taschenfalten durch Knorpelstücke vorgewölbt.
Es fragt sich, wem diese beiden Zapfen angehören. Das Kehl¬
kopflumen, welches 14 Tage nach dem Unfall wieder vorhanden
war, von zirka Erbsengröße, in der Tiefe die wenig beweglichen
Stimmbänder erkennen lassend, war nach weiteren zwei
Wochen wieder verschwunde]i, die Kanüle mußte wieder ein-
geführl und dauernd getragen werden. Derzeit sieht man beim
l^honieren einen schmalen Spalt in der Tiefe und unten, zwischen
den ödematösen Aryknorpeln sich Öffnen und die Exspirations¬
luft austreten lassen. Vortr. möchte sieb noch am ehesten dazu
mdschließen, diese zwei Vorsprünge als die sub mukös ab¬
gesprengten S a n t o r i n i sehen und W r i s b e r g sehen Knorpel an¬
zusprechen u. zw. erstens mit Rücksicht auf ihre Verbindung
mit den aryepiglottischen Falten, zweitens mit Rüchsichl auf
das Fehhm einer sichtbaren Schleimhautverlelziing sowohl am
Tage des Unfalles, als 14 Tage später. Das laryn-
goskopische Rild hat sich, wie gesagt, während vier AVochen
nicht wesentlich geändert. Die Patientin wurde daher behufs
Eiideitung einer eventuellen Dilatationsbehandlung auf die laryn-
gologische Klinik Iramsferierl. Sie Avird jetzt methodisch sondierl,
um sich an die Manipulationen am Kehlkopf zu gewöhnen.
Dr. Hanszel frägt an, ob in diesen beiden Fällen Röntgen¬
aufnahmen gemacht wurden und ob hiebei die Frakturen an¬
schaulich zur Geltung kommen.
Dr. Alarschik: Es wurden Radiogramme angeferligt. Die¬
selben (“i'gaben aber keinen Anhaltspunkt für Fraktur. .
Dr. Emil Glas demonstriert zwei anatomische Prä¬
parate tiefgreifender gummöser Prozesse der Tra-
chi'a und der Rronchien.
Der erste Fall betraf einen 35jährigen Patienten, der unter
Erscheinungen höchster Atemnot auf die Klinik gebracht wurde
tmd bei welchem schon mittels der alten Türckschen Methode
Gummata im Gebiete der Rifurkation diagnostiziert werden
konnten. Tags darauf Exitus. Rei der Sektion fand sich hoch-
graflige Stenose an der Rifurkation, durch strahlige, schrumpfende
■Narben und Gummata erzeugt, so daßi ,,man eben noch mit
einer dünnen Sonde durch konnte“. (Prof. Ghon.) Desgleichen
wai'en auch in beiilen Hauptbronchien Gummata und Narl)en zu
konstatieren.
Der zweite Fall betraf jenen Patienten, den Vortragender
am 7. Februar a. c. mit einem interessanten Phänomen bei
linksseitiger Rekurrenslähmung vorgestellt hatte (laute Sprache
bei Drehung des Kopfes nach rechts, vollkommene Aphonie bei
entgegengesetzter Drehung). Dei der Sektion fanden sich fief-
greifemh', zerfallene, zum Teil zu schrumpfenden Narben führende
Gummata in Trachea und Rronchien, wobei große Wandpar¬
tien de r T r a c. h e a fehlten und die R a s i s fl er S u b s ta n z-
r 1 u s t durch p e r i I r a c h e a 1 e s R i n d e g e w e b e g e b i 1 d e t
war (Obduzent Hofrat Weichselba um). Das oben angeführte
l’hänomen war damals damit riclitig erklärt worden, daß bei
Hi'ehung des Kopfes nach rechts die linke Hälfte der Cartilago
thyieoidea durch Druck der Halsmuskulatur, vorzüglich der Sterno-
kh ido, abgeflacht wurde und nur auf diese AA'eise eine Anspannung
des grdähmten, in Kadaverstelhmg stehenden Stimmbandes zu¬
stande komme, wodurch das gesunde Stimmband leichter an das
gelähmte herankonnte, wie ja auch bei verschiedener Drehung
d('s Koph's zu konstatieren war. Dei' linke Rekurrens war
(len n a u c h in g u m m ö s zerfallende Ly in p h d r ü sen a u f-
ge gangen, weshalb dieses Phänomen nur auf mechanisclie AA'eise
(Muskeldruck 1 zu erklären war.
Glas führt anschließend hieran an, daß auch wiederholte
Einführung des Rronchoskopes in einem solchen Falle keinerlei
therapeutischen Erfolg gehallt hätte, wohl aber anderseits mit
Rücksicht auf das Fehlen ganzer \AAin dpar tien leicht
zu Komplikationen (Mediastinitis) hätte führen können. Daher
meint er, daß. man feicli die Fälle, bei denen man zu theraiieutischeu
Zwecken bronchoskopische Rohre einführt, wohl ansfdien müsse.
Priv.-Doz. Hajek imichte doch der Ansicht Raum geben,
daß vorsichtige Dilalalion dm Hauptbronchien doch ausgeführl
werden kann, er hatte vor kurzem in einem Falle nach vier- bis
fünfmaliger Einführung des Rronchoskopes in den rechten Rron-
chus die darniederliegende Atmung der rechten Thoraxseite erheb¬
lich bessern können.
Dr. Hanszel hat vor einigen .laliren an der Klinik bei
einer Patientin mit gummöser Infiltration der Trachea mehrmals
bronchoskopierl uml jedesmal hernach nennenswerte Blutungen
beobachtet. Es ist dieses Amrfahren in solchen Fällen jedenfalls
mit Ahirsicht in Angriff zu nehmen.
Dr. Glas; AVenn man bedenkt, wie langwierig in den
meisten Fällen die Dilalationsbehandlung mittels Schroettem'-
scher Bolzen und Hartgummiröhren bei tertiär luetischen Pi'ozessen
des Larynx ist und wie es oft monatelanger konstanter Behand¬
lung bedarf, um zu einer sichtbaren Besserang zu kommen, er¬
scheint dieser Heilungserfolg, wobei das Rohr fünfmal und
jedenfalls nur auf kurze Zeit in dem Bronchus lag, sehr
auffallend. Da jedoch auch ,lod gegeben wurde, so wäre immer¬
hin noch die Frage, Avas auf Rechnung der spezifischen 'Iherapie
zu setzen Aväre. Jedenfalls sind auch mit der Killian sehen
Tracheo - Bronchoskopie in geAvissen Fälle]i von tertiärer Lues
therapeutische Versuche zu onachen, doch Avollte AMrtr. nur be¬
tonen, daß Fälle, Avie der angeführte, unbedingt auszuschließen
seien, Aveil keinerlei Erfolg verbürgt, der Eingriff aber anderseits
gefährlicli werden könnte.
Dr. Emil Glas demonstriert ferner folgende histologische
Präparate :
1. Angiofibrom der Zung(‘, AA'elches galvanokaustisch
entfernt Avurde. Heilung.
2. Eine mult ilokuläre, kongenitale Epiglottis-
zystc, Avobei an einzelnen Stellen Plattene])ithel mittels Ueber-
gangsepithel in Zylinderepithel übergpht, an anderen ohne A^er-
mittlung derselben. Dieses Moment Aveist auf die kongenitale Ab¬
stammung der Zyste hin. (A^ergleiche Glas; Leber Tjarvnxzysteii.
Archiv für Jvaryngologie, Bd. XIX.)
Programm
der am
Freitag den 25. Januar 1907, 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. H. H. Meyer stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. V. Haberer : Zur Frage der Knochenzysten.
2. Regimentsarzt Dr. Doerr : Das Dysentprietoxin.
3. Dr. Isor Stein ; Demonstration eines Rönlgenapparates.
Eine Demonstration wurde angemeldet von den Herren Doktor
Bartel mit Prof. Hartei.
Vorträge haben angemeldet die Herren; Dr. Oskar Senieleder
und Dr. L. Hon)auer. Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Noordeii Donnerstag'
den 24. Januar 1907, um 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz; Professor v. Noorden.
Programm;
Demonstrationsabend. Demonstrationen angemeldet: Prof. Dr. Kretz,
Dr. Helly, Dozent Dr. Türk, Prof. Dr. Schlesinger und Dr. Wiesel.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag, den 28. Januar 1907, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rolenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Hofrat Prof. Obersteiner stattfindenden wissenschaftlichen
Versomnilnug.
Prim. Doz, Dr. Fabriciiis: Zur Diagnose und Differentialdiagnoso
der Extrauteringravidität.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm der am Montag den 28. Januar 1907, 0 Uhr abends
im Hörsaal der k. k. Universitätsohrenklinik stattfindenden
wisseuschaftlicheii Sitzung.
1. Demonstrationen: Angemeldet von den Herren: Hofrat Politzer,
Doz. Dr. (t. Alexander und Dr. H. Neumann.
2. Dr. E. Urhantschitscli ; Zur Behandlung des chronischen
Mittelohrkatarrhs.
Urhantschitscli. Alexander. Frey.
Vtrantwortiiehar Badaktaar: Adalbert Karl Trapp. Yarlag tob Wilhelm Braamttller in Wiau.
Drnok TOB Bruno BartoU, Witn, XVlll., Xberoaioagasae 8 .
rr — . ^
Die
„Wiener kllulsclie
Woctaeusclirift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0- Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v, Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riehl, Arthur Schattenfroh, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
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Redaktion :
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Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 17.618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buohbändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
XX. Jahrgang.
Wien, 31. Januar 1907.
Nr. 5.
INH
I. Originalartikel : 1. Ueber eine bisher unbekannte Ursache des
Fiebers nach Milzexstirpationen. Von Prof. Dr. Ein. von
Herczel in Budapest.
2. Aus dem bakteriologischen Laboratorium des k. u. k. Militär¬
sanitätskomitees. (Vorstand Regimentsarzt Dr. R. Doerr.) Zur
ätiologischen Diagnose des Typhus abdominalis.) Von Dr. Hugo
Ranbitschek, k. u. k. Oberarzt.
.3. Der Einfluß schwerer Muskelarbeit auf Herz und Nieren bei
Ringkämpfern. Von Dr. Artur Selig in Franzensbad.
4. Die Heilbarkeit äußerer Zahnfisteln ohne Extraktion des ver¬
anlassenden Zahnes. Von Prof. Dr. Mayrhofer in Innsbruck.
II. Mitteilungen ans der Praxis. Zum Kapitel Tuberkulosenfiirsoige
in Oesterreich. Von Dr. Artur B a e r, Sanatorium Wienerwald.
III. Referate; Lehrbuch der Bakteriologie mit besonderer Berück¬
sichtigung der Untersuchungsmethoden, Diagnostik und
ALT:
Immunitätslehre. Von Ludwig Heim. Ref. : Ghon. — Die
Verwendung von Chemikalien als Heilmittel. Von Dr. Paul
Cohn. Handbuch der Sauerstofftherapie. Von Dr. med. Max
Michaelis. Ref.:0. Loewi. — Mikroskopische Untersuchung
des Wassers mit Bezug auf die in Abwässern und Schmutz¬
wässern vorkommenden Mikroorganismen und Verunreini¬
gungen. Von Mr. pharm. Emanuel Sen ft. Lehrbuch der
Intoxikationen. Von Dr. Rudolf Kohert. Ref.; Hoc kauf.
— Anatomischer Atlas für Studierende und Aerzte. Von Prof.
A. Dalla-Rosa und Hofrat 0. Toldt. Ref.; R. Kretz.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften,
y. Tlierapeutische Notizen.
VI. Vermischte Nachrichten.
VII. y erhandlnngeu ärztlicher Gesellschaften und Kongreßherichte.
Ueber eine bisher unbekannte Ursache des
Fiebers nach Milzexstirpationen.'')
Von Prof. Dr. Em. v. Herczel in Budapest.
Temperatursteigenmgeii nacli Splenektomien wurden
sowohl in unmittelbarein Anschluß, an di© Operation, als
auch im späteren Verlaufe, schon seit langem beobachtet.
Solange die Milzexstirpation nur in einzelnen seltenen
Fällen ausgeführt worden ist, wurden diese Temperatur-
Steigerungen kaum einer Erwähnung gewürdigt, da dieselben
einer mangelhaften Operationstechnik oder aber einer wäh¬
rend der Operation zustande gekommenen Infektion zur Last
gelegt wurden.
In letzterer Zeit jedoch, wo die Exstirpation der Milz
so oft ausgeführt wird und wo sich die diesbezüglichen
Beobachtungen immer mehr häufen, finden wir in der Litera¬
tur immer ausdrücklicher die Tatsache hervorgehoben, daß
die wahre Ursache dieser Temperatursteigerungen nach
Milzexstirpationen noch nicliL ausreichend aufgeklärt ist.
Unter anderen hat bereits Jonnescu^) nach Milz¬
exstirpationen Temperatursteigenmgeii gesehen. Er ist ge¬
neigt, dieselben Limgenkongestionen zuzusebreiben, doch
konnte die Annahme eines Malariaanfalles auch nicht völlig
ausgeschlossen werden.
Bei einem Kranken von Ceci trat das Fieber nach
Exstirpation der Milz zugleich mit Schwellung der Schild-
*) Auszugsweise vorgetragen am internationalen med. Kongreß zu
Lissabon, April 1906.
*) Archiv für klin. Chirurgie, Bd. 55, S. 330.
drüse, Hypertrophie der Tonsillen und hochgradiger Ab¬
magerung auf.
Bond, der bei einer BOjährigen Frau die Splenektomie
ausführte, beobachtete im Laufe der ersten Woche nach
der Operation snbnormale Temperatur, dann stieg die Tem¬
peratur, von Schmerzen in der Lebergegend begleitet, bis
38-3° C. Nach Ablauf einiger Tage begann die Temperatur
zu sinken, um zwei Wochen nachher neuerdings bis auf
39'4® C zu steigen und drei Tage hindurch — von morgend¬
lichen Remissionen abgesehen — auf derselben Höhe zu
verbleiben. Aehnliche Beobacbtimgen hat er auch bei zw^ei
anderen Fällen von Milzexstirpation angestellt. Die Tem¬
peratursteigerungen waren nicht durch die Wunde ver¬
ursacht, sie konnten seiner Ansicht nach eher auf die nach
der Operation stattgefiindenen Bliitveränderimgen ziirück-
geführt werden. Doch bleibt er uns die genaue Be¬
schreibung der Art und Weise dieses Zusammenhanges
schuldig. Die Aufklärung desselben sollte weiteren For¬
schungen beibehalten bleiben.
Heaton hat bei einem neunjährigen Knaben wegen
Milzrnptiir ohne äußerliche Verletzung erfolgreich die Milz
entfernt. Während der Rekonvaleszenz — der Zeitpunkt wird
nicht genau angegeben — traten Fieber, Appetitlosigkeit
lind Leukozytose auf, von {lenen sich der Patient nur bmg-
sam erholte. Desgleichen hat Morrison wegen, ohne äußer¬
liche Verletzung stattgefmidener Milzniptnr die Mil?; eines
16jährigen Knaben exstirpiert. Die Wunde heilte per pri-
mam, doch bewegte sich die Temperatur vom dritten bis
zum achten Tage nach der Operation zwischen 37-8° bis
40-3” C; Schwellung der Drüsen trat zugleich auf und am
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
i2:-r
sieboiitcli Tago <‘in scliaiiacliähnliclK'« llaiil(“xan(lH‘n.i. Das ;
veiscliwand iiidpsseti Ta.ü:eii, wäh¬
lend der Krankt' erst nacli fiini' Wuclien genas. .\('linli(di(‘
lä'sclK'imingen hat (‘r auch in zwt'i weiteren Fällen heoh-
achlel.
Ilai’ris und Herzog, Prol't'ssoi’en der Poliklinik von
Fliicago, teilen in der Deiitsclien Zeitschrift für Chirurgit'
(Jahrg. IhOl) zwei ä’älh' von Alilzexstirpidion mit. Der erste
hezieht sich auf eine 22,iährige ID'au mit Anaemia splenica, ,
heziehungsweist' Sph'iiomegalia i)rimit,iva. 80 iStmnh'n nach
dei' ( )[)(U'atioti stieg die Teinperatur auf k', das heißt'
l)einah(' 40** (’, und Itew'egte sich nachher zwt'i Wochen
hindurch zwischen 87-<S'* und 88-8*’ (’. Auf dem Ope’rations-
gehit'te zeigte sich nichts, was die 'remperalursteigt'rung
('i'klärt'u konnte. An Wt'chselfieht'r hat die Kranke niemals
gelitten, es konnte daher als Frsaclie der Temperatiirsteige-
rungeji auch diese Krankheit nicht in Betracht kommen.
Das Allgenu'inhefitiden dei’ l.^alienlin war trotz des Fiebers
stets t'in befriedigendes und sit' A'erließ das Spital drei
Wochen nach der Operation, dem Anscheine nach, voll¬
kommen geheilt. Aach ('inejn AVohl befinden von 8V2 Monaten
empfand die Patientin in der 'Magengegend ('in unangenehmes
Oefühl, si)äler entstanden daselbst Schmerzen, welche an
Stärke immerfoii Zunahmen; auch hat sie einige Tage hin¬
durch Blut ('rhrochen. Die Oedärme meteoristisch aufge¬
bläht ; kolikartige Krämpfe. Aach einer zAvei Alonate lang
fortgesetzten häuslichen Behandlung suchte die Patientin
neuerdings das Spital auf. Die Schmerzen lokalisierten sich
zu dieser Zeit auf die Pankreasgegend, welche auch gegen
Druck stark emi)fiudlich war. Die Temperatur betrug lOt*’
bis 102** F (d. i. ßS-ß** bis ßS-O*^ C). Die Kranke erbrach
alles, so daß sie i)er Rektum ernährt werden mußte. All-,
mählich stellte sich spontane Besserung ein, nach einigen.
Wochen verließ sie vollends geheilt das Spital. Anderthalh
Jahre nach der Operation votlsländiges Wohlbefinden. Der
Bang dei' Operation ist nicht geschildert, doch betonen die
.\utoren, daß sie di(' 'rempieratursteigerungen nicht zu er¬
klären wissen.
ln einem zweiten Falle, der einen 44.iährigen Alann
betrifft, wurde die Alilzexstirpalion ebenfalls wegen Spleno¬
megalie' ausgeführt. Fiunittelbar nach der Operation war der
\'e]lauf ein ziemlich ungestörter, inrlessen traten bereits
nach drei Wochen intensive Bauchschmerzen in Begleitung
von Blähung, Frbrechen und hartnäckiger Obstiiiation auf.
Fine Darnnnkarz('ralion annehmend, befaßten sich die'
.\ut()ren bereits mit dem Oedanken einer Betaparotomie, als
die Erscheinungen nach einer staltgefundenen Stuhlenllee-
rung nachzulassen begannen. Die d'emperatur schwankte
bei diesem Kranken im Laufe der ersten zehn Tage zwischen
ß7-2” bis 87-8** C Ah)** bis 100'* F), wobei sie bloß am zweiten
J’age bis auf 88-8*’ ■ 0 ('ini)orsiieg. Auf dem Operationsfeld
zeigte* sich keine' krankhafte Reaktion, so daß sich die
Temperatursteigerung auf diese Weise' nicht erklären ließ.
Doch ist zu bemerken, daß infolge der Aethernarkose eine'
leichte bronchiale Irritation zu beobachten war.
Im ersten Falle von DoUinger-) heilte die Bauch¬
wunde der wegen .Vnaenha splenica operierten Kranken ohne
Komplikationen, de'nnoch wurden drei Wochen hindurch
Temperatursteigerungen von 88*’ bis 884*’ C beobachtet.
Die einzeliK'u Aloinente de'r Operation finden wir in diesem
Falle nicht detailliert, ln seinem zweiten Falle war der
Schweif der Bauchspeicheldrüse mit dem Hilus der Wander¬
milz verwachsen, so (laß beide zusammen entfernt worden
sind. Die Wunde der Ivaparolomie heilte bei dieser Kranken
per primam, trotzdeun stieg die Abendtemperatur der Pa¬
tientin bis auf 88-8** (', zwei Wochen nach der Ojieration ^
einige? 'tage hindurch sogar bis auf 89** bis 89-1*’ ('. Die
Temperatursteigerungen bestanden 25 Tage lang; während',
diese'i' Zeit war im Bauche, dem Alilzstumpfe entsprechend,
eine unempfindliche umschriebene Resistenz zu beobachten.
Aus all diesen Ihnständen geht deutlich hervor, daß
sich die Fieberbewegungen, welche nach Alilzexstirpationen
Orvosi Hetilap 1902.
; in einem großi'u 'teile der Fälle anftreleu, nicht immer auf
diejenigeu palliologischeu Veränderungen zurückgeführl
werden können, welche ge'A'ölmliedi als IT'sachen der Tem-
peratursteigerungeli nach anderweitigen Laparotomien gehen.
iXalurgemäß kommen auch hier Fälle vor, wo d,as Fieber
durch Wundhifektion ode'i' Pnpumonie be'diiigt wird, so zum
Be'ispiel bei meineni zu bese hreibenden e'rstcn Falle, , wo
eine katarrhalische Pneumonie der rechten Lunge die be¬
obachtete 'Temperalursteigeiung zur Genüge erklärt, ln zwei
anderen Fällen konnte jedoch eine solche banale Frsache
des Fiebers nicht gefunden werden.
Bevor ich mich mit dej‘ Erklärung eler Fieberursache
in diesen Fällen eingehei.rd befasse, sei der postoperative
Verlauf meiner fünf, in den letzten anderthalb Jahren aus¬
geführten Alilzexstirpatioiu'ii in kurzen Zügen dargestellt.
1. S p 1 e n o m e g a 1 i e a u f m a 1 a r i s c h e r Grundlage m i t
L (' b (' r h y p e r t r oph i e, Aszites und Anämie. Alilz-
e X s I i r p a I i 0 n, H e i 1 u n g.
M. L. 8., 32jälirige Taglütniersfrau von Resiczabätiya. Ahdten'
starb in ihrem 50. Lebensjahre; HOjäbriger Vater lebt und ist
vollkommen gesund. Keine Kinderkrankheiten. Ihre erste flegel
trat nnt 18 Jahren auf und war seitdem — abgesetien von drei
Frühgeburten und einer normalen Gravidität — stets normal.
Seit einem Jahre zeigt sich -die Menstruation nur durch einige
Tropfen Blutes. Die Graviditäten wurden angeblich durch Heben
schwerer Lasten vorzeitig unterbrochen. Im Alter von 24 Jahren
litt sie* ein Jahr lang an ,, Wechselfieber“ und sollen zur selben
Zeit in ihrem damaligen Wohnort — Gyurgyova — mehrere Per¬
sonen von derselben Krankheit liefallen gewesen sein. Die Krank¬
heit wich damals ohne jegliche Behandlung, kehrte jedoch vor
einem Jahre neuerdings zurück. Seit fünf .lahren wächst in ihrem
Bauche eine stets schmerzhafte Geschwulst; seit drei Jahren
wird die Frau immer schwächer, ist hlaß, fühlt sich krank und
ist seither gänzlich arbeitsunfähig. «
Bei der A u f n a h m e zeigen die B r u s t o r g a n e der Kranken
keine Veränderung. Bauch schlaff, die linke Bauchliälfte stark
hervorgewölbt. Diese Seite ist durch eine, beiläufig die Form
der Milz annehmende, gleichmäßige, fast knorpelharte, leicht be¬
wegliche, den Atembewegungen jedoch nur mäßig folgende, flache,
kuchenförnuge Geschwulst ausgefüllt, deren scharfer innerer Band
ungefähr in der Mitte* einen Finschnitt aufweist und über welche
der P(*rkussionsschall absolut dumpf ist. Der Band der Gescliwulst
kommt unter denn linken Biiipenbogen in d(*r Paraste'rnaliinie zum
Vorschein, zieht in konvexer Bichtung in der Höhe des Nabels
nach vorne und zeigt die* leereils ei'wälmte Kerbung, ln der
Mamillarlinie reicht die Geschwulst iu die Fossa iliaca und wird
erst zwei Fingei' über der Symphyse unpaii)abel.
Die* am unteren Bande der sechsten Bippe beginnende Leber¬
dämpfung endet am Bippen bogen. Sonst findet sich in der Bauch¬
höhle keine abnormale Dämpfung oder Besistenz vor. Der Harn
enthält keine abnormalen Bestandteile.
Laut der durch Dr. Körmöczy angestellten Blutunler-
suchung beträgt die Zahl de]- roten Blutköi-percheu 2,500.000 |)ro
Kubikmillimeter, die der weißen 4600, während sicli der Häino-
globingehalt auf 65'’o beläuft. In den mit Triazid und Giemsa-
schein Azur gefäi-blen Präparaten zeigen die roten Blutzellen
Nm'inozytentypus und gelinge Poikilozytose; Normoblasten sind
nicht vojhanden. Das Prozentualverhältnis der weißen Blutzellen
ist folgendes: 55'ö> polynukleäre* Leukozyten mit neutrojihilen
Granulationen, kleine Lymiihozyten, lO'lo große Lympho¬
zyten. Auf jedem Präparat findet sich eine eosinophile Zelle,
Aiyelozyten fehlen. Die unmittelbar vor der Operation angestellte
Untersuchung ergab im großen und ganzen dasselbe Besultat.
0 p e r a t i o n a m 15. J u n i 1904 i n (’ h 1 o r o f o r m n a r k o s e.
Der in der Linea alba geführte, 20 on lange Schiiitt be¬
ginnt 1 cm unter dem Sebwerffortsalz tmd reicht bandflächeiii-
weit unter den Nabel. Geringer Aszites; große, bis zu dom
Nabel sich erstreckende, weiclie Leber. Die .Milz, deren
oberer Pol durch membranösc Adliäsionen an das Zwerchfell
fixiert ist, läßt sich ei'st nacli Trennung der.selben herauswälzen.
Ihr handbreiter Stiel wird in Klammern gefaßt und die großen (|e-
fäße einzeln unterbunde]]. Die von der Aldösung der Adhäsioneiv
bedingte geringe Blutung wird durch umfassende Ligatur ge¬
stillt. Verschluß der Bauclihöhlo mittels durchgreifender Nähte.
Verband.
Das Gewicht. de*r e'nifernten Alilz beträgt 2850 g-, elas des
sieb aus derselben ergießenden Blutes 850 g, zusammen 3700 g.
Ihre Größe ist 32 X 20 X 10 cm ; ihr größter Umfang beträgt
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
125
72 {'Hl. Die Kapsel ist zäh, has Bauelilell am uljereii L’ol aul eine]'
linsen- bis kreuz(‘rgroßen Fläche glänzend weiß, sehnenarlig
verdickl.
Mikr.uskopischter Betund: Die Bindegewel)skapsel der
.Milzoberfläche zeigl keine auffallende Verdickung; zieudich starke
Bindegewebsbalken erstrecken sich von ilir in die .Milzpulpa,
zwischen denen ein dichtes Retikulum zu finden ist. Die Holil-
räuine und Ritzen zwischen den dicken und zellreichen Netz-
inaschen derselben sind teils leer, teils mit Blut gefüllt.,' zu be-
nierken ist jedoch, daß diese letzteren gegen die Pulpe zu sehr
in den Hintergrund Ireten. Sowohl in den leeren, als auch in den
blutgefüllten Räumen sind neben den Erythrozyten aucti verhält¬
nismäßig viele falblose Blutkörperchen zu finden; in einigen
dieser Räume lassen sich auch die Endothelien gut erkennen ;
dieselben sind dick, an den meisten Stellen aber voii den übrigen
Zellen kaum zu unterscheiden, ln den erwälmten lilutenthal-
tenden Ausbuchtungen, teils auch an deren Rändern lassen sich
hie und da einige größere, intensiv gelb tingierte Zellen mit, breitem
Plasmasaum erkennen, deren Körner im allgemeinen dunkler ge¬
färbt sind als die der übrigen Zelten. Diese Zellen erscheinen
zumeist vereinzelt, wir finden nur ab und zu zwei bis drei solche
nebeneinander; größere Gruppen bilden sie nirgends. Rot tingierte,
hyaline Zellen sind nicht vorhanden. Malpighische Follikel sind
nur iu mäßiger Zahl zu finden ; dieselben sind klein und nicht
genügend scharf abgegrenzt.
Diagiiose; Hypertrophia lienis byperplastica (Professor
Per tik).
Verlauf: Der rknlungsprozeß, wird durch eine
katarrhalische Bronchopneumonie gestört, welche auf den
mittleren und unteren Lappen der rechten Lunge lokali¬
siert ist. Die Temperatur erreicht trotzdem, daß das Opera¬
tionsterrain absolut reaktionsfrei, der Bauch nicht aufge¬
bläht und unempfindlich ist, kein Erbrechen auftritt und
sich Winde und Harn spontan entleeren, bereits am ersten
Tage nach der Operation abends 40® C und verbleibt von
da ab bis zum vierzigsten Tage nach der Operation stets
erhöht. Die Temperatursteigerungen, die sich zwischen 37-8®
bis 40® C bewegen, zeigen im großen und ganzen den Cha¬
rakter der Febris continua continuens. Nach Remissionen
von einigen Zehntelgraden steigt die Temperatur, von mehi'-
fach wiederholten Schüttelfrösten begleitet, neuerlich in die
Höhe. Hiebei entwickeln sich allmählich auch die übrigen
physikalischen Erscheinungen der Bronchopneumonie. Der
Perkussionsschall ist üljer dem mittleren und oberen Lappen
der recbten Lunge gedämpft, ebendaselbst sind bronchiales
Atmungsgeräusch und stellenweise feuchte Basselgeräusche
vernehmhar; zeitweise zeigt sich rubiginöser Auswurf.
Nachdem infolge des protrahierten Fiebers auch der
Verdacht an Tuberkulose auftaucht, wird auch eim* l)ak-
terielle Untersuchung vorgenommen, doch wurden im Aus¬
wurf keine Koch- Bazillen, son dem bloß F r i e d 1 ä n d e r sehe
Bazillen, doch auch nur in geringer Menge gefunden, die d(m
Charakter des Prozesses zweifellos klarstellten.
Nach beinahe sechswöchentlichem unausgesetzten
Fieber lassen die Temperatursleigerungen lytisch nach, wäh¬
rend der über den Lungen hörbare, mehr tympanitische Per¬
kussionsschall auf Lösung des Prozesses hinweist. Seit
dieser Zeit ist die Kranke stets fieherfrei, fühlt sich voll¬
ständig wohl und verläßt das Spital alsbald vollends
geheilt.
Der Blutbefund war — - 32 Tage nach der Operation
untersucht — folgender; Die Zahl der weißen und roten
Blutzellen entspricht ungefähr der vor der Operation ge¬
fundenen, der Hämoglobingehalt heträgt 58%,. Die roten
Blutkörperchen zeigen Normozytentypus, Normohlasten sind
nicht vorhanden, ,Von den weißen Blutzellen sind 60%
polynukleäre, 40% mononukleäre. Eosinophile oder Mast¬
zellen fehlen gänzlich. • ‘ '
II. 1 n f e k t i ö S e ( ? ) S i > 1 e n o m e g a 1 i e. W a. n d e r m i 1 z m i t
geringer sekundärer Anämie. Exstirpation und
Heilung.
Frau A. F., 28 Jahre alt, Feldwebelsgattin von üj-Arad.
Vater, sowie fünf Geschwister leben und sind gesund. Bis zürn
Reginn ihres gegenwärtigen Leidens war auch sie niemals krank.
Im Dezember des Jahres 1902 tiatte sie zwei Wochen lündurcti
täglich zwei- t)is rlreimal Scliüttelfröste und empfand links, in
tier Kreuzgegend heftige Schmerzen. Auf die von ilirem .\rzle
veroi'dneten Bäder und Umschläge besserte sicli ilir Zustand und
sie fühlte sich seitdem bis zum März 1904 ganz wold. Zu dies('r
Zeit traten in der linken Bauchhälfte z(‘rrende, ausslrahleude
Schmerzen auf, die nacli schwerer Arbeit oder fort¬
gesetzter Bewegung noch zunalimen. Seither v('rspürl sie in der
linken Bauchhälfte eine Geschwulst, welche ilire Lage oft wechselt.
Die Stuhlentleerung erfolgt t)loß auf Abfidirmittel, die Hajaient-
leerung ist normal.
Die Bruslorgane der ziemlich gut entwickelten und genähr¬
ten Frau zeigen keine Veränderung. Bauch mäßig vorgewöll)t,
weich. Der Peekussionsschall ist überall scharf tympanitisch bis
auf eine sich vom Nabel nach links ziehende, über tnuidgroße
Dämpfung, welcher entsprechend eine zweifaustgroße, nach jeder
Richtung liin leicht bewegliche, kaum empfindliclie Gesctiwulst
mit glatter Oberfläche fühlbar ist, deren innerer Rand die Mittel¬
linie, der äußere, scharfe Rand aber <lie Achsellinie erreiclit,
während sie oben zwei Finger ül)er dem Nabel, unten zwei Finger
über dem P o u p a i' t sehen Bande endet. Die Milzdämpfiing ver¬
schwindet hei lechtseitiger Lagerung <ler Kranken, die beschrie¬
bene Geschwulst ist indessen leicht unter <ten linken Rippenbogen
verschiebbar, wobei ungefähr zwei Drittel des vorher ])erkutierten
Trau he sehen Raumes gedämpften Perkussionsschall ergehen.
Der Harn enthält keine krankhaften Bestandteile. Die durch
Dr. Körmöczy angestellte Blutuntersuchung ergab eine gering¬
gradige, sekundäre Anämie; Leukozytenzahl 21.800.
0 p e ration a m 14. .1 u n i 1904 in C h 1 o r o f o r m n a r k o s e.
Der gr()ßere Teil des in der Mittellinie geführten, 20 cm
langen Schnittes fällt über den Naljel. Nach Eröffnung des Bauch¬
felles kommen der etwas gesenkte Magen und das Netz zum Vor¬
schein. Der Geschwulst entspricht tatsächlich die in der linken
Fossa iliaca gelegene Milz, welche ungefähr dreifach vergrößert ist
und sowohl das Ligamentum gastrolienale, als aucli die' Bauch¬
speicheldrüse und eine mäclitige Falte des parietalen l^ritoneumi^
i\ach sich zieht. Nach vorsichtiger Herauswälzung der iMilz
schreiten wii' an die Unterhindung der Gefäß<', wol)ei ebi Teil
d(‘s Pankreasschweifes in die Ligatur gerät. Nacli der in toto
erfolgten Entf('rnung der Milz wird die Bauchwunde .vollständig
g(‘schlossen.
M i k r o s k o p i s c h e r Befund der e x s f i r p i e r t e n i I z :
Zwischen den Bindegewet)shalken, welche sicli von der etwas ver¬
dickten Milzkaiisel in die Pulpe erslJ'ecken, sind die helrächtliidi
vernndii len Netzmas(dien mit Pulpenzellen reichlich ausgefülll. Di '
Pulpa Ijesleht aus den bekannten, liochpolymorphofischen Zellen,
zwischen welctien die Lympliozyten prädominieren; in mindm'ei’
Zahl sind anden* liekannte Leukozytenformen zu finden, wc'itei-
hin neben diesen aucli mehrere größere, sogenannte täilpenzellen
mit runden oder ovalen Kernen, hie und da Zellen mit großem,
lireiten Piotoplasma, welches an die Plasmazellen gemalmt und
großem, exzentrisch gelagerten Kerne. Von Erythrozyten sind
iin Präparat nur einzelne vorhanden, dagegen sind sowohl Pig-
menlzellen, als auch Pignientschollen frei zwiscdien den Zellen
in heträchllicher Zahl zu beobachten. Zwischen den Inedullären
Strängen liegen die stark erweitmäen, al) und zu förmlich höhlen¬
artigen Milzvenen, deren Wände mit großkei'iiigen Endothelien
ausgepolstert sind. Die Wände der größeren Arterien sind etwas
verdickt. Die M a 1 p i g h i sidien Follikel sind nicht vergrößert, wie
auch am trabekulären Bindegewebe keine Vermelu'ung zu kon¬
statieren ist.
Vlikroskopisch sind in den histologischen Präparaten die
normalen Gewehselemente der Milz zu' sehen mit einer beträcht¬
lichen Zunahme der Pulpazellen. Das. trabekidäre Bindegewebe
ist nicht vermehrt. Die Vcu’größerulrg der ^lilz ist demzufolge
f'iner zelligen Hyperplasie zuzuschreihen.
Diagnose: Zeitige Hyperplasie.
Verlauf: Nadi der Operation zeigen sich absolut
keine peritonealen Ersclieiiiungen, die Stelle des Eingriffes
ist vollkommen reaktionsfrei; sO' daß die Nähte der per
priinam geheilten Baiichwunde bereits am siebenten Tage
nach der Operation entfernt Averden können, fjaut der am
21. Juni angestellten Blutuntersuchung beträgt die Zahl der
roten Blutkörperchen 4,300.000, die der weißen 14.000, die
Hämoglobinmenge 85-9%. Die roten Blutzellen zeigen Normo-
zytentypeii. Normo blasten fehlen, während ein bis zwei
Makro- und Mikrozyten nachweisbar sind. Von den weißen
Blutzellen sind 18% groß, mononukleär, ungranuliert, 10%
kleine Lymphozyten, 20% <H)sinophil, 70‘’'o polynukleär,
I neutrophil, granuliert.
X
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
Das allgeiiKMin? Befinden und die Tein])ei'a(ur der
Kranken ('nl.sprkdd jedoch dein reaklionsfreien Verlanh'
nichl. .\n d(‘r linken Seile Ireleii zuwidlen SclinuM'zen auf,
während die T(‘ in ]j ('. ra tu r sniifehril is l und am
HO. .1 11 n i das Maximum von 38-4'^ C erreicht. Gleich-
z(‘ilig isl in der Jjaucliliühle eine sdnnerzliafle Resistenz
zu konslalieren, die nacli rechts von der rechten para¬
sternahm Jiinie begrenzt wird, in der Mittellinie bis zwei
Finger über den Nabel reicht, sich von hier aus steil nach
links und unten fortsetzt und mit ihrem liefsten Punkte
in der Verlängerung der linken Alamillarlinie, drei Finger
über (hmi F*onparts(dien Bande endet. Die Resistenz er¬
streckt sich sodann in horizontaler Bichlung bis zum oberen
Rande des Rüftkammes, den er in der vorderen Acbsel-
linie erreicht; ihre olierc Grenze verliert sich unter dem
linken Rippentiogen. Der Perkussionsschall ist über der
Resistenz dumpf. Allmählicb wird die Resistenz kleiner,
die Empfindlichkeit läßt nach, die subfebrile Temperatur
bleibt jedodi unverändert, bis sie am 8. Juni, am 24. Tage
nach der Operation, in Begleitung eines Schüttelfrostes plötz¬
lich bis auf 39” C steigt. Von diesem Tage an erreicht
die Temperatursteigerung stets drittäglicli, wiederholt von
Schüttelfrösten begleitet, über 40” C (.Maximum 40-5” C),
während {lie Temperatur zwischen je zwei Exazerbationen
normal oder subfebril l)leibt. Da das regelmäßige Auftreten
der Temperatursteigerungen, welcdie sich sechsmal wieder¬
holten, den Verdacht auf Weehselfieber erweckte, wird eine
Blutuntersuchimg vorgenommen, welche jedoch keine Ma¬
lar i ap I asm 0 dien e r gi 1 > t.
Seit dem letzten (secüisten) Eieberanfall am 22. .limi
ist die Temperatur beständig normal, die Resistenz wird
auf resorbierende Behandlung allmählich kleiner, das All¬
gemeinbefinden ist äußerst befriedigend.
Bei der am 28. Juni vorgenommenen Untersuchung
ist keine Resistenz mehr vorhanden.
Am 5. August verläßt die Kranke geheilt das Spital.
111. Durch Milzexstirpation geheilter Fall niala-
rische r S p 1 e n o m e g a 1 i e.
1. M., tili iiu Aller von 15 Jahren an Wechselfieber. Lues
und xVlküholisnius werden in Ahrede gestellt. Angeblich fühli der
Kranke seit fünf Jahren, daß er fortwährend schwächer Avird,
wobei er zeitweise an Ateinheschwerden und Kopfschmerzen leidet.
Seither entwickelt sich in der linken Bauchhälfte eine Geschwulst.
Seit dem Herbste des Jahres 1904 treten sämtliche Erscheinung('n
in gesteigertem Älaß'C auf und seit dieser Zeit hat er A^iermal —
zuletzt im April 1905 — ohne jede äußerliche Hrsache teils ge¬
ronnenes, teils flüssiges, scliAvarzes Blut erbrochen. Nach dem
Blulerhrechen Avar der Stuhl vier bis fünf Tage bindurch in der
Hegel blutig.
Bei der A u f n a h ni e zeigen die Brustorgane des mäßig
(MilAvickelten, blassen Kranken keine Veränderung. Der Bauch
Avölbt sich, namentlich an der linken Seite, vor. Die Leber etwas
vei'großcrt, die obere Grenze der Lebeidämpfung entspricht der
.sechsten, Ijzav. siebente)! Rippe, AA’ährend ihre untere Grenze
hei tiefer Insj)iration unter dem Rippenbogen fühlbar ist. Die an
der siebenten Rippe beginnende Milzdämpfung übergeht in eineu,
die linke Bauchhälfte hervorAVÖlbenden Tumor, der uach inneii
beinahe die .Mittellinie erreicht nnd nach unten in der Hübe
der Spina ant. sup. endet. Die glatte, harte Geschwulst ist auf
Di'uck kaum empfindlich, hingegen sind die Knochen beider Ober¬
und Unterextj'emitäten auf Druck schmerzhaft. Von Adenopathie
keine Spur.
Die durch Dr. Körmöczy vorgenommene Blutuntersuchung
(2. Juli) ergab folgendes Resultat: Zahl der roten Blutkörperchen
3,800.000, die der Aveißen 5000; Hämoglobingehalt 75'yo. Die
Erytlu'ozyten Aveisen Aveder bezüglich der Form, noch hinsichtlich
derGröße Abnoruiitätei) auf. Von den Aveißen Blutzellen sind 62'Vo
polynukleäre, neutrophile Leukozyten, 320,0 kleine Lymphozyten,
200/0 große Lymphozyten. Hie und da fanden sich zerstreut eosino¬
phile Zellen, Mastzellen und Myelozyten, insgesamt ca. 20o.
Operation am 7. Juli 1905 in C hl o r of o rni n a r k os e.
18 cm langer HautschnitI in der Mittellinie. Die Bauchhöhle
enthält keine freie Flüssigkeit. Die Leber, namentlich der linke
Lappen, ist stark Amrgrößert, sehr blutreich, die Oberfläche
granuliert.
Bits llejauswälzcui de)’ mittels Bseiidomembianen oben au
den Magen, unten an dem Kolon fixierten Milz ist mit mäßigen
SchAviei'igk(dle]i veibimden. Die in dem ca. 18 bis 20 cm langen
Hilus gelegene, fingei'dicke Vene und kleinfingerdicke Arterie Aver-
den in Klammern gefaßt. Große ScliAvierigkeiten verursacht die
Versorgung des Ligamentum gastrolienale, das überaus kurz ist,
infolgedessen Avdr bei dem Durchschneiden desselben sehr nahe
an den Magen und an die Bauchspeicheldrüse gelangen. Die Ge¬
fäße Averden en masse unterbunden, die Milz in toto entfernt,
d(‘r dadurcdi entstandene, gi'oße Hohlrauni sorgfältig tiimponiert
und der Stumpf des Mitzhilus mittels einiger Seidennähte ver¬
sorgt. Daraufhin vollständige, schichtenAAxdse Wreinigung der
BaucliAvände.
Die l.änge der exstirpierten Milz betrug 28 cm, ihre größte
Bi'eile 17 cm. Ihre Oberfläche ist glatt und Aveist. bloß am oberen
Pole ZAvei kronengroße, durcb Perisplenitis callosa bedingte Sehnen¬
flecken auf. .An den histologischen Präparaten (Dr. Kirälyfi)
läßt sich bedeutende Verdickung des BindegeAvebes des Stroma,
stelleiiAveise mit hyaliner Degeneration, konstatieren. Das ver¬
mehrte Bindegewebe durchziebt in Form dünner Stränge einen
bedeutenden Teil des Milzparenchyms.
Die Follikel sind atrophisch, die Pulpazellen durch inter¬
stitielle, hämorrhagische Infiltration dissoziiert; an anderen Stellen
zeigen .sich ausgebreitetere Blutungen. Letztere entsprechen den
malu’oskopisch sichtbaren, schwarzroten Stellen.
Verlauf: Trotzdchra das Operationsgebiet durchaus
reakliousfrei ist und die Nähte der per prinram vereinigten
Bauchwunde bereits am achten Tage nach der Operation
entfernt Averden können, wird der Verlauf dennoch durch
Teinperatursteigerungen gestört, die am vierten Tage 39” C
überschreiten. Dal)ei bestehen bloß Erscheinungen einer
leichten, akuten Bronchitis mit starkem Husten und bedeu¬
tendem Auswurfe, welch letzterer, fla sich mit demselben
auch Blutstriemen entfernen, auch hinsichtlich Koch scher
Bazillen untersucht wird. Resultat negativ.
Der Blutbefund ist neun Tage nach der Operation
folgender: Zahl der roten Blutkörperchen 1,890.000, die
der weißen Blutzellen 20.800, Hämoglobingehalt 60 To. Die
beiläufig dem Typus der Febris continua continuens ent¬
sprechenden, nur selten über 39” C steigenden fieberhaften
Temperalursteigerungen dauern beinahe fünf Wochen lang.
Dabei ist in der Tiefe, links von der Wirbelsäule, dem
unterbundenen Milzstum])f entsprechend, eine flache, gegen
Druck empfindliche, harte, handflächengroße Resistenz fühl¬
bar, welche sich hinter dem Alagen auf die Lumbal- und
Milzgegend erstreckt. Der P(u-kussionsschall ist über der¬
selben stets tympanitisch. Außerdem treten stechende
Schmerzen, häufig Ueblichkeiten und Erbrechen auf. Auf
resorbierende Behandlung und fortgesetzte Verabreichung
von Chinin beginnt indessen das Fieber allmählich abzu¬
nehmen, wobei auch die fühlbare Infiltration verschwand.
Die letzte Temperatursteigerung (mit einem Alaximum von
38” C) wurde am 14. August, d. h. am 38. Tage nach der
Operation, beobachtet, seit dieser Zeit ist die Temperatur
beständig normal. Das Allgemeinbefinden des Patienten
Ijesserte sich allmählich und derselbe verließ am 18. August
vollständig geheilt das Spital.
Einige Wochen nachher wurde der Kranke neuerlich
vom Fieber befallen und lag 20 Tage lang, auf der Ab¬
teilung des Prof. Ängyän, bis er ganz defervesziert.
Seitdem ist er nunmehr niehrere Monate hindurch gänz¬
lich fieberfrei, fühlt sich sehr wohl, hat wieder Appetit und
eine Gewichtszunahme von 12 kg. Der Blutbefund war am
30. Jännei' 1906 folgender : Zahl der roten Blutkörperchen
4,600.000, Zahl der weißen ßlutzellen 8000, Hämoglobiii-
gehalt 105. Das Blut zeigt Normozytentypus; von den weißen
Blutzellen sind 74To polynukleär. 22To Lymphozyten, 3To
eosinophil polynukleär. ITo basophil.
Bei der am 25. Februar 1906 vorgenommenen Unter¬
suchung fülilte sich unser Patient, \mn unwesentlichen
Hückenschmerzen abgesehen, ganz wohl. Er war arbeits¬
fähig, ständig fieberfrei, der Appetit war gut, die Stuhl¬
entleerung normal. 01)jektiv war der rigide Thorax im
unteren Teile glockenförmig erweitert, nahm an den Atem¬
bewegungen kaum teil, so daß dieselben ganz abdominalen
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
127
lyRiis zeigten. Die Herzdäiupfuug war äußerst klein, keine
Fingerbreite. Die Lebertlämpfung begann in der Parasternal¬
linie am nnteren Rande der sechsten Rippe, überschritt
da tlen Rippenbogen nur um ein (ieringes mul endete in
der jMamillar- und vorderen Achsellinie am Rippenhogen ;
folglich erschien die Leber keinesfalls vergrößert. In dem
muldenartig eingezogenen Bauche war an der dem Pankreas-
schiveife entsprechenden Stelle keine Resistenz fühlhar, doch
war der Bauch über dem ganzen Colon descendens gegen
Druck noch etwas empfindlich; daseihst war der Perkus¬
sionsschall bis zur Mamillarlinie etwas gedämpft und ging
derselbe in eine an dem unteren Teile der linken Thorax¬
hälfte hefindliche, gedämpfte Zone über. Diese Zone er¬
streckte sich, der normalen Lage der Milz entsprechend,
in der Ausbreitung von anderthalb Handflächen auf den
unteren Teil des Bnrstkorbes und wurde von oben durch
eine nach oben konvexe Linie abgegrenzt, die in der mitt¬
leren Axillaiiinie den Rand der zehnten Rippe, in der hin¬
teren Axillarlinie den unteren Rand der neunten Rippe er¬
reichte und dann bogenförmig nach hinten ziehend die
zwölfte in der Skapularlinie kreuzte.
Bei tiefer Inspiration bewegte sich der obere Rand
der Dämpfung abwärts.
Ahichdem im vorliegenden Falle nicht angenommen
werden kann, daß die große Dämpfung in ihrem ganzen
Umfange allein durch ein subphrenisches' Exsudat bedingt
ist, erscheint es überaus wahrscheinlich, daß die Dämpfung
teilweise dadurch entstand, daß sich der Leberlappen der
Brustwand angelegt hatte, wie ich dies bei Fällen voji
Wandermilz, sowie nach Milzexstirpationen zu beobachten
wiederholt Gelegenheit hatte. Daß die Leher in der Tat
den Platz der Milzdämpfung einnahm, darauf weist auch das
Röntgenbild hin. Die rechte Zwerchfellkuppe, die in der
Regel einen nach oben stark konvexen Bogen bildet, zeigt
im gegebenen Falle eine sich von der Brustwand bis zur
Mittellinie ei*streckende gerade Linie, in einer gewissen Lage
sogar einen nach oben etwns konkaven Bogen. Dies ist
daraus erklärlich, daß das Zwerchfell durch die nach links
verschobene Leber mittels der Lig. falciforme hepalis nach
unten und links verzerrt wird.
IV. jVIit Leberhypertrophie verbundene Spleno¬
megalie, Milzexstirpation, Heilung.
R. S., 37jähriger ilieiistboU! von Ujpest. Der Valer starb
an einer ihr iinbekajinten Krankheit, die Müller an einem Danch-
leiden. Auf Kinderkrankheiten kann sie sich nicht erinnern. Seit
ihrer Kindheit leidet sie häufig an Nasenbluten. Erste Regel mit
13 Jahren, dann bis zum Beginn der gegenwärtigen Krankheit
qualitativ wie (piantitativ normal; seitdem stets unregelmäßig,
in den letzten Monaten bei fünf- bis sechstägiger Dauer zwei-
bis dreimal wiederkehrend. Vor zwei Jahren hat sie Typluis
überstanden. Spirituosen hat sie nicht genossen, Lues undWechsel-
fiel)er werden in Abrede gestellt.
Seit sechs Jahren verspürt sie im Bauche heftige, krampf¬
artige Schmerzen, welche wochenlang bestelnm und nur auf einen
oder zwei Tage aussetzen. Zu Beginn der Krankheit hat sie
vder Wochen liindurch wiächentlicli zweimal erbrocdieii; der Aus¬
wurf ist von geringer Menge, riecht sauer, enthält Speisereste',
und war niemals blutig. Seit vier Jahren l)emerkt sie, daßi ihr
Bauch wächst und seit der genannten Zeit empfindet sie im
Bauche ein spannendes Gefühl. Vor drei WoVlien traten sich täg-
licli wiederholende, eine Woclie lang dauernde Schüttelfröste dazu,
die .mit reichlicher Diaphorese endigten. Ihres Leidens halber
suchte sie wiederholt das Spital auf und wurde zuletzt vom
o. Juni bis 27. August 1905 im St. Stephans-Spital behandelt.
Bei der x\ufnahme zeigt'n di(; Brustorgane der mäßig ent¬
wickelten und g('nähr-ten Kranken keine. Veränderung. Der mäßig
vorgewülbte Bauch erscheiid namentlü h in der linken Hälfte auf¬
gebläht. Die obere Grenze der Leberdämpfung befindet sich am
unteren Rande der sechsten, am oberen Rande der siebenten,
bald am unteren Rande der sieben ten Rippe. D<'r rechte Leber¬
lappen überschreit(d den Rippenbogen um eine Handfläche, sein
glatter, harter Rand isl. ('twas abgenmdel. Die obere Grenze der
Milzdämpfung Ix'fimb'l, si(b am mderen Rande der siebenU'ti
Hipp(' und endet, den Rippenbogen überschrc'ilend und nach
rechts und untoi ziehend, zwei Qucjfinger unter dem Nabel.
Cie Milz ist von harter Konsistenz, auf Druck empfindlich, iiire
Oberfläche uneben. In der Tiefe der Rauchhöhle isl — iu schein¬
bar geringer Menge — frei bewegliche Flüssigkeit vorhanden.
Das Ergebnis der Blulunlersucbung ist folgendes: Zahl der
i'oten Blutkörperchen 4,200.000, die der weißen 7000; ILimo-
globingehalt 92°, o. Unter dem Mikroskop ergibt sich Normozylose
mit gei'inger Anisozylose, Normoblasten sind nicht vorhanden.
Von den weißen Blutzellen sind 74Fo polynukleär neutrophil
granulierl, 22Fu Lymphozyten, 20) Myelozyten, 2To eosinoi)hile.
Operation am 27. September 1905 in Ghloroforni-
Aethernarkose.
23 cm langer Schnitt. In der Raucbhöhle kein fix'ies Exsudat.
Der obere Pol der bedeutenrl vergrößerten Milz ist an das Zwerch¬
fell fixiert, ihi' Herauswälzen trifft, nachdem die Adhäsionen
teils stumpf, teils scharf gelöst werden, auf keine größeren
Schwierigkeiten. Die Arterie und die staik erweiterte
Vena lienalis werden unmittelbar beim Hilus iso¬
liert und unterbunden, wobei darauf geachtet wird,
daß kein J,’ eil d er B a u c h s p e i c h e 1 d r ü so in die Ligatur
gerate. Infolgedessen rutscht ein Teil der Ligaturen ab, wes¬
halb wir eine neue, doch das Pankreasgewebe nicht niitfassende
I.igatur anbringen. Die Leber ist vergrößert, etwas blntreich, von
glatter Oberfläche. Vollständige, schichtenweise Verscdiließung der
Bauchhöhle.
Die Kranke hat die Narkose während der fünf Viertelstunden
lang dauernden Operation sehr schlecht vertragen, ist wiederholt
zyanotisch worden und hat, offenbar infolge der Wirkung des
Aethers, wiederholt erbrochen.
Der histologische Befund der entferjüen, 3 kg schweren,
32 X IG X 12 cm großen ]\Iilz ist folgender (Doz. Dr. Kroni-
p edier): Die Struktur der in der Milz enthaltenen Herde ist
äußerst kompliziert und sehr schwer zu erkläreir. Die genannten
Herde bestehen aus großen Zellen, die rund oder oval und ver¬
schieden groß sind nnd an zahlreichen Stellen schaumiges, be¬
ziehungsweise vakuolenbaltiges Protoplasma aufweisen. Diese
sonderbaren Zellen sind bald ein-, bald zwei- oder mehrkernig,
die Kerne sind rund, eckig oder eingeschnürt, meist blasenartig
und gleichen den Kernen von Epitlielzellen. Dieses Gewebe ist
reichlich mit zwischen den Zellen verlaufenden und das Gewebe
in Grupiien teilenden Gefäßen versehen. Stellenweise sind rund-
zeilige Infiltration, Pigmenlzellen und Plasmazellen sichtbar, die
.iedoch den bereits geschilderten, blasenartigen Zellen gegenüber
im Hintergrund bleiben.
Aehnliche Fälle, bzw. mikroskopische Befunde sind in der
Literatur unseres Wissens nicht verzeichnet. Hanseman]i traf
in einem Falle in der Harnblase ähnliche weiche Herde, deren
histologische Struktur dem eljen geschilderten Bilde entsprach.
Ohne sich hinsichtlich der Natur des Leidens zu äußern, nennt
er dasselbe M a 1 a k op I ak i e. Vorderhand läßt es sich mit Sicher¬
heit nicht bestimmen, ob es sich um einen entzündlichen ITozeß
oder um einen Tumor handelt; ließe auch die weitere Unter¬
suchung die letztere Annahme als wahrscheinlicher erscheinen,
so ist eher an eine gutartige Neubildung zu denken, indem sämt¬
liche Kriterien der Bösartigkeit fehlen.
Verlauf: Im Laufe der ersten auf die Operation fol¬
genden Woclie sinil nebst geringeren fieberhaften Tempera¬
tursteigerungen (maximale Temperatur C) Ersclieiniin-
gen einer akuten Bronchitis zu beobaebten (starkes
Husten, reichlicher eitriger Auswurf,- zirkumskripte Däm¬
pfung an der rechten Seite), welche aller Wahrscheinlichkeit
nach als Folge der schlecht vertragenen Aethernarkose an¬
zusehen ist. Am siebenten Tage schwindet das Fieber, seit¬
her ist die Kranke absolut fieberfrei. Am neLuiten
Tage werden die Nähte der per primam geheilten Bauch¬
wunde entfernt, worauf der Heilprozeß ungestört vor sich
geht; am 3. November verläßt die Kranke vollständig ge¬
sund das Spital.
Der Blutbefund war zur genannten Zeit folgender:
Hämoglobingehall 9()To ; Zahl der roten Blutköi4)erchen
4,600.000, Zahl der weißen Blutzellen 8000. Unter dem
Mikroskop sind Normozytose und Isozytose zu konstalieren.
Von den weißen Blutzellen sind 66 Uo Leukozyten, 28%
Lymphozyten, 6% eosinophil, 2% basophil.
Bei Gelegenheit <ler fünf Monate nach der Operation
\orgenommenen Untersuchung teilt uns die Kranke mit,
daß sie seit der Operation ständig an Diarrhoi' leidet, wäh¬
rend das Operationsgebiet, seitdem sie beim Heben eines
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
1:^0
Wassereimers gefallen war und sich dortselbs! stark an¬
geschlagen hatte, etwas empfindlich ist.
Die Leberdämpfnng beginnt in der Parasternallinie' am
unteren Rande der sechsten Rippe und überschreitet den
Rippenbogen ungefähr um drei Finger. Die Milzgegend ist
gegen Druck etwas empfindlich; Infiltrat läßt sich nirgends
konstatieren. Die Milzdämpfung fehlt vollständig, bloß hinter
der Skapularlinie zeigt sich über der elften und zwölften
Rippe eine geringe, durch eine aufwärts konkave Linie ah-
gegrenzte Dämpfung, zwei Ouerfinger breit und lang, welche
offenbar dem oberen Pole der linken Niere, eventuell dem
linken Leherlappen entspricht.
Echinococcus 1 i e n i s,
Frau .1. S., 38 .lahre all, aus Zsolna. Pät. war stets gesinul,
hat nie an Wecljselfieber uiul d’yphus gelitten und niemals Spiri¬
tuosen genossen ; auch Lues wird geleugnet, wenngleich von
vier Graviditäten die zwei ersten zu Ahortusi führten; ihr drittes
Kind start), drei Wochen alt, an einem unbekannten Leiden, beim
vicu'ten Kinde zeigten sich einige Tage nach der Geburt an beiden
Sohlen desselben Blasen, doch ist das Kind derzeit ganz gesund.
Irn Januar 1905 verspürte sie an der linken Seite des Bauches
und Rückens stechende Schmerzen und gleichzeitig bemerkte sie,
daßi sich in der Gegend des linken Rippenbogens eine Geschwulst
(Mitwickell ; die Schmerzen traten später wöchentlich bloß einmal
oder zweimal auf, Avogegen die GeschAVulst rasch geAvachsen ist.
Seitdem hat Pal. um 3 kg abgenonmien. Urin stets normal.
Das Knochensystem, die Atmungs- und Zirkulationsorgane
der schveich enlAAÜckelten, abgemagerten Frau weisen keine Ver¬
änderung auf. Der Bauch ist, namentlich im linken Epi- und
Resogastrium, vorgeAvölbt, AA’oselbst eine glatte, feste, gegen Druck
unempfindliche, den AtembeAvegungen gut folgende Resistenz fühl¬
bar ist, die sich nacli oben uut(*r den linken Rippenbogen forP
selzt und nach unl(m die Nabelhöhe um Fingerbreite überschreitet;
(hu- innere, etwas scharfe Rand derselben erstreckt sich bis zur
■Mittellinie, Avährend dei' äußere, abgerundete Rand bis in die
Lumbalgegend reicht. An der Vorderfläche ist unter dem Rippen¬
bogen in der vorderen Axillarlinie eine kinderhandgroße, AAudehe,
fluktuier(‘nde VorAA'ölbung fühlbar (Echinokokkus?). Der t*er-
kussionsschall ist über der Resistenz dumpf, die Dämpfung Hießt
mit der Herz- und Milzdämpfung zusammen. Der Leberrand ist
unter dem rechten Rippenbogen nicht fühlbar. Ergebnisse der
Blutuntersuchung am (>. Februar: Zahl der roten Blutkörperchen
■1,247.000, die der AV(dßen 14.000; am 10. Februar: Zahl der roten
Blutkörperchen 4,000.000, di(' der Aveißen Blutzellen 16.000.
Das Blut zeigt Nuj'mozytenty])us mit orthochromatischer Iso-
zylose. Von den AA’eißen Blutzellett sind 64"Ai polynukleäre, neulro-
l)liile, 5"‘' mmtrophih* Myelozytmi, 20'’" eitdeernig klein, (S?'" ein¬
kernig grftßer, D'/o eosinophil mehrkernig, 2'L basophil granuliert.
0 p e r a t i o )i a m 7. M ä r z 1906 in G h 1 o r o f o r ju n a r k o s e.
Oeffnung der Bauchhöhle in der Mittellinie, bald ein Hilfs-
sclmilt quer durch den linken Bektus; die große Milz ist durch
zahlreiche Adlüisionen an das Peritommm parietale und an das
ZAA-erchfell fixiert. Erst nach mühsamer Trennung dieser Ad¬
häsionen und nachdem 214 Liter einer wasserklaren Flüssigkeit
niillels S{)en (•('!• scluMi 'froikai'ls aus der zystösen GeschAAUilst
(Mitleert siiul, läßt sich dieselbe herausAvälzen. Nun Averden
die zum Milzhilus f ü h r e n d e n G e f ä ß e isoliert u n d m i t
S e i (1 e u ri I e i' h u n d e n, av o b e i aa' i r b e s o n d e r s d a r a u f a c h-
|(“n, daß die Lä])pchen ries Pa n k r e a s s c h av e i f (^s nicht
in die Ligatur geraten. Nach Entfernung der Milz Avird die
parenchymatöse Blutung aus den Adhäsionen, soAvie die Blutung
d(M- kleinem Gefäße duich vorläufige Tamponade und mehrläche,
uiid’asseu'h' Nähte gestillt und dann die an der Bursa omental is
))efindlich(‘, 6 cm lang<‘ Sjealte A'ereinigl ; sodann folgt schichten-
AviMse Veu’eijiigung der BauchAVändi“ mit vollslämliger Venschließiing
(h‘r Bauchhöhle.
Die mdterntc' .Milz ist 25 cm lang, 17 cm brcnl und 1350 g
scliAver. Das Milzgeuveda' umfaßt an der inneren und unlmam
lVri])h<*ri(“ Imfeisenfiwmig die mannskopfgroße Echiiio-
kokkemblase.
D(m- ll(qlpr()zeß voi-lärifl irlmal iingr'slörl, di)‘ Kranke*
ist stets gänzlich fieberfrei, was dein üinstande zu-
znschreihen ist, daß der Rankreasschweif beim Ihiterliinden
fl(‘r llilnsgefäße niebt ver](‘fzt Avorden ist.
Die Nälite Averd<*n aebt 'l'age nacb dei' ( liberation (*nt-
feriit. Zur selben Z(‘it belrägl die Zabl der roten Blut¬
körperchen 8,2ß0.000 die der weißen Rlnlzellen 11.200.
Wir sahen im zweiten Falle, daß die Rekonvaleszenz
anfänglich bei gänzlich befriedigendem Allgemeinbefinden
und mäßigen Temperatursteigerimgen vor sich ging, bis
2V2 Wochen nach der Operation im linken liintereiT, oberen
Teile der ßanchhöhle eine aus der' Umgebung ■ •des Opera-
tionsstumpfes ausgehende, flache, ziemlich indolontU Resi¬
stenz fühlbar wurde, welche sich bis zur Wirbelsäule er¬
streckte. Die Resistenz zeigte rasches Wachstum und- er¬
reichte schon nach einigen Tagen den linken Darmbemkamm.
Inzwischen stellten sich (24 Tage iiach’ der ) Operation)
regulär auftretende, hohe (bis 40-5^^ C steigende), intermittie¬
rende Temperatursteigerungen ein. ■ ’ '
Zur Zeit, als sich diese Kranke auf meiner Ableilnng
im St. Stephan-Spital befand, hatte ich in meiner Spitals¬
und Privatpraxis Gelegenheit, zufälligerweise mehrere Fälle
von abdominaler Fettgewefisnekrose zu beobachten, welche
sich an Erkrankungen der Rauchspeicheldrüse anschlossen
und durch meinen damaligen Assistenten Dr. Pölya auch
eingehend beschrieben wurden.
Die ausgeprägte Aehnlichkeit dieser Fälle mit dem
Krankheitsbilde, welches die oben erwähnte splenektomi-
sierte Patientin aufAvies, Avar nicht zu verkennen.
Auffallend war, daß nach der Operation, zuerst auf
einem geringen Gebiete, eine schwer nachweisbare, unbe¬
deutende Empfindlichkeit zeigende retroperitoneale Infiltra¬
tion zustande kam, welche sich im retroperitonealen Fett¬
gewebe etappenweise ausbreitete, so daß Perioden der Ex¬
azerbation und des Stillstandes einander folgten. Die Loka¬
lisation und VerbreitungSAAmise der Infill ration, soA\de ihre
Konsistenz und die bei der Palpation wahrnehmbare rauhe
und höckerige Oberfläche desselben entsprachen vollkommen
dem in einem Falle von leichter verlaufenden Fettgewebs-
nekrose wiederholt konstatiertem Befunde. So suchte ich
festzustellen, ob sich niclil auch diese nach Milzexstirpa¬
tionen beobachtete Veränderung auf eine Avährend der Opera¬
tion zustande gekommene Pankreasläsion, bzw. auf eine
aus derselben hervorgegangene Fettgewebsnekrose zurück-
fübren ließe.
Da bei der Milzexstirpation eine Verletzung des Pan¬
kreas sehr leicht möglich ist, durch diese Verletzungen aber
die Bedingungen einer FettgeAvebsnekrose in der Umgebung
des Milzstumpfes gegeben werden, schien mir bei der auf¬
fallenden Uebereinstimmung der Krankheitsbilder der Schluß
zulässig: daß die Temperatursteigerungen nach Splenek-
tomie der bei der Operation gesetzten Pankreasverletzung
und tier biedurch bervorgebrachten Fettgewebsnekrose zu¬
zuschreiben sind.
Ein gewöhnliches Stumpfexsudat, Avie dies z. B. nach
Ovariotomieu, Netzunterbindungen infolge einer Infektion,
aus dem Stumpfe oder aus der Ligatur hei'A'orgebend, beob¬
achtet Averden kann, Avar sclnverlich anzunehmen. Dagegen
sprach die große Häufigkeit, fast Regelmäßigkeit, mit der
diese Temperatursteigerungen nach iVIilzexstirpationeii auf-
treten, soAvohl, Avie das klinische Bild, das Fehlen von Sup¬
puration, Perforation des Eiters, welche kaum der Aufmerk¬
samkeit so vieler gediegener Beobachter entgangen wären.
Viele Autoren heben ja gerade bervor, daß dieAnnaiune eines
Stumpfexsudates mit Sicherheit auszuschließen war.
Daß T'emjteratursteigerungen und letroperitoneale Infil¬
trationen in Gefolge von Milzexstirjiationen verhältnismäßig
häufig zu l)(‘obachteii sind, läßt sich am ehesten durch äli(‘
anatomischen V (* r bäl t n issn erklären, welche — wie
bereits hervorgeboben — bei der Versorgung des Milz-
stumpfes sehr leicbl (‘ine Läsion der •Bauchspeicheldrüse,
gestatten. Die .Milz sitzt mit ihrer Basis*' bekanntermaßen
der linken Nien*, bzAv. Neb(*)miere an und ist in dieser Lage
diircb zablreicbe Baucbfellduplikat.uren fixiert. Diese Peri-
lonealduplikaturen sind die folgenden: das Lig. pbreno-
splenicum, lüg. gastrolienab', Lig. pancreaticolienale und
Lig. splenicocolicum. Die innere, auf einem kleinen G(‘biote
vom Bauchfelle nicht überzogene Oberfläcbe der Milz liegt
der groß*“!) Kuivatur des Magens und detTi Scbw('if der
Nr 5
WIENER KLINISCHE WüCilENSCilRIFT. 1907.
12i
Baudispeiclieldrüse an und naiiuMidicdi der Jelztere ist ihr
am iiäGhsteii gelegen. ' .
, ln einzelnen Fällen kommt es sogar vor/, daß das
Lig'. phi'enicolienale, welches auch ansonsten kurz ist, voll-
küimnen fehlt und dann kommt das kaudale Ende der ßaiich-
speicheldrüse mit der kleinen vom Bauchfelle nicht ge¬
deckten dreieckigen Fläche der Milz in unmittelbare Be-
rührung..,i Die iMilzschlagad(U‘, die Art. lienalis,' zieht, nach¬
dem sie aus der Art. coeliaca ausgegangen ist, an der hin¬
teren Fläche der Bauchspeicheld.rüs(‘ in horizontaler Rich¬
tung gegen den Milzhilus ■ hin, kommt jedoch im Schweif¬
teile des Pankreas bereits auf dessen oberen Ramb,. bald
auf die Vorderfläche desselben. Sehr nahe der Mjlz, ins-
g e s a m t 5 bis 6 mm v o m . H i 1 u s derselben entfernt ,
gibt sie die Art. gastro-epiploica sin. ab, während die eigent¬
liche Milzarterie, selbst in den Hilus mündet, ln der unmittel¬
baren blähe der Milz verläuft die Milzvene eng neben der Ar
teile. Von ganz besonderer Wichtigkeit ist noch das Verhältnis
der Milzbänder zu den (Jelaßen. Die Größe dieser Bänder
zeigt nicht nur individuelle Schwankungen, sondern weist
auch hei ein und demselben Individaum Veränderungen
auf. Beispielsweise ist das Lig. gastrolienale bei leerem
Ma gen länger als dann, wenn der Raum zwischen den beiden
Blättern der Bauchfellduplikatur durch den gefüllten Magen
aiisgefüllt wird. Hinter dem Lig. gastrolienale, zwischen den
Blättern des Lig. pancreaticolienale befinden sich die Vlilz-
gefäße, folglich stellt letzteres Band den Stiel, respektive
nach Exstirpation den Stumpf der Milz dar. ln der über¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle ist dieser Stiel nicht über
2 5 cm lang, erreicht indessen in einzelnen Fällen die Länge
von 3. ja sogar 5 cm, während er nicht selten ganz fehlt,
wobei die Entfernung .zwischen Milz und Schweif der Bauch¬
speicheldrüse weniger als 2-5 cm beträgt. Dementsprechend
ist es begreiflich, daß der Schweif des Pankreas bei Milz¬
exstirpationen sehr leicht sowohl unmittelbar, wie hesonders
durch die Ligaturen und Umstechungen, welche zur Ab¬
bindung des Milzstieles dienen, verletzt wird. Diese letztere
Art der Verletzung kann nur mit ganz besonderer Sorgfalt
vermieden werden.
Bei der Exstirpation einer Wandermilz ist die Möglich¬
keit der Pankreasverletzung noch größer: (?s wird näm¬
lich der Schweif der Bauchspeicheldrüse durch die Milz
mit dessen Stiel herausgezogen und wiederholt bat es sich
in ähnlichen Fällen ereignet, daß bei der Abtragung der
Milz auch der Pankreasschweif mit amputiert wurde. Ob
mm das Pankreas flirekt verletzt oder bloß bei den Uin-
stechungeti mit gefaßt wird — wie es Billroth, um dem Ab¬
rutschen der ligaturen vorzubeugen, prinzi])iell vorge-
scblagen hatte, immerhin besteht die Vlöglichkeit, daß der aus¬
strömende Pankreassaft in das umgebende Bauchfettgewebe
gerate und demzufolge eine Autopepsis dieses Fettgewebes
durch das lipolytische Ferment des Pankreasisaftes bewirkt
werde. So entsteht in der Thngehung des Milzstumpfes Fett-
gewebsnekrose ganz analog den Katz und Wink 1er sehen
Tierexperimenten, wo durch mehrfache Unterbindung der
Bauchspeicheldrüse mit Schonung der (jJefäße, in sämtlichen
Fällen eine Fettgewehsnekrose hervorgerufeiiiwerden konnte.
In der Umgehung dieses nekrotisierten Eettgevvehes
beginnt ein von Bakterien unabhängiger aseptischer Enl-
zündungsprozeß, welcher zur Sequestration der abge¬
storbenen Fettpartien führt. l)i(> an der Stelle des Milz¬
stumpfes vorhandene, zuweilen sehr schwer fühlbare In¬
filtration, welche sieb stets hinter dem Kolon und .Magen,
teilweise, unter der Zwerchfellku[)p(' befimUd, ist mit größt<‘r
Wahrscheinlichkeit als Folge diesen' scniuestrierenden Enl-
zündung zu helrachlen, währ(m(l die d'ielxn'haflen Tein-
peratursteiger.ungen auf llesorption (hn nekrotisedjen Massen
beruhen.
Ist der Pj'ozeß (un Unchler, bzw. die V'cnTetzrmg keim'
bedeutende und sind dem('nlsiir('chend die Nekrosen g('-
ringer, so kann si(di nacb mäßig iid('nsiven. Ei'sclu'inungc'u
und kurzem Verlaufe Hebung oder ein gc'wisser Slillstands-
zustand einsl(*llen. Doch kamt nach (lieseun Stadium der
Prozeß von neuem aufflackern und einen heftigeren Cha-
raktej' annehmen, wenn Bakterien in die nekrotischen Ge-
vvebsmassen, welche als Locus minoris resistentiae einen
vorzügliclK'ii Nährboden , für Mikroorganismen bilden, ein-
vvandern oder die Zersetzungsprodukte der abgestorbeiu'n
Gewebe sich nach Vdrlauf einer gewissen Zeit ansammeln
und zur Resorption gelangen. Ein solches Vorkommnis war
in meinem dritten Falle zu beobachten. Hier wurde die Ex¬
stirpation der malarisch vergrößerten Milz vorgenonnnen.
Die Rekonvaleszenz, nach der, 0],>eration verzögerte sich be¬
deutend und war mit Fielder, Schmerzen und retroperi-
lonealer Infiltration verbunden. Diese Erscheinungen gingen
dermaßen zurück, daß Pat. das Spital in gutem Zustande
verlassen konnte. Nach mehrwöchentlicher Euphorie st('lll('n
sich die Schmerzen, das Fieber und die Infiltration von
neuem ein, so daß eine wiederholte Aufnahme ins Spital
(auf die Abteilung des Prof. Angyäii) notwendig wurde.
Nach mehrwöchentlicher interner Behandlung konnte
eine ständige Besserung ('rreichl werden, die Anämie ließ
von Tag zu Tag nach, d('r Patient wurde arbeitsfähig und
hat seit der Operation 12 kg zugenommen.
Ich will hesonders nocli hervorheben, daß die Teni-
peralursteigerungen nach IMüzexstirpationen keinen konti¬
nuierlichen Charakter zeigen, sondern Remissionen und in
gewissen Fällen, wie z. ß. in unserem zweih'ii Falle, sogar
typische Intermissionen aufweisen.
Im erwähnten Falle zeigte die Fieberkurve einen aus¬
gesprochen malariaartigen Charakter. Nach je zweitägigen
Bemissionejt folgten ganz regelmäßig Exazerbationen, so
daß bloß der negative Piasmodienbefund, sowie die Spontan¬
heilung, welche binnen zwei Wbxdu'u ohne Darreichung von
Chinin ('rfolgte, es bewiesi'ii, daß die Krankheit mit Wechsel¬
fieber nichts Gemeinschaftliidies hatte. Der TypuS' des ge¬
schilderten Fieberverlaufes läßt sich durch die periodische
Resorption von fiebererregi'inlen Stoffen erklären. Daß das
Fieber bei gewöhnlichen bakteriellen Infektionen, nament¬
lich bei eitrigen Leberprozessen einen intermittierenden Cha¬
rakter (wobei die Temperatur tagelang nicht die Norm über¬
steigt) aufweisen und einen ganz malariaähnlichen Typus
annehmen kann, ist eine bereits seit langem bekannte Tat¬
sache. ln diesen Fällen mögen die periodischen Exazer¬
bationen darauf beruhen, daß sich dem .Vbflusse des infek¬
tiösen Sekretes zeitweise gewisse Hindernisse ('iitgegen-
stellen (z. B. wird die Gallcnpassage durch einen Chole¬
dochusstein vorübergehend aufgehoben), zufolge dessen sich
eine Vermehrung der .Mikroorganismen, gesteigerte Produk¬
tion von Toxinen und vermehrte Resorption derselben ein¬
stellen. Mitunl('r läßt sieb auch bei anderen Prozessen,
namentlich liei großen Tumoren, nicht ulzerierten Sarkomen,
eine ähnliche Fieberkurve — ab und zu hohe Temiieraturen,
inzwischen vollkommen afebrile Tage und Wochen - heob-
achten. In diesen Fällen müssen wir annehmen, daß sicli
die Verhältnisse zur Desorption der in der Gesehwulst ge¬
bildeten fiebererregenden Stoffe nur zeitweisi' günstig ge¬
stalten, während die Produkte des, im Neugebibh' statt¬
findenden Zerfalles ansonsten nicht in die Zirkulation ge¬
raten und daher auch kein Fieber hervorrufen. Bei den,
in den elx'n geschilderti'n Fällen angenommenen Fetlgewelis-
nekrosen sind tlie Verbällnisse für die Resoridion der ge¬
bildeten Zerfallsproilukle in dem retroperitoiK'alen Fettge¬
webe, di'ssen Zirkidation eitu' äußerst langsame ist — und
dessen Lymphabfluß außerdem auch durch die voi'ange-
gangene Entzüiulung gi'lilti'n bat ^ durchaus ungünstige.
\Vahrs(dieinlich gelangen, diese Produkt, (' bloß dann in das
Lymphgc'fäßsystem, w('nn sie imstande sind, eine gewisse
d’ension auszuüben, nachdem sie im umgi'benden Gewi'bs-
safte eine gewissi' Konzi'Ut ration erreicht habc'ti. 1st dies
geschehen Und geraten die Zi'rfallsprodukte in die Zirku¬
lation, so stellt sich Fieber ('in, welches durch .Vusscheidung
dieser k'ernu'ulstoffe mittels d('i’ Bbdbahn dureb Nieren und
Leber wiedc'r aufgehoben wird. .Vaturgemäß treten auch
in diesem Falle nur dann Temperatursleigerungen auf, w('nn
di(' ZerfaJlsprodukli' ads' <L'>u fett nekrotischen Herde zur
löU J
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
Resorption koinnien, dessen Bedingungen kehren aber —
wenn man das Maß des Zerfalles und die Zirkulations Ver¬
hältnisse als konstant betrachtet ■ — in gewissen, regel¬
mäßigen Zeiträumen zurück. Sehr wahrscheinlich bedarf
es bei der langsainen Zirkulation der (Jewebssäfte in den
infiltrieiden Geweben mehrej'er Tage, bis die fiebererregen-
den Stoffe in den Lymph- und von da aus in den Blutstrom
geraten.
Nachdem die genaue Beobachtung des Krankheitsver¬
laufes im zweiten Falle in mir den Verdacht erweckte, daß
Temperatursteigerungen und das Exsudat nach Milzexstir¬
pationen mit Fettgewebsnekrosen Zusammenhängen und
dieser Verdacht nach Beobachtung des dritten Falles, sowie
auf Grund des Studiums der bezüglichen, ziemlich spär¬
lichen Literatur zu meiner Feberzeugung geworden ist, be¬
durfte ich bloß noch einer Gegenprobe, welche naturgemäß
darin bestehen sollte, daß der Verlauf einer folgenden Milz-
cxslirpation bei strengster Schonung des Pankreasschweifes
vor der geringsten Läsion, nach der (Operation, ein unge-
slörter, vollkommen fieberloser sei.
Zur Anstellung dieser Kon trollprobe hatte ich in
meinem vierten und fünften Falle Gelegenheit.
Ich führte die Milzexstirpation in diesen Fällen wegen
Splenomegalie primitiva, res])ekFve Milzecliinokokkus durch,
wobei ich jede Verletzung der Bauchspeicheldrüse sorg-
fältigst vermied, indem ich die Milzgefäße nicht en masse,
sondern unmittelbar neben der Milz parlieweise unterband.
Trotzdem in einem dieser Fälle während der Versor¬
gung des Stumpfes eine Ligatur abgerutscht ist, wendete
ich keine umfassende Ligatur in der Tiefe an, sondern unter¬
band die Arterie isoliert von neuem, und das Ergebnis war
ein günstiges.
Im vierten Falle war der Patient von den, auf Bron¬
chitis beruhenden geringeren Temperatursteigerungen ab¬
gesehen, vom vierten Tage an vollends fieberfrei
und der Verlauf des Heilprozesses ein unge¬
störter.
Im fünften Falle war der Verlauf ganz und gar
fieberlos.
Auf diese AVeise ist die Frage meiner Ansicht nach
von allen Seiten her entsprechetid aufgeklärt. Das nach
Splenek toniien auftretende Fieber stellt stets
eine aseptische, durch kleinere Fettgewebsne¬
krosen um den Stumpf herum bedingte Tempera¬
tu rs te i g (> run g dar, welche stets zu vermeiden ist,
wenn man dafür Sorge trägt, daß der Schweif der
Bauchspeicheldrüse nicht in die Ligatur mit ge¬
faßt und dadurch verletzt werde. Dies läßt sich auf
die Weise erreichen, daß die Hilusgefäße unmittelbar neben
der Milz — u. zw. partieweise — unlerbimden werdcui.
Es emi)fiehlt sich hiebei, keine Klammern anzuwenden,
sondern jedes Gef.äß unmittelbar bei seinem Austritte aus
der Milz initlels zwei bis drei Seidenligaturen zu unter¬
binden. Dieses Verfahren ist um so mehr zu empfehlen,
als diese Ligaturen wesentlich verläßlicher halten, als die
en masse angebrachten und demgemäß auch zu Na(‘h-
blulungen seltener Anlaß bieten.
Aus dem bakteriologischen Laboratorium des k. und k.
Militärsanitätskomitees.
(Vorstand: Regimentsarzt Dr. R. Doerr.)
Zur ätiologischen Diagnose des Typhus
abdominalis.^)
Von Rr. Hugo Raubilscliek, k. und k. Oberarzt.
Aleine Herren! Wie Sie wissen, brach im Herbst des
V('rflossenen .lahres unter den Truppen, die vom Alanöver-
hdd in die AViemu* Garnison zurückgekehrt waren, eine
Typhus(‘i)idemie ans, welclu' allerdings auf die von aus¬
*) Vortrag, gehalten am 12. Januar 1907 im wissenschaftlichen
Verein der Militärärzte der Garnison Wien.
wärts eingeschleppten Fälle, dank der umsichtigeii und ener¬
gischen Prophylaxe beschränkt blieb, die aber doch ein be¬
achtenswertes Material für das Studium dieser Erkrankung
lieferte. Der vielfach ganz leichte Charakter der Infektion,
der häufig atypische Beginn der Krankheit, die Notwendig¬
keit, bei jedem neu erkrankten Alann der verseuchten Regi¬
menter so schnell als möglich eine einwandfreie Diagnose
zu stellen, machten hier noch mehr wie anderwärts die
Unzulänglichkeit der klinischen Diagnostik fühlbar.
Nun ist es ja bekannt, daß wir in der G ru b e r - AAM d al-
§chen Reaktion seit .fahren ein wertvolles Hilfsmittel be¬
sitzen, welches uns gestattet, die Typhusdiagnose auf eine
sichere, ätiologische Basis zu stellen. Es wird aber keinem,
der an einem größeren Krankenmaterial in unseren leider
so zahlreichen endemischen Typhusherden gearbeitet hat,
entgangen sein, daß jene allzu optimistischen Hoffnungen,
die man seinerzeit auf die klinische Leistungsfähigkeit des
spezifischen Agglutinationsphänomens gesetzt hat, sich nicht
völlig erfüllt haben. Abgesehen davon, daß man bei einem
positiven Ausfall der Reaktion anamnestisch in allen Fällen
erst einen vorausgegangenen Typhus ausschließen mußi, um
die Agglutination für die bestehende Erkrankung diagno¬
stisch verwerten zu dürfen, leidet die Brauchbarkeit der
Gruber-AVidalschen Reaktion für die Frühdiagnose be¬
sonders dadurch, daß meist erst in der zweiten Krank¬
heitswoche die Agglutinine im Serum des Patienten
jene Mengen erreichen, die diagnostisch beweisend sind.
Namentlich diese letztere Tatsache ist dort von Be¬
deutung, Avo es sich nicht um einige wenige, sporadische
Fälle, sondern um Epidemien in dicht gedrängten Menschen¬
massen handelt, wo eine eventuell nicht entsprechende
sanitäre Versorgung eines neuen, leichten oder abortiven
Falles, zur AVeiterverbreitung Veranlassungi geben kann.
Und endlich gibt es ja zweifellos Fälle von sicherem
Typhus, bei denen die Widal sehe Reaktion im ganzen
A^erlauf der Erkrankung negativ bleibt; so war Gelegenheit
gegeben, einen Typhus hei einem Offizier zu beobachten,
bei dem die G ru b e r - W i d a 1 sehe Reaktion fünf AVochen
hindurch stets negativ ausfiel und erst eine in der Rekon¬
valeszenz auftretende A^enenthromhose, die zur Vereiterung
und zum schließlichen Durchbruch führte, eine sichere Dia¬
gnose durch den kulturellen Nachweis von Typhusbazillen
im Eiter ermöglichte. Die Serumreaktion ist also kein patho-
gncmonisches Zeichen, sondern nur mit ein Symptom des
Typhus; ihr positiver Ausfall spricht keineswegs eindeutig
für einen hestehenden Typhus, ein negatives Resultat der
Reaktion ist diagnostisch gegen Typhus kaum zu verwenden.
Es war deshall) ein großer Fortschritt, als Schott-
niüller^) gezeigt hat, daß die Züchtung der Typhuserreger
aus dem Blute das verläßlichste Hilfsmittel zur Frühdiagnose
des .Abdominaltyphus bildet.
Das A'orhandensein der Erreger im Blute wurde schon
lange zur Erklärung der verschieden lokalisierten, relativ
häufigen posttyphöseu Abszesse postuliert. Seit den ersten
Veröffentlichungen über den bakteriologischen Nachweis der
Typhushazillen im zirkulierenden Blute, die von Kühne,“)
Gas teil a ni,^) S ch o ttm ü 1 1 e r“^) und Neufeld^) stam¬
men, ist die früher allgemein vertretene Ansicht, daß. dtvr
Typß'is abdominalis eine streng auf den Darm lokalisierte
Infektionskrankheit wäre, verlassen und heute weiß man,
daß (‘s si(di in den allermeisten T'äihm um eine echte Typhus-
bakteriämi«' hamhdi. Diese Tatsaelu' ist vom e])idemiologi-
schen Gesicbts[)unkte eigentlich wenig(‘r interessant, da eine
direkte oder indirekte Infektioji vom Blut eines Typhus¬
kranken aus jedenfalls außerhall) des Bereiches der j)rak-
tischen AVahrscheiidichkeit liegt, ir) diagnostischer Hinsicht
ist sie jedoch von allergrößter AAGcditigkeit. Eim* ganze Reihe
>) Münchener mcd. Wochenschrift 1902, Nr. 25 und 38.
h Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, Bd. 25.
La settimana medica 1899, Nr. 3.
d Deutsche med. Wochenschrift 1900, Zeitschrift für Hvgiene,
Bd. 36.
Zeitschrift für Hygiene 1899.
Nr. 5
131
WIENER KLINISCH K
von Autoren haben Methoden angegeben, mil Hilfe deren
es ihnen in einem größeren oder geringeren Prozentsatz
gelangen ist, Typhusbazillen im Blute nachzuweisen. Da die
Anzahl der Typhasbazillen in einer Quanlihät Blut meist
eine sehr geringe ist, so war man darauf bedacht, durch
Anreicherungsmefhoden zu einem positiven Resulhit zu kom¬
men. lieber diesen Punkt hat in allerletzter Zeit Conradi'p
bemerkenswerte Resultate und Methoden veröffentlicht. Es
ist ihm mit Hilfe einer (Tallenanreicherung (5 cnP Rinder¬
galle, 10®/o Pepton, 10 To Glyzerin) gelungen, auch in ganz
geringen Quantitäten Blut (OT bis 0-2 cm^) sehr häufig
Typhusbazillen nachzuweisen. Eine Gallenvorkultur soll
nach Conradi aus dem Grunde einer direkten Einsaat
von Blut in clas Nährsubstrat überlegen sein, weil die
Galle eine Anreicherung der Typhusbazillen bewirkt und
durch Aufheben der bakteriziden Wirkung des Blutserums,
wie auch durch Hemmung der Blutgerinnung eine ungestörte
und gleichmäßige Entwicklung der im Blut vorhandenen
Typhuskeime bedingt. Conradi glaubt, daß jede Blutprobe,
deren Menge zur Anstellung der G ru ber- Widalschen Re¬
aktion him-eicht, gleichzeitig zum kulturellen Nachweis der
Typhusbazillen geeignet ist.
Müller und Gräf^^ haben dagegen vor einiger Zeit
die interessante Mitteilung gemacht, daß bei der Gerinnung
die im Blut vorhandenen Typhusbazillen in die Placenta
sanguinis übertreten und hier vor der Schädigung des
Serums bewahrt sind, das lange Zeit klar und keimfrei bleibt.
Sämtliche Bakterien würden von den Fibrinnetzen des Blutes
eingefangen und in dem sich kontrahierenden Blutkuchen
zurückgehalten.®) Sie empfehlen daher, den zerkleinerten
Blutkuchen unter sterilen Kautelen auf Drigal ski- Platten
mittels eines Glasspatels zu verstreichen, und wollen mit
dieser Methode auch bei kleinen Blutquantitäten befriedi¬
gende Resultate erhalten haben. Dagegen empfehlen eine
Reihe anderer, besonders italienischer und französischer
Autoren®) die Nährhouillon für die Bluteinsaat. Hat eine
Agarmethode vor der Bluteirisaat in ein flüssiges Nähr¬
medium zweifellos den Vorzug, daß sie gestattet, exakte
Zählungen der im Blute vorhandenen Mikroorganismen vor-
zunehmen, so darf man nicht vergessen, daß in diesem
speziellen Fall es weniger auf die Zahl der Keime an¬
kommt, als auf die sichere Entscheidung, ob im Blute Typhus¬
bazillen nachweisbar sind oder nicht.
Jedenfalls erfordern beide Methoden gleich viel Zeit;
nur benötigt man für die Bouilloneinsaat größere Blutmengen,
wenigstens 2 bis 3 cm®, die man kaum anders als durch
Venenpunktion erhalten kann.
Für die Agarplatte braucht man dagegen weniger Blut
und kann sich mit der bisher üblichen Methode kleiner
Stiche oder Einschnitte ins Ohrläppchen behelfen. Wer aber
einmal zugesehen hat, wie man dabei genötigt ist, das Ohr¬
läppchen zu quetschen und zu massieren, um namentlich
bei Anämischen die nötigen Bluttropfen auszupressen, der
wird eine von geübter Hand durchgeführte Blutentnahme
aus der Vene sicher als den schonenderen Eingriff be¬
zeichnen. Sie geschieht am zweckmäßigsten durch Aspira¬
tion mit steriler Spritze, ein Verfahren, das zuerst B us¬
que t^°) und Schottmüller^^) empfahlen.
Bei der letzten Typhusepidemie im Herbst vorigen
Jahres war Gelegenheit gegeben, den Nachweis von Ba¬
zillen im Blute als diagnostisches Hilfsmittel zu erproben
und sich Klarheit über den Wert desselben und über sein
Verhältnis zum Ausfall der Gruber- Widalschen Reaktion
zu verschaffen, zumal es auffällig schien, daß diese Methode
nicht nur bei uns, sondern auch in Zivilspitälern bisher so
wenig Verwendung gefunden. Bevor jedoch darauf näher
®) Münchener med. Wochenschrift 1906, Nr. 49.
T Münchener med. Wochenschrift 1906, Nr. 2.
®) Zeitschrift für Hygiene 1900, Bd. 34.
®) Literatur siehe Kutscher Handbuch der pathog. Mikro¬
organismen, Ergänzungsband 1906, Heft 1.
La presse m4dicale 1902.
") Münchener med. Wochenschrift 1902.
WOCHENSCHRIFT. 1907.
eingegangen werden soll, möge hier in kurzen Worten einiges
über die Technik erwähnt werden.
Der oberste Teil des Obenirnies wird durch eine üuiuini-
biiide derart konipriniierl, daß der Radialpuls noch deutlich fübl-
bar bleibt. Die Gegend der Ellbogenbeuge wird hierauf mechanisch
mit Seife sauber gewaschen und mit Aether überdies gereinigt.
Die durch die Kompression prall gefüllte Vena mediana cubiti,
wird mit einer durch Auskochen sterilisierten Spritze, die zirka
10 cnR faßt, in schräger Richtung angestochen und das Blut
langsam und öfters aussetzend, uni der Vene wieder Zeit zur
Füllung zu geben, aspiriert. Ist die Spritze gefüllt, so lyartet
man noch wenige Augenblicke, bis der negative Druck in der
Spritze völlig ausgeglichen ist, um ein späteres Eindringen von
Luft in die Spritze und damit eine bakteiielle V^erunreinigung
des Blutes mit Luftkeimen zu verhindern, zieht dann ruckweise
die Kanüle aus der Vene, löst rasch die Gununibinde und eleviert
gleichzeitig den Arm. Die Einstichöffnung wird hierauf mit Heft¬
pflaster oder Kollodium versorgt. Der Inhalt der Spritze wird
teils unter sterilen Kautelen in ein Kölbchen, das ca. 100 cm^
Nährbouillon enthält, gespritzt, teils (ca. 1 enV Blut) zwecks An¬
stellung der Gruber- Widalschen Reaktion in eine Eprouvette
entleert. Das Kölbchen mit Blut bleibt durch 24 Stunden im
Brutofen bei 37° und dann wird die entstandene Kultur mittels
Agglutination mit einem hochwertigen, künstlichen Typhusimmun-
seruni identifiziert.
Mit Hilfe dieser Methode ist es gelungen, in ca. 66®/o
aller Fälle in allerersten Stadien der Krankheit, im
allgemeinen noch vor der Febris continua Typhusbazillen
im Blut nachzuweisen. Die Reihe positiver Resultate zeigte
deutlich, daß die Erreger bei einem großen Teile aller Typhus¬
kranken in den ersten Stadien im Blute angetroffen werden
können; noch häufiger findet man sie in der Kontinua,
seltener im amphiholen Stadium (Jo chm a nn^®). Dagegen
muß daran festgehalten werden, was schon von NeufekD®)
hervorgehoben wurde, daß es umnöglich war, die Krank¬
heitserreger, während der fieberfreien Zeit im Blute auf-
zufinden.
Zweimal ist es gelungen, während typischer Typhus¬
rezidive die Bazillen im Blute nachzuweisen. Die meisten
Untersucher konnten nur in schweren und mittelschweren
Fällen die Erreger im Blute finden; wenn auch das Urteil
über die Schwere eines Falles starken individuellen Schwan¬
kungen unterworfen sein muß, so kann man doch behaup¬
ten, daß auch bei ganz leichten Fällen von Typhus die
Bazillen im Blute nachzuweisen sind, wenn die Blutknltur
bei Patienten, die nur wenige Tage febrile Temperaturen
hatten, ein positives Resultat ergab.
Jedenfalls muß daran festgehalten werden, daß weder
die Menge der Typhusbazillen, noch überhaupt der positive
Nachweis derselben im Blute irgendeine prognostische Be¬
deutung hat.
Abgesehen von der Einschränkung, welche der
Wert des kulturellen Nachweises der Typhusbazillen im
Blute dadurch erfährt, daß die Untersuchung auch bei
Fällen mit regelmäßigem Fieberverlauf negativ ausfällt,
gewinnt der Nachweis der Bazillen im Blute durch
seine Eindeutigkeit, namentlich für die Frühdiagnose
eine außerordentliche Bedeutung, wenn man bedenkt, daß
es gelungen ist, die Krankheitserreger häufig (in 25% aller
Fälle) schon zu einer Zeit aus dem Blute zu isolieren, wo
eine noch negative G r u b e r - W i d a 1 sehe Reaktion dem
Typhusverdacht eher widersprochen hätte. Das Auftreten
der Gr über- Widalschen Reaktion steht in keinem Zu¬
sammenhänge mit derjenigen der Typhusbazillen im Blute,
da vielfach Gelegenheit geboten war, zu beobachten, daß
trotz positiver Agglutinationsreaktion der kulturelle Nach¬
weis mißlang, anderseits bei völlig negativer Gruber-
Wi dal scher Reaktion Typhusbazillen im Blute nachzu¬
weisen waren.
Kurz zusammengefaßt, stellt also der kulturelle Nach¬
weis der Typhusbazillen aus dem Blute ein wichtiges Hilfs¬
mittel für die Frühdiagnose vor, das um so wertvoller ist,
Zeitschrift für klin. Medizin 1906.
Handbuch der pathog. Mikroorganismen, Ko He Wassei-
m ann, Bd. 2.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
als der positive Nachweis ais ätiologisclies iMoiiieiit die
Krankheit eindeutig sicherstellt. Der Eingriff der Venen¬
punktion selbst ist so gut Avie völlig gefahrlos, technisch
keineswegs schwierig und fast schmerzlos, wie eine dies¬
bezügliche Umfrage ergab, und für die meisten Patienten
weit Aveniger peinlich, als die Entnahme von einigen Tropfen
Blut aus dem Ohrläppchen. An Komplikationen sahen Avir
nur zAveimal ein etAAm hohnengroßes Hämatom auftreten,
das sich aber durch Eie vieren des Armes und rasches Lösen
der Binde fast sicher vermeiden läßt.
1st also in diagnostischer Beziehung das Vorkommen
von Typhuserregeni im zirkulierenden Blute AvertAmll, so
ist die Tatsache, daß auf dem Wege der Blutbahn in die
Sekrete und Exkrete Typhöser hifektionskeime gelangen,
die dann in der Außenwelt zu Neuinfektionen reichlich
(Gelegenheit gehen können, vom epidemiologischen Gesichts¬
punkt Avichtig. Hier kommt neben den Eäzes der Urin
Typhöser in allererster Linie in Betracht.
Auf Grund der Eorschungen der letzten Jahre muß man
annehmen, daß bezüglich der Ausscheidung der Bazillen
durch die HaniAvege dieselben nur auf dem Wege der Blut¬
bahn in die Niere verscldeppt Averden und sich hier
an siedeln können, um in die abführenden HaniAvege zu
gelangen. Nach den experimentellen Untersuchungen von
Streng^^) treten nach intravenöser Injektion Avon Typhus¬
bazillen in der ersten Zeit nach der Injektion keine mikro¬
skopisch sichtbaren Veränderungen in den Nieren der Ver¬
suchstiere auf; Avurden jedoch die Nieren durch vorherige
intravenöse Injektion Amn Staphylokolvlven geschädigt, so
Avaren Typhusbazillen im Harn nacliAveishar. Bestätigt Avur-
den diese Angaben später Amn Asch.^^) Nur Viiicent’*’)
vertritt eine etwas abAveichende Ansicht, indem er behaup¬
tet, daß der Grund der Ausscheidung von Typhusbazillen
im Urin in einem lokalen typhösen Prozeß der Harnblasen-
Avand zu suchen sei, Avelcho für die Bazillen bei neutraler
oder schAvach saurer Reaktion des Urins einen sehr gün¬
stigen Nährboden abgebe.
Die Angaben der einzelnen Autoren über die Zeit
des Auftretens der Typhus bazillen im Harn der Kranken
sind außerordentlich verschieden. Während eine Reihe von
Untersachern dieselben schon zur Zeit des Roseolaaus¬
bruches nachAveisen konnten (Jakobi, Pfister,^®) Fla¬
min i^®) u. a. m.), fanden andere Autoren dieselben nur
nach der Entfieberung und in der Rekonvaleszenz
(Fuchs,^®) Richardson,“^) Herbert^-). Noch viel weit¬
gehenderen SchAvankungen sind die Angaben der einzelnen
Forscher über die prozentuale Häufigkeit des Vorkommens
der Typhusbazillen im Urin unterworfen. Pfister“'^) hatte
bei 50 o/o, Lesieur und Mahaut“^) bei 38-5 o/o. Richard¬
son^^) bei 21 o/o, Vincent^^j bei 17 o/o aller untersuchten
Fälle positive Resultate und so differieren die verschie¬
denen Untersuchungen erhehtich. Der Grund hiefür ist wohl
nur in clen Methoden zu suchen, die die einzelnen Autoren
zu ihren Untersuchungeji gebraucht haben. Die meisten
Untersucher benützten zum Naclnveis den Plattenausstrich
einer Oese Urin auf Lacknius-Milchzucker-KristallAiolettagar.
Pfister^^) hatte relativ gute Erfolgemil direkter Einsaatsteril
aufgefangenen Harns in scliAvach alkalische Bouillon gehabt.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Angaben so kolossal
differieren, da ja nur eine verscliAvindend geringe Menge
des Urins zu bakteriologischen Untersuchungen heran¬
gezogen Averden konnte und es mehr Sache des Zufalles
Avar, gerade i)i den wenigen (lesen Urin, die bakteriologisch
") Arbeiten aus dem patholog. Institut Helsingfors, Jena 1902.
Zentralblatt für Harn- und Sexualorg. 1902, Heft 5 und 6.
Compt. rend, de la soc. de biolog., Paris 1903.
Archiv für klin. Medizin 1902.
Sitzungsbericht des naturhistor. Vereines Heidelberg, 28. Fe¬
bruar 1905.
'®) Riv. di clin. pediat. 1903.
-“) Wiener klin. Wochenschrift 1902.
-‘) Brit. nied. and surg. journ. 1903.
-■^) Münchener med. Wochenschrift 1904.
^') Bull, de la soc. med. des hop. de Lyon 1904.
'h 1. c.
weiter verarbeitet Avurden, Typhuserreger zu erhalten. Es
lag daher der Gedanke nahe, möglichst große Mengen von
Harn (zAvei und mehr Liter) bakteriologisch auf das Vor¬
kommen von Typhuserregern zu untersuchen, da in diesem
Falle dem Zufall Aveniger Spielraum geboten und, falls
nur Avenige Typhusbazillen im Harn ausgeschieden Avürden,
immerhin die Möglichkeit gegeben Avar, diese wenigen Keime
auf die Drigalsky-Idatte zu bekommen. Ich benützte eine
unlängst cmn Müller^^) zum Nachweis von Typhuskeimen
im Wasser veröffentlichte, sog. mechanische Fällungs¬
methode.
Zwei Liter Harn eines Kranken in möglichst keim¬
freien Gefäßen aufgefangen und tunlichst vor nachträglicher
Verunreinigung geschützt, AAmrden mit einer keimfreien Soda¬
lösung in einem sterilisierten Scheidetrichter scliAvach alka¬
lisch gemacht, hierauf setzt man 100 cm^ einer 5o/oigen
sterilen Lösung von Liquor ferri oxychlorati zu. Alsbald
entsteht ein äußerst feiner, aber sehr voluminöser, tief¬
brauner Niederschlag, der, alle korpuskulären Elemente mit
sich reißend, sich langsam zu Boden setzt. Nach ein bis
zAvei Stunden zentrifugiert inan den Bodensatz oder filtriert
ihn durch ein steriles Papierfilter. Der Filterrückstand, der
aus dem braunen Niederschlag samt fast allen im Ham be¬
findlichen Mikroorganisnien besteht, wird nun folgendermaßen
bakteriologisch Aveiter verarbeitet. Ein oder zwei Oesen des¬
selben Averden mit dem Glasspatel direkt auf Drigalsky-
Platten verstrichen, da immerhin Aussicht Arnrhanden ist,
schon jetzt Typhuskolonien auf der Platte zu erhalten. Tat¬
sächlich ist es auch gelungen, durch Kultivierung des Nieder¬
schlages Typhus nacliAveisen zu können in Fällen, bei denen
die gewöhnliche Kultur aus dem Harn zu keinem Resultat
führte. Da man jedoch nur einen verschwindend kleinen
Teil des gesamten Filterrückstandes derartig bakteriologisch
untersuchen kann, so ist immer noch dem Zufall ein recht
weites Feld offen gelassen. Man muß deshalb trachten, mög¬
lichst den gesanden entstandenen Niederschlag auf das Vor¬
handensein von Typhuserregern zu untersuchen. Nach
einigen fehl geschlagenen Untersuchungen habe ich den
Filterrückstand unter völlig sterilen Kautelen in ein Kölb¬
chen mit Nährhouillon eingetragen. Nach 24 Stunden war
die Bouillon diffus getrübt, der Niederschlag sedimentiert
am Boden des Gefäßes, ohne dem Bakterienwachstum zu
schaden, da derselbe, nur ln Amrdünntein Säuren löslich, in
alkalischer Bouillon sich nicht verändert.
Die überstellende getrübte Bouillon wurde nun durch
ein steriles Papierfilter filtriert, um eine recht homogene
Bakterienemulsion zu erhalten. Einem genau abgemes¬
senen Quantum dieser getrübten Bouillon wurde nun in
einer Verdünnung 1:1000 hochagglutinierendes Typhus-
immunseruni (,,Edgar“) zugesetzt, ln kurzer Zeit zeigte
die früher völlig homogen getrübte Bouillon eine äußerst
feine Chagrinierung, und der nach zirka einer Stunde auf¬
getretene Bodensatz Avurde in seiner Gänze auf Drigalsky-
Platten kultiviert.
Die auf der Dri gal sky -Platte blau wachsenden
Kolonien Avurden dann AAueder mittels spezifischer Ag¬
glutination mit dem Typhusimmunserum ,,Edgar“ iden¬
tifiziert. Eine genaue biologische und eventuell kultu¬
relle Identifizierung der typhusAmrdächtigen Kolonien ist
in allen Fällen dringend geboten, um sich Amr unliebsamen
Verwechslungen zu schützen, da im Harn eine Reihe von
Mikroorganismen Vorkommen können, die auf Lackmus-
Milchzucker-Kristallviolettagar blau wachsen. Statt der ge-
Avöhnlichen Nährhouillon, in die ich den Filterrückstand
brachte, könnte auch ein ttüssiger, für Typhus elektiver
Nährboden gewählt werden,^'^) z. B. ein Malacdiitgrünnähr-
boden nach Löffler^Q „der Lentz und Tietz“®) oder
ein Koffeinnährhoden nach Hoff m a n n ^9) oder B o t h
‘‘‘h Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, Bd. 51.
-®) Arbeiten aus dem kaiserl. Gesundheitsamt Berlin 1906, Bd. 24.
-ö Deutsche med. Wochenschrift 1903, Nr. 36, Vereinsbeilape.
28) Münchener med. Wochenschrift 1903, Klin. Jahrbuch 1905, Bd. 14.
28) Archiv für Hygiene 1904.
38) Archiv für Hygiene 1904, Hygien. Rundschau 1903.
Nr. 5
133
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Die erhaltenen Resultate zwangen jedoch nicht, jene neuen
Typhusanreicherungsnährböden zu Hilfe zu nehnien.
Es ist einleuchtend, daß man nach der eben geschil¬
derten Methode die meisten im Harn vorkommenden Typhus¬
bazillen zur Kultur bekommt oder, falls nur spärliche
Typhuserreger im Harn zur Ausscheidung' kommen, mehr
Chancen gegeben sind, dieselben nachzuweisen als durch
bloße Kultivierung einer Oese des Urins auf Agar.
Tatsächlich ist es mir auch nach der geschilderten
Metliode gelungen, in allen Fällen von Typhus abdominalis
im Harn die Erreger nachzuweiseii, allerdings öfters erst
nach mehrmaligen Untersuchungen. Die Ausscheidung von
Typhusbazillen steht in keinem Zusammenhang mit dem
Stadium der Krankheit oder mit der Schwere des Falles;
sie kommt nicht nur in der Rekonvaleszenz vor, wie die
meisten Voruntersucher behaupten, sondern schon um die
Zeit des Roseolenausbruches, ja sogar vor demselben können
Typhusbazillen im Harn nachgewiesen werden.
Diese TätsacKei besitzt nicht nur theoretisches Interesse,
sondern unter Umständen auch praktische Wichtigkeit. Es
sind ja immerhin Fälle denkbar, wo die Elutimtersachung
unmöglich wird, die Agglutination and die Kultur aus den
Fäzes negativ aiisfallen. der Typhusverdacht aber klinisch
gerechtfertigt erscheint. In solchen Ausnahmsfällen kann die
Untersuchung des Harnes nach der angegebenen Methode
immerhin noch zum Ziele führen.
Der Einfluß schwerer Muskelarbeit auf Herz
und Nieren bei Ringkämpfern.
Von Dr. Artur Selig in Franzensbad.
Der Einfluß großer Kürperanstrengungen auf den
menschlichen Organismus ist vielfach studiert worden, spe¬
ziell haben stets die Wirkungen starker Vluskelarbeit auf
den Zirkulationsapparat und die Nieren das Hauptinteresse
der Reobachter gebildet.
So tritt auch in der letzten Zeit wieder die Frage in
den Vordergrund, ob durch eine forcierte Körperarbeit eine
Dilatation des Herzens entstehen und innerhalb kurzer Zeit
symptomlos zurückgehen kann. Daß eine Dilatation des
Herzens nach schwerer körperlicher Anstrengung eintreten
kann, darüber belehren uns die Beobachtungen älterer Auto¬
ren, so von Thompson,^) Corvisart^) und Curs ch¬
in ann,^) Bollinger.^) In einzelnen Fällen wurde auch
die klinische Diagnose der akuten Dilatation durch die Ob¬
duktion bestätigt. Von geringgradigen Dilatationen des
Herzens, bei denen Herzklopfen, Dyspnoe, beschleunigte und
unregelmäßige Herzaktion beobachtet wurden, die unter ent¬
sprechender Behandlung oft nach kurzer Zeit zurückgingen,
wissen erfahrene Kliniker nicht so selten zu berichten.
In neuerer Zeit ist diese Streitfrage wieder aktuell
geworden.
AV ährend Moritz,^) Hoffmann,* *’) de la Camp^)
die Existenz der akuten Herzdilatation des gesunden Herzens
auf Grund orthodiagraphischer Untersuchungen in Zweifel
ziehen, geben andere Beobachter, wie Schott®) und
Starck,®) die Möglichkeit einer solchen nach forcierter
Muskelarbeit wohl zu. Diese Autoren haben auch das
Röntgen verfahren für die Entscheidung dieser Frage heran¬
gezogen.
Die Untersuchungen, die sich nicht auf orthodiagra-
phische Befunde stützen, sondern, nur die Ergebnisse der
Perkussion, der Herzdämpfung und die Lage des Herz-
h Thompson, zitiert bei Eichhorst, Lehrbuch der speziellen
Pathologie und Therapie 1890.
Gorvisart, Deutsches Archiv für klin. Medizin 1895, 55, 8.
Curschmann, ebd.
*) Bollinger, ebd.
Moritz, Münchener med. Wochenschrift 1902, 49, 5.
®) Hoffmann, Kongreß für innere Medizin 1902, 20, 308.
’) de la Camp, Zeitschrift für klin. Medizin 1904, 51, 1.
®) Schott, Kongreß für innere Medizin 1890, 9, 448; 1902, 20, 419.
®) Starck, Münchener med. Wochenschrift 1905, 52, 302.
Spitzenstoßes für die Beuiteilung einer nach geleisteter
Körperarheit entstandenen akuten Dilatation verwerten, sind
ziemlich zahlreich.
Alhu^*^) sah dieselbe bei Radrennfahrten, Albu und
Caspari^^) bei den Dauergehern beim Distanzmarsch
Dresden — Berlin, ebenso Baldes, Heichelheim und
Aletzger^^) bei mehreren Teilnehmern an einem Dauer¬
marsche, bei Fußballspielern konnte ich^®) die klinischen
Symptome einer Dilatation nach einem Wettspiele physika¬
lisch .feststellen.
Es dürfte von Interesse sein die Ergebnisse der Unter¬
suchungen von 22 Berufsringern von Weltruf mitzuteilen.
Die internationalen Ringkämpfe, welche im Frühjahr
1906 im Theatre Variete in Prag stattfanden, gaben mir
Gelegenheit, den Einfluß größter Körperarbeit auf den Orga¬
nismus, speziell auf Herz und Nieren, genauer zu studieren.
Es handelte sich durchwegs um Berufsringer, welche teils
kürzer, teils länger, bis 15 und 20 .lahre diesem Erwerbe
nachgingen. Von nicht zu unterschätzendem Werte für die
Beurteilung der Leistungen, war der Umstand, daß es sich
hier um die Erlangung der Weltmeisterschaft und auch
um die Erwerbung eines ansehnlichen Geldbetrages, der
als Siegespreis ausgesetzt war, handelte, wodurch ja die
Teilnehmer sicherlich zu den denkbar größten Muskel¬
leistungen angefacht wurden. Von diesem Gesichtspunkt aus
scheinen mir Beobachtungen bei öffentlichen Veranstal¬
tungen von weit größerer Bedeutung zn sein, als die Ergeb¬
nisse von Untersuchungen, welche experimentell vorgenom¬
men, mehr den Charakter des Improvisierten tragen, wobei
der mächtige Impuls des Ehrgeizes und der Willensstärke
nicht so sehr in den Vordergrund rückt.
Es sei gleich mitgeteilt, daß sämtliche Ringer vor
dem Ringkampfe ganz genau untersucht wurden, speziell
wurde die Herzgröße, der Puls, der Blutdruck, die Atmung
und der Harnbefund festgestellt. Orthodiagraphische Unter¬
suchungen konnten aus technischen Schwierigkeiten an Ort
und Stelle nicht vorgenommen werden. Die freundliche
Unterstützung des Herrn Dr. Weißbarth ermöglichte es
mir, unmittelbar nach beendetem Kampfe die LTnter-
suchungen vorzunehmeii, so daß die Perkussionsgrenzen,
Puls, Blutdruck, Respiration etc. in schnellster Aufeinander¬
folge vorgenommen und gegenseitig kontrolliert werden
konnten. Noch in den Kulissen, also unmittelbar nach be¬
endetem Kampfe, wurden die nachfolgenden Beobachtungen
angestellt.
Alle Ringer boten zunächst nach dem Ringen mehr
oder weniger das Bild schwerer Erschöpfung. Was den
Puls betrifft, so war derselbe in sämtlichen Fällen nach
der enormen Muskelarbeit sehr frequent. Durchschnittlich
stieg derselbe um 48 Schläge in der Minute. Der größte
Pulszuwachs betrug 110; in diesem Falle stieg der Puls
von 70 auf 180. Ein proportionales Verhältnis zwischen
der Dauer der Körperarbeit und der Pulszunahme konnte
nicht gefunden werden, da bei manchem Ringer oft schon
nach ganz kurzer Zeit eine rapide Pulsfrequenz festzustellen
war, während bei anderen selbst nach langem Kampfe eine
nur mäßige Pulszunahnie beobachtet wurde. Die höchste
Pulsfrequenz betrug 187 Schläge in der Minute. Diese
Ziffer übertrifft jene Höhe, welche gewöhnlich als Grenze
der Leistungsfähigkeit des Herzens angesehen wird. Diese
liegt nach Traut weile r^^) bei 170 Schlägen pro Vlinute,
nach Grünbaum und Amson^®) bei 173 Pulsen in der
Minute.
Die Qualität des Pulses änderte sich insofern, als der¬
selbe meist kleiner, öfter sogar fadenförmig wurde, letz-
Albu, Berliner klin. Wochenschrift 1897, 34, 202.
“) Albu und Gas pari, Deutsche med. Wochenschrift 1903,
29 252
Baldes, Heichelheim, Metzger, Münchener med.
Wochenschrift 1906, 53, 1865.
Selig, Wiener klin. Wochenschrift 1905, 18, 838.
iq T r a u t w e i I e r, Jahrbuch S. A. G. 1883/84, zitiert Deutsches
Archiv für klin Medizin 1897, 59, 84.
Grün bäum und Am son, 1901, 71, 539.
Nr. f)
i'd't
WIENER KLINISCHE WUCIIENSCllRIET. 1907.
teres dort, wo die Pidsfreqnetiz eine außerordentlich liolic
Ziffer aufwies. Arhythmie kam äußerst selten und nur in
Linhedeiiteiidem i\Iaße zur Beobachtung.
Ein charakteristisches Verhalten hot der Blutdruck,
welcher mit dem Tonometer von Gärtner gemessen wurde.
Es zeigte sich, daß derselbe mit Ausuahme von zwei Fällen,
wo eine Zunahme des Blutdruckes stattfand, in allen Fällen
nach dem Ringkampfe beträchtlich gesunken war, im
Durchschnitt um 26 mm Hg. Wohl selten kommen aber
so niedrige Blutdruckwerte zur Beobachtung, wie ich die¬
selben bei diesen Bingkämpfern feststellen konnte. So zeigte
ein Ringer nach einem Kampfe von 15 Minuten einen Blul-
druck von 40 mm (Gärtner) hei einem Puls von 187
pro IMinute, während vorher ein Blutdruck von 110 mm
bei einem Puls von 90 bestand. Ein ähnliches Verhalten
hot ein zweiter Ringer. Daß diese niedrige Ziffer nicht
auf einen Fehler in der Messung zurückzuführen war, dar¬
über belehrten mich Kontrollmessungen, welche das gleiche
Resultat ergaben. Auch hei Fußballspielern konnte ich nach
einem Wettspiel bedeutend herabgesetzte Blutdruckwerte
beobachten. Doch glaul)e ich, daß der verminderte Blut¬
druck nicht allein auf eine herabgesetzte Herzkraft zu he-
ziehen sein dürfte, wahrscheinlich spielt die reichliche Blut-
durcliströmung der Organe und Muskeln, sowie der Schwei߬
ausbruch eine nicht zu unti'rschätzende Rolle.
Die Respiration nach der Arbeit war stets beschleu¬
nigt, der durchschnittliche Zuwachs betrug ca. 12 pro Mi¬
nute. Die höchste R e spi i a ti onsz if f e r betrug 60. Was
nun die Beurteilung der Herzgröße nach dem Kampfe an-
langl, so muß konstatiert werden, daß für uns nur die
Perkussion der Herzdämpfung und die Palpation des Herz¬
spitzenstoßes maßgebend sein konnte, nachdem keine ortho-
diagraphischen Messungen vorgenommen wurden. Es ist
ja heute eine berechtigte Forderung, bei der Entscheidung
von exakten Herzgrößenbestimmungen auch die orthodia-
graphische Methode heranzuziehen. Ich gehe wohl zu, daß
die Perkussion uns nicht vollständig über geringgradige
Dilatationen wird aufklären können, stets aber hat die Lage
des Herzspitzenstoßes den wichtigsten Anhaltspunkt für die
Beurteilung der Herzgrößenverhältnisse geliildet.
Nun hat HoffmaniW*^) bekanntlich auf die Abhängig¬
keit der Lage der Herzspitze vom Zwerchfellstand hinge¬
wiesen. So bewirkt ein exspiratorischer Hochstand des
Zwerchfelles eine Verschiebung des Herzspitzenstoßes nach
außen und auf diese Weise eine scheinbare Herzvergröße¬
rung. ln diesenr LTinstande ist auch häufig die Zunahme
der perkutorischen Dämpfungsfigur zu suchen. Auch das
zweite Moment, welches von Hoffmann zur Erklärung des
anscheinend vergrößerten Herzens nach Körperarbeit an¬
geführt wird, nämlich die größere Diastole, bedingt durch
die lebhaftere Pulsation während derartiger Anstrengungen,
muß gleichfalls Berücksichtigung finden. Hervorheben
möchte ich nur, daß ich viermal eine Verlagerung des
Spitzenstoßes bis zwei und drei Querfinger außerhalb der
Mamillarlinie feststellen konnte und daß in diesen Fällen
auch die Herzdämpfung verbreitert war. Doch wäre es sehr
voreilig, daraus gleich den Schluß auf eine akute Herz¬
dilatation zu ziehen.
Ich bin vielmehr geneigt, sowohl die Verlagerung des
Spitzenstoßes, wie die Zunahme der Dämpfungsfigur auf
Zwerchfellhochstand und eine verstärkte Diastole zu be¬
ziehen, um so mehr, als ich schon nach Verlauf von fünf
Minuten die gleichen Befunde, wie vor dem Bingen er¬
heben konnte, nämlich das Einwärtsrücken des Spitzen¬
stoßes, die Verkleinerung der Herzdämpfung und die Rück¬
kehr aller übrigen Erscheinungen von seiten des Pulses,
des Blutdruckes und der Respiration. Außerdem zeigten
sich auch nicht jene subjektiven Beschwerden, wie wir
sie doch unbedingt bei einer ausgesprochenen Dilatation
des Herzens zu erwarten pflegen. Es ist bemerkenswert,
wie überraschend schnell im allgemeinen die pathologischen
^®) H 0 f f m an n, Deutsche med. Wochenschrift 1900, 16, 306;
Kongreß für innere Medizin 1902, 20, 308.
Erscheinungen zurückkehren, speziell wenn eine auch noch
so kurze Erholungspause stallfindet. Nur so ist es zu er¬
klären, daß es nicht zu den schwersten Erscheinungen der
Herzinsuffizienz kommt, es geiiügen da sicherlich jene, wenn
auch kurzen, freiwillig eingeschalteten Ruhepausen währeml
des Kampfes, in welchen wir bald den einen, bald den
anderen Ringer bewegungslos am Boden liegen sehen.
Einen sehr schätzenswerten Beitrag für die Entschei¬
dung der Frage, ob außerordentliche Körperarheit zu einer
akuten Herzdilatation führen könne, haben Lennhoff und
Levy-Dorn^^) ebenfalls durch die Untersuchung von Be¬
rufsringern hei öffentlichen Bingkämpfen gegeben. Diese
Ergebnisse sind um so wertvoller, als auch an Ort und
Stelle orthodiagraphische Aufnahmen des Herzens vorge-
nomnien werden konnten. Auch hier ergab mehrmals und
zwar bei verschiedenen Ringern, die Perkussion nach dem
Ringkampfe eine größere Herzdämpfung als in der Ruhe,
orthodiagraphisch ließ sich aber selbst nach den schwersten
Kämpfen in keinem Falle eine Zunahme des Herzumfanges
feststellen. Diese orthodiagraphischen Bestimmungen
sprechen also ebenfalls dagegen, daß selbst durch die
stärksten körperlichen Anstrengungen gesunde Herzen
akut dilatiert werden können, ln dieser Anschauung werde
ich gleichfalls um so mehr bestärkt, als mir später ange-
stellte orthodiagraphische Untersuchungen an Ringern keine
Anhaltspunkte für den Nachweis einer Dilatation nach for¬
cierter Muskelarbeit erbringen konnten.
Noch soll des Einflusses der Ringarbeit auf die Nieren
besonders Erwähnung geschehen.
Während der Harn sämtlicher Ringkämpfer vor dem
Wettkampfe vollständig eiweißfrei war, zeigte derselbe nach¬
her in 690/0 Eiweiß von leichten Trübungen bis zu
schweren flockigen Niederschlägen. Die höchste zur Beob¬
achtung gekommene Eiweißquantität betrug l%o Eßbach.
Die Eiweißmenge ist jedoch nicht abhängig von der ge¬
leisteten Muskelarbeit. So zeigte der Harn des Ringers Jan.
nach 1 Minute 16 Sekunden, der des Ringers Schm, nach
3 Minuten 17 Sekunden deutliche Eiweißtrübung, der des
Negers Mourz. nach 5 Minuten 30 Sekunden sogar l°/oo
Eiweiß, während der Harn des Ringers Po. noch nach
30 Minuten währendem Ringkampfe vollständig eiweißfrei
war. Zum Nachweis wurde die Essigsäure-Ferriocyankaliuni-
probe und die Salpetersäurekochprobe verwendet. Inter¬
essante Befunde zeigten die Harnsedimente, ln 63 0/0
der untersuchten Fälle fanden sich neben Epithelien der
Harnwege und weißen und roten Blutkörperchen
auch noch zahlreiche hyaline und granulierte Zy¬
linder, so daß für den unbefangenen Beobachter sich das
mikroskopische Bild einer akuten hämorrhagischen
Nephritis darbot. Das Auftreten von Albuminurie nach
körperlicher Ueberanstrengung ist seit längerer Zeit be¬
kannt. Leube^®) hat als erster den Einfluß der Muskel¬
tätigkeit auf ihr Zustandekommen festgestellt, seither
mehrten sich in großer Zahl derartige Beobachtungen. Aber
erst verhältnismäßig spät und nicht gar häufig fand die
« mikroskopische Untersuchung des Harnsedimentes nach for¬
cierten KörpeiTeistungen die verdiente Beachtung seitens
der Untersucher.
Der Befund von Zylindern im Harn ist von Müll er
hei Radfahrern nach Wettfahrten, von Al hu und Cas-
pari“°) bei Dauergehern, von Lennhoff und Levy-
Dorn^^) bei Ringkämpfern, von Pick, Mc. Farlane^^) und
mir 23) ppj Fußballspielern erhoben worden. Angesichts des
Befundes von Eiweiß und Zylindern im Urin müssen wir
uns die Frage voiTegen, ob wir es hier mit einer physio-
^9 Lennhoff und Levy-Dorn, Deutsche med. Wochen¬
schrift 1905, 31, 869.
18) Leube, Virchows Archiv 1878, 13, 159.
>9 Müller, Münchener med. Wochenschrift 1896, 43, 1181.
28) A 1 b u und C a s p a r i, 1. c.
29 Lennhoff und Levy-Dorn, 1. c.
22) Mc. F a r 1 a n e, Med. Record 1895, ref. Zentralblatt für innere
Medizin 1895, 16, 1034.
28) Selig, Prager med. Wochenschrift 1905, 30, 419.
Nr. 5
WIENER KIJNISCliE WOClIENSCIiRIET. 1907.
1H5
logischen, oder schon pathologischen Albuminurie zu
tun haben. Leube nud Senator, die liervorragendsten
Kenner dieser Frage, heben liervor, daß eine Albuminurie
nur dann als physiologisch angesehen werden darf, wenn
sich im Sedimente gar keine oder nur spärliclie Zylinder
u. zw. nur hyaline vorfinden und Albumin nur nach be¬
sonders anstrengender Arbeit auftritt und bald nach dem
Aufhören der Arbeit verschwindet. Nach Verlauf von
24 Stunden war die Albuminurie wieder meist vollständig
verschwunden, wenn ancii ganz vereinzelt sich noch Sparen
von Eiweiß nach dieser Zeit nachweisen ließen. Die Er¬
fahrung lehrt nun, daJ3 sich auch bei der sogenannlen phy¬
siologischen Albuminurie nebst hyalinen auch granulierte
und Epithelialzylinder finden können, worauf Senator“'^)
später auch Rücksicht genommen hat. Für das sicherste
Kriterium der Nephritis bezeichnete er neben dem Be¬
fund von Harnzylindern das Vorhandensein von roten und
weißen Blutkörperchen. Auch der Befund von roten und
weißen Blutkörperchen als klinisch diagnostisches Hilfs¬
mittel der Nephritis scheint nun auch nach den Beobach-
lungeii von Baldes,^®) Heichelheim und Metzger,
welche bei den Teilnehmern eines Dauermarsches nebst
Zylindern verschiedenster Art auch noch massenhaft rote
Blutkörperchen im Sedimente, sowie durch chemische Reak¬
tion, gleich Albu und Gas pari, 2* *^) Blut im Urin, nebst
roten Blutkörperchen im Harnsedimente nachweisen konnten,
nur bedingten Wert zu besitzen.
Wie ist nun das Zustandekommen dieser Albuminurie
nach gesteigerter Muskelarbeit zu erklären? Am nächsten
liegt die Annahme, daß es sich um eine Folge der venösen
Blutstauung in den Nieren handle.
Eine weitere Erklärung könnte auch darin erblickt
werden, daß die in vermehrter VIenge hei der geleisteten
gewaltigen Muskelarbeit gebildeten Stoffwechselprodukte,
wie etwa Oxalsäure, Harnsäure. Alloxurbasen usw. eine
sogenannte toxische Albuminurie erzeugen, Indem sie bei
ihrer Ausscheidung das Nierenparenchym reizen, eine An¬
nahme, welche auch T e i s s i e r,^^) Baldes, Heichelheim
und Metzger zur Erklärung der nach Märschen auftretenden
Albuminurie herangezogen haben. Im Harnsedimente konnte
Teissier, wie iVlbu und Gas pari mitunter auffallend
zahlreiche Harnsäurekristalle beobachten, was auch bei un¬
seren Ringern bisweilen zutraf. Mc. Farlane^®) hält es für
möglich, daß der größere Salzgehalt des konzentrierten Urins
schuld sei an der reichlichen Transsudation von Eiweiß,
glaubt aber eher, daß es sich bei dem stärkeren Blutzufluß
während der Anstrengung lediglich um ein stärkeres Ab¬
stößen von Nierenepithelien handle, ähnlich wie nach einem
Dampfbad sich die Haut in größeren Fetzen abstoße.
Wir sehen, daß bei allen forcierten Sportleistungen, sei
es Radfahren, Fußballspiel, Distanzmarsch oder Ringkampf,
mehr oder minder starke Schädigungen lebenswichtiger Or¬
gane hervorgerufen werden können. Wenn diese auch nach
kurzer Zeit meist verschwinden, so ist die Befürchtung wohl
unabweislich, daß derartig fortgesetzte Insulte des Herzens
und der Nieren wahrscheinlicb endlich zu dauernden Schädi¬
gungen führen können.
Die Heilbarkeit äußerer Zahnfisteln ohne
Extraktion des veranlassenden Zahnes."^)
Von Prof. Dr. B. Mayrhofer in Innsbruck.
Wenn in einem Zahne die Pulpa zerfallen und der
Wurzelkanal von infektiösen Massen ausgefüllt ist, so
schreitet unter gewissen Umständen die Infektion durch
das Foramen apicale in die umgebencle Spongiosa fort, es
‘■“h Senator, Nothnagel spez. Pathologie und Therapie 1902, 19, 1.
“h Baldes, Heichelheim, Metzger I. c.
Albu und Caspar!,], c.
Teissier, Sem. med. 1894, 567.
Mc. F ar 1 a n e, 1. c.
*) Nach einem in der Wissenschaftlichen Aerztegeseli schalt in
Innsbruck am 19. Januar 1907 gehaltenen Vortrage.
bilden sich um den Apex Granulationen aus, welche den
Knochen usurieren und der in dieser so zustande kom¬
menden kleineren oder größeren Knochenhöhle eingc-
schlossene Infektiotisherd bahnt sich nicht selten nach
außen einen Weg; es entsteht eine Zahnfistel, welche ent¬
weder in einer Körperhöhle (in der Regel der Mundhöhle,
selten der Kiefer- oder Rachenhöhle) oder an irgendeiner
Stelle der äußeren Haut (meist am Unterkieferrande oder
Kinn, ferner an der Wange, insbesondere nahe dem Augen¬
winkel, bei weiterer Senkung nach abwärts aber auch am
Halse, vor oder hinter dem Kopfnicker, an der Klavikula,
selbst auf der Brust oder in der Achselhöhle) mundet.
Wir wollen uns hier nur im allgemeinen mit der
Therapie dieser Prozesse befassen.
Was die Z ah n f 1 e i s ch f i s tel n anlangt, so stehen
uns zwei prinzipiell verschiedene Alethoden zur Verfügung,
die medikamentöse und die chirurgische.
Erstere besteht in Desinfektion des Wurzelkanales und
Durchspritzung desinfizierender Lösungen durch Zahn und
Fistel. Viele Fisteln vernarben unter dieser Behandlung in
kurzer Zeit. Andere Fisteln heilen trotz Anwendung stark
ätzender Mittel, wie konzentiierte Karbolsäure, Kreosot, man
ist von gewisser Seite ja selbst vor Schwefelsäure und
Scheidewasser nicht zurückgeschreckt, gar nicht oder ver¬
kleben nur oberflächlich, um liald wieder aufzubrechen. Für
diese Fälle hatPar t s ch das clnrurgische Voggehen empfohlen
und ist der kleine Eingriff im Laufe der letzten .Jahre durch
Ausgestaltung der Technik zu einer zierlichen Operation
ausgebildet worden, die unter lokalei' Anästhesi(i schmerz¬
los ausgeführt werden kann. Es wird hiebei nach Desin¬
fektion und Füllung des Wurzelkanales die Schleimhaut
über dem Apex gespalten, die Alveole trepaniert, die Wurzel¬
spitze amputiert und nach Auskratzung der Granulationen
die Knochenhöhle durch Tamponade zur Ausheilung ge¬
bracht, oder besser mit .lodoformknochenplombe gefüllt und
der Schleimhautschnitt durch Naht wieder vereinigt.
Was nun die äußeren Zahnfisteln, die Zahnfistel
im engeren Sinne, hetrifR, sO‘ wird in allen — auch den
neuesten — chirurgischen sowohl als zahnärztlichen Lehr¬
büchern die sofortige Extraktion des schuldigen Zahnes
als erstes und unbedingtes Erfordernis der Heilung vor¬
geschrieben. Tatsächlich ist vielfach der noch vorhandene
Zahn- oder Wurzelrest einer Erhaltung weder wert, noch
selbst fähig. Immerhin kommen Fälle vor, wo die Auf¬
opferung des Zahnes mit einem berücksichtigenswerten
Nachteile für den Träger desselben verl)unden wäre. Dies
betrifft insbesondere gerade die oberen und unteren
Vor der zähne, die nicht so selten infolge Trauma usw.
eine abgestorbene, infizierte Pulpa mit konsekutiver Fistel
besitzen, während die Kronen intakt sind. Dabei erfreuen
sich solche Patienten oft einer sonst lückenloisen Zahnreihe
und erfordert dann der Ersatz des einen extrahierten Zahnes
eine unverhältnismäßig große Gaumenplatte, wenn der
Patient nicht noch weiters die Kronen der benachbarten
tadellosen Zähne behufs Herstellung eines Brückenersatzes
opfern will, was nicht jedermanns Sache ist. Auch Karies
befällt oft nur einen einzelnen Vorderzahn und ist, wenn
schon die Krone seihst arg zerstört sein sollte, wenigstens
die Erhaltung der Wurzel für einen Stiftzahn wünschens¬
wert, um so die oberwähnte, stets lästig empfundene und
für das übrige Gebiß eine gewisse Gefahr bedingende
Plattenprolhese zu vermeiden; aber auch Backen- und Mahl¬
zähne können, wie jeder erfahrene Zahnarzt weiß, sei es
für den Kauakt, sei es als Slütze für PTothesen unter Um¬
ständen eine besondere Wichtigkeit erlangen.
Wenn sonach auch bei äußeren Fisteln die Erhaltung
des schuldigen Zahnes des öfteren in Betracht kommt, so
fragen wir uns, auf welche M'Tise dieses Ziel zu erreichen
sein möge.
Bei der gegenüber Zahnfleischfisteln meist bedeutend
größeren xVusdehnung der anatomischen Läsionen ist es
einleuchtend, daß hier das chirurgische Verfahren an erster
Stelle steht. Zwar wird vereinzelt von Heilungen auch
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
1 bü
äußerer Zahnfistelii, lediglich durch medikamentöse Be¬
handlung berichtet. In der Tat gibt es eine Art von äußeren
Fisteln, hei welchen der von der Wurzelspitze bis zur
äußeren Haut zurückzulegende Weg so kurz ist, daß die
palhologischen Gewebsveränderungen manchmal — in der
Minderzahl der Fälle — sehr gering sein können und dies
sind die Kiniifisteln ; dieselben sind aus dem eben erwähnten
Grunde manchmal so harmlos, daß sie an pathologischer
Wertung den gutartigeren Zahnfleischfisteln an die Seite
zu setzen sind und hei nicht allzu lange bestehenden Kinn-
fisleln, aber auch nur hei diesen, mag ein Versuch mit
der medikamenlösen Behandlung, aber unter Ausschluß aller
shirker ätzenden Mittel, gestaltet sein. Selbstverständlich
kann hier nur von einem Versuche, nie von einer Me¬
thode, die Rede sein, bleibt man dabei doch stets voll¬
ständig in Unkenntnis der genaueren anatomischen Details
(Ausdehnung der Knochenusur, Verlauf des Fistelganges,
Nekrose mit Sequesterbildimg, Wurzelverkrümmungen, ab¬
norme Mündung des Wurzelkanales, Verkalkungsprozesse
und so weiter), so daß man, wenn die Fistel auch bald zu
sezernieren aufhöii^ doch niemals dem Patienten mit Be¬
stimmtheit versprechen kann, daß sie nicht wiederkehren
werde. Enttäuschnngen sind hier um so eher möglich, als
bekanntlich der Organismus an Abkapselung infektiöser
Stoffe in allen seinen Geweben, selbst im Gehirne, oft
Staimenswertes leistet, bis dann früher oder später doch
der imter der Asche glimmende Funke zum hellen Feuer
entflammt. So sehen wir eben auch unbehandelte Zahn¬
fisteln. auf Wochen, selbst Monate vernarben und ist mir
umgekehrt aus der Literatur ein Fall erinnerlich, wo eine
Zahnfistel ohne Behandlung des Zahnes nur aus-
gekralzt wurde und acht Monate lang geschlossen blieb.
Es kann daher, sowohl für die meisten Kiimfisteln
als insbesondere für alle übrigen äußeren Zahnfisteln, einzig
und allein das chirurgische Vorgehen als wirklich ratio¬
nelle Methode bezeichnet v/erden, wenn man das Leiden
mit Erhaltung des Zahnes beseitigen will.
So iiaheliegend dieser Gedanke scheint, ist er doch
bislier weder ausgesprochen, noch ausgeführt worden. Es
wolle deshalb gestattet sein, über vier auf die angedeutete
Art operierte Fälle kurz zu berichten.
Fall 1 (.1904). B. Sch., 25 Jahre all, rechtseitige Augcn-
winkelfistel, ausgehend vom kariösen, lateralen, oberen Schneide-
zahm Wurzel reseklion au letzterem, Kxkocldealion der Fistel,
Tamponade. Iteilung in 17 Tagen.
Fall 2 (T90(t). M. K., 90 Jahre alt, rechtseitige Wangen¬
fistet in der G<*gend kler unteren Backenzähne, etwas oherhalh (h^s
Futerkieforraudes, seit etwa drei Monaten bestehend, ausgehend
vom zweiten Bräinolaris; Krone desselben intakt, Pulpa zerfallen,
Nachweis dieses Zustandes durch faradische Vitalitätsinüer-
suchung, Ursache nicht sicher aufzuklären. Wurzelresektion von
a ulten durch den Fistelkanal hindurch mit Vermeidung einer
Verletzung der Schleimhautumschlagfalte, Exkochleation der nuß-
großen Knochenhöhle, Exzision der Fistel, Jodoformknochen¬
plombe, Naht. Heilung in fünf Tagen. Zahn, bei dem deso¬
laten Zustaud des Gebisses linkerseits, wichtig für den Kauakl,
hzw. als Pi'olhesenstütze.
Fall o 11906). 0. B., 14 Jahre alt, Kinnfistel, im Kinn-
grühchen silzend, seit ungefähr 2V2 Jahren bestehend, ausgehend
vom kariesfreien, linken unteren zentralen Schneidezahn, von
ilessen oberer Scbmelzkante ein kleines Stückeben abgesprengt
ist. Einzelnes Trauma wird bestimmt in Abrede gestellt, da¬
gegen hat Pat. die Gewohidieit, Nüsse mit den Zähnen aufzu¬
knacken. IVurzelresektion von außen mit Umgehung der Mund¬
höhle, Exkochleation dei' nußgroßen Knochenhöhle, Exzision der
Fistelränder, Jodoformknochenplondje, Naht. Heilung in fünf
Tagen. Vermeidung der Piolhese bei lückenloser Zahnreihe.
Fall 4 (1906). A. Th., 17 Jahre alt, liukseitige dentale Augen-
winkdfistel. Dieser Fall sei etwas ausführlicher beschrieben.
Pat. suchte im Juli v(‘rgangenen Jahres hehufs Plombierung
der obeiam Schneidezähne einen Zahntechniker auf; dersellie
zwickte ihr alle vier Zahnkronen ah und fertigte eine Platten¬
prothese; die IVurzeln hlieben unhehandelt. Nach einem Monat
schwoll die rechte Wange vorübergehend an, einige Zeit später
die linke, worauf sich allmählicli auf der Nasenwurzel linker¬
seits, nahe dem inneren Augenwinkel, ein Knötchen bildete, das
schließlich von einem Arzte aufgeschnitten wurde, wobei sich
Eiter entleerte; die Inzisionswunde schloß' sich nicht, weshalb
Pat. nach Innsbruck reiste.
Die Untersuchung ergab ein — mit Ausnahme der fehlenden
oberen Schneidezahnkronen und eines kürzlich extrahierten,
linken oberen Prämolaris — lückenloses Gebiß, Gingiva stark
gerötet, gequollen, leicht blutend, die vielfach von Zahnstein
besetzten Zahnkronen zur halben Höhe derselben bedeckend, die
oberen Schneidezahnwurzeln völlig ühenvuehert, unsichthar ;
ferner drei stark eiternde Zahnfleischfisteln, eine rechts, zwei
links, druckschmerzhafter, derher, nirgends fluktuierender, auch
kein Pergamentknittern darbietender Tumor im Vestibulurn oris, von
der rechten zentralen bis zur linken lateralen Schneidezahn¬
wurzel reichend, Anschwellung der VVange längs der linken Nasen¬
wurzel, bohnengroße, gerötete Geschwulst nahe dem Augenwinkel
mit eiterndem Granulationspfropfe auf der Kuppe.
Die Diagnose einer dentalen Augenwinkelfistel ergab sich
nach alledem von selbst; quoad therapiam forderten das jugend¬
liche Alter der Patientin, sowie die fast lückenlose obere Zahn¬
reihe gebietei'isch die Erhaltung der Schneidezahnwurzeln für
einen Brückenersatz, um die umfangreiche Gaumenplatte ent-
l)ehrlich zu machen. Die rechtseitige gingivale Fistel war ein
Prozeß für sich, ausgehend von der lateralen Schneidezahnwurzel ;
sie Avurde durch Wurzelresektion beseitigt, wobei sich ein korti¬
kaler Sequester vorfand. Die drei anderen AVurzeln, die von einem
gemeinsamen Tumor überdeckt waren und von denen daher
keinesAvegs ausgesagt werden konnte, in welcher Weise sie
zu dem Krankheitsherde in Beziehung stünden, bzw. an dem
Zustandekommen der äußeren Fistel beteiligt seien, mußten mit
letzterer zugleich in einem Operalionsakt angegangen Averden.
Die Operation (Narkose: Billroth-Mischung) verlief fol¬
gendermaßen :
Ein schAvachbogenförmiger, nach unten konvexer, zirka
3 cm langer Schnitt, in der beAveglichen Mukosa über die Warzeln
geführt, legte üppig Amrquellende Granulationen ,bloß, nach deren
Entfernung mit dem scharfen Löffel die drei Wurzelspitzen sicht¬
bar, reseziert und die bezüglichen Knochenusuren ausgekratzt
Avurden. Nunmehr zeigte sich, daß die linke laterale Schneide¬
zahnwurzel die unmittelbare Veranlassung für die äußere Fistel
gegeben batte, indem von der ihr entsprechenden, nußgroßen
Knochenhöhle ein Granulationsgang u. zav. auf der Oberfläche
des Knochens, längs des Periostes und unter den Weichteilen
nach oben zur Augenwinkelfistel führte, derart, daß eine Amn oben
vorgeschobene Sonde in der beschriebenen Knochenhöhle zum
Vorschein kam. Mit dem iVntrum bestand keine Kommunikation.
Eine elAva erbsengroße, ei’Aveichte Partie des oberen Knochen¬
höhlenrandes Avurde ausgekratzt, ebenso der Fistelgang von unten
und die Fistel selbst von außen. ATit Einführung eines schmalen
Vioformstreifens in den Wundkanal von oben, Ausfüllung der drei
Knochenusuren mit Jodoformplombe und Verschluß der Schleim-
hautAvunde durch sieben Nähte Avar die Operation beendet. Ent¬
fernung der Näbte am fünften Tage, Heilung per primain; Ver¬
narbung der äußeren Wunde unter ständiger Verkürzung des
Tampons binnen zwei Wochen. Brückenprothese.
Nach dem günstigen Verlaufe der mitgeteilten Fälle
glaube ich die Wnrzelresekti 011 zur Heilung äußerer
Zahnfisteln mit Erhaltung des Zahnes empfehlen
zu dürfen und kann daher hei diesem Leiden die Extraktion
des veraidassenden Zahnes n i c h t m e h r a 1 s unbedingte
Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie hin¬
gestellt Averden.
MITTEILUNG AUS DER PRAXIS.
Zum Kapitel der Tuberkulosenfürsorge in
Oesterreich.
Von Dr. Artur Raer, Sanatorium Wienerwald.
Es klingt fast schon etAvas ahgehrauchl, Avenn nian hei
Betrachtung der Tuberkulose als sozialer Krankheit in unserem
\ aterlande immer AAueder die Verhältnisse im benachbarten
Deutschen Reiche zum Vergleiche heranzieht. Und doch drängt
sich einem der Vergleich stets A'on neuem auf und wird immer
angeführt Avei'den, solange Avir in hezug auf die Fürsorge für
die Tuberkulösen so Aveit hinter Deutschland zurückstehen Averden.
Neuerdings hat mich ein Fall hiezu angeregt, dessen Ge.schichte
mir der Veröffentlichung wert erscheint.
Herr W . T. aus P. trat am 6. Dezember a\ .1. in unsere
Anstalt ein. Seine in bezug auf die A^orliegetide Bh'age interessante
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WÜCHENSCHRIFT. 1907.
187
Anamnese ergal) folgendes; Seit einiger Zeit henierkle l’at., daß
er al)niagere, dann begann er zu husten, auszuwerfen, zu fielicrn,
an Naclilscbwcißen zu leiden. Er zog zuerst seinen Vertrauens¬
arzt zu Rate, welcher bei ihm eine tuberkulöse Spitzen-
affektion diagnostizierte und ihn anwies, sich in eine Lungen¬
heilanstalt auf nehmen zu lassen. Darauf ließ, sich der Patient
von seinem Kassenarzt untersuchen. Dieser aber erklärte Herrn T.
für g es u 11 d und v o 1 1 k o m men a rh e i t s f ä h i g. Als der Patient
auf seine a h e n d 1 i c h e n T e m p e r a t u r s t e i g e r u n g e n hin wies,
wurde dies nicht anerkannt, mit dem Bemerken, daß er zur Zeit
der Untersuchung normale Temperatur habe. Da nun der Patient
trotzdem hei der Krankenkasse um Krankengeld oder Kurbeilrag
ansuchte, wurde er von dieser an einen anderen Arzt zur neuer¬
lichen Untersuchung verwiesen. Doch auch dieser gab nur die
■Möglichkeit eines ganz leichten Bronchialkatarrhs
nicht tuberkulöser Natur zu und erklärte den Patienten für
arbeitsfähig. Aut seine Anfrage bei einem Beamten der
Krankenkasse, wann diese einen Lungenkranken für unter¬
stützungsbedürftig anerkenne, wurde ihm die bündige Antwort
zuteil ; Wir erkennen einen Tuberkulösen nur dann als arbeits¬
unfähig an, wenn er hohes Fieber hat, etwa 38-5*^ oder mehr;
denn ein Lungenkranker mit geringeren Temperaturen kann noch
jahrelang leben, deshalb werden in solchen Fällen nur ärztliche
Behandlung und Medikamente, aber keine Krankenunterstützung
gewährt.
Da nun der Patient liegreiflicherweise durch die Symptome
seiner Krankheit sehr beunruhigt war, schenkte er der Diagnose
seines ersten Arztes volles Vertrauen und ließi sich unter Ver¬
zicht auf die Unterstützung seiner Kasse in unsere Anstalt auf¬
nehmen.
Ich konstatierte bei ibm folgenden Befund: Deulliche leicbte
Schallverkürzung über der linken, raubes Atmen und mäßig reich¬
liche, trockene Rasselgeräusche über beiden Spitzen. Die weitere
Beobachtung ergab positiven Bazillenbefund im Sputum
und subfebrile Temperaturen (die ül)rigens erst nach mehr-
wöchentlicher absoluter Bettruhe zum Schwinden gebracht werden
konnten). Ein neuerliches Gesuch, das der Patient von hier aus
an seine Kasse richtele, wurde selbstverständlich abgewiesen,
trotzdem das beigelegte ärztliche Zeugnis die sicher tul)erkulöse
Natur des Leidens hervorbob. Indessen konnte sich die Kasse
auf die Aussage ihrer beiden Aerzte stützen und batte daher
keine Verpflichtung gegen den Kranken.
Ziehen wir nun die Ikrrallele im Sinne der eingangs er¬
wähnten Verhältnisse, so sehen wir folgendes. Während man
sich anderwärts bemüht, die Diagnose ,,Tuberkuiose“ in einem
möglichst frühen Stadium zu machen, um den Kranken in einem
noch heilungsfäbigen Zustand der geeigneten Behandlung zu¬
zuführen, während dort über das geeignete ,, Ausleseverfahren'
Bände geschrieben und große Diskussionen abgebalten werden,
bemüht man sich hier, diese Diagnose tunlichst nur dort zu
stellen, wo man sie stellen muß, weil der Prozeß schon Idn-
reichend weit fortgeschritten ist. Denn im großen und ganzen
steht der Kassenarzt der Tuberkulose machtlos gegenüber.
Es sind wohl in (tiesem Fälle Fehler unterlaufen, denn ab¬
gesehen davon, daß^ die Kassenärzte bereits durch die Anam¬
nese und frühere Diagnose eines Kollegen zum Verdachte
auf eine tuberkulöse Affektion gedrängt werden mußten, ist es
doch gewiß n i c h t a n g ä n g i g, eine auch n u r 1 e i c h t e a b e n d-
liche Te m p e r atu r s t e i g e r u n g einfach nicht zu be-
a. c h t e ir, weil zur Zeit d e i* U n t e r s u c b u n g die
Tenii)eratur normal war. Wenn auch zugegeben werden
mag, daß man nach einer einmaligen Untersuchung sich
nicht leicht entschließt, die schwerwiegende Diagnose ,, Tuber¬
kulose“ zu stellen, so hätte doch dieser Fall unbedingt
zu weiterer ge n a u e r Beobachtung a n r e g e n
müssen, wobei die Sachlage keinesfalls so einfach sein muß
wie in dem vorliegenden Falle, bei dem die bloße Sputum;-
Untersuchung die Sicherstellung der Diagnose gegeben hätte.
Aber abgesehen von diesem speziellen Falle steid. der Kassen¬
arzt, wenn er Lungentuberkulose leichten Grades festgestellt bat,
Vf)!' der Frage, was er mit dem Patienten beginnen soll; und
diese Frage ist in den meisten Fällen unlösbar. Unsere allge¬
meinen Krankenhäuser haben wohl jetzt ziemlich alle l’uberku-
losenabteilungen, die aber immer fast noch ausschließlich nur
Zufluchtsorte der Schwerstkranken bilden, ‘’auch wohl nur selten
in der Lage sind, den Forderungen, die an eine Heilstätte für
Lungenkranke gestellt werden müssen, gerecht zu werden. So
bleibt der Kranke im l)eslen Falle mit einem geringen Kurl)eitrag
sich selbst überlassen und ist gezwungen, sobald es seine Kräfte
nur erlauben, wieder seiner Arbeit nachzugehen. Die eizielte
Besserung ist dann gewiß nur vorübergebend; nach wi(‘d(Mli(dt(‘n
solchen Krankenurlauben ist dann der Prozeß so weit fortge¬
schritten, daß aus dem leicht luberkulösen ein schwer nhtbisischer
Kranker geworden ist. Und di('se Unmöglichkeit, einen
Leichtkranken richtig u n t e r zu b r i n ge n, ist es wohl
meines Erachtens vorwiegend, welche die Kassen auf dem Stand¬
punkte stehen läßt, daß nur ein S(diwerkra.nker uiderstützungs-
l)edürftig ist.
Dieser eine hier geschilderte Fall kennzeichnet die traurige
Situation einer überaus großen Zahl von Tuberkulösen, der nur
durch eine zweckmäßige Krankengcsidzgebung al)geholfen werden
könnte. Diese müßte verhindern, daß jemand, der jahrelang seinen
Krankenbeitrag gezahlt hat, in die Lage kommt, im Erkrankungs¬
falle als nicht unterstützungsbedürftig angesehen zu
werden, w^eil er noch nicht vollkommen arbeitsun¬
fähig ist. Zahlloses Material könnte der Allgemeinheit als er¬
werbsfähiges Mitglied nützlich sein, statt ihr in einem späteren
Stadium der Krankheit dauernd zur Last zu fallen.
{Referate.
Lehrbuch der Bakteriologie mit besonderer Berück¬
sichtigung der Untersuchungsmethoden, Diagnostik und
Immunitätslehre.
Von Ludwig Heim.
Dritte, vollständig umgearbeitete Auflage.
Mit 233 Abbildungen im Text und 13 mikrophotographischen Tafeln.
S t u 1 1 g a r t 1906, Verlag von Ferdinand E n k e.
Der ersten Auflage des Lehrbuches im Jahre 1894 konule
Heim schon 1898 die zweite, zum Teil umgearbeitete folgen
lassen und jetzt liegt uns die dritte, völlig umgearbeitete vor.
Die Einteilung des Stoffes ist aucb in dieser neuen Auflag('
im allgemeinen beilxdialten : Der erste Abschnitt behandelt die
Untersuchung im allgemeinen und ihre Hilfsmittel (mikroskopische
Untersuchung, Züchtung und Tierversuch), der zweite die Unter¬
suchungen über die Form und Lebenseigenschaften der Bakterien
(mikroskopische Merkmale, iMerkmale bei der Züchtung, Immuni¬
tät und Desinfektion), der dritte die bakteriologische Diagnostik
(Einteilung der Bakterien, Vorkommen und Nachweis von Klein¬
wesen in- iiml außerhalb des Köiirers nebst Beschreibung der
häufigeren Arten) und der vierte bringt als Anhang eine Anleitung
zur Einrichtung bakteriologischer Arbeitsstätten, Erläuterungen
zu den iMikrophotogrammen nel)st Wirdven lür mikrophotogra¬
phische Aufnahmen.
Da aber die Fortschritte in der Bakteriologie und ihren
Hilfswissenschaften im Verlaufe der letzten Jahre derart große
waren, daß eine Ergänzung der früheren Aullage nach der An¬
sicht Heims „nur ein Flickwerk zutage gefördert hätte“,
entschloß sich Heim, sein Buch neu zu schreiben. Diese Arbeit
ist um so mebr zu begrüßen, als Heim das Neue und Wissens¬
werte, was uns die bakteriologische Forschung gebracht hat,
nicht bloß vollständig erschöpfend, sondern auch kritisch berück¬
sichtigt. Dabei ist Heim seinem scbon in den fiüheren Auf¬
lagen durchgeführten Plane, vorwiegend dem Praktiken’ zu dienen
und jedem, der sich mit bakteriologischen Arbeiten befassen will,
ein ,,zuv'erlässiger Führer und Berater“ zu sein, tixni geblieben.
Und darin liegt wobl der Hauptwert des Lebrbuches.
Ghon.
*
Die Verwendung von Chemikalien als Heilmittel.
Nach Vorlesungen von Dr. Paul Cobu.
Aus »Sammlung chemischer und chemisch-technischer Vorträge«.
Herausgeber: Prof. Dr. F. Alireiis.
Baud X.
Stuttgart 1906, Enke.
Verf., der Nichtpharmakologe ist, gibt eine gedrängte, lücken¬
hafte Ueljcrsicht über einzelne Wirkungen der Arzneimithd. fm
wesentlicben hält er sich dabei an die Darstellungen der vor¬
liegenden Fachlehrbücher. Das Heftchen ist nicht für Mediziner,
sondern für Ghemiker geschrieben, deren Anforderungen und An¬
sprüche Referent nicht zu beurteilen vermag.
=1«
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
Handbuch der Sauerstofftherapie.
Unter Mitwirkung von Dr. H. Brat, Dr. W. C o w I, Prof. Dr. G. Gärtner,
Branddirektor E. Giersberg, Prof. Dr. E. Hagenbach-Burck-
hardt, Prof. Dr. H. Kionka, Prof. Dr. A, v. Koran yi, Professor
Dr. A. L o e w y, Prof. Dr. N. 0 r t n e r, Prof. Dr, J. P a g e 1, Doktor
H. V. Schrötter, Privatdozent Dr. L. Spiegel, Dr. H. Wohl¬
gemuth, Dr. L. Z u n t z. Geh. Rat Prof. Dr, N. Z u n t z.
Herausgegeben von Dr. med. Max Michaelis, Universitätsprofessor.
Mit 126 Textfiguren und 1 Tafel.
551 Seiten.
Berlin 1906, H i r s c h w a 1 d.
,,So häufig man auch die Sauerstoffinhalationeii versucht
hat, so selten haben sie einen günstigen Erfolg gegeben, ln der
Mebrzabl der Krankheiten waren sie unnütz, in manchen (bei
den meisten Lungenkrankheiten z. B.) nachteilig, in einzelnen
durch einfachere Mittel ersetzbar und nur in ganz wenigen von
vorübergehendem Nutzen.“ So äußerte sich noch vor wenigen
Jahren Benzol dt in seinem von seiten selbst erster Autoritäten
auf dem Gebiete der klinischen Medizin hochgeschätzten Lehr¬
buch der klinischen Arzneibehandlung.
Inzwischen mögen sich ja auf Grund neu gewonnener Er-
falirungen die Ansichten der Klinik geändert haben. In der Tat
scheint das Urteil Penzoldts ein wenig zu hart zu sein, aber
auffällig ist immerhin, daß das Kapitel Ortners, des Vertreters
der inneren iMedizin im vorliegenden Handbuch, weitaus das
kleinste isl, mit sechs Seiten nur 1% der Seitenzahl des Werkes
ansmacht. Sicher aber können wir den Satz aufstellen, daß in
('iner so kurzen Zeitspanne ein abschließendes Urteil sich nicht
bilden läßt, die Herausgabe eines Handbuches also mindestens
verfrüht ist. Und weiter darf man hei dem beschränkten Be¬
reiche der Indikation für die O2- Therapie fragen, ob für
die Herausgabe eines solchen nicht lediglich oder iln wesent¬
lichen ein Bedürfnis des Herausgebers bestimmend war. Und
den Wunsch dürfen wir anschließen, daß nicht dies Verfahren
Schule mache und wir im Laufe der kommenden Jahre mit
handhuchweisen Herausgaben der übrigen Therapien beschenkt
werden.
Ein nach Fassung und Inhalt gleich hervorragendes Kapitel
ist das über die physiologischen Grundlagen der Sauerstoff-
Iherapie von A. Loewy und N. Zuntz, Forschern, denen wir
ein gut Teil unserer Kenntnisse auf diesem Gebiete verdanken.
Das Kapitel enthäll alles Wissenswerte und große Abschnilte
anderer Kapitel sind nichts weiter als Wiederholungen und de-
laillierte Ausführungen des hier in präziser Form Niedergelegten.
Die Technik der Anwendung des Sauerstoffes in den ver¬
schiedenen Betrieben wird im allgemeinen mit großer Sachkennt¬
nis und breitester Ausführlichkeit iu nicht weniger als sechs
Kapiteln behandelt. Besonders wichtig sind die von Wohl¬
gemuth, Brat und Giersberg, da sie sich auf reiche Eigen¬
erfahrungen der Verfasser stützen. Die Kapitel Cowl, v. Ko-
ränyi, Gärtner, namentlich al)er v. Schrötter gehen zum
Teil weiivolle Griginalarheiten der betreffenden Verfasser wieder,
die meines Erachtens aber nicht in den Rahmen eines Hand¬
buches gehören ; zum Teil haben sie auch sehr wenig mit Sauer-
stofflherapie zu tun und behandeln weil ahliegende Gegenstände.
Bis zu einem gewissen Grade selbstverständlich ist, daß die
Besprechung ein- und desse]l)en Gegenstandes in den vei-schieden-
sten Ka])iteln wiederkehrt ; so wird die Anwendung der O2-
Therapie ])ei Kcjhlendunstvergiftung in nicht weniger als sieben
Kapiteln eingehend erörtert. Das ist nicht die Schuld der Mit¬
arbeiter sondern des Unternehmens.
Am wenigste)! befriedigen die Ausfühiaingen der Kliniker,
da jiaturgemäß kein einziger von diesen bisher zu ('inem ab¬
schließenden Urt(‘il gelangen konnte. Hier sind d(mn auch zum
Teil seh)' überraschende Erfahrungen und Anschauungen nieder¬
gelegt. So schreibt Seite 148 M. Michaelis wöillich : „Bei
einer Reihe von Stoffwechselkrankheiten, hei denen
es sich uni verminderte Oxydationsprozesse im Or¬
ganismus handelt, so hei Gicht, Fettleibigkeit und
Diabetes (siel), ist Sauerstoff vielfach angeblich mit Nutzeji
angewendet worden. Andere und ich seihst standen diesen Be¬
obachtungen etwas skeptisch gegenüber. Nachdem aber im Jaf fe¬
schen Laboratoiium in Königsberg die Möglichkeit gezeigt worden
ist, experimentell erzeugte (Aether- [Ref.]) Glykosurie an Tieren
durch intravenöse Sauerstoffinjektionen zu verhindern, scheint
auch hier die Sauerstofftherapie festen Fuß fassen zu wollen.“
Ein Tierjihysiologe ließe es sich nicht leicht heikommen,
eine derartige Konsequenz zu ziehen. Auch manche klinische Er¬
fahrungen, wie die N. Ortners, der in manchen Fällen dem
Sauerstoff eine appetitamegende Wirkung nicht ahsprechen möchte
(Seite 54) und Empfehlungen, wie die ernsthaft gemeinte Spie¬
gels (Seite 547), hei Krankheitserscheinungen, die auf mangel¬
hafte Oxydationsvorgänge zuriiekgeführt werden, natürliche Oxy-
dasen zuzuführen, stimmen sehr nachdenklich.
0. Loewi.
Mikroskopische Untersuchung des Wassers mit Bezug
auf die in Abwässern und Schmutzwässern vorkommenden
Mikroorganismen und Verunreinigungen.
Von Mr. pharm. Emanuel Senft, k. u. k. Militärapotheker.
Mit 180 Figuren in 86 Abbildungen im Texte und 220 Figuren auf
10 lithographierten Tafeln.
Wien 1906, Verlag von J. Safäf.
Die iu den verschiedenen Wässern, Abwässern und Schmutz¬
wässern oft in außerordentlich großer Zahl vorhandenen niederen
pflanzlichen und tierischen Organismen werden wohl seit ge¬
raumer Zeit von Botanikern, und Zoologen bearbeitet und liegen
hierüber sehr schöne und gründliche Untersuchungen vor. Daß
diese Mikroorganismen, wie auch die in diesen Gewässern vor¬
handenen Schwebestoffe vor allem bei der Beurteilung des Trink¬
wassers, hzw. der Wasserversorgung der Gemeinden eine Rolle
spielen, ist früher bereits geahnt worden, voll und ganz ge¬
würdigt wird es aber erst in jüngster Zeit. Das erste größere
Werk hierüber: IMikroskopische Wasseranalyse, von C. Mez,
stammt aus dem Jahre 1898. In diesem ausgezeichneten Buche
sind eine stattliche Anzahl pflanzlicher, wie tierischer Organis¬
men, welche im stark oder schwach verunreinigten Wasser ihre
Lehensbedingungen zu finden gewohnt sind, namhaft gemacht.
Den gleichen Gegenstand behandelt das vorliegende Werk;
nur hat der Verfasser hei der Bearbeitung desselben die in den
Mitteilungen aus der königlichen Prüfungsanstalt für Wasserver¬
sorgung und Ahwässerbeseitigung zu Berlin 1902 erschienene
grundlegende Arbeit von Dr. R. Kolkwitz und Dr. M. Mars son:
Grundzüge für die biologische Beurteilung des Wassers nach seiner
Flora und Fauna, noch berücksichtigen können. Er bespricht
daher im speziellen Teile unter den organisierten Körpern außer
den niederen pflanzlichen und tierischen Organismen (Mikroflora
und -fauna) auch höher organisierte Tiere. Im allgemeinen Teile
behandelt der Autor auf 59 Seiten: I. Das Mikroskop und die
Nebenapparate, welche hei einer mikroskopischen Wasserunter¬
suchung nötig sind ; 11. Sammeln, Auf bewahren und Untersuchung
der Wasserproben; Hl. die saprohen Organismen und die Selbst¬
reinigung des Wassers. Der Verfasser, als Zeichner rühmlichst
bekannt, hat zahlreiche brauchbare Bilder in das Werk auf¬
genommen, von der ganz richtigen Erwägung ausgehend, daß
gute Illustrationen mehr sagen als eine lange Beschreibung.
Das Werk kann besonders jenen, welche Wasser nicht be¬
rufsmäßig untersuchen, wie Landärzte, Chemiker, Fahriksdirek-
toren, Apotheker bestens empfolden werden.
*
Lehrbuch der Intoxikationen.
Von Dr. Rudolf Kohert, kaiserlich russischem Staatsrat, ordentlicher
Professor für Pharmakologie und physiologische Chemie der Universität
Rostock.
Zweite durchwegs umgearbeitete Auflage.
Zwei Bände. II. Band: Spezieller Teil, 2. Hälfte.
Mit 94 Abbildungen im Text.
Stuttgart 1906, Verlag von Ferd. Enke.
Die zweite Hälfte dieses zweiten Bandes bringt den speziellen
Teil und damit die zweite, durchwegs umgearheitete Auflage
des Lehrbuches der Intoxikationen zum Abschlüsse.
Die Gifte wenlen in di-ei großen Abschnitten liespi’ochen ;
in der ei'sten Gruppe behandelt der sehr bekannte Autor die
Stoffe, welche schwere anatomische Veränderungen einzelner Or¬
gane veranlassen können, in der zweiten die Blutgifte, in der
dritten die Nervengifte und Herz'gifte. Ui'sprünglich hatte der
Verfasser den Plan, diesen di'ei großen Ahteilungen als seihst-
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCllIUET. 1907
139
ständige Kapitel: die Stoffwechselprodukte, welche für die Ihcore- 1
tische oder praktische Toxikologie von Bedeutung sind, die in
Nahrungsmitteln, GenußiniLteln und Gehrauchsgegenständen he-
sonders häufig vorkommenden Gifte und die wichtigsten GifL-
tiere folgen zu lassen. Bei der Bearbeitung des speziellen Teiles
ist es ihm jedoch möglich geworden, die letztgenannten Themen
den drei großen Abschnitten an den entsprechenden Stellen ein¬
zufügen.
Ergänzungen und Verbesserungen, welche dem Verfasser
erst während des Druckes bekannt geworden sind, bringt er in
einem Anhänge. Nichtsdestoweniger ist doch manches übersehen
oder nicht berücksichtigt worden.
Mit gutem Rechte kann gesagt werden, daß auch die zweite
Auflage der Intoxikationen unter den verschiedenen Lehr- und
Handbüchern der Toxikologie an erster Stelle zu nennen ist.
Als Nachschlagewerk ist es geradezu unentbehrlich. H o c k a u f.
st:
Anatomischer Atlas für Studierende und Aerzte.
Unter Mitwirkung von Prof. A. Dalla-Rosa herausgegeben von Hofrat
C. Toldt.
Fünfte, vermehrte und verbesserte Auflage.
Preis geh. K 60.
Wien und Berlin 1907. Urban & Schwarzenberg.
Die fünfte Auflage des Toldtschen Atlas entliält auf etwa
800 Holzschnitttafeln an 1500 Einzelabbildungen in vorzüglichen
Holzschnitten. Auswahl und Zusammenstellung folgt der üblichen
Einteilung im Unterrichte; die makroskopisch-anatomischen Dar¬
stellungen sind bei den Organen durch schematische Darstellung
des histologischen Aufbaues recht gut unterstützt, die topogra¬
phischen Darstellungen sehr klar und übersichtlich. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, daß dieser Atlas den erwähnten vor¬
züglichen Eigenschaften seine große Beliebtheit und Verbreitung
verdankt, die sich durch das Erscheinen der fünften Auflage
in sehr wenig veränderter Form schon im siebenten Jahre nach
der Herausgabe der ersten augenscheinlicher dokumentiert, als
durch die schmeichelhafteste Rezension.
Die Anempfehlung des Bardelebenschen Handbuches der
systematischen Anatomie als Textbuch zum Toldtschen Atlas
am Umschläge scheint wohl nur der Intention des Verlegers
entsprungen zu sein; der Atlas will nur, wie der Autor in der
Vorrede ausdrücklich hervorhebt, ein Bildwerk und nicht ein
Kompendium der Anatomie sein; es ist darum ein Text, der
diesen Anschei]i erwecken kann, absichtlich vermieden.
R. K re tz.
Aus A/erschiedenen Zeitsehriften.
41. Aus dem Ostkrankenhaus für Haut- und Geschlechts¬
krankheiten Berlin (dirigierende Aerzte: Prof. Kr o may er und
V. Chrismar). Die Behandlung der gonorrhoischen
,,Posteriozystitis“ seitens des praktischen Arztes.
Von Prof. Kromayer. Die vorzüglich wirkenden Höllenstein¬
instillationen nach Giiyon und Ultzmann, beim Uebergreifen
der gonorrhoischen Entzündung auf den Blasenhals sind für den
praktischen Arzt' als Nichtspezialisten zu schwierig. Verf. bat
nun mit einem neuen Silberpräparat, dem Albargin, Versuche
mit sehr befriedigendem Resultate angestellt. Eine 2°/oige Albar-
ginlösung in Blasenhals und Blase mittels des Guyon eingespritzt,
ruft keine Reizerscheinungen hervor, selbst wenn man eine ganze
Guyonsche Spritze (4 bis 5 cm®) injiziert. Aus diesem Grunde'
wird auch der Guyonsche Katheter überflirssig und kann durcli
einen Seidenkatheter mit einer leichten Mercierschen Abkuickung
ersetzt werden, um sicher den äußeren Schließmuskel der Bla.so
zu i)assieren. Verf. empfiehlt folgendes Verfahren: Man führt
den Seidenkatheter bis in die Blase, entleert den Urin und spritzt
mit einer beliebig großen (bis 50 cm®) Spritze 5 — 10 — 20 cm®
ein, entfernt die Spritze vom Ansätze des Katheters, worauf
sogleich einige Tropfen der eingespritzten Lösung sich entleeren
und zieht nun den Katheter soweit heraus, bis das Hei'ausfließeu
der Lösung aufhört. Nun weißi man sicher, daß das Auge des
Katheters sich im Blasenhals befindet und man injiziert jetzt
weitere 5 — 10 — 20 cm® in den Blasenhals. Das Verfahren ist
außerordentlich schonend. In den meisten Fällen gelang es, mit
Injektionen einer 8Aoigen Lösung, die alle zwei Tage wiederholt
wurden, in kurzer Zeit (ein bis zwei Wochen), die Posterio-
zystitis zum Verschwinden zu bringen, so daß diese Behandlungs¬
methode dem praktischen Arzte als eine bequeme, zuverlässige
und reizlose Behandlung empfohlen werden kann. In Fällen von
großer Empfindlichkeit der Patienten und iVkuität des Prozesses
verbietet sich aber die Einfübrung eines Instrumentes von selbst
und man muß sich auf eine interne Behandlung beschränken.
Bettruhe, Vermeidung aller körperlichen Anstrengung wirken an
sich schon günstig und können durch eine Trinkkur unterstützt
werden. Verf. läßt nämlich große Quantitäten des Bärentrauben¬
blättertees (fünf bis zehn Liter pro Tag) in dünnem Aufguß trinken,
mit der Weisung an den Patienten, so häufig wie möglich zu
urinieren. Diese Trinkkur bewährt sich nicht nur in akuten,
sondern bei ganz alten und hartnäckigen Fällen. Diese Methode
ist jedoch nicht bei ambulanter Behandlung anwendbar. Für diese
Fälle sind eine Beihe innerer Medikamente in Anwendung ge¬
zogen. Die allbewäbrten Kubeben und Kopaivbalsam sind wegen
der häufigen Nierenreizung fast vollkommen von dem Sandelöl
aus der Therapie verdrängt worden. In letzter Zeit sind neue
Präparate dazugekommen, die der Verfasser im Krankenhause
einer Pinfung unterwarf. Darunter das ,,Kawa- Karwin“, eine Zu¬
sammensetzung von Kawa -Kawa und Urotropin und weiter das
,,Santyr’‘, eine chemische Verbindung des Santalols und der Sali¬
zylsäure, ersteres des wirksamen Prinzips des Sandelöls, letzteres
des bewährten Antipldogistikums und Desinfiziens. Das Santyl
hat vor dem Sandelöl den nicht hoch genug anzuschlagenden
Vorteil der absoluten Reizlosigkeit auf den Magen. Verf. ist in
seiner Privalpraxis zu hohen Dosen des Santyls übergegangen
(dreimal täglich 60 Tropfen), ohne daß die Patienten nur im
geringsten isich beschwert hätten. Stets wurde, gegenüber dem
Sandelöl, die absolute Geschmacklosigkeit und Reizlosigkeit des
Mittels auf Magen und Nieren lobend anerkannt. Dem praktischen
Arzt empfiehlt der Verfasser, dieses Mittel nicht gleich beim
Beginn des akuten Trippers zu geben, sondern sich im Anfänge
auf die lokale Behandlung mit Injektionen zu beschränken, um
dann im ^Momente, wo die Entzündung auf den Blasenhals über¬
greift, sich dieses wirksamen Mittels zu bedienen und dadurcli
häufig, wie mit einem Schlage, den schimerzhaften Tenesmus,
die quäleudc Unruhe und den trüben Urin zu beseitigen. Erst
wenn diese interne Medikation versagen sollte, würde Verf. raten,
die lokale Behandlung der Posteriozystitis in der von ihm an¬
gegebenen Weise anzu wenden. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1007, Nr. 1.) G.
*
42. Aus der I. chirurg. Abteilung des 1\ iener allgemeinen
Krankenhauses. Ueher Ablösung von Gelenkteilen und
verwandte Prozesse. Von Dr. Konrad B ü d i n g e r. Auf
Grund eines Materials von 28 Arthrolomien, welche Verf. in dcji
letzten Jahren ausgeführt hat, wird über eine Reihe trauma¬
tischer und arthritischer Gelenksdefekte und Arthrophyten be¬
richtet. Gegenstand wissenschaftlicher Ihitersuchung in bezug auf
Aetiologie, klinische Symptomatologie und pathologische Anatomie
bilden insbesonders 20 Fälle, in welchen es sich siebenmal um
,,Knorpel risse“ im Kniegelenk, einmal um einen „trauma¬
tischen Knorpeldefekt ohne Arthrophyten“, achtmal um „trau¬
matische Knorpeldefekte mit Artlirophiten“, zweimal um „Knorpel¬
defekte mit Arthrophyten hei Arthritis deformans“ und zweimal
um ,,Arthroi)hyten durch Kantenbruch“ handelte. Nach seinen
Erfahrungen und Beobachtungen tritt Verf. sowohl für eine Er¬
weiterung der Indikation zur operativen Eröffnung des Gelenkes,
insbesonders aber für die Ausführung der ,, breiten Arthrotomie“
bei mit Inkarzerationssytnptomen einhergehender Arthritis ein.
In der Nachbehandlung wird großes Gewicht auf haldige aktive
Bewegungsversuche gelegt. Verf. läßt die Operierten am dritten
bis fünften Tage bereits aufstehen. Am achten bis zebnte}i Tage
wird der fixierende Gi gautinverband diirch einen kurzen, Be¬
wegung gestattenden Kniekappenverband, der längstens am
14. Tage wegbleil)t, ersetzt. Verf. kann fast ausschließlich über
gute Dauerresullale bericblen. Unter Bi'uulzung der Operations¬
befunde stellt Verf. Untersuchungen an über flen Mechanismus der
Knoipelverlctzungen, sowie über die strittige Frage, ob die Knoi’-
pelablösung und die Bildung der echt(Mi Arthrophyten
in einem Tempo, oder langsam zustande kommen. Zu diesem
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
ITJ
Hohofo iinlorsTiclile Verf. an dem Wiener pathologisch-analomi-
schen, sowie gerichtlicli-niedizinisclien Institute Leichen Ver-
nn glückt er, welche kurz vor ihrem Tode eine Gelenksver-
letznng erlitten hatten. Unter gleichzeitiger Verwertung der
eigenen Befunde resümiert Verf. seine Erfahrungen wie folgt:
I. Infolge von Kantenfrakturen kommen Arthrophyten zustande,
di(' entweder ins Gelenk disloziert und sofort frei sein, oder auch
in loco oder anderer Stelle vorübergehend oder dauernd fixiert
sein können. 2. Das Entstehen von Arthro])hyten durch Zug der
Ligamenta cruciata ist sehr wahrscheinlich, doch ist dies nicht
die Hauptursache der Arthrophytenbildung ; primäres Freiwerden
ist hiebei unter besonderen Umständen nicht unmöglich. 3. Die
meisten Arthrophyten stammen speziell am Kniegelenk aus der
IMitte der Femurgelenksflächen. Es ist durch nichts wahrschein¬
lich gemacht, daß Flächenarthrophyten isoliert primär frei werden
können; sekundäres Freiwerden ist nachweisbar u. zw. entweder
von einer Läsion aus nach den Seiten, od,er von einem zirku¬
lären Sprung aus nach der Mitte des Defektes. Die Untersuchungen
über Arthrophyten nicht traumatischen Ursprunges
faßt Verf. in folgende Sätze zusammen: ,, Viele Formen der durch
T]-auma entstandenen Gelenksveränderungen — der traumatischen
Arthritis — sind nicht von den übrigen Arthritiden zu unter¬
scheiden, Ablösungen von Teilen der Gelenksflächen sind hei
den verschiedenen Arthritiden häufig, in schwereren Fällen kommt
es selten zum Freiwerden der Arthrophyten.“ .... ,,Die Fläche]i-
arthrophyten dürften sich — oh traumatischen oder nicht trau¬
matischen Ursprunges — durch die mechanische Einwirkung der
Gelenkshewegung langsam ablösen. In sehr vielen derartigen
Fällen ist das einzige Unterscheidungszeichen die Anamnese, ln
chronisch erkrankten Gelenken können Traumen leichter zur Bil¬
dung echter Arthrophyten führen; Arthritis deformans kann wahr¬
scheinlich neben Bildung echter Arthrophyten infolge der gleichen
Traumen entstehen.“ — (Dentsche Zeitschrift für Chirurgie 1906,
Bd. 84, H. 4 bis 6.) F. H.
*
43. U e h e r i r a g ii n g v o Ji T u m o r e n hei Hunde n d u r c h
den Geschlechtsakt. Von Dr. Anton Sticker, Assistent der
chirurgischen Universitätsklinik Berlin (Exzellenz v. Bergmann).
Es war dem Verfasser schon früher gelungen, von eimu’ malignen
Geschwulst (Sarkom), welche sich am Penis eines Hundes spon¬
tan entwickelt hatte, experimentelle Uebertragungen auf andere
Tiere herbeizuführen. Eine spontane Uehertragung eines malignen
Tumors wurde aber bislang nicht beohachtet. Nun hatte Verfasser
eine Hündin mit umfangreichem, experimentell erzeugtem Sar¬
kom der Vagina, dann eine zweite Hündin, welche spontan ein
Vaginalsarkom bekommen hatte. Diese zwei Tiere benützte Ver¬
fasser vorerst wieder zur subkutanen Implantierung von Ge¬
schwulstmassen auf andere Tiere, wobei die Versuche so gut
gelangen, daß Verf. es als bewiesen erklärt, daß auch aus ulzerie-
renden Tumoren lebende, zu progressivem Wachstum befähigte
Geschwulstzelleii in die Außenwelt gelangen können. Er ließ
aber auch eine Hündin, welche am Introitus vaginae Defekte
der Schleimhaut mit darunter liegenden, haselnußgroßen Sar¬
komen hesaßi, von sieben Hunden decken. Bei einem Hunde
entwickelte sich, nach einer Latenzzeit von 3V2 Monaten, am
Penis u. zw. an einer Stelle, welche genau der Geschwulststellö
der Vagina entsprach, eine brombeerengroße Geschwulst und eine
Schwellung der regionären Lymphdrüse, welche bald eine Huhn¬
eigröße erreichte, auf Kastaniengröße zurückging und seitdem
stabil blieb. Auch der Penistumor wuchs langsam, er bildet jetzt
einen derben, höckerigen Tumor, der an der Oberfläche zer¬
klüftet und aus einzelnen kleinen Knötchen zusammengesetzt
erscheint. Ein zweiter Hund zeigte, wieder nach 3V2 Monaten,
sieben hirsekorngroße Knötchen am Penis, welche langsam und
stetig wachsen, jetzt schon Hanfkorngröße zeigen ; keine Drüsen¬
metastase. Bei allen übrigen Hunden ist bis jetzt keine Geschwulst-
hildung bemerkbar. Die in beiden i)ositiv verlaufenen Fällen ent¬
standenen Penissarkome sind als Kontakttumoren aufzu¬
fassen. Vlanche der in der Literatur mitgeteilten Fälle von spon¬
tanem Kontakt übeiti’agungen maligner Tumoren heim Menschen
sind aber auch nicht anders zu deuten. Verf. berichtet über
mehrere derartige Fälle, woiunter solche, daß Vlänner an Krebs
des Penis erkrankten, weil sie mit Weibejai Umgang pflegten.
welche an Uteruskrebs litten, oder daß Frauen an Uteruskrebs
erkrankten, weil der Mann an Krebs des Penis litt. Solche ältere
Beobachtungen dürften jetzt, nach Bekanntwerden obiger Befunde
an Tieren, eine andere und wohl richtigere Auffassung erfahren.
— (Berliner klinische Wochenschrift 1906, Nr. 49.) E. F.
44. lieber die Behandlung der Pneumonie. Von
Albert Bob in. Nach den Vlißerfolgen der Serumtherapie, sowie
überhaupt der auf Aetiologie und Pathogenese aufgebauten Be¬
handlungsmethoden, ist die gegenwärtige Behandlung der Pneu¬
monie ihrem Wesen nach symptomatisch. Es weist jedoch das
Studium der allgemeinen und respiratorischen Stoffwechselvor¬
gänge auf die Art des Ablaufes der zur LIeilung führenden Krise
hin und gibt die Basis einer natürlichen Therapie. Im Augenblick
der Entfieberung, eigentlich noch vor dem Temperaturabfall,
werden große Mengen von Harnstoff und Harnsäure ausgeschieden^
gleichzeitig nimmt die Ansnützung des Stickstoffes beträchtlich
zu. Der respiratorische Stoffwechsel zeigt in der gleichen Epoche
eine Abnahme, so daß die im allgemeinen Stoffwechsel eintreten¬
den Veränderungen nicht auf eine vermehrte Aufnahme von Sauer¬
stoff zurückgeführt werden können. Im geschilderten Chemismus
kommt die Verteidigungsreaktion des Organismus gegen den An¬
griff der Pneumokokken zuin Ausdruck, ln ganz analoger Weise
wirken die metallischen Fermente — Gold,. Mangan, Palladium
und so weiter — so daß sie geeignet sind, das spontane Heil¬
bestreben zu erwecken, zu unterstützen oder hervorzurufen. Auf
die anatomische Läsion bei Pneumonie üben, wie Obduktions¬
befunde lehren, die metallischen Fermente keine Wirkung aus,
sondern es erstreckt sich ihre Aktion nur auf das toxisch-
infektiöse Moment der Erkrankung. Es ist daher noch eine Unter¬
stützung durch andere ttierapeutische Faktoren erforderlich; hie-
her gehört der Aderlaß, die einmalige Verordnung von Kalomel
iu fraktionierter Dosis, die Darreichung mäßiger Alkoholmengen,
die V^erordnung von Chininum hydrochloricum in kleinen Dosen,
welche vom vierten Krankheitstage an mit Pyraniidon kombiniert
werden, sowie die Applikation von Blasenpflastern nach Ablauf
des vierfen Krankheitstages. Die metallischen Fermente lufen
Temperaturabnahme, Veränderang der Harnheschaffenheit und
Blutdrucksteigerung hervor. Unter 53 in der geschilderten Weise
behandelten Fällen, darunter 26 schwerer Art, betrug die Vlor-
talität ll-32"/o, weniger günstig waren die Resultate bei schweren
sekundären Bronchopneumonien, wo eine Mortalität von 46 'Vo
beohachtet wurde. Die metallischen Fermente werden in Dosen
von 10 cm^ subkutan, in schweren Fällen 5 cm® intravenös in¬
jiziert. Es wird mit den Injektionen am vierten Krankheitstage
begonnen nnd dann jeden zweiten Tag eine Injektion appliziert.
(Bull. gen. de Therap. 1906, Bd. H, Nr. 21.) a. e.
*
45. (Aus dem General -Hospital in Birmingham.) Die
Wechsel bezi eh inigen zwischen den Erkrankungen
des Uterus und seiner Adnexe u n d d e n e n des übrige n
Körpers. Von Thomas Wilson. Nach einem allgemeinen Ueber-
blick über dieses wichtige Thema der praktischen Medizin, der
meist allgemein bekanntes enthält, betont Verf. vor allem die
Wichtigkeit der Beziehungen zwischen Genitaltrakt und Schild¬
drüsenfunktion. Er führt zur Illustration acht Fälle aus seiner
Praxis an, von welchen nur zwei eine Schilddrüsenaffektion
(Basedow) ohne Störungen der Menses überstanden. Zwei Fälle
zeigten Menorrhagien im Zusammenhang mit der Schilddrüsen¬
affektion. ln drei Fällen trat Amenorrhoe oder Spärlichkeit der
Menses auf. Beim letzten Falle, einer 22jährigen Patientin, die
lusher ganz normal menstruiert hatte, zesisierten die Menses gleich¬
zeitig mit dem Auftreten der Basedow -Symptome. Zugleich
entwickelte sich eine deutliche Atrophie der Vulva, der Vagina
und des Uterus. Von den übrigen Ausführungen des Verfassers,
die mehr den Charakter eines Sammelreferates tragen, wäre noch
der Hinweis auf die Tatsache zu erwähnen, daß' die Unwirksam¬
keit mancher Ovarialpräparate z. T. auch davon abhängig sei,
daß die Ovarien nicht geschlechtsreifer Tiere zur Verwendung
kommen. — (Lancet, 24. November 1906.) .1. Sch.
♦
46. Beiträge zur Kenntnis der Gef ä ßve rände-
rungeii in der Gehirnrinde bei Psychosen. Von Doktor
Nr. 5
WIENER KLINiyCllE WüCIIENSClIRIFT. 1907.
141
Elniiger, St. Urban (Kantou Luzern). Ris, Mahaiin und
andere niachlen schon vor Jahren darauf aufmerksam, <laßi die
(lefäße der Gehirnrinde l)oi Paralyse eine Anomalie aufvveiseii
(Zellinfiltration der perivaskulären Räume und der adventitiellen
Gefäßischeiden, wobei unter den infiltrierenden Zellen die soge-
naimten Plasmazellen eine besonders wichtige Rolle spielen),
welche sich bei anderen Psychosen nicht findet. Elmiger unler-
suclite diesbezüglich 28 Gehirne von Geisteskranken, worunter
sich zwölf Paralytiker befunden hatten. Er fand die oben ange¬
führten Yei'ändei'ungen, namentlich an den Zentralwindungen und
im Frontalhirn ausgeprägt, bei sämtlichen Paralytikern, sonst
aber bei keinem seiner Fälle. Es kann also wohl gesagt werden,
daß die Zellinfiltration der Gefäßscheiden der Gehirnrindeugefäße
für Paralyse charakteristisch ist. — (Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, Bd. 42, H. 1.) S.
*
47. (Aus der dritten medizinischen xVbteilung des k. k. all¬
gemeinen Krankenhauses in Wien.) Klinische Wahrueh-
m u n g e n ü 1j er Aorta-, Anonyma- und K a r o t i s p u 1 s e des
gesunden und kranken Menschen. Von Prof. Dr. Norbert
Ortner, k. k. Primararzt. Die vorliegende Arbeit bringt der
physikalischen Diagnoslik neue, wertvolle Beiträge, indem Ver¬
fasser sich mit der Inspektion, Palpation, Auskultation und
Sphygmographie an der menschlichen Aorta, bzw. Karotis be¬
schäftigt. Sphygmographische Aufnahmen des menschlichen Aor¬
tenpulses existierlen bisher so gut wie keine. Veranlassung zu
diesen Studien gab das von Ortner gefundene Symptom der
Doppelschlägigkeit des Aortenbogenpulses im Jugulum. Durch viele
genaue Beobachtungen und exakte Ausführung entsprechender
Sphygmogramme, die in der Arbeit ausführlich besprochen wer¬
den, gelangt Verf. zur Aufstellung folgender, wichtiger Schlu߬
sätze: .Man hört vielfach bei den verschiedensten Erkrankungen
in der Incisura sterni über dem Aortenbogen, resp. der Arteria
anonyma und der untersten Karotis im seitlichen Halsdreieck (öfter
auch noch höher oben und über der Arteria subclavia supra¬
clavicular.) drei Töne, einen gespaltenen, lierzsystolischen 'Pon
und einen diastolischen Hauptton (Triphonie nach Ortner
— ). Es läßt sich klinisch feststellen, daß der ersle Ton
der Triphonie dem Eintritt der Blutwelle in die genamdeii Arterien
seinen Ursprung verdankt, der erste Gefäßton sonach bedinguuss-
los als autochthon entstanden aufgefaßt werden muß. Die sphyg¬
mographische Aufnahme von Kurven des Aortenbogens, resp. der
Anonyma und untersten Karotis, ergibt manchmal ähnliche Bilder,
wie jene der peripheren Arterien. Recht oft unterscheiden sich
aber die ersteren von den letzteren dadurch, daß^ jene einen
schräg und langsam ansteigenden Aszensionssclienkel und einen
.\bfall der Deszensionslinie unter die Abszissenachse darbieten.
Die Erklärung hiefür dürfte in der Einflußnahme des die Arterien
deckenden Gewebes, ganz besonders aber der auf den Arterien
gelegenen Venen auf das arterielle Sphygmogramm, zu suchen sein.
Sphygmographisch läßt sich feststellen, daß der zweite Halblon
der Triphonie mit der sogenannten ersten Reflexwelle der Aorten-
Karotiskurve zusammenfällt, mag sie katakrot oder anakrot liegen.
Anakrotismus ist ein häufiger Befund an der Aorten-Karotiskurve.
Anakrotie und hiemit Triphonie sind in den verschiedenen
Fällen verschieden zu erklären. Bald kommt erstere bei hohem
Blutdrucke vor: eine klinisch lange bekannte Tatsache. Bald
kommt sie bei normalem Blutdruck vor: eine bisher unbekannte
klinische Tatsache, ln diesen Fällen ist — konform dem Ex¬
perimente — die Anakrotie (und Triphonie) zu erklären, ent¬
weder infolge Vagusreizung oder andersarliger Bradykardie, oder
infolge eines abnormen Füllungsmodus der Aorta, der l)evvirkt,
daß während der Austreibungszeit mehr Blut in die Aorta ein¬
strömt, als nach der Peripherie abfließt. Dies läßt sich auf Grund
verschiedener Momente hei akuten Infektionskrankheiten, be¬
ginnender Aortensklerose, Aortenstenose, Neurosen etc. versbdien.
(Schädigung oder Schwund eines Teiles der elastischen Substanz
der Arterienwand, resp. Relaxationszustand der Aorten- Anonyma-
Karotiswand bei nervösen Individuen.) — (Zeitschrift für Heil¬
kunde, November 1906, Bd. XXVH, H. XI.) K. S.
*
48. Ein o])erativ geheilter Tumor des Okzipi¬
tallappens des Gehirns. Von FI. Oppenheim und
F. Krause. Ein 35jähriger Kaufmann erkrankte im März v. ,1.
an anfangs intermittierenden, späterhin konstanten, heftigen Kopf¬
schmerzen. Ende i\pril wurde überdies eine Netzhaiitblulung am
rechten Auge konstatiert, kurze Zeit später eine Neuritis optica
rechts und eine Pulsverlangsamung auf der Höhe des Schmerz¬
anfalles. Innerhalb weniger Wochen entwickelte sich folgendes
Krankheitsbild : Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen, doppel¬
seitige, aber rechts ausgesprochenere Stauungspapille mit vielen
Netzhaulblulungen. Dann kamen rechtseitige Hemianopsie, eine
Störung beim Schreiben und Lesen vom Charakter der Alexie und
Agraphie. Nun diagnostizierte Oppenheim eine Neubildung im
Bereiche des linken Okzipitallappens. Es wurde eine Jod- und
Ouecksilbeihehandlung eingeleilet, welche einen nur vorüber¬
gehenden Erfolg hatte. Ende Mai wurde eine leichte, rechtseitige
Hemihypästhesie, Hemiataxie und Heiniparesis konstatiert. Jetzt
wurde eine operative Behandlung in Vorschlag gebracht. Die
Operation wurde von F. Krause in zwei Akten ausgeführt. Am
9. Juni wurde eine große osteoplastische Trepanation in der
linken Hinterhauptgegend ausgeführt, durch wmlche die Dura, der
linke Sinus transversus und der untere Teil des Sinus longitudi-
nalis freigelegt war. Die Dura war prall gespannt, pulsierte nicht;
im unteren medialen Gebiet der Wundfläche war eine flache
Vorwölbung mit dunklerer Verfärbung zu erkennen. Die große
Wunde wurde nach Zurücklagerung des Hautknochenlappens durch
Nähte geschlossen. Am 14. Juni Entfernung der Nähte; am
25. Juni Exstirpation der Geschwulst. Die verklebten Wundränder
wurden stumpf getrennt, die Knochenplatte heruntergeklappt, die
Dura eröffnet (nicht Kreuzschnitt, sondern Bildung eines großen
Lappens). Es wurde ein fleischroter Tumor sichtbar, vou welchem
die Dura stumpf abgelöst werden mußte; der Tumor erreichte nicht
bloß die Mittellinie, er ging auch medianwärts nach dem Cuneus
in die Tiefe, Mit dem bloßen Fingej' konnte der scharf abge¬
grenzte, tief nach vorn in die Gehirnmasse hiiieinragende Tumor
stumpf ausgelöst werden, ein Stück Dura wurde abjfetrageu (Vhr-
wachsungsstelle), der Best über die im Hirn zurückbleibeiuhi
große Höhle gelagert, von links her ein lappenartiges Gebilde nor¬
maler Hirnsiibstanz gleichfalls über die Flöhle gelegt, schlie߬
lich der Weichteilknochenlappen wieder durch Nähte befestigt.
Die eiförmige Geschwulst (Maße: 32:55:58 nun) erwies sich
als Spindelzellensarkom. Nach ihrer Entfernung zeigte der frei¬
liegende Okzipitallappen des Großhirns deutliche Pulsation. Nach
dem Erwachen aus der Narkose befand sich der Kranke wohl, bald
aber stellte]i sich hohe TemperaLur, beschleunigter Puls (bis
158 ,, Gehirnfieber“) ein, der Kranke wurde von Zeit zu Zeit
ein wenig unbesinnlich, er erbrach aber nicht und fühlte sich
objektiv wohl. Die ganze Nacht über war sein Zustand sehr
bedenklich. Am nächsten Tage keine Temperatur, Puls 128; nor¬
maler Verlauf. Vier Wmchen lang mußte er im Bette liegen.
Er litt einige Zeit an optischen Halluzinationeii (er sah farbige
Muster, die Körper erschienen ihm strahlig, die Personen konvex
oder konkav ausgebuchtet etc.), alle sonsligen Beschwerden w^aren
aber geschwunden. Schon nach 14 Tagen war links die Stauungs-
pai)ille zurückgegangen, rechts bloß angedeutel, nach weiteren
acht Ta-gen wlar auch die Hemianopsie im Begriffe, sich zui'ück-
zubilden, nachdem auch die Ausfallserscheinungen der rechten
Körperhälfte gewichen waren. Am 14. August konstatierte Oppen¬
heim fast restlose Heilung. Die reistierenden Erscheinungen sehr
geringfügig, sein Körpergewicht um 20 Pfund erhöht. Da um
die Kjiochenklappe ein zentimeterbreiter Knochenstreifen (mtfernt
wurde, so kann man jetzt, nach 4V2 Monaten, ein leichtes Federn
dieser Klappe konstatieien. Er hat seit anfangs September seinen
anstrengenden Beruf voll aufgenommen. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1906, NT'. 51.) E. F.
♦
49. Aus d(U’ chiru rgiischen Klinik und dem pathologischen
Institut zu Lund, Schweden (Prof. .1. Borei ins und H. Bendz).
Kasuistische Beiträge zur Kenntnis des Intestinal¬
lipoms. Von Nils Hellström, Assistenzarzt, Im Zusammen¬
hang eines Beliebtes über eine zur Opeiration gelangte Fett¬
geschwulst im Kolon fühlt Verf. eine kasuistische Zusammen¬
stellung der Inteslinalliiiome vor, \im ein annähernd exaktes
Bild der klinischen Bedmitung dieser nach den Autoren seltenen
Tumoren geben zu können. Ein 47jähriger Knecht litt vor zwei
WlEINEll KLINISCHE WOCHENSCIIIUET. 1907.
Nr. 5
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Jahren einen Monat, lang an Spannung und kolikartigen Schmerzen
und erschwertem Gasabgang ; dann völlig gesund, bis zwei Wochen
vor Spitalseintritt heftige Schmerzen im oberen Bauchteil, vier
bis fünf Stunden nach den Mahlzeiten dauernd, auftraten ; kein
Erbrechen; träger Stuhlgang, keine Schleim- und Blutheirnisclmng
im Stuhl, Blähungen und wiederholt ein Gefühl, ,,als ob sich
etwas innen bewege, aber nicht heraus könne“ ; keine Abmagerung.
Die Palpation ergibt bei leerem, wie aufgeblähtem Magen im un¬
teren Teil des Epigastrium, einen wohlhegrenzten, beweglichen
Tumor, nahezu mannsfaustgroß; fest, nicht druckempfindlich. Bei
der Laparotomie findet sich im Colon transversum ein manns-
faustgroßer, im Dannlumen unverschiehlicher Tumor, mit älteren
und frischeren Adhärenzen, die den Tumor im Lumen fest-
halten. Wegen vermutetem malignen Tumor wird eine Darm¬
resektion ausgeführt; die histologische Untersuchung ergab ein
submuköses Lipom, von intakter Schleimhaut bedeckt. In einem
zweiten (dem Verfasser von Dr. Bring zur Veröffentlichung üher-
lassenen) Falle — 45jähriger Mann — bestanden durch 14 Tage
die heftigsten, ins linke Hypochondrium verlegte Schmerzen, mit
ileusähnlichen Symptomen; im Colon descendens konnten an
zwei Stellen ziemlich harte, voluminöse Besistenzen palpiert
werden. Pat. wurde durch 14 Tage mit Klysmen behandelt. Bei
einem Versuche, zu urinieren, hatte er plötzlich das Gefühl
eines an der Wirbelsäule sich nach abwärts bewegenden Körpers
und mit großer Anstrengung entleerte er per anum einen apfel¬
großen, nicht zerklüfteten, dünngestielten Klumpen, dessen mikro¬
skopische Untersuchung ,, Lipom“ ergab. Einschließlich elf hielier-
gehöriger Präparate aus dem pathologischen Institut zu Lund
stellt Verf. aus der Literatur 45 submuköse Lipomfälle zusammen:
hievon waren 19 als zufällige Sektionsbefunde konstatiert worden;
bei 14 wurde Invagination beobachtet, fünfmal wurde ein Tumor
diagnostiziert und sechsmal wurde spontaner Abgang gesehen.
Betreffs der Lokalisation verteilen sich die 45 Fälle, von welchen
19 gestielt waren, wie folgt: 3 Magen, G Duodenum, 9 Jejunum,
9 Ileum, 20 Kolon, 2 unbekannt. Die Darmlipome treten meistens
solitär auf; eine erheblichere Größe (bis Mannsfaustgröße) konnte
vorwiegend nur bei Kolonlipomen beobachtet werden. Im Dünn¬
darm erreichen sie selten über 'Walnußigröße. Das klinische Sym-
ptornenbild muß als sehr vages bezeichnet werden. Wiewohl
bei vielen Patienten Störungen in der Funktion des Darmes (Ob¬
stipation und Diarrhöen abwechselnd, selten Schleim- und Blut¬
abgang) bestanden, ist das legitime Bild eines sich chronisch
entwickelnden Darmhindernisses mit Hypertrophie und Dilatation
der zuführenden Schlinge, wie dies ansonsten bei Tumoren der
Darmwand der Fall ist, eine Seltenheit. Diese Tumoren machen
in der Hegel nur unbedeutende Hindernisse für die Peristaltik;
die Ursache hiefür mag teils in der Elastizität und Verschieblich¬
keit der Geschwulst innerhalb des iDarmrohres liegen, vor allem
aber bewahrt die Darmwand ihre Kontraktibilität und Elastizität.
.Vhgesehen A'on der Palpation des Tumors, die jedoch nur
fünfmal gelang, sind von größerer, wenn auch nicht ausschlag-
gehender Bedeutung, die Schmerzen, deren genaue Lokali¬
sation von Wichtigkeit ist. Leichtere Schmerzen und unbehag¬
lichere Empfindungen rühren zweifellos von zufälligen Lagever¬
änderungen des Tumors her. Heftigere, plötzlich auft.retende
Schmerzanfälle werden meist auf Darminvagination zurück¬
zuführen sein, deren klinischer Verlauf sich jedoch meist chro¬
nisch und m il de gestaltet, und deren spontane Behebung als
siche)' möglich zugegeben wird. Sie ist sicher erwiesen für Lipome
der Flexur und des Bektums, wobei nach spontanem Abgang die
vorausgegangene Invagination sich von seihst behob. In dem
bunten Krankheitsbilde der Intestinalli])ome glaubt Verf. )uich
den auffallendsten Symptomen der heschriehenen Fälle drei
Grupj)en feststellen zu können: erstens jene, wo die Invagi¬
nation das Beherrschende im Krankheitsbild ist, daun jene,
bei welchen die Diagnose des ,,palpahlen“ Darmtumors den
opo'ativen Eingidff indiziert und <lie di'itte Gruppe ist durch
die Fälle mit spontanem Abgang des Tumoi's gekennzeichnet.
— Die Differentialdiagnose, ob benigner oder nialigner 'ITanor
erscheint — sobald die laiparolomie (sei es durch die Diagnose
auf Tumor oder Ileus oder Invagination) indiziert war — A'or
allem für den Eingriff am Darm von Wichtigkeit, da ein recht¬
zeitig gcunachler exi)loi'aliver Schnitt in den Darm, eine Resektion
mit allen ihren Gefahren für den Patienten, ersparen kann. —
(Deutsche Zeitschr. für (Bir. 1906, Bd. 84, H. 4 bis 6.) F. 11.
*
50. U(*bcr Heilung der Melaena neonatorum mit¬
tels Magen- und D a r m a u s w a s c h u n g e n. Von S h u k o w s k y
in Petersburg. (Vorläufige Mitteilung.) Verf. wendete in zwei
Fällen von Melaena neonatorum, in denen alle übrigen hämo-
slatischen IMaßnahmen (auch Gelatine) sich wirkungslos erwiese))
hatte)), Magenausspülung inid hohe Irrigationen )nit sterilisierter,
physiologischer Kochsalzlösung an. Der Effekt war sehr frappant.
Gleich nach der Auswaschung fiele)) die Kinder in einen 12- bis
14stündigen Schlaf, währenddessen weder Erbrechen, )ioch Blut¬
ausfluß aus dem Darme bestand. Auch die Temperatur sank.
Nach dem Erwachen wurde die Prozedur wiederholt. Weder
das Erbreche)), noch der Blutausfluß kehrten wieder. Die Kinder
t)'anken gierig die dargereichte Brust. — (Praktitschesky Wratsch
1906, Nr. 38.) J. Sch.
*
51. Ueber die e xa )) t he )))a tische Foru) der Trypa-
n o s 0 ))) e n k r a n k h e i t bei Europäern. Vo)) N ;) 1 1 a n - L a r i e r.
Das Auftreten eines Erythe)na circinatum hei der Trypanoso)))en-
krankheit des JMmrschen ist höchst selten, trotzden) ko))U))t de)n-
selbe)) eine hohe pathognomonische Bede)itung zu u))d es ver¬
leiht de))) Krankbeitsbilde ein eige))artiges Gepräge. Die vo)))
Verfasser )))itgeteilte Beobachtung betrifft, einen 26jährige'n Mann,
welcher ei))ige Jahre sich a)n oberen Kongo aufgehalte)) hatte,
wo Fälle von Schlafkrankheit bei Eingebormien vorka)nen. Das
Krankheitshild setzte sich aus den Erschei))ungen schwerer Anä-
)))ie, gelegentliche)) Fieberanfällen oh)ie Schüttelfrost und Schwei߬
ausbruch, welche sich gegmi Chini)) refraktär verhielte)) u))d don
charakteristischen Exanthe))) zusa))))))en. Das Exa))then) war a))
de)) Schultern, Hypochondrie)), unterhalb der Achselhöhle u))d
i)) der Le))de))gegend sehr deutlich, we))iger a)) der Hrterskapular-
gegend u))d a)) de)) Ar)ne)i ausgesprochen. Die Er))ptio))e)) waren
ringför)nig, über das Haut))ivea)) leicht erhaho) ))nd vo)) AÜoletter
Färbu))g, die 4 bis 12 )))))) breite)) Ringe u)))gabe)) Hautstellen
VO)) 2 bis 12 CU) Durch)))esser. I))) Ze))tru))) der Eruptio)) zeigte
die Haut )))eist ))or)nales Verhalte)), stelle))weise ekchyn)otisches
Aussehe)). A)) einige)) Stellen war Ko))flue))z der ringförmigen
Eruptione)) ))achweisbar. I))) Auge))blick der Eruption besta))d
das Exanthe))) aus rosa gefärbten, über das Niveau erhabene)),
))icht jucke))de)) Flecken, erst i))) weitere)) Verlauf bildete sich
die Ringfor))) heraus. Die E))twicklu))g der ei))zel))e)) Plaques
vollzog sich i))))erhalb ei))es Zeitraumes von ei)) bis zwei AVochen,
a)) einzehren Stellen blieben ringför)))ige Pig)nentieru))ge)) zurück,
die i))) weiteren Verlaufe verschwa))de)). Wen)) auch das geschil¬
derte Exa))the)n selten ist, so )))uß doch zur Feststellung der
Diagnose der Trypa))oso)))iasis, in jede))) Fall danach gesucht
werde)), eve))tuell ))ach zurückgebliehe))e)) ri))gför)))ige)) Pig)))e))-
tierungen. Bonerkenswert ist die Tatsache des positiven Befu))des
VO)) Trypa))oso)ne)i i)) den Hauteruptio))en, hei negativem Blut-
hefu))d. — (Bull, et Me))), de la Soc. )))ed. des Hop. de Paris
1906, Nr. 29.) a. e.
♦
52. Aus der chirurgische)) Abteilung des ))eue)) Kranke))-
hauses zu Kalk-Köhi. Ile her die Dosieru))g u))d D ar-
reich u))gsf or))) der a))algesiere))de)) Mittel bei der
L)))))hal anäs the sie. Von Dr. C. Hof)))a)))), leitender Arzt.
Verf. hat gefu))den, daß )))a)) bei dün))ere)) Lösunge)) der übliche))
Anästhetika n)it unverhält))is)))äßig klei))erer Dosis ei))e' n)i))deste))s
ehe))so g)ite, we)))) nicht bessere A))ä,sthesie erzielt, wie früher
mit de)) größe)'en Dosen. Mit dieser Herabsetzung der Dosis
geht selbstredend eine Ver)ninderung der Intoxikationsgefahr ein¬
her. Verf. ist bei seine)) Versuchen von der 5E'oige)) Novokain¬
lösung nach und nach zur lo/oigen Lösung ühergegangen. Mit
der Herabsetzung der KmizenBatio)) )nußte natürlich das Qua))tum
der elnzuspritzende)) Flüssigkeits)ne))ge steige)). Des Verfassers
Erfahru))ge)) )))it der lo/oigen Novokai))lösu))g stützen sich anf
über 120 Fälle. Dabei ware)) die unange))eh)))e)) Nachwirkungo)
— Kopfsch)))erzen, Erln-echen etc. — wesentlich geringer als
bei Anwendung von konzentrierte)) Lösu))ge)). Die Novokai))-
lös)ing hat sich Verf. )neist seihst zubereitet. Die Herstellung
ist folgende: Man wiegt sich 0-2 Novokain (Pulver) ah, löst
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
143
dieses Quanlani in ciiieni slerilen Külbchen niii 21 cm® destillierleu
Wassers, welches vorher gekocht ist. Dann kocht man die Losung
nochmals bis auf 20 cm® ein und läßt nun die Flüssigkeit in
dem mit sterilem Wattepfropf verschlossenen Kölbchen erkalten.
Nach dem Ei'kalten setzt man 20 Tropfen einer Suprareninlösung
(1:1000) mittels eines gekochten Angenlropfgläschens zu. Man
hat jetzt eine gebrauchsfertige IToige Novokainlösung, die auf
jeden Kubikzentimeter 001 Novokain -|- 1 Tropfen Suprarenin¬
lösung 000005 Suprarenin) enthält. Wegen der größeren
Flüssigkeitsmenge, die eingespritzt wird, verwendet Verf. eine
Kekordspritze, die 10 cm® faßt. Die Injektion macht er im Sitzen
zwischen dem ersten und zweiten, oder zweiten und dritten,
manchmal auch dritten bis vierten Lendenwirl)el in der Mittel¬
linie. Als kleinen Kunstgriff empfiehlt Verf. zuerst das Durch¬
stechen der Haut und des Ligament, interspinal, mit einem feinen,
ganz spitzen Skalpell, wodurch das Einführen der Nadel spielend
ermöglicht wird. Der Mandrin wird vor dem Einführen der
Hohlnadel entfernt. Wenn Liquor cerebrospinalis sofort aus der
Hohlnadel hervorstürzt, schließt der Daumen der linken Hand
die Oeffnung. Nun injiziert Verf. möglichst langsam, ohne noch
Liquor cerebrospinalis abfließen zu lassen, je nach Alter, Kräfte¬
zustand und auszuführender Operation 5 bis höchstens 7 cm®
der lo/oigen Novokainlösung. Jungen Individuen, Frauen und vor
allem älteren Leuten gibt er die kleinere Dosis, ßeckenhoch-
lagerung macht er nie; im Gegenteil, er eleviert den Oberkörper
und vor allem den Kopf etwas. Die anästhetische Zone reicht
bei der niedersten Dosis bis in die Nabelhöhle; bei etwas höherer
Dosis erstreckt sie sich meist bis zum Rippenbogen. Die E,in-
wirkung der dünnen Novokainlösung auf die motorischen Nerven¬
wurzeln geht nicht bis zur Aufhebung jeglicher Beweglichkeit
der unteren Extremitäten. Es ist dies ein Vorzug, da bei hoch-
steigender Anästhesie kaum eine ungünstige Einwirkung auf die
Medulla oblongata zu befürchten ist; es findet durch die dünne
Lösung vorwiegend nur eine Beeinflussung der sensiblen Nerven¬
wurzeln statt. Was die Frage der Verwendbarkeit der Lumbal¬
anästhesie überhaupt und besonders bei Abdominaloperationen
anlangt, so sind nach des Verfassers Erfahrungen typische Opera¬
tionen wohl für diese Art der Schmerzaufhebung geeignet. Wo
kompliziertere Verhältnisse zu erwarten sind, muß man im Inter¬
esse der Paiienten stets zur Allgenieinnarkose raten, um so mehr,
da fast alle Patienten von vornherein die Inhalationsnarkose
vorziehen. Aber auch vom objektiv ärztlichen Standpunkte aus
möchte Verf. der Allgemeinnarkose den Vorzug geben, da die
heutige Narkosen technik bei einiger Sorgfalt eine wirklich gefahr¬
lose Narkose, wenigstens mit Aether und geeigneten Unter¬
stützungsmitteln, ermöglicht. — (Münchener mediz. Wochenschrift
1906, Nr. 52.)
*
53. (Aus dem hirnanatomischen Laboratorium des haupt¬
städtischen Elisabeth-Siechenhauses.) Beiträge zur Noso¬
graphie und Histopathologie der amaurotisch -para¬
lytischen Idiotieformen. Von Prof. Karl Schaffer in
Budapest. Aus der Mannigfaltigkeit der iverschiedenen Arten der
Idiotie haben seinerzeit War ren-Tay und Sachs einen scharf
umschriebenen Typus hervorgehoben. Die familiäre amaurotische
Idiotie, charakterisiert durch Schwäche der Extremitäten, bisi zur
völligen Lähmung, Abnahme der Sehkraft bis zur Blindheit, psy¬
chischen Defekt, der mit der Zeit zur vollständigen Verblödung
führt, Rückschritt der körperlichen Entwicklung, fortschreitenden
Charakter der Erkrankung, Familiarität derselben. Vogt hat später
die familiär -amaurotischen Idiotien in zwei Grappen getrennt,
Fälle von infantilem Charakter (den typischen Sachs sehen Fällen
entsprechend) und Fälle von juvenilem Charakter, sich beziehend
auf die familiär- amaurotischen Idiotien des^ Jünglingsalters.
Zwischen beiden Gruppen existieren Uehergänge und beide stellen
eigentlich einen gemeinsamen Typus dar. Anatomisch differieren
die verschiedenen Fälle der amaurotisch-paralytischen Idiotie un-
gemein. Schaffer wies jedoch in zwei früheren Arbeiten ]iach,
daß dieser Idiotieform eine scharf charakterisierte Erkrankungs¬
form der Nervenzellen, namentlich jener der Hirnrinde entspricht:
Zunahme der Interfibrillärsubstanz, und Schwellung des Zell¬
körpers, resp. der Dendriten. Insoferne bietet der vorliegend ge¬
schilderte Fall Schaffers eine jaedeutende Abweichung von dem
(‘ben besprochenen, in früliercn Fällen konstatieiäen anatomischen
Befund. Hier handelte cs sich um eine amaurotisch-spastische
Idiotie mit epileptischen Krampfanfällen. Der Fall endete bei
fortschreitendem Marasmus letal durch eine Pneumonie. B^mili-
arität fehlte. Aeußerlich Imt das Gehirn keine bemerkenswerten
iVnonialien. Aber in der inneren Struktur ließ es zwei bemerkens¬
werte Abnormitäten erkennen: Das Fehlen des temporo-okzipitalen
Sagittalmarkes in seiner Hauptmasise, so daß weder Flechsigs
primäre, noch sekundäre Sehstrahlung sichtbar war, ferner einen
nicht unbedeutenden Mangel an den zentralen Markmassen, haupt¬
sächlich im frontalen und temporo-parietalen Lappen. Dadurcli
entstanden guirlandenartige Windungen, weiche allein durch Fibrae
propriae sich verbanden. Dieser anatomische Befund erklärt die
klinischen Erscheinungen. Die Amaurose ist durch die fehlende
Sehstrahlung aufgeklärt, die Idiotie durch den mangelhaften Asso¬
ziationsapparat. Die Kontrakturen lassen sich als patho-physio-
logisches Produkt der mangelnden zerebralen Innervation, durch
das defekte Großhirn bedingt, auffassen, die mangelnde zerebrale
Tätigkeit gab sich in liochgradigen txophischen Störungen des
Muskel- und Knochengewebes kund. Für die epileptiformen Er¬
scheinungen ließ sich keine anatomische Erklärung finden.
Schaffer erklärt den Befund der symmetrisch - defekten zentralen
Marksubstanz und der fehlenden SehsHahlung durch Entwicklungs¬
hemmungen bedingt und hält den Fall für eine hoch differenzierte
Mißbildung. Wtährend die Sachs sehen Fälle nur zyto-patho-
logisch charakterisiert sind, ist der vorliegende Fall nur tera-
tologisch begründet. Er beweist, daßi es neben der zyto-patho-
logisch charakterisierten Form der familiär-amaurotischen Idiotie
noch eine teratologisch begründete Form derselben gibt. Beide
Formen sind zwei Glieder einer einzigen großen klinischen Fa¬
milie — (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 42,
H. 1.) S.
*
54. Aus der Heidelberger chirurg. Klinik (Direktor: Geh.
Rat Prof. Dr. Czerny, Exz.). Zystographie und Pyelo¬
graphie. Von Dr. Fritz Völker und Dr. Alexander v. Lichten¬
berg. Verf. versuchten die Anatomie und Topographie der Blase,
Ureter und Niere durch Röntgenaufnahme nach' Injektion von
Kollargollösungen, zu studieren. Die Aufnahmen wurden mit
Müller sscheii Röhren mit Hilfe der Albers-Schönberg-
schen Kompressioiisblende gemacht. Die Verfasser verwendeten,
nachdem sie sich durch Füllung der eigenen Blasen und Nieren-
becken überzeugt hatten, daß Kollargollösungen nicht reizend
auf die .Schleimhaut wirken und auch keine Schmerzempfindung
hervmrrufen, 2% Kollargollösungen (Argentum colloidale
Frede) zur Blasenfüllung, eine Konzentration, die selbst bei dicken
Individuen bei richtiger Expositionszeit eine, für klare Schatten-
bilder hinreichende Schattenbildung erzeuge; es wurden aber
auch bei 5o/oigen Lösungen keine unangenehmen Erscheinungen
beobachtet. Im ganzen verfügen die Verfasser über 105 Zysto-
graphien bei 82 Individuen (55 Männer, 27 Weiber). Die Röntgeno¬
gramme bestätigten, daß die erschlaffte Blase die Form einer
flachen, nach oben konkaven Schüssel habe; die kontrahierte
Blase nimmt, wie dies beim Neugeborenen infolge häufigeren
Urindranges der Fall ist, eine Spindelform an. Betreffs des
viel umstrittenen Blasenverschlusses ergibt die von den Ver¬
fassern geübte Zystographie, daß die Theorie der Trichterbil¬
dung am Blasenhalse (auf die sich auch die Therapie einer
Urethritis antei’ior und posterior stützt), nicht zu Recht be¬
stehen könne. Nach den Röntgenogrammen verläuft der Kontur
der Harnblasenprojektion in der Gegend des Orificium urethrae
internum stetig, ohne jede Unterbrechung, so daßi von einer
Einbeziehung der Pars prostatica uretlrrae izu dem Blasenkavum
keine Rede sein kann. Von Interesse sind auch die Studien
über Gestalt und Lage der Blase bei Schwangerschaft und den
vielfachen Lageveränderungen der weiblichen inneren Genitalien,
sowie die am Röntgenbilde wahrnehmbaren Formveränderungen
bei großen Hernien, bei welchen eine mehr minder deutliche
Verziehung der Blase nach der Seite des Bruches beobachtet
wird. Bei kleineren Hernien konnten keine Asymmetrien der Blase
wahrgenommen werden. Von Vorteil dürfte die Zystographie bei
B 1 a s e n h e r n i e n sein, ln fünf Fällen konnten die Verfasser
mit ihrer Methode Blasendivertikel zur Darstellung bringen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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und in 19 Fällen von Prostaialiyi)ertrui)liie konnten alle Uebergänge
der normalen Form bis zur tyinscli-i)rostatischen Blasenform dar¬
gestellt. werden. Auch das Verhalten der Blase bei Tumoren
und Eiterungen in der Nachbarschaft, am Becken konnte studiert
werden. Zur Darstell ung eines Schattens vom Nierenbecken
verwendeten die V^erfasser gleichfalls 2®/oige Kollargollösung ; bei
beleibten Individuen eine 5®/oige Lösung, die durch den Ureter¬
katheter injiziert und nach Vollendung der Aufnahme mit der
Spritze sorgfältig wieder aspiriert wurde. Es wurden meist Mengen
von 3 his 5 cnU, einige Male bei vorhandener Dilatation 10 bis
15 cnU verwendet. Die meisten Patienten empfinden durch die
Anfüllung des Nierenbeckens einen variablen Schmerz vom Cha¬
rakter einer Nierenkolik, dessen Intensität gewöhnlich nach einigen
^Minuten nachläßt und mit Ablassen der Flüssigkeit ganz ver¬
schwindet. Manchmal wirkte eine subkutane Injektion von UOl
Morphin sehr beruhigend und für die Röntgenaufnahme vorteil¬
haft ein. Die Verfasser haben dieses Verfahren (zur Pyelographie}
an sich selbst und an 17 Patienten zur Anwendung gebracht,
ohne irgendwelche üble Folgeerscheinungen gesehen zu haben.
Man konnte wiederholt nach den Röntgenogrammen Dilatationen
des Nierenbeckens, sowie Abknickungen deis Ureters bei seinem
Abgänge infolge ,, Wanderniere“ konstatieren; in sieben Fällen
wurde auf Grund der röntgenographischen Beobachtung die
Nephropexie ausgeführt. Der Arbeit — die auch großes anato¬
misches Interesse hat — sind eine große Reihe, die einzelnen
Studien betreffenden Photogramme beigefügt. — (Beiträge zur
klin. Chirurgie 1906, Bd. 52, H. 1.) F. H.
*
55. Lieber die diagnostiscbe Hirnpunktion. Voji
Dr. M. Ascoli, Privatdozenten und ersten Assistenten am Insti¬
tute für spezielle Pathologie in Pavia (Prof. L. Devoto). Unter
Hinweis auf die vorausgegangenen Arbeiten von A. und
Th. Kocher, E. Neisser und Pollak u. a. berichtet Verf. über
die Resultate von zwölf an sechs Kranken vorgenommenen Hirn¬
punktionen. Er verwandte eine gewöhnliche zahnärztliche Bohr¬
maschine, an welche feine Bohrer angepaßt wurden. Eine elek¬
trische Bohrmaschine ist eine kostspielige Einrichtung, während
eine zahnärztliche Bohrmaschine mit Fußmotor den praktischen
Aerzten leicht zur Verfügung stehen kann. Das Handstück möge
federartig erfaßt werden, um Verletzungen der Dura oder sogar
des Gehirnes zu vermeiden, auch ist es ratsam, den Ellbogen
des den Bohrer führenden Armes auf eine feste Stütze zu lehnen,
oder den Kleinfingerballen auf den Kopf des Patienten zu stützen.
Die Richtung des Bohrers zum durchzubohreJiden Knochen muß
eine senkrechte sein, der Bohrer werde mit leichtem Drucke auf¬
gesetzt und sofort außer Funktion gesetzt, wenn der Widerstand
plötzlich aufhört. Dann wird vorerst das Handstück der Bohr¬
maschine entfernt, die Bohrer selbst noch in situ gelassen, so¬
dann vorsichtig, damit keine Verschiebung der Weichteile statt¬
findet, der Bohrer mit der Explorativnadel vertauscht. Die Haut
muß dabei gut fixiert werden, sonst trifft man nicht den Bohr¬
kanal. Dieses Moment erfordert Geschick, Vorsicht, eventuell auch
Geduld. Bei der Wahl der Bohrstelle wird man selbstverständlich
allen jenen Punkten ausweichen, an welchen die Verletzung einer
Arterie, oder eines venösen Sinus droht. Neisser und Pollak
haben solche Punkte genau verzeichnet. Man möge nicht zu
tief punktieren, da ja tiefsitzende Herde ohnehin nicht radikal
operiert werden können. Im folgenden werden sechs Fälle be¬
schrieben, in welchen die Hirnpunktion ausgeführt wurde, ln
einem Falle wurde auf Grund der mikroskopischen Untersuchung
der aspirierten Geschwulstpartikel und der chemischen Eigen¬
schaften der gewonnenen Flüssigkeit die Diagnose auf ,, zystischen
Tumor der rechten Kleinhiridiemisphäre, wahrscheinlich glioma-
töser Natur“ gestellt und die Sektion bestätigte diese Diagnose.
In einem anderen Falle wurde ein tuberkulöser Tumor (eitrige
Ansammlung der linken Kleinhirnheniisphäre, wahrscheinlich
tuberkulöser Natur) diagnostiziert, die Hirnpunktion ergab einige
Tropfen sterilen Eiters, Tuberkelbazillen nicht nachweisbar.
Sektion: über haselnußgroßer Kleinhirntuberkelherd. Diese zwei
Fälle, sowie eine Beobachtung von Neisser- Pollak zeigen,
daßi man auf diesem Wege auch solide Tumoren feststellen könne,
ln einem Falle ließ die Symptomatologie einen chronischen, walir-
.scheiidich sekundären (Hirntumor?) Hydrozephalus vermuten;
einige Andeutungen wiesen auf die linke Kloinhirnhemisphäre
hin. Die Hirnpunktion fiel aber negativ aus, die Sektion ergab
eine Geschwulst der Hirnbasis, während sich das Kleinhirn als
unversehrt erwies. Im vierten Falle mußte die Diagnose nach
(len Krankheitssymptomen unbedingt auf linksseitigen Kleinhirn¬
tumor gestellt werden. Die Probepunktion des Kleinhirns fiel
aber beständig negativ aus. Die Diagnose Kleinhirntunior wurde
daher fallen gelassen und der unzweideutig zerebellare Syni-
ptomenkomplex auf an anderer Stelle lokalisierte Erkrankung
zurückgeführt. Der Kranke ist zurzeit stationär. In einem Falle
konnte eine Blutung der Arteria meningea media ausgeschlossen
werden und bei der Sektion wurde die Diagnose bestätigt und
nur die ebenfalls diagnostizierte Fraktur der Schädelbasis ge¬
funden. Ohne auf weitere Details einzugehen, konstatieren wir
mit dem Verfasser, daß unangenehme Zwischenfälle oder Folgen
der Punktion bisher nicht beobachtet wurden. Gleichwohl ist
die Hirnpunktion mit Vorsicht und Bedachtsamkeit vorzunehnien,
der Kranke gewissenhaft zu beobachten und die Symptomatologie
sorgsam zu analysieren, wobei die Punktion nur den Schlußstein
des diagnostischen Gebäudes bilden soll. Die Hirnpunktion hat
vor der eigentlichen Trepanation die geringere Scliwere des Ein¬
griffs 'vorißis und gestattet eine vollständigere Exploration in
bezug auf Oberfläche und Tiefe. — (Berliner klinische Wochen¬
schrift 1906, Nr. 51.) E. F.
*
56. (Aus dem Londoner Nordwest-Hospital.) Die Behand¬
lung der chronischen Obstipation. Von W. Knowsley
Sibley. Verf. unterscheidet zwei Arten der Behandlung, eine
äußere und innere. Zur ersteren zählt er regelmäßige körper¬
liche Uebungen, Sport und Massage, sowohl manuelle, als auch
Vibrationsmassage. Große Bedeutung wird der Anwendung des
konstanten elektrischen Stromes — mehrmals täglich durch einige
Minuten — beigelegt. Hiebei sei es wichtig, die eine Elektrode
ins Rektum zu applizieren. Bei der innei’en Behandlung kommen
Diät, abführende Arzneimittel und Klysmen in Betracht. Neben
mehreren, allgemein bekannten Tatsachen findet sich auch die
Angabe, daß hartes Wasser infolge seines Kalkgehaltes die Peri¬
staltik zu hemmen imstande ist. Ferner ist Verf. der Ansicht,
daß Salat die Lebersekretion fördert, ohne jedoch hiefür Belege
zu erbringen. Es muß hervorgehoben werden, daß Verf. die
günstige AVirkung der gebräuchlichen Abführmittel wohl entspre¬
chend einschätzt, jedoch die dezidierte Ansicht ausspricht, die¬
selben nur als Unterstützungsmittel zu benützen und längeren
Gebrauch derselben zu vermeiden — eine keineswegs selbstver¬
ständliche Forderung, da nach dieser Richtung bekanntlich noch
immer von Aerzten und Patienten viel gesündigt wird. — (British
medical Journal, 1. Dezember 1906.) J. Sch.
*
57. PI e her die U r s a c h e n des u n s t i 1 1 b a r e n E r-
brechens der Säuglinge; gesteigerte Irritabilität des
Magens und spastische Gastritis. Von G. Variot. ln
jenen Fällen, wo das Erbrechen eines an der Brust der Mutter
genährten Säuglings aufhört, wenn man die Muttermilch durch
eine andere ersetzt, ist man zur Annahme einer spastischen
Gastritis als Ursache des Erbrechens berechtigt. Die Wirkung des
zitronensauren Natriums gegen das Erbrechen, gestattet die Unter¬
scheidung zwischen gesteigerter Irritabilität der xMagenschleim-
haut und spastischer Ga:stritis, da, das Mittel nur bei Fällen ersterm'
Kategorie seine antienietische AVirkung entfaltet, während bei der
spastischen Gastritis nur ein AAAchsel der Milch sich als wirksam
erweist. Das klinische Bild und die Schwere des Erbrechens
sind bei beiden Formen verschieden. Die gesteigerte Irritabilität
des Magens des Säuglings ist nur eine quantitative Steigerung
der normalen Kontraktion der Magenmuskulatur nach der
Nahrungsaufnahme und wird durch A^erabreichung von zitronen¬
saurem Natrium — z. B. 15 g einer Lösung 5 : 300 — prompt
beseitigt. Radioskopische Untersuchungen des Säuglingsmagcns
lassen die Hypothese eines lokalisierten Pyloruskrampfes als Ur¬
sache des Erbrechens, wenn man von den Fällen angeborener
kongenitaler Pylorushypertrophie absieht, als unbegründet <'r-
scheinen. Die Kontraktion erstreckt sich, wie direkt nachgewiesen
werden kann, auf den ganzen Alagen und nicht auf den Pylorus
allein. Bei der außerordentlichen Seltenheit der kongeiiitahm
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
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l’ylürassteiiose ist, es ungerechtfertigt, eine Pyloroplastik bei urv-
stillbarem Erbrechen der S,äuglinge vorzuscblagen, bevor man
einen Versuch mit Wechsel der Milcli, bzw. mit zitronensaiirem
Natrium gemacht hat. Aus den Beobachtungen des’ Verfassers
geht hervor, daß das unstillbare Erbrechen bei Brustkindern durch
Wechsel der Amme, ferner durch gemischte Ernährung, schließlich
durch ausschließliche Ernährung mit sterilisierter Milch beseitigt
werden kann, ln allen Fällen hat sich auch die Anwendung
des vollkommen unschädlichen zitronensauren Natriums be¬
währt. — (Bull, et Mein, de la soc. med. des Hop. de Paris 1906,
Nr. 28.) a. e.
*
58. Selbstmordversuch während der (Tohurt.
Von Dr. W. Sigwart, Assistenzarzt an der Universitätsfrauen¬
klinik der königlichen Charite zu Berlin (Direktor: Geheiinrat
E. Burnm). Es handelte ,sich in dem, vorliegenden Falle um eine
89jährige Gebärende. (Die Frau hatte fünf spontane Geburten
und vier Aborte durchgemacht.) Pai, welche nach zweitägigen
Wehen wegen Gesichtslage des Kindes auf die Klinik gebracht
wurde, machte, ohne irgendeine Sinnesverwirrung zu zeigen, plötz¬
lich in einem unbewachten Moment einen Strangulationsversuch
und wurde bewußtlos ahgeschnitten. Nach einigen Minuten künst¬
licher Atmung spontanes Atmen. Wendung in tiefer Narkose.
IVährend der zu einer vorübergehenden Sinnesverwirrung füh¬
rende schwere Erregungszustand der Frau, welcher den Selbst¬
mordversuch veranlaßte, wohl auf den intensiven Wehenschmerz
zurückgeführt werden mußi, läßt sich die hochgradige motorische
Unrahe, welche sich in diesem Falle nach dem Erwachen aus
der Narkose einstellte und welche unter heftigstem Negativismus
und automatischen Bewegungen einherging, auf den Suspensions¬
versuch zurückführen. Die in diesem Zustande erloschene Pu¬
pillenreaktion kehrte allmäldich zurück, ebenso die sprachliche
Reaktion, während das Orientierungsvermögen und die Auf¬
fassung sich erst später wieder einstellten. Retroaktive Amnesie
fehlte. — (Archiv für Psychiatrie und Neiwenkrankheiten, Bd. 42,
H. 1.) S.
*
59. (Aus der kgl. bakteriologischen Pintersuchungsanstalt
Neunkirchen.) Zur bakteriologischen Frühdiagnose des
Typhus. Von Dr. H. Conradi, Leiter der Anstalt. Um die
Frühdiagnose des Typhus durch Züchtung der Typhuserreger
aus dem Blute haben sich Schottmüller, Müller und Gräf
besondere Verdienste erworben. For net hat die Verwertung
der Gallenkultur für die Ausreicherung des geronnenen Blutes
eingeführt. Verf. hat nun Versuche gemacht zur Entscheidung
der Fi’age, ob die nämliche kleinste Blutmenge, die zur Anstel¬
lung der Widal sehen Seramreaktion hinreicht, noch den Nach¬
weis der Typhuserreger ermöglicht. Für diesen Zweck standen
ihm 60 von Typhuskranken herstammende Blutproben von 005
bis 0-2 cm^ zur Verfügung. Bei der Mehrzahl der Proben hcttrug
die Blutmenge höchstens OT cm^. Das in den Kapillaren ent¬
haltene Blutserum wurde zur Agglutinationsprüfung, der Blut-
faden zur Blutzüchtung verwandt. Hiezu hält Verf. Reagenz¬
röhrchen vorrätig, die 5 cm^ Rindergalle, 10% Pepton und 10%
Glyzerin enthalten. Der Blutfaden wird mit einer Pinzette aus
der Kapillare herausgezogen, in ein Gallenröhrchen übertragen
und in die Flüssigkeit versenkt. Zur Anreicherung und Auf¬
lockerung des Blutgerinnsels wird das Röhrchen 12 bis 16 Stun¬
den bei 37® gehalten. Danach werden OT und 10 cm^ der durch¬
geschüttelten Flüssigkeit auf je eine scharf getrocknete Platte
Lackmus-Milchzucker-Agar verteilt und mit Hilfe des Glasspatels
ausgestrichen. Die weitere Untersuchung geht in der bekannten
Weise vor sich. Es gelang, bei 24 Typhuskranken mit Hilfe der
Gallenkultur des Blutfadens die Typhuserreger nachzuweisen. Bei
21 Personen wurden Typhus-, bei drei Personen Paratyphusbazillen
festgestellt. Verf. erzielte demnach in 40% der Fälle ein positives
Resultat. Aus diesen Versuchen ergibt sich, wie Verf. ausführt,
für die Typhusdiagnose ein neuer Gesichtspunkt. .Jede Blut])rohe,
deren Menge zur Anstellung der Widal sehen Serumreaktion hin¬
reicht, ist gleichzeitig zuini kulturellen Nachweis der Typhus¬
bazillen geeignet. Da die Gallenkultur der Gerinnsel von einem
bis vier Blutstropfen eines Typhuskranken in mindestens 50%
der Fälle die Frühdiagnose des Typhus herheiführt, so fordert
er, daß hei jeder eingesandten Blutprobe eines lyphusverdächtigeii
Kranken nicht nur die Agglutinationsprüfung des Serums, son¬
dern auch die Gallenkultur des Blutfadens vorgenommen wird.
Wenn auch die Anreicherung des vor Gerinnung bewahrten Blutes
durch Galle das zuverlässigere und elegantere Verfahren dar¬
stellt, so zweifelt Verf. nicht, daß gerade ihrer Einfachheit halber
die Gallenkiütur des Blutfadens vielfache Anwendung finden wird.
Es steht fest, daß im Beginne der Typhuserkrankung der Nach¬
weis der Erreger in den DejektioJien wenigstens hei der Mehrzahl
der Fälle fehlschlägt, ob man die Malachitgrünplatten von Löff¬
ler, Lentz und Tietz oder den D-ri g al s ki - C o n radi- Nähr¬
boden anwendet. Diesen Verfahren fällt die wichtige Aufgabe zu,
die bakteriologische Feststellung der Genesung und der Bazillen¬
träger im Interesse der Seuchenbekämpfung durchzuführen. Die
Frühdiagnose des Typhus erwartet Verf. von der Gallenkultui'.
— (Münchener mediz. Wochenschr. 1906, Nr. 49.) G.
Therapeutisehe l^otizen.
Klinische Erfahrungen mit Prop o nah Von Doktor
P. Schirbach, Assistenzarzt der psychiatrischen Klinik der
Universität in Bonn (Direktor: Prof. Dr. A. Westphal). ln
Uebereinstimrnung mit den bisherigen Veröffentlichungen kann
der Verfasser nach seinen Versuchen in 43 Fällen der Klinik
das Proponal als Schlaf- und Beruhigungsmittel empfehlen. Be¬
nützt wurden Tabletten zu OT g, in Wasser gelöst. Bei ein¬
facher Schlaflosigkeit und selbst bei leichterer Unruhe hat sich
das Proponal in Dosen von 0-3 bis 0-5 g als gut wirkendes, un¬
schädliches Schlafmittel bewährt. Bei stärkeren Erregungszustän¬
den haben sich Dosen bis zu 0-8 g (höchste Einzeldosis für den
Tag) noch als wirksam erwiesen. Mmi gewann den Eindruck,
daß 0-3 g Proponal in der hypnotischen Wirkung etwa 0-5 g
Veronal gleichkomme, während 0-5 g Proponal etwa 1 g Veronal
entsprechen dürfte. Wie schon Fischer und v. Mehring be¬
tonen, wird Proponal hei den chronischen Formen der Schlaf¬
losigkeit nicht selten vorübergehend das Veronal ersetzen können,
namentlich aber an Stelle gesteigerter Veronaldosen anzuwenden
sein. Der Preis des Mittels ist derzeit noch ein hoher. — (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1906, Nr. 39.) - E. F.
Vermisehte fiaehriehten.
Ernannt: ln Jena: Die Privatdozenten Dr. Giese (ge¬
richtliche Medizin) und Dr. Lonimel (innere Medizin) zu außer¬
ordentlichen ProfesBoren. — Dr. Whitfield zum Professor der
Dermatologie am Kings - Kollege in London. — Dr. Taylor zum
Professor der Chirurgie am Trinity- College in Dublin. — Doktor
Muscatello in Pavia zum a. o. Professor der externen Patho¬
logie in Catania. — Dr. Barros in Rio de Janeiro zum Pro¬
fessor der Bakteriologie. — Dr. Larkin zum a. o. Professor
der pathologischen Anatomie am College of Physicians and Sur¬
geons in New-York.
*
Verliehen: Dr. Hugo Apolant, Assistenten am Institut
für experimentelle Therapie in Frankfurt a. M., der Professortitel.
*
Habilitiert: Dr. Otto Benda in Heidelberg für Ana¬
tomie. — ■ Priv.-Doz. für Kinderheilkunde Dr. Moro in Graz
für das gleiche Fach in München. — Dr. Kottmann für innere
Medizin in Bern. — Dr. Fieber a für allgemeine Pathologie in
Rom. — Dr. Cicconardi für medizinische Semiologie in Neapel.
*
Gestorben: Der ehemalige Professor an der Universität
Lüttich Dr. BoiTee. — Der Professor für Augen- und Ohren¬
heilkunde an der Howard-Universität in Washington Dr. Belt.
*
In der am 21. Januar d. J. unter dem Vorsitz des Statt¬
halters Grafen Kielm ansegg abgehaltenen konstituieren¬
den Sitzung des niederösterrcichischen Landes-
sani tätsrates für das Triennium 1907 bis 1909 wurde der
o. ö. Universitätsprofessor Hofrat Dr. Leopold Oser zum Vor¬
sitzenden und der Direktor der niederösterreichischen Landes-
irrenanstalt in Wien, Regierungsrat Dr. Adalbert Tilkowsky,
zum Vorsitzendenstellvertreter gewählt. In der darauffolgenden
Fachsitzung wurden folgende Gutachten erstattet: 1. Ueber die
Errichtung von öffentlichen Apotheken in zwei Landgemeinden
WIEr^ER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
1 i6
in Niederösterreich. 2. Betreffend die Veroidnung, mit welclier
der Zusatz von reiner, kristallisierter Soda zur iMilch als zulässi.g
erklärt wurde. Am Schlüsse der Sitzung wurde ein Initiativ¬
antrag, hetreffend ein von einer privaten Desinfeklionsunterneh
mung in Wien den praktischen Aerzten zugesendetes Zirkular,
eingebracht und einem Komitee zum Referat zugewieseu.
*
Das Ministerium des Innern hat einen vom 22. Dezember
vorigen Jahres datierten Erlaß an die k. k. Statthalterei in Wien
herausgegehen, welcher sich mit dem allen Aerzten durch die
Reklame bekannten Ramisirup beschäftigt. Der Erlaß wurde
allen Landesbehörden zur Danachachtung mitgeteilt. Er lautet:
„Ueber das mit dem Bericht vom 30. Juni 1906 vorgelegte neuer¬
liche Gesuch des Apothekers Rudolf Schober in Wien um Zu¬
lassung der ausländischen pharmazeutischen Zubereitung Syrupus
hromoformii compos, mit der Wortmarke ,,Rami“ zum allge¬
meinen Apothekenvertrieb wird der k. k. Statthalterei auf Grund
des Ergebnisses der fachtechnischen Prüfung der vorgelegten
Proben durch die hiezu berufene Kommission des Obersten Sani¬
tätsrates eröffnet, daß der Vertrieb der gedachten phar¬
ma z e u t i s c h e n Z u h e r e i t u n g im A p o t h e k e n V e r k e h r, un¬
geachtet der vom Gesuchsteller angehotenen Verpflichtung, zur
Bereitung des Sirups nur einen auf 0-319 Gewichtsprozent Ako¬
nitingehalt eingestellten alkoholischen Auszug der Akonitpflanze
zu verwenden, auch derzeit nicht gestattet werden
kann.“ — Als Grund hiefür wird der sehr stark wechselnde
Gehalt der Pflanze an dem außerordentlich giftigen Akonitin an¬
gegeben. Der Erlaß schließt dann: ,,Die Beilagen des eingangs
erwähnten Berichtes folgen zur weiteren Veranlassung mit der
Einladung zurück, hievon mit Rücksicht auf die aufdringliche
Reklame, die für die gegenständliche Zubereitung unter dem
Namen , Ramisirup“ durch Postzusendungen an Aerzte gemacht
wird, die im Verwaltungsgebiet ansässigen Apotheker und Aerzte
in Kenntnis zu setzen.“
♦
Wie die Münchener mediz. Wochenschr. in Nr. 4 d. 1.
mitteilt, hat auf Veranlassung des Staatssekretärs des Innern
am 4. d. M. im kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin, eine Be¬
sprechung von Sachverständigen aus verschiedenen Bundes¬
staaten über die B 1 i n d d a r m e n t z ü n d u n g und ihre K u s-
hreitung stattgefunden. Die überwiegende Auffassung ging da¬
hin, daß eine Zunahme der Blinddarmentzündung in den letzten
Jahren, wie sie in weiten Kreisen angenommen wird und zu
einer gewissen Beunruhigung geführt hat, wissenschaftlich nicht
erwiesen ist, vielmehr vermutlich nur scheinbar vorliegt. Viele
Fälle von Blinddarmentzündung seien wahrscheinlich früher mit
der Sammelbezeichnung ,, Unterleibsentzündung“ oder ,, Bauchfell¬
entzündung“ oder einem ähnlichen Namen belegt oder nicht ge¬
nau erkannt worden oder überhaupt nicht zur ärztlichen Behand¬
lung gelangt. Um indes die Frage der zunehmenden Häufigkeit
der Erkrankungen näher prüfen zu können, wurde befürwortet,
in der Todesursachen- und in der Heilanstaltstatistik des Deut¬
schen Reiches künftighin eine besondere Gruppe einzuschalten,
in der ausschließlich die Fälle von Blinddarmentzündung auf ge¬
zählt werden. Weiterhin wurden die Punkte besprochen, welche
bei einer gegebenenfalls über das gesamte Reichsgebiet zu er¬
streckenden statistischen Erhebung über die Blinddarmentzün¬
dung zu bei’ücksichtigen sein würden.
*
Wie mitgeteilt wird, ist die Zusammensetzung des Vorstandes
der Wiener Dermatologischen Gesellschaft jetzt fol¬
gende: Präsident: Prof. Finger; Vizepräsident: Prof. Ehr¬
mann; I. Schriftführer: Dr. Brand weiner; 11. Schriftführer:
Dr. Kren; Kassier: Priv.-Doz. Weiden fehl.
*
Der VI. internationale D e r m a t o 1 o g e n k o n g r e ß wird
in diesem Jahre gemäß der Wahl des letzten, vor drei Jahren in
Berlin abgehaltenen Kongresses in New- York und zwar in
der Zeit vom 9. bis 14. September d. J. unter dem Präsidium
von Dr. James C. White- Boston tagen. Die Vorträge des Kon¬
gresses sollen in englischer, französischer, deutscher, spanischer
oder italienischer Sprache gehalten werden. Auszüge aus den
beabsichtigten Vorträgen sind noch vor dem 1. Mai 1907 an
den Generalsekretär des Kongresses, John A. Fordyce, M. D.,
80 West, 40. Street, New York City, zu senden.
♦
Seit Beginn dieses Jahres erscheint im Verlage von Oskar
C o b 1 e n t z - Berlin und Georg T h i e m e - Leipzig eine Zeit¬
schrift für Urologie, als deren Herausgeher L. Casper,
11. Lohn stein und C. Posher in Berlin, A. v. Frisch und
0. Z u c k e r k a n d 1 in Wien, sowie F. M. 0 b e r 1 ä n d e r in Dresden
angeführt sind. Die Zeitschrift für Urologie, welche aus der
l'ereinigung des ,, Zentralblattes für die Krankheiten der Harn-
imd Sexualorgane“ und der ,, Monatsberichte für Urologie“’ ent¬
standen ist, ist auch das Organ der Deutschen Gesellschaft für
Urologie. Die neue Zeitschrift erscheint in Monatsheften. Preis
eines Jahrganges Mk. 25. Das vorliegende erste Heft enthält
an Originalarbeiten: Stoerk und 0. Zuckerkandl: Ueber
Zystitis glandularis und den Drüsenkrebs der Harnblase;
Stoeckel: Ueber die Verwendung des Nitz eschen Zystoskops
in der luftgefüllten Blase der Frau; Posner: Die Barberiosche
Reaktion auf Sperma; Schlagintweit: Die Behandlung der
Prostatahypertrophie mit Röntgenstrahlen.
«
Die ehemaligen medizinischen Zeitschriften : ,, Deutsche
Praxis““, ,, Zeitschrift für praktische Aerzte““ und „Medizinische
Neuigkeiten““ werden jetzt als eine Zeitschrift unter dem Titel
„Leipziger medizinische Monatschrift““ von Doktor
W. Kühn im Verlage von Seitz & Schauer in Leipzig lieraus-
gegeben.
*
Vorläufiges Ergebnis der S a n i t ä t s s t a t i s t i k bei
der Mannschaft des k. u. k.. Heeres im November 1906.
Krankenzugang 21.283 Mann, entsprechend 7oo der durchschnitt¬
lichen Kopfstärke 68; an Heilanstalten abgegeben 9190 Mann,
entsprechend %o der durchschnittlichen Kopfstärke 29; Todes¬
fälle 30 Mann, entsprechend %o der durchschnittlichen Kopf-
stärke 0-09.
*
Aus dem S a n i tä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 2. Jahreswoche (vom 6. bis
12. Januar 1907). Lebendgeboren, ehelich 604, unehelich 283, zusammen 887.
Totgehoren, ehelich 61, unehelich 34, zusammen 95. Gesamtzahl der
Todesfälle 676 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
17 9 Todesfälle), an Bauchtyphus 2, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 17,
Scharlach 3, Keuchhusten 3, Diphtherie und Krupp 9, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 3, Lungentuberkulose 112, bösartige Neu¬
bildungen 60, Wochenbettfieber 0. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 32 ( — 3), Wochenhettfieber 3 ( — 3), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 126 (-[- 23), Masern 351 (-j- 74), Scharlach 101 (-)- 24), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 11 (-|- 1), Ruhr 1 (-{- 1), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 107 (-j- 26), Keuchhusten 24 ( — 7), Trachom 0 (0),
Influenza 0 (0).
Freie Stellen.
Stelle eines Oberinspektors an der k. k. allgemeinen
üntersuchungsanstalt für Lebensmittel und Ge¬
brauchsgegenstände in Krakau (Galizien) mit dem Range
und den systemmäßigen Bezügen der VII. Rangsklasse (Anfangsgehalt
K 4800, Aklivitätszulage K 840). Die Gesuche um die Verleihung dieser
Stelle sind bis längstens 1. April d. J. beim k. k. Ministerium des
Innern einzubringen.
Stelle eines Hilfsarztes im allgemeinen öffentlichen Kranken¬
hause in Iglau (Mähren). Jahresremuneration K 1000, freie Wohnung
in der Anstalt, Verpflegung aus der Anstaltsküche nach der I. Klasse,
Beheizung und Beleuchtung. Die Stelle ist eine provisorische, beiderseits
auf drei Monate kündbar und ist dem Hilfsarzte die Ausübung der
Privatpraxis nicht gestattet. Gesuche mit den Belegen über Alter, Stand,
Zuständigkeit, Erlangung des Doktorgrades und die bisherige Verwendung
sind beim Gemeinderate der Stadt Iglau bis längstens 10. Februar
d. J. einzubringen.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgruppe T h e r n-
b e r g (Bez. Neunkirchen, Niederösterreich). Fixe Bezüge vom Landes-
ausschusse und den Gemeinden zusammen K 1280, außerdem eine
Pauschalentlohnung für Behandlung der Armen und Krankenkassen¬
mitglieder. Gesuche bis 1. F e b r u a r d. J. an die Gemeindevorstehung
Thernberg.
Stelle eines Oberbezirksarztes, bzw. Bezirksarztes
und eines Sanitätskonzipisten für Niederösterreich mit
den Bezügen der VIIL, bzw. IX. und X. Rangsklasse der Staatsbeamten.
Bewerber haben ihre vollständig instruierten Gesuche bis spätestens
20. Februar d. J. u. zw. im öffentlichen Dienste stehende Kompetenten
im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde beim k. k. Statthaltereipräsidium in
Wien zu überreichen.
Stelle eines zweiten Assistenzarztes in der Landesirren¬
anstalt in Valduna (Vorarlberg) provisorisch zu besetzen. Mit dieser
Stelle sind die Bezüge der IX. Rangsklasse der Staatsbeamten mit dem
Vorrückungsrechte in die VHI. verbunden. Gesuche um diese Stelle sind
an den Landesausschuß in Bregenz zu richten und bis 5. F e b r u a r
d. J. bei der Direktion der Landesirrenanstalt in Valduna einzureichen.
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WUCIIENSCIIRIFT. 1907.
147
Yerhandlungen ärztlicher Clesellschaften und Eongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 25. Januar 1907.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
8. Januar 1907.
Verhandluiigeii der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 5. Dezember 1906.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der Garnison Wien.
Sitzung vom 12. Januar 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 25. .Januar 1907.
Vorsitzender: Prof. Alexander Kolisko.
Schriftführer: Dr. Alfred Exner.
Der Vorsitzende teilt mit, daß das iMitglied der Gesellschaft,
Herr Hofrat v. Arneth, am 1(S. .laniiar, beinahe 90 Jahre alt,
gestorben ist.
Die Versaimnliing erhebt sich zum Zeichen der Anteilnahme.
Prof. Lang stellt einen 15jährigen Knaben mit ,,Papu-
losis perstans“ vor, eine Krankheit, auf welche Jadas¬
sohn vor mehreren Jahren aufmerksam gemacht iiat und mit
welcher die Gesellschaft der Aerzte durch eine Vorstellung Krei-
i)ichs seinerzeit bekannt gemacht wurde. Die Erkrankung ist
in der Literatur unter verschiedenen Namen bekannt, zumeist
wird sie als Pityriasis chronica lichenoides bezeichnet, Jadas¬
sohn nennt sie Dermatitis psoriasiformis nodularis, Neisser
führt sie als psoriasiformes und lichenoides Exanthem auf und
Broeq spricht von einer Parapsoriasis (engouttes). Keine der
Benennungen hält Lang für bezeichnend. Mit Pityriasis besteht
am allerwenigsten Aehnlichkeit, mit Psoriasis wohl nur in ein¬
zelnen Stadien dieser Krankheit, insbesonders besieht eine gewisse
Aehnlichkeit mit jenen vereinzelten, an der Glans auftretenden
Psoriasisplaques, wo eigentliche Auflagerungen von Schuppen¬
lamellen fehlen und die Oberfläche der Plaques wie mit einem
hraunen Lack bestrichen erscheint; der Lichen planus unter¬
scheidet sich in seinen Primäreffloreszenzen schön und deutlich
durch die polygonale Umrandung derselben. Die nicht präju-
dizierende Benennung Dermatitis nodularis trifft auch auf andere
Erkrankungen zu, was in der Bezeichnung selbst gelegen ist.
Nicht selten ist es vorgekommen, daßi diese Dermatose für syphi¬
litisch gedeutet wurde und demgemäß antiluetisch, hzw. mer-
kuriell behandelt wurde, aber ohne Erfolg, sowie überhaupt diese
durch Jahre sich hinziehende Krankheit durcli keine Beliandlung
zu beseitigen war. Und so glaubt i.,ang, daß in den beiden
Worten ,, Papulosis perstans“ die am meisten klinisch charak¬
teristische Bezeichnung gelegen ist.
Von ganz besonderein Interesse erschien Vortr. der Fall
darum, weil er, ohne ihn früher zu kennen, durch eine Ver¬
änderung an der Haut seiner Schwester, die nachher gleich ge¬
zeigt werden soll, auf die Dermatose des Patienten aufmerksam
wurde. Der 15jährige Knabe leidet seit sieben Jahren an einem
Exanthem, das sich aus hirsekorn- bis höchstens linsengroßen,
flach papulösen, rotbraunen Effloreszenzen zusammensetzt, die
meist in der Mitte eine Delle tragen. Der Rand zeigt einen gegen
die Peripherie offenen, gegen das Zentiami festhaftenden, feinen
Schuppensaum. Einzelne der flacheren Effloreszenzen sind von
einem nicht scharf begrenzten, depigmentierten Hof umgehen.
Die Effloreszenzen sind schütter über den Stamm zerstreut, zwei
derselben finden sich auch am linken Vorderarm und am linken
Oberschenkel. Am rechten Bippenbogen sind in einer Linie von
3V2 cm (offenbar einem Kratzeffekt entsprechend) mehrere inolni-
koingroße, gedeihe Knötchen aneinandergereiht, von denen nur
die beiden Effloreszenzen etwas größere Dimensionen aufweisen.
Die Effloreszenzen dieser Linie haben sich während einer Beoh-
achtungsdauer von mehreren Wochen nicht verändert. Außerdem
aber zeigt der Kranke an einigen wenigen Stellen des Stammes
bis linsengroße, mil einer vielleicht unter dem Niveau der Um¬
gebung liegende, narbig - atrophische Stellen von weißlicher
Färbung.
Die 17 Jahre alte Schwester bildet das folgende Bild: fdd)er
dem Stamnu' zerstreul finden sich hirsekorn- bis über linsen¬
große Stellen von narbigem Aussehen, welche über die normale Haut
ein wenig hervorragen und sich dundi Zug wic'der in das Niveau
dor Haut bringim lassen. Beim Darüh(U'slr(dch(m mit dem Fiirgcr
sinkt derselbe an vi(den solchen Sbdlen (dn. Die Sbdlcii sind
weißer gefärbt und sch.irf gegen die l'mgebung abgegrenzt, viele
weisen in der Mille eine leiidd n.abelige Einziehung auf, die Ober¬
fläche ist im übj'igen gefältell. Die Ki'anke gab an, daß du-se
Veränderung erst seit zwei Jahren besteht, daßi diese Stellen
aber einem Ausschlag entsprechen, der durch zirka fünf Jahre
bestanden hatte, nie mit Pustelbihlung einhergegangen war und
jeder Behandlung getrotzt hatte und erwähnte dabei, daß ihr
jüngerer, eben demonstrierter Bruder jetzt noch mit dem gleichen
Ausschlag behaftet sei, wie sie ihn Jahre hindundi aufgewiesen.
Sollten nun die an dem Knaben neben der noch frisch
bestehenden „Papulosis perstans“ sich vorfindenden narbigen
Veränderungen eine Brücke hinleiten zu den narbigen Verände¬
rungen, wie sie bei der Schwester beobachtet werden, so müßte
man daran denken, daß unter Umständen die ,, Papulosis perstans“
oder doch einzelne Effloreszenzen derselben mit dem .Vusgang
in Atrophie enden.
Diskussion : Doz. Dr. N 0 b 1 bemerkt, daß dem demonstrierten
interessanten Krankheitsbilde ein erhöhtes Interesse entgegenge¬
bracht wird, seitdem die von Juliusberg hervorgehobenen kenn¬
zeichnenden Merkmale eine leichtere Trennung des Prozesses von
anderen ähnlichen und sicherlich verwandten P a r a k e r a t o s e n
ermöglicht. Die Kombination von psoriasiformen und
lichenoiden Komponenten des Ausschlages pflegt zumeist
viel deutlicher als in dieser Beobachtung ausgeprägt zu sein und
nicht in letzter Linie mag die nach der Richtung zum Ausdruck
gelangende Polymorphie des Ausschlages, zur Wahl der allent¬
halben akzeptierten Benennung ,,Pityriasis lichenoides
chronica“ Anlaß geboten haben. Den Symptomenkomplex der
hartnäckig persistierenden miliaren Knötchenschübe und atrophisch
erscheinenden makulösen Herde bekommt man in den Vor¬
führungen der Dermatologischen Gesellschaft alljährlich des
öfteren zu sehen und war nebst Spie gier, v. Neumann,
K r e i b i c h, E h r m a n n, K a 1 1 e n b r u n n e r u. a. auch N o b 1
in der Lage, in den Sitzungen der Vereinigung vom 9. und
23. Januar 1907 zugehörige, jugendliche Individuen betreffende
Wahrnehmungen zu demonstrieren.
Prof. Chiari demonstriert einen 38jährigen Mann, welcher
vor 30 Tagen während des Schlafes ein Gebiß verschluckte.
Er erwachte plötzlich mit starker Atemnot und hefligem Wuirgen.
Doch schwanden diese Erscheinungen sehr schnell, aber er konnte
nur ausschließlich flüssige Nahrung zu sich nehmen. Er magerte
stark ab, hatte oft ein unangenehmes Gefühl beim Schlucken in
der Höhe des Kehlkopfes, aber nie eigentliche Schmerzen. Mehrere
Aerzte, die er in seiner Heimat zu Rate zog, stellten angeblich die
Diagnose auf Krebs der Speiseröhre.
Am 25. Januar morgens kam der Patient auf die Klinik
und dort wurde sofort die Anwesenheit eines undurchgäiigigen
Hindernis'ses in der Speiseröhre, 22 cm vom Oberkieferrand,
festgestellt. Die auf der Klinik Hofrat Freiherrn v. Eiseisbergs
aufgenommenen Radiogramme zeigten einen einem Gebiß entspre¬
chenden Schatten, der vor dem ersten Brustwirbel lag.
Nach Kokainisieruug wurde ein dickes, ösophagoskopi.sches
Rohr eingeführt. Durch dasselbe sah man, 20 cm vom OberkieUn-
rand, eine durch ödematöse Schwellung bedingte Verengerung
des Lumens, die für das dicke Rohr unpassierbar war. Nach
der Bepinselung der ödematösen Schleinduiutparlien mit Kokain
gelang die Einstellung des Fremdkörpers mit einem dünnen Rohre
und schließlich die Pixfraktion ohne jede Anwendung von Gewalt.
Natürlich konnte die Zalmplatte mit fünf Zähnen, aks welche
sich der P’remdkörper erwies, bei ihren Dimensionen von 4V2 cm
Länge und 2V2 cm Breite nicht in da,s Bohr liineingezogen,
sondeiii mußte mit demselben zugleich ('xfrahiert werden. Da
nach Angabe des Patienten (Las Gebiß keine scharfen Haken be¬
saß und auch das Radiogramm nichts davon zeigte', konnte die
Extraktion trotz der Giajße versucht werden, sonst wäre wohl
nur die Oesoph.agotomie indiziei’l gewesen. Besonders merk¬
würdig ist di(( gi'i'inge Reaktion, die di('ser große Premdkörper
trotz seines langen Verweilens hervorrief. Pai. licberte nie und
hat auch jetzt normale Temperaturen.
Der Vortragende hebt, noch hervor, daß g(*wöhnlicli b('i
verschluckten ndei' aspiri('rten Fremdköi'ia'i n die direkte Insp('k-
lion durch gerade Böliren leicht gelingt, wahrs( heinlich, weil eine
WIEWER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 5
l)(*s()uclerfy yüiusligc (iestaltiing der JjuH- oder Sjieisewege auch
das Eindriiigei) großer Fj’ejndkör]»e]‘ oiieichteil.
Ah del’ Kliiuk warden seit. 19U0 außer diesem noch drei
(iehisse exli’aliiei’t u. zw. eiiu's von l)r. Kahler aus dein Oeso-
l»hagus, BU c.in von der Zaliiireilie, eines von I’riv.-Doz. Doktor
II arm er aus dem Hecessus inrifonnis und eines von Dr. (Jlas
aus (lern oherslon Teile der Trachea, di(* beiden letzteren unter
der Leitung des Kehlkojifspiegels.
Diskussion: i’riv.-Doz. Ür. Freund erwähnt einen ähii-
licheii Fall, (len er vor ca. 2Jahren niitm’suchte. Es liandidte sich um
(dneii ()ri(ndalen, bei dem das Hönlgenhild etwa in ghdeher Höhe
wi(‘ hei dem demonstrierten Falle ein verschlucktes falsches Oe*
hiß nachwies. Das Merkwürdige an dem Falle war, daß der KraidvC
in Abrede stellte, ein falsches Gehiß geschluckt, ja sogar leugnete,
je ein solches getragen zu haben. Bei der von Herrn Primarius
Dr. Düdinger erfolgreich durchgeführlen ( )eso])hagotomie he-
shäligte isicli aber die Diagnose.
Hofrat V. Eisei sherg bemerkt, daß auch er, wie Professor
(’hiari liereits erwähnte, hemhachtate, daß die Oesopli igoskopie
hei verschluckten Fremdköipein auffallend leicld gelingt.
Dr. Viktor Grünberger: Demonstration. (Erschidnt aus
führlich in dieser Wochenschrift.)
Dr. Hans v. Haberer stellt aus der E i s e 1 s h (' r g schon
Klinik einen 13jährigen Knaben vor, der an den meisten Skelett¬
knochen Verbiegung und Tumorbildung zeigt. In Röntgenogrammen
erweisen sich dieselben als ausgesprochene Knochenzysten und
wiederholt vorgenommene Probeexzisionen ergaben nebst multiplen
Riesenzellensarkomen eine fibröse Umwandlung des Markes und
eine Auffaserung des Knochens durch zwischengeschobene Rinde-
gewebssubstanz. Schmerzen haben niemals bestanden, im 5. und
8. Lebensjahre war je eine Fraktur des rechten Oberschenkels
anamnestisch angegeben. Der Knabe wurde an der v. E i s e 1 s-
h e r g sehen Klinik vor zwei Jahren und jetzt durch längere
Zeit beobachtet und ergibt diese Beobachtung eine deutliche
Progredienz des Prozesses. Nach Erörterung des v. Reckling-
hausenschen Krankheitsbildes der Ostitis fibrosa wird dieser
Fall in dieses Krankheitsbild eingereiht, wofür außer dem all¬
mählichen Entstehen der auffallenden Knochenauftreibungen und
V^erkrümmungen mit deutlicher Zystenbildung besonders das
Befallensein der metaphyseren Anteile der Röhrenknochen, sowie
das angeführte histologisch-anatomische Bild sprechen. Die für
gewöhnlich bei der Ostitis fibrosa angeführten lanzinierenden
Schmerzen fehlen in dem gezeigten Falle. Durch seinen besonders
lange ausgedehnten Verlauf — die Krankheit dauert seit dem
dritten Lebensjahre, also jetzt schon zehn Jahre — beweist er
die auffallende Benignität der bei der Ostitis fibrosa vor¬
kommenden Riesenzellensarkome. Von sichergestellten Fällen
der V. R e c k 1 i n g h au s e n sehen Erkrankung findet sich in der
Literatur kein Beispiel dafür, daß die Erkrankung in so früher
.lugend aufgetreten wäre. (Erscheint ausführlich.)
Begiinenlsarzt Dr. Robert Doerr: Das Dyscuh'rie-
loxin. I)er Vortragende schildert iiacli einer kurzen Einleitung
über die Entwicklung der Lehre von der bazillären Dysenterie
die Eigenschaften des Dysenterietoxins und seine Wirkungen im
Tierex])erimenl, besonders bei Kaninchen. An der Hand ana¬
tomischer und histologischer Präparate wird der Nachweis ge¬
liefert, daß die durch das Toxin gesetzten Veränderungen völlig
den B('funden beider menschlichen Dysenterie entsprechen. Auf
Grund dieser Tatsacheu und dei’ klinischen Beobachtung, schlie߬
lich auch der ausbleibenden Generalisation der Ruhrbakterien
im menschlichen Organismus wird die Berechtigung der Auf-
fasijung dargclan, daß die S h i g a - K r u s e sehe Form der Dysenterie
als bakterielle Toxikose auzusehen sei. Daraus ergibt sich von
selbst die Möglichkeit einer anlitoxischen Therapie. Der Vor-
ti'agende referiert kurz die von Kraus und ihm ausge-irbeitete
experimentelle Begiündung derselben und b(‘richtet über die An¬
wendung d<‘s im Wiener staatlichen serolherapeutischen Institut
(Vorstand: Pr(d'. P a 1 1 a u f) hergestellten antit(n\ischen Ruhrserums
und die bisher damit (uzielten günstigen Resultate. 'Der Vort’L'ag
bildet eine kurz(‘ Inhaltsangabe eimn' in Kürza* bei Fischer, .lena
erscln.dnenden, gleiclmamigini Abliandlung.)
Dr. Isor Stein aus Abbazia (als G;usl) dc'monstiiert einen
R ö n t ge 11 a p pa ra t, mit, welchem iinin radioskopieren, radio-
graphi'.'i’im, orthodiagraphiej'cm und orthophologra]dneren kann, in
stehender, sitzemhu’ und li(‘gend(“r St(dlung (les Patienten.
Der .\])parat ist aus Holz geb;iut, hat eine Bodenfläche
von 1 in- und 240 cm llöhi*. Er besteht aus zw(m v(‘ischiehharen
senkrei Illen Rahmen, von w(dch(Mi der eiiu' den Schirm, ri'speklivc
die Schirmkasiselle trägt, der amh're di(‘ Uöiitgenröhri* samt.
Blendenvoi ! ichlung.
Das R a d i o s k o p i e r e n kann sowohl miL fixiertem, als
mit beweglichem, nach, H o I z k n ec h ts Methode läquilibrierten
Schirm erfolgen.
Zum Radiograp liieren benützt Vortr. eine sog. Stdiinn-
kas'sette, deren Konstruktion es* möglich macht, während der
photographischen Aufnahinc sowohl die Belichtung, als auch die
Bewegungen des aufzunehmenden Körperteiles genau zu über¬
wachen.
Die Einteilung dieser Schirmkassetle ist : Eine edwa 4 mm
dicke, homogene Jlolzplatle, hinter welcher die photograiiliische,
doppelt eing(>packte Platte liegt, ist auf der anderen Seite durch
den Fluoreszenzschirm und die Bleiglasplatle abgeschlossen.
Das Einschieben der photographischen Platte geschieht durch
eine offene Spalte. Schließlich kann man neben der Bleiglasplatte
eine Glasplatte in eine Nut einschieben zum Zwecke des Zeichnens.
Das () r I h o (1 i a g r aph i e 1' e n geschieht nach der von
Holzknecht und Robinsohn beschriebenen und geübten
Methode.
An (kmi Apjiarat sind in drei Richtungen Zenümelermensuren
angcdjracht, um 1. den Fokus der Antikathode auf den Mittel¬
punkt der photographischen Idatle einzustellen; 2. um die Ent¬
fernung der Platte vom Fokus der Antikathode abzulesen; 3. um
die horizontale Verschiebung der Antikathode von iler iMittel-
linie, d. h. den Winkel (finer -schrägen Durchleuchtung mit arith¬
metischer Sicherheit fesfstellen zu können.
Stein führt die Röhre samt der Blende mit Leichtigkeit
in einem Dojipeb’ahmeit, sowohl in vertikaler, als auch in hori¬
zontaler Richtung mittels eines Griffes in becpiemer Stellung
oder vor dem Patienten sitzend.
Zum genauen Auszentrieren des Mittelstrahles benützt Vortr.
einen Zylinder mit einem Doppelkreuz. Im Innern dieses Zvlinders
ist eine A 1 b er s - S c h ö n b e r gsche Blendenvorrichtung, welche
sowohl (fine viereckige Abblendung, als auch die Bildung einer
senkrechten und wagrechten Spalte ermöglicht.
Das 0 r t h op b o 1 o g r a p h i e r e n geschiohl in der oben be¬
schriebenen Weise, indem mau einmal mit der vertikalen, nach¬
her mit der horizontalen Blendenspalte die Röhre in gleich¬
mäßigem Tempo über den aufzunehmenden Körperteil hin und
her führt (Dr. Immelmann).
Der Apparat eignet sich infolge seiner Bauai’t und Trans-
portfähigkeit für Aufnahmen im Freien, also als Feldkriegs-
a p p a r a t.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Freund hält den demon¬
strierten Apiiarat wohl in vieler Hinsicht für ganz zweckmäßig
und brauchbar; manche Verbesserungen der bisher bekaimlen
Apparate, welclu' sich an dem demonstrierten iModelle finden,
hat Freund unabhängig von Stein an einem eigenen, seit
mehreren Monaten zu gleichen Zwecken im Gebrauch stehenden
Instrumente angebracht. Bezüglich zweier Details scheint ihm
der Ajiparat Dr. Steins als IJ n i v e r s a 1 a ji p a r a t nicht ganz
ideal zu sein. Erstens was die Leichtigkeit in der Bewegung
nach jeder Richtung hin anlangt; diese muß bei der Orthodia¬
graphie eine große sein, was bei dem Stein sehen Apparate
nicht der Fall ist. Zweitens, was die Methode der Zentrierung der
Röhre anlangl ; di(' St ein sehe Methode bedingt das mühselige
Umtauschen und Aufsetzen neuer Blendenrohre bei Unterbrechung
der Untersuchung, Jlell machen des Zimmers etc., wenn man die
Orlhodiagraphie mit der Radioskopie v-ereinigen, respektive beide
alternieren lassen will, wie es bei einer korrekten Untersuchung
von Voj’teil ist. Diesbezüglich glaubt Freund, daß sein eigener
Apparat den praktischen Bedürfnissen der Radioskopie und gleich¬
zeitigen Orthodiagraphie hesser entsinicht. Derselbe verwendet
eine Revolverblende, welche durch eine Uebertragung vom Hand¬
griffe der Hängeblende aus eingestellt wird. Das Zentrieren erfolgt
durch zw(fi Melallringe, welche bei senkrechter Einstellung kon-
zamlrische Bilder geben. Den durch die Mitte dieser Ringe passie¬
renden Sliahl fängt das markiei’te Zenlrum (fines , durch einen
re(dil(“Lkigen Dojipelwinkel mit der Häugeblende f('fil verbundenen
und sieb auf dem fixen Fluoreszenzschirme gleichzeitig mit der
s(du’ labihm Häugeblende bewegenden Hakens auf, so (laß dieser
Haken jedei’zeit (hm senkr('chfen Strahl angibt. (Die ausführ-
licbe l’ublikalion (l(‘s ,\i»parates erfolgl olmehin (h'lnin'ichst.)
Dr. Bauzi bemerkt, daß (fin in nudirfacher Hinsicht ähn¬
licher Apjiai'al seil zirka zw(fi ,lahr(m im Rönigenlahoralorium
der Klinik v, E i s (> 1 s h e i' g mit gutem Erfolg in Vfiu’wendung
sh'ht. Ders(‘lh(‘ isl (fin modifizierh'S BUnnhmslaliv nacli Doktor
Guilicmiuol (von dei’ Firma Beiiiig(‘r, Gebherl N: Schall
gtfii(‘fert). \ Or dem .Apparat des Ihn-rn Voxlragcuden hat fhu’. an
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
149
der Klinik verwendete voraus, daß die Rühre samt Bieiide durch
eine einfache Vorriclitung um 90*^ getlrelit werden kann, so daß
.Vufnahnien von Patienten, die auf dem unten' dem Rahmenstativ
befindlichen, Tische, .liegen,, in einfacher und rascher Weise voi'-
genomnien werden können. Zur Durehleuchtung der liegenden
Jkitienten von unten, sowie zum Operieren unter Röntgenlicht
haben wir ebenfalls einen unter dem xVufnahmelisch angebrachten
Apparat konstruiert, der die Rowegung der Röhre in zwei auf-
einaiuler senkrechten Richtungen ermöglicht.
Dr. Stein erwidert aut die Ausführungen Freunds:
Ad 1, daß tlie Blende exakt iupiilibriert ist und mit. absoluter
Leicht igkeif in der Yertikalebene sich verstellen läßt. Die hori¬
zontale Beweglichkeit geschieht mittels Febersetzung ;'^weier in
90*’ gestellter, gezahnter Kegelräd('r auf eine Scimeckenwindung
mit vierfacher Geschwindigkeit in Bewegung gesetzter Zahnstange.
Bei einer Umdrehung des Radhandgriffes erfolgt mit Leichtig¬
keit eine seitliche Verschiebung der Blende Amn 10 cm. Eine
raschere Verschiebbarkeit de;' Blende ist nicht notwendig, da
wir beim Orthodiagraphieren hauptsächlich mit dem Breiten-
durchmesBer des Herzens reclmen müssen, was ca. 15 cm aus-
macht. Eine raschere Verschiebbarkeit Avürde feinere Grenz-
hestimmungen beeinträchtigen.
Der vorwiegend aus Holz gebaute Ai)parat hat durch mecha¬
nische Schäden, beim Transport und bei dem während desselben
vorgekommeiien enormen TemperaturAvechsels (eingepackl in
.\bbazia bei +15" G, transportiert bei — 20" C) natürlich einige
Einbuße an Exaktheit erlitten und funktionierte deshalb bei der
Demonstration nicht in normaler Weise.
Ad 2. Was die von Freund vorgebrachte — übrigens
in der radiologischen 'rechnik seit vielen Jahren bekannte — ■
,Marki(*rung des senkrechten Strahles durch den konzentrischen
Schatten zweier Stellringe betrifft, so leidet diese Methode an
Exaktheit, weil soAvoh! di(i Abschätzung der Konzentration der
Schatten, als auch die Einstellung iler Schattengrenze des Ob¬
jektes in das Zentrum des Doppelkreises der Subjektivität
unterliegt, während die Methode, einen direkt sichtbaren
Kreuzungsitunkl zweier Strahlen mit der Schattengrenze zur
Deckung zu bringen, absolut exakt und objektiv ist.
Was ferner (len Einwand Freunds betrifft, daßidas Ze)i trier¬
rohr in seinem Lumen veränderbar gemacht werden müsse, so be¬
ruht das auf einei' völligen Verkennung des Wesens und des
ZAveckes der Orthodiagraphie. Das Zentrierrohr tZentrierhleude) hat
bloß den Zweck, den senkrechten Strahl (die OrlhoprojektioiO zu
fixieren und muß einem maximalen Lichtkegel den Durchtritt
gestatten, der das volle Beleuchtungsfeld auszeichnet. Letzteres
kann durch die üblichen, jedem Durchleuchtungsschirm ja ohne¬
hin beigegebenen Blenden mit variierbarem Lumen (Steckhlenden,
Revolverblenden. Winkelblenden etc.) nach Bedarf in seimu' Aus-
(hdmung geregelt Averden.
Völlig unverständlich ist fei lUM' d(M' Einwand Fri'unds,
,, meine Methode bedinge das mühselige Umtauschen und Auf¬
setzen neuer Blendenrohre bei der Untersuchung, Hellmaclum
des Zimmers etc., wenn man die Orthodiagraphie mit der Radio
skopie An'reinigen, res]), beide alternieren lassen Avill“. .leder
fremde Schatten im Gesichtsfeld, ob es nun der Schatten eines
Doppelringes oder eines Fadenkreuzes ist, Avirkt bei der allge¬
meinen Durchleucbtung, Avelche jeder Orthodiagraidiie voraus-
g(' schic kt Averden muß, störend.
Der richtige Gang einer ortliodiagrai)hischen Untersuchung
ist vielmehr folgender : 1. 0 r i e n t i (' r e n d e Durchleuchtung,
h(“i der die Röhre, wie es ja ohnehin von größttmi Nutzen ist,
schon ('xakT zentriert sein kann; 2. o r t h o d i a g r a ]) h i s c h e s
Zeichnen mit. aufgesetzter Zenti icrvorriclitung (ältere Methode
von xMoriz); 8. o r t h o d i a g r a p h i s c h e P h o t o g r a f) h i e bei
zentrierter Röhre und entfeinter Zeniriervorrichtung (neuere Me¬
thode von Immelmann und A I b e r s - S c h ö n b e r g).
Priv.-Doz, Dr. Freund meint, daß seine Art zn zentriiu'en
besser sei.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
S i t z u n g V o m 8. .1 a n u a r 1 907.
Vorsitzender: Hofrat 0 b e r s t (' i n e r.
Schriftführer : Di'. E. B a i m a n n.
Zum ordentliclHm MilgliiMh' Avird gmvähll : Dr. T’oter
Galasso.' .
D e m o 11 strati o n e n :
1. Hofrat Prof. V. W a g n e r erimuM'l daran, daß er vor einigen
Monaten einen krelinischen Hund in der k. k. Gesellschaft der
.\erzt(' vorslelltc'. Dcrsi'lhe stammte aus eiiuu' kridinischen (;iegend,
war offenkundig blödsinnig, halle |)lnm()en Körperbau, gedunsene
Haut. Die Obduktion ergab, daß die Schilddrüse nicht vollkoimmm
fehlte. Prof. Schlagen häuf er fand eigentümliche histologische
Verändoningen der Haut, an Hämatoxylin - Eosinpr.Jpar:iten
zwischen den rotgefärbten Zellgewebsbalken ein blau sich färben
des GeAvebc von der Rcniklion des SchleimgeAvebesi
Juli 1900 machte v. Wägner wieder einen solchen Hund
ausfindig, aus kretiiiischer Gegend stammend, hlörlsinnig, mit
plumpen, gedrungenen Pfoten, kurzer Schnauze, viel niedriger
als seine VerAvandten. Ein exzidierles Stück Haut ergab den¬
selben Befund, Avie beim ersterwähnten Hund. v. Wagner he-
handelh' nun das zAveite Tier seit September mit Schilddrüssm-
tabletten, steigend von ein bis drei Stück. Der Hund Avurde viel
mägerer, änderte unzAveideulig sein Temperament. Vor einigen
Tagen AVurde an einer der ersten Exzision symmetriseben Stelle
des Halses Avieder ein Stück Haut herausgeschnitten, v. Wagner
vei'Aveist auf die unter dem Mikroskop eingestellten Präparate,
Avelche die offenkundige Veränderung der Haut nach Einleitung
der Behandlung zeigen: das blaugefärbte GeAvebe ist fast vdH-
komnien verschAvunden. Damit ist Avohl der Schluß zwingend,
daß es sich auch im ersten Falle um eine durch den Kretinismus
bedingte Hautveränderung, also Myxödem gehandelt habe.
2. Priv.-Doz. Dr. A. Fuchs: .Meine Herren! Das 15 Jahre
alte Mädchen, Avelches ich Ihnen hier vorstelle, ist vor genau
zehn Wochen beim Spielen (es Avollte eine Kameradin fangen),
durch ein Zimmer gelaufen und ist in vollem Laufe gegen eine
Türschnalle angerannt. Wie es ei'zähll, .schlug es , sich am Auge
an u. ZAV. knap]) unter dem Supraorbitalrand und am unteren
Orbitalrand, an Avelcher letzteren Stelle noch eine kleine Narbe
sichtbar ist.
Gleich darauf bestand die jetzt sichlbaie Ptosis. Am iVach-
millag — zirka zAvei Stunden später — erschien es auf dei'
Klinik Schnabl, avo konstatiert Avurch', daß der Bulbus und
sein Neiwenmuskelapparat intakt ist und nur die Ptosis als Folge
der Verletzung bestehe. Dieser Zustand hat sich seither — die
Patientin stand in Beobachtung der ophthalmologischen Klinik
— gar nicht verändert.
Es besteht links, Avie Sie sehen, eiiu' hochgradige, aber
nicht kom])lette Ptosis, es ist noch c;i. 2 bis 2* 2 mm Lidsp.'dle
vorhanden. BemerkensAvertei'Aveise sind die Ouerfalten am g('-
senkten oberen Augenlid ganz normal erhallen.
Die BeAvegungen des Bulbus sind frei. Die Pu])iUe links ist
momentan etAvas größei' als rechts u. zav. deshalb, Aveil dem
Kinde vor einigen Stunden ein<‘ 8'Voige Kokainlösung eingeträufell
Avurde, aus einem gleich zu erAvälmenden Grunde. Sonst ist
die linke Pupille eine Spur enger als die rechte. Es ist ja selbst¬
verständlich, daß der erste Eindruck für die Diagnose der ist,
daß es sich hier um eine partielle Okulomotoriuslähmuug handelt.
(Für eine Pseudoi)tosis spastica ist gar kein Anhallspunkt Aveder
in loco, noch allgemein nacliAveisbar.) Bei iiäherfun Eingehen
stellen sich aber der Diagnose einer Ixevatorlähmung Bedenken
entgegen, Avelche vornehmlich die folgenden sind: 1. .\ußer der
Ptosis Avar und ist an dem Bulbus al)soIut nichts Pathologisches
nachAveisbai' ; Avir hätten die MerkAvürdigkeit vor uns, (.laß eiiu'
absolut isolierte Levatorlähmung bei Einwirkung einer stumpfen
GcAvalt (in der Literatur meines Wiss('ns nicht hekaimt) eait-
standen ist. 2. Die linke Pupille ist, Avenn auch nur um ein
geringes, kleiner. 3. Di(' oben erAAuihnte Kokaininstillation AVurde
im Sinne des Versuches von H. Jackson aiigeAA'endel. Sie ei-
gab (du vollkommen unverändertes Bild der Ptosis, nur die Pu-
])iIlcndi!alalion Iral auf. 4. Mit dem Exophthalmomelej' AVurde
(Assistent Dr. Ixauher) (dn Enophthalmus von I*/2 mm links
koiislalierl. 5. ZAvar ist di(* Ptosis eine sehr starke, aber doch
keine komplette* und am ptotischen Augeidid sind deutliche Ouer-
falten ausgeprägt. 15. Die elektrische Untersuchung am Txevator
(all und für sich nalürlich eine mißliche .Aufgabe) ergab gar keim*
Veränderung, Avohl aber zeigte sich b(*im Kontrollversuch rechts,
daß die Umgebutig des linkr'ii ButbuS und die KonjunktiAUi der¬
selben sich h(*i .\p])likation des eleklrisch(*n Stromes auffällig
AUisomotorisch g(*i'(dzter zeigen. Dies alles drängt die \ ermulung
auf, zu Avelclud' ich auf Grund des Befundes gelange*, ob hier
nicht der drille N(*rA' überhaupt unheleiligt und das ganze eine
Synijialhikusfilosis sei? Di(* l)iff(*renlialdiagnos{* ist vorwiegend
aus })rognoslischen Gründen Avichlig.
Diskussion: Prof. v. l' r a ii k I - 1 1 o c h aa' a r t hat. bezüg¬
lich der Diagnosi* ,,Sym))athikuslähmuiig“ d(*shalh Bedenken, AV(*il
die* Ptosis zu hochgradig ist.
Hofral Prof. v. Wagner machl (lenselhen l'aiiAvand wi(* dei'
Vort'edn(*i' und h(*nü|zl die Gel(*genheit, <*iu(* Dalieiitin vmrzu-
slellen, h(*i welcher and(*rnorts AV(*gen Ejiilepsi)* u. zav. zu 1lu*ra-
peulischeii Zw(*ck(*ii h(*id(*rseits der Sym]ialliikus durchschnilten
und ein Stück d('s G r(‘nz.sl rang(*s reseziert AVurde*. v. Wagner
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 5
l.')0
weiß alleidings nicht, inwieweit die Operation gelungen ist, jeden¬
falls ist die Ptosis ganz minimal, die Verengerung der Lidspalte
so geringfügig, daß man sie manigels einer Vergleichung mit
einer gesunden Seih' kaum bemerkt. IMaii sieht selten ganz frische
I'kllle von Symj)athikuslähmung ; v. Wagner erinnert sich aber,
einer Halsoiieration an der (diirurgischen Klinik angewohnt zu
haben, nach welcher man die Vasoparalyse auf der gelähmten Seite
sehr schön sah; die Verengerung der Lidspalte war aber auch nicht
hochgradig, v. Wagner möchte also doch: gewisse Itedenken
äußern gegen die von Fuchs gestellte Diagnose und fragen, ob
nicht eine isolierte Lähmung des Levator vorliegt.
Prof. Schlesinger fragt, ob nicdit eine Blutung in doi
Muskel voiliege, die diesen furdctionsunfähig maclie. Es müsse
keine Neivenlähmnng sein. Eine so hochgradige Ptosis könne
keim' Synipathikus])tosis sein.
Ih'of. Pedlich denkt ehenfalls an einen rein muskulären
Prozeß. Degen die von Fuchs gestellte Diagnose äußert er
noch ('in Bedenken. Warum sei die vorhandene Ptosis durch
den als intakt angenommenen Levator nicht zu beheben?
Prof. W in t e r s t e i n e r : Es sind Sympathikussymptorae da,
aber eine Tvähmung desselben allein kann das Bild nicht hervor¬
bringen ; es fehlt die Levatorwirkung. Wintersteiner denkt
an eine myogene Lähmung.
Priv.-Doz. Dr. Sachs ko]istati('rt Einigkeit darüber, daß
das eine Sympathikuslähmung allein nicht sein kann. Sachs
fällt eine leichte Fältelung des Oberlides auf. Dieselbe kann zurück¬
geblieben sein nach Dehnung durch ein vorausgegangenes Häma¬
tom oder es ist ein leichter Sphinkterkrami)f. Nun ist cs nicht
möglich, den Levator und seinen Antagonisten gleichzeitig zu
innorvieri'u. Kinder z. R. mit Lichtsclieu versuchen das ge-
scddossene Lid durch den Frontalis zu heben. Hier sieht maji im
Oegenteil gar keine Neiguirg, das Auge zu öffnen, vielmehr das
ges(ddossene Auge noch mehr zu schließen durch den Sphincter
orbicularis. Das wiu‘do für Hysterie sprechen. Aus dem Enoph-
thalmus sei gar nichts zu folgern, derselbe finde sich ungemein
häufig nacli stumpfen Traumen.
Priv.-Doz. Dr. Fuchs: Zunächst erlaube ich mir, da sämt-
licdie Herren Diskussionsteilnehmer für die Diagnose der Levator¬
lähmung sich aussprachen, nochmals herv'orzuheben, daß ich den
Fall zur Illustration der Schwierigkeiten der Differentialdiagnose
der Levator- und Sympathikusptosis und nicht etwa als einen
klaren Fall von Sympathikuslähmung vorstelltc.
Hofr. V. Wagners interessanten Fall betreffend, fand ich
anläßlich des Studiums der Literatur über meinen Fall, daß
die Auloren (Wil brand, Sänger, Oppenheim) übereinstim¬
mend darauf aufmerksam machen, daß die okulopupillären Sym¬
ptome nach Resektion des Sympathikus am Halse auffallend zu¬
rückgehen.
Was die Annahme der Blutung und Zerreißung der Levalor-
endigungen betrifft, so erwähne ich, daß die Infusionserscheinun¬
gen am Lide nach dem Trauma relativ geringe waren (Prof. Sc tile-
singer). Es scheint mir ferner (Prof. Redlich), daß allerdings
l)ei Anspannung des Frontalis doch eine gewisse Levatorwirkung
hier zustande kommt. Für eine hysterische Affektion (Privatdozent
Sachs) konnte ich niclits auffinden. Gewisse Mischformen der
Ptosis werden bei W i 1 1) r a n d - S ä n ge r angeführt. Schließlich
möchte ich noch speziell Prof. W i n ter s t e i ne r und Privat¬
dozenten Sachs auf den Ausfall des Kokainversuches hin auf¬
merksam machen und fragen, ol) sie ihrer Erfahrung nach diesem
diffeia'iitialdiagnostisclien Versuche eine Redeutung zuerkennen;
für den Neurologen wäre die Ansicht der Ophthalmologen hier-
üh('r recht wichtig. Die Ansicht, daß der Grad der Ptosis in dem
d('monstrierten Falle den gewöhnlichen Grad der Sympathikus^
ptosis überschreitet, habe ich gleich eingangs ehenfalls zum Aus¬
druck gebracht, glaube aber, daß dies kein absoluter Eiuwand gegen
di(' Diagnose der Sympathikusptosis sein kann, wenn anderseits
so viele .Momente für di('se sprechen.
Priv.-Doz. Dr. Sachs bezweifelt, daß Irei vollständiger Sym-
pathikuslähmung Kokain irgend etwas macht.
Priv.-Doz. Dr. Hirse hl ersucht Fuchs, den Kalt in der
nächsten Sitzung wi('d('r vorzustellen.
8. Dr. Egon Frif's stellt zwei Fälle von Epilepsie mit
Tetanie aus d('r psychialrisclH'ii Klinik Hofrat l*rof. v. Wagnei'-
Jauregg vor.
1. J. V., -ITjähiiger Musterzeichner; als Kind schweres
Schädeltrauma. Seit dem 20. Lf'bensjatir typische epileptisclie
.Xrifäth', anfangs in Zwischenräumen von drei his vier IMonatcn, in
d('n l('lzt('n .lahri'n melirmals gehäufte Anfälle bis zu acht in
einem 'l'agi*. Im Frülijahr 190Ö Aufenthalt in der Klinik wegen
eiiK'S postei)ileptisclu*n V'erwirrlheitzuslaiub's. Bald darauf Klagen
über I’aräslliesien, Sclmierzi'ii und zeitweise aufirelendc' Krämpfe
in den Händen. Seit drei Jahren psychisch verändert. In der
Klinik wurden mehrere epileptische Anfälle und typische Tetanie¬
krämpfe beobachtet, ln der anfallsfreien Zeit dauernde Pfötchen¬
stellung. Chvostek angedeutet. Die mechanische Erregbarkeit der
Nerven, insbesondere vom Erbschen Punkte aus, bedeutend er¬
höht. T r o u s s e a u sches Phänomen an den oberen und unteren
Extremitäten. Elektrische Erregbarkeit im allgemeinen nicht er¬
höht, hingegen tritt bei relativ geringer Stromstärke schon
A. S. Te. und A. (). Te. auf. Schilddrüse normal.
2. K. H., 30 Jahre alt, Frau eines Platzmeisters. Erster
epileptischer Anfall vor drei Jahren in der Laktation, sechs Monate
nach einer normalen Gravidität und Geburt. Zweiter Anfall nach
iVr jähriger, dritter Anfall nach weiterer halbjähriger Pause. Seit
Herbst alle sechs bis acht Wochen ein Anfall, seit 24. Dezember
gehäufte Anfälle. Seit Eintritt der Anfälle schwachsinnig, in der
letzten Zeit verwirrt. Gleichzeitig mit dem ersten Anfall Auf¬
treten von laryngospastischen Krämpfen von einer bis zehn Mi¬
nuten Dauer und leichten Krämpfen in den Händen, ln der aller¬
letzten Zeit Abnahme des Sehvermögens. Ein Bruder infolge eines
epileptischen Anfalles gestorben. Katarakt der hinteren Linsen¬
rinde. Schilddrüse nicht tastbar. Dauernde Neigung zur Pfötchen¬
stellung. Status nervosus wie beim ersten Fall.
Kurze Erörterung des möglichen Zusammenhanges beider
Krankheiten mit Bezug auf den zweiten Fall.
Diskussion: Prof. v. F r a n k 1 - H o c h w a r L sieht eben¬
falls in den epileptischen Anfällen ein Telaniesymptom — eine
lde(', die er bereits 1891 ausgesprochen hat. hinter zehn seiner
Fälle, welche die Kombination aufweisen, hatten vier die Epilepsie
schon vorher gehabt, sind also nicht beweiskräftig. Hingegen
haben dreimal die Zuständb ungefähr gleichzeitig eingesetzt, drei-
pial traten die IMorbus sacer- Anfälle später zur Tetanie.
4. Dr. R. Nepalleck stellt aus der Klinik v. Wagner
einen Patienten vor, der das Krankheitsbild einer ,, zentralen
Typose mit kurzen Anfällen“ (Kirn) bietet.
Isidor F., 58 Jahre alt, verheirateter Taglöhner; Vater an
Apoplexie gestorben, Jugendanamnese belanglos, von Fraisen
nichts bekannt. Im Alter von 20 Jahren Sturz bei einer Berg¬
partie mit nachfolgender Bewußtlosigkeit. Vom Militärdienst wegen
Blähhalses superarbitriert, seither angeblich stets gesund; Polus
und Lues negiert. Ueber sein psychisches Verhalten wird be¬
richtet, daß Pat. allmonatlich, angeblich zusammenireffend mit
dem Auf nehmen des Alondes, in einen ungefähr zwei Tage wäh¬
renden Zustand von Reizbarkeit und Streitsucht geriet; hierauf
reuevolle Einsicht und in der Zwischenzeit friedfertiges, ver¬
trägliches Verhalten.
ln der zweiten Hälfte November des Jahres 1905 verfällt
Pat. in eine traurige, weinerliche Stimmung, die er mit Kränkung
über den Verlust seines Sohnes motiviert (ein im Ausland lebender
Sohn des Patienteiv ist seit Frühjahr 1905 vei'schollen !). Nach
wenigen Tagen Ausbruch von ,,Tol)sucht“ und am 23. November
wird Pat. auf die Klinik gebracht. Daselbst lebhafteste Erregung,
Rede- und Bewegungsdrang; er wiederholte immer dieselben Rede¬
wendungen, wie: „Entschuldigen Sie, ich habe die Ehre“; er ver¬
langt zum Kaiser, will das goldene Verdienstkreuz, klatscht in
die Hände und schlägt mit d('r Hand unzählige Alale auf die
Brust. Dabei anfangs ziemlich gute Orientierung hinsichtlich! der
Personen seiner Umgebung. Einfache Auffordemngen werden be¬
folgt, die Beantwortung von Fragen abgelehnt mit den Worten:
,,Das ist Privatsache.“ In den nächsten Tagen Steigerung der
Erlegung; es gelingt kaum mehr, mit dem Patienten in Rapport
zu kommen. Schlaflos. Am 27. November durchschläft Patient
die Nacht ; in den folgenden Tagen ist er ruhig, anfangs noch
leicht verworren, Ermüdung beim Examen. Er bestätigt die Ver¬
wirrtheit, erinnert sich zunächst nicht an seine Halluzinationen.
Am 7. Dezember vollkommen klar, berichtet über die vergangenen,
massenhaften Sinnestäuschungen (Feuer, Kanonenschießen,
Glockenläuten ('tc.) und Delirien (Schwimmen durch große AVasser-
flächen. Fliegen durch weite Räume etc.). Am 16. Dezember 1905
geheilt entlassen.
Am 14. Dezember 1906, also genau ein Jahr später, aber¬
malige Aufnahme, ln der Zwischenzeit vollkommen gesund, auch
die früher regelmäßig monatlich auftrelenden .Aufregungszuständb
sind seit der Entlassung ausgeblieben. A'or der zweiten Auf¬
nahme durch wenige Tage melancholische Stimmung, abermals
motiviert mit der Kränkung wegen des verschollenen Sohnes;
plötzlich — am 14. Dczernlx'r — Ausbruch von ,,T(jbsucht“.
Bei der Aufnahnu' das gleiche AVrlialten wie im ersten Anfall,
h'bhaftest('r Rede- und Bewegungsdrang, Klel)en an dens('ll)eji
R('d('nsarten, die unzählige Alale wi('derholt und variiert W('rden :
,,lch habe die Ehre .... Ehre sei Gott in der Höhe . . . Seine
Alaj('släl luatichl sich nicht zu fürchten . . .“ Er äiißorl häufig
Nr. 5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
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Furcht vor (k'iu Krschk'lk'ii, will zum Kaiser, verlaiigl das goldene
Verdienstkreuz. Personen tier Pmgcbung (Aerzte, Wärter) werdeji
erkannt und mit Namen genannt, Fragen mit der oft wiederhüllen
Phrase: ,,l)as ist privat“, heaiitwortel. Dabei Klatschen in die
Hände und au( die Brust. Am 17. Dezember nimmt die Ver¬
wirrtheit einen ideenflüchtigen Charakter an. ln den folgenden
Tagen werden die motorischen Entladungen weniger intensiv, die
Bewulitseinstrübung jedoch erscheint liefei'; Pat. erkennt nieman¬
den, ist kaum mein' zu fixieren.
Am 31. Dezember ist Pat. nach durchschlafener Nacht jadiig,
geordnel, ziemlich gut orientiert, weih, daß er verwirrt war, gibt,
über den Inhalt des Deliriums befragt, ausweichende Antworten;
bei eingehenderem Examen wird er widerspenstig und reizbar.
Dieser Zustand hält bis zum Tage der Demonstration an.
Diese beiden durch ein einjähriges Intervall getrennten An¬
fälle gleichen sich vollständig, sowohl in ihrem Beginne, als auch
in ihrem weiteren Verlaufe, selbst in den sprachlichen Aeußerungen
des Patienten und in der Form der motorischen Entladungen,
bieten also das Merkmal der photographischen Treue in vier
schönsten Ausprägung; es besteht nur der Unterschied, daß der
gegenwärtige Anfall in allen seinen Phasen länger dauert als der
Anfall vom Jahre 1905.
Was die auffallende Erscheinung betrifft, daß Pat. seit dem
ersten Anfall durch ein Jahr von den sonst allmonatlich auf¬
tretenden Aufregungszuständen freiblieb, so verweist Vortragender
auf die Aufstellung Kinns, daß die zentrale Typose nach einer
Serie von einander gleichen Anfällen ihren Typus ändern kann,
wobei aber die Gesetzmäßigkeit dadurch gewahrt bleibt, „daß
sowohl die einzelnen Stadien ihre gegenseitige Proportion be¬
wahren, als auch die Dauer des Anfalles und des Intervalles im
gleichen relativen Längeverhältnis beharren“.
Wenn man die monatlichen Aufregungszustände als Anfälle
von kleinsten Dimensionen auffaßt, so könnte man den ganzen
Krankheitsfall als eine seit vielen Jahren bestehende zentrale:
Typose bezeichnen, die sich durch eine Reihe von Jahren nur in
Anfällen von ganz geringer Intensität und Dauer mit kurzen,
monatlichen Intervallen geäußert und im Jahre 1905 ihren Typus
geändert hat in dem Sinne, daß die ilnfälle an Intensität und
Dauer Zunahmen unter gleichzeitiger Verlängerung des freien
Intervalles auf ein Jahr.
Diskussion: Dr. Poetzl bemerkt, daß der vorliegende
Fall geeignet sei, die Frage über das Wesen der Periodizität, über
periodische Psychosen im allgemeinen wieder aufzuwerfen. Die
Hitzigsche Definition der periodischen Psychose bedürfe viel¬
leicht in mancher Beziehung einer Ergänzung und Erläuterung,
besonders angesichts der vielen Uebergangsformen zwischen perio¬
dischem und rezidivierendem Irresein. Der gegenwärtige Fall, tat¬
sächlich ein typisches Beispiel für eine zentrale Typose, biete nur
in Einzelheiten des Krankheitsverlaufes eklatante Beispiele von
photographischer Treue beider Anfälle; der Gesamtverlauf des
zweiten Anfalles unterscheide sich von dem Verlaufe der ersten
Erkrankung durch längere Dauer und Art der Lösung, die mehr
allmählich erfolgte.
• Redner meint, daß vieles von dem, was photographische
Treue genannt werde, nicht aus der Pathologie und Klinik allein,
sondern aus rein psychologischen Problemen heraus erklärt wer¬
den müsse.
Priv.-Doz. Dr. Pilcz bemerkt, daß, er schon in der Vorrede
zu seiner Monographie über periodische Psychosen die Einwändo
Kräpelins gegen die Aufstellung einer eigenen Krankheitsgruppe
,, periodische Psychosen“ vollinhaltlich anerkannte. Es gibt ebeji
zahllose fließende Uebergänge zwischen rezidivierenden und perio¬
dischen Typen, aber eine haarscharfe Rubrizierung, welche allen
Fällen gerecht würde, gibt es nicht. Immerhin aber lassen sich
im Rahmen des manisch-depressiven Irreseins viele Fälle heraus¬
greifen, welche dem Typus der sogenannten „periodischen Formen“
im Sinne der Alten (speziell ,, Folie circulaire“ ßaillargei'-
F a 1 r e t) entsprechen.
Was die Frage des Ausganges in einen intellektuellen
Schwächezustand anbelangt, so ist es ja bekannt, daß die günstige
Prognose quoad intellectum, wie sie von einigen Autoren gerade
den ,, periodischen“ Formen, bzw. dom manisch-depressiven Irre¬
sein zugesprochen wird, durchaus nicht für alle Fälle zutrifft.
Schon Kräpelin machte auf Formen ,, periodischer Manie“ auf¬
merksam, die verblöden, und Redner hat diese üble Prognose
betreffs Demenz speziell l)ei den Periodikern mit ,, Hirnnarben“
seinerzeit betont.
Prof. Redlich: Die Beschreibung Kräi)elins vom ma¬
nisch-depressiven Irresein stimmt so wenig mit dem Bilde der
früher bekannten periodischen Psychosen. Redlich unterecheidet
Fälle, die dem alten Typus vollkommen entsprechen, andere,
die sich nur mit großem Zwang ein reihen lassen. Speziell in dim
letzten Jahren sah er Fälle, wo die Psychosen, :\lanien odm-
Melancholien ungemein kurz damulen, rasch aufeinanderfolgten,
dann aber etwas ganz anderes anschloß. Die Frage, wie sich die
periodischen Psychosen im älteren Sinne klinisch und pathologisch-
anatomisch zum manisch-depressiven Irresein Kräpelins ver¬
halten, sei wichtig genug, um sie einmal sej)arat zu erledigen.
Dr. Stransky: Wenn man diiich längere Zeitabsclmitt{!
hindurch den Krankheits verlauf, resp. die K r am k h e i t s g (e
schichten der sogenannten Periodiker studiert, konunt man
allerdings zu dem Resultat, daß viele Fälle, deren Anfälle längere
Zeit den für die Diagnose ,, periodisches Irresein“ gesellten An¬
forderungen zu genügen scheinen, früher oder später doch ihren
Typus verwischen oder schon in der Anamnese nicht ganz
stimmen und ;sich in das manisch-depressive Irresein der Kräpe-
linschen Schule auflösen, dessen genauere Abgrenzung und Ein¬
teilung natürlich noch des Studiums bedarf; denn gewiß ist es
nicht etwa so, daß alle Fälle sogenannten periodischen Irreseins
in den Rahmen des manisch-depressiven Irreseins hineinpassen.
Um nur einiges herauszugreifen, glaubt Redner z. B., daß es
nicht gut möglich .sein wird, auch die periodisch, resp. rezidivierend
auftretenden Amentiafälle schlechthin unter das manisch-depres¬
sive Irresein zu subsumieren, wie dies mehrfach geschieht;
solche Fälle ähneln ja manchmal ihrem Aspekt nach den so¬
genannten Mischzuständen; aber man darf sie doch auch nicht
damit zusammenwerfen. Ein weiterer Umstand ist z. B. die Ab¬
grenzungsfrage gegenüber der Epilepsie. Gerade Fälle, wie
der Vortragende einen vorstellte, sind bekanntlich in ihren Be¬
ziehungen zur psychischen Epilepsie schon in früheren Zeiten
gewürdigt worden. Auch diese Beziehungen, resp. Grenzschwierig¬
keiten sind noch nicht ganz geklärt. Redner erinnert an die in
.letzter Zeit namentlich von Aschaffenburg studierten periodi¬
schen Verstimmungen der Epileptiker, die gewiß die differential-
diagnostischen Schwierigkeiten erhöhen können, wenn konvulsive
Anfälle oder ausgesprochenere epileptische Delirien fehlen. Auch
in dem vom Vortragenden demonstrierten Falle haben ja, wie
wir hörten, längere Zeit bloß passagere Verstimmungszustände
präludiert. Solche Beispiele — sie lassen sich natürlich im Rahmen
einer kurzen Diskussion weder erschöpfen, noch gründlich er¬
örtern — zeigen gewiß nur, daß der Begriff des periodischen Irre¬
seins einer Revision bedarf, daß aber nicht minder das manisch-
depressive Irresein der Kräpelinschen Schule noch nicht als
abgeschlossene klinische Einheit aufzufassen ist und auch in
diesem Sinne noch nicht aufgefaßt wird.
Priv.-Doz. Dr. E. Rainiann möchte zum vorgestellten Falle
zurückkehren. Hier sei die gegenwärtig schon so nngebräuchliche
Bezeichnimg als zentrale Typose vollauf berechtigt, da sich einer¬
seits alle Kriterien der sogenannten periodischen Psychosen finden,
während der Fall anderseits unzweifelhaft der Epilepsie zuzu¬
rechnen isl. Wenngleich konvulsive Elemente und spezifisch epi¬
leptische Antezedenzien fehlen, so daßj man Aequivalente einer
senilen Epilepsie diagnostizieren muß, dürften für die von Rai-
mann gestellte Diagnose zur Begründung wohl ausreichen: Anal¬
gesie während der vollen Entwicklung der Psychose, zum Teil
vielleicht mit der Bewußtseinstörung zusammenhängend, der Vor¬
stellungsinhalt monoton, eingeengt, lebhafte und schreckhafte De¬
lirien mit Sinnestäuschungen, Gott- und Majestätsnomenklatur,
Perseveration und unverkennbare Aphasie. Fälle wie der vorge¬
stellte sind nicht gar häufig und so gelingt es in analogen Fällen
meist, dieselben entweder mit der bequemen Etikette ,, periodische
Psychose“ oder als Epilepsie ins Schema einzureihen ; es besteht
für den Kliniker von heute kaum eine NotAvendigkeit, auf den
alten Kirnschen Ausdruck zurückzugreifen.
Dr. Pilcz möchte sich in der Auffassung des Falles Rai-
mann anschließen und erinnert daran, daß er einmal in einem
Vor Hag (in diesem Vereine) die vielfachen Beziehungen zwischen
periodischen Geistesstörungen und epileptische]i Psychosen her¬
vorgehoben. Speziell die zentralen Typosen mit kurzen Anfällen
(Kirn), die periodisch deliranlen VerAvorrenheitszustände können
von den Anfällen psychischer Epilepsie (Epilepsia larvata) nicht
unterschieden werden.
Dr. Poetzl schließt sich in der Aulfassung des Falles
Rainiann vollkommen an und bemerkt, daß; da tatsächlich
die Fälle von zentraler Typose A^ermöge ihrer Symptome und
ihres Verlaufes gerade die Mitte hielten zAvischen epileptischen
und periodischen Geistesstörungen, ihre beste Benennung aller¬
dings das Wort Typose sei, Avährend die Einreihung in eine der
genannten Krankheitsgruppen vorläufig Gcschmacksache bleibe.
Was die Frage der periodischen Psychosen betreffe, so könne
er in der Aufstellung des manisch-depressiven Irreseins von
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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\:)2
Ki'ä|M'lin keine Lösung der J’’i-,ige eil)licken. Ls luuidle sicli
iliin mehr um das Weseii der l’cniodiziläl als um die* Hcmennnng.
Pjiv.-Doz. IJr. Raimann konstatiert seine volle IJebereiu-
slimnmng mil den von ])r. J’oetzl vorgebi’achten Sätzen. Wenn
man eine Krankheitseinheit ,, periodische Psychosen“ aufslelll, so
gehl es nicht an, daß ein Fall, der alle Charakteristika der (iruppe
Irägt, gleichzeitig der Elpilepsie angehört. Eine Revision der E'rage
der ,, periodischen Psycdiosen“ wird nicht längej' zu umgehen sein.
Priv.-Doz. Dr. Hirse hl: hdi bin erstaimt, daß: die Existenz
.jener i)eriodische)i Psychosen, insbesondere der zirkularen Form,
denen man photograplnsche Treue und gleichlange I)an(U' der /u-
standsbilder als besonders eigentümlich nachgf'rühmt hal, gegen¬
wärtig geradezu in xVbrede gestellt wird. Ich kemne solche Fälle
in größenu' xVnzahl und die allen Psychiater, die ganz Kul be-
obachlen koniden, beschreiben eine große Anzahl derartiger lle-
ol)achlungen. Sollten aber die neuerkrankten Periodiker niemals
mehr die gleichlangen Perioden oder die photographische 'Freue
der Zustandsbitder zeigen, dann muß eine Veränderung der perio-
ilischen Psychosen in den letzten Dezennien angenommen werden;
Mendel nimmt ja auch an, daß die progressive Paralyse, die
früher meist die klassisch-manische F’orm zeigte, in den letzten
Dezennien in überwiegender Anzahl als demeTite Form auftriil,
also ihr klinisches Rild verändert hat.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
(Sitzung am 5. Dezember 1906.)
Vorsitzender: Riehl.
Schriftführer : B r a n d w e i n e r.
Urpani demonstriert zwei extragenitale Primäraffekte.
E h r m a n n demonstriert: 1. Einen Fall von Psoriasis]
plantaris syphilitica.
2. Einen Fall von radiär gestellten Nurben am
?d u n d w i n k e 1.
Riehl bemerkt, daß die radiär von der Mundöffnung
ausstrahlenden Narbenzüge zur Diagnose Lues congenita
durchaus nicht berechtigen. Der alte Grundsatz ,,aus Residuen,
resp. sekundären Erscheinungen allein darf keine Diagnose ge¬
stellt werden“, ist auch hier ganz berechtigt. Genau solche Narben
sieht man nach chronischen Lippenekzemen gar nicht selten
entstehen.
E h r m a n n betont, daß diese Narben in zarter Haut typisch
seien, während nach Ekzem eine faltige, matsche Haut auftritt.
Wahrscheinlich setzt auch nicht das luetische Infiltrat, sondern :
das begleitende Ekzem die Narben.
3. Einen Fall von Eccema chronicum.
Weidenfeld: Es besteht doch ein strikter Unterschied
zwischen Lichen chronicus simplex und zwischen chronischem
Ekzem. Bei letzterem ist die Haut wesentlich verdickt. Auffällig
ist in diesem Falle die Pigmentation, so daß es fraglich ist, ob
nicht Gebrauch von Arsen stattgefunden hat. Er hält die Affektion
für Lichen simplex Vidal, kann aber Lichen ruber planus nicht
ausschließen.
Ullmann: Unter den zahlreichen Fällen chronischer Ek¬
zeme, die ich hei H. v. H e b r a gesehen habe, wurden von
ihm mehrere als mykotische angesehen. Speziell die in den
Knie- und Ellbogenbeugen lokalisierten chronischen, bald mit
Nässen, bald mit diffuser Hautverdickung einhergehenden Ekzeme /
hob er, wie bekannt, klinisch als Mycosis flexurarum heraus und
beschrieb sie in eigener Publikation. Er erwähnte oft Fälle seiner
Praxis, bei denen z. B. durch Verschränken der Arme über dem
ekzematösen Gesichte im Schlafe oder sonstigen öfteren Kontakt
höchstwahrscheinlich die nässenden Stadien von einer auf die
andere Stelle des Körpers übertragen worden seien. Mehrere
mir von ihm zur Untersuchung auf spezifische Mikroorganismen
zugewiesene Fälle ergaben stets ein negatives Resultat, ebenso
die Färbung von Schnitten, so daß H. v. Hehr a an der auch
von Kaposi damals hier bekämpften Auffassung später selbst
Zweifel hegte. Die zirkumskripten, derben, ausgesprochen knoten¬
förmigen Erhebungen des Lichen simplex circumscriptus Vidal
hat aber H. v. H e b r a meiner Erinnerung nach nicht in diesen
Begriff miteinbezogen, sondern als eigene Form des Ekzemes im
Sinne Vidals aufgefaßt.
Riehl: In diesem Falle sind keinerlei primäre Krankheits¬
erscheinungen, nur Pigmentation und Verdickung der Papillar-
schichte und Epidermis (Lichenifikation) sichtbar ; da allerlei
chronisch-entzündliche Prozesse dasselbe Bild produzieren können,
ist die Diagnose der primären Krankheit unmöglich.
Ehr m a n n erwidert W e i d e n f e 1 d, daß er gar nicht ge¬
fragt habe, ob Arsen gebraucht wurde, wie er auch bei Melanosis
post pediculos nicht frage. Denn die lang dauernde, chronische
Entzündung ist genügende Erklärung für die Pigmentierung. In
den Fällen von Melanosis post pediculos haben die Patienten
immer schwarze Haare gehabt. Was die Unterscheidung gegen¬
über Ekzem betrifft, so hält E h r m a n n Lichen chronicus sim¬
plex auch nicht für Ekzem, wiewohl Vidal einmal von Ek-
zematisation des Lichen simplex, einmal von Lichenifikation des
Ekzems spricht. Die Fälle von H e b r a habe er selbst gesehen,
über dieselben sei die Meinung geteilt. Im Jacobi sehen Atlas
werden diese als Neurodermitiden bezeichnet. Dieser Prozeß hier
sei als Ekzem oder Lichen simplex Vidal abgelaufen. Jetzt sind
nur Reizerscheinungen vorhanden.
4. Einen Fall von Atrophia cutis idiopathica.
S c h e r b e r stellt aus der Klinik Prof. Fingers vor :
i. Einen 35jährigen Tischler mit einem Exanthem, welches den
Hals und Nacken, Brust, Rücken bis zur Lendengegend, sowie
die oberen Extremitäten einnimmt, während der untere Teil des
Rumpfes wie die unteren Extremitäten von der Affektion völlig
frei erscheinen. Das Exanthem besteht aus verschieden großen,
ziemlich scharf begrenzten Erythemen, die stellenweise in größerer
Ausdehnung konfluieren, teils frisch rot, teils mehr livid gefärbt
sind, teils in Rückbildung begriffen, einen bräunlichen Farbenton
zeigen. Auf der Basis der überwiegenden Mehrzahl dieser Ery¬
theme sieht man in Gruppen angeordnete stecknadelgroße Bläs¬
chen, mit klarem, gelblichen Serum gefüllt, die teils isoliert, teils
herpesartig angeordnet erscheinen. Auf den in Rückgang begriffenen
Erythemen sieht man noch die Reste der Bläschen in Form kleiner
verkrusteter Stellen.
Die Affektion trat bei dem Manne ohne nachweisbare Ur¬
sache vor drei Monaten auf, geht zeitweilig zurück, um dann
wieder zu rezidivieren. Hervorzuheben ist noch, daß die Affektion
äußerst heftiges Jucken verursacht, daß dabei das Allgemein¬
befinden nicht wesentlich beeinflußt ist. Wir haben hier einen
Fall jener kleinblasigen Pemphigusform vor uns, die Duhring
wegen ihrer bestimmten, in diesem Falle deutlich ausgesprochenen
Symptome als Dermatitis herpetiformis von der Gruppe
der Pemphigusformen ausgeschieden hat.
2. Den bereits von Kollegen Müller vor vier Wochen
demonstrierten Fall von Mycosis fungoides. Bei dem
Manne haben die damals in geringer Ausdehnung auf Bauch,
Rücken und Oberschenkeln bestandenen Erythrodermien so be¬
deutend an Ausdehnung zugenommen, daß sie jetzt fast den
ganzen Rumpf, Schulter und Halsgegend, wie die Oberschenkel
überziehen. Ebenso sind auf den Wangen Eu-ythrodermien auf¬
getreten. Die Farbe aller dieser Erythrodermien ist nur stellen¬
weise hellrot, im übrigen zeigen sie einen bläulichroten und
bräunlichroten Farbenton ; dabei zeigt die Haut an den er¬
griffenen Partien eine starke Abschuppung. Die Tumoren in der
Gegend der rechten Skapula sind unter der Arsentherapie im
Rückgang begriffen.
3. Einen 56jährigen Mann mit einer seit drei Jahren be¬
stehenden Ulzeration an der großen Zehe des rechten Fußes,
Es zeigt sich ein guldengroßer, unregelmäßig tiefer, mißfärbig
belegter Substanzverlust, der in der distalen Hälfte der tumor¬
artig verdickten Zehe sitzt. Die Vergrößerung der ganzen Zehe ist
eine unregelmäßige, durch stellenweise knotenförmig hervor¬
tretende Bildungen. Am Ansatz der Zehe sitzen am Dorsum pedis
mehrere erbsen- bis bohnengroße, derbe, von intakter Haut ge¬
deckte Tumoren. Die Drüsen in inguine sind mächtig geschwollen,
man fühlt die elastisch-derben großen Pakete. Das rasche tumor¬
artige Wachsen der Zehe, die erst vor kurzer Zeit aufgetretene
Drüsenschwellung und die seit ungefähr acht Tagen am Dorsum
pedis aufgetretenen Metastasen ließen uns an eine bösartige Neu¬
bildung denken und wurde unsere klinische Diagnose durch eine
Probeexzision bestätigt. Es handelt sich um ein alveoläres Sar¬
kom, vom Bau jener Sarkome, wie sie sich von Nävis aus zu
entwickeln pflegen. (Demonstration der h i s t o 1 o g i- ■
s c h e n P r ä p a r a t e.) ,,
4. Zwei Frauen mit extragenitalen Sklerosen, eine an der
Oberlippe, die andere an der Unterlippe. Scher be r hebt hervor,
daß in den letzten vier Wocheti acht Fälle von extra¬
genitalen Sklerosen auf der Klinik Prof. Fingers zur
Beobachtung kamen. Die Fälle betrafen zwei Männer und -sechs
Frauen. Fünf Sklerosen saßen an den Lippen, zwei an den
Tonsillen, eine an der linken Wange.
Weidenfeld demonstriert einen Fall von Lichen
ruber planus, kombiniert mit Lichen s p i n u 1 o s u s. An
den Vorderarmen innerhalb der abgeheilten Stellen finden sich
liohenoide kleinste Effloreszenzen, spitz, nicht gerötet, an den
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
I.’dS
Follikeln lokalisiert, wobei kleinste dornähnliche llornspilzen
hervorragen. An der Brust linden sich auch solche Knötchen
gruppiert innerhalb gesunder, d. h. an nicht von Lichen ruber
befallenen Stellen. Auch an anderen Körperstellen finden sich
innerhalb solcher von Lichen ruber planus befallenen Stellen
ähnliche Knötchen. Sonst ist der Lichen ruber abgeheilt und an
Stelle der Effloreszenzen linden sich gleichgroße pigmentierte
Scheiben.
Hinter den Ohren und am aufsteigenden Kieferast finden
sich blaurote Erytheme, bandförmig, von blauroter Farbe, die
Epidermis darüber ist aufgerauht und pigmentiert.
Faßt man die Verhältnisse zusammen, so muß man den
Liehen spinulosus gleichfalls als Wirkung des Arsens auffassen,
mithin wir an eine Wirkung auf die Follikel durch Arsen
denken müssen.
Ullmann: Der hier vorgestellte 34jährige Mann leidet
seit angeblich zwei Jahren an Lupus erythematodes im
Gesichte. Zahlreiche unregelmäßig begrenzte Scheiben und
Plaques meist von kleinerem Durchmesser (2 — 3 cm) im
Gesichte, auf der Stirne, Wange, einzelne davon mit deutlich
narbigen Veränderungen sind vorhanden. Nebenbei besteht auch
seit Jahren eine Bronchitis mit sehr starkem Auswurf und bron-
chiektatische Erscheinungen. Vor mehreren Jahren soll eine leichte
Lungenhlutung stattgefunden haben. Befund an Bazillen und
elastischen Fasern (Dr. Urban) vor etwa vier Wochen negativ.
Von den drei Alt-Tuberkulininjektionen in einwöchentlichen
Intervallen von bjo bis 3 mg steigend hatte erst die letzte (ä 3 mg)
deutliche, u. zw. intensiv fieberhafte Reaktion mit gleichzeitiger
erysipelähnlicher Anschwellung im Gesichte und Schwellung der
Plaques des Lupus erythematodes zur Folge, die in einigen Tagen
wieder zurückging, aber heute noch andeutungsweise besteht, so
daß die Niveaudifferenzen der atrophischen Stellen hie und da ausge¬
glichen sind. Die lokale Reaktion hat hier gleichzeitig eine wesent¬
liche Veränderung an den Plaques hervorgerufen, welche in bezug
auf Intensität ihrer Färbung und Schuppenbildung wesentlich
zurückgebildet erscheinen.
Dieselbe Beobachtung habe ich bereits in mehreren Fällen
gemacht und davon auch hier gesprochen. Von Interesse ist, daß
nun eine zweite Untersuchung des Sputums durch Frau Fuchs
(Schülerin Dr. Spenglers [Davos]) aus den letzten Tagen mit
Bestimmtheit mittels Pikrinsäurefärbung sogenannte tuber¬
kulöse Splitter (d. i. Involutionsformen oder Jugendformen) von
Tuberkelbazillen ergab.
Weitere Untersuchung dieser und anderer Fälle nach dieser
Richtung findet statt und werde ich Ihnen darüber berichten. Mir
lag vorläufig heute daran. Ihnen zur Rechtfertigung meines
hier eingenommenen Standpunktes in der Frage des Lupus eryth.
in seiner Beziehung zur Tuberkulose derartige Fälle vorzii führen
und durch Sie selbst kontrollieren zu lassen.
Von demselben Gesichtspunkte stelle ich Ihnen den zweiten
Fall, ein papulonekrotisches Tuberkulid, vor. Das 20jährige Mäd¬
chen, anscheinend sehr kräftig, aus sonst gesunder Familie, litt in
frühester Kindheit an Otitis media suppurativa dextra und
Caries des linken Felsenheines, die zur Sequestrotomie im
Proc. mastoides geführt hat. Eine große Narbe hinter dem Ohr
zeigt die Operationsstelle. Zwei Narben von Drüsenoperalionen
unter den Kiefern bestehen seit dem 10. Lebensjahre.
Seit einigen Monaten zeigen sich auf Nase und Gesicht
4 bis 5 runde und ovale dem Lupus eryth. sehr ähnliche
schuppende und gerötete Plaques.
Eine Stelle findet sich im Ohrläppchen rings um die Ohr¬
stichöffnung, ähnlich wie sonst beim Lupus vulgaris. Die Diagnose
Lupus erythematodes ist jedoch nicht mit Sicherheit zu stellen,
mit Rücksicht auf das Vorhandensein zahlreicher papulonekrotischer
Tuberkel, die in Form von Papeln und Pusteln an den Vorder¬
armen einzeln und in Gruppen, meist in Involution befindlich vor¬
handen sind. Auch an den Fingern waren früher einige wenige
vorhanden; jetzt bestehen bloß seichte Narben. Dieses gleichzeitige
Vorhandensein von Lupus eryth klinisch sehr ähnlichen Er¬
scheinungen mit papulonekrotischen Tuberkuliden ist in einer
größeren Anzahl meiner Beobachtungen vorhanden und habe ich
ja hier insbesondere darauf schon aufmerksam gemacht, daß auch
dieses Zusammentreffen einerseits kariöser Prozesse in Knochen
oder sonstige skrofulöse, tuberkulöse Erscheinungen neben
typischen papulonekrotischen Tuberkuliden an den Extremitäten
oder am Stamme und anderseits mit gleichzeitigen, dem Lupus
eryth. ähnlichen Erscheinungen im Gesichte (B o e c k s Lupus
eryth. disseminatus), ferner auch noch die ' (wie im vorgestellten
Falif'} vorhandene intensive Reaktion auf Tuberkuline aller Arten
mir ein weiterer Beweis zu sein scheint, für die Zusammen¬
gehörigkeit des Lupus eryth. mit den sogejiannten tuberkuliden
Affektionen.
Auch diese Patientin wird der S p e n g 1 e r sehen Behand¬
lung mit Porlsucht'Tuberkulin, bzw. Leibessul)stanzen von Bazillen
schon seit einiger Zeit zugeführt und zeigte intensive Lokalreaktion
an den Plaques wie an der Stichstelle schon auf \io mg.
Es wäre ja möglich, daß wir auf dem Wege der Sp engl er¬
sehen, Feststellungen eher dazu gelangen werden, den klinischen
Begriff der HauKuberknlose auch mit Hilfe exakter Methoden zn
erweitern. i Schluß folgt-)
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in
Böhmen.
XI li. Sil zun g vom 24. Oklolx-r 19()fi.
Pf i b r a m demonstriert einen Fall von D e r c u m sclief '
Krankheit. Nach eingehender Besprechung des ' Krankheils¬
bildes der Adiposis dolorosa führt er die fiOjälirige Palienlin vor,
welohe seit ihrem 24. Lebensjahre im unmiltelbaren Zusammen¬
hang an ein heftiges psychisches Trauma die ziendich rasche Fetl-
zunahme bemeikte. Gegenwärtig sind die Hände ziemlicli zart
imd fettarm, das Gesicht und der Hals eher mager, die Fußrücken
der zwar plumpen, aber nicht fettreiclien Füße sind fettarm. Beide
Beine sind von den Glutaei nach abwärts säulenförmig verdickl
und bieten tiefe Furchen (ähnlich wie bei fetten Kindern) dai'.
Nirgends sind noduläre Lipome vorhanden, t An den, Oberarmen
sieht man an der Rückseite herabhängende, diffuse, kleinlappige
Fettwülste. Ueberall, wo starke Fettlagen sind, beslehen mäßige,
spontane Schmerzen und starke Druckempfindlichkeit. Die Rönt¬
genaufnahmen der Gelenke ergaben nur am rechten Kniegelenk
die Zeichen rheumatischer Artliropathie, sonst normalen Befund.
Die Schilddrüse scheint wesentlich verkleinert. Ein Skiagramm
des Schädels ergibt keine auffallende Erweiterung der Sella turcica.
Die Patientin wird mit Schilddrüsentabletten behandelt.
E 1 b o gen: U e b e r e i n e n seltenen Fall von t r a u m a-
ti scher Reposition en bloc e i n e r L e i s te n h e r ri i e.
Der 53jährige Patient litt bis. vor zehn Jahren ah einem
rechtseitigen Leistenbruch. Nach einem Unfall soll derselbe ver¬
schwunden sein; Pat. verspürte danach heftigen Schmerz in der
Gökalgegend und fieberte hoch. Nach dem dreiwöchentlichen
Krankenlager wiederholten sich drei- bis viermal im Jahre Krank¬
heitserscheinungen, die mit hohem Fieber einhergingen und von
lleuserscheinungen begleitet waren.
Bei der ersten Untersuchung fand El bogen in der Cökal-
gegend eine mannsfanstgroße Geschwulst mit einem Fortsatz gegen
das kleine Becken; es bestanden Zeichen perforativer Reizung.
Bei der Operation fand sich, entsprechend dem Mesokolon des
Blinddarmes, eine Geschwulst von der Form eines Magens, von
der ein knopfförmiger Ansatz gegen die rechtseitige Bruchpforte
gekehrt war. Sie war mit dem Peritoneum parietale, dem Meso-
kolon und mit dem Darme in ihrer oberen Hälfte verwachsen. Dei’
Inhalt derselben war von einem vollkommen normal anssehenden
Netz gebildet. Es handelle sich also um: (fine traumatische, ge¬
waltsame Reposition einer rechtseitigen Netzhernie mit vollkom¬
mener Abtrennung und nachträglicher Verwachsung des Bruch¬
sackes mit dem Mesokolon des Blinddarmes und des Bauchfelles.
Die Ernährung dieser Geschwulst konnte nur durch die außei-
gewöhnlich festen Adhäsionen mit dem Darme und dessen Ge¬
kröse bewerkstelligt worden sein.
M e n d 1 bespi icht den S t i c k s t o f f w e c h s e 1 bei einem Falle
von Tetanus Iraumaticus. Die Menge des ausgeschiedenea
Stickstoffes war enorm gesteigert, analog die prozentualen Weih“
des Harnstoffes. Ebenso bestand starke Vaumehrung der Ammo¬
niakausscheidung. Nachdem die Slickstoffaussclieidung ihren Höhe¬
punkt eiTcicht hat, erfolgt für den Gesamtstickstoff, sowie für
die übrigen Sticksloffkomi)onenten ein kritischer Abfall, worauf
rasch die Norm erreicht wird. Im Mittel ergibt sich (äne Steige¬
rung der Stickstoffausscheidung gegen die Norm wie 2:1. Ebenso
war d(n- Stickstoffgehalt der Fäzes fast um das Doppelte erhöhl.
Die. Chlorausscheidung verhält sich analog der Stickstoffausschei¬
dung. Die r^hosphorsäureausscheidung im Harn schwankt inner¬
halb der normalen Werte, nur wurden die Erdphosphate in gleicher
oder sogar in größere'!- Menge ausgeschieden wie die Alkali-
phosphah'.
XIV. Sitzung vom 31. Oktober IfiOfi.
R o k e : 1) e m o n s t r a t i o n v b n T r y p a n o s o hi e n i m
Blute.
M ü n z e r : LI e b e r B 1 u t d v u c k m e s s u n g u n d ihre B e-
deutung nebst Beiträgen zur funktionellen Herz¬
diagnostik.
154
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 5
IMünzer das (i ä r t n c r sehe: Tonometer und doji
Appai at il i V a - H o c c i s, welelie Ixdde sehi’ leielit transporlabel
geslalled wei'ihm köimeii, wenn man si( li (dues zerlegbaren Älano-
meters Itedienl. Die Hestimmung nach (lärlner läßt sich durch
Einstich in die Fingerkuppe vor dem Nachlassen des Druckes
leicht objektiv gestalten. Heim H i v a - 11 oc c i sehen Apparat, ist
die Verwendung einer Lul'li)umpe mit horizontaler Längsachse
sehr [ländlich. A’ortr. betont, daß der sogenannte Normalwert
kein Heweis für (dn gesundes Ilerzgefäßsystem sei; es kann an¬
scheinend normaler Druck einem Schwächezustand des Herzens
entsprechen. Das Hlutdruckoptinium sohdier Menschen liegt
viel höher.
Tritt nach der Arbeit hei einem vorher regelmäßig schlagen¬
den Herzen Herzheschleunigung mit Arrhythmie ein, so ist dies
ein Zeichen ernsterer Flerznmskelveränderung.
Bei Morbus Basedowii ist der Blutdruck nicht immer
gesteigert. Erst wenn es zn Gefäßveränderungen kommt, was
hier früher als gewöhnlich infolge erhöhter tnanspnichnahme
eintritt, erscheint der Blutdruck stark erhöht.
Bei der Arteriosklerose sind zwei Formen zu nnter-
scheiden: die Arteriosklerose der großen Gefäße, die senile Form,
welche ohne Blutdrucksteigernng einhergeht und charakterisiert
ist durch große Pulse und einen besonders jiiedrigen, dia¬
stolischen Druck und die ausgedehnte Arteriosklerose der kleinen
Gefäße, welche ein Krankheitsbild für sich darstellt, mit hoher
Blutdrucksteigerung einhergeht und häufig mit Eiweißausschei¬
dung kombiniert ist. Ob letztere das Primäre in solchen Fällen
darstellt, ist zweifelhaft, da Nierenentzündung auch nach langer
Dauer nicht immer zur Blutdrucksteigerung führt.
Bei der P o 1 y c y t h a e m i a h y p e r t o n i c a G e i s b ö c k be¬
ruht die Hypertonie wahrscheinlich auf Arteriosklerose.
Fischer: U e h e r die V e r ä n d e r u n g e n tl e r S p i n a 1-
ganglien hei Herpes zoster.
Fischer untersuchte nach dem Vorgang von Head und
Camp hell die Spinalganglien in vier Fällen von Herpes zoster
in verschiedenen Stadien nach der Eruption (einen Fall 10 Tage,
einen Fall 6 Monate und zwei Fälle 10, resp. 24 Monate nach
dem Beginne der Hauterkrankung) und fand den Angaben H e a d s
entsprechende Veränderungen; in dem ersten Falle bestand eine
nekrotisierende Entzündung des Spinalganglious, in den anderen
Fällen narbige Veränderungen.
(Fortsetzung folgt.)
Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der
Garnison Wien.
Sitzung vom 12. Januar 1907.
Regimentsarzt Dr. Koder stellt vier Fälle aus der Ab¬
teilung des Stabsarztes Dr. v. Wolff vor (zwei Hiebverletzungen :
eine Luxation des linken Ellenbogengelenkes mit Myositis ossi
ficans des Bizeps, Brachialis internus und Trizeps, eine operativ
behandelte Analfistel).
Regimentsarzt IDr. Settmacher erläutert an der Hand ent¬
sprechender Bilder die V orzüge des normalen R a d i o g r a m m s,
des plastischen Röntgenbildes und der stereosko¬
pischen Radiogramme und kommt zu dem Schlüsse, daß
das plastische Röntgenbild in praktischer und d i a-
gnostischer Hinsicht gegenüber dem normalen Radiogramm
keine Vorzüge besitzt, im Gegenteil hinter diesem zurücksteht.
Auch eine Orientierung bezüglich der gegenseitigen Lageverhält¬
nisse der Details ist im plastischen Röntgenbild ebenso unmög¬
lich wie im normalen Radiogramm. Dort, wo es darauf ankommt,
das räumliche Verhältnis der einzelnen Details im Bilde für die
Dauer zu fixieren, ist die stereoskopische Aufnahme
einzig dastehend. Handelt es sich darum, rasch und exakt die
Lage irgendeines Fremdkörpers zu bestimmen, so ist wohl die
Aufnahme oder die Durchleuchtung in verschiedenen Richtungen
das praktische Verfahren. (Demonstration entsprechender Bilder.)
Zum Schlüsse demonstriert Settmacher einen Fall von durch
Behandlung mit Röntgenstrahlen geheilter Psoriasis.
Regimentsarzt Dr. U r p a n i stellt einen Fall mit multi¬
lokularen Gummen der Zuge vor, Folgezustände einer
zwar anfänglich intensiv behandelten, aber im Beginne schon
in maligner Form aufgetretenen syphilitischen Er¬
krankung.
Regimentsarzt Dr. P e 1 1 e c h referiert über den klinischen
Verlauf der im Herbste 1906 im Garuisonspital Nr. 1 abge¬
laufenen Typhusepidemie.
Oberarzt Dr. Raubitschek hält seinen angekündigten
Vortrag: „Zur ätiologischen Diagnose des Typhus abdominalis“.
(Erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Regimentsarzl Dr. Doerr möchte die
kulturelle Blutuntersnehung, die l)isher in Wien wenig üblich
war, in allen Fällen von fieherhaften Erkrankungen zur ätiologi¬
schen Diagnosestellung heranziehen. Die Entnahme des Blutes
mit einer sicher sterilen Spritze aus der Armvene ist bei einiger
Hebung für den Patienten absolut nicht schmerzhafter als das
Anstechen des Ohrläppchens oder der Fingerbeere, für den Arzt
gefahrloser und weniger zeitraubend. Der Nachweis des Erregers
in der Blutbahn gest attet allein eine völlig einwandfreie Diagnose
und ist selbst der Agglutination weit vorzuziehen. Abgesehen
von dem differentialdiagnostischen Wert (bei Typhus, Paratyphus,
Sepsis etc.) hat das Verfahren auch prognostische Bedeutung
(letale Prognose der Staphylokokkämie). Doerr berichtet über
einige Fälle aus der klinischen Praxis, in denen erst die kulturelle
Blutuntersuchung Aufschlüsse über den Krankheitsprozeß brachte
und einmal zu einer lebensrettenden Operation Veranlassung gab.
Programm
der am
Freitas: den r. Februar 1907, 7 Uhr abends,
unter dem Vorsitz des Heim Hofrat Clirobak stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. Dr. Moriz Benedikt; Demonstration.
2. Primararzt Dr. L. Moszkowicz : Heber Technik der Uranoplastik
(mit Demonstration).
3. Dr. Julius Bartel : Zur Frage der Perlsucht (mit Demonstration).
Eine Demonstration angemeldet: Hofrat v. Wagner.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Dr. Oskiir Seineleder
und Dr. L. Hofbauer. Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der Pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Eschericli Donnerstag den 31. Januar 1907, um 7 Uhr
abends, statt.
Vorsitz; Professor Dr. Unger.
Programm:
I. Demonstrationen.
H. Dozent Dr. Kuoepfeliuacher ; Die Aetiologie des Icterus
neonatorum.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 4. Februar 1907, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Dr. Eni. Frank stattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
Doz. Dr. Hugo Frey : Reflexepilepsie bei Ohren- und Nasen¬
erkrankungen.
Ophthalmolo gische Gesellschaft in Wien.
Programm zu der am Mittwoch den 6. Februar 1907, 7 Ubr abends
im Hörsaal der Klinik Fuchs stattfindenden Sitzung.
1. Hajek (a. G.): Heber die Operationsmethoden bei entzündlichen
Affektionen der Stirnhöhle. (Mit Krankendemonstrationen.)
2. V. Benedek: Heber präretinale Hämorrhagien.
Die nächste Sitzung findet Mittwoch den 6. März 1907 im Hör¬
saale der Klinik Fuchs statt.
Dr. J. Meller, dz. Schriftführer.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch am 6. I'ebruar 1907.
Programm; 1. Administrative Sitzung. 2. Demonstrationen.
Nach der Sitzung Zusammenkunft im Riedhof.
Vw«ntwortlich«r BtdakUar: Adalbert Karl Trupp. V#rl»g Ton WUhelm Braumttller in Wien.
Druck TOD Bruno Bartelk, Wien, XVIII., Theresiengasse 8.
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Die
„Wiener kliulsclie
woclieiisclirifl“
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Zuschriften für die Redaktion
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G. Braun, 0- Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
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Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
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Redaktion :
Telephon Nr. 16.282.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlacshandlung:
Telephon Nr. 17 .618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 7. Februar 1907.
Nr. 6.
INH
f. Originalartikel : 1. Aus dem patliologisch-anatomischen Institute
in Wien. (Vorstand: Prof. A. Weichselbanm.) Zur Biologie
des Perlsnchtbazillns. Von Assistent Dr. Julius Bartel.
2. Aus der II. med. Abteilung des k. k. Kaiser-Franz-Josepb-
Spitales in Wien. Septische Erkrankungen bei Verkümmerung
des Granulozytensystems. Von Privatdozent Dr. Wilbelm
Türk, k. k. Primararzt.
3. Aus der III. med. Klinik. (Vorstand: Prof. v. Schrötter.)
Zur differentiellen Diagnose der Knochenverdickungen. Von
Dr. Carl Reitter, Assistenten.
4. Aus der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag. (Vorstand:
Prof. A. Pick.) Isolierter halbseitiger Zungenkrampf. Ein
Beitrag zur Jacksonschen Epilepsie. Von Dr. M. Pappen-
h e i m, Assistenten der Klinik.
II. Referate: Die Verbesserung mangelhafter Negative. Von
G. Hauben- ießer. Der Porträt- und Grnppenphotograph
beim Setzen und Beleuchten. VonE. K e m p k o. Die Tonnngs-
verfabren von Entwicklungspapieren. Von E. Sedlaczek.
ALT:
Orthodiagrapbische Praxis. Von Paul C. F ranze. Atlas der
orthopädischen Chirurgie in Röntgenbildern. Von A. H o f f a
und L. Rauen b u s c h. Mitteilungen ans Finsens medicinske
Lysinstitut. Archives of the Roentgen Ray. Fortschritte an!
dem Gebiete der Röntgenstrahlen. Ref.: Kienböck. — Die
Invalidenversorgung und Begutachtung beim Reichsheere, bei
der Marine und bei den Schutztruppen, ihre Entwickelung
und Neuregelung. Von Dr. Fr. Paalzow. Repetitorium des
österreichisch-ungarischen Heerwesens im Felde für Militär-
äi-zte. Von Felix Hahn. Hilfsbuch für den Einjährig-Frei¬
willigen Mediziner im ersten Halbjahr. Von Mar sehn er.
Epidemiologie der Garnisonen des k. n. k. Heeres in den
Jahren 1894 bis 1904. Von Dr. Paul Myrdacz. Ref. : Johann
Steiner.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Berliner Brief. Von Pickardt.
V. Vermischte Naciiricliten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßherichte.
Aus dem pathologisch-anatomischen Institute in Wien,
(Vorstand: Prof. A. Weichselbaum,)
Zur Biologie des Perlsuchtbazillus.*)
Von Assistent Dr, Julius Bartel.
Es war mir und meinen xMitarbeiLern gelungen, darzn-
tnn, daß den Orgaiizelleii, speziell den Lymphozyten die
Fähigkeit zukomme, virulente Tuberkeibazillen des Typus
hnraanns — ich halte mich hier an die von Kos sei, Weber
und Heuß geübte Bezeiclmniig — bei erhaltener Lebens¬
fähigkeit soweit zu beeintlussen, daß sie nach längerer Zeit
der Liiiwirkung mit dem urgaui sehen Material verimpft, für
Meerschweinchen ihre Virulenz verloren haben. Es konnte
ferner gezeigt werden, daß solchergestalt geimpfte Meer¬
schweinchen bei einmaliger ,, Vakzination“ eine erhöhte Resi¬
stenz gegen eine folgende vollvirulente Infektion mitBazilleii
des gleichen Typus aufwiesen. Diesbezügliche Impf-, respek¬
tive Vakzinatioiistiere wurden gelegentlich meines vor¬
jährigen Vortrages in der Gesellschaft der Aerzte demon¬
striert. Es konnte ferner gefunden werden, daß durch den
Einfluß von Blutserum und Aleuronatexsudaten. keine ana¬
loge Wirkung zu erzielen, war, indem lediglich eine geringe
Abschwächung sO' beeinflußter Bazillen gesehen wurde.
Hartl und ich^) haben nun gemeinsam die sich von
selbst ergebende Frage geprüft, ob auch Bazillen des Typus
bovinns auf gleiche oder ähnliche Weise gegenüber Orgam
zellen sich verhalten. Kurz habe ich in meinem Vortrage
*) Nach einer Demonstration in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in
Wien, 1. Februar 1907.
*) Im Erscheinen begriffen.
auf der letzten Tagung der deutschen pathologischen Gesell¬
schaft in Stuttgart bereits milgeteilt, daß es gelingt, auch
Bazillen des Typus bovimis durch den Einfluß organischer
Gewebe in einen Zustand der Aviruleiiz überznführen. Ich
hielt mich dabei mit Hartl an die frühere Versnchsaii-
ordmmg mit Neu m a n n, die auch Neu m a n n und W i t g e n-
stein bei weiterer Nachprüfimg beobachteten. So konnten
Bazillen verschiedener Stämme des Typus bovinns durch
Milz-, Lymphdrüsen-, Leber, Nieren- und Limgensnbstanz
von Kaninchen schließlich zur Avirulenz für das Äleer-
schweincheii gebracht werden, wenn die genannten Sub¬
stanzen längere Zeit auf das in ihnen suspendierte Bazillen¬
material einwirkten. Demgegenüber konnte durch den Ein¬
fluß des Kaninchenblntes ein gleiches Resultat nicht er¬
zielt werden.^)
Es gilt al&o auch für den Typus bovinns, was ich und
Neumann, dann hei Nachprüfung Neu m a n n und W i t g e n-
stein bezüglich des Typus hnmanns beobachten konnten:
Bazillen des Typus bovinns erweisen sich bei
länger daneriider Becinf Inssniig durch organi¬
sche Substanzen, dann mit denselben verimpft,
für das Meerschweinchen a v i r n 1 e n t. Hingegen ist
s e 1 b s t d n r c h 1 ä n g e r dauernden Einfluß des Blutes
eine solche Avirulenz nicht zu erzielen. Ob hiebei
die Bazillen noch lebend mit dem organischen Material ver¬
impft wurden, konnten wir nicht entscheiden, da uns bisher
eine Kultur nicht gelang.
Wie ich mit Neumann ferner den Einfluß einer
solchen avirulenten Impfung bezüglich einer folgenden viru-
h Diesbezügliche Kayserlingprilparate wurden demonstriert.
\Vli:NliI{ Kl.lNISCIlE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 6
IbG
lonton Iniitfnng prüfte, ergab rficli auch hier von selhsl flie
Frage, ol) gleicherweise eine erliöhte llesislenz gegen Perl-
siicht durch einen solchen „Vakzinationsvorgaii g“ zu
erzielen sei. Meines u h j e k t i v e Anse h a u u n g 1 ä ß t ni i c h
daran denken, daß es ni ö g 1 i c h ist, a u f diese Weise
vielleicht mit einiger Modifikation ein Vakzi-
iiat ionsve rfahren gegen Perl sucht aufzu,hauen.
Ich 1j e h a 1 1 e m i r v o r, d i e s e ii W eg zu verfolgen u n d
darül)er zu t)e rieh len.
Derzeit möchte ich kurz üt)er einen unserer Versuche
Mitteilung zu machen, wel(dier am Kaninchen iiacli dieser
Hinsicht angeslellt worden war.''^)
Der Versuch tjetrifft ein normales Kaninchen, das als
Kontrolltier diente und ein vakziniertes Tier. Letzteres war
vor längerer Zeit zweimal in einem größeren Intervall vak¬
ziniertworden. Das allerdings schon etwas alte Vakzinations¬
material war für die erste Vakzination mittels menschlicher,
für die zweite mittels Perlsuchthazitlen hergestellt worden.
Beide Tiere wurden gleichzeitig mit einer voll virulenten
dichten Perlsucht kultnraufschwemmung intraperitoneal unter
den notwendigen Kautelen zur Verhinderung einer Störung
des Versuches geimpft.
Das Kontrolltier verendete unter starkem trewichlsver-
lust und Marasmus 84 Tage nach der Impfung. Bei der Oh-
duktion zeigte es starke Ähmagerung, das Omentum in einen
dicken, mit Käseherden durchsetzten Strang verwandelt,
eine sehr reichliche Aussaat von bis hirsekorngroßen Knöt¬
chen des ganzen Peritoneums, Lymphdrüsentuherkulose im
Mesenterium und Mediastinum, tuberkulöse Pleuritis, sowie
Knötchen der Milz und Lungen, sehr undeutlich auch in der
Leiter. Mikroskopisch waren typische Tuberkel mit Ver¬
käsung an allen genaimten Stellen nachweisbar.
Das vakzinierte Kaninchen ließ nach der virulenten
Impfung keine Störung seines Befindens erkennen. Es wurde
bei völligem Wohlbefinden 84 Tage danach, also 50 Tage
nach dem Verenden des Kontrolltieres, getötet u. zw. nach
steriler Entnahme des Blutes. Bei der Obduktion zeigte sieb
das Tier kräftig und wohlgenäbrl. Mit Ausnahme von vier
sichtbaren, nmdlichen Herden unter der Pleura pnlmonalis
in den peripheren laingenabschnitten, die, bis hanfkorngroß,
an zwei Stellen kleine, verkäste Stellen erkennen ließen,
waren an keiner Stelle des Körpers verdächtige Veränderun¬
gen zu sehen, Peritoneum und Pleura waren zart und glän¬
zend, die Lymphdrüsen des Mesenteriums weich, mäßig
groß, die Lymphdrüsen an der Mesenterialwurzel zudem
stark pigmentiert, das Omentum vollständig zart, die Impf¬
stichstelle nicht sichtbar. Mikroskopisch zeigten die Lungen¬
herde das gewöhnliche Bild der Tul)erkulose mit Verkäsung,
sonst war mikroskopisch w'eder in der Leber, noch in der
Milz, in den Lungen und Lymphdrüsen Tidmrkulose zu kon¬
statieren. Von diesem Tiere wurden das Blut, sowie die
einzelnen Organe an gesunde Meerschweinchen intra¬
peritoneal injiziert. Nach nunmehr vier Wochen sind
diese Impftiere wohlauf.
Vor der Beurteilung dieser Versuche möcJite ich einem
Einwande bezüglich des IMfekles der intraperitonealen Perl¬
suchtkulturimpfung • — handelt es sich um ein vollvirulentes
Material — hegegnen, der eventuell erhoben w.erden könnte.
So wie bei der Perlsucht die intravenöse Impfung, ist auch
die inlraperitoneale Inokulation ein sicherer Weg zur Er¬
zeugung einer im letzteren Falle zunächst mit Beteiligung
des Peritoneums entstehenden allgemeinen Tuberkulose. So
äußern sich Kos sei, Weber und Heuß folgendermaßen s
,,Bei der subkutanen Impfung ist darauf zu achten, daß das
Impfmaterial in der Tat nur in das subkutane Gewebe des
Kaninchens gebracht wird. Spritzt man die Aufschwem¬
mung, wie es hei unruhigen Tieren unabsichtlich Vorkommen
kann, unter die Faszie in die Bauchmuskulatur, so wuchern
die Tuberkelbazillen bis zum Peritoneum und durch das
Peritoneum hindurch in die Bauchhöhle und in diesem Falle
können auch Kultnren, die nach Einbringung in das Unter-
hautbindegewel)e Kanineben nicht krank macdien, eine, aller¬
dings langsam verlaufende, allgemeine Tuherknlose hervor-
riifen.“ Ersieht man schon hieraus die große Empfindlich¬
keit des Peritoneums, so erhellt die Sicherheit des Effektes
der intraperitonealen Impfung auch ans zahlreichen ander¬
weitigen Beobachtungen. Auch meine allerdings noch
jungen Erfahrungen weisen nach dieser Richtung mul
steht dieses auch in Febereinstimmung mit den viel¬
seitigen Erfahrungen v. Ba umga.r tens. Baumgarten
hält es für ,,th eor e 1 i s cli“ möglich, daß eventuell
menschliche Tuberkelbazillen, die trotz großer Viru¬
lenz für das Meerschweinchen, für das Kaninchen
wenig oder gar nicht virulent sein können, vorn Ka¬
ninchenperitoneum resorbiert werden können, ohne an dem-
sclhen tuberkulöse Veränderungen zu erzeugen. Wirklich
gesehen aber hat Baum gar ten auch in diesen Fall
niemals ein Freibleiben des Peritoneums. Dagegen hält er
es für vollkommen ausgeschlossen, daß das Peritoneum
nach der Infektion mit für die betreffende Tierspezies viru¬
lenten Tuherkelbazillon, hier Perlsuchthazillen für das Ka¬
ninchen, von tuberkulösen Veränderungen freibleiben kann.
So müssen wir nach allen Erfahrungen über
die intraperitoneale Impfung mit virulentem
P e r 1 s u (• h t k u 1 1 u r m a t e rial a m Kaninchen bei uns e-
rem zweimal vakzinierten, dann virulent in¬
fizierten Tiere an eine bedeutend erhöhte Re¬
sistenz gegenüber der voll virulenten Impfung
denken, welche Resistenz eben durch die p r ä v e n-
t i V e Impfung der a n g e d e u t e 1 e n Art erzielt wurde.
Jedoch soll dermalen dieser Versuch weniger dessent¬
wegen angeführt werden, als aus dem anderen Grunde, weil
er mir nämlich geeignet erscheint, einiges Licht auf die
S tß 1 1 u n g der Lungen gegenüber der Tuberkulose-
infektion zu werfen. Schon bevor uns der Tuberkelbazillus
bekannt war, bildete gerade diese Frage den Gegensta.nd zahl¬
reicher Untersuchungen und bildete zugleich einen argen
Streitpunkt. Es ist dieser Widerstreit aucli bis heute nicht
verstummt, flammt vielmehr neuerlich wieder auf. In Kürze
will ich nur auf Cohnheim und anderseits v. Baum¬
garten verweisen, sowie an Worte Orths aus dem Jahre
1887 erinnern. Orth sagte damals: ,, Meines Erachtens wird
hei den Diskussionen über die Phthisiogenese der Lungen
zu wenig Rücksicht darauf genommen, ob die J^imgenerkran-
kung eine primäre oder sekundäre ist. Was ich vorhin für
die Lymphdrüsen festgestellt habe, gilt auch für die Lungen:
aus dem Umfange und dem Grade von Lungenverändenrngen
darf keineswegs ohne weiteres auf ihre primäre Natur ein
Rückschluß gemacht werden.“ Und weiter: ,,Also ebenso¬
wenig wie Darmtuberkulose und Fütterungstuberkulose
sich deckende Begriffe sind, so wenig sind Inhalations¬
tuberkulose und Lungentu])ei'kulose gleichwertige Begriffe.“
V. Behrings späterer Standpunkt macht hievon auch
Gebrauch und sind diesbezügliche Anschauungen auch von
Weichsel 1) a u m und mir vertreten worden. Als ich schlie߬
lich in meinem Vortrag in Stuttgart neuerlich den Stand¬
punkt vertrat, daß die Lunge ein ,,Locus minoris
resi stenti ae“ gegenüher der Tnberkuloiseinfektion sein
müsse, erklärte Orth in seiner Diskussionsbemerkung, daß
er diese Anschauung als eine für den pathologi¬
schen Anatomen geläufige betrachten müsse.
In jüngster Zeit macht sich nun neuerlich Cornet
den Standpunkt Cohnheims zu eigen und unterzieht jede
anderweitige Anschauung einer herben Kritik. Cornet
sagt: ,,Im Zusammenhang mit anderen Schlußfolgerungen
gewinnt das Lokalisationsgesetz eine eminente Be¬
deutung, welche ich nachdrücklichst hervorheben möchte;
denn durch den Nachweis, daß der Tuberkelhazillus, wenn
er in den Körper gelangt, nicht eine freie Bahn ä la Frei¬
karte hat, sondern in seiner Verbreitung an bestimmte Ge¬
setze und Wege gebunden ist, wird allen spekulativen Er¬
wägungen über die menschliche Tuberkulose ein Riegel vor¬
geschoben.“ Auf diese, wie auf andere Kritiken hier des
näheren einzugehen, ist v;ohl nicht möglich und muß
h Diese Versuclistiere wurden gleichfalls demonstriert.
Nr. 6
167
WIKNKR KLINISCHE WüClIENSClIIUET. 1907.
Späteren Aiisfühniiigen vorhehallen hU'ibeii. liier will ic.li
vorderhand nur unseren einen Tierversneli Cornets
Worten entgegenhalten. Es scheint nämlich das eine „vak¬
zinierte“, dann virulent infizierte Kaninchen geeignet, di '
auch von Weichsel hanin nnd mir vertretenen Anschan-
nngen zn stützen, welchen Anschauimgen sich in jüngster
Zeit Koväcs (Budapest) augeschlossen hat. Damit soll
jedoch nicht das L o kalis ations ge s etz für sich
angegriffen werden. Es ist dieses Gesetz ja eine selhsl-
verständliche Folge der Konstruktionsverhältnisse des
menschlichen, wie tierischen Organismus. Angegriffen
werden soll jedoch dessen Anwendung lediglicli
auf spezifisch tuherkulöse Veränderungen. Nach
vielerlei experimentellen kirgehnissen besteht nämlich ein
volles Recht, wenn man außer spezifisch tuberkulösen Ver¬
änderungen im lebenden Organismus je nach der Beschaffen¬
heit desselben, wie seiner einzelnen Teile und nach der Art
der Infektion infolge damit gegebener Verscbiebungen der
Reizschwelle, welche überschritten eben spezifiscb tuber¬
kulöse Veränderungen da oder dort zur Entwicklung ge¬
langen läßt, Veränderungen nicht spezifischer Natur aner¬
kennt, welche vielleicht nur durch Verschiebung des nor¬
malen Zellbildes cbarakterisiert sind, also keinen spezifisch
tuberkulösen Charakter tragen. Zum wenigsten bezüglich
dieses einen angeführten Tierversuches möchte ich Cornets
Kritik als nicht zutreffend bezeichnen.
Wenn wir uns schließlich fragen, wie weit sich Aehn-
liches oder Analoges heim Menschen unter den natürlichen
Verhältnissen ereignen könnte, so müssen wir eben daran
denken, daß nicht jede Tuberkelbazilleninvasion auch eine
manifeste Tuberkulose zur Folge haben muß. Wie künstlich
beim Tiere, könnte sich unter natürlichen Infektionsverhält¬
nissen beim Menschen auch eine mehr minder vollständige,
ja vielleicht auch lokale Immunität entwickeln. Das Auftreten
einer manifesten Tuberkulose infolge einer Reinfektion
ktinnte dann ganz gut Bilder zeitigen, wie wir sie bei unse¬
rem ,, Vakzinationstier“ gesehen haben. Auch mag das Bild
einer so sich entwickelnden Tuberkulose je nach dem Zeit¬
punkt, wann die Reinfektion erfolgte, ein wechselndes sein,
so daß dann das Lokalisationsgesetz, so wie es Cornet
in jedem Falle angewendet wissen will, keinen befriedi¬
genden Aufschluß über die Art und den Gang der Tuber¬
kuloseinfektion zu geben vermag. Freilich sollen erst weitere
Versuche hier eine völlige Klärung anbahnen. Jedenfalls
aber kann ich einen solchen Standpunkt gegenüber Cornet
schon heute nicht mehr für ungerechtfertigt
halten.
Aus der II. med. Abteilung des k. k. Kaiser-Franz-Joseph-
Spitales in Wien.
Septische Erkrankungen bei Verkümmerung des
Granulozytensystems *)
Von Privatdozenl Dr. Willielm Türk, k. k. Primararzt.
Meine Herren ! Ich möchte mir erlauben. Ihnen über
einen Fall von Staphylokokkensepsis zu berichten, der sich
durch einen ganz außergewöhnlichen histologischen Befund
des Blutes und des Knochenmarkes auszeichnete und beider
Befunde halber eine hohe praktische und theoretische Be¬
deutung gewinnen dürfte.
Am 1 7. Dezember 1906 wurde eine 45jährige Hilfs-
arbeilerin in ziemlich benommenem Zustande hoch liehernd
auf meine Spitalsahteilung aufgenommen. Die Vorgeschichte
ihrer Erkrankung war sehr kurz : Die Kranke war stets gesund
gewesen, hatte nie einen Arzt gebraucht. Seit etwa vier Wochen
fühlle sie sich nicht mehr ganz wohl: sie klagte über Stechen
in der rechten Flanke, besonders heim Husten und fühlte sich
überhaupt schwach. Am 1. Dezember wurde sie bettlägerig,
hatte beständig über Frösteln, Kopfschmerz, Appetitlosigkeit und
in den letzten Tagen auch über Diarrhöen zu klagen und magerte
sichtlich ah. Seit einigen Tagen entstanden auch rote Flecken
*) Nach einer in der Wiener Gesellschaft für innere Medizin am
24. Januar 1907 gehaltenen D monslration.
auf der liauchhaul und die Schmerzen in der rechten Flanke
steigerten sich soweit, daß die Kranke ins Spital ging.
Der klinische Befund am 18. Dezember war folgender:
Schwächlicher Körperbau; deutliche Reste von Rachitis an
Schädel und Brustkorb; starke Abmagerung. Hohes Fieber bis
39 6“, deutliche Benommenheit. In der Haut des Bauches, weniger
der Hypochondrien und des Rückens findet sich eine große
Zahl von lebhaft roten, erhabenen, in der Mitte häufig mit einem
Blutpunkt oder einer förmlichen Blulhla.se gezeichneten Infiltraten
im Durchmesser von 3 bis 10 mm, stellenweise zusammen¬
fließend. Sie entsprechen ihrem Aussehen nach septischen Haut¬
embolien. Am Schädel nichts Besonderes, keine meningitischen
Symptome. Schwellung der linken Hälfte der Uherlippe; hei
Druck auf die Schwellung entleert sich aus einer kleinen Oeff-
nung innen eine schmutzighräunliche, trübe Flüssigkeit. An der
Unterlippe rechts ein unregelmäßig begrenztes, mit festhaften¬
dem schmierigen Belage versehenes Geschwür; zwei kleinere
derartige Geschwüre an der Zungenspitze. Zahnfleisch gerötet,
geschwellt, den mittleren unteren Schneidezähnen entsprechend
eine unregelmäßige, weiße, nekrotische Partie. Zähne außer¬
ordentlich schlecht. Weicher Gaumen, Gaumenbögen und Man¬
deln etwas geschwellt und stark entzündlich gerötet, jedoch ohne
Beläge. Am Halse sind beiderseits unter dem Unterkiefer und
am vorderen Rande des Kopfnickens mehrere erhsen- bis hohnen-
große, druckschnierzhafte Drüsen zu tasten. SupraJRavikular und
nuchal finden sich beiderseits ganz kleine, kaum hanfkorngroßo,
unempfindliche Drüsen, etwas größere, erhsen- bis hohnengroße
in beiden Achselhöhlen und Leistenbeugen, die größten von
ihnen empfindlich. Die Milz ist nicht zu tasten, auch per¬
kutorisch kaum vergrößert. Leber nicht geschwellt. Brustheiji,
Rippen und Schienbeine sind auf Druck mäßig schmerzhaft.
An der Basis der rechten Lunge, rückwärts neben der Wirbel¬
säule, findet sich ein etwa handtellergroßer, pneumonischer Herd
mit Bronchialatmen und klingendem Rasseln; sonst ist dei'
Lungenbefund negativ; kein Auswurf. Der Herzspitzenstoß steht
im fünften Interkostalraum, einen Querfinger außerhalb der Ma-
millarlinie, ist verstärkt und verbreitert; die Herzdämpfung ist
nach rechts und nach oben nicht verbreitert. An der Spitze
hört man nach dem deutlichen ersten Tone ein langgezogenes
systolisches Geräusch, der zweite Ton ist überall rein, an der
Fulmonalis nicht merklich verstärkt. Augen-, Ohren- und Geni-
talhefund negativ. Im Harn Spuren von Eiweiß', V'erminderung
der Chloride, keine Diazoreaktion.
Das klinische Bild entsprach also einer Sepsis bei be¬
stehender Insuffizienz der Mitralis, wahrscheinlich also hei frischer
ÄTitralendokarditis.
Ich war nun sehr begierig, das Blutbild zu sehen, um
so mehr, als mir mein Assistent mitteilte, er habe gleich am
17. die Leukozyten zählen wollen, jedoch hei einer Verdünnung
von 1:20 so wenig Leukozyten gefunden, daß er die Zählung
wieder aufgab. Ich nahm also sogleich seihst eine Blutunter¬
suchung vor und diese ergab tatsächlich ein ganz eigenartiges
und unerwartetes Resultat.
Ich fand: Rote Blutkörperchen (R) 5,245.000, Hämoglobin
(Hb) Fleischl -Mi e scher, Verdünnung V4oo:46, also 92h'o der
Norm entsprechend, weiße Blutkörperchen (W) 940 im Kubik¬
millimeter. Es bestand also eine ganz enorme Verminderung
der Leukozyten, das Bemerkenswerteste aber war, daß sich hei
der Durchzählung von sechs großen (Türkschen) Leukozyteji-
zählkammern, also auf einer Fläche von 54 mm“ hei einer
V erdünnung von 1:10 unter 532 weißen Bl u t k ö r p e r c h e n
nicht eine einzige polymorphkernige Zelle vorfand ;
erst in der sechsten Kammer sah ich außerhalb des Zählnetzes
eine einzige derartige Zelle. Mehr als 90% (genauer: 93-5%)
der in den Zählkammern vorhandenen Zellen tragen die Cha¬
raktere von Lymphozyten, nur sind sie zumeist auffällig
blaß gefärbt und etwas größer. Ihnen kommen an Zahl zu¬
nächst (4-4%) größere, einfach- oder gelapptkernige Zollen, die
annähernd, abe^ nicht immer ganz dem Typus der großen mono¬
nukleären Leukozyten entsprechen, an dritter Stelle stehen mit
1-5% Plasmazellen und vereinzelt (0-6%) finden sich ganz
atypische, äußerst große, einkernige Zellen. In den Trocken-
prä paraten sind die Erythrozyten etwas ungleichmäßig in
ihrer Größe, öfters leicht oval oder elliptisch; sie sind kaum
blässer, zeigen keine auffällige Polychromasie, keine Punktie¬
rung; kernhaltige sind nicht zu finden. Blutplättchen kaum
etwas zahlreicher. Bei einer sehr sorgfältigen Durchmusterung
einer ganzen Anzahl von Präparaten — ich saß den ganzen
Nachmittag und die halbe Nacht über ihnen — konnte ich
schließlich im ganzen acht bis zehn polymorphkernige Neutro¬
phile von gewöhnlicher Form des Kernes, nur mit etwas mangel-
158
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1'JÜ7.
Nr. G
Juil'ler üraiiulaliou iiacliwoiseii. Alyeio/ylen, I'.osiiiupliile, MasL-
zelloii f(‘lil('ii vollsläiulig. (lewil.) über 1)0"" aller weißen lllnl-
kürperchen sind liyinpliozyten. \’on ihnen ist aber mir ein
kbdner Teil normal, zeigt gute Färbung des Kernes nnd des
Froto]Rasmas ; mindestens vier Fünftel der Lymiihozyten sind
etwas od('r belräcbllicb vei'größert, ihr Kern ist clironiatin-
ärnier, ihr Zelleib breit, scblecht färbbar. Bei 'Friazid ist der
Kern dieser Zellen sehr blaßi, graublau, das Frotoiilasmn unge¬
färbt, zeigt keine Spur von Körnung. Die schon erwälmten
größei'en, einfach- oder gelapptkernigen ungranulierten Zellen
entsprechen zum Teil<* dem Typus der normalen großen mono¬
nukleären Leukozyten, zuin Teile sind sie etwas abweichend
gestaltet, sehr unregelmäßig begrenzt, hie nnd da vakuolisiert,
schlecht färbbar. Selten findet man eine außerordeidlicb große
Zelle mit verhältnismäßig kleinem, runden Kerne und ungranu-
liertem Protoplasma, einer Endothelzelle ähnlich. Die vorhan¬
denen Plasmazeilen sind von gewöhnlicher Beschaffenheit, nur
hie und da ebenfalls vakuolisiert. xVlle einkernigen Elemente,
besonders die vergrößerten Lymphozyten, sind nicht nur scblecht
färbbar, sondern auch außerordentlich zerreißlich. Eeberall siebt
man auch in sehr dicken Präparaten zertrümmerte ungranu-
lierte Zellen, die man dann nicht immer mehr näher einreiben
kann. Zerrissene Granulozyten sind nirgends zu sehen. Der
zahlreichen Zelltrümmer wegen habe ich eine Differenzialzäblung
im Trockenpräparat unterlassen.
13(0' K ran k h e i t s v e r 1 a u f war folgender : A m 1 9. De¬
zember Fieber bis 400'’, Allgemeinbefinden schlechter, Ifaut-
infiltrale größer und mit größeren zentralen Blutungen; die Milz
reicht fast bis zum Rippenbogen ; Binstbein, Rippen und Schien¬
beine mäßig schmerzhaft, Tonsillen mit einem dicken, opaken,
weißen Belage versehen, Drüsen unverändert. Am 20. Dezember
gleicbbohes Fieber, stärkere Benommenheit, Herzkraft geringer,
der physikalische Befund unverändert; um Vä4 Uhr nachmittags
tritt unter zunehmender Herzschwäche der Tod ein.
Inzwischen waren nocli verschiedene Untersuchungen durch¬
geführt worden. Die gleich anfangs voi'bereitete Widalsche
Reaktion war bei Verdünnung von 1:20 und 1:50 positiv.
Einer Blulblase inmitten eines embolischen Herdes der Baueb-
haut war aseptisch Inhalt entnommen und dieser bakteriologisch
untersucht worden. Im Deckglas und auf der Platte fand sich
völlig rein Staphylococcus pyogenes aureus. Auch eine
Vemmpnnktion war zwecks bakteriologischer Blutuntersuclnmg
gemacht worden; die Platten bliehen steril. Am 20. Dezember
nahm ich mittags noch eine Blutuntersuchung vor. Ich fand
eine Leukozytenzahl von 1950; in zwei Leukozytenzäblkammern
fand sich unter 359 weißen Blutkörperchen eine polymorph¬
kernige Zelle. Die Differenzialzählung in den Zählkammern er-
gal) folgende Verhältniswerte: Normale und vergrößerte Lym¬
phozyten zusammen 9()T"'o; große mononukleäre Leukozyten
2-23T" ; Plasmazellen 0 55""; ganz atypische große, einkernige
Zellen (s. o.) 0-84 "/"; polymorphkernige Zellen 0-28"o. DieTrocken-
präparate wiesen genau das gleiche Bild auf wie bei der ersten
Untersuchung, nur entdeckte ich nach langem Suchen auch einen
Normoblasten.
Nach diesen Befunden war die Deutung des Falles
keine so einfache Sache mehr. Eine Staphylokokkensepsis
hesland jedenfalls; es fragte sich aber, oh sie die einzige
und primäre Krankheit sei, oder ob sie sekundär zu einem
anderen Krankheitsprozesse hinzugetreten war. Naturgemäß
konnte zur Beantwortung dieser Frage nur der Blutbefund
herangezogen werden, der auch allein ihre Aufrollung be¬
dingt hatte. Und dieser Befund war gekennzeichnet durch
das beinahe vollkommene Verschwinden der Neutrophilen,
das v(’3llige Fehlen von Eosinophilen und Mastzellen, bei
vielfach pathologischer Beschaffenheit der an sich nicht
vermehrten, aber beinahe allein im Blute kreisenden Lympho¬
zyten und verwandter ungranulierter Zellformen.
Wii' wissen ja längst, daß nicht nur der Typhus, die
Miliarluherkulose, die Malaria und die Masern regelmäßig
mit einer Leukozytenverminderung im Blute einhergehen,
sondern daß auch andere Infektionen, insbesondere septi¬
sche Erkrankungen in seltenen Fällen eine Leukopenie auf¬
weisen. Selbst die extreme Leukozytenverminderung in
unserem Falle wäre also kein Grund gewesen, an etwas Be¬
sonderes zu denken, wenn nicht der fast völlige Granulo¬
zytenschwund den bisherigen Beobachtungen bei infektiösen
Leukopenien widersprochen hätte ; auch bei diesen letzteren
ist ja der Verhältniswert der Neutrophilen oftmals herab-
gesetzl, hie und da selbsl bis auf 30 oder lO'Vo ; aber zu
einem so völligen Schwunde kommt es nicht. Ein so hoch¬
gradiger Granulozytenschwund ist bisher nur einige Male
hei akuten Lymphomatösen (mit und ohne Iwndvopenie) be-
obachtel worden. Ueber einen Fall mit völligem Fehlen
granulierter Zellen bei extremer Leukopenie berichtete in
dieser Gesellschatt E. Schwarz am 23. .luni 1004. Ein
neunjähriges Kind hatte anscheinend einen Nierenahszeß ge¬
habt, dessen Eiter durch den Harn entleert wurde und
Bacterium coli enthielt. Später traten Drüsenschwellungen
und Stomatitis auf und das Kind ging rasch zugrunde. Einige
Tage vor dem Tode untersuch! e Schwarz das Blut und fand
nur 600 Leukozyten u. zw. ausschließlich Lymphozyten;
granulierte Zellen komden weder in der Zählkammer, noch
in den Trockenpräparaten nachgewiesen werden. Eine Ob¬
duktion wurde nicht gemacht, der Falt hlieh also unauf¬
geklärt. Schwarz war geneigt, ,,das totale Versagen der
Knochenmarkkomponente auf eine Wucherung des lympha¬
tischen Apparates zurückzu führen“, also eine LymphomatoS'O
anzunehmen, hielt aber auch die Möglichkeit nicht für aus¬
geschlossen, daß ein ganz ungewöhnlich hoher Grad negativ-
chemotaktischer Einwirkung durch Bacterium coli diesen
Befund erzeugt habe. Ich selbst schloß mich damals der
Meinung an, daß eine alym[diämische Lymphomatöse vor¬
liege und hatte kurze Zeit danach Gelegenheit, einen mit
Arsen bis zum Eintreten und halbjährigen Forthestande von
Leukopenie behandelten Fall von typischer myeloider Leu¬
kämie zu sehen, hei dem sich terminal eine akute Lympho¬
matöse mit extremer Leukofienie entwickelte, wobei die
Granulozyten schließlich ehenfalls bis auf 6% vermindert
waren und auch im Knochenmarke der Granulozytenapparat
bis auf ganz vereinzelte Myelozyten völlig durch lymphoide
Wucherung verdrängt war.*) Schon früher hatte ich bei
zwei Fällen akuter alymphämischer Lymphomatösen eine
sehr starke, aber doch nicht so extreme Verminderung der
Granulozyten hei bestehender Leukopenie beobachtet.
Da also bisher lymiVlioide Wucherur g im Kno.hznmark
als das einzige anatomische Substrat für eine vollkommene
\'erdrängung des Granulozylenhitdungssystenies bekannt war
und auch der Fall Schwarz eine solche Deutung zuließ, war
ich im jetzigen Falle um so mehr geneigt, an eine alymphä-
misclie Lymphomatöse als Grundkrankheit, auf welche
sekundär eine Staphylokokkensepsis aufgepfropft wurde, zu
denken, da auch die Lymphozyten morphologisch nicht
normal waren, sondern zumeist jene Veränderungen zeigten,
welche regelmäßig bei lymphomatösen Wucherungen beob¬
achtet werden : Vergrößerung, schlechte Färbbarkeit und
enorme Zerreißlichkeit der Zellen. Eine weitere Stütze fand
diese Annahme in dem Auftreten einer nekrotisierenden
Gingivitis und Stomatitis, einer rasch fortschreitenden Ton¬
sillitis und der bestehenden Knochenschmerzhaftigkeit. Daß
die Drüsenschwellungen ganz minimal waren, konnte dieser
Annahme nicht widerstreiten, da ein solcher Befund gerade
bei akuten Lymphomatösen nicht selten ist. Zu einer völlig
sicheren Diagnose konnte ich mich aber doch nicht ent¬
schließen, da insbesondere die positiv ausgefallene Grube r-
Wi dal sehe Reaktion aiudi an die Möglichkeit zu denken
zwang, daß die Sepsis sich zu einem uncharakteristisch ver¬
laufenen Typhus gesellt habe und daß beide schweren In¬
fektionen zusammen dieses ungewöhnliche Blutbild erzeugt
haben. Ich glaubte zwar an einen Typhus nicht, aber dei’
erwähnte Gedankengang veranlaßte mich doch, zu den in die
klinische Diagnose außer der Staphylokokkensepsis aufge-
nommenen Worten ,, akute alymphämische Lymphomatöse“
ein Fragezeichen zu setzen.
Die am 21. Dezember von Dr. Helly vorgenommone
Sektion ergab nun zunächst das Bestehen einer Sepsis.
Anscheinend im Verlaufe einer von den Tonsillen aus¬
gehenden Allgemeininfektion war auf der von früher her
leicht insuffizienten Mitralis eine frische Endokarditis ent¬
standen. Aus dem steril entnommenen Herzblut ging eine
*) Siehe Verhandlungen des ,23. Kongrrß für innere Medizin in
München 1906,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
169
Nr. 6
einzige Kolonie von Stapliylocoecus pyogenes aureus auf.
Ini Unterlappen der rechten Lunge fand sich ein emholischer
Eiterherd mit entzündlicher Infiltration der Umgebung; die
iMilz war ganz mäßig vergrößert, die Ürüsenschwellungen
waren geringgradig und sahen makroskopisch wie rein ent¬
zündlich aus. Thymus klein, fettig. Das Knochenmark eines
Oberschenkels, Schienbeines und Oberarmknochens war bis
auf eine einzige erbsengroße Hämorrhagie und einige
schwach rötlich schimmernde Flecken ein ganz gewöhnliches
k'ettmark, das Mark des Brustbeines sah wie ein normales
rotes Mark aus. Von Typhus keine Spur. Die makroskopisch-
anatomische Untersuchung ergab also keinerlei Anhalts¬
punkte für das Bestehen einer primären Lymphomatöse und
ließ auch wenig Wahrscheinlichkeit für einen derartigen
mikroskopischen Befund mehr bestehen.
Die mikroskopische Untersuchung sämtlicher blut-
zellenhildenden Organe, über deren Einzelheiten Ihnen Herr
Dr. Hel ly sogleich berichten wird, hat ergehen, daß tat¬
sächlich nirgends eine lymphoide Wucherung im Sinne einer
Lymphomatöse besteht. Die Lyrnphdrüsen zeigen einen
durchaus normalen Aufbau, in der Milz liegt keine lym¬
phoide Infiltration vor. Das Knochenmark aber bietet einen
ganz eigenartigen Befund. Zunächst ist die Architektur des
i'oten Markes im Sternum und in den winzigen roten An¬
teilen des Röhrenknochenmarkes tadellos erhalten, eine In¬
filtration '"oder eine Zellwucherung irgendwelcher Art liegt
nicht vor. Die Markbälkchen zwischen den rundlichen
Fettzellengruppen erscheinen vielmehr geradezu
dürftig, und vor allem fällt die geringe Zahl von
Leukozyten in ihnen auf, während der Erythro¬
zyt e n h i 1 d u n g s a p) p a r a t ziemlich n o r m a 1 e n t-
wi ekelt ist. Das Bemerkenswerteste aber ist, daß die
zwischen den Erythrozyten und Erythrohlasten eingelagerten
nicht eben reichlichen weißen Zellen geradezu aus¬
schließlich nur — Lymphozyten und Plasmazellen sind;
nach einer neutrophilen Zelle muß man recht lange suchen
und diese spärlichen Myelozyten liegen stets nur einzeln,
während die Lymphozyten und Plasmazellen auch kleine
0 nippen und Verbände bilden. Aber auch sie erzeugen keine
,, Infiltration“, verdrängen auch keinen anderen Oewebsteil,
scheinen vielmehr nur in einer den Baum kaum füllenden
Zahl an die Stelle der geschwundenen Granulozyten getreten
zu sein. Eosinophile Zelleji sind erst nach langem Suchen
vereinzelt zu finden, Mastzellen fehlen.
Das ist, meine Herren, ein Knochemnarkshild, welches
trotz des Umstandes, daß Lymphozyten und Plasmazellen
beinahe die einzigen Vertreter der Leukozyten in ihm dar¬
stellen, doch von dem Bilde der lymphomatösen Infiltration
des Markes ebensoweit entfernt ist wie von jenem Bilde,
das man sonst bei den mit Leukopenie einhergehenden
Infektionskrankheiten, also z. B. beim Abdominaltyphus, zu
sehen bekommt. Im ersteren Falle liegt eine rücksichtslose
Wucherung lymphoider Eleinente vor, die alle anderen Zell¬
formen förmlich erdrück! ; die Zellen sind dicht gedrängt,
die Zellbalken verbreitert, die Fettläppchen verkleinert oder
stellenweise ganz verschwunden. Im letzteren Falle werden
ja allerdings auch Lymphozyten und ihnen ähnliche Zell-
fornien in vermehrter Anzahl heohachtet, dabei ist aber der
Granulozytenapparat in keiner Weise verkümmert, sondern
gut entwickelt und funktionstüchtig.
Von keinem dieser beiden Bilder kann in unserem
b alle die Rede sein ; es handelt sich e i n f a c h u m
einen IM angel an Granulozyten, den spezifischen
weißen Elementen des Markgewebes, und an ihre Stelle
sind förmlich vikariierend vermehrte Lympho¬
zyten und PI a s m a z e 1 1 e n getreten.
Dieser Knochenmark bef und steht meines
Wissens bisher ohne jede Analogie da und darf
daher auch nur mit Vorsicht gedeutet werden. Wenn ich
aber Blutl)ild und Knochenmarkbefund Zusammenhalte, so
drängt sich mir immer wieder zwingend der Gedanke auf,
daß hier nur deshalb so außerordentlich wenige Granulo¬
zyten im Blute zu finden waren, weil von vornherein,
d. h. schon vor dem Auftreten der tödlichen Krankheit,
ein verkümmerter und mangelhaft fnnktions-
fähiger, also ein hypoplastischer Granulozytenappa¬
rat bestand. Aus diesem Grunde konnte die Kranke auf
die Infektion nicht mit der üblichen Leukozytose reagieren,
die Leistungsfähigkeit des Markes war rasch erschöpft, so
sehr erschöpft, daß schließlich kaum mehr vereinzelte Myelo¬
zyten im Gewebe übrig blieben und im Blute nur mehr
mit Mühe ein paar Neutrophiie gefunden werden konnten.
Daß ein solches Ergebnis bei einem vorher normal funk¬
tionierenden Knochenmarke durch die septische Infektion
allein hervorgebracht worderi sei, ist nach dem histologischen
Bilde des Markes nicht anzunehmen; wir würden dann
hier schwere Degeneration und Entdifferenzierung des Gra¬
nulozytensystems, nicht aber einen spurlosen Ausfall zu
erwarten haben. Leider fehlt aber in der logischen Kette
meiner Schlußfolgerungen ein letztes Glied: die Kenntnis
des Blutbildes unserer Patientin vor Beginn ihrer septi¬
schen Erkrankung! Ich meine ja nicht, daß sie in gesunden
Tagen auch beinahe gar keine Granulozyten gehabt habe;
aber ich stelle mir vor, daß ihr Granulozytenapparat so
kümmerlich funktionierte, daß die von ihm gelieferte Zell¬
menge (vielleicht schon jetzt hei werktätiger Unterstützung
durch vermehrte Lymphozyten) zwar ausreichte, die Be¬
dürfnisse des von keiner wesentlichen Schädigung betrof¬
fenen Organismus zu befriedigen, daß er aber absolut außer¬
stande war, eine energische Reaktion einzuleiten, als eine
schwere Infektion eintrat; bei diesem Anlaß wurde viel¬
mehr sein ohnehin sehr kümmerlicher Bestand vollends
aufgezehrt. Auch jetzt, meine ich, traten wohl die schon
früher lebhaft tätigen Lymphozyten für das versagende
Schwestergewehe als ein allerdings minderwertiger Ersatz
in die Bresche und erlithm im Kampfe dann jene oben
beschriebenen, morphologischen Veränderungen, welche
wohl den auch an den Neutrophilen im Verlaufe von In¬
fektionskrankheiten zu beobachtenden Anomalien an die
Seite zu stellen sind, über die Arneth in den letzten
Jahren so ühermäßig vieles geschrieben hat. '
Ich bin überzeugt, daß mein Fall durchaus nicht allein
sieht, sondern daß es ähnliche Bilder, wenn auch nicht
stets von gleich hoher Fntwicklung, nicht gar so selten
gehen mag: Leute, bei denen aus irgendeinem Grunde der
Granulozytenapparat mangelhaft entwickelt oder verküm¬
mert ist und deren Knochenmark dementsprechend bei er¬
höhtem Granulozytenhedarf des Blutes mehr oder minder
vollkommen versagt. Insbesondere wäre ich geneigt, daran
zu denken, daß die Fälle von sogenanntem Status lym-
phaticus, der sich anscheinend besonders häufig im An¬
schluß an Rachitis entwickelt, in die Kategorie von Men¬
schen mit minderwertigem Grannlozytensystem gehören
und es wäre nicht unmöglich, daß der Ausfall einer aus¬
reichenden Granulozytenlieferung für das Blut hei Infek-
lionskrankheiten einer der Gründe dafür ist, daß solche
Leute verhältnismäßig leichten Infektionen so wenig Wider¬
stand entgegenzusetzen vermögen und ihnen so leicht er¬
liegen. Aber das ist bislang reine hypothetische Spekulation!
Ich glaube auch, daß ich selbst vor wenigen Monaten
bereits einen Krankheitsfall heobachtete, der in diese Gruppe
gehört und den ich erst jetzt nach dem Ergehnis der histo¬
logischen Untersuchung des besprochenen Falles richtig zu
deuten vermag, während ich ihn damals in offenkundig
irriger Weise als eine akute sublyrnphämische Lympho¬
matöse mit Sekundärinfektion auffaßte. Ich bitte, mir noch
zu gestatten, daß ich Ihnen auch über diesen hochinter¬
essanten Fall in großen Zügen berichte.
Am 27. September 1906 wurde ich zu einem etwa 20-
jährigen Manne gerufen, der eben vom luuide in die Stadt zu-
rückgekehi't war und nach seinen ganz verläßlichen Angaben
bereits seit zwölf Tagen an einer heftigen Italscmtznudung litt.
Er hatte die ganze Zeit hindurch unregelmäßiges Fieber mit
Anstiegen bis zu 40” C und zeitweiligen Schweißausbrüchen.
Dahei waren eigentlich die lokalen Be.schwerden gering, dei'
Kranke war sehr aufgeräumt, nahm die Erkrankung selir leiclil,
da er schon wieitinJintt an Italsentzündnngen mit Ahszedi('rnng
WIKNEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 6
'bU
geliUen hatle, suli aber doch nach der Aussage seiner MuLler
wesen! lieh schlechter ans als vorher. Der Arzt, welcher den
Kranken vorher auf dein Lande behandelt hatte, war durch
die Hartnäckigkeit der Angina uinl durch die Hölie nnd lange
Dauer des Fiebers beunruhigt und stellte bei genauerer Unter¬
suchung auch eine Schwellung der Milz fest. Er sagte dann
dein Kranken, daß er glaube, es- sei ein typhöses Fieber dabei
und gal) wegen gleichzeitiger Verstopfung eine Dosis Kalomel.
Offenbar hatte er also wirklich die Meinung, daß die Angina
nur Begleiterin eines Typhus sei. Ich fand den Kranken, wie
gesagt, bei guter Laune; er war kräftig gebaut und gut genährt.
Fieber über 38'’. Starke Schwellung und mäßige Zerklüftung
beider Tonsillen; in beiden sind mehrfach lakunäre Pfropfe
zu sehen ; kein Anzeichen für Abszedierung. Es bestehen beider¬
seits am Halse Drüsenschwellungen: etwa haselnußgroße
schmerzhafte Drüsen beiderseits unter dem Unterkiefer und am
vorderen Rande des Kopfnickers, kleinere gegen das Kinn zu
nach vorne ; ganz kleine Drüsen über dem rechten Warzen-
fortsatzc, linsengroße beiderseits nuchal, bis erbsengroße supra¬
klavikulär; die rechtseitigen sind etwas größer und auf Druck
empfindlich. In Achselhöhlen und Ellenbeugen sind gleichfalls
kleine, hanfkorn- bis erbsengroße Drüsen, etwas deutlichere,
ziemlich derbe, schmerzlose, meist linsen- bis erbsengroße Drüsen
sind in beiden Leistenbeugen zu tasten. Die Milz ist beträcht¬
lich vei-größerl, ihr Pol ist breit, recht derb, steht gut tastbar
V-» bis 1 Querfinger unterhalb des Rippenbogens; der vordere
Rand steht zwischen vorderer Axillar- und Mamillarlinie und
ist auf Druck etwas empfindlich. Brustbein, Rippen und Schien¬
beine sind nicht druckschmerzhaft. Lungen- und Herzbefund
negativ. Harn eiweißfrei.
Daß es sich nicht um eine einfache lakunäre Angina handle,
war hienach wohl allsogleich klar; ich dachte auch nicht an
('inen komplizierenden Typhus, nahm vielmehr eine Allgemein¬
infektion von den Tonsillen aus, eine wahrscheinlich nicht sehr
schwere Bakteriämie an. Ich hatte aber auch, gestützt auf
frühere Erfahiamgen, schon bei der ersten Untersuchung an die
Möglichkeit einer klinisch uncharakteristischen Lymphomatöse mit
sekundärer Infektion an den Tonsillen gedacht. Immerhin war
dieser Gedanke durch die erstangeführte Annahme wieder ganz
in den Hintergrund gedrängt worden. Beim nächsten Besuche
am 29. September nahm ich mir aber doch, um mich sicher¬
zustellen, meinen Blutzählapparat mit. Das Fieber war bestehen
geblieben, auf den Tonsillen fanden sich zahlreichere Pfröpfe
und auch größere, leicht abstreifbare Beläge; keine Abszedierung.
Der übrige Befund war unverändert. Ich machte mir auch Ab¬
striche von einem am unteren Ende der linken Tonsille haften¬
den glasig-zähen Exsudatpfropfe.
.Als ich nun daheim das Leukozytenzählpräparat ansah,
erschrak ich wirklich über das vorliegende Bild. Anstatt der
sicher erwarteten neutrophilen Leukozytose fand ich allerdings
('ine Leukozytenvermehrung auf 16.700, aber ausschließlich her¬
vorgebracht durch Lymphozyten und größere, blaß färbbare, ein¬
kernige oder plump - gelapptkernige Zellen, welche schon nach
(h'in xVussohen in der Zählkammer bis auf drei oder vier, die
.Myelozyten sein konnten, gewiß keine Granulozyten waren. Ich
fand in der Kammer nui' 14-91 A'o polymori)hkernige Neutrophile
(das sind 2500 im nvnU), 0-27”/o Mastzellen, dagegen 84-82Vo
Lymphozyten und größere einkernige Elemente. Die nach
.Icnner, Leishman und Giemsa gefärbten Trockenpräpar.ate
('rgaben tatsächlich, daß die Granulozyten gegenühei' den un-
granulierlen einfach- und gelapptkernigen Zellen weitaus in der
Minderzahl waren; ihr AVer! schwankt in den verschi(‘denen
Prä|)aralen bei Durchmusterung von 500 bis 1000 Zollen zwischen
1LO°o Tind 17-8, 3^/0. Die Neutrophilen zeigen dabei nur zu einem
kleinen Teile plumiigeformte Kerne, wie das bei Infoklionskrank-
lu'iU'ii üblich ist und ganz vereinzelt finden sich ueTdrophile
Alyelozytc'ii — alle übrigen Elemente aber sind ungranuliert
u. zw. entfallen unter ihnen auf die normalen Lymphozyten
und großen mononukleären Leukozyten nur geringe Prozent¬
zahlen, während die- Hauptmasse pathologische Eigenschaften
z('igt. al)er den Lymphozytentypus noch immer erkennen läßt.
Die Zellen sind in verschiedenem Grad(‘ vergrößert: etwas kleiner,
('Ix'iiso groß oder sogar größer als die polymorphkernigen Neu-
lr()])hilen; ihr Kern ist chromalinreicher als jener dei' normahm
großen mononnkleären Leukozyten, schärfer abgegrenzt, rund¬
lich Oller nierc'nförmig oih'i' mit einem tieferen hilusartigen Ein¬
schnitt versehen nnd zeigt geradezu ausnahmslos die Chronri-
linslniklnr eiiu's gewöhnlichen Lymi)hozyten. Das Protoplasma
ist nu'ist ziendich breit, bei den kleineren etwas schwächer
b(‘i den größ<'ren auffülHg gut mit Alethyleidilan färbbar, so stark'
daß man bei mancher Z(*lle im Zweifel ist, ob sie nicht schon'
den Plasmazellen zugezählt werden solle. Endlich finden sich
in mäßiger Prozentzahl typische Plasmazellen („Reizungsformen“)
der verschiedensten Größe. Bemerkenswert ist auch hier die
enorme Zerreißlichkeit der Zellen: auch in ganz dicken Prä¬
paraten finden sich Zelltrümmer von ungranulierten Zellen in
beträchtlicher Zahl, während von Granulozyten nur an dünnen
Stellen vereinzelte Exemplare zerrissen, aber als Granulozyten
immer wieder leicht ei kennbar sind. Ich gebe zur genauci’en
Kennzeichnung der Einzelbefunde das Zählresidtat eines recht
dickgestrichenen Jeimerpräparates, in welchem ich lOüU Leu¬
kozyten durchmusterte, wieder:
Polymorphkernige Neutrophile
Neutrophile Myelozyten . . . .
Eosinophile (polymorphkernige) .
Mastzellen .
15-3'’/o'
0'2®/o zusammen 15'8''/ii
0'l®/o[ Granulozyten
0-27„
Normal aussehende Lymphozyten .
Vergrößerte und atypische Lymphozyten
Große mononukleäre Leukozyten
Plasmazellen .
Trümmer ungranulierter Leukozyten
6 -270
62-77o
ri7o
l-97o
12-37uJ
zusammen 84'27o
einkernige ungra-
nulierte Zellen.
Ich färbte jetzt auch einen Exsudatabstrich mit
Methylenblau und einen nach Giemsa. und auch im Exsudate
fand ich das gleiche überraschende Bild wie im Blute. Eiter¬
zellen muß man direkt suchön, es sind nur ganz wenige vor¬
handen, in großen Verbänden dagegen und auch verstreut in
großer Zahl finden sich typische Lymphozyten verschiedener
Größe, Zellen vom Charakter der großen Lymphozyten, mit
blassem Kern und schmalem, stark basopl ilein Protoplasma, end¬
lich ganz große blasse Zellen mit rundem oder plump gelapptem
Kern und breitem, wenig färbbarem Protoplasma. Ein nach
Gram gefärbtes Präparat der gleichen Herkunft zeigt Massen
von Gram-festen Kokken, in Häufchen, zu Paaren und in
Ketten.
Nach diesen mikroskopischen Befunden war ich )iun ge¬
zwungen, meine fiäiher gestellte Diagnose umzustürzen; ich mußte
nach dem bisherigen Stande unseres AVissens eine akute sub-
ly mp hämische Lymphomatöse, mit anderen Worten ('ine
akute lympoide Leukämie mit dermalen wenig entwickeltem
Blutbilde diagnostizieren, zu welcher sekundär eine von den
Tonsillen ausgehende Kokkeninfektion, wie so häufig, getreten
war. Der schon am ersten Tage vorübergehend gehegte, dann
aber wieder unterdrückte Verdacht wurde nun zur ganz posi¬
tiven Ueberzeugung verstärkt. Denn man kannte bisher außer
den erwähnten Formen der Lymphomatösen keine Erkrankung,
welche ein derartiges Blutbild gäbe, was Zahl der Lymphozyten
sowohl als insbesondere deren morphologische Verhältnisse be¬
trifft. Der klinische Befund war zwar nicht so, daß er an sich
eine solche Diagnose nahegelegt hätte, aber er widersprach auch
nicht der durch das Blutbild und den Zellbefund des Exsudates
im Rachen scheinbar festbegründeten Annahme.
Als ich am 1. Oktober den Kranken wieder sah, war
der Zustand deutlich verschlechtert. Temperatur 39-3’’. Tonsillen
stärker geschwellt, berühren fast die Uvula; Pfröpfe und Beläge
jedenfalls nicht geringer; keine Abszeßbildung. Die Drüsen-
schwellimgen sind im Gleichen, die .Milz aber ist entschieden
gewachsen, ihr Pol steht volle zwei Querfinger unterhalb des
Rippenbogens, ihr innerer Rand in der verlängerteji Mamillar¬
linie. Auch die Leber erscheint jetzt etwas geschwellt, sehr
weich. Knochen nirgends druckschmerzhaft. Dabei aber ist der
Puls nur wenig beschleunigt, das xAllgemeinbefinden ein ziem¬
lich gutes.
Durch diese A'^erschlimmeruiig wurde ich in meiner Dia¬
gnose noch wesentlich bestärkt und ich fühlte niich vert)flicbt('l,
eine Schwester und später den Bruder des Kranken über die
nach fester Ueberzeugung gestellte Diagnose zu informieren und
ihnen die vollkommen trostlose Prognose zu eröffnen. Das batli'
aber zur Folge, daß man meine Behandlung nicht weiti'r
wünscht(' und einen anderen Ai'zt rief. Ich sah seither den
Kranken nicht mehr, war aber nach einigen AA'ochen sehr über¬
rascht, als ich hörte, daß sich der Zustand dos Kranken anßei'-
ordentlich gebessert babe, daß im A^erlaufe von 10 bis 14 Tagen
Angina und Fieber zurückgegangen seien nnd daß der Kranke
jetzt zwar etwas blaß aussehe und noch eine geringe Milz¬
schwellung habe, sich aber gesund fühle. Und seither hat er
sich, wie ich später in Erfahrung brachte, vollkommen erholt,
die Milzschwellung ist zurückgegangen, der Patieid sieht auch
wieder gesund aus wie früher.
Ich konnte mir das alles absolut nicht erklären und
hat einen mir hefreundeh'n Kollegen, der den Kranken zwar
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
nicht behandelt, aber Gelegenheit hat, ihn hie und da zu
sehen und von dein ich im wesentlichen die spcäteren Nach¬
richten erhielt, mir, wenn möglich, ein Blutpräparat von
dem Kranken zur Verfügung zu stellen. Durch die Liebens¬
würdigkeit dieses Kollegen kmn ich in die Lage, noch zwei-
mnl Bluttrockenpräparate von dem Kranken zu sehen und
zwar vom 24. Oktober 1906, also kaum zwei Wochen nach
Ablauf der akuten Erscheinungen und vom 12. .Januar
dieses Jahres. Beide Male ist die Leukozytenzahl schätzungs¬
weise eher etwas niedrig, höchstens normal; beide Male
sind die Lymphozyten noch bedeutend prozentual ver¬
mehrt, in ihrer Morphologie jedoch, abgesehen davon, daß
namentlich das zweitemal ein Teil etwas größer erscheint,
nicht mehr pathologisch. Ich zählte am 24. Oktober 1906:
Polymorphkernige Neutrophile 376No, Eosinophile l-2°/o,
Mastzellen 0-4 No, Lymphozyten 56-4 No, große mononukleäre
Leukozyten 3-6No und Plasmazellen 0 8No; am 12. Januar
dieses Jahres: Polymorphkernige Neulrophile 43-2No, Eosino¬
phile 2-2 No, Mastzellen 0-2 No, Lymphozyten 48-2 No und
große mononukleäre Leukozyten 6^2 No.
Dieser Fall findet, da er ja doch nach seinem Aus¬
gang und dem jetzigen Befunde unmöglich mehr als eine
sublymphämische Lymphomatöse aufgefaßt werden kann,
in der Literatur meines Wissens überhaupt keine Analogie
und ich konnte ihn auch insolange nicht deuten, als ich
nicht den heute zuerst besprochenen Fall und seinen ana¬
tomischen Befund gesehen hatte. Jetzt allerdings ist er
mir erklärlich, ja geradezu klar: auch hier handelte es
sich offenbar bei einer mangelhaften Reaktionsfähigkeit des
Granulozytenapparates um eine schwere Reizung und in¬
fektiös-toxische Schädigung des an seiner Statt förmlich
in die Lücke tretenden Lymphozytenapparates durch eine
von den Tonsillen ausgehende Kokkenallgemeiuinfektion. Da-
bei muß man annehmen, daß hier die Verkümmerung des
Granulozytenapparates einen wesentlich geringeren Grad als
in dem erstl)esprochenen Falle erreicht hat, da er ja immer
noch imstande war, auf der Höhe der Krankheit 2500 Neutro¬
phile pro mm^ Blut in die Zirkulation zu ■ entsenden. Wäre
die Allgemeininfektion eine einigermaßen schwerere ge¬
wesen, so wäre wohl auch hier der ohnehin nur durch
Mobilisierung des letzten Aufgebotes (der Lymphozyten¬
reihe) in einem ganz außergewöhnlich langwierigen und
lange Zeit hindurch uneu (schieden geführten Kampfe end¬
lich siegreich durchgeführte Widerstand des Organismus
gebrochen worden. Eine andere Deutung des Falles er¬
scheint mir heute nicht zulässig; vielleicht kann er uns
aber zu Gedanken darüber anregen, auf welche Weise die
ätiologisch und pathogenetisch noch unklaren, akuten
Lymphomatösen überhaupt entstehen.
Die beiden besprochenen Fälle scheinen mir sowohl
in diagnostischer Hinsicht als in bezug auf die prognostische
Beurteilung infektiöser Erkrankungen ein großes Interesse
zu verdienen. Erstens lernen wir aus ihnen, daß Blutbilder,
welche man bisher ausschließlich auf eine spezifische Wu¬
cherung des lymphatischen Apparates zurückgeführt hal,
ausnahmsweise auch ohne eine solche Wucherung durch
Infektionskrankheiten dann erzeugt werden können, wenn
der Granulozytenapparat einseitig seine Reaktionsfähigkeit
mehr oder minder vollkommen eingebüßt hat, offenbar des¬
halb, weil er sich von früher her in einem Zustand der
Verkümmerung oder Hypoplasie verschiedenen Grades be¬
laud. Bei den höchsten Graden dieser Verkümmerung (siehe
tall 1 und Fall Schwarz) kann es zu einem geradezu
oder beinahe völligen Verschwinden der Granulozyten aus
dem Blute, dem Knochenmark, dem Organismus überhaupt
kommen; bei den mitideren Graden sind zwar Granidozyten
im Blute leicht zu finden, aber ihre Bildungsstätten sind
außerstande, irgendeine Mehrleistung gegenüber der Norm
aulzubringen oder auch nur die normale Tjeistung aufrecht
zu erhalten. In beiden Fällen scheint der lymphatische
Apparat, soweit er es vermag, für sein funktionell ver¬
sagendes Schwestergewebe in die Bresche zu treten und
es finden sich dann in vers(dii('dener Zahl auch palholo-
gische, teils unreife, teils durch die krankmachende Schäd¬
lichkeit veränderte I^ymi)hozytenformen im strömenden
Blute. Warum eine absolute Vermehrung der J^ymphozyten
einmal vorhanden ist, ein anderes Mal fehlt, kann ich bis¬
her nicht aufklären.
In jedem Falle bedeutet ein mangelhaft reaktionsfähiger,
verkümmerter Granulozytenapparat eine große Schwäche d('s
Organismus, denn daß die Granulozyten bei der Bekäm¬
pfung der überwiegenden Mehrzahl der den Organismus
treffenden chemischen und infektiösen Schädlichkeiten eine
ausschlaggebende Rolle siiielcn, unterliegt wohl, keinem
Zweifel mehr. Eine Infektion, die ein normaler Organis¬
mus mit Leichtigkeit überstellt, kann für einen solchen
Kranken einen Kampf auf Leben und Tod oder direkt die
Katastrophe bedeuten.
Es ist seit langen Jahren immer wieder darauf hin¬
gewiesen worden, daß Leu.kopenie bei solchen Erkrankungen,
welche regelmäßig mit einer neutrophilen Leukozytose ein¬
hergehen (z. B. Pneumonie, Sepsis) eine besonders schlechte
Prognose bedeute. Es scheint mir naheliegend, daß gewiß
ein Teil dieser Fälle in das heute besprochene Gebiet ge¬
hört; doch wird strenge Kritik des Blutbildes und stets
eine genaue Aufnahme des liistologischen Befundes aller
Blutzellen bildenden Organe notwendig sein, um die an¬
geregte Frage exakt zu lösen; schematisch wird man da
nicht Vorgehen dürfen. Weiters habe ich die Meinung, daß
die enorm verminderte Widerstandskraft der Fälle von so¬
genanntem Status lyrnphaticus der Flauptsache nach oder
doch zum Teile auf eine Vcrkünunerung des Granulozyten¬
apparates zurückzuführen sein dürfte ; dafür spricht mir
auch der Umstand, daß diesen Habitus besonders häufig
Rachitiker zeigen und daß die Rachitis nach allen Er¬
fahrungen eine nicht zu unterschätzende Schädigung des
funktionierenden Markgewebes bedeutet.
Ganz anders zu beurteilen sind aber zweifellos die
Blutbefunde bei jenen Erkrankungen, die regelmäßig oder
doch häufig bei ganz normal reaktionsfähigem Granulo¬
zytenapparat eine Leukopenie hervorrufen, wie'z. B. beim
Typhus. Diese Befunde haben, auch wenn die Zahl der
Granulozyten im Blute prozentual und absolut herabgesetzt
ist, mit einer Hypoplasie des Granulozyteiiapparates gar
nichts zu lun. Hier liegt offenbar eine spezifische Einwir¬
kung der Infektion vor, welche von vornherein einen ver¬
mehrten Uebertritt solcher Zellen ins Blut verhindert. Die
Vorstellung von Arneth, daß ein übermäßiger Verbrauch
von Neutrophilen in der Zirkulation statlfinde, dem das
Markgewebe nicht nachzukommen vermöge, kann ich mir
nicht zu eigen machen. Ein schlagendes Beispiel dafür,
daß nicht Erschöpfung des Markgewebes die Ursache der
Typhusleukopenie ist, habe ich gerade in den letzten Wochen
beobachten können.
Ein junges Mädchen kam Mitte Dezember 1906 mit
allgemeiner Hyperästhesie, Nackenstarro und anderen nienin-
gealen Reizerscheinungen hochfieberml auf meine Abtei¬
lung zur Aufnahme. Sie hatte eine Leiikozytenzahl von
4700 und wir nahmen nach dem klinischen Bilde zunächst
an, daß eine Meningitis tuberculosa bei miliarer Aussaat
vorliege. Erst später stellte sich heraus, daß es sich um
einen Abdominaltyphus mit besonders schweren Erschei¬
nungen von seiten der Meningen, sowie der sensiblen und
trophischen Nerven handle. Die Patientin bekam, während
die Erkrankung l^onst in gewohnter Weise verlief, bei wech¬
selnder Hyperästhesie und Druckschmerzhaftigkeit fast aller
zugänglichen Nervenstämme an allen Stellen, wo sie auch
nur ganz kurze Zeit mit der Unterlage jn Berührung kam,
einen rapid fortschreitenden Dekubitus, der trotz Wasser¬
polster und Wasserbett zur Gangrän der Weichteile führte
lind die Knochen bloßlegte. Vom Dekubitus aus stellte sich
noch während des Typhus eine septische Allgemeininfektion
ein, welcher die Patientin schließlich erlag; und während
der septischen Komplikation brachte es die Kranke auf
eine tyiiische neutrophile Leukozytose von zunächst
(lO. Januar 1907) 39.000 und schließrudi kurz vor
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 6
lb}i
dem Tode (iß. Januar 1907) von 71.000 mit allen
morphologischen Charakteren einer schweren Schädigung
der kreisenden Neutrophilen ! Einer derartigen Leistung
wäre ein durch den Ty[)hus gleich anfangs erschöpf¬
ter oder ein verkümmerter Ciranulozytenapparat nie¬
mals fähig gewesen.
Ich habe auf die Verschiedenheit der Bedeutung leuko¬
penischer Befunde im Verlaufe von Infektionskrankheiten
nur hingcwieseii, um einem kritiklosen Zusainmenwerfen der
gewöhnlichen derartigen Befunde mit den von mir be-
schriehenen Blutbildern von vornherein entgegenzutreten.
Aus der III. med. Klinik. (Vorstand: Prof. v. Schrötter.)
Zur differentiellen Diagnose der Knochenver¬
dickungen *)
Von Dr. Carl Reitter, Assistenten.
Meine Herren ! Die Beohachtnng eines in seiner Form
nicht häufigen Falles von Knochenerkranknng veranlaßt
mich, Ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit für einen kurzen
Vortrag, der nur wenig über den Bahmen einer Demonstra¬
tion hinausgehen soll, zu erbitten.
Knochenverändernngen im Sinne eines Dickerwerdens
des Knochens, d. h. einer Zunahme seines queren Durch¬
messers — ich möchte mich mit Bücksicht auf den später
zu demonstrierenden Fall auf diese Verändernngen an
den langen Böhrenknochen beschränken — können
nur einen Abschnitt der Knochendiaphyse oder ihre Gänze
betreffen. Die Ursache solcher diffuser Dickenzunahme sind
entzündliche Vorgänge, die selten im Knochengewebe selbst
ihren Ursprung nehmen, sondern meist entweder vom
Knochenmark als Osteomyelitis oder vom Periost als Perio¬
stitis ausgehen, und dann sekundär das Knochengewehe
in Mitleidenschaft ziehen. Mitunter können auch Mark und
Beinhaut gleichzeitig erkranken. Auch die primäre Erkran¬
kung der Weichteile, entweder mit Uebergreifen auf den
Knochen oder Erzeugung einer gewaltigen Stauung, ist be¬
kannt; ich erinnere z. B. an die Elephantiasis ossea bei
altem Ulcus cruris. Die Entzündungsvorgänge können akut
einsetzen, wie hei der Osteomyelitis acuta infectiosa und
in ihren Folgen zur Massenzunahme des Knochens — in
diesem Falle meist auch mit einer Elongatio verbunden —
führen, oder die Entzündimgsprozesse sind chronische und
l)ringen schließlich ganz ähnliche Veränderungen mit sich.
Unter jene Krankheitshilder, die schleichend allmählich
solche diffuse Knochenverdickungen hervorriifen, gehören
die Myeloperiostitis chron. (Schn char dt), die Osteite ä
forme neuralgique (Gossel in), die Quiet necrosis (Paget),
die Periostitis ossificans und die Lues.
In den meisten Fällen wird die Anamnese, der Beginn
des Leidens, die genaue Beobachtung des weiteren Ver¬
laufes die Diagnoisenstellung erleichtern; es gibt aber Fälle,
bei denen wir nur auf den objektiv zu konstatierenden Be¬
fund angewiesen sind, und bei denen nur die Anwendung
aller uns zu Gebote stehenden Untersiichungsmethoden die
Diagnose ermöglichen.
An einem derartigen Falle möchte ich die weitere
differentielle Diagnose besprechen.
Der jetzt 45jährige Pat. ist Analphabet und macht über das
Entstehen seiner Krankheit ganz ungenaue Angaben, aus denen
nur hervorgeht, daß er drei Jahre als Infanterist beim Militär
diente und daß er im Jahre 1883, während seiner Dienstzeit, an
den Augen durch 14 Tage erkrankt gewesen sei. Nach seiner
Entlassung wäre der linke Arm allmählich dicker geworden und
wären an der Haut des Oberarmes Geschwüre aufgetreten.
Nach einigen Jahren fiel er auf der Straße zu Boden und
seit dieser Zeit sei der linke Arm — mildem er sonst alle Hand¬
griffe vornahm, er war bis dahin Linkshänder — gebrauchs¬
unfähig.
Wenn wir den Pat. betrachten, so sehen wir die fehlende
Schulterwölhung und die medial geneigte Oherarmachse. Ein
Griff unter das Akromion zeigt, daß der knöcherne Widerstand
*) Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte am
11. Januar 1907.
des sonst an dieser Stelle befindlichen Oberarmkopfes fehlt und
daß weiterhin der rückwärtige Rand der Fovea glenoidalis, wenn
auch nicht sehr deutlich, zu tasten ist. Außerdem ist aber der
Oberarm in seinem oberen Drittel mit nach rückwärts und lateral
offenem Winkel geknickt.
Der Humerus, der an dieser Stelle verhältnismäßig dünn
ist, verbreitert sich gegen das Ellbogengelenk zu, das in seinem
Durchmesser vergrößert ist. Der schwere Unterarm ist unförmig
und plump und setzt sich scharf von dem fast grazil erscheinen¬
den Handgelenk und der Hand ab. Die Zunahme des Vorderarm¬
umfanges kommt größtenteils auf Kosten der beiden Vorderarm¬
knochen zustande, denn diese sind als stark verdickt und an
ihrer ganzen Oberfläche höckerig, gut durchzufühlen. Die Muskel
sind an der linken Schulter, am Oberarm und Vorderarm
atrophisch; am Vorderarm, nicht aber auf der Hand, bestand
Oedem, das in den letzten zwei Wochen zurückgegangen ist. Die
Haut des Oberarmes und der Schulter zeigt sich auf eine weite
Strecke hin narbig und pigmentiert, über dem Akromion an einer
Stelle mit dem Knochen verwachsen.
Die Bewegung im Schultergelenk ist, wie die im Ellbogen-
gelenk bedeutend eingeschränkt; die Bewegungen im Hand- und
in den Fingergelenken frei. Die übrigen Gelenke zeigen, ebenso
wie die Knochen der unteren Extremitäten und des Stammes
keine Veränderung. An beiden Unterschenkeln bestanden Oedeme,
die bis auf eine Verdickung* der Weichteile am rechten Unter¬
schenkel zurückgegangen sind. Die interne Untersuchung ergibt
eine diffuse chronische Bronchitis und eine Nephritis parenchy-
matosa, wobei für Amyloidose kein Anhaltspunkt gefunden
werden kann.
Bevor ich zur Darlegung der Diagnose übergehe, welcher
Art diese Knochenerkrankung ist, demonstriere ich hier die
Röntgen aufnahmen der Knochen :
Der linke Humeruskopf ist von der Fovea glenoidalis weg
nach abwärts gesunken und wendet seine Gelenkfläche, die in
ihrer Form erhalten ist, kopfwärts. Der sich anschließende Teil
des Humerus ist verschmälert ; am Collum cliirurgicum ist eine
Kontinuitätstrennung im Knochen, wobei eine winkelige Stellung
der beiden Fragmente — mit einem offenen Winkel nach rück¬
wärts und außen — zustande kommt. An dieser Stelle besteht
eine bindegewebige Verbindung, so daß wohl eine abnorme Be¬
weglichkeit vorhanden ist, gleichzeitig aber auch das obere Frag¬
ment an den passiv ausgeführten Bewegungen des unteren teil¬
nehmen muß.
Unterhalb der Frakturstelle beginnen bereits ausgehreitete
periostale Veränderungen, indem bedeutende Verdickung, Auf¬
faserung, an einzelnen Stellen auch eine Abhebung des ver¬
dichteten Periostes zu bemerken ist. Gegen die Mitte des Ober¬
armes ist die massige Volumszunahme am stärksten. Dabei ist
der Markraum weit und von einer besonders starken Sklerose,
von einer ,,Eburneation“ nichts zu sehen. Das distale Ende ist
weniger verdickt, doch finden sich auch hier reichliche periostale
Auflagerungen. Die Gelenkfläche der Trochlea ist anscheinend
gut erhalten, der Gelenkspalt nicht sichtbar.
Beide Vorderarmknochen sind verbreitert ; die Ulna, deren
Kortikalis eher schmal erscheint, von mächtigen aufgelockerten
und ausgefransten Periostauflagerungen bedeckt.
Der Radius ist nicht nur durch die seine ganze Ober¬
fläche einnehmende Periostwucherung verdickt, wodurch seine
Oberfläche wellig uneben wird, sondern es ist auch seine Knochen¬
substanz verdichtet. In den periostalen Auflagerungen sind auch
Stellen, an denen Absumptionen wahrzunebmen sind ; hier sind
Dellen, die bis in die Kortikalis hinein reichen. An diesen Partien
wird die Markhöhle undeutlich. Die distalen Enden des Radius
und der Ulna sind ganz im Gelenke frei von Periostveränderungen,
doch zeigen sie rarifizierte Spongiosazeichnung. Das Handgelenk
und die Knochen der Hand bieten ein vollkommen normales Bild.
Was null die Differentialdiagnose betrifft, so kommen
von den eingangs erwähnten Krankheiten zwei für den vor¬
liegenden Fall kaum in Betracht, das sind Pagets ,, Quiet
necrosis“, hei der eine so bedeutende Mitbeteiligung des
Periostes nicht beschrieben ist, und Grosselins Osteite
ä forme neuralgique, ein nur von diesem Autor geschildertes
Krankheitsbild, unter dessen Symptomen die hochgradigen
neuralgiformen Schmerzen im Ä^ordergrnnde stehen. Somit
kommen die übrigen drei Knochenerkrankungen, die Osteo¬
myelitis. die Periostitis chron. ossificans und die Lues zur
engeren Differentialdiagnose.
Die Osteomyelitis ofler nach Scbuchardt die Myelo¬
periostitis, als eine Krankheit der Zeit des Wachstums, wäre.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
163
was die Zeit der Entstehung betrifft (wenn die Angabe
des Patienten, daß er unmittelbar nach seiner Entlassung
vom Militär die beginnende Verdickung bemerkt hätte, richtig
ist), nicht ganz abzuweisen. Allerdings wäre die Lokal isa*’-
tion eine recht seltene und würde der Mangel des ver¬
mehrten Längenwachstums auffallen. Reichliche Fistel¬
drittel ist vorhanden und die Fraktur an dieser Stelle würde
zwar ein verhältnismäßig seltenes, aber doch bekanntes
Vorkommnis darstellen. Daß die Sklerosierung der Knochen
keine hochgradige ist, wäre wohl auch gegen die Osteo¬
myelitis anzuführen. Ich zeige hier zum Vergleich einige
osteomyelitisch veränderte, durchgesägte Knochen aus der
Fig. I
C = gut erhaltene Cavitas glenoidalis.
K — Gelenkfläche des Hunaerus-Kopfes. '
F — Frakturstelle mit Pseudarthrose.
bildung ist auch nicht vorhanden, doch verweise ich auf die
eine Stelle am Akromion, an der die Haut mit dem Knochen
verwachsen ist. Die Bildung von Sequestern, namentlich
größeren Sequestern, fehlt, wie aus den Röntgen bildern zu
entnehmen ist, vollständig. Daß bei der Erkrankung der
Skapula, des Humerus, des Radius und der Ulna die Ge¬
lenke und Gelenksflächen eine so geringe Beteiligung zeigen,
wäre bei Osteomyelitis auch nicht leicht zu erklären.
Aus der Form der Knochen wäre sie allerdings nicht
auszuschließen ; auch eine Nekrose am oberen Humerus-
Sammlung des pathologischen Institutes, die mir Herr Hofrat
Prof. W e i c h s e 1 b aum zur Demonstration freundlichst über¬
lassen hat, wofür ich meinen besten Dank ausspreche.
Was den Befund der inneren Organe betrifft, so steht
die pulmonale Erkrankung in keinem Zusammenhang, wohl
aber ist eine Nephritis eine häufige Komplikation der Osteo¬
myelitis; eine im Blute vorhandene Eosinophilie — es sind
11 ‘^/o polynukleär-eosinophile Zellen — ist von Joseph
bei Osteomyelitis beschrieben.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 6
1GI
Sind somit einige Momente vorhanden, die die Dia¬
gnose eijier Osteomyelitis stützen können, so möchte ich
versnchen darznlegen, welche Zeichen für die Annahme
einer luetischen gummösen Knochenerkrankung sprechen.
von Spontanfrakturen hei Myelitis gummosa in der Literatur
niedergelegt. Einer dieser Fälle wurde von Hofrat Neu¬
mann vor Jahren in dieser Gesellschaft demonstriert. Auf
einen zAveiten, in dem es zur Pseudarthrose kam und der
Durch die Arbeiten von Köh l er, Hahn, Holzknecht,
Freund und Kienböck sind wir mit den Röntgenbildern
der gummösen Periostitis, Ostitis und Myelitis vertraut ge¬
macht worden. Gerade die überwiegende Beteiligung der
periostalen Affektion, ihre diffuse Ausbreitung, mit stellen¬
weiser Absumption und Finschmelzung, ist ein Symptoni,
das wir aus den Darstellungen der genannten Autoren für
Lues sprechend kennen. Unter anderen Fällen hat Kien¬
böck in einer zusammenfassenden Arbeit einen ihm von
Holzknecht überlassenen Fall geschildert, eine gummöse
Ostitis des mächtig vergröberten Humerus bei einem 34jäli-
rigen Manne betreffend, der viele Aehnlichkeit mit dem
demonstrierten Falle aufweist. Doch, was spricht außer dem
Röntgenbefund, der vielleicht einen bindenden Schluß nicht
erlaubt, für Lues? Daß fast immer Sequester fehlen, ist
eine bei Knochensyphilis bekannte Tatsache; dagegenkonnnt
es mitunter zu Nekrose und Karies mit Fistelbildung, nament¬
lich bei sekundären Infektionen mit pyogenen Raklerien, für
welclie Fälle Rokitansky den Ausdruck der ('aries pro¬
funda schuf. Die Nekrose spricht also ebenso für die Lues
wie für die Osteomyelitis. Reichliche Fistelbildung ist bei
Juies selten, aber sie ist beobachtet und Chiari bringt
in seiner grundlegenden Arlieit über die Knochenmarks¬
gummen einige Beispiele dafür. Auf diese Nekrose wird auch
die bei tertiärer Knochensyphilis seit langem her bekannte
Brüchigkeit der Knochen, die selbst zu Spontanfrakturen
führen kann, zurückgeftihrt. Ein zweiter Umstand, der aber
die Frakturierung veranlassen kann, ist das Gumma im
Mark. Gerade für den Humerus sind bisher neun Fälle
Fig. HI.
Blendenaufnahme des Ellbogengelenkes in der ersten Stellung nach
Albers-Schönberg.
von Prof. E h rmann hier vorgestellt wurde, hat mich Dozent
Freund aufmerksam gemacht. Ich kann das Röntgeno-
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
105
grainiii desselben, das mir Doz. Freund in liebenswürdiger¬
weise überließ, hier wieder zeigen.
Es läge also für luiseieii Fall die doppelte Möglich¬
keit: Nekrose oder zentrales Gumma, vor. Vielleicht er¬
laubt die Eosinophilie au Mitbeteiligung des Markes zu
denken. Jedenfalls spricht die Frakturierung ohne Sequester¬
bildung eher für Lues als für Osteomyelitis. Immerhin ist es
bei Annahme einer Lues auffallend, daß das Skelett sonst
keine Veränderungen aufweist; ich habe den Alarm stück¬
weise durchleuchtet und alle übrigen Knochen normal ge¬
funden. Gerade für die luetischen Affektionen wird ja immer
betont, daß sie meist viele Knochen, oft in symmetrischer
Anordnung befallen. Ich verweise diesbezüglich wieder auf
eiiren Fall Kienböcks, der eiiren Kranken der Klinik
Nothnagels beschrieb, dessen ganzes Skelett luetisch ver¬
ändert war. Daß unser Patient über keine wesentlichen
Schmerzen klagt, mag einerseits in seiner Indolenz liegen,
anderseits müssen bei luetischer Knochenerkrankung Dolores
Aus der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.
(Vorstand : Prof. A. Pick.)
Isolierter halbseitiger Zungenkrampf.
Ein Beitrag zur Jacksonschen Epilepsie.
Von Dr. M. Pappenlieim, Assistenten der Klinik.
Die Zahl der in der Literatur verzeichneten Fälle vou
isoliertem Zungenkrampf ist trotz dem von den Autoren
immer wieder geäußerten Wunsche nach kasuistischen Alit-
teilungen eine sehr beschränkte geblieben.
Lange,^) stellte im Jahre 1893 15 Fälle zusammen
und unterzog sie einer Besprechung. Bernhardt“) zitiert
außer diesen noch einige zum Teil schon vor Jmnges
I Arbeit publizierte und E. Remak^) erwähnt noch je eine
Beobachtung von Aphthongie (Stein er t), hysterischem
Zungenkrampf (E. Remak), von Beschäftigungskrampf
I (Turner) und idiopathischem Krampf (Saenger *^^). Einen
Fig.
Periostale Veränderungen an Radius und
osteocopi nicht ^auf treten. Für tlie syphilitische Osteomye¬
litis betont sogar Chiari diesen Umstand. Dieser Kranke
weiß nichts von einer syphilitischen Ansteckung; es lassen
sich auch keine luetischen Zeichen an seinem Körper finden,
außer der Hautaffektion am linken Oberarm.
Ich habe bis jetzt von dieser Hauterkraidcung nicht
gesprochen. Sie gemahnt uns, an jene Fälle zu denken,
in denen eine chronische Haut- und Unterhautzellgewebs¬
entzündung oder -entartung eine Knochenverdickung hervo]--
ruft, sei es durch Uebergreifen des Prozesses auf den
Knochen, sei es durch Stauung. Bei diesem Patienten zeigt
die Haut an der lateralen Seite fast des ganzen Oberarmes
eine narbige Beschaffenheit. Der Rand, der wellenförmig
verlauft, ist stärker gerötet und reich pigmentiert, das Zen¬
trum dünn, atrophisch, blässer. Unsere Annahme, daß es
sich um ein serjriginöses Hauisyphilid handelt, wurde von
Henri Prof. Finger, der die Liebenswürdigkeit hatte, den
Fall anzusehen, bestätigt. Mit dieser Hautaffektion syphili¬
tischer Natur über dem erkrankten Knochen ist — wie
ich glaube — das wichtigste Moment gefunden, wmlches
zugunsten der Annahme spricht, daß auch die Knochen¬
aff e k t i o n eine luetische ist.
Ob das Alark, das Periost oder die Haut den Ausgangs¬
punkt der Veränderungen bildete, läßt sich, selbst nur mit
einiger Wahrscheinlichkeit, nicht entscheiden.
IV.
Ulna mit Freilassen des Handgelenkes.
großen Teil der beschriebenen Fälle trennt Remak als
reflektorischen Zungenkrampf, Zungen-Tic — hieher rechnet
er auch die von Oppenheim in seinem Lehrbuche als
,,in Verbindung mit psychischen Anomalien auf tretend“ er¬
wähnten Krämpfe — artikulatorischen Zungenkrampf und
Beschäftigungskrampf von den idiopathischen Krampflornien
ab, so daß diese letzteren nur zehn Beobachtimgen um¬
fassen. Doch gibt Remak auch für diese zu, daß es sich
nicht um ein einheitliches Krankheitsbild handle und
die Pathogenese wahrscheinlich nicht in allen Fällen die¬
selbe sei.
Nicht erwähnt ist ein F/ill von Paiisky,^) in welchem
bei einer 26jährigen Frau aus nervöser Familie die Krämpfe
als Vorläufer allgemeiner epileptischer Anfälle reflektorisch
durch Steine im I^uctus Whartonianus erzeugt wmrden. Per¬
sona li*") bemerkt in einer Arbeit, die mir leider nicht
*) Lange, Ein Fall von beiderseitigem idiopathischem Hypoglossus-
krampf. Ein Beitrag etc. (Archiv f. klin. Med., Bd. 46, S. 705.)
Bernhardt, Die Erkrankungen der peripherischen Nerven.
H. Teil. (Nothnagel, 11. Bd , H. Teil, S. 73.)
^) E. Remak, Ueber lokalisierte Krämpfe. (Deutsche Klinik am
Eingänge des 20. Jahrhunderts. 6. Bd., I. Abt., S. 791.)
^) Säen ge r, Ein Fall von idiopathischem Zungeiikrampf. (Monats¬
schrift f. Psych., 7. Bd., S. 77.)
h P an s k i. Ein Fall von Glossospasmus und von Epilepsie reflektori¬
schen Ursprungs. (Kronika lökarskä 1897, Nr. 12, cf. Jahresbericht 1897,
S. 866.)
®) Personal i, Idiopathic cramp of the tongue. (Clinica medica I ;
ref. im British med. Journal, 9. September 1899.)
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr ü
J.6Ü
im Originale ziigcänglicli war, daß idiopathische Znngen-
krämpfc im Alter von 30 bis 40 Jahren ziemlich häutig
Vorkommen. Doch scheinen mir die Angahen der übrigen
Autoren gegen diese Behauptung zu sprechen.
In nieinein Falle handelt es sich nin einen 56jährigen Flur-
wächler, der ani 15. Juli 1906, gegen 11 Uhr vormittags, wegen
,, großer Unruhe, Bedrohung des Wartepersonales und mehrfach
niilornommener Fluchl versuche“ von einer medizinischen Klinik
des Allgemeinen Krankenhauses auf unsere Klinik transferiert
wurde. Fat. war am Tage vorher in das Krankenhaus aufgenom-
nien worden und hatte abends ,, einen Anfall mit klonisch-toni¬
schen Krämpfen, im rechten Fazialisgehiete heginnend und auf
den rechlen Arm ühergehend“. Die mit der Frau erhobene Anam¬
nese, die später durch Angahen des Patienten ergänzt wurde,
ergab, daß dieser seit vielen Jahren außerordentlich große Alkohol¬
mengen — in der letzten Zeit an manchen Tagen bis zu einem
Idler Schnaps und zehn Liter Bier — konsumiert habe. Bis vor
acht Jahren sei Pat. stets gesund gewesen; damals habe ('r in
einem Zwischenräume von wenigen Tagen zwei mit Bewußtseius-
verlust vei'hundenc allgemeine Krajnpfanfäl'.e gehabt, deren jeder
etwa zehn Minuten dauerte und hei dejien Schaum aus dem
Munde trat. Seither soll Pat. wieder bis auf zeitweilige Kopf¬
schmerzen und Magenühlichkeiten vollkommen gesund gewesen
sein, nie wieder Krämpfe gehabt haben. Psychische Anomalien
waren nicht bemerkt worden. Am 26. Juni, gegen 7 Uhr früli,
lial)e Pat. plötzlich im Schlafe einen Anfall hekommen, hei dem
reflexe beiderseits herabgesetzt. Keine Sensilnlitätsstörung, auch
nicht fler Zunge oder Wange. Geschmack und die übrigen Sinnes-
empfindnngen intakt. Die motorische Kraft des rechten Armes
vielleicht etwas herabgesetzt. Im Bereiche der Motilität der Fx-
Iremitäten sonst keine Störung. Herz nicht hypertrophisch. Innere
Organe normal. Urin ohne pathologische Bestandteile.
Pat. ist zeitlich und örtlich orientiert, gibt auf Fragen
nach seinen Generalien, nach seiner Krankheit ganz korrekte
Antworten, wobei sich jedocli eine ziemlich hochgradige Sprach¬
störung geltend macht. Die Sprache ist sehr verwaschen, undeut¬
lich, manchmal fast unverständlich, so, als oh Pat. einen Gegen¬
stand im Munde hätte. Er seihst sagt, daß er nicht sprechen
könne, weil ,, seine Zunge so schwer sei, daß er sie nicht gut be¬
wegen könne“. (Die Sprachstörung ist hochgradiger als ilie in
einem Falle von halbseitiger Zungenlähmung nach peripherer
Hypoglos'susverletzung, der sich auf unserer Klinik befindet.)
Dabei ist der Kauakt nicht wesentlich gestört (ein Verhalteti,
auf das schon v. Monakow aufmerksam machte und das er
auf bilaterale Vertretung des Kauzentrums in der Binde zurück¬
führte).
Im Laufe des Tages hatte unser Kranker fünf Krampf¬
anfälle bei erhaltenem Bewußtsein. Der erste, den ich seihst
heohachtete, hatte folgenden Verlauf: Drehung der Bulbi naci)
rechts und klonische Zuckungen im rechten Orbicularis oculi,
dann in langsamer Folge klonische Zuckungen irn rechten Mund-
facialis, die den Mundwinkel nach außen oben verziehen, Bechts-
alle Extremitäten, die rechten stärker als die linken, gekrampft
hälte]i. Diese Anfälle hätten sich in den folgenden Tagen sehr
häufig wiederholt, an einem Tage angeblich alle fünf Minuten,
ln der Zwischenzeit soll Pat. meist henommen oder wenigstens
sehr stumpf gewesen sein, fast gar nichts gesprochen haben.
Lähmungen will Bef. nicht bemerkt haben. Im ganzen werden
die Angahen über die letzte Zeit von seiten der Fan ziemlich
unsicher vorgebracht. Ob Aphasie bestand, ließ sich natürlich
nicht nachweisen. Hereditäre Belastung fehlt angeblich. Für Lues
kein Anhaltspunkt.
Dem Status somaticus ist zu entnehmen, daß es sich
um einen mittelgroßen, kräfdg gebauten und sehr gut genährten
Ma]m handelt. Temperatur hei der Einbringung Puls 68,
rhytlimisch, äqual; mäßige Sklerose der peripheren Arterien. Ge¬
sicht gerötet. In den hinteren Partien des rechten und linken
Scheitelbeines jo eine kleine Hanl narbe (angeblich von lluf-
schlägen herrührend, die Pat. mit zwölf Jahren erhalten habe).
Die Augenuntersuchung ergibt nichts PathologisMies : Augeiihewe-
gungeii, Verhalten der Pupillen, Augenhinlergrund, Gesichtsfeld
sind vollständig normal. Im Bereich des Mundfazialis zeigt sich
auch in der Buhe ein deutliches Beben, der rechte Mundwinkel
st(dit wesentlich tiefer als der linke und bewegt sich weder l)ei
willkürlicher Innervation, noch heim Sprechen. Im Stirn- und
Augenfazialis keine wesentliche Differenz. Die Zunge wird über
Aufforderung unter lebhafter grober Unruhe bloß so weit vor-
gestreckl, daß ihre Spitze gerade in den rechten Mundwinkel
zu liegen kommt; sie weicht also stark nach rechts ah. Kein
Zungenhiß. Gebiß sehr schadhaft: Am Unterkiefer bloß der linke
Eckzahn erhallen. Bachenschleimhaut leicht granuliert. Sonst
nichts Abnormes in der Mundhöhle. Ziemlich lebhafter, klein-
schlägig(‘r Tremor der gespreizten Finger. Sehnenreflexe lehhaft.
Bauch- und Kremasterreflexe beiderseits gleich. Schleimhaut¬
wendung des Kopfes, langsames Heben des im Ellbogengelenke
etwa rechtwinklig gebeugten rechten Armes und endlich einige
schwache klonische Zuckungen in den Fingern, im Hand- und
Ellhogengc'lenke, in geringen Benge- und Streckbewegungen be¬
stehend. Damit ist dei' Anfall, der etwa eine Minute dauert, vor¬
über. (Während desselben weder Bahinski noch Fußklonus. Das
Veihallen der Zunge wurde nicht beachtet.) Die übrigen Anfälle
waren nach Aussage der W^ärter dem geschilderten ganz ähnlich.
Pat. erhielt an diesem und an dem folgenden Tage je 4 g
Nalr. hi'omati. Die Anfälle sistierten bereits am Tage nach der
Einlieferung.
Am 17. konnte die Zunge ohne gröbere Unruhe ziemlich
gut vorgestreckt werden, zeigte aber starke Deviation nach rechts,
ln der Mundhöhle wich sie eine Spur nach links ab, der Zungen-
grnnd war rechts etwas höher als links, ein durch die Verminde¬
rung des Hyoglo'ssustonus bedingtes, nicht ungewöhnliches Ver¬
halten hei einseitiger Hypoglossuslähmung. Fazialisparese unver¬
ändert. Sprache noch immer sehr schwer verständlich; doch
gelingt es dem Patienten, dieselben Worte, die innerhalb eiiuis
Satzes ganz verschwommen klingen, einzeln langsam ziemlich
deutlich auszusprechen, so dalf man den Eindruck gewinnt, daß
die Ursache der Sprachstörung bloß darin liege, daß heim fließen¬
den Sprechen die Zunge den übrigen am Artikulationsakte be¬
teiligten Muskeln nicht schnell genug folgen könne.
Am 19. stellten sich wieder klonische Zuckungen, hei er¬
haltenem Bewußtsein, im rechten IMundfazialis ein, welche mit
Zuckungen in der Zunge kombiniert waren. Diese überdauerten,
wie ich mich selbst überzeugen konnte, die Mundwinkelzuckun¬
gen um ein kurzes und begannen, nach Aussage des Patienten,
aiudi um einige Sekunden früher als jene. Die Zahl dieser An¬
fälle betrug am ersten Tage zehn und steigerte sich iii den
folgenden Tagen beträchtlich.
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
167
Gleichzeilig stelKeii sich am 21. Ki-ampfaiifälle ein, die
])loßi auf die Zunge beschränkt waren. Ich l)emerkte diese zufällig,
als mir Pal. auf eine gesfellle Frage durch Bewegutigeu zu ver¬
stehen gal), daß er nicht sprechen könne, auf meine Aufforderung
aber den Mund öffnete. Aeußerlich war gar nichts wahrzuuetimeu
gewesen. Da in den folgenden Tagen die xVnfälle, die auch
nachts aufiraten und den Patienten immer weckten, sich außer¬
ordentlich häuften — am 26. zählte ikil. 97 kombinierte und
1-10 isolierte — konnte ich sie genau stmlieren.
Bei geöffnetem Munde sah man die Zunge sich .30- bis
70mal in der Minute — die Dauer eines Anfalles schwa idcle
zwischen 10 Sekunden und einer Minute — in der Biciduug
von links hinten nach rechts vorne hin- und herhewegen. Syn¬
chron mit diesen Zuckungen trat eine Ahflachuug des recliteu
Zimgengrundes und eine Verschmälerung der rechten Zungen¬
hälfte ein und, entsprechend der Angabe des Patienten, er liahe
das Gefühl, als oh sich etwas im Halse zusammenziehe, waren
vorne am Halse gleichzeitig rhythmische Kontraktionen zu fühlen,
die ofleidjar den vom Unterkiefer zum Zungenbein ziehenden
iMuskeln, also vor allem dem Geniohyoideus, entsprachen. (Die
Abflachung des Zimgengrundes wird durch den Hyoglossus be¬
wirkt, die Seitwärts- und Bückwärtshewegung hauptsäcldich durch
die IMusculi stylo-, hyo- und chondroglossus,’^) die V^erschmäle
rung durch die Binnenmuskulalur der Zunge, den Musculus trans-
versus.) Eine dem Longiludinalis linguae entsprechende Verkür¬
zung konnte nicht deutlich wahrgenommen werden.
B('r Genioglossus scheint am Krampfe nicht wesentlich be¬
teiligt gewesen zu sein. Dies geht auch daraus hervor, daßi die
Zunge heim Herausstrecken — die Zuckungen verstärkten sich
hiebei — immer noch nach rechts ahwich.. An der hinteren Bacheu-
wand waren keine Zuckungen zu fühlen, desgleichen nahmen
die Gaumensegel keinen Anteil. Die wuederholt auch während der
Krämpfe vorgenommene laryngoskopische Untersuchung ergab
durchaus noi'inalen Befund. Auch gelang es dem Patienten, ob¬
wohl er Worte nicht aus'sprechen konnte, einzelne Vokale ganz
gut zu intonieren. '
Auraartige Erscheinungen — solche sind als Gefühl von
Spannung, Eingeschlafensein, Brennen, Steclien wiederholt lie-
schriehen — waren nicht vorhanden. Desgleichen fehlten jegliche
Begleiterscheinungen. Namentlich zeigten die Pupillen — Per-
sonali (1. c.) und Sa enger (1. c.) fanden sie erweitert — keine
Veränderung. Durch äußere Reize wurden die Anfälle gar nicht
beeinflußt: Lange (l. c.) sah sie durch Druck auf den Gaumen
schwinden, während sie in den Eällen von artikula torischem
und mastikatorischem Zungenkrampf durch Sprechen, hzw. Kauen
ausgelöst wurden.
Vom 27. an nahm die Zahl der Krämpfe, namentlich der
kombinierten, ah, vom 29. an traten nur mehr isolierte Zungen¬
krämpfe auf, etwa 30 bis 50 täglich. Vom 1. August an täglich
6 g Natr. bromati. Die Anfälle werden immer seltener. Am 5.
erreichen sie die Zalil von 15. Der Patient gibt an, daß er das
Zusammenziehen im Halse nicht mehr verspüre. Tatsächlich sind
auch außen am Halse keine Zuckungen mehr wahrzu nehmen.
Die Fazialispcarese ist bedeutend geringer. Am 7. sieben Anfälle,
am 8. fünf, am 9. zwei. Seither sistierten die Anfälle voll¬
ständig.
IMit den Bromdosen wurde allmählich heruiitergegangen.
Am 20. August verzeichnet die Krankengeschichte, daß die
Fazialisparese geschwunden ist, die Zunge nur mehr wenig nach
rechts ahweicht. Am 6. September konnte Pat. genesen entlassen
werden. Die Zunge wurde noch eine Spur nach rechts vorge-
slreckt, doch schien dieses Verhalten durch den Zahnmangel
in der rechten Unterkieferljälfte genügend erklärt zu sein.
Halbseitige klonische Zimgenkrämpfe beschrieb bloß
Seppilli.i) Im Falle von Remak®) traten im weiteren
A erlaufe die Zuckungen ,,v,'esentlich links“ auf. Nur in
diesem letzten Falle, der auch sonst mit meiner Heohachtung
die verhältnismäßig größte Aehnlichkeit aufweist und auf
den ich daher noch zurückkommen werde, wird die Be¬
teiligung des Geniohyoideus vermerkt.
Was die Pathogenese der Kram])fanfälle betrifft, so
unterliegt es wohl keinem Zweifel, daß diese kortikalen
Ursprungs waren. Das Bild der Monoplegia faciolingualis
iin Vereine mit den stets gleichen, immer wieder in der
Zunge beginnenden Krämpfen weist wohl mit Sicherheit
h Lange, Ueber Zungenbewegung. (Arch. f. klin. Med., Bd. i6,
S. 634.)
®) Remak, Ein Fall von Hypoglossuskrampf. (Berliner klin
Wochenschr. IS'SS, Nr. 34.) 1
darauf hin. Auch für den ersten ausgedelinteren xVnfall
läßt sicn der Beginn in der Zunge ohne Zwang annehmen.
Es konnte sich dann der Reiz einerseits nach vorne (siehe
Figur), Zentrum für Augenlid, Augen- und Kopfdreher, ander¬
seits nach oben, Zentrum für Mundwinkel, obere Extremität
verl,)reitet haben. Daß zuerst die Schulter gehoben wurde
und dann erst Hand und Unterarm krampften, glaube ich
so erklären zu können, daß auch hier, wie es ja meistens
der Fall ist, dem klonischen ein tonisches Stadium voran-
giiig, welches aber, da ja der Arm im Ellbogen olmehin
gebeugt war, nur in der Schulter einen sichtbai-en Effekt
erzeugte, während unmiltelbar danach die klonischen
Zuckungen in den Fingern, dem Hand- und Ellbogengelenke
einsetzten, die dann die Schulter überhaupt nicht mehr er¬
reichten. Nebenbei bemerke ich, daß an diesem Krampfe
bloß der rechte Orbicularis oculi beteiligt war, daß also
das Verhalten der Augenschließmuskeln — Opiienheim^)
hat wiederholt das Gegenteil beobachtet — ebenso wie das
der Zungenmuskulatur dem halbseitigen Typus entsprach.
Auffallend ist, daß sich der Genioglossus, trotzdem
er paretisch war, an dem Krampfe nicht beteiligte; sehr
interessant ist das Aufhören der Zuckungen in den zwischen
Unterkiefer und Zungenbein verlaufenden Muskeln einige
Tage vor dem Schwinden der Krämpfe überhaupt. Beide
Tatsachen scheinen mir für getrennte Lokalisation der ein¬
zelnen Muskelgruppen innerhalb des Zentrums zu sprechen
u. zw. könnte man vielleicht vermuten, daß sich das Genio-
glossuszentrum weiter unten, dem Schlundzentrum (siehe
Figur) — also deni für die am Krampfe überhaupt nicht
mehr beteiligten Muskelgruppen — benachbart befand, wäh¬
rend das Zungenbeinmuskelzentrum oben an das des Fa-
zialis grenzte und sich so in den allmählichen Rückgang
folgerichtig einfügte, während das Zentrum für die übrige
Zungemnuskulatur, zwischen den beiden erwähnten liegend,
den Hauptreizherd darstellte.
Immerhin könnte man den etappenweisen Rückgang
der Krämpfe — aber wie ich glaube, viel weniger natürlich
— auch durch die von v. Monakow’^®) für den Rückgang
von Lähmungen gemachte Annahme erklären, daß die früher
zur Norm zurückkehrenden Muskeln eine geringere kor¬
tikale Komponente besitzen, mit Geringerwerden des Reizes
also früher aufhören, an der Erregung teilzu nehmen. Die
B r o a d b e n t sehe Lehre von der bilateralen Innervation kann
natürlich für das Zurückgehen der Krämpfe nicht in An¬
spruch genommen werden.
Welcher Art ist nun der supponieiTe Herd? Aus¬
schließen läßt sich ohne weiteres, daß es sich um einen
paralytischen oder genuin-epileptischen Anfall handelt, eben¬
so kann ein syphilitischer Prozeß oder eine wachsende
Schädlichkeit, etwa ein Tumor oder ein Abszeß, kaum in
Betracht kommen ; erfordert doch der ganze Verlauf die
Annahme einer sich spontan allmählich rückhildenden Noxe.
Man könnte also vielleicht an einen apoplektischen Insult
denken und müßte, glaube ich, wegen des plötzlichen Be¬
ginnes und des Mangels jeglicher psychischer Symptome
eher eine Blutung vermuten als eine Thrombose — für die
Annahme einer Embolie fehlt jeder x\nhaltspunkt — obwohl
sich das, schon wegen der von der unintelligenten Frau des
Patienten gemachten, recht mangelhaften anamnestischen
Angaben, nicht siclTer entscheiden ließe. Jedoch sind so
lange andauernde Krampfanfälle bei einer Ajioplexia san-
guinea wohl ein außerordentlich seltenes Vorkommnis —
hei einem Fall von Verstopfung des dritten Astes der iXrteria
fossae Sylvii sah v. Monakow (1. c., S. 350) eine Zeitlang
partielle Krämpfe auftreten — und vor allem wäre der voll¬
ständige Rückgang der Lähmung bei dieser Annahme schwer
zu verstehen.
Eine Pachymeningitis liaeinorrhagica, die sich durch
den Alkoholmißhrauch des Patienten begründen ließe,
0 Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. (4, Auflage,
S. 687.)
V. Monakow, Gehirnpathologie. (Nothnagel, 9. Bd., I. Teil 1897,
S. 297.)
IGS
WIENER KLINISCHE WOCHENSCllKIET. 1907.
N'. C)
wil'd (lurch den langen Bestand der isolierten Krämpfe un¬
wahrscheinlich gemacht.
Der Erörterung liedarf daher die Frage, inwieweit der
Alkohol selbst als ätiologisches Moment für die xVuslösung
von Jack so 11 sehen Krämpfen in Anspruch genommen
werden darf.
Sarrailhe^^) hat 1V)03 elf Fälle zusammengestellt,
in denen der Alkohol die (lelegenheitsursache bildet, welche
die in letzter Ursache durch Llindenläsionen bedingten An¬
fälle auslöste. Es könnte sich also in dem beschriebenen
Falle an der präzisierten Stelle eine Meningealverdickimg
oder ein kleines Zystchen befinden, das unter dem Ein¬
flüsse des Alkohols die geschilderten Krämpfe erzeugte,
die nun durch die Abstinenz — auch das Brom scheint
von Einfluß gewesen zu sein — immer schwächer und
seltener wurden. Immerhin fehlt für die Annahme einer
solchen Läsion jede anamnestische Angabe. Die Krämpfe
vor acht Jahren, die wohl mit größter Wahrscheinlichkeit
alkohol -epileptische waren, können dafür nicht gut in An¬
spruch genommen werden.
Es bleibt daher nur übrig, die toxische Wirkung des
Alkohols als Ursache auch der jetzigen Krämpfe aufzufassen.
Oppenheim, Mills erwähnen, daß Jacks on sehe Epi¬
lepsie auch durch Intoxikation (Alkohol, Bleivergiftung und
so weiter) hervorgerufen werden kann. Ich konnte zwar
in der Literatur — hei der Unübersehharkei t derselben ist
es natürlich ohneweiters möglich, daß mir der eine oder
der andere Fall entgangen ist — den Alkohol nirgends
als direkte Ursache von Bindenkrämpfen erwähnt finden,
wohl aber fand ich solche Angaben bei anderen Intoxika¬
tionen. So publizierte erst unlängst Stauder^^) mit Be¬
rufung auf einen auch mikroskopisch untersuchten Fall von
Bed lieh, eine Beobachtung von Bindenkrampf infolge von
Azetonvergiftung bei Diabetes.
Wir hatten aber auf unserer Klinik, Gelegenheit, einen
Patienten zu beobacJiten, dessen Rindenkrämpfe wir mit
Wahrscheinlichkeit auf Alkoholismus zurückführen durften
und dessen KrankengescJiichh' ich ganz kurz erwähnen will.
Es handelt sich um einen jetzt. 35jährigen Elösser, der
bereits im Mai 1903 durch zwölf Tage mit Delirium tremens
auf unserer Klinik war und der am 25. April 1905 mit der¬
selben Krankheit aus dem Allgemeinen Krankenhause zu
uns transferiert wurde. Außerdem zeigte er damals Sym¬
ptome einer Neuritis (Fehlen der P. S. IL, beiderseits Pero¬
neuslähmung, Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit,
Sensibilitätsstörungen an (teil unteren Extremitäten). Die
Frau des Patienten gibt an, daß Pat. vor etwa drei Wochen
einen allgemeinen Kranipfanfall gehabt habe, dann eine Zeit¬
lang nichts habe sprechen können, die Frau nicht erkannt
habe, ,,wie ein Stück Holz“ da. gelegen sei. Die akuten
Brscheinungen waren bereits geschwunden, als Pat. am
5. Mai plötzlich Zuckungen im rechten Mundwinkel bekam.
.\n demselben Tage stellten sich auch, bei vollem Bewußt-
s(ün, Krämpfe im rechten Mundfazialis uud der glejchseitigen
olx'ren Extremität ein, die sich bei Bewegungen, Aufsetzen
oder dergleichen, verstärkten und die im Laufe der Nacht
außerordentlich häufig auftraten. Gleichzeitig trat auch eine
Parese der rechten oberen Extremität auf. Der Eazialis
war bereits bei der Aufnahme paretisch. Am nächsten Tage
wurde eine motorische Aphasie und rechtseitige Hemianopsie
konstatiert. In den folgenden Tagen traten wieder nur
Zuckungen im Mundwinkel auf; die Bindenausfallserschei¬
nungen gingen allmählich zurück. Von Ende Mai an aber
hatte Pat. immer wieder in wechselnder Zahl rechtseitige
Jack so tische Anfälle, die vom Vlundfazialis ausgingen und
meist auf die oberen Bxlrerni täten Übergriffen. Manchmal
kam ('S nur zu einem geringen Verziehen des Mundwinkels
und einer krampfhaften Pronationshewegung des Unterarmes
“) Sarrailh6, Etudes sur les causes occasioiielles des acc^s
d’4pilepsie jacksonienne. (Th6se de Bordeaux 1903.)
Stau der, Epileptiforme Krämpfe bei Diabetes mellitus.
(Münchener med. Wochenschr. 1906, Nr. 35.) [
— Pat. fühlte meist vorher das Kommen der Anfälle und
fand noch Zeit, sich niederzulegen — manchmal war ob¬
jektiv überhaupt nichts wahrzunehmen und Pat. hatte bloß
subjektiv das Gefühl eines Krampfes in der rechten Gesichts¬
hälfte und im rechten Arm. Es traten also halbseitige
Krampfanfälle im Wechsel mit „sensiblem Jackson“ auf,
die noch bei der Transferierung des Patienten auf eine
andere Abteilung — Pat. war ein Jahr auf unserer Klinik
gewesen • — bestanden. Ich will noch bemerken, daß die
Lumbalpunktion ein negatives Ergebnis hatte und auch sonst
nichts für die Annahme einer progressiven Paralyse sprach.
Es handelt sich also wohl auch in dem zuerst be¬
schriebenen Falle um eine kortikale Epilepsie als Folge
der toxischen Wirkung des Alkohols, von (lern man wohl
in derartigen Fällen .annehmen muß, daß er eine lokale, wenn
auch mit unseren Hilfsmitteln nicht nachweisbare Verände¬
rung gesetzt hat.
Remak®) hat die oben kurz erwähnte Fmkrankung
eines 33jährigen, sonst gesunden Arbeiters, bei welchem
erst Krämpfe in der Zunge, dann auch im unteren Teile
der linken Gesichtshälfte mit einer Parese des Mundfazialis
auftraten, ebenfalls als eine partielle, kortikale Epilepsie auf¬
gefaßt. Da er über die Aetiologie des Falles nichts aussagen
konnte, rechnet er ihn zu den idiopathischen Krämpfen.
Mein Fall wäre mit Rücksicht auf die angenommene
Ursache als toxischer Zungenkrampf vmn den anderen
Zungeukrampfformen abzu trennen.
{Referate.
Die Verbesserung mangelhafter Negative.
Von Gr. Hauberrießer.
Mit 11 Tafeln.
Leipzig 1906, E. Liesgang Verlag M, Eg er.
Es werden die zahlreichen idetlioden — sie mußten zum
Teil erst neu ausgearbeitet werden — besprochen, die zur Ver¬
besserung schlechter Negative dienen können. Selbstverständlich
sind auch die jnöglichen Ursachen der Fehler und ihre Ver¬
meidung ahgehandelt. Das Thema ist wichtig, da es viele so wert¬
volle Negative gibt, daß sich ihre Rettung seihst auf komplizierte
Weise lohnt. (75 Seiten.)
=i<
Der Porträt- und Gruppenphotograph beim Setzen und
Beleuchten.
Von E. Kempke.
Enzyklopädie der Photographie, Heft 55.
2. Auflage.
Halle a. S. 1906, Verlag von W. Knapp.
Die Wirkung des Bildes hängt zum großen Teile von der
Stellung und Beleuchtung der Person und der Gruppe ah; das
Büchlein füllt nun mit seiner Anweisung eine Lücke in vielen
pholograj)hischen Lehrbüchern. (40 Seiten.)
Die Tonungsver fahren von Entwicklungspapieren.
Von E. Sedlaczek.
Heft 54 derselben Enzyklopädie.
Ausführliche wissenschaftliche Bearbeitung des Themas.
(159 Seiten.)
*
Orthodiagraphische Praxis.
Von Paul C. Franze.
Leipzig 1906, Nemnich.
Ein 40 Seiten starkes Heftchen, das sich Leitfaden der
Theorie, Technik und Methodik der Orthodiagraphie
benennt, in dem der Verfasser (praktischer Arzt in Bad Nauheim)
ahernials Winke für diese exakte üntersuchungsmelhode gibt.
Beigefügt sind elf Abbildungen von orthodiagraphiseben Vorrich¬
tungen und Orthodiagrammen, sowie zwei Thoraxradiograinnu'
(Lichtdrucke). K i (* u b ö c k.
i
I
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Atlas der orthopädischen Chirurgie in Röntgenbildern.
Von A. Hoffa und L. Rnueubuscli.
137 Bilder auf 80 Tafeln in Lichtdruck mit erklärendem Text.
Stuttgart 1906, F. Enke.
Der neue Atlas ist ungemein reichhaltig und zeichnet sich
durch Vortrefflichkeit und Schönheit aller Tafeln ohne Ausnahme
aus. Die Verfasser sind ebenso zum Gelingen der Originalauf¬
nahmen, wie der Verleger zur Ausführung der Reproduktionen
zu heglückwünschen. Die Ausstattung läßt nichts zu wünschen
übrig. Auch die Auswahl ist gut getroffen und bezieht sich auf
alle radiographisch darstellbaren Gebiete der Ortliopädie. Die
Erkrankungen des Hüftgelenkes nehmen den größten Raum ein;
Hüftluxation, Coxa vara und Koxitis ; die Deformitäten der Wirbel¬
säule sind gut vertreten, die der Ober- und Unterextremitäten reich¬
lich illustriert. Nächst der Tuberkulose sind Fälle von Arthritis
chronica, Knochenatrophien verschiedener Art, Syphilis, chro¬
nische Osteomyelitis, Rachitis, angeborene Deformitäten und Tu¬
moren aufgenommen, frische Osteomyelitis und Frakturen, soweit
sie nicht speziell orthopädisches Interesse beanspruchen, aber
weggelassen.
Wir wünschen dem selten schönen Werke die weiteste Ver¬
breitung unter Chirurgen, Orthopäden, Radiologen und pathologi¬
schen Anatomen, soMÜe Aerzten und Studenten überhaupt.
G. En ge Im an.
*
Mitteilungen aus Finsens medicinske Lysinstitut.
X. Heft.
Mit 1 Tafel, 12 Kurven und 6 Abbildungen im Text.
Jena 1906, Verlag von G. Fischer.
G. Busek: Ueber farbige Lichtfilter. Zur Erfor¬
schung der Wirksamkeit der einzelnen Farhstrahlen isoliert man
sie durch prismatische Zerlegung oder durch Filter, i. e. gefärbte
Glasplatten oder in Glasgefäßen mit in planparallelen Wänden ein-
geschlos'senen Flüssigkeiten. Busek bedient sich der letztgenann¬
ten Methode; er prüft Lithionkarmin, Fuchsin, Saffranin, hichrom-
saures Kalium, monochromsaures Kalium, Pikrinsäure, Orange G.,
Lichtgrün, Methylgrün, Kupferazetat, Kuprammoniunisulfat und
gesättigte Lösung von Kupferazetat in Pikrinsäure. lu Tabellen
und Kurven sind die in den verschiedenen Spektralahschnitteu
gemessenen Lichtstärken angegeben u. zw. in Prozenten der iir-
sprünglichen Lichtstärke ausgedrückt; es zeigte sich, daß es sich
häufig um Farbenmischungen handelte.
G. Busek: Ueber die photochemische Hautreak¬
tion. Beim Entstehen des Lichterythems spielen nach Finsen
folgende Faktoren eine Rolle: Qualität und Intensität der Licht¬
strahlen, Dauer der Belichtung, Pigmentationsgrad der Haut und
Dicke der Epidermisschicht. Busek fand nun weiterhin, daß
.an diversen Stellen seines Körpers zur Hervorrufung von Erythem
— bei einheitlicher Versuebsanordnung mit konzentriertem Bogen-
licht — verschieden lange Belichtung, szeiten erforderlich waren;
an Gesicht, Brust, Rücken, Abdomen und Arm genügten zwei
Minuten, am Dorsum manus waren 15 Minuten, an der Vota 20,
an der Unterextremität ebenfalls 20, an der Planta pedis 45 his
60 Minuten notwendig. In einem anderen Versuche wurde die
Beugeseite des Vorderarmes mehrerer Individuen verglichen, dabei
ergaben sich Unterschiede in der Empfindlichkeit, wie 1 : 4, ohne
daß der verschiedene Teint allein maßgebend war.
H. Mygind: Lupus cavi nasi, eine klinische Unter¬
suchung. Das Material bestand aus 200 Patienten, die wegen Lupus
der äußeren Nase behandelt wurden; es fanden sich 129 Fälle,
bei denen in der Nasenhöhle Lupus oder charakteristische Narben
oder Destruktionen vorbanden waren : bei 36 Männern und
93 Frauen. Es handelt sich um eine Lokalisation, die das Leben
des Patienten nicht in dem Grade gefährdet, wie die Erkrankung
tieferliegender Abschnitte der oberen Luftwege. Meist war der
Lupus cavi nasi von der äußeren Haut fortgeleitet; er konnte
jahrelang bestehen, ohne Destruktion hervorzurufen. Zumeist war
die Erkrankung schon an den Nasenlöchern zu finden, seltener
im Innern verborgen u. zw. erwies sich das Septum nasi als
Prädilektionsstelle im Innern, fast stets beiderseits. Bei 45%
der Betroffenen war es zur Perforation gekommen. Nur selten
konnte man bei Lokalisation im Nasenrachenraum annehmen,
daß sich der Prozeß dahin aus der Nasenhöhle fortgepflanzt hatte.
169
R. K o 1 s t e r : S I u d i e n ü h r d i (> E i n w i r k u n g g e-
wissor Lichtstrahlen auf sensibilisiertes Gewebe.
Strahlen von großer Wellenlänge rufen im durch Erythrosin sen¬
sibilisierten Gewebe einen eigenartigen, zum Untergaug von Ge-
websteilen führenden Prozeß hervor (vgl. Tapp einer, Dreycr
und H a 1 h e r s t a e d te r). Innerhalb der ersten zwölf Stunden
tritt bei so behandelten Mäusen Oedem auf, das allmählich zu-
ninimt und etwa 24 Stunden nach der Belichtung seine größte
Ausbildung erreichl. Die Gefäße haben sich erweitert und (uiL-
halten Massen polynukleärer Leukozyten mit Auswanderung sol
eher in die Umgebung. Die Muskelbündel werden mehr geschädigt
als das suhepitheliale Gewebe, also die Tiefe mehr als die Ober¬
fläche. Die Muskelhündel lösen sich in einzelne Fibrillen auf
und gehen unter, von Leukozyteninfiltration begleitet. Am vierten
Tage beginnt die Regeneration, die Gefäße ziehen sich wieder
zusammen und die Leukozyten schwinden allmählich, die Muskel¬
lücken schließen sich. Es handelt sich offenbar um eine primär
nekrotisierende Wirkung der Lichtstrahlen auf die Gewebszellen,
namentlich Muskelfibrillen, aber auch Haarfollikel und Talgdrüsen.
Die Nerven scheinen unverändert. Sekundär kommt es zu Leuko¬
zytenauswanderung.
K. L u n d s g a a r d : B e h a n d 1 u n g v o n Lupus c o n j u n c-
tivae. Unter 1250 Lupuspatienten litten elf an dieser Komplika¬
tion. Verf. kommt zu dem Schlüsse :
1. Wenn radikale Exstirpation ein paar Millimeter außerhalb
des Randes im gesunden Gewebe möglich ist, so ist diese Be¬
handlung anzuwenden.
2. Ist der Prozeß umfangreicher oder entstehen nach Exstir¬
pation Rezidive, so ist Lichtbehandlung anzuwenden; sie scheint
die einzige sichere Methode zur Heilung nicht operierbarer Fälle
zu sein.
3. Theianokauter, Auskratzung usw. sollen Hilfs-, nicht Haupt¬
methoden sein.
S. Schmidt- Ni eisen: Die Wirkung der Radium¬
strahlen auf Chymosinlösungen. Seihst die kräftigsten
Präparate üben darauf nur eine sehr geringe, abschwächende Wir¬
kung aus u. zw. durch Lumineszeiiz der an der Innenfläche des
Versuchsgefäßes gebildeten Ultraviolettstrahlen.
S. Schmidt-Nielsen: Ueber die Verwendbarkeit
des Lichtes als Reagens. Es wird zunächst auf die Varia¬
tionen und Versuchsfelder bei Inaktivierung von Chymosiulösun-
gen, sowie auf die Tatsache aufmerksam gemacht, daß Licht¬
wirkung keine maskierte Wärmewirkung ist. Schließlich kommt
Verf. zu dem Schlüsse, daß seine Methode mit Bogenlicht viel
genauer ist als die anderer Forscher, z. B. von Duclaux und
Sebelien mit Sonnenlicht an Oxalsäurelösungen.
A. Reyn gibt schließlich eine Älodifikation im Baue und
in der Anwendung der Lichtbehandlung an.
*
Archives of the Roentgen Ray,
September, Oktober, November 1906.
London und New-York, Rebmann.
Edwards Hall- Birmingham macht auf die Fehlerquellen
der radiologischen Diagnose von Fraktur aufmerksam : Epi¬
physenlinien können mit Frakturen verwechiselt werden, per¬
spektivische Verkürzungen (Femurhals) können Gomphose Vor¬
täuschen, addorsale Ellhogenaufnahmen „imitieren“ Olekranon¬
fraktur, das Akromioklavikulargelenk ,, sieht wie Fraktur aus“,
perspektivische Verdickungen können als wahre imponieren. Wer
aber an die Deutun| des Bildes mit anatomischen und radio¬
logischen Kenntnissen herangeht, kann sich vor Fehldiagnosen
schützen und die von Goldin g-Bird behandelte Frage, „ob ein
Radiogramm Fraktur zeigen könne, wo keine vorhanden ist,“
erscheint in dieser Form widersinnig.
Eitner-Wien teilt seine bereits in der Wiener medizini¬
schen Presse 1906, Nr. 24 und 25, veröffentlichten Erfahrungen
mit dem Freund sehen Radiometer mit ; es werden stets wieder¬
holte, sehr schwache Bestrahlungen zu s('chs Minuten gegeben.
Belot-Paris bestätigl die überaus günstige Wirkung der
Radiotherapie bei Pseudo I eukämie verschiedener Form, wenn
auch der Erfolg nicht mit derselben Regelmäßigkeit eintritt wie
bei Leukämie. ,,Wer bei diesen Erkrankungen die Röntgen¬
strahlen nicht anwendet, ladet dieselbe Verantwortung auf sich,
i/ü
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 6
wie wenn er einem Syphilitiker Quecksilber vorenthaltcn wollte.“
Bei Karzinom und Sarkom ist das Verfahren selten ohne
Nutzen, zuweilen sogar hervorragend wirksam. Die Ausführungen
entsprechen vollkommen dem neuesten Standpunkt; auch
ist die Bedeutung richtiger Technik und Tiefendosierung gebüh¬
rend gewürdigt.
Auch Willia ms Chisholm- London, B i s s e r i e - Pa ris.
Butcher Deane-London, Laquerriere-, Foveau de Cour-
melles-Paris, Reuß-Chemoga und Gr oßm a n n- Wien geben
ihre günstigen Erfahrungen mit Radiotherapie hei Karzinom
bekannt.
Bordier und Galimard-Lyon besprechen abermals ihr
neues, dem Sab ou r a u d - N oi r e sehen nachgebildetes Radio¬
meter. Sie legen die Leuchtscheibchen (aus Bariumplatincyanür)
nicht in halbe Fokushautdistanz, sondern direkt auf die Haut;
daher verfärben sieb diese nur langsam, aber eine Vergleichs¬
skala gibt schon die ersten Nuancen wieder. Es finden sich
vier Grade :
I angeblich entsprechend 5 H,
II „ 7 H,
III „ „ 13 H,
IV „ „ 22 H,
nach des Ref.-Prüfung 7
„ „ „ 16
. 28
H
H
H
H
Wie ersichtlich, bedeuten aber die Dosen III und IV nässende,
bzw. nekrotisierende Dermatitis, sind also praktisch nicht ver¬
wertbar; auch könnte es Vorkommen, daß man die Ausbildung
der so zarten Farbe I übersieht und daher stärker als l)eab-
sichtigt bestrahl t. V orläufig ist also S a b o u r a u d - N o i r e s In¬
strument nicht übertroffen.
Bordier und G a 1 i m a r d studieren auch Freu n d s Radio¬
meter, verwenden aber statt 5cm® nur 1cm® der 2‘’/oigeu.rodoform-
Chloroformlösung ; das Freiwerden von Vio mg Jod (schwache
Rotfärbung der Lösung) entspricht einer Röntgenlichtrose, die
sie 1 J. nennen; 1 J. ist äquivalent mit 1-4 H.
An Radiogrammen finden sich in dem Archiv Fingerfrak¬
turen, knöcherne Ankylose der Wirbelsäule, Osteomyelitis, De¬
fektbildung von Phalangen, Schrotschuß usw. reproduziert.
*
Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen.
Bd. X, Heft 2 und 3.
Hamburg 1906, Graefe und Sil lern.
Alban Köhler- Wiesbaden beschreibt typische Radiogrammc
von Knochengummen und vervollständigt dadurch die vom Re¬
ferenten vor Jahren publizierte Sammlung. Treffliche Bilder sind
angefügt.
Lieb old -Leipzig schildert einen Fall von Spontanfraktur
des Os ischii bei Tabes. Die Erscheinung ist selten, wenn auch
die Lokalisation des deformierenden Prozesses charakteristisch ist.
E r a n g e n h e i m - Altona studiert im Radiogramm die I lei-
lungsvorgänge bei Schenkelhalsfrakturen.
Bel ot- Paris bespricht in einem geistreichen Artikel die
Geschichte und Gegenwart der Radiologie in Frankreich; er hebt
die Verdienste der Franzosen Gouy, Perrin, Blondlot, Vil¬
la r d, B e n o i s t, B e c 1 e r e, C h a b a u d, S a b o u r a u d und Noire
hervor, deren Werke uns allen geläufig sind, würdigt aber nicht
weniger die Leistungen deutscher Forscher. An Lehrern der medi¬
zinischen Radiologie kennt man in Frankreich bisher erst drei:
B e c 1 e r e, B e r g o n i e und B e 1 o t. Auf wie viele mag sich die
Zahl in zehn und zwanzig Jahren vermehren?
W al ter-Hamhurg veröffentlicht seine physikalischen Stu¬
dien über radioaktive Umwandlung in populärer Weise.
Colombo-Rom macht auf die Fehlerquellen bei Verwen¬
dung des S a 1) o u r a u d - N o i r e sehen Radiometers aufmerksam.
Gillet-Berlin hat ein Verfahren der Röntgenstereoskopie
mit unbewaffnetem Auge ausgebildet und für IMessungen ange¬
wendet, ferner einen einfachen Orthodiagraphen konstruiert.
Jaksch-Prag teilt Fälle geheilter lAingenluberkulose mit
und zeigt die radiographisch-anatomischen Substrate.
Krause und Ziegler -Breslau veröffentlichen eine unge¬
mein ausführliche Studie über die Einwirkung der Röntgenslrahlen
auf das tierische Gewebe, worin sie die bisherigen Forschungen
bestätigen und ergänzen. Sie kommen auch auf die Theorie
der Röntgenwirkung bei Krankheiten zu sprechen und halten an
der Lehre von der primären Zelläsion, zunächst mit Lähmung
der Zelltätigkeit, namentlich der Proliferation fest. Der vom Re¬
ferenten seinerzeit ausgesprochene Grundsatz, daß proliferieren-
des Gewebe am empfindlichsten für die Strahlen ist und daher
zuerst getroffen wird, besteht zurecht. „Röntgenbestrahlung wird
im allgemeinen nur da von Nutzen sein können, wo es sich
darum handelt, überschüssiges oder krankhaftes Wachstum zu
hemmen oder auszuschalten. Dagegen ist sie zu widerraten, wo
man ein Gewebe zur gesteigerten regenerativen Tätigkeit an¬
zuregen bestrebt ist, vollends, wenn das Gewebe schon hoch¬
gradige zelluläre Einbußen erlitten hat.“ Für den ersten Fall
dienen als Beispiele Tumoren und Leukämie, für den letzten per¬
niziöse Anämie.
A dam -Hamburg hat technisch vollendete Radiogramme
suspekter Lungenspitzen hergestellt und damit die Frühdiagnose
auf Lungentuberkulose in den nicht so seltenen Fällen stellen
können, bei denen die Erkrankung längere Zeit ohne Katarrh
in der Form des clironisch infiltrierenden Prozesses verläuft.
Kienböck.
=K
Die Invalidenversorgung und Begutachtung beim Reichs¬
heere, bei der Marine und bei den Schutztruppen, ihre
Entwickelung un-d Neuregelung.
Von Dr. Fr. Paalzow, Generaloberarzt im Kriegsministerium.
243- Seiten.
(Band 24 der Bibliothek von Coler.)
Berlin 1906, August Hirschwald.
Im deutschen Heere habeir das Offizierspensions- und das
Mannschaftsversorgungsgesetz, beide vom 31. Mai 1906, eine Um¬
wälzung der bisherigen Invalidenversorgtmg und dadurch auch
der Sachverständigentätigkeit der Militärärzte mit sich gebracht.
Letztere in die neuen Verhältnisse einzuführen, ist der Zweck
des vorliegenden Buches, das dem Generalstabsarzte der Annee,
Prof. Schjerning, gewidmet ist.
Die Fürsorge für den undienstbar gewordenen Krieger im
preußischen Heere reicht bis auf den großen Kurfürsten zurück,
der die ,,Blessiertenkompagnien“ stiftete und den Verwundeten
,, Schmerzensgelder“ auszahlen ließ. Vorher hatte die Invalidenver-
S'orgung gerade nur in der Erlaubnis zum Betteln bestanden. Einen
gewaltigen Schritt nach vorwärts tat dann Friedrich der Große, in¬
dem er das Berliner Invalidenhaus schuf nnd die Zivilversorgung
einführte. Unter Friedrich Wilhelm H. wurde die Invalidenfürsorge
zum erstenmal gesetzlich geregelt (Patent vom 2. Februar 1789).
In weiterer Ausgestaltung folgte hierauf eine Reihe von einschlä¬
gigen Gesetzen, bis dasjenige vom 27. Juni 1871 das Militär¬
versorgungswesen auf eine neue und auskömmliche Basis stellte.
Aber die fortschreitende sozialpolitische Entwicklung, vor allem
das Unfallversicherungsgesetz vom Jahre 1884, sowie das Unfall¬
fürsorgegesetz vom Jahre 1901 machten Aenderungen und Ver¬
besserungen auch in der Militärversorgung notwendig, die in
Form von Ergänzungsgesetzen festgelegt wurden. So erschien
1886 das Gesetz betreffend die Fürsorge für Beamte und Per¬
sonen des Soldatenstandes infolge von Betriebsunfällen, 1901 das
Gesetz betreffend die Versorgung der Kriegsinvaliden und der
Kriegshinterbliebenen. All das war Stückwerk, in dem sich zu¬
rechtzufinden bald sehr schwierig wurde. Nun ist durch die
beiden neuesten Gesetze vom Jahre 1906 über die Pensionierung
der Offiziere und die Versorgung der Personen der Unterklassen
des IJeeres eine einheitliche, auf den modernsten Grundsätzen
der Versorgungstechnik ruhende Norm gegeben.
Hervorzuheben ist, daß der Pensionsanspruch der Offiziere
nach der Militärdienstfähigkeit, bzw. -Unfähigkeit beurteilt wird,
wobei die Erwerbsfähigkeit nicht weiter in Betracht kommt. Bei
den Unterklassen (Mannschaft), für deren Mehrheit das Aufgeben
des militärischen Berufes nebensächlich ist, wird ausschließlich
die Erwerbsbeeinträchtigung für den Anspruch auf Ver¬
sorgung als maßgebend betrachtet. Offiziere erhalten demnacb
eine Pension, die Älannschaft eine Rente. Die Höchstpension
ist zufolge des neuen Gesetzes schon nach 35 Dienstjahren er¬
reichbar. Die ,, Verstümmelungszulage“ (bei uns Verwundungs¬
zulage genannt) ist beträchtlich verbessert worden.
Für den begutachtenden Militärarzt ist die Verfügung von
größter Wichtigkeit, dalJ eine prozentuale Schätzung der
Erwerbsunfähigkeit der Mannschaft anzuwenden sein wird, analog
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
171
wie beim bürgerlichen Unfallbegutachtungswesen. In jedem Falle
ist somit ein sorgfältiges IndivMualisieren erforderlich, was im
Anfänge den ungewohnten Aerzten manche Schwieiigkeit bereiten
dürfte. Wir erachten es daher als einen Hauptvorzug des vor¬
liegenden Buches, daß der Verfasser, ein versierter Fachmann,
in einem eigenen Abschnitt äußerst lehrreiche Erläuterungen und
Hinweise für die prozentuale Schätzung der erwerbsbeeinträch¬
tigenden Gesundheitsstörungen bringt. Insbesondere die Tabelle
auf Seite 148/149, welche die bisherigen mit den neuen Abstu¬
fungen der Dienst- und Erwerbsunfähigkeit in Vergleich stellt, ist
für die Uebergangszeit von höchstem Werte.
Auf Details des Inhaltes einzugehen, ist hier unmöglich.
Es sei nur bemerkt, daß geschichtliche Entwicklung und der¬
zeitiger Stand des Militärversorgungs- und Begutachtungswesens
wohl nirgends so ausführlich behandelt sind, wie im vorliegenden
Werke.
Ist auch Paalz'ows Buch in erster Linie für den deutschen
Militärarzt bestimmt, so sind die darin enthaltenen Erörterungen
und kasuistischen Beispiele doch nicht minder für den \yeiteren
Kreis aller jener Aerzte von Wert und Interesse, die sich mit der
ünfallbegutachtung überhaupt zu beschäftigen haben. Es verdient
demnach allgemeine Beachtung.
*
Repetitorium des österreichisch-ungarischen Heerwesens
im Felde für Militärärzte.
Zusammengestellt von Dr. Felix Halm, k. k. Regimentsarzt.
116 Seiten.
Wien 1906, Josef S a f ä f.
Das vorliegende Repetitorium soll den iVlilitärärzten bei
den applikatorischen und Kriegsspielübungen als handlicher Be¬
helf dienen. Daher ist auch der Abschnitt ,,Feldsanit,ätswesen’‘
am ausführlichsten behandelt; außerdem werden die wichtigsten
organisatorischen Daten über die einzelnen Waffengattungen und
Armeekörper, dann über das Feldverpflegs-, Train-, Feldeisen¬
bahn- und Etappenwesen übersichtlich zur Darstellung gebracht.
Mehrere der enthaltenen Angaben entsprechen nicht mehr
den Tatsachen.
*
Hilfsbuch für den Einjährig-Freiwilligen Mediziner im
ersten Halbjahr.
Zweite, umgearbeitele und vermehrte Auflage von Marsclmers Hilfsbucb.
104 Seiten.
Wien 1906, Josef § a f ä f.
Marsch n e r s Hilfsbuch für einjährig-freiwillige Mediziner
hat schon in der ersten Auflage viel Anklang gefunden. Die zweite
Auflage war notwendig geworden, weil durch das seither erfolgte
Erscheinen des neuen Reglements für den Sanitätsdienst im Kriege
wesentliche Aendenmgen eingetreten sind.
Im ersten Abschnitt werden das Sanitätshilfspersonal und
der Dienst auf Hilfs- und Verbandplätzen, sowie das Wesen der
Genfer Konvention besprochen. Der zweite Abschnitt behandelt
die im Heere systemisierten Verbandmittel, die wichtigsten Ver¬
letzungen und die Hilfeleistung bei ihnen. Im dritten Abschnitt
gelangen die Pflichten der Blessiertenträger auf dem Schlacht¬
felde, sowie das Führen und Transportieren von Kranken und
Verwundeten zur Erörterung. Die erste Hilfeleistung bei lebens¬
gefährlichen Zufällen bildet den Gegenstand des vierten Ab¬
schnittes, während der fünfte Abschnitt die den pinjährig -frei¬
willigen Mediziner betreffenden militärdienstlichen Vorschriften
enthält.
*
Epidemiologie der Garnisonen des k. u. k. Heeres in
den Jahren 1894 bis 1904.
Von Dr. Paul Myrdacz, k. u. k. Oberstabsarzt I. Klasse etc.
76 Seiten.
Wien 1906, Josef S a f ä f.
Die seit mehr als zwei Dezennien alljährlich erscheinende
,, Statistik der Sanitätsverhältnisse der Mannschaft des k. und k.
Heeres“ enthält ein reiches Material, um dessen wissenschaftliche
Venvertung sich Myrdacz schon durch frühere Arbeiten manches
Verdienst erworben hat. In der vorliegenden Studie ist auf Grumt
der statistischen Daten für den elfjährigen Zeitraum 1894 bis 1904
eines der interessantesten und praktisch wichtigsten Gebiete, das |
Auftreten der Epidemien und sonstigen Massenerkraiikungoti in
den Garnisonen des Heeres bearbeitet, wobei alle erwiesenen
oder vermuteten ätiologischen Momente und die zur Bekämpfung
der Seuchen angewandten Maßnahmen erwähnt werden. Myr¬
dacz hat auf diese Weise für jede Garnison in knappen Fm-
rissen eine epidemiologische Charakteristik geschaffen, die für
alle Militärärzte, insbesondere die leitenden, von größter Wich¬
tigkeit ist, da sie sich nunmehr ohne weitläufige Nachforschungen
über die während der letzten Jahre in ihrer Garnison oder ihrem
Dienstbereich vorgekommenen Epidemien Aufklärung verschaffen
können. Auch wird ihre Aufmerksamkeit schon von. vornherein
auf gewisse Oertlichkeiten und Verhältnisse gelenkt, die das Ent¬
stehen und die Verbreitung der Epidemien begünstigt bähen,
so daß in Hinkunft oft der rechtzeitig und zweckmäßig einge¬
leiteten Seuchenabwehr mehr Aussicht auf Erfolg beschieden sein
dürfte, als in früheren Zeiten, wo keine solchen Erfahrungen zur
Verfügung standen.
Der neuesten Studie Myrdacz’ kommt aber gewiß auch
eine Bedeutung für die wissenschaftliche Epidemiologie im all¬
gemeinen zu. Sie ist ein wertvoller Beitrag zu einer Sanitäts¬
geographie unseres Vaterlandes und es wäre nur zu wünschen,
daß die Arbeit eine Fortsetzung erfährt, um so für jede Gar¬
nison eine ununterbrochene Kenntnis der vorgekommenen Epi¬
demien zu sichern.
Die in den Kreis der Betrachtung gezogenen Krankheiten
sind: Darmtyphus, asiatische Cholera, Ruhr, Blattern, Scharlach,
Masern, Influenza, Ohrspeicheldrüsenentzündung (Mumps), epide¬
mische Genickstarre, Wechselfieber, Trachom, Skorbut, epide¬
mischer Bindehautkatarrh, epidemischer Magen- und Darmkatarrh.
Ueber einheimische Cholera, Rotlauf, Diphtherie und Krupp lagen
für den in Rede stehenden Zeitraum keine Berichte vor. Die
venerischen und syphilitischen Krankheiten wurden mit Rück¬
sicht auf ihren ubicpiitären Charakter außer Betracht gelassen.
Als Maßstab für die Extensität der einzelnen Epidemien dient die
bei allen größeren Gai’nisonen angegebene durchschnittliche Mann¬
schaftskopfstärke. Für jeden Korpsbereich werden zum Schlüsse
jene Garnisonen angeführt, in denen während der elf Jahre keine
Epidemien vOrgekommen sind.
Nach all dem oben Gesagten ist die ,, Epidemiologie“ nicht
nur für Militärärzte von großer Bedeutung, sondern sie kann
auch den praktischen Hygienikern und den Amtsärzten des Zivil¬
standes zum Studium bestens empfohlen werden.
Johann Steiner.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
60. Ein Fall von generalisierter Kontraktur in¬
folge von Kompression des H a 1 s m a r k e s ; Besserung
nach x\pplikation von Röntgenstrahlen. Von J. Ba-
binski. Bei einem von einem Automobil überfahrenen 15jährigen
Knaben stellte sich unmittelbar nach dem Unfall eine Lähmung
der linken oberen und unteren Extremität ein, während rechterseits
die Motilität erhalten blieb und nur leichte Parästhesien bestanden.
Im weiteren Verlauf entwickelte sich eine Herabsetzung der Tem¬
peraturempfindung an der rechten Seite, welche sich auch etwas
kühler anfühlte, ferner traten Lähmungserscheinungen am Rumpf
und an der rechten Körperhälfte., sowie Störungen der
Sphinkterfunktion hinzu. Die Sensibilitätsistörungen gingen all¬
mählich zurück, während die motorischen Störungen sich aus¬
breiteten, so daß ein lialbes Jahr nach dem Unfall eine allgemeine
Kontraktur des Halses, des Rumpfes und der Extremitäten bestand,
welche den Patienten fast vollständig immobilisierte. Es bestand
Muskelatrophie an der linken oberen Extremität, beträchtliche
Steigerung der Knochen- und Sehnenreflexe, positives Zehen¬
phänomen, zeitweilig stellten sich auch amwillkürliche spastische
Flexionsbewegungen an den unteren Extremitäten ein. Das Sym-
ptomenbild fübrle zur Diagnose einer organischen Läsion des
Halsmarkes, wahrscheinlich Kompression durch Bluterguß oder
hämorrhagische Pachymeningitis. Zur Sicherung der Diagnose
wurde auch eine Röntgenaufnahme der Wirbelsäule gemacht und
acht Tage später eine derartige Besserung der Beweglichkeit <ler
rechten oberen Extremität konstatiert, daß der Patient wieder
imstande war, die Nahrung zum Munde zu führen. Es wurde
172
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 6
nun eine systematische Anwendung der Röntgenstrahlen diircli-
geführt und fortschreitende Rückbildung der Kontrakturen beob¬
achtet. Die 45 Tage nach der ersten Röntgenapplikation vorge-
nonnnene Untersncbung ergab wesentliche Resserung der Reweg-
licbkeit des Kopfes, des Rumpfes und der oberen Extremitäten,
ebenso war, wenn auch in eingeschränkterem Maße, die Beweg¬
lichkeit der unteren Extremitäten wiedergekehrt. Für die Wirk¬
samkeit der Röntgenstrahlen in diesem Falle spricht die rapide
Besserung des bis dahin progressiv sich entwickelnden
Krankheitsl)ildes, sowie die Tatsache, daß bisher eine gleiche
bedeutende spontane Besserung der Motilitätsstörungen hei
Rückenmarkskom])ression nicht beobachtet wurde. Man kann an¬
nehmen, daß die Röntgenstrahlen die Aufsaugung des Blutergusses
oder pachymeningitischen Exsudates begünstigt haben. In gleichem
Sinne spricht die Heilung eines Falles von tuberkulöser Pachy¬
meningitis, wo sich unmittelbar im Anschluß an zwei zu dia¬
gnostischen Zwecken vorgenommene radiographische Unter¬
suchungen bereits eine sichtbare Besserung einstellte. — (Bull,
et Mein, de la Soc. med. des hop. de Paris 1906, Nr. 35.)
61. Aus der k. k. deutschen Universitätsklinik in Prag
(Aorstand : Prof. Dr. K reih ich). Zur Technik der Spiro¬
chäte n f ä r b u n g. Von Dr. Alfi-ed K r a u s, erster Assistent. Hoff-
m an n- Halle hat zum Nachweise der Spirochaete pallida die
Durchführung der Giemsafärbung an vorher durch Osmiumdämpfe
fixierten Präpaxaten empfohlen. Diese Methode hat den Fehler,
daß die Deutlichkeit der Darstellung vielfach durch unvermeid¬
liche Farhstoffniederschläge leidet. Verf. hat sich nun bemüht,
die Klarheit der Bilder zu steigern mit Hilfe einer 30o/oigen wässe¬
rigen Tanninlösung, in welcher die nach der Hof f mann-Hallei-
schen Methode angefertigten Präparate je nach ihrer Beschaffen¬
heit (Dicke des Aufstrichs, Dauer der vorgenommenen Färbung)
kürzere oder längere Zeit differenziert wurden. Der mehr bläu¬
liche Grundton der Aufstriche ging dabei in einen sehr zarten,
rötlichen über, während gleichzeitig unter Abgang bläulich-grüner
Farlnvolken der das eigentliche Präparat umgebende Mantel von
Farbstoffnieders’chlägen schwand. Nach dem Verbleiben von einer
halben Minute in der Tanninlösung, erzielte der Verfasser, daß
sich die deutlich rot gefärbten Spirochäten vom farblosen oder
zart rosarot gefärbten Grund klar abhoben, ln den auf diese
M’eise hergestellten Präparaten erfolgt das Aufsuchen der Spiro¬
chäten dank der scharfen Kontraste ungemein leicht. Verf. em-
])fiehlt seine Metlmde für Ausstrichpräparate ganz besonders zu
Demonstrationszwecken und für jene Fälle, wo es sich darum
handelt, gewdsse Anhaltspunkte über die Menge vorhandener Spiro¬
chäten zu erhalten. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1906,
Nr. 52.) G.
*
62. Aus dem Laboratorium der psychiatrischen Universi¬
tätsklinik in Basel (Direktor: Prof. Dr. G. Wolff). Heilungs¬
vorgänge an Erweichungen, Lichtungsbezirken und
Zysten des Gehirns. V(m Di'. S. Saltykow, Prival dozen!
der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie an der
Universität Basel, zurzeit Prosektor am Kaiiton-Hospital in_ Sankt
Gallen. Vernarben Erweichungsherde, so beteiligen sich daran
in wechselvoller Weise Glia und Bindegewebe, indem fast gleich¬
zeitig gliöse und bindegewebige Wucherung auftritt. Unter Um¬
ständen kommt auch ausschließlich gliöse Heilung von selbst
größeren Erweichungsherden vor. Lichtungsbezirke sind nicht für
<lie multiple Sklerose typisch. Sie heilen nur gliös. Gliöse Narben
größerer Lichtungsbezirke sind schon makroskopisch sichtbar und
ähneln den Narben nach kleinen Enveichungen. Perivaskuläre
Zysten werden zumeist gliös eingekapselt, können aber auch
gliös oder bindegewebig obliterieren infolge Wucherung eines
präexistiei'enden, lymphatischen Retikulums. Bei der Heilung
der verschiedenartigsten Mischformen der drei Herderkrankungen
entstehen kompliziei'l gebaute atyinsche Narben. — (Archiv für
Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 41, H. 3.) S.
*
63. lieber die Anwendung von Sonnenbädern
bei Peritonitis tuberculosa. Von Dr. Karl Oppen-
heiiner, Ambulatorium für Kinderkrankheiten in München. Uebej'
zwei Beobachtungen, die einen zehnjährigen Knaben und ein acht¬
jähriges MädPlien betrafen, die beide an Bauchfelltuberkulose litten
und durch Sonnenbäder günstig beeinflußt wurden, wird ein¬
gehend berichtet. Der Knabe gebrauchte seine Sonnenbäder auf
einer 3 km von der Stadt entfernten ,,Kneippwiese“, er lief durch
14 Tage fast den ganzen Tag, ziuneist nackt, auf der Wiese umher,
legte sich von Zeit zu Zeit etwa eine halbe Stunde hmg in die
Sonne und kühlte sich wieder ab. Seine Nahrung war dürftig.
Das Mädchen nahm die Sonnenbäder auf dem flachen Dach des
Wohnhauses, war stets nur kurze Zeit der Sonne ausgesetzt. Das
Körpergewicht stieg bei dem Knaben bei gleichzeitigem Rückgang
des Aszites; das Aussehen des Kindes wurde ein besseres, es
wurde vergnügt und munter; der früher leidende, matte und
gleichgültige Gesichtsausdruck schwand, es blickte wieder fröhlich
in die Welt. Ob man es mit einer Dauerheilung zu tun habe, das
ist noch abzuwmrten. Das Mädchen nahm stets an Körpergewicht
zu, wenn es auf dem Lande war und dort fleißig Sonnenbäder
nahm. Wenn es des kühlen Wetters halber in die Stadt kam,
so verschlechterte sich dessen Befinden, es verlor wieder an
Körpergewicht. Aber auch in der Stadt sah es besser aus, w^enn
es fleißig Sonnenbäder gebrauchte und nahm einmal in 14 Tagen
um 2 kg zu. Dem Verfasser ist es wahrscheinlich, daß die inten¬
sive Bestrahlung eine Hyperämie des Peritoneums erzeuge, daß
die Sonnenbäder ähnlich wirken wie die Laparotomie oder die
Bi er sehe Stauung. Auch Poncet hat tuberkulöse Knochenaffek¬
tionen der Kinder mit gutem Erfolg schon mit lokalen Sonnen¬
bädern behandelt. Ein abschließendes Urteil ist dem Verfasser
bei der geringen Zahl der Beobachtungen noch nicht möglich.
— (Zeitschrift für physik. und diätetische Therapie 1907, H. 1.)
E. F.
*
64. Der gegenwärtige Stand der Schutzimpfung
gegen Tuberkulose. Von G. Moussu. Die Zusammenfassung
der Erfahrungen über die von v. Behring angegebene Schutz¬
impfung der Rinder gegen Tuberkulose zeigt, daß diese Methode
unwirksam und ohne praktischen Wert ist. Dies geht besonders
aus den in Melun vorgenommenen Kontrollversuchen hervor. Die
Impfung besteht in der intravenösen Injektion von wenig viru¬
lenten menschlichen Tuberkelbazillen in Form einer Emulsion.
Bei den späteren Versuchen betrug die erste Dosis 0-004 g, die
zweite Dosis 002 g. Die Impfungen wurden ausschließlich an
solchen Tieren vorgenommen, welche durch die Tuberkulinprobe
als frei von Tuberkulose festgestellt w'orden waren. Eine Gruppe
der Versuchstiere wmrde intravenös, eine zw^eite subkutan ge¬
impft und eine dritte Gruppe für längere Zeit mit an offener
Tuberkulose leidenden 'Tieren zusammengebracht. Die ersten zwei
Gruppen wmrden drei Monate nach der zweiten Impfung mit
virulenten Rindertuberkulosebazillen geimpft, dann neuerlich der
'Tuberkulinprobe unterzogen, auf welche nur ein Tier reagierte,
welches aber, wie die Sektion zeigte, keine tuberkulösen Herde
aufwies. Außerdem sprach die Beobachtung für die Unschädlich¬
keit des angewendeten Impfstoffes. Von den sechs intravenös
mit Rindertuberkulose infizierten Impftieren zeigten vier kleine
makroskopisch nachweisbare Läsionen, während zwei 'Tiere kleine
Lymphdrüsenherde aufwiesen. Von den mit dem gleichen Virus
infizierten Konirolltieren gingen drei an akuter 'Tüberkulose zu¬
grunde, drei an dere bekamen schwere Viszeral tuberkulöse. Die
Versuche isprachen demnach zugunsten einer gewissen Wirksam¬
keit der Schutzimpfung. Aehidiche Resultate wurden bei den
subkutan infizierten 'Tieren erbalten. Eine Gruppe der geimpften
'tiere wurde für längere Zeit mit an offener 'tuberkulöse
erkrankten 'Tieren zusammengebrachl, um möglichst den natür¬
lichen Infektionsmodus nachzuahmen. Die geimpften 'tiere er¬
krankten im Laufe eines .lahres sämtlich an Tuberkulose, woraus
die praktische Wertlosigkeit der Schutzimpfung heiTorgeht. Auch
ein vor Infektion durch Kontamination geschütztes Impftier,
welches ein Jahr nach (ler Impfung intravenös infiziert wurde,
ging an generalisierter 'Tuberkulose zugrunde. Außerdem zeigte
ilie Impfung von Meerschweinchen mit Lymphdrüsenpartikeln an¬
scheinend gesund gebliebener Impftiere, daß in den Drüsen an¬
scheinend virulente Bazillen enthalten wnaren. Auch sonst finden
sich in iler Literatur Berichte, welche den Wm-t der Tuberkulose-
JMr. 6
WlEiNEU KLiWiycllE WUCHEiNSCHRlFT. 1907.
173
Schutzimpfung in Abrede stellen. Auch sonst wurden Impfversuche
mit ahgetöteten Tuberkelhazillen, sowie mit in der Tiefe von
llouillonnährböden gezüchteten, ferner mit vii'ulenten, in Wasser
aufgeschwemmten Tuberkelhazillen gemacht. Diese Versuche
zeigen wohl, daß es gelingt, die Resistenz gegen Infektion zu
erhöhen, haben aber keine für praktische Zwecke verwertbaren
Resultate ergehen, so daß das Problem der Schutzimpfung gegen
Tuberkulose noch seiner endgültigen Lösung harrt. — (Sem.
med. 1906, Nr. 49.) a. e.
*
65. Die .Milchsäure in der Otiatrie. Von Dr. Viktor
Lange in Kopenhagen. Schon vor 20 .fahren (Monatsschrift
für Ohrenheilkunde 1887, Nr. 3) hat Verf. die Milchsäure hei
chronischer eitriger Mittelohrentzündung empfohlen. Er
wendet das Mittel auch heute noch an, pinselt, zumal wenn ('s
sich um hypertrophische Zustände im Mittelohr handelt, anfangs
mit verdünnter, später mit konzentrierter Milchsäure im Ohre
und beobachtet, daß gewöhnlich die Sekretion rasch abnimmt, daß
ein bestehender üblerOeruch in der Regel in kurzer Zeit schwindet.
Der durch konzentrierte Milchsäure bedingte Schmerz ist nicht
arg und geht rasch vorbei, isofern das Individuum nicht eine
besondere Reizbarkeit besitzt. Reibt man konzentrierte Milch¬
säure gut ein, BO färben sich die pathologischen Gewel)e weiß.
Fibröse Vegetationen werden durch die Milchsäure nicht beein¬
flußt, für die akuten Mittelohrentzündnngen eignet sie sich über¬
haupt nicht. Dei der diffusen, immer aufs neue rezidivierenden
Entzündung des äußeren Oehörganges pinsele man (mit AVatlej
mit einer dOVoigen Milchsäurelöisung einmal täglich, bis entweder
Bessening oder eine zu starke Reizung eintritt. 1st die Gehör¬
gangsentzündung teilweise abgelaufen, so wende man andere
Mittel .(Gazetampons, Pulver etc.) an. Der Milchsäure ist schließlich
keine hämostatische Wirkung zuzuschreiben. — (Therapeutische
Monatshefte 1906, Dezember.) E. F.
*
6(5. Drei Fälle von Z u n g e n n e u r a 1 g i e. Von Doktor
L. lloeflmayr, Nervenarzt in München. Im ersten Falle handelt
es sich um einen 68jährigen Mann, der plötzlich über heftige,
brennende Schmerzen entlang dem vorderen Zungenrande klagt.
Zungenwurzel und Gaumen, sowie weitere Umgehung sind olme
jede Störung. Geschmackscjualitäten intakt, Appetit gut, nui- stört
heim Essen der Schmerz in den Zungenrändern. Seit einigen
Tagen absolute Obstipation. 2. 44jähriger Kaufmann. Schmerzen
in den Zungenrändern hei Tag und Nacht, vorübergehend in die
Lippen ausstrahlend. (Obstipation. GeBchmack ungestört. Sensi¬
bilität, Motilität der Zunge vollkommen normal. 3. -tOjähriger
Hotelier. Plötzlich heftige Schmerzen im vorderen Zungenrande.
Augst vor Zungenkrebs. Obstipation. Untersuchung der Zulage
ergibt nichts Abnormes. Es handelt sich in allen drei Fällen um
mäßig ncurasthenische Patienten mit träger Darmtätigkeit. Mil
Hebung der Obstipation verschwanden auch die Schmerzen in der
Zunge. Interessant ist in diesen Fällen, daß: die beiden eigent¬
lichen Zungennerven Glossopharyngeus und Hypoglossüs — also
Geschmacksnerv und der motorische Nerv — vollständig unbe¬
teiligt waren. Die Schmerzen traten nur im Ausbreitungsgebiete
des Nervus lingualis, eines Zweiges des Ramus inferior des Trige¬
minus auf. Daß es sich um eine reine Neuralgie des Lingualis
handelte, kann nach Verf. daraus geschlosisen werden, daß die
Chorda tympani, die dem vorderen Drittel der Zunge die Ge¬
schmacksfasern zuführl, nicht an der Erkrankung beteiligt war.
Eine lokale Entzündung oder sonstige örtliche Erkrankung ist
ausgeschlossen. Eine solche Erkrankung würde nicht den sensiblen
Nerven allein in Mitleidenschaft ziehen ; außerdem waren die
zugehörigen Lymphdrüsen nie angeschwollen, wie dies sonst hei
Alund-, Zungen- und llalserkrankungen sofort der Fall ist. Als
Ursache der Neuralgie bleibt demnach, wie Verf. meint, nur die
habituelh; Obstipation. Es erscheint naheliegend, daß in diesen
Fällen ein bei der Darmfäulnis entstehendes und von der Dann¬
wand i'esorbiertes Toxalbumin eine nervenschädigende Rolle
spielt. — (Müiu'hener mediz. Wochenschrift 1906, Nr. 5t.) (f.
*
67. Ueber g e s te i g (U' t e s L ä n g e n w acdi s t u m d e i'
R ö h re n k 11 o c h (‘ n jugendlicher Individuen im An¬
fan g s t a d i u in tuberkulöser G e 1 e n k s e n t z ü n d u n g e n.
Von Dr. Th. Wartmann in St. Gallen. Untei' Anführung dei’
älteren kasuistischen Mitteilungen und dieshezüglichen experi¬
mentellen Ergehnisse (v. Bergmann, v. Langen heck, Ol¬
lier, Haab, Helfer ich, Dollinger u. a.) über Wachstums¬
störungen der Extremitätenknochen bei Entzündungsprozessen be¬
richtet Verf. einschließlich eigener Beobachtungen über vom (.'hef-
arzt Dr. F eurer in St. Gallen seit 25 .Tahren ,, regelmäßig und
einheitlich“ (mit ilem Bandmaß) vorgenommenen Messungen bei
tuberkulöser Koxilis und Gonitis. Von 131 Koxilisi)atienten wiesen
30, d. i. 22-9Co, eine Wachstumsverlängerung des entsprechenden
Beines von 0-5 bis 2 cm auf (Femur oder Tibia oder ganzes
Bein betreffend). Von 80 Gonitisfällen konnte bei 57, d. i. 71'’o,
eine Verlängerung des entsprechenden Beines von 0-5 bis 3 cm
konstatiert werden. Die AVachsLumsverlängerungen betrafen vor¬
wiegend jugendliche Individuen im Anfangstadium der Krank¬
heit. Feil rer ist der Ansicht, daß ,,die Tuberkulose an
H ü f t e u n (1 Knie bei jungen I n d i v i d u e n in allen F ä 1 1 e n
ei nma 1 AV a c h s 1 11 m s ve rl än g e r u n g macht“. In den Fällen,
die man überhaupt darauf untersucht hat, war die V^erlängerung
sehr oft da; und wo sie nicht gefunden wurde, maß man viel¬
leicht nicht zur rechten Zeit oder nicht wiederholt genug. In
zahlreichen Fällen folgte später u. zw. manchmal relativ schnell
auf die Amrlängerung eine Verkürzung der betreffenden Extremi¬
tät (Femur, Tibia oder ganzes Bein betreffend). Diese Beobach¬
tung steht im Gegensatz zu früheren Behauptungen v. Langen-
becks und H e 1 f e r i c h s, daß eine nachträgliche Längenabnahme
durch Besorplion nicht stattfinde. Ueher die Art und Weise, wie
die A'erlängeriing zustande kommt, bestehen noch Aleinungsver-
schiedenheiten. Die meisten Autoren neigen der Ansicht zu, daß
durch die Gelenksentzündung in den Knochenenden Hyperämie
entstehe und daß dadurch der Epiphysenknorpel zu verstärkter
Tätigkeit angeregt werde. Verf. ist mit F eurer der Ansicht, daß
die wahre Ursache noch im Dunklen liegt. Betreffs des Zusam¬
menhanges der Wachstumsverlängerimg mit der pathologischen
Schenkelstellung hei beginnender Koxitis (Abduktion, Außenrota¬
tion, Flexion etc.) und Gonitis, wofür nach König und anderen
Autoren höchst komplizierte Erklärungen liestehen, ist A^erf. der
Meinung, daß, nachdem bei tuberkulöser Koxitis im Anfangstadium
sozusagen immer A'^erlängerung des Beines besteht, dasselbe, wenn
der Schenkel länger wird und der Patient dabei herumgeht, not¬
gedrungen abduziert, eventuell flektiert werden mußi. (.tanz ana¬
loge A'erhältnisse bestehen beim Kniegelenk. Für die Praxis er¬
gibt sich hiei'aus die dringende Notwendigkeit, bei jeder AVachs-
tumsverlängerung von Koxitis- und Gonitiskranken Absatz und
Sohle für den gesunden Fuß zu erhöhen, um Stellungsanomalien
zu vermeiden. — (Deutsche Zieitschrift für Chirurgie 1906, Bd. 84.
H. 4 bis 6.) F. H.
♦
68. Diag n OS I iisc he Bedeutung des prozentischen
E i we i ß g e h a 1 1 e s (Minima und Maxima) der Aszites¬
flüssigkeiten. Von Dr. Martin Engländer, AVien. Da die
bisherigen Forschungen über die diagnostische Bedeutung des
prozentischen Eiweißgehaltes zu diametral entgegengesetzten Be¬
hauptungen führten, so befaßte sich Engländer in der vor¬
liegenden Arbeit neuerdings mit dieser Frage, ob der Eiwei߬
gehalt diagnostisch verwertet werden könne, für welche Hoft-
niann und Ru ne borg mit größter Entschiedenheit bejahend
eingetreten sind, ohne jedoch Beachtung gefunden zu haben.
Die Resultate der UiMersucliLingen Engländers sind wie folgt:
I. Portalstasen-Transsudate : gehören zu den eiweißärmeren Er¬
güssen (meist unter 2%); überschreitet der Eiweißgehalt 2-6'’/o,
so zeigt dies eine entzündliche Komplikation von Seite der
Peritonealhöhle, oder bei gleichzeitiger Kachexie ('in Karzinom
an, eventuell auch Syphilis, wie denn überhaupt der Eiweißgehalt
nur im Zusammenhang mit den übrigen klinischen Befunden
zu verwerten ist. 2. xAllgemeine venöse Stase : der Eiweißgehatt
ist im allgemeinen höher (l^/o bis über 4°,i>), aber diagnostisch
nicht sehr bedeutsam, weil die klinische Diagnose der Vitien nicht
darauf angewiesen ist und die Eiweißvverte auch Schwankungen
unterworfen sind. Nur erhel)liche Differenzen von 2 bis 3*^,0
Eiweiß bei verschiedenen Untersuchungen desselben Falles bieten
Anhaltspunkte für eine entzündli(he Komplikation. 3. Exsudate:
a) Peritonitis carcinomatosa : der Eiweißgehält ist sehr variabel
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 6
(unter 1% l)is über 7%), koniinl daher diagnostisch kaum in
Helracht. h) Peritonitis exsudativa chronica et Peritonitis tuhor-
culosa: Die Ergüsse geliören zu den eiweißreichsten (niemals
unter 3°/o, so daß, wenn keine Komplikation, welche eine Hydrämio
l)edingen könnte (chron. parench. Nephritis), vorhanden ist, ein
Eiweißgehalt unter 3%, eine Peritonitis chron. mit Sicherheit,
ausschließt, c) Peritonealer Erguß, auf Grundlage der allgemeinen
Serositis; er trägt den Charakter des Transsudates und des Plx-
sudates (Transoexsudat), dementsprechend der Eiweißgelialt
zwischen dem Maximum des Transsudates (2-6'Vo) und Minimum
des Exsudates (3%) liegend. Natürlich ist auch in diesem B’alle
der Eiweißgehalt nur im Zusammenhang mit den klinischen
Symptomen zu verwerten (Karzinom muß ausgeschlossen werden
können). Der quantitative Eiweißgehalt ist demnach in seinem
absoluten Zahlenwerte kein Kriterium dafür, oh ein Erguh ein
Transsudat oder Exsudat sei, mit Ausnahme jener Fälle, wo
der Eiweißgehalt die maximale Grenze der allgemeinen venösen
Slase als der eiweißreichsten Transsudationsgruppe überschreitet.
Die klinische Verwertung des Zahlenausdmckes kann daher nur
im Zusammenhang mit den übrigen klinischen Befunden, ins¬
besondere im Vergleiche mit den durch die Empirik gewonnenen
Minima und Maxima der verschiedenen Gruppen erfolgen. —
(Zeitschrift für Heilkunde 1906, Bd. XXVII, H. XI.) K. S.
*
69. Die Schweige Hier apie hei der Kehl kopf¬
tu herkul ose. Von Sanitätsrat Dr. Luhlinski. Verfasser
macht aufmerksam, daß er schon vor 20 Jahren die von Sir
Felix Sem on jüngstens warm empfohlene Schonung des Stimm¬
organs bei Tuberkulose (siehe Nr. 3, 1907, dieser Wochenschrift)
befürwortet habe. ,, Absolutes Schweigen, womöglich Monate hin¬
durch, eventuell nur der Gebrauch der Flüstersprache, ist ein
oft nicht zu umgehendes Postulat“ — so sagte er schon 1887.
Er teilt sodann die kurzen Krankengeschichten einiger günstig
verlaufener Fälle mit, fügt aber hei, daßi andere Fälle wegen
schwererer Erkrankung oder wegen ungenügender Befolgung der
Vorschriften minder gute Resultate erzielen ließen. Daneben
wendet Verf. jetzt auch die Anästhetika an (Orthoform, Anästhesin,
Kodein), weil diese Mittel für die gesamte Entzündungstherapie
große Bedeutung haben (Spieß). Ein Versuch ist übrigens nur
bei der inneren Kehlkopf tuberkulöse anzuraten, während die
Fälle von äußerer Kehlkopftuberkulose von der Schweigetherapie
kaum beeinflußt werden. Wo tiefgreifende innere Geschwüre vor¬
handen sind, wird man ohne eingreifende lokale Therapie durch
die Schweigekur allein wenig nützen. Die Ankylose des Kriko-
arytänoidalgelenkes, welche einer Entzündung um das Gelenk
ihren Ursprung verdankt, ist (eine Beohachtung) durch die kon¬
sequente Schonungskur einer Rückbildung fähig, während eine
Eröffnung der Gelenkkapsel, a’:so eine wahre Perichondritis, keine
Chance mehr bietet. Die Schweigetherapie ist innerhalb obiger
Grenzen gewiß von Nutzen. — (Berliner klinische Wochenschrift
1906, Nr. 52.) E. F.
>K
70. Aus dem königlichen Institut für experimentelle
Therapie (Abteilung für Krebsforschung) zu Frankfurt a. M. (Di¬
rektor; Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ehrlich). Unters luGiun
gen über K a i z i n o m i m m u n i tä t bei Mäusen. VMn Doktor
Georg Schöne. Jensen hat zuerst durch seine Experimente
gefunden, daß es möglich zu sein scheint, gesunden IMäusen
eine aktive Karzinomimmunität beizubringen und weiter auch
Mäuse, die schon durch Impfung kleine Geschwülste bekommen
haben, zu immunisieren, mit dem Erfolg, daß das Geschwulst¬
gewebe zerfällt und resorbiert wird. Ehrlich hat dann durch
seine Versuche diese Immunität über jeden Zweifel sicherge-
stellt. Verf. hat sich nun seit Mai 1906 auf der Karzinomabteilung
des Frankfurter Institutes für experimentelle Therapie mit Experi¬
menten über die Frage beschäftigt, ob es sich denn überhaupt
um eine spezifische, nur durch Tumorgewebe zu erzielende Im¬
munität handle, oder oh nicht auch im normalen Organismus im¬
munisierungsfähige Zellen oder Stoffe vorhanden seien. Nach
Angaben von Borrel in Paris ergaben Einspritzungen von Mäuse¬
leber keinen immunisierenden Effekt, während Bashford aus
London berichtet, daß es ihm gelungen sei, eine Immunität gegem
Jensens Tumor durch Einspritzung von Mäuseblut zu erzielen.
Verf. selbst hat zuerst mit Sarkom gearbeitet und ging erst später
zur Nachimpfung mit Karzinom fiber. Verschiedene Gruppen von
Mäusen wurden vorbehandelt mit 1. Mäuseemhryonen, 2. Mäuse¬
leber, 3. Mäusehoden, 4. Hübnehenembryonen, 5. menschlichem
Mammakarzinom. Der Verfasser teilt seine Versuche in sechs
lieigegehenen Tabellen mit. Das Resultat dieser Untersuchungen
ist im wesentlichen, daß eine Immunität gegen epitheliale Mäuse¬
tumoren durch wiederholte Injektionen eines Breies aus großen
Mäuseembryonen erzielt werden kann. Einspritzungen von Mäuse¬
organen (Leber und Hoden) haben in des Verfassers Versuchen,
wenn überhaupt, sehr viel weniger immunisierend gewirkt, eben¬
so fünf Tage alle Hühnchenembryonen. Doyen faßt die Kar-
zinomimmunität als eine bakterielle auf und bringt sie in Be¬
ziehung zu dem von ihm beschriebenen Micrococcus neoformans.
Nachdem es nun auf der einen Seite Bashford (Blutinjektionen),
auf der anderen dem Verfasser (Emhryoinjektionen) unabhängig
voneinander gelungen ist, mit normalen Geweben, in denen der
xMicrococcus neofoiinans nicht vermutet werden kann, Immunität
zu erzeugen, steht fest, daß es eine Immunität gegen Mäusekarzi¬
nom gibt, welche nicht spezifisch genannt werden kann und
welche jedenfalls niclit durch Parasiten oder deren Stoffwechsel¬
produkte hervorgebraebt wird. Ob diese Immunität identisch ist
mit der auf eine Tumorinjektion folgenden, bleibt eine offene
Frage. Ebenso muß es der Zukunft überlassen bleiben, zu ent¬
scheiden, ob es sich hier überhaupt um eine durch Serum vermittelte
Antikörpei Wirkung des Blutes handelt, oder ob die in Frage siebende
Immunität nicht etwa, als eine zelluläre oder histogene zu verstehen
und mit denjenigen Erscheinungen in Beziehung zu setzen ist,
welche Ehrlich untei' dem Namen der atreptischen Immunität
zusammengefaßt hat. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1906,
Nr. 51.) G.
*
71. Ueber die Diagnose der Orient beule durch
den Nachweis des P i r o p I a s m a. Von N a 1 1 a n - L a r i e r und
Nicola i dis. Klinisch ist die Orientbeule, auch Biskra- und
Aleppobeule genannt, leicht zu diagnostizieren, wenn ein in den
Ländern, wo die Krankheit endemisch herrscht, entstandenes Ge¬
schwür vorliegt. Dagegen ist bei beginnenden, abortiven, oder
bereits stark geschwürig zerfallenen Herden die Diagnose erst
auf Grundlage der bakteriologischen Untersuchung möglich. Para¬
siten wurden bei der Orientbeule von verschiedenen Autoren
beschrieben und scbließlich mit den Piroplasmen, welche das
als ,,Kala äzar“ bezeichnete remittierende Fieber hervorrufen,
identifiziert. Der fast konstante Nachweis der Piroplasmen hei
der Orientbeule spricht für die ätiologische Bedeutung dieser
Mikroorganismen und es wird in zweifelhaften Fällen durch den
Nachweis der Piroplasmen die Diagnose ermöglicht. Bei dem
von den Verfassern beobachteten, aus Konstantinopel stammen¬
den Patienten fand sich an der Dorsalfläche des ersten Metatarsus
des rechten Fußes eine große rundliche, ca. 2 cm im Durchmesser
haltende Papel von rötlich-violetter Färbung, mit hellerem Rande.
An der Spitze der Papel saß eine kleine gelbliche Kruste und in
geringer Entfernung davon eine Stelle, wo die Haut Abschuppung
zeigte. Die Papel war vollständig schmerzlos und erinnerte in
ihrem Aussehen am meisten an ein Hauttuberkulid. Lymphangoitis
und Inguinaldrüsenschwellung waren nicht vorhanden. Syphilis
und Tuberkulose waren anamnestisch nicht nachweisbar, dagegen
Erysipel und Malaria. Die Erkrankung war während eines Auf¬
enthaltes in Aleppo aufgetreten, wo der Patient Malariaanfälle
durchgemacht hatte und zahlreichen Moskitostichen ausgesetzl
war. Die Papel wurde an der Spitze inzidiert, von den Rändern
etwas Gewebe abgeschabt, sowie auch einige Tropfen Serum
erhalten. Das Präparat wurde eine halbe Stunde lang in mit
drei Teilen destillierten Wassers verdünnter Giemsalösung gefärbt
und darin zahlreiche Piroplasmen teils isoliert, teils in einer
Zahl von 15 bis 80 in großen Zellen Makrophagen nachge¬
wiesen. An einem Ende der Parasiten fand sich ein tiefblau
gefärbtes, halbmondförmiges Karyosoma und in dessen Nacb-
barschaft ein kurzes, viereckiges, dunkelgefärbtes Stäbchen. Auch
in dem aus der Läsion selbst, sowie 3 cm davon entfernt ent¬
nommenen Blut fanden sich Piroplasmen, dagegen nicht in dem
der Zeigefingerpulpa mitnommenen Blute. Die Btutuntersuclmng
ergab ausgesprochene Leukozytose. Mit fortschreitender Ver-
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
175
nar])ung nahm die Anzahl der Pirosomen ah. Es ist. in jedem
Fall einer suspekten, hei einem Anfenlhalt im Orient erworhenen
Läsion ratsam, die Untersuchung auf Piroplasmen vorzunehmen,
welche sich von den Hämatoblasten durch das Karyosoma und
den rechtwinkeligen, stäbchenförmigen Körper unterscheiden. Der
Refund von Piroplasmen an dem an einer vom Krankheitsherd
einige Zentimeter entfernten Stelle entnommenen ßlut macht die
Möglichkeit der Uebertragung der Erkrankung durch Moskitostiche
verständlich. — (Rull, et Mein, de la Soc. med. des hop. de
Paris 1906, Nr. 34.) a. e.
♦
72. Ueher Frühdiagnose von Infektionskrank¬
heiten durch Beachtung von allgemeinen Schwel¬
lungen des Ly m p h d r ü s e n s y s t e m s. V on Albert E. V i p o n d
(Montreal). Bei einer Anzahl von Infektionskrankheiten konnte
Verf. noch während des Inkubationsstadiums Lyniphdrüsen-
schwellungen konstatieren. Dieses Verhalten zeigt sich vor allem
hei Individuen im Alter von 3 bis 18 Jahren. Die Größe der Lymph-
drüsenschwellnng ist hei den einzelnen Krankheiten verschieden,
dieselbe ist z. B. hei Masern, Erisypel und Rubeolen stärker
als hei Scharlach und Keuchhusten. Daß die Schwellung ihre
Ursache in einem für die betreffende Krankheit spezifischen Toxin
hat, will Verf. aus der Tatsache erschließen, daß bei Diphtherie
während der Heilserumhehandlnng die Drüsenschwetlnngen
schneller znrückgehen, als hei Masern und Erisypel. Vereiterung
der geschwollenen Drüsen tritt nur im Falle einer Mischinfektion
auf. Als Eingangspforte für das die Drüsenschwellungen hewir-
kende Toxin sieht Verf. die Tonsillen an und empfiehlt daher vom
Standpunkte der Prophylaxe eine möglichst sorgfältige Mund¬
pflege. Die für die Frühdiagnose vor allem in Betracht kommenden
Krankheiten sind : IMasern, Drüsenfieher, Scharlach, Schafblattern,
Bnheolen, Mumps, Keuchhusten, Diphtherie, Rotlauf und Vakzine.
Von den Drüsensystemen sind am häufigsten die Zervikal-,
x\xillar- und Inguinaldrüsen affiziert. — (British medical Journ.il
1906, 15. Dezend)or.) .1. Sch.
Berliner Brief.
Unser heutiger Bericht soll der inhaltlichen Wiedergabe
zweier vor wenigen Tagen in Berlin gehaltener Vorträge ge¬
widmet sein, welche voraussichtlich, da sie in Zeitschriften er¬
scheinen werden, die mehr oder weniger „unter Ausschluß der
Oeffentlichkeit“ ausgegeben werden, einem größeren Inter-
essentenpublikum nicht in der Weise bekannt werden würden,
welche ihnen gebührt.
Am Friedrichs tage der Kgl. preußischen Akademie der
Wissenschaften, d. h. dem öffentlichen Sitzungstage, welcher
statutengemäß am Geburtstage Friedrichs des Großen abgehaiten
wird, gab in diesem Jahre — vor einigen Tagen — rmser
berühmter Chemiker Emil Fischer, eine, wie der Sekretär der
Akademie, der feinsinnige Philologe V ah len, sich treffend aus¬
drückte, ,, Probe frischer Forschung“.
Sein Thema bildeten Darlegungen ,, Ueher die Cliemie der
Proteine und ihre Beziehung zur Biologie“. Eine der wichtigsten
Fragen des ganzen Ge:sellschaftslebens ist die Nahrungsfrage;
die Hälfte aller unserer Ausgaben ist der Nahrung gewidmet.
Gesetzgebung, Physiologie, Botanik und Chemie beschäftigen sich
nnt den Nahrungsmitteln. Alle diese Nabrimgsmittel, trotz ihre)'
enormen Differenzen in bezug auf äußere Form, ihre Wirkung
auf die Sinnesorgane etc., lassen sich in chemisclier Beziehung
auf einige wenige chemische Grundstoffe zurückführen, deren
bedeutendster der Kohlenstoff ist. Zu guterletzt entstammen sie
alle dem Pflanzenreich, denn auch die animalischen Nährstoffe
stellen nur Umwandlungsprodukte der Pflanzen dar. Bei ihrem
Uehergang in den menschlichen, bzw. tierischen Organismus
gehen sie mit dessen Bestandteilen eine große Summe von
Wechselbeziehungen ein und die Erforschung dieser letzteren
ist das Hauptproblem der biologischen Cliemie. Von den drei
Hauptgruppen der sogenannten organischen Nahrungsmittel, den
P'etten, Kohlehydraten und Eiweißköiiiern ist die Natur der
ersteren schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
durch Chevreuil klargestellt worden, die Struktur der Mo¬
lekeln vieler Kohlehydrate ist aufgedeckt und von einer Reihe,
so von Traubenzucker — ■ durch Emil Fischer selbst — eine
Synthese hergestellt. Wie steht es mit den Proteinen, den Ei¬
weißkörpern, die sich von den beiden anderen Körpergruppen
durch ihren Gehalt an Stickstoff unterscheiden? Im weiteren
Verlaufe seines Vortrages geht Fischer die verschiedenen Arten
der Proteine durch, bespriclit deren Vorkommen in den ver¬
schiedenen Organen von Pflanzen und Tieren und erläutert kur¬
sorisch deren Hauptunterschiede im grobchemischen, tinkto-
rieilen etc. Verhalten.
Um zur genaueren Kenntnis der feineren chemischen
Struktur zu gelangen, gibt es zwei Wege: x4bbau und Aufbau.
Beide sind heschritten, der erstere natürlicherweise als der re¬
lativ einfachere zuerst, später die Synthese, beide mit ver¬
heißenden Hoffnungen für die Zukunft. Es wird erörtert, wie
die Proteine sich durch verschiedene Einwirkungen, so durch
Hydrolyse, besser noch durch kochende Salzsäure, zerlegen lassen,
zunächst in Peptone, weiter in Aminosäuren. Nun ‘kann Jüan
auf umgekehrtem Wege, durch Aneinanderreihung verschieden
konstruierter Aminosäuren — es ist das das eigentliche Arbeits¬
gebiet P'ischers und seiner Schule in den letzten Jahren —
Peptone entstehen lassen, diese wieder miteinander kuppeln und
gelangt so zu sogenannten Polypeptiden; es gibt deren bereits
mehr als 100 verschiedene, welche alle, je nach Art und An¬
zahl — bis zu 14 — der vereinigten Peptone auch dement¬
sprechende verschiedene charakteristische Eigenschaften auf-
weisen. Gewisse Peptide, insbesondere die von den Tetra pep-
tiden bis zu den DeLipeptiden weisen mit den natürlichen Pep¬
tonen so sehr viel Aehnlichkeiten auf, daß sie mit ihnen fast
identisch |sind.
Hat man so -also in der Tat Eiweißkörper synthetisch
aufgebaut — dieser „)nan“ ist immer und immer wieder Emil
Fischer selbst — so ist an eine Verwertung dieser Forschungs¬
resultate für soziale Zwecke nicht im geringsten zu denkcm;
der Weg ist ein mühsamer, komplizierter, vor allem auch sehr
teurer. Ein billiges Eiweiß auf diesem Wege herzustellen, wovon
einzelne Utopisten träumten und träumen, ist nach Fischer
einfach unmöglich. Als Möglichkeiten für eine weitere x\us-
nutzung uns zur Verfügung stehender Gebiete zur Ernährung
müssen wir ins Auge fassen eine ausgiebigere Ausnutzung der
Pflanzen und vielleicht der Zellulose; die Umwandlung der Zellu¬
lose im Organismus geschieht hauptsächlich auf dem Wege der
Fermentation ; gelingt eine Synthese von Fermenten, können wir
uns so die Zellulose und ähnliche Stoffe mehr nutzbar machen,
so erschließen wir uns damit eine unerschöpfliche Quelle dei'
Nahrung. Vor 80 Jahren fand Wöhler die — erste — Syn¬
these, die des Flarnstoffs; hoffen wir, daß zum hundertjährigen
Jubiläum dieser Tat ein intimerer Einblick in die Rätselwelt
der Proteine und Fermentationen geschaffen isf.
Der zweite Vortrag von Bedeutung, dessen Kenntnis ich
den Lesern der Wiener klinischen Wochenschrift vermitteln
möchte, wurde von dem hiesigen Physiologen Friedenthal
in der Gesellschaft für naturforschende Freunde zu Berlin in
der vorigen Woche gehalten. Er betrifft die Behaarung von
Mensch und Affe. Seine Bedeutung liegt in dem Nachweis,
daß die Menschenaffen den Menschen viel näher stehen als
den anderen Affenarten. Einen Beweis für die nahe Verwandt¬
schaft von Mensch und Affe hatte in seiner Zeit in Fach- und
Laienkreisen viel hemerkten Unteisuchungen Friedenthal be¬
reits auf dem Wege der Serumforschung erbracht, indem er
zeigte, daß die Seren von Mensch und gewissen xNnthropoiden
sich gegenseitig nicht fällen, wie die einander körperfremden
Seren. Wie in diesen zoologischen Spezies also identisches Blut
fließt, so ist ihre nahe Verwandtschaft auch in Bau und An¬
ordnung der Haare derselben enviesen. Ein neuer Beweis also
für die Richtigkeit Darwinscher Theorien, daß Mensch und
Anthropoiden zu einer und derselben Lhiterordnung der Pri¬
maten gehören; diese Behauptung, d-aß der Mensch vom Affen
direkt abstamme, ist bekanntlich weder von Darwin noch vo)i
Häckel jemals anfgestellt, sondern diesen nur untergeschoben
worden. Beim Mensctien unterscheidet man bekaimllich dreier¬
lei Arten von Haaren : Flaum-, Kinder- und Terminalhaare, das
letztere tritt erst mit der Geschlechtsreife auf. Der mensch¬
liche Fötus ist im sechsten Monat der Schwangerschaft mit
einem Pelz von Flaumhaaren überzogen, von dem nur die
Lippen, Konjunktiven, Nabel, Handfläche, Fußsohle, sowie ein
Ring um Genitalien und Anus ausgenommen sind u. zw. beim
Menschen und den menschenähnlichen Affen, bei anderen nicht.
Die Haare stehen einzeln oder in Reihen zu zweien oder dreien
neben den ersteren; im Beginn gibt es niu' eine Einzelstellung;
die spätere Anordnung deckt sich mit der dauerndeji
Anordnung der amerikanischen Affen, insbesondere der Hapa-
liden. Bereits im sechsten Monat beginnt beim Menschen der
Ersatz des Flaumhaarkleides durch die Kinderhaare, ilessen Cha¬
rakteristika die Ausbildung von Wimpern und Augenbrauen in
Einzelstellung und von Kopfhaaren in Stellung von zwei bis
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 6
1/H
zu fünf Haaren sind. Das Daiierliaar, Teiniiiialhaar, des Menschen
erscheiat erst zur Zeit der Pubertät, an Lippen, Achselhöhlen
und Mons Veneris, während ilie Haare der .Vffen hereils in ilen
ersten Jahren ihi'es Lehens den Charakter der Terniinalhaare auf-
weisen. Beim Auftreten des Termiualhaares sowohl wie der Kiiu.h'r-
haare heim Vlenschen sieht man öfter eine Haarslelluug, welche
denHylohatesformen eigentümlich ist, d. h. starke Haare in Einzel¬
stellung und dazwischen Gruppen in Flaumhaarstellung. Letz¬
tere verschwinden hei besonders starker Behaarung und machen
einer Beihenbildung der Terminalhaare wie hei anderen Primaten
Platz, so daß' hei extremer Ausbildung die Aehidichkeil des
Terminalhaares des Menschen mit dem Fell der Anthropoiden
auch dem Laien erkennbar wird. Die Haare der Halbaffen da¬
gegen besitzen weder mit denen der Anthropoiden, noch mit
denen des Menschen Aehnlichkeit. Eigejitümlich ist, daß die
physiologische Kahlköpfigkeit, d. h. die der weißen Rasse cha¬
rakteristische Eigentümlichkeit der Glatze der Schädelhaut auch
hei einzelnen Anthropoiden, so Schimpansen und Orang-Ltan
vorkommt. In bezug auf den Bart steht der Orang-Utan dem
Meiischen näher als allen übrigen Primaten. Die menschliche
Haararmut erklärt Frieden thal als eine Folge der Dome¬
stikation. Mit der Ausbreitung der — später pigmentarnien,
daher weiß erscheinenden, aber sehr starken — Terminalhaare
auf der Haut alter Leute tritt ein Zustand ein, der den Anthro¬
poiden eigentümlich ist ; nur legen diese bereits vor der Geburt
ihr Terminalkleid an.
Die Behaarung ist mit der keines anderen Lebewesens
zu verwechseln oder zu vergleichen, als mit der der menschen¬
ähnlichen Affen. Interessant ist übidgens auch die von Frieden¬
thal zum Schluß seines Vortrages erwähnte Tatsache, daß die
menschlichen Spermatozoen von denen der Affen kaum zu
unterscheiden sind. Pickai'dt.
Vermisehte ISlaehriehten.
Hofrat Prof. L. v. Schrötter beging am 5. d. M. seinen
70. Geburtstag. Aus diesem Anlasse wurde an seiner Klinik
eine Feier veranstaltet, an der nebst den Hörein, Freunden, Kol¬
legen und \ eixdirern des Gefeierten auch xVbordnungen auswärtiger
Vereine (Berliner laryngoskopische Gesellschaft, vertreten durch
Geh. Bat B. Fraenkel, Internationale Vereinigung gegen Tuber¬
kulose, vertreten durch Prof. Pannwitz) teilnahmen. ln zahl¬
reichen Ansprachen wurden die Verdienste v. Schrötters ge¬
würdigt. Im Namen der engeren Schüler überreichte der klinische
Assistent, Dr. Wein berge r, eine Festschrift.
Ernannt; Priv.-Doz. Dr. H. Lameris zum Professor
der Chirurgie in ITrecht. — Dr. S c h t s c h e g o 1 e w zum Pro¬
fessor der Chirurgie in Odessa.
*
V e r 1 i e h e n : Dem Begimentsarzl Dr. Adolf Reit m am n
das Offizierskreuz des rumänischen Ordens Krone von Ru¬
mänien. — Dem Oberhezirksarzte Dr. Moritz Rudnik in Czer-
nowitz der Titel und Charakter eines Landessanitätsinspektors.
— Dem Privatdozenten für Ohrenheilkunde Dr. Voß in Königs¬
berg das Prädikat Professor.
*
Habilitiert: Dr. Guyot-Bourg für interne Patho¬
logie in Genua. — Dr. Moris a ni für Geburtshilfe und Frauen¬
heilkunde in Neapel. — Dr. Migliorini für Hautkrankheiten
und Syphilis in Ididua.
♦
Gestorben: Der Professor der med. Klinik in Lissabon
Dr. Maced o. — Der Physiologe Sir Vlichael Foster in London.
*
Wir erhalten folgende Zuschrift: Der Vl. Kongreß der-
Deutschen Gesellschaft für orthopädische Chirur¬
gie wird in der Osterwoche, am Dienstag, den 2. April, dem
Tage vor der Zusammenkunft der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie, im Langenbeckhause, Ziegelstraße 10/11 stattfinden.
Die Eröffnung des Kongresses wird vormittags 9 Uhr erfolgen.
Von der Aufstellung eines Hauptthemas für die Verhandlungen
der G('sellschaft ist in diesem Jahre Abstand genommen worden.
Vorträge und Mitteilungen bitte ich jnöglichst l)ald — spätestens
bis zum 1. März — bei Herrn Prof. Dr. Joachimsthlal,
Berlin W., Ma.gdeburgerstraße 36, anzumelden. Vorzustellende,
von auswärts kommende Kranke finden in der Kgl. chirurgischen
Klinik Sr. Exzellenz des Herrn Geh. -Rat Prof. Dr. v. Berg¬
mann (Ziegelstraße '5/9) Aufnahme. Anmeldungen neuer Mit¬
glieder bitte ich mit der Unterschrift dreier Mitglieder der Ge¬
sellschaft ghdchfalls an Herrn Prof. Dr. Joachimsthal zu
richten. Köln, im Januar 1907. Barden heu er, Vorsitzender
für 1907.
+
Der Vorstand der Wiener Aerztekammer fordert hie-
mit die Aerzteschaft Wiens, resp. die ärztlichen Vereine auf,
gegen die geplante Einreihung der ärztlichen T('le-
phone in die Kategorie der Geschäftstelephone schärfstens Stel¬
lung zu nehmen und die Bestrebungen aller jener Komitees,
welche den Kampf gegen diese, speziell von der Aerzteschaft hart
empfundene Erhöhung der Telephongebühren führen, in der
energischesten und werktätigsten Weise zu unterstützen.
*
Aus dem eben versendeten Jahresbericht des
Krankenhauses der Barmherzigen Brüder in Wien ist
ersichtlich, daß im genannten Spitale 1906 6105 Kranke ver¬
pflegt worden sind, an denen insgesamt 2947 operative Eingriffe
ausgeführt wurden. An sämtlichen 15 Hospitälern der Barm¬
herzigen Brüder der östeir.-böhm. Ordensprovinz waren 21.001
Kranke in Behandlung gestanden.
Im Verlage von Urban & Sc h w a r z e n b e r g, W ien, ist
das Handbuch der Massage und Heilgymnastik, von
Dr. A. Bum in Wien in vierter vermehrter und verbesserter .Auf¬
lage erschienen. Wie der Verfasser des rühndichst bek;mnten Wer¬
kes hei'vorhebt, wurde im ersten, allgemeinen Teil des Buches der
physiologische Teil der Mechanotherapie, einer besonderen Bear¬
beitung unterzogen; im zweiten, speziellen Teile die Kapitel
,,Nerveidvrankheiten“ durch eingehende Bearbeitung der Uebungs-
behandlung bei Erkrankungen des Zentralnervensystems, „Er¬
krankungen und Verletzungen des Bewegungsapparates“ durch
Betonung der Bedeutung der (Mechanotherapie in der Unfall-
c h i r u r g i e erweitert.
*
Nervenarzt Dr. Artur Schüller woLnt nummhr IX, Gar¬
nisongasse 7, und ordiniert von 2 bis 3 Uhr.
*
Berichtigung. Im offiziellen Protokoll (Nr. 5), erste
Spalte, vorletztes Alinea, ist durch einen Druckfehler eine Un¬
verständlichkeit entstanden: statt _ _ von denen nur die heilten
Effloreszenzen _ “ soll es richtig heißen: ,.... von denen
nur die beiden End effloreszenzen _ “
*
Aus dem S a n i t ä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 3. Jahreswoche (vom 13. bis
19. Januar 1907). Lebendgeboren, ehelich 631, unehelich 286, zusammen 917.
Totgeboren, ehelich 55, unehelich 25, zusammen 80. Gesamtzahl der
Todesfälle 724 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
19'2 Todesfälle), an Bauchtyphus 4, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 13,
Scharlach 8, Keuchhusten 6, Diphtherie und Krupp 11, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 7, Lungentuberkulose 117, bösartige Neu¬
bildungen 50, Wochenbettfieber 2. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 45 (-j- 13), Wochenbettfieber 3 (=), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 106 ( — 20), Masern 356 (-}- 5), Scharlach 90 ( — 11), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 7 ( — 4), Ruhr 0 ( — 1), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 98 ( — 9), Keuchhusten 38 (-)- 14), Trachom 0 fO),
Influenza 1 (-j- 1).
Freie Stellen.
Gemeindearzlesstelle für den neukreierten Sanitäts¬
sprengel Wiznitz (Stadt), Bukowina. Jahresgehalt K 1000. Der Ge¬
meindearzt hat die Agenden eines fachmännischen Organes der Stadt¬
gemeinde Wiznitz im Sinne des Gesetzes vom 18. März 1888, L.-G. u. V.-B.
Nr. 13, zu versehen. Bewerber haben ihre mit den Nachweisen der
österreichischen Staatsbürgerschaft, der Berechtigung zur Ausübung der
ärztlichen Praxis in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und
Ländern und der Sprachkenntnisse versehenen Gesuche bis 28. Februar 1. J.
bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft in Wiznitz a. Cz. zu überreichen.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeinde Scharden-
berg (Bezirk Schärding), Oberösterreich. Jahresbezug K 1000, Einwohner¬
zahl 3853. Die mit dem Taufscheine, Heimatscheine, Doktordiplom,
Gesundheits- und Sittenzeugnisse und den Ausweisen über die bisherige
ärztliche Verwendung instruierten Gesuche sind bis 15. F e b r u a r 1. J.
bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft Schärding am Inn einzureichen,
welche auch bereit ist, nähere Auskünfte zu erteilen.
G e m e i n d e a r z t e 8 s t e 1 1 e für die Gemeinde Hermannstadt
(Sanitätsgruppe Hermannstadt Obergrund), Schlesien. Fixe Bezüge K 1000,
Landessubvention und K 740 Gemeindebeiträge für Armenbehandlung,
Totenbeschau, Vieh- und Fleischbeschau. In Aussicht steht außerdem
ein Pauschale für die Behandlung der fürstbischöflichen Waldarbeiter.
Die mit Tauf- oder Geburtsschein sowie mit den Nachweisen über die
Studien und die bisherige praktische Verwendung belegten Gesuche
sind bis 1. M ä r z 1. J. bei der Gemeindevorstehung in Hermannstadt
einzubringen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte ia Wien.
Sitzung vom 1. Februar 1907. _ . „r.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 17. Januar 1907.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 5. Dezember 1906. (Schluß.)
Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der Garnison Wien.
Sitzung vom 19. Januar 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 1. Februar 1907.
Vorsitzender: Vizepräsident Hofrat S. Exner.
Schriftführer : Richard Paltauf.
Der Vorsitzende teilt mit, daßi er im Namen des Präsidiums
das Bedauern darüber auszusprechen habe, daß über den For¬
trag vor acht Tagen bereits wieder eine Mitteilung: in der Tages¬
presse erschienen ist, was dem Vortragenden sowohl persönlich
unangenehm ist, als auch, wie bereits mehrmals vermerkt worden
ist, den Intentionen der Gesellschaft nicht entspricht.
Ferner macht der Vorsitzende aufmerksam, daß allfällige
Wahlvorschläge bis 15. Februar einzureichen sind; auch be¬
merkt der Vorsitzende, daß die Zahl der Mitglieder bereits eine
sehr große ist, so daß der Verwaltungsrat bei der xFufstellung
der Wahlliste vielleicht auf diesen Reichtum an Mitgliedern wird
Rücksicht nehmen müssen.
Hofr. Wagner v. Jauregg erinnert daran, daß er vor un¬
gefähr Jahresfrist einen kretinischen Hund vorgestellt hat. Der
Hund wurde bald nachher getötet; die Obduktion ergab rnakro-
skopisch wenig Bemerkenswertes; vor allem war die Schild¬
drüse vorhanden und ungefähr von normaler Größe. Es warden
daher Zweifel laut, ob man berechtigt gewesen sei, flen Hund
überhaupt als einen Kretin zu bezeichnen.
Prof. Sc hl a gen häuf er aber, der den größten Ted der
Gewebe des Hundes zur mikroskopischen Untersuchung über¬
nommen hatte, entdeckte in der Haut des Hundes einen ineik-
würdigen Befund, der das allergrößte Interesse erregen mußte.
An Präparaten, die in Formol oder in Orthscher Mischung und
Alkohol gehärtet und mit Hämatoxylin-Eosin gefärbt wurden,
sieht man eine von der roten B’arbe der Bindegewebsbalken
sich scharf abhebende, rein blaugefärbte Substanz, die sich teds
in dünnen Streifen zwischen die Bindegewebszüge liineinscluebt
und verzweigt, teils an einzelnen Stellen, besonders um die
Talgdrüsen herum, sich in größeren Massen ansammelt und daher
am Schnitte eine flächenhafte Ausdehnung gewinnt. Bei stärkerer
Vergrößerung sieht man, daß diese Substanz eine teils fein¬
faserige, teils netzförmige Struktur zeigt. Die Substanz macht
bei stärkerer Vergrößerung nicht den Eindruck eines präfor-
mierten Gewebes, sondern vielmehr eines Niederschlages oder
vielmehr Koagulums; sie sieht aus wie ein aus einer Flüssig¬
keit abgeschiedenes Gerinnsel, ähnlich etwa, wie sich Fibrm-
gerinnungen mikroskopisch ausnehmen. Und es dürfte das wohl
auch die richtige Erklärung für das Zustandekommen dieser
Bildung anzusehen sein, daß man annimmt, eine in der lebenden
Haut in halbflüssigem, kolloidem Zustand vorhandene Substanz
habe beim Absterben oder iniolge Einwirkung der Reagenzien
dieses mit Härnatoxylin sich blaufärbende Koagulum abgescbieden.
Noch schöner als mit Hämatoxylinfärbung ließ sich diese
Substanz durch Färbung mit Karbol-Thionin darstellen; die Sub¬
stanz färbt sich dabei hellrot und sticht scharf von der intensiv
blauen Färbung des übrigen Gewebes ab. . . ,
Auch mit der Unnaschen polychromen Methylenblautärbung
ließ sich die Substanz nach Alkoholwirkung durch ihre schöne
llotfärbung sehr gut nachweisen. Dagegen gab sie mit Tbionm
und Toluidenblau behandelt, keine Metachromasie und auch mit
Muzikarmin war keine elektive Färbung zu erzielen.
Außer dieser Substanz fand sich in der Kutis noch als be¬
merkenswerter Befund eine größere Menge von Mastzellen, die
besonders an jenen Stellen sich zahlreich vorfanden, an denen
die erwähnte Substanz in reichlicherer Menge vorhanden war.
Die eigentümliche Färbung dieser Suhstanz, die sich an
allen Hautstücken dieses Hundes nachweisen ließ, allerdings am
Kopf und Hals reichlicher als an den Extremitäten, legte sofort
den Gedanken nahe, daß es sich da um eine Art schleimiger Sub¬
stanz handle, die in die Haut eingelagert war. Denn die eigen¬
tümliche Färbung mit Härnatoxylin wenigstens ist _ auch dem
Muzin eigen. Wir haben sofort daran gedacht, daß wir da etwas
vor uns haben, was mit den Befunden, die englische Autoien
an der Haut von Myxödemkranken erhoben haben, identisch
sein dürfte. Wir erinnerten uns auch, daß seinerzeit Halli¬
burton bei der chemiscben Untersucbung der Haut Myxödem¬
kranker einen abnorm großen Reichtum an Muzin gefunden hatte.
Zunächst war allerdings die Frage zu entscheiden, ob dieser
Befund in der Haut des Hundes nicht etwa ein normaler ioder
eine Rasseneigentümlichkeit sei. Es wurden darum Hautstücke
von 16 Hunden der verschiedensten Rassen untersucht. Es fand
sich nun in den meisten Fällen keine Spur der beschriebenen,
mit Härnatoxylin sich blaufärbenden Substanz. In einigen wenigen
Fällen waren zwar Spuren davon vorhanden, aber nicht ent¬
fernt so massenhaft wie bei unserem kretinischen Hunde.
Konnte es so nicht mehr zweifelhaft sein, daß es sich da
um einen pathologischen Befund handle, so wuiHe unsere weitere
xFimahme, daß das reichliche Vorkommen dieser Substanz in
der Haut für den kretinischen Hund charakteristisch sei, bald
in vollstem Maße bestätigt.
Es gelang mir im Herbst des vorigen Jahres, wieder einen
kretinischen Hund ausfindig zu machen, den Sie hier vor sich
sehen. Dieser Hund, einer ganz anderen Rasse angehörig als
der erste, zeigte an einem ausgeschnittenen Stücke Haut vom
Halse ganz genau denselben histologischen Befund wie der erste,
mir in noch höherem Grade.
Es war also durch diese beiden übereinstimmenden Be¬
funde mit hinlänglicher Sicherheit festgestellt, daß die gefundene
Hautveränderung das Flyxödem des Kretinismus beim Hunde sei,
eine Feststellung, die um so wichtiger ist, als ja die Berechtigung,
die Hautveränderungen des endemischen Kretinismus als Myx¬
ödem anzusprechen, vielfach bestritten wird.
Es lag nahe, noch die Probe auf das Exempel zu machen
und den Einfluß zu studieren, den Fütterung mit Schilddrüsen¬
substanz auf die von uns gefundene Hautveränderung haben
würde. Diesen Versuch liaben wir auch gemacht, und es ergab
sich, daß nach einer dreimonatlichen Fütterung mit Schilddrüsen¬
tabletten die Menge der beschriebenen Substanz in der Haut
sehr beträchtlich abgenommen hat, so daß man erwarten kann,
daß die Haut nach hinlänglicher Dauer der Behandlung von
dieser schleimigen Einlagerung ganz frei sein werde.
Nun noch einige Worte über den Hund, den ich Ihnen vor¬
stelle. Derselbe stammt aus der Gegend der Kropf- und Kretinis¬
musendemie, nämlich aus St. Georgen ob Judenburg. Daßi der
Hund blödsinnig sei, daß er vor allem im höchsten Grade apa¬
thisch sei, konnte niemand bezweifeln, der ihn seinerzeit ge¬
sehen hat. W^as seine Körperbeschaffenheit anbelangt, so fällt
die Kürze der Nase, resp. der ganzen Schnauze auf, feiner
die dicken plumpen Extremitäten. Ich kann diese Eigentümlichkeit
der Körperbildung noch besser würdigen als Sie, da ich Gelegmi-
heit hatte, die Verwandten des Hundes zu sehen, nämlich eine
Schwester und einen Neffen. Dieselben haben ganz die schmalen,
langen und zierlichen Schnauzen ihrer Rasse ; denn um nicht
ganz reinrassige Dachshunde handelte es sich ja anscheinend.
Sie haben auch etwas längere und viel zierlichere Extremitäten
als dieser Hund. Vor allem aber sind sie himmelweit v^on^hni
verschieden durch die außerordentlicne Lebhaftigkeit ihres leni-
perameiits, während dieser Hund ein Ausbund von Stumpfsinn
war. Seine Beweguifgen waren so plump und langsani, daß er
nicht imstande war, einem Menschen in langsamem Schritt auf
einem Wege von fünf bis zehn Minuten nachzukommen. Ei hatte
ebenso wie der erste kretinische Hund, den ich Ihnen zeigte,
einen sehr trägen Stoffwechsel; er fraß sehr wenig, urinierte
nur einmal des Tages und ela nur ganz geringe Quantitäten
und setzte nur sehr selten Kot ab.
Auffallend waren die Veränderungen, die mit dem Hunde
im Laufe der Behandlung vor sich gegangen sind. Dieselben
betreffen vor allem sein Temperament. Wahrend er früher, ins
Freie geführt, in schwerfälligem Trott nur immer geradeaus ge¬
zottelt war, ohne rechts oder links zu schauen und ohne sich
um irgend etwas zu kümmern, läuft er jetzt häutig so, c a i man
ihm nicht nachkommen kann, beguckt und beschnuppert al es.
bellt Menschen und WTagen an, kurz er benimmt sich aut (l(‘r
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 0
Gasse wie ein anderer lustiger Hund. Zu Hause ist er jetzt zu¬
tunlich geworden und inanchinal sogar zuni Spielen geneigt.
Interessant ist die Veränderung, die Jiiit seinem Schweife vor
sich gegangen ist. Vor der Behandlung hielt er den Schweif
immer zwischen deii Beinen eingeklemmt, mit der Spitze nach
vorne gerichtet; und da er den ganzen Tag lag und immer
auf seinem Schwänze, so hatte er denselben ganz ahgescheuert,
so daß derselbe an der Dorsalseite vollkommen haarlos war.
Seit der Behandlung liegt er viel weniger und hält seinen Schwanz
so wie jeder andere Hund, ja beim Laufen steil aufgerichtet und
in steter lebhafter Bewegung; infolgedessen ist sein Schwanz,
wie Sie sehen können, dicht behaart geworden. Diese einge¬
klemmte und vorwärtsgekrümmte Schweifhaltung scheint allen
kretinischen Hunden eigen zu sein; wenigstens können Sie das
auf dem einen Bilde des ersten kretinischen Hundes sehr deutlich
sehen; und Cerletti und Perusini, die kürzlich einen aus
dem Veltlin stammenden kretinischen Hund heschriehen haben,
erwähnen diese Schweifhaltung ausdrücklich.
Auch der Stoffwechsel hat sich bei dem Hunde bedeutend
gehoben. Er frißt jetzt reichlich, er trinkt öfters auch Wasser,
was er fi üher nie getan liat; er uriniert gerade so häufig und rei(di-
lich wie jeder andere Hund und hat regelmäßigen Stuhl.
Zum Schlüsse noch ein Wort über die Schilddrüsen der
beiden Hunde.
Die Schilddrüse des ersten Hundes war, wie erwälmt, von
ungefähr normalei' Größe. Histologisch zeigte sich die Mehrzahl
aller Alveoli sehr stark ausgedehnt, prall mit Kolloid gefüllt;
die Zellen platt bis kubisch, anscheinend nicht verändert; rlas
Zwischengewehe normal. Also das histologische Bild eines Kolloid¬
kropfes, ohne daß makroskopisch Kropf, d. h. eine V^ergrößerung
der Schilddrüse, zu beobachten gewesen wäre. Genau dasselbe
Bild hol auch ein Stück Schilddrüse, das wir dem zweiten
Hunde exslirpierlen.
Sie sehen, das anatomische Bild der Schilddrüse gibt kaum
einen Anhaltspunkt zur Erklärung des Krankheitsbildes, denn
solche Schilddrüsen kann auch ein ganz gesunder Hund haben.
.Anderseits doch der so auffällige Effekt der Schilddrüsenfütterimg ;
also doch ein Beweis, daß es sich um mangelhafte Funktion
der Schilddrüse, um Hypothyreoidismus gehandelt hat.
Die Lösung des Rätsels ist darin zu sehen, daß man es
einer Schilddrüse überhaupt nicht ansehen kann, ob sie genügend
funktioniert oder nicht; denn dazu sind unsere Kenntnisse vom
Sekretionsvorgange in der Schilddrüse und seinem histologischen
Korrelat noch viel zu lückenhaft, um nach dem Aussehen einer
Schilddrüs(; sagen zu können, oh sie ausreichend funktioniert
hat oder nicht.
Diskussion: Riehl teilt mit, daß er an ihm von Professor
Wagner übergebenen Hautstücken dieses Hundes ganz den
gleichen Befund erhoben hat. Die an der menschlichen myx-
ödematösen Haut erhobenen Befunde stimmen weder unter¬
einander, noch mit dem Befunde an der Hundehaut überein;
wir kennen die anatomischen Veränderungen dieser Krankheiten
noch nicht genügend.
Prof. Wagner führt aus, daß er den geschilderten Befund
ni(dü als charakteristisch für jede Form von Alyxödem ansehe,
sondern nur für den endemischen Kretinismus des Hundes.
Einige Fälle von sporadischem Kretinismus zeigten diesen
Befund nicht; auch ni ht ein Fall von endemischem Kretinismus;
dieser wai' aber schon durch drei Jahre mit Schilddrüsentahletten
behandelt worden.
Es beschränkt sich die Haulveränderung beim Myxödem
offenbar übejdiaupt nicht auf die Kutis, sondern auch auf die
Subkuiis, wie die ])athologischen Fettansammlungen heim Myx¬
ödem, vor allem die so charakteristischen Pseudoiipome zeigen.
Dr. Füster demonstriert aus der chirurg. Aht. des Pri¬
marius Lot heisse 11 einen Fall einer P li ä h 1 u n g s v e r 1 e t z u n g
— Durchsiiießung des Vorderarmes durch eine Kehlleiste. (Er¬
scheint ausführlich im Archiv für llnfallheilkunde.)
Primararzt Dr. Schnitzler stellt einen 21jährigen Mann
vor, dem er einen großen S o 1 i t ä r t u b e r kel der Leber ex-
stirpiert hat. Der Kranke hatte als löjähriger Bursche die Ex¬
stirpation von Halslymphdrüsen und eine Operation wegen chro¬
nischer Mitlelohreiterung durchgemacht. Vier Jahre später kam
er zum erstenmal an Schnitzlers Abteilung. Damals be¬
standen Schmerzen im rechten Hypochondrium, Vergrößerung
des rechten Leherlappens, dessen Oberfläche höckerig war.
Längere Zeit hindurch wurde anliluetische Behandlung durch¬
geführt, die erfolglos blieb. Eine im Februar 1905 ausgefübrte
Laparotomie in der rechten vorderen Axillarlinie ergab das Vor¬
handensein von Netzadhäsionen an der Leber. Im rechten Leber¬
lappen harte Tumoren. Damals hlieh es hei einer Probe¬
laparotomie, die eine vorübergehende Besserung im subjektiven
Befinden des Patienten und eine dauernde Verkleinerung fies
rechten Leberlappens zur Folge hatte. Nach zirka einem JaLre
traten neuerlich stärkere Beschwerden auf, es entwickelte sich
in der Mittellinie, unter dem Schwertfortsatz, ein größerer,
schmerzhafter Tumor. Neuerliche antiluetische Behandlung er¬
folglos. Die hochgradigen Beschwerden des arbeitsunfähig ge¬
wordenen Patienten veranlaßten die Ausführung der vom Kran¬
ken selbst gewünschten neuerlichen Operation. Bei der am
7. November 1906 ausgeführten medianen Laparotomie fand
sich im linken Leherlappen ein zirka faustgroßer, weißer,
harter Tumor, der teils stumpf, teils scharf, unter sehr
starker Blutung aus der Leber ausgeschält wurde. Der exstir-
pierte, während der Operation als Gumma betrachtete Tumor
wog 178 g und erwies sich nach der Untersuchung durch Pro¬
sektor Dr. Zee mann als Tuberkel. Die starke Blutung wurde
durch Tamponade mit in Adrenalinlösung getränkter Gaze be¬
herrscht. Schnitzler betont die große Seltenheit dieser P’orm
der Lehertuherkulose. Ein von Ranschoff operierter Fall starb
sechs Tage post operafionem. Schnitzler konnte in der Li¬
teratur keinen weiteren Fall von operierter Lebertuberkulose fin¬
den. Die Berechtigung zu dem Eingriff erscheint durch die der
Operation folgende beträchtliche Besserung im Befinden des nun
mehr wieder arbeitsfähigen Patienten erwiesen.
Prof. Benedikt bemerkt zunächst, daß wir nach der alten
hippokratischen Denkmethode den Parallelisrnus zwischen Leiden
und Untersuchungsresultaten verfolgen müssen, wenn auch jede
Untersuchungsmethode in historischen Zeitperioden große Unvoll¬
kommenheit und Dunkelheit aufweist. Von diesem Gesichtspunkte
demonstriere B. zunächst vier gleichartig aufgenommene Röntgen¬
platten derselben Stelle desselben Individuums, die innerhalb zwei
Monaten hergestellt wurden. Der Kranke hatte Schläge aufs Occiput
bekommen und die Krankheitserscheinungen waren : lokale Em¬
pfindlichkeit gegen Perkussion, heftige Anfälle von Schmerzen
daselbst, die von epileptisch-kataleptischen Anfällen gefolgt wurdcm.
Komischerweise wurde dies Leiden von sieben Spezialzelebritäten
im Auslande als ,, Hysterie“ erklärt. Der Vortragende hat die erste
Platte bereits in einer früheren Sitzung gezeigt und damals wurde
von verschiedener autoritativen Seite der beobachtete okzipitale
Herd wahrscheinlich als ein Hämatom gedeutet, mit besonderer
Rücksicht auf das ursächliche Moment.
Eine Lumbarpunktion wurde von Eiseisberg bald darauf
ausgeführt und der Verdacht auf Hämatom oder Abszeß durch den
ganz negativen Befund (Albrecht) mit großer Sicherheit aus¬
geschlossen. Es wurde eine energische Therapie eingeleitet —
Points de feu mit Unterhaltung der Wunden durch eine Woche,
elektrostatische Dusche, Jodnatriiim und zuletzt Injektionen mit
Sublimat.
Die späteren Aufnahmen zeigten eine Abnahme des Herdes
— ein Zerflattern — desselben; hingegen trat die Undurchlässigkeit
der Knochen der Seitenwand des Occiput in abnorm greller Weise
hervor. Daß am Beginne die Undurchlässigkeit der Knochen so
wenig ausschlaggebend war, hätte eigentlich die Aufmerksamkeit
a priori erregen sollen.
Diese Tatsachen scheinen .mit Sicherheit zu erweisen, daß
es sich vom Anfänge an um eine Infiltration der Knochen
gehandelt habe und daß jetzt relative Ausheilung in Sklerose
stattfmdet.
Parallel mit diesem anatomischen Vorgänge — resp. der
Veränderung der radiologischen Bilder — ging der therapeutische
Erfolg. Die Anfälle wurden seltener, schwächer und blieben
durch mehrere Wochen aus. Nur Anstrengung büßt der Kranke
noch manchmal mit Kopfschmerz und das Anhören einer großen
Oper rief sogar in der letzten Nacht einen Schmerzanfall mit
kataleptischer Bewußtseinsstörung hervor. Die Perkussions-
empfmdlichkeit ist verschwunden.
Der Vortragende demonstriert weiters die Platte eines
Falles von traumatischer Exostose am hervorragendsten seitlichen
Teile der Eminentia occipitalis externa mit Fortsetzung
sklerotischer — d. i. ungewöhnlich undurchlässiger — Stellen am
Hinterhaupte dieser Seite (Folge eines Unfalls auf der elektrischen
Straßenbahn). Der Kranke — ein Student — büßt jeden Versuch
geistiger Anstrengung mit heftigem Kopfschmerz.
Bei einem anderen Falle (Eisenbahnunfall) weist die Platte
einen Sprung im Hinterhauptsknochen auf.
In einem weiteren Falle (Unfall auf der elektrischen
Straßenbahn) zeigte auf der Platte von der linken Seite die
innere Lamelle der hinteren Hälfte des Scheitelknochens eine
Reihe von Streifen (Sprünge) ohne Lokalsymptome. Rechts ist
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
179
eine Zone, die vom Scheitelbeine bis zur Eminentia occipitalis
externa reicht, in der große spontane Druckempfindlichkeit be¬
steht. Die Platte zeigt dementsprechend einen unregelmäßigen
Herd, der sozusagen stellenweise die undurchlässigen Knochen
verschwinden läßt. Der ganze Knochen dieser Stelle hat eine
knotige Umrandung. Es liegt hier offenbar wieder schwere
Osteitis und Periostitis vor; sie ist den Symptomen nach fort¬
schreitend.
Man sieht, wie unrecht es ist, hei mechanischen Traumen
des Kopfes natürlich auch durch Eiscnbahnunfälle den alten
Satz von Schädel- und Gehirnbeschädigungen
zu vernachlässigen und bloß auf dem Steckenpferde der
Shock-Neurose berumzureiten.
Primararzt Moszkowicz demonstriert fünf Patienten, an
denen die Uranoplastik nach einer von der Langenbeck-
sclien iMethode abweichenden Art ausgeführt wurde. Unabhängig
hievon hat der englische Chirurg Arbufhnot Lane an zwei¬
hundert Fällen ein ähnliches Verfahren angewendet.
Es wird ein Schleimhau tperi ostlappen im Gegensatz zur
L a n g e 11 b e c k sehen Methode nicht verschoben, sondern seiner
ganzen Breile nach über den Defekt umgeklappt. Bei sehr großen
Defekten wird der Schnitt am äußeren Bande des Processus alveo-
laris ausgeführt (Lane). Man gewinnt so einen Lappen, der
auch die breiteste Gaumenspalte überbrückt. Doch kann mau
mir hei ganz jungen Kindern, ehe die Zähne durchgebrochen sind,
den Schleimhautüberzug des Alveolarfortsatzes verAvendeii. Bei
Erwachsenen empfielill der Vortragende, dem umgeklappteii
Lappen, wenn er nicht den ganzen Defekt überbrückt, von der
entgegengesetzten Seite einen Lange nbeckschen Brückenlappen
entgegenzuschieben.
Der Vorteil der neuen Methode ist, daß die Lappen ohne
Spannung und mit breiten Flächen aneinandergeliracht werden.
Die Arteria palatina descendens kann dabei leicht geschont
werden.
Im Bereiche des weichen Gaumens kann auf jeder Seite ein
umgeklappter Lappen formiert werden. Der Vortragende nimmt
auch von der Schleimhaut des vorderen Gaumenbogens und den
seitlichen Rachenpartien soviel in den Lappen, daß ein sehr
langes Velum entsteht. Damit hofft er auch wesentlich bessere
funktionelle Resultate zu erzielen, als es bisher bei der Langeii-
b eck sehen Methode möglich war.
Die Operation wird unter Adrenalinanämie 'nicht mehr
als vier Tropfen der l%oigeii Lösung) aiisgeführt und ist fla-
durcli bei weitem nicht so schwierig und gefahrvoll als ehedem.
Kinder von zehn Monaten vertragen die Operation recht gut;
am zweiten Tage nach der (Jehurt zu operieren, wie es Lane
tut, möchte Vorlr. nicht empfehlen, da die Kinder den Operations-
shock nicht vertragen. Später soll nicht operiert, werden, da die
Kinder, wenn sie ,sich die näselnde Sprache einmal angewöhnt
haben, schwer davon ahzuliringeii sind. (Erscheint ausführlich
im Archiv für klinische Chirurgie.)
Diskussion: Dr. Ranzi: Ich möchte mir zu bemerken er¬
lauben, daß au der Klinik v. Eiselsberg auch in mehreroi
Fällen die L a n e sehe (dperalionsmethode ausgeführl wurde, je-
floch nicht mit so günstigen Resultaten wie die des Herrn Prim.
Moszkowicz. In diesen Fällen wmrde die La ne sehe Opera¬
tion mit der Vomei’plastik kombiniert. Zu dieser Kombination wmr-
(len wdr dadurch veratdaßt, daß die Vomeri)la&tik fast ausnahmslos
ausgezeichnete Resultate ergeben hatte. Es wurde also zuerst
der Defekt im harten Gaumen durch (lie Vouierplastik gedeckt
und dann in einem zweiten Akt zur Deckung der Spalte im
weichen Gaumen die Lanesche Operation ausgeführ'. Was die
Blutstillung anhelangt, so wurde dieselbe durch Irrigation mit
Eiswmsser erzielt; Adrenalin wuirde in letzter Zeit einige Male,
jedoch nur hei älteren Kindern, bzwn Eiavachsenen augew^andt.
Auch wir halten die Zeit nach dem ersten Lebensjahr als den
günstigsten Zeitpunkt für die Operation. Die schönen Resultate
MoszkowAcz’ wau’den gew'iß anregen, die Lau ('sehe Operation
in geeigneten Fällen häufiger zu versuchen.
Hofral Exner bemerkt zu einer Angabe des Vortragenden,
daß er aus Neuburgers Geschichte der Medizin entnommen
hat, daß die Uranoplastik bereits bei den Römern zur Zeit,
Christi Geburt ausgeführl wmrden ist.
D)-. Bartel: Zur Biologie' des P e r I s u c h I h a z i 1 1 n s
(mil Demonslra'ionen ). (Siehe 0 igin lar ikel in die ser Nuimre ’.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 17. Januar 1907.
G. Ri et her demonslrieii ein Kind mit Lymphangiom
und lipoma töser Wucherung. An der rechten Brustseite
ist eine handflächengroße, erhabene, blaurot verfärbte Stelle,
welche von w'eißlichen Strängen und eiwveiterten Gefäßen durch¬
zogen ist. Die Affektion, welche als eine Kombination von Lymph¬
angiom mit Lipom anzusehen ist, ist w-ährend der Beohachtungs-
dauer erheblich zurückgegangen.
B. Schick zeigt ein Kind mit einer schmerzhaLen Sclnvel-
lung des rechten Unterschenkels, w'elcher eine diffuse lueOischo
Periostitis der U n t e r s c h e nk e 1 k n o c h e n zugrunde liegt.
K. V. Pirquet demonstriert Fälle von Frühreaktion
hei Impfung. Vortr. hat Selbstversuche an einem Vorderarni
vorgenommen, außerdem wairden Kinder von einem Jahre einer
neuen Impfung unterzogen. Es zeigte sich, daß nach der Vak¬
zination eine Periode von Uuterempfindlichkeit gegen Revakzi-
nalion einiritt, w^elche dann von einem Stadium der üeberempfind-
lichkeit abgelöst wird.
W. Knöpfeimacher bemerkt, daß man bei subkutaner
Impfung ähnliche Resultate bekommt; die Stärke eler Reaktion
hängt von dem Konzentralionsgrad des Impfstoffes ab.
K. Lein er stellt einen achtjährigen Knah(?n vor, w'elcher
seit mehreren Monaten an Pemphigus vulgaris chronicus
leidet. Es traten zuerst große, mit klarer Flüssigkeit gefüllte Blasen
an den Wangen auf, der Inhalt trübte sich bald und die Blase
verwandelte sich allmählich in eine Kruste, w’elche unter Hinter¬
lassung eines pigmentierteil Fleckes abheilte. Später traten solche
Blasen auch am übrigen Körper auf, es kam auch zur Blasen¬
bildung im Munde. Der Inhalt der Blasen ist ursprünglich steril,
später finden sich in ihm Eiterbakterien.
Herrn. Schlesinger frägt, ob die Epidermis bei starkem
Druck eine erhöhte Ablösbarkeit von ihrer Unterlage zeigt.
K. Leiner erwddert, daß die Epidermis sich nicht leicht
ablösen läßt; auch bei starkem Druck kommt es nicht zur
Blasenbildung.
E. Sink a führt ein neunjähriges Mädchen mit akuter
lymphatischer Leukämie vor. Das Kind war früher voll¬
ständig gesund, vor vier Monaten wmrde es auffallend blaß, es
traten Hautinfiltrate im Gesicht und am Stamme auf, die Lymph-
drüsen schwmllen an, das Kind verfiel und in der Haut wurden
punktförmige Blutungen sichtbar. Die Rachentonsille und die
Mandeln sind erheblich vergrößert, ebenso die Leber. Die'' Bhit-
untersuchung ergibt 2,600.0(30 Erythrozyten, Färbeindex 0-6, 2000
weiße Blutkörperchen, unter ihnen nur eine geringe Zatd von
polynukleären Lymphozyten. Die Temperatur steigt jetzt' bis 40'’.
K. Hochsinger bemerkt, daß* in der Haut kleine lu-
moren sitzen, welche dafür sprechen, daß. es sich um einen
Fall von Leukaemia cutis handelt.
A. Bau mg arten demonstriert das anatomische Präparat
eines Falles von partieller id iop a thischer Oesophagus-
dilatation. Der untere Abschnitt der Speiseröhre ist gegen¬
über dem normalen oberen Anteile erheblich eiaveitert, eine
Stenose ist nirgends zu finden. Der Befund scheint für die Kon-
genitalität des Falles zu sprechen. Das Kind wmr im Alter von
sechs Wochen an Bronchitis gestorben.
R. Neurath bemerkt, daß von manchen Autoren als Ur¬
sache einer derartigen Dilatation der Spasmus des Pylorus an¬
gegeben ward.
Th. Esc her ich demonstriert anatomische Präparate von
Embolien bei postdiphtheritischen Prozessen. Ein
zweijähriges Kind bekam nach Diphtherie eine Lähmung der
rechten Körperhälfte, am jiächsten Tage Anfälle von Jaktationen,
daun Zeichen von Arterienverschluß' an beiden unteren Extremi¬
täten. Die (Jbduktion ergab Herzdilatation, verruköse Auflage¬
rungen an der Mitralis, einen wandständigen Ihrombus im linken
Herzen, Embolie und Thrombose der lliaca communis, Embolie
der A. fossae Sylvii mit Gehirnerweichung und Niereninfarkt.
— Ferner stellt Vortr. ein neunjährigeiS Mädchen vor, welches
nach Diphtherie eine Lähmung aller Extremitäten bekam; diese
gingen links vollständig zurück, rechts sind sie unverändert ge¬
blieben. Es liegt eine' siiastische zerebrale Hemiplegie vor.
Frau St. Weiß zeigt einen Säugling mit einer Urachus-
fistel. Am Mons Veneris des Mädchens findet sich eine Fistel,
aus welcher sich auf Druck krümelige, w'eiße, aus Lpitheiien
i bestehende Massen entleeren. Es liegt wohl eine' zystische Er-
i80
WIENER KLINIiSCllE WÜCIIENÖCIIRIET. iüU7.
Nr. 6
weilcruiig des persistierenden Urachus vor, welcher durch einen
Fistelgang nach außen mündet.
Behl Schick: Ueber Nachkrankheiten des Schar¬
lachs. Vortr. geht von der Tatsache aus, daß man schon h’s-
hor auf Grund rein klinischer Ueherlegung imterschiedeti hat:
die Gesamtheit der primären Scharlachsymptome mit ihren un-
miltelhareu Komplikationen und die Nierenentzündung als Nach¬
krankheit. Trotzdem die Zusammengehörigkeit beider Prozesse
in ätiologischer Beziehung noch nicht strikte bewiesen ist, sieht
man die Nierenentzündung als spezifische Nachkrankheit des
Scharlachs an. Das Auffälligste an der Nephritis ist das Be¬
stehen eines symptomlosen Intervalles zwischen primären Schar¬
lachsymptomen und Eintritt der nephritischen Symptome. Den
Schlüssel zur Erklärung dieser Tatsache sieht Vortr. darin, daß
die Niere nicht das einzige Organ ist, welches in der Rekonvales¬
zenz nach Scharlach Krankheitssymptome aufweist. Gleichzeitig
oder einen bis zwei Tage vor cler Nephritis kommt es häufig
zu schmerzhafter Schwellung der LymphdiTisen am Kiefervvinkel
und seitlich am Halse. Diese Lymphdiäisenerkrankung kommt
überdies als selbständige Nachkrankheit ähnlich der Nephritis
vor. Lymphadenitis und Nephritis sind die häufigsten Formen
der spezifischen Nachkrankheiten des Scharlachs. Die Ein¬
trittstage der Erkrankungen fallen in die Zeit vom
zwölften Krankheitstag bis zur siebenten Woche.
I ) a s M a X i m u m der E i n t r i 1 1 s t a g e findet ni a n i n d e r
dritten und vierten Woche nach Scharlachheginn.
Ausgehend von diesem Gesetze der Eintrittszeit, hat Vor-
Iragender die Vorgänge der Scharlachrekonvaleszenz auf weitere
Krankheitshilder studiert und in Uehereinstimrnung mit Kuw-
s c h i n s k i und Past o r naclnveisen können, daß- neben Lymph¬
adenitis und Nephritis postscarlatinosa auch' Fiebersteigerungen
ohne Befund, Endokarditis und rheumatische Affektionen auf-
t re teil können. Alle diese Spätformen der Rekonvaleszenzerkran¬
kungen halten sich an das oben aufgestellte Gesetz der Ein¬
trittszeit. Auf Grund eines Materiales von rund 1700 Schar¬
lachfällen der pädiatrischen Klinik in When entwickelt Vortr. die
Berechtigung der Annahme, diese neuen Formen von Nachkrank¬
heiten der Nephritis und Lymphadenitis postscarlatinosa anzu¬
reihen. Als Gründe seiner Annahme betont Vortr.: 1. das allen
Nachkrankheiten gemeinsame Gesetz der Eintrittszeit; 2. die Kom-
lünation mehrerer Formen von Nachkrankheiten bei einem und
demselben Individuum; 3. das Auftreten gleicher und verschie¬
dener Formen von Nachkrankheiten bei Geschwistern. Die Ent¬
scheidung, welche Formen der postskarlatinösen Erkrankungen
infektiöser, bzw. toxischer Natur sind, läßt sich noch nicht end¬
gültig fällen. Vieles spricht für eine gemeinsame Ursache säiut-
licher Nachkrankheiten. Oh diese gemeinsame Ursache identisch
ist mit dem Scharlacherreger, ist ebenfalls noch nicht festzu¬
stellen. Für die Identität spricht die Tatsache, daß die Rezidive
dasselbe E i n tr i tts g e s e t z befolgen wie die vorher er¬
wähnten Formen der Nachkrankheiten. Zum Schlüsse erörtert
Vortr. die Ursache des Inter valles zwischen primären Schar¬
lachsymptomen und Nachkrankheiten, die bisher nur hei der
Nephritis berücksichtigt wurde. Diese EiLlärungsversuche (Er¬
kältung, Speisen, mechanische Theorie Bohns, Spätausscheidung
von Toxinen [Le ich ten stern]) werden unzulänglich, wenn man
auch die anderen Formen der Nachkrankheiten erklären will.
\h)rlr. nimmt an, daß am zwölften Krankheitstag des Scharlachs
(une bis zur siebenten Woche dauernde spezifische Dis¬
positionsperiode für i)ostskarlatinöe Erkrankungen
besteht. Die größte Tendenz zum \V i e d e rau f f 1 a ck e r n des
s k a !• 1 a t i n ö s e n Prozesses besteht in der dritten und
vierten Woche.
K. II och singer bemerkt, daß in vielen Fällen die Lympli-
drüsen nicht eiki'anken; sie werden besonders dann befallen,
wenn die Affektion im Nasenrachenraum hochgradig ist. Dem
postskarlatinösen Fieber liegt wohl meist eine nicht nachweishare
Lokalisation des Prozesses zugrunde, z. B. eine schmerzlos ver¬
laufende Arthromeningitis. Hochsinger hat in der Privatpraxis
k('in Scharlachrezidiv beobachtet.
J. Za])pert bemerkt, daß auch hei Keuchhusten die Re¬
zidive meist in der vierten bis fünften Woche auftreten.
H. Schlesinger weist auf die d’onsillen als Eingangs¬
pforten von allgemeinen Infektionen hin und regt zu einer Unter¬
suchung über das Verhalten der Tonsillen hei Scharlach an.
H. Ah eis hat im Karolinen-Kinderspital an zahlreichen
Fälhm Symptome beobachtet, welche dafür sprechen, daß die
Nachkrankheiten und Rezidive des Scharlachs eine gemeinsame
Aetiologie haben. Rei einer größeren Anzahl traten in der Nach¬
periode T.ym])hadenitis, .Angina catarrhalis und ein neuerlicher
Zungenbelag mit nachträglicher Abschuppung auf.
P. Aloser bemerkt, daß in manchen Fällen Schwellungen
von abdominalen Lymphdrüsen das Auftreten von Nachfieber
erklären.
B. Schick envidert, daß er als postskarlatinöses Fieber
dasjenige bezeichnet hat, hei welchem trotz genauester Unter¬
suchung ein anatomisches Substrat für dasselbe nicht zu finden
war. Seine Untersuchungen über Alyokarditis sind noch iiiclit
abgeschlossen.
Th. Escherich lieht die Wichtigkeit der Untersuchungen
des Vortragenden für die einheitliche ätiologische Auffassung
der Nachkrankheiten des Scharlachs hervor. Er vermißt in den
Ausführungen des Vortragenden die Erwähnung der Myokarditis.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
(Sitzung am 5. Dezember 1906.)
(Schluß.)
Pick demonslriert: 1. Eine 82jährige Frau mit einem zirka
fünfkronenstückgroßen Ulcus rodens an der Haut der Oberlippe;
ein zweiter kleinerer Tumor findet sich auf der rechten Wange.
Außerdem finden sich im Gesicht an mehreren Stellen Knötchen
mit gelblicher, warziger Obmfläche in entzündlicher Umgehung.
Diese von Darier als Keratpse precancer euse bezeichnete
Affektion erklärt wohl in unserem Falle das sonst so seltene Vor¬
kommen multipler Epitheliome.
2. Einen 25jährigen Patienten mit Lepra. Pat. stannnt
aus Kanthey (City), einer leprafreien Gegend, ist aber als Rei¬
sender viel auch in Lepragegenden (Kalifornien etc.) gereist.
Die Krankheit besteht erst seit einem halben Jahre u. zw. bemerkte
Pat. die ersten Erscheinungen im März 1. J. ; drei Wochen nach
einer am linken Oberarm vorgenommenen Schutzimpfung gegen
Variola traten Knötchen am Vorderarm auf. Gegenwärtig finden
sich, wesentlich über der Streckseite der Extremitäten verstreut,
braune, weiche, Stecknadelkopf- bis haselnußgroße Knoten, mit
glatter glänzender Oberfläche. Am Stamm ein aus unscharf um¬
grenzten braunen Flecken hestehendes, großmakulöses Exanthem.
Die sichtbaren Schleimhäute frei ; ebenso erscheinen die Nerven
nicht affiziert. Es handelt sich also um einen ganz im Beginn
stehenden Prozeß.
Oppenheim macht hei dem Falle auf weiße leukoderma-
ähnliche Flecke des Halses aufmerksam, die histologischi dasselbe
Bild bieten, wie das Leukoderma syphiliticum, wie er bei Kranken
des Lepraasyls Matunga beobachten konnte.
Riehl: Um Alißverständiiissen vorzubeugen, will ich be¬
tonen, daß im demonstrierten Falle eine frische Lepra vorliegt.
Die erythematösen, zum Teil annulären Flecke sind flache
Leprome und entsprechen der Roseola syphilitica, während die
als Morphaea etc. hezeichneten Flecke der Lepra nervorum, die
mit Anästhesie oder Hypästhesie einhergehen, von den vorliegen¬
den Flecken streng zu unterscheiden sind. In unserem Falle sind
Veränderungen an den Nerven klinisch nirgends nachzu weisen,
speziell besteht keine Ahschwächung oder Aufhebung der nor¬
malen Funktionen der Handnerven.
Kren demonstriert aus der Klinik Riehl: 1. Einen Fall
von Lichen und Ekzeina scrophulosor um hei einem
22jährigen phthisischeu Alädchen. Am ganzen Stamm, hauptsäch¬
lich an seinen Seitenteilen, sieht man teils disseminiert, teils in
Gruppen stehende, gelhlichrote, derbe Knötchen typischen Aus¬
sehens. Durch Rückbildung zentraler Effloreszenzen und Auf¬
treten peripher stehender neuer entstehen Ringe, die zentral
ein wenig pigmentiert und glatt sind, während sie an der Peri¬
pherie einen mehr weniger breiten hellroten Saum frischer Knöt¬
chen aufweisen. Durch Aneinanderreihung und Konfluenz meh¬
rerer solcher Ringe wieder sind serpiginös angeordnete Figuren
entstanden. Ueber einzelnen größeren Gruppen finden sich Krusten¬
auflagerungen, nach deren iVblösung sehr schnell sich Bläschen
entwickeln, die sich zu Pusteln mnwandeln und nach Platzen
wieder eitrige Krusten produzieren.
2. Einen 30jährigen Kellner, der seit fünf .fahren an einer
anscheinend fleckenförmigen Erkrankung der Extremitäten lei<let.
Die einzelnen Effloreszenzen stellen kleiidinsen- bis fast
kronenstückgroße, leleangiektatische Flecke dar, von denen die
meisten unter Glasdruck vollständig schwinden, während die ge¬
ringere Zahl hei Glasdruck einen gelhlichhraunen Farbenton, wie
nach einer kleinen Blutung hinU'rläßf. Dii; älteren Effloreszenzen
zeigen im Zentrum (dm^ leichtem Atroi)hie und keine Teleangi¬
ektasien, während letztere am Rand deutlich ausgebildet sind.
Es ('ulstelu'ii dadureb i'ingföi'inigc' Effl()r('sz('nz('ti. An einigen
Nr. 6
WIENER KLINISCHE WÜCHENSCIIRIFT. 1ÜU7
181
solchen fehlen auch zentral die I.anugohaare, so daß es hier
auch zu einer zentralen Alropluc der Follikel gekommen ist.
Die Beschreibung paßt auf jene Fälle, wie sie Majocchi
als Furpura teleangiectodes annularis oder Teleangi¬
ectasia follicularis a n n ii 1 a t a publiziert hat.
Weiden fei d verfügt über drei hiehergehörige Fälle; zu¬
nächst eine Dame, die kleinste, stecknadelkopf- bis linsengroße,
lehhafirote bis schwarzbraune, nicht verdrückbare Flecke an den
Extremitäten, besonders an den Streckseiten aufwics, die sich nur
sehr spärlich am Rumpfe befanden. Beim Wegkratzen der Epi¬
dermis und nachträglichem trockenen Verbände, den Weiden¬
feld zu therapeutischen Zwecken anlegte, zeigte sich nach
24 Stunden, daß die ganze abgekratzte Stelle bedeckt war mit
stecknadelkopfgroßen, wie kleine Trauben oder schwarzbraime'
Beeren aussehende Exkreszenzen, die nach einigen Tagen spon¬
tan abfielen. Nachdem die Epidermis sich regeneriert hatte, ver¬
schwanden dann diese roten Flecken. Weidenfeld konnte sich
dann nach dem neuerlichen Wegkratzen an einer anderen Stelle
überzeugen, daß diese roten Beeren bei Anstechen Blut entleeren,
also sicherlich als Teleangiektasien aufzufassen waren. Im spä¬
teren Verlaufe vermehrten sich jedoch diese Teleangiektasien
enorm, so daß sie selbst den Hals und den ganzen Rumpf be¬
fielen. Diese Krankheit, welche ihr physiologisches Analogon
in den auch normaliter auftretenden Teleangiektasien am Stamm
und auch Extremitäten findet, kann man füglich Teleangiectasia
universalis propria nennen. Ein zweiter Fall betrifft einen Kol¬
legen, der an den Beugeseiten beider Oberarme und Vorderarme
linsengroßo, schwarzbraune Flecken aufwies, die nicht verdrück¬
bar waren. Innerhalb dieser Herde und auch sonst, traten rote
Stellen auf, während die Epidermisi feinste Fältelungen auf¬
wies, nicht unähnlich dem Aussehen der Epidermis bei Pityriasis
lichenoides. Auch dieser Prozeß blieb konstant, vermehrte sich,
erreichte aber nur Linsengröße. Ein dritter Fall betrifft ein junges
Mädchen, das seit mehreren Jahren an beiden Unterschenkeln
symmetrische, guldengroße, schwarzbraune oder gelbbraune, wie
hämorrhagisch aussehende Herde zeigte und gleichfalls als Nach¬
schübe sowohl innerhalb dieser Herde, als auch an neuen Stellen
punktförmige, rote Flecke. Die Haut zeigte jedoch außer der
Pigmentierung gar keine weitere Veränderung. Er glaul)t, der
vorgestellte Fall sei in die Reihe der Teleangiektasien einzureihen,
unterscheide sich aber durch das Fehlen der Progression von
der von Älajocchi beschriebenen Form; er gehöre in die Gruppe
der erworbenen Teleangiektasien.
Brandweiner: Der von Kren vorgestellte Fall hat mit
dem von mir beschriebenen keine große Aehnlichkeit. Es fehlt
vor allem die Ringform, derentwegen Majocchi der Affeklion
das Epitheton ,, annularis“ heilegte. Dieser Ringform ist meines
Erachtens übrigens nicht allzuviel Wert beizulegen; die Herde
erscheinen oft auch in Streifen und unregelmäßiger Form. Be¬
merkenswerter scheint mir der Mangel der Teleangiektasieu, die
sich klinisch (unter Glas- und Fingerdruck) als Hämorrhagieji
präsentieren. Derentwegen gab Majocchi der Affeklion ja die
Bezeichnung ,, Purpura“. Im Falle Krens gelingt eine völlige
Anämisierung der Flecke, sie sind durch Druck gänzlich zum
Schwinden zu bringen. Dies gelang in meinen Fällen nicht,
weshalb klinisch das Vorhandensein von Hämorrhagien ange¬
nommen werden mußte. Erst die histologische Untersuchnng gab
insoferne eine Aufklärung, als sich herausstellte, daßi die hämor-
rhagieähnlichen Flecke eigentlich durch Teleangiektasien vorge¬
täuscht wurden. Die Farbenveränderung konnte nur durch diese
und nicht durch die ganz spärlichen und unwesentlichen Austritle
roter Blutkörperchen bedingt sein. Kren beschreibt beim vor¬
gestellten Fall Atrophie und Haarlosigkeit der befallenen Stellen
— Symptome, die Majocchi beschrieben, in meinen Fällen
jedoch nicht nachweisbar waren.
Es ist immerhin möglich, daß der Fall Krens in die
Gruppe gehört. Unsere Kenntnisse von der Affektion sind ja
bisher sehr gering, was wohl vor allem darauf zurückzuführen
ist, daß Majocchi bedauerlicherweise keine klinischen .Abbil¬
dungen seiner Fälle gegeben hat.
Kren: Alajocchi selbst sagt, daß die Purpura bei dieser
Affektion nicht ein integrierendes Symptom darstelll, sondern
häufig fehlt. Stets aber sind Teleangiektasien vorhanden. \\ as
die Ringform betrifft, so ist sie in dem dcvmonstrieii’ten balle
deutlich nacb'weishar, nur nichl in allen Effloreszenzen ausge¬
sprochen. ln den B r a n d w e i u e r sehen Fällen fehlt wieder
Atrophie und Achromie.
.Jedenfalls ist das ganze Kiunkbeitsbild viel zu wenig ge¬
kannt, um über die einzelnen Symptoime und die genaue Ab¬
grenzung ein abschließendes Urteil zu fällen.
Riehl demonstriert einen seit sechs Monaten an Syphilis
leidenden jungen Mann, dessen Stamm zum Teil diffus braun
gefärbt erscheint, zum Teil mit braunen, disseminierten Flecken
bedeckt ist, letztere erstrecken sich über Hals und Extremitäten,
an Zahl und Dichte der Anordnung distalwärts abnehmend.
Es könnte hier die Frage einer mit Syphilis in kausalem
Zusammenhang stehenden Pigmentierung in Erwägung kommen.
Der Kranke gibt aber an, daß er nach Einreibung grauer Salbe
gegen Morpiones eine heftige Hautentzündung durchgemacht hat
und die Lokalisation der braunen Flecke entspricht der An¬
nahme, daß die Pigmentierungen als Folge einer Hg- Dermatitis
aufzufassen sind.
Als Beleg für diese Anschauung demonstriert Riehl (ünen
frischen Fall von Hg - Erythem, der (gleichfalls nach" Einreibung
von grauer Salbe vor wenigen Tagen entstanden) in fast ganz
kongruerder Lokalisation wie der erste Kranke diffuse und
fleckenförmige Rötung zeigt.
Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der
Garnison Wien.
Sitzung vom 19. Januar 1907.
Reg. -Arzt Dr. v. Bogusz referiert über einen Fall von
Parinaudscher Konjuidctivitis, der im vergangenen Herbste im
Ambulatorium der Augenabteilung behandelt worden war. Es
handelte sich um eine Patientin, die am 19. Oktober 1900 zum
erstenmal wegen dieser Erkrankung sich vorstellte. Die ersten
Symptome hatte sie schon seit acht Tagen bemerkt, dieselben
bestanden in Lichtscheu, Tränen und Fremdkörpergefübl des
linken Auges. Dann kam es zu allgemeinem Unbehagen, Mattig¬
keit, abendlichen leichten Temperatursteigerungen, bis am 17. Ok¬
tober die Drüsen anzuschwellen begannen. Bei der Untersuchung
ergab sich folgender Befund : Das rechte Auge vollkommen nor¬
mal, links das Oberlid verdickt, stärker herabhängend; nach
dessen Unistülpen sieht man, daß sowohl über dem Tarsus, als
auch im Fornix die Bindehaut mit großen und zahlreichen, teils
himbeerartigen, teils auch längeren, papillomatösen Wucherungen
besetzt ist, deren längste an der Spitze nekrotisiert ist. Das Unter¬
lid zeigt nur an der äußeren KommislsUr einige solche Exkre-
szenzeii, dabei fast gar keine Sekretion. Der Augapfel selbst, die
Kornea und die Iris ganz normal. Die Sehschärfe beträgt Ve.
Die präaurikulare Lymphdrüse, die retro- und inframaxillaren
DiMsen, ferner die an der Halsseite hinter dem Musculus sterno-
cleidomastoideus gelegenen, alle aber nur an der linken Körper¬
seite, geschwollen, ziemlich hart infiltriert und druckempfindlich.
Das ganze Bild war so typisch, daß man nach der Aehnlichkeit
mit den bisher beschriebenen Fällen nicht daran zweifeln konnte,
die nach Parinaud benannte Form der Bindehauterkrankung
vor sich zu haben. Die Behandlung war eine ziemlich indifferente
und bestand in Auswaschungen des Konjunktivalsackes mit
0-25%f)iger Sublimatlösung und Umschlägen mit essigsaurei' Ton¬
erde. Zweimal wurden die gröbsten AVueherungen, um die Be¬
lästigung durch das Fremdkörpergefühl zu vermindern, abgetragen;
die Exzision eines größeren Gewebstückes behufs mikroskopische!'
Untersuchung war leider nicht möglich. Der Zustand blieb ziem¬
lich unverändert bis in die zweite Novemberwoche, wobei die
Patientin am meisten unter der ziemlich schmerzhaflen Schwel¬
lung der Drüsen zu leiden hatte. Von dem genannten Zeitpunkt
ab trat eine deutliche Besserung ein, die nun anbielt, bis sich
Ende der ersten Woche im Dezember vollständige Restitutio
ad integrum einstellte, so daßi die Erkrankung acht AVochen
gedauert hatte. Die Bindehaut war ohne eine Spur von Narben
bildung wieder vollständig glatt geworden, zu einer Vereiterung
der Drüsen war es nicht gekommen. Auch in diesem Falle muß
eine Infeklion durch ein krankes Tier angenommen werden. Die
Patientin hatte sich :^m 10. Oktober ein an Rotlauf erkranktes
Schwein angesehen und batte ihr Malgerät in dem Hause der
Besitzerin dieses kranken Tieres zur Aufbewahrung. Jedenf'ills
ein eigenlümliches Zusamnienlreffen von Umsländen.
Ini Anschluß daran bespricht der Vortragende den derzeitigen
Stand unserer Kenntnisse von der Conjunctivitis Pariiiaudi, die,
leicht zu erkennen, für den Militärarzt wegen der Möglichkeit,
sie bei flüchtiger Unterisuchung mit Trachom zu verwecbselui
nicht ohne Bedeutung ist.
Dann stellt der Voi'tragemb' einen Patienten vor, bei dem
er wegen Glaucoma chronicum am 19. Dezember 1905 rechts
und am 25. Januar 190() links die Iridektomie mit Ausschneidung
eines breiten Irisstückes nach Bowmann vorgenommeu
hat und der seilber von Rezidive!! frei geblieben ist. Die Seh-
schäi'fe, vor der Operation kaum ®/i2, bat durch dieselbe keine
w<‘senlliche Einbuße erlitlen; sie beträgt j('tzt Vis- Vcu'trageiuku'be-
182
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nt. 6
spricht die Wirksamkeit der Iridektoniie bei den verschiedenen
(i 1 a u k o in f o r in e n, hebt die Vorteile des H o w m a n n sehen Ver-
fahix'iis zur Erzielung breiter Kolobome hervor und schildert
die von Ilolth in C’bristiania angewendete Methode der Iritlen-
c 1 e i s i s a n t i g ) a u c o m a t 0 s a, über deren Werl ein abschließen¬
des Urteil allerdings derzeit noch nicht zu fällen ist.
Reg. -Arzt Dr. Koder stellt aus der Abteilung des Stabs¬
arztes R. V. Wolff einen Uatienten vor, bei welchem nach einer
Iliehverletzung der Hand eine Sehnennaht vorgenommen wurde.
Admiralstabsarzt Hofrat Freiherr v. Eiseisberg fragt den
Vortragenden, nach welcher IMethode die Sehnennaht vorgenom¬
men wurde und bemerkt zu Koders Antwort, daß die Sehnen
durch seitliche Schlingung genäht wurden, daß auch er mit
dieser all bewährten Methode sehr gute Erfolge erzielt habe. Bei
der sekundären Sehnennaht, namentlich, wenn (>s sich um
die Beugesehnen der Finger handle, habe diese jedoch den Nach-
leil, daß die Streckung der letzteren mit größter Vorsicht vor-
genommen werden müsse. In letzter Zeit habe v. Eiseisberg
die von dem Münchener Orthopäden Lange angegebene und
bei S e h n e n t r a n sp 1 a n t a t i o n verwendete Methode bei der
s('kundären Sehnennaht angewendet und damit recht gute
Resultate erzielt. ■
Reg.-x\rzt ])r. Doerr demonstriert den neuen Spiegelkonden¬
sor von C. Reichert zur Sichtbarmachung ultramikroskopischer
Teilchen. Nach einer kurzen Erörterung des optischen Brinzips
hebt Doerr die vielen Vorzüge des Apparates Vor der alten An¬
ordnung nach Zsigmondi und Sieden topf hervor, insbeson¬
dere das Fehlen der die Beobachtung störenden Beugungslinien
an den Konturen der Objekte. Dieser Umstand bedingt die Brauch¬
barkeit des Reichert sehen Spiegelkondensors für bakterio-
skopische Zwecke, insbesondere für daS' Aufsuchen der ,Spiro-
chaeta pallida in Nativpräparaten. Landsteiner und Mucha
haben zuerst auf diese wichtige Anwendungsart hingewiesen,
welche die ätiologische Diagnose der Syphilis in Wenigen Minuten
ermöglicht, während das alte Schaudi mische Färbeverfahren
nach Gieinsa Stunden in Anspruch nahm iind daher für die
Klinik und den Praktiker kaum brauchbar war. Doerr empfiehlt
die allg(‘meine Anwendung des Spiegelkondensors zur ätiologi¬
schen Schnell- und Frühdiagnose der Syphilis. Schließlich kver-
den bewegliche Spirochäten im Punktionsisaft von Bubonen gezeigt.
Stabsarzt Dr. Stenczel demonstriert nach der Pyridin¬
methode zur Darstellung gebrachte Spirochäten vom Typus
der Pallida u. zw. ein Infiltrat in Iden Lymphgefäßen und den
Gefäßwandungen syphilitischer Initialaffekte; ein scheinbar noch
nicht pathologisch verändertes Bindegewebe nächst des Sklerosen¬
massivs ; ferner im perineuralen Lymphraum und zwischen den
Nervenbündeln, in der Haarwurzelscheide, des weileren in Schnit¬
ten luetischer Adenitiden, von papulösen und papulokrustösen
Hautaffektionen und breiten Kondylomen.
Bezüglich der morphologischen Details, dann bezüglich der
Lagerung der Spirochaete pallida im syphilitischen Gewebe ll)e-
gnügt sich der Vortragende mit dem kurzen Hinweis, daß die
nach der Silbermethode im syphilitischen Gewebe zur Darstellung
gebrachten Spirochäten nicht immer jene stereotype Regelmäßig¬
keit in Form und Größe aufzuweisen pflegen, wie in .Ausstrichen
nach Giemsa dargestellt ist und verweist im übrigen auf seine
in dieser Wochenschrift erschienene, diesbezügliche Arbeit.
Als beachtenswert wird hervorgehohen ; Bei genauer Durch¬
sicht der demonstrierten Präparate findet man zahlreiche Spiro¬
chätenpaare, die sich gegenseitig rankenartig umschlingen, feiner
Spirochäten, die an dem einen Ende Y-förniig gespalten, an
ihrem nicht gespaltenen anderen Ende aber im Vergleich zu
Nachbarspirochälen etwas verdickt erscheinen. Es sind dies Be¬
funde, die bisnun schon von sehr vielen Autoren beschrieben
und meist als in Längsteilung begriffene Spirochä'en gedeutet
wurden.
Nach den Ausführungen des Vortragenden ist aber ihre
Px'deutung eine ganz andere. Die in Symbiose mit dem Ijacillus
fusiformis bei der Stomatitis mercurialis i'eichlich vorhandene
Ross a sehe Spirochäte bleibt, wenn im Alundspeicdiel des
Ki'anken selbst suspendierl und durch luftdiidden Abschluß vor
dem Eiutrocknen geschülzt, im Kapillarramne, zwischen Olijekt-
träger und Deckglas lange Zeit munter, lebhaft beweglich unil
kann so gut beobachtet werden.
Gelegentlich einer solchen Beoliachlung hal der Vortragende
folgenden Vorgang sich abs]nelen gesehen :
Zwei bis dahin freie Spirochätenpaare geraten mit ihren
vorderen Enden aneinander und vereinigen sich nach kurzer
Zeit zu einem scheinbar eiidieitlichen, doppelt so langen Exem¬
plare. Bald darauf eine sehr lebhafte peitschenartige Bewegung
beider vereinigten Spirochäten, die den Eindruck macht, als ol)
sich dieselben bemülien würden, wieder frei zu werden. Dieser
Vorgang wechselte einige Alale mit eingeischalteten kurzen Ruhe¬
pausen, dann aber begannen sich die beiden am vorderen Pole
noch immer vei einigt bleibenden Spirochäten gegenseitig, Win¬
dung in Windung, rankenartig einzuschlingen und die Verschlin¬
gung war zeil weise in der ganzen Länge beider Spirochätenleiber
eine so präzise, daß man meinen könnte, nur eine einzige, wohl
aber verhältnismäßig dicke Spirochäte vor sich zu haben. Nach
kurzer Ruhepause aber begann das Spirochätenpaar an seinem
vorderen Ende seine gegenseitige Verschlingung aufzulösen, sich
zu öffnen, wodurch Y- förmige Gestalten zustande kamen. Dieses
Sichöffnen und Wiederverschlingen wiederholte sich während der
leider nur etwa 15 Stunden dauernden Beobachtung vielmals.
Ob es sich hiebei nur um ein zufälliges V^orkommnis im
Spirochätenleben gehandelt hat, oder ob der geschilderte Vorgang
vielmehr als edne geschlechtliche Vereinigung von Spirochäten
aufzufassen ist, kann der Vortragende auf Grund dieser einen
Beobachtung nicht beurteilen, glaubt aber, daßi auch die oben
angeführten Y-förmigen, dann die rankenartig sich
verschlingenden F o r m e n d e r S ]) i r o c h a e t e p a 1 1 i d a auf
eine analoge Verschlingung zweier Spirochäten zu¬
rückzuführen sind und nicht als in Längstei lung be¬
griffene F o r m e n g e d e u t e 1 w erde n d ü r f e n .
Endlich macht der Vortragende noch auf folgende Erschei¬
nung aufmerksam :
Beobachtet man die im Kapillarraume zwischen Objekt¬
träger und Deckglas sich wellenförmig dahinschlängelnde Rossa¬
sche Mund:s])eichelspirochäte, so sieht man über den sich be¬
wegenden Spirochätenleib einen oder auch mehrere dunkle, glän¬
zende Punkte mehr oder wmniger rasch dahinziehen. Dasselbe
Phänomen haben Hoffmann und Podwazek bei der Spiro¬
chaete halanitidis heobachtet. Sie schreihen . . . : Die Bewegung
ist wellenförmig, oft mit Rotationen um die Körperachse ver¬
bunden, meist auch schlängelnd, häufig wechseln Ruhepausen
mit Momenten lebhafter Bewegung, w'obei stärker lichtbrechende
Knotenpunkte mehr oder weniger rasch über den Spirochäten¬
leib dahinlaufen. Alan kann sich aber leicht davon überzeugen,
daß diese scheinbar rasch über den Spirochätenleib dahin laufen¬
den glänzenden dunklen Punkte davon lierrühren, daß die sich
schlängelnd bewegende Spirochäte abwechselnd mit immer an¬
deren Punkten ihres Leibes direkt an das Deckglas anzuliegen
kommt, wobei letzteres Spiegelwirkung entfaltet, respektive von
dem einfallenden Tdcht soviel reflektiert, bzw. zerstreut, daß die
Stelle für das Auge des Besichtigers dunkel erscheint.
Programm
der am
Freitag den 8. Februar 1907, 7 IJhr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. A. Kollsko stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Oskar Senieleder: Verwendung des Körpergewichtes zur
Korrektur von Belastungsdeformitäten.
2. Dr. L. Hof bauer : Herzmuskelkraft und Kreislauf.
Einen Vortrag bat angemeldet Herr Dr. C. v. Pirquet.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Sclirötter Douuerstag
den 7. Februar 1907, um 7 Ubr abends, statt.
Vorsitz: Hofrat Professor v. Sclirötter.
Programm;
I. Demonstrationen angemeldet: Doz. Dr. v. Stejskal.
II. Prof. Dr. Kretz: Postanginöse Lymphdrüsenentzündung.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 11. Februar 1907, 7 Uhr abends, im
! Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Doz. Dr. A. Hum slattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
! Prof. Dr. Otto Loewi : Pharmakologisches über praktisch bedeut-
' same Gefäßmittel.
Vvrantwortlicbtr Redakteur: Adalbert Karl Trapp. Verlag von Wilhelm Hraurafiller in Wien.
Hrnck von Urnno Hartelt, Wien, XVIII., ThercHiengnsBe 3.
fr-
Die
,,Wleuer kllulsclie
Wocheuschrlft<*
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
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sendungen an die Verlags¬
handlung.
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Redaktion :
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unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J, V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
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land weiden von allen Buch¬
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 14. Februar 1907. Nr. 7.
INH
I. Origiiialartikel: 1. Aus der ersten chirurgischen Klinik in Wien.
(Vorstand; Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg.) Zur Technik
der Sehnennähte. Von Dr. 0. v. Frisch, Assistenten der
Klinik.
2. Der Pestfall vom Lloyddampfer Calipso. Von Sanitätsinspektor
Dr. M a r k 1.
3. Aus der III. mediz. Abteilung des k. k. allgemeinen Kranken¬
hauses in Wien. (Vorstand: Prof. Dr. N. Ort n er.) Ueber ein
durch Gelatineinjektionen wesentlich gebessertes Aneurysma
der Arteria anonyma. Von Dr. Viktor G r ü n b e r g e r, Assistenten
der III. med. Abteilung.
4. Aus der II. internen Abteilung des städtischen Krankenhauses
in Triest. (Vorstand: Primararzt Dr. Viktor Liebman.) Ueber
Novaspirin, ein neues Aspirinpräparat. Von Dr. Guido
Liebman.
II. Referate: Das Militärsanitätswesen in Schweden und Norwegen.
Von Dr. Johann Steiner. Nasziturus. Von Prof. Dr. Friedrich
ALT:
A h 1 f e 1 d. Ref. : R e u t e r. — Atlas der deskriptiven Anatomie
des Menschen. Von Sobotta. Das Nerven- und Gefä߬
system des Menschen. K. v. Bardeleben, Lehrbuch der
systematischen Anatomie des Menschen für Studierende und
Aerzte. Räubers Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Von
Dr. Fr. Kopse h. Ref. : Tandler. — Die Handhabung des
Wasserheilverfahrens. Von Dr. M. van 0 o r d t. Beiträge zur
Kenntnis der Anwendung und Wirkung heißer Bäder, ins¬
besondere heißer Teilbäder. Von Georg Hauffe. Zur physi¬
kalischen Therapie der habituellen Obstipation und der
sexuellen Neurasthenie. Von Prof. Dr. J. Zabludowski.
Ref. : B u X b a u m.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
Aus der ersten chirurgischen Klinik in Wien.
(Vorstand: Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg.)
Zur Technik der Sehnennähte.
Von Dr. 0. v. Frisch, Assistenten der Klinik.
Die Tatsache, daß die Erfolge der Sehriemiaht trotz
der gewaltigen Fortschritte in der modernen Chirurgie noch
keineswegs hefriedigende sind, gibt uns die Berechti¬
gung, dieses Kapitel als noch nicht abgeschlossen zn be¬
trachten. Die einschlägigen Arbeiten und Statistiken, in
welchen meist eine der bekannten Nahtmethoden in ihrer
ursprünglichen Form oder vom Antor modifiziert empfohlen
wird, weisen einen recht geringen Prozentsatz von Hei¬
lungen auf.
So berichtet Math er aus der Kieler chirurgischen Klinik
über 52 Sehnemiähte mit mir 13 vollkommenen Wiederher¬
stellungen; Teuber aus der Breslauer Klinik über 32 Fälle
mit 15 Dauerheilimgen ; H agier hat mit seiner Methode^ 46®''
Heilung der Fingerbeuger, 77° o der Strecker; Schüßler 17 voll¬
kommene Heilungen von .30 Fällen; Wolter 15 von 33; aus
der Klinik v. Eiseisberg konnte ich von 17 Fällen (operiert
nach W^ölfler) bei der Nachuntersuchung zehnmal Restitutio
ad integrum konstatieren.
Es ist bei dem meist ambulanten Krankenmaterial
nicht merkwürdig, wenn ein nicht unbedeutender Teil dieser
Mißerfolge auf Rechnung von Infektion und mangelhafter
Nachbehandlung zu schreiben ist. Trotzdem kommt man.
*) Auszugsweise vorgetragen in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der
Aerzte vom 18. Januar 1907.
vveim man die den diesbezüglichen Arbeiten heigegebenen
Krankheitsprotokolle aufmerksam verfolgt, zur Ansicht, daß
in manchen Fällen die Sehnennaht an sich nicht gehalten
hat, daß sie sich n. zw. meist im Beginne der Nachbehand¬
lung, merklich oder nnmerklich gelöst hat. Bedenkt man,
wie vorsichtig die meisten Anloren hei dieser Nachbehand-
Inng zu Werke gehen, wie spät sie oft damit beginnen,
so kann man sieb des Eindruckes nicht erwehren, daß der
Operateur oft der Haltbarkeit seiner Naht nicht gar viel
I zunmtet. Diese Vorsicht und Ziirückhalhmg mit der ortho¬
pädischen Behandlung kann nicht ohne hemmenden Ein¬
fluß auf die Wiederherstelhmg der Funktion sein; denn
je sicherer die Selmeimaht hält, desto früher kann mit
der Nachhehandlung begonnen werden und je eher dies
geschieht, desto besser das Endresultat. Eine weitere Ur¬
sache für Mißerfolge ist die Verwachsung der Sehne mit
ihrer Umgebung. F^in gewisser Grad von Verklebung tritt
wohl in jedem Falle ein, wird aber im Beginne der Funk¬
tion in der Begel wieder gelöst. Größere Hämatome, Ver¬
lust der Sehnenscheide, lange Rnhigstellnng nach der Ope¬
ration, besonders aber entzündliche Vorgänge begünstigen
die Verwachsung.
Wenn wir uns fragen, was für Anforderungen wir
an eine Sehnennaht stellen, so ist wohl in allererster Linie
die d a u e r n d e Hai t b a r k e i t zu nennen und so leicht
dies manchmal mit einer einfachen Naht zu erreichen ist,
so schwer, ja fast unmöglich erscheint es uns in anderen
Fällen. Ist die Naht verläßlich, so bedeutet eine etwaige
stärkere Spannung der Sehnenenden keine Verschlechte¬
rung der Prognose. Die verlangte Eigenschaft der dauern*
Nr. 7
WIENER KLINISCHE
den Haltbarkeit schließt es in sicli, daß das Sehnengewebe
nicht etwa (hircb Strangulation in seiner krnäbrung ge¬
stört werde, wodurch die l’esligkeil der Naht /u leiden
hätte. Das nächstwiclilig(‘ h'ostulat, welches weniger die
ungestörte llfühing der Sehnenenden aneinand(M’, sondern
melir die Wiederherstellung der l'dinklionstüchtigkeit l)e-
Irifft, ist di(‘ Heilung in anatomisch richtiger j^age-
rung der Organe und stutzt seine Berechtigung auf den
-Mangel an Elastizität ini Sehnengewehe. Eine nur wenige
i\lillimet(;r betragende Verkürzung einer Strecksehne heninit
die Faiisthildung.
Wolhui wir dies(‘r Forderung Rechnung tragen, so
dürfen die Sehnenenden hei der xNaht iiicdit neheneinandei'
gelagert werden; aiudi soll eine Resektion derselben wegen
Ouelschung, Auffaserung u. dgl. möglichst vermieden
werden.
Betrachtet man die gangbaren Nahtinetlroden von
diesem Gesichlspunkl aus, so fällt es auf, daß nahezu alle
eine gemeinsame Stelle an der Sehne haben, an welcher
die Durchschlijigimg des Badens gemacht wird. Diese he-
lindet sich 4 bis ß mm von dem Querschnitt entfernt
und nur die Art der Durchstechung, die Zahl der Knoten
und Fäden unterscheidet die einzehieji Methoden. Dabei
sind dieselben wesentlich voneinander verschieden betreffs
Zugfestigkeit, Schonung des Gewebes etc. Der Operateur
setzt alles auf die Widerstandsfähigkeit jener Partie der
Sehne, wo er seine Fäden durchgeschlungen hat und da
diese Stellen in der Regel wenige Millimeter umfaßt, die
überdies nicht weit von dem Querschnitt der Sehne ent¬
fernt ist, so ist die Sorge um die Haltbarkeit der Naht be¬
rechtigt. Es kann der Vluskelzug die Sehne aus der Schlinge
ziehen, in einem anderen Falle das ahgeschnürte Stück durch
mangelhaite Ernährung oder Infektion nekrotisch werden.
Ijeherhlicken wir kurz die gebräuchlichsten der
Nahtmethoden und prüfen wir sie auf jene erstgenann¬
ten Eigenschaften, die wir von einer guten Sehnen¬
naht verlangen, die dauernde Haltbarkeit hei anatomisch
richtiger Lagerung der Gewebe, so können wir beobachten,
wie das eine der Postulate meist auf Kosten des anderen
vernachlässigt wird. Daneben wird der Vorteil der Einfach¬
heit und raschen Ausführbarkeit sehr verschieden hocli be¬
wertet.
Ich will hier betonen, daß man in vielen Fällen (bei
Irischer und einfacher Durchschneidung dicker Sehnen im
lockeren Gewebe) wohl jedes der angegebenen Verfahren,
soferne keine Verkürzung resultiert, mit gutem Erfolg an¬
wenden kann. Doch sind die Fälle tatsächlich fast ebenso
häufig in irgendeiner Weise kompliziert und ich will nur
auf die eingangs notierten statistischen Zahlen hin weisen,
lim anzude Ilten, wie häufig der gewünschte Erfolg aus¬
bleibt und der Betroffene oft sehr empfindliche Einschrän¬
kungen seiner Erwerbsfähigkeit erleidet.
W Ölflors erste Methode tiat den Vorzug, itaß die prak-
liscdie provisorisclje AnsehÜnguiig zur definitiven Naht henätzt
wil'd; auch wird der größere Teil der Sehne in keiner Weise durch
Druck odei' Strangulation lädiert; die Naht ist fest und kann hei
Sehnen jeden Kalibers oline Schwierigkeit angelegt werden. Sie
wurde an der Kdinik v. Eiselsherg bisher allen anderen Me¬
thoden vorgezogen und mit günstigen Resultaten angewendet.
Die früher nicht seltene Abstoßung der angeschtungenen
Gewebsbündel, welche leicht zur Fistelhildung führte, hat
W öl ft er seihst veranlaßt, eine weitere Methode zu ersinnen.
Diesellie umgeht den Fehler der Abschnürung, indem die Sehne
in einer pai'allel zum Querschnitt gedachten Ebene mehrfach
durchstochen wird unit leistet in Fällen geringer Spannung gute
Dienste. Dei stärkerer Diastase, schlecht ernährten oder aufge¬
faserten Sehnenenden muß man dem Verfatiren den Vorwurf der
fnsicherludt machen. Außerdem ist diese Methode hei dünnen
Si'hnen meist sctiwei' ausführbar. Schüßlcr, der das große
-Material der Billrothsclien Klinik verarbeitete, nimmt es als
selbstverständlich an, daß liei Wölflers erster Methode die
ligierten Faserliündei nekrotisch werden, vertäßt sich aller auf
die Langsamkeit, mit welcher dieser -Vhstoßungsprozeß vor sich
geld,, wälu'enddes’sen die Sehne genügend Zeit habe, zu ver-
WOCHENSCHRIFT. 1907.
I
heilen. Er tritt mehr für die zweite Methode ein. die er verein¬
facht und derart modifiziert, daß sic auch an dünnen Sehnen
ausgidTilu'L weiden kann.
Witzei erzielt mit seinen zwei ziemlich weit i'onein-
ander angelegten llalti'scldingen eim* ganz bedeutende Festig¬
keit. Diese Schlingen, welche 1 bis 2 cm vom Querschnitt ent¬
fernt angelegt werden und quer durcli die Mitte der Seime ge¬
führte, lose geknüpfte starke Fäden darstellen, dienen anfangs
nur dazu, das Adaptieren und Vernähen der Wundflächen mit
zwei feinen Catgutfäden zu erleichtern; zum Schluß werden
sie ebenfalls geknüpft und haben in erster Linie das Ausein¬
anderweichen zu verliüten. Das Verfahren, welches im übrigen
unseren Forderungen noch am idiesten entspricht, hat meines
Erachtens den Nachteil, daß auf ein und derselben Fläche der
Sehne nicht allein fünf Knoten, sondern auch ein 4 cm langer,
starker Seidenfaden zu liegen kommt, der die spätere Gleitfähig¬
keit diM' Sehne zu hemmen imstande ist.
Trnka bildet durch kunstvolle Verschlingung eines PMilens
zwei anscheinend voneinander isolierte Nälite. Denkt man sich
die Naht mit zwei Fäden ausgeführl, so bedeutet sie die denkbar
einfachste Vereinigung der Selinenenden, durch eine zweite, in
gleictier Art geführte Sclilinge vei'stärkt; diese supiionierte vVrt
hätte sogar vor Trnka.s V'erfahren den \'orteil, daß das Nach¬
lassen einer Scldinge die Naht nicht zur Lösung liringen muß,
während geradi' die Zusammengeliörigkeit Trnka s beider
Schlingen durcli das Nachlassen einer derselben von verhängnis¬
voller Redeutung sein muß. Einen weiteren Mangel an Trnkas
Methode, welcher darin besteht, daß die Fadenschlingen an allen
vier Stellen in idn und derseltien Ebene die Sehne perforieren,,
beseitigt
Friedrich, indem er die Fäden in zwei aufeinander
senkrecht stehenden Ebenen durctifütirt ; vor ihm hatte Hägler
bereits sich einer ähnlichen Methode liedient, wobei die äußere
Naht durch zwei neheneinander liegende Fäden vertreten war.
Schwartz legt, um das Ahgleiten des durchgeführten
Fadens zu verhüten, an jedem Sehnenende eine strangulierende
Schlinge, welche er fest knüpft. Diese Schlingen gefährden aber
lucht unbedeutend die Lebensfähigkeit des ahgeschnürten Ge¬
webes, weshalb wdr die Methode nicht empfetden können.
Kochers Naht sticht am Querschnitt der Sehne ein, er¬
reicht eini' genaue Adaptierung und quetscht das Gewebe nicht.
Kocher ist mit seinem Prinzip der direkte Vorläufer
Langes. Seine -Methode leidet aber sehr an Zugfestigkeit. Sie
ist in dieser Beziehung, wie ich mich am Kadaver überzeugte,
mit dei'jenigen Trnkas zusammen die schwächste.
Die übrigen Vorschläge zur Sehnenvereinigung (Le Deutu
et Remoise, Baum, Hueter, Mourque, Nehinger), welche
im wesentlichen dieselben Vor- und Nachteile wie die bereits
besprochenen haben, will ich übergehen und nur mehr der Art
und Weise gedenken, in welcher Suter seine Naht anlegt.
Sein Verfahren ist das jüngsfe und um so merkwürdiger ist es,
daß Suter die wohlbegründeten Postulate, welche im Laufe
der Jahre bezüglich der Technik der Sehnennähte aufgestellt
wurden, außer acht läßt. Er durchsticht ein jedes der Sehnen¬
enden an einer hestimmten Stelle in vier verschiedenen Durch¬
messern derart, daß sich die Fäden im Zentrum des Quer¬
schnittes treffen. Die so angeschlungenen Sehnen werden nun
nach separater Knüpfung der Fäden nebeneinander gelagert und
durch einen dritten Knoten zur seitlichen Berülirung gebracht.
Diese Methode soll die Vorteile bieten der besonderen Festigkeit,
sowie der raschen und einfachen Ausführbarkeit ohne Assistenz.
Verfolgt man die vorgeschriehene Fülirung des Fadens,
so muß man wohl einwenden, daß dieselbe nicht leicht im
Gedächtnis zu behalten ist; auch kann ich mir nicht, gut vor¬
stellen, warum gerade diese Naht besonders rasch ausführbar
sein 'Soll.Q
Nebenbei bemerkt, muß dieselbe, da sie die Sehne in
vier Quadranten ihres Querschnittes faßt und quetscht, älmlich
der von Schwartz angegebenen Naht das Gewebe in seiner
Ernährung gefährden. Suter erspart die Assistenz, indem er
durch das Neheneinandeidegen der Sehnenenden die adaptierende
Hand des Gehilfen entbehrt. Wir können uns damit nicht be¬
freunden, bloß um einen Assistenten zu ersparen, solche ab¬
norme Veihältnisse herzustellen. Wir halten fest an dem Be¬
streben, die anatomischen Verliältnisse nach Möglichkeit wieder-
’) Suter betont in seiner Arbeit, daß es darauf ankommt,
möglichst rasch die Vereinigung zu erzielen und daß seine Methode in
ein Drittel bis ein Viertel der sonst nötigen Zeit ausgeführt werden kann.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
185
iierzuslelleii, ein iTiiizijj, das in der ganzen Chirurgie seine
berechtigte Anwendung tindel.“)
Aus dieser Suter sehen Nebeneinandersclialtung resultiert
eine \’erdickung an der Naldstelle und eine Verkürzung der
Sehne. Soll letztere aus naheliegenden Gründen möglichst gering
sein, so muß- die Durchl'lechtung der Sehne näher ihrem Ende
angelegt werden, welcher Umsland wieder die Gefahr des leichlen
Ausreißens der Fäden mil sich bringl. Den Vorwurf der Ver¬
kürzung macht sich Suter selbst, begegnet demselben aber
damit, daß er auf die große Dehnbarkeit des ausgebiMeten Binde¬
gewebes hinweist, ein Argument, dessen Bedeutung bei den
durch die INaht doch dauernd vereinigten Sehnenenden und dem
außerordentlich geringen Elastizitätskoeffizienten des Setmenge¬
webes nichl recht verständlich erscheint. Ferner sagt Suter
selbst; ,, Handelt es sich um eine Verletzung von Extensoren,
so muß allei’dings durch eine etwas früher einsetzende, äußerst
sorgfältige und länger durchgeführte orthopädische Nachbehand¬
lung versucht werden, jede Verkürzung zu vermeiden“ — eine
Komplikation in der Behandlung, die gerade bei den so leicht
zu heilenden Extensorensehnen gegen die Methode Suters
spricht.
Daß die eigenartige Vemähung, durch welche eine knotige
Verdickung entstehl, insbesondere dort, wo wir nach lieendeter
Naht der Sehne ihre Scheide zu vernähen pflegen, die exakte
Vollendung der Operation, sowie die spätere Gleitfähigkeit des
Gewebes leicht stören kann, liegt auf der Hand.
*
Ein Verfahren, welches diesen allen anderen Me¬
thoden anhaftenden Mangel nicht in sich trägt, ist die von
Lange angegebene Durchflechtnng der Sehne und es ist
nnr zu verwundern, daß dieselbe außer in der orthopädi¬
schen Chirurgie so wenig Anklang findet, obwohl sie vom
Erfinder wiederholt und auch für die Unfallschirurgie em¬
pfohlen wurde. Obgleich diese Methode bereits seit sieben
Jahren geübt wird, gelang es mir nicht, in der Literatur
einen Bericht zu finden, welcher die Verwertung derselben
bei den Verletzungen der Hand- und Fingersehnen beträfe.
Lange durchflicht (Fig. Ij, vom Querschnitt der Sehne he-
ginnend, dieselbe in einer Ausdehnung von mehreren Zenti¬
metern, sowohl distal als proximal, überträgt somit die Be¬
lastung auf eine ansehnliche Strecke der Sehne, während fast
alle anderen Methoden, wie bereits bemerkt, den ganzen Zug
und Druck an einer bestimmten Stelle u. zw. recht nahe
dem Querschnitt wirken lassen. Darin liegt der wesent¬
liche Vorteil und gerade in der Verwertung eines größeren
Abschnittes der meist leicht darstellbaren Sehne die Lösung
des Problems.
Die Lange sehe Sehnennaht ist außerordentlich fest,
ohne kompliziert zu sein; sie quetscht das Gewebe nicht,
indem sie an keiner Stelle zirkulär verläuft. Sie gestattet
durch ihre Fadenführung ein genaues Adaptieren der Quer¬
schnitte. Ferner liegen die Punkte der größten Belastung
am weitesten von den Sehnenenden entfernt und dies ist
meines Erachtens von großer Bedeutung. Denn erstens be¬
dingt ein eventuelles Nachgeben der Naht durch zu hef¬
tigen Zug noch lange nicht das Aufgehen derselben; zwei¬
tens ist das Gewebe desto besser ernährt, je weiter man
sich von der ursprünglichen Stelle der Verletzung ent¬
fernt, so daß diese stärkere Belastung füglich auch einen
widerstandsfähigeren Teil des Organes betrifft. Schließlich
kann eine eventuell auftretende lokalisierte Entzündung
nicht leicht die Naht lockern, viel weniger zur Abstoßung
bringen. Weiters hat der Faden nur einen Knoten, ein
Vorteil, der bezüglich der Gleitfähigkeit der geheilten Sehne
nicht belanglos ist. Die enorme Zugfestigkeit der Naht,
*) Lejars schreibt in seiner »Technik dringlicher Operationen«:
Das regelrechte Aneinanderlegen ist für die feste Vereinigung die Haupt¬
sache; die Sehne wird um so besser ihre glatte Gestalt und ihre normale
Funktion erhalten, wenn sie regelmäßig aneinandergenäht ist.
welcher ehie odwaigc' Oiielschimg, mangelhafte Ei'iiährung,
Auffaserung oder Infektion der Selmeneiiden kaum etwas
anhaben kann, gestattet uns, sehr bald mit der Nachbehand¬
lung zu beginnen, wodurch unliebsamen Vcrwachsimgc'ii
vorgebeiigt und das ftmklionolle Besultat günslig l.u'ein-
tlußt wird.
Man könnte einwenden, daß eine derart feste An-
schlingung nicht notwendig sei; demgegenüber wäre zu
betonen, daß die Methode in Fällen von veralteten Sehnen¬
verletzungen, in welchen oft eine nicht unbedeutende Dia¬
stase der Sehnenenden besteht, es ermöglicht, eine Be¬
rührung der Querschnitte dennoch zu erzielen und so in
manchen Fällen die stets unsicdiere Sehnenverlängerung zu
umgehen.
Der Einwand, man lege die Sehne unnötig weit frei,
wird durch die Erfahrung entkräftet, daß man das proxi¬
male Sehnenende nach seiner Auffindung stets leicht in
die Wunde vorziehen kann; auch am distalen Stumpf ge¬
lingt dies ohne besondere Erweiterung der Wunde, soferne
dieselbe nicht allzu nahe der Insertion gelegen ist; in letz¬
terem Falle ist die Langesche Naht in ihrer typischen
Weise nicht durchführbar und muß modifiziert zur Aus¬
führung kommen.
Außer diesen speziellen und den anfangs (erwähnten
allgemeinen Vorteilen bietet das Verfahren noch folgejide;
1. Bei Verletzimgen mehrerer Sehnen, welche unmittelhar
neben- oder übereinander liegen, können die Seideuknoten
abwechselnd am distalen und proximalen Teile geknüpft
werden; 2. gestattet die große Haltbarkeit der Schlinge und
die damit verbundene Möglichkeit, auch weiter voneinander
entfernte Schnittflächen gut und sicher zu vereinigen, die
Sehnennaht zur Zeit d e r Wahl a u s z u t ü h r e n. Wir
hahen es uns zur Hegel gemacht, bei jeder zur Behand¬
lung kommenden frischen Sehnenverletzung mit aseptischen
und antiseptischen Verbänden die Zeit abzuwarten, in wel¬
cher sich eine eventuelle Infektion zur Entzündung a.us-
bilden konnte, in der Regel keine Sehnenverletzung mehr
vor Ablauf des vierten Tages.^)
Ich habe die Lau ge sehe Methode bisher an 26 Sehnen
angewendet; von den 13 Patienten konnte über drei ein
definitives Resultat nicht festgestellt werden; doch waren
zwei von denselben geheilt aus der Behaudlung entlassen
worden. Zwei Fälle sind erst in allerletzter Zeit operiert
worden; ein Patient blieb ungeheilt. ln diesem Falle han¬
delte es sich um die Durchschneidung des Flexor i)ollucis
longus über der ersten Phalanx mit darauffolgender Eite¬
rung. Durch die Sehnennaht flackerte die fast ausgeheilte
Entzündung wieder auf und es entstand eine Phlegmone,
in deren Gefolge der Finger steif blieb. Die übrigen sieben
Fälle sind geheilt. Bei denselben kam die Naht einmal
nach neun, zweimal nach drei Wochen zur Ausführung;
die übrigen Patienten wurden am vierten bis sechsten Tage
nach der Verletzung operien.
Da speziell einer dieser Fälle ganz besonders für die
in Rede stehende Nahtmethode spricht, will ich die Kran¬
kengeschichte hier kurz wiedergeben.
W. J., 42jähriger Schneider. Tentainen suizid. Durcli-
trennung aller Beugesehnen des linken Vorderarmes, des Nervus
medianus und ulnaris, der Arteria radialis und idnaris,
drei Querfinger vom Handgelenk entfernt. Blutstillung, anti-
septischer Verband. Nach drei Wochen Nerven- und
Sehnennaht (Lange). Obwohl wegen Verletzung beider
Arterien volle drei Wochen mit der Operation gewartet wurde,
kam es dennoch zur leilweisen Nekrose der Hautla])pen; es
trat eine heftige Phlegmone auf, die erst nach mehreren Wochen
zur Ausheilung kam. Di(‘ Nachbehandlung setzte demnach erst
in der achten Woche nach der Verletzung ein und erzielte ein
vollkommenes Resultat. Es hatte sicli keine der Seimen ah-
gestoßen; Pat. kann eine kräftige Faust bilden, die Fing(‘r
einzeln beugen und vollkommen strecken.
h Eine Ausnahme bildet die Durchtrennung des langen Daumen¬
beugers in der Höhe der II. Phalanx wegen der hier sehr ndßlichen
Retraktion des proximalen Stumpfes.
löf'-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
Im Laufe der Zeit haben sicli mir mehrere klei)ie
xMoclifikationen des Verfahrens als zweckmäßig erwiesen.
Zunächst lege ich jetzt häufig eine kleine, locker geschürzte
Adaptionsnaht durch die Selmenenden nach dem Knüpfen
des langen Fadens. Ich gehe dahei derart vor, daß ich
die Sehnen mit dem ersten Faden auf 2 bis 3 mm ein-
andei' nähere, während die zweite Naht den in der Dnrch-
flechlung befindlichen Teil der Sehne, welcher häufig etwas
gewellt verläuft, vollkommen strafft und genau adaptiert.
Diese Schlinge hat keinen Zug auszuhalten, soll vielmehr
die genaue Berührung der ORorschnitfe verbürgen. Fehlt
die Si)annung der Sehnenenden, so kann man sie auch
leicht entbehren.
In Fällen, wo die Zeit der V^erletzung weit zurück¬
liegt, die Sehnenenden atrophisch geworden sind und sich
leicht auffasern, desgleichen wenn die Sehne nahe dem
IJebergang zu ihrem Muskel durchtrennt ist, bediene ich
mich statt der typischen L an gesehen Methode einer Art
fortlaufenden Naht (Fig. 2), welche den seitlichen Rand
der Sehne in weiten Abständen spiralförmig faßt, im übrigen
aber der alten Naht gleich blei])t. Diese Modifikation, welche
nebenbei bemerkt außerordentlich rasch ausführbar ist, er¬
möglicht es, dem Faden auch im Muskel genügend Halt
zu verschaffen; sie hält weiters hei aufgefaserter Sehne
dm einzelnen Bündel beisammen. Auch bei besonders
uünnen Sehnen, die wegen stärkerer Diastase eine andere
Nahtmethode schwer vertragen, hat sich mir dieses Ver¬
fahren als praktisch gezeigt.
Ist die Sehne nahe ihrem Ansatz durchtrennt, so ist
für eine Durchflechtung das distale Stück zu kurz. In sol¬
chen Fällen schlinge ich bloß das proximale Ende nach
Lange an und lege am anderen Ende die zweite Naht
nach Wölfl er an fFig. 3).
Ebenso oder in ähnlicher Weise muß unter Ilmstän-
den vorgegangen werden, wenn es sich um die Naht sehr
tief gelegener Sehnen handelt. Immer aber trachten
wir, die Langesche Methode auszutühren, indem
wir dieselbe bei ihrer Einfachheit als die
sicherste, schonendste und exakteste befunden
haben; sie bietet allen anderen gegenüber den Vorteil,
daß die Belastung der Sehne auf einen größeren Abschnitt
derselben verteilt wird.
Literatur:
M ä t h e r, Die Resultate der Sehnennaht aus der königl. Chirurg.
Klinik zu Kiel. I.-D., Kiel 1903. — T e u b e r, lieber Sehnennähte.
I.-D., Breslau 1902. — H ä g 1 e r, Beilräge zur klin. Chirurgie, Bd. 16.
— Lange, Operationen an den Weichteilen. Handbuch der orthopädischen
Chirurgie 1904, H. 2. — W ö 1 f 1 e r, Wiener med. Wochenschrift 1884,
Nr. 52 und 1888, Nr. 1. — Schußler, Sehnennähte an der Klinik
Billroths. Sammlung med. Schriften. Wiener med. Wochenschrift 1890
— Witzei, Volkmanns Sammlung klin. Vorträge 1887, Nr. 291. —
Trnka, Zentralblatt für Chirurgie 1893, Bd. 12. — Friedrich Hand¬
buch der prakt Chirurgie, Bd. 4. — Schwartz, Sur la reparation des
tendons etc. Bull. d. 1. Soc. d. Chir. d. Paris, Mai 1888. — Suter
Archiv für klin. Chirurgie, Bd. 72, S. 725. — Wolter, Heber die
funktionelle Prognose der Sehnennaht. Archiv für klin, Chirurgie 1888,
Der Pestfail vom Lloyddampfer Calipso.
Von Sanitätsinspektor Dr. Markl.
Das Vorkommen von sporadischen Pestfällen in Hafen¬
städten und auf Schiffen ist hei dem regen Schiffverkehre
mit überseeischen Lämlern keine Seltenheit; der letzte
Trieste!' Fall scheint mir :iher in mancher Beziehung in¬
teressant zu sein, um in der Literatur verzeichnet zu
werden.
Um gleich in medias res zu gehen, will ich vorher
bemerken, daß ich das Interessante an dem Falle darin
erblicke, daß er bei einem Individuum vorgekommen ist,
welches nie in überseeischen Ländern gewesen, auf einem
Schiffe, das mit pestverseuchten Häfen nicht verkehrte und
lediglich den Frachten verkehr der aus Indien herstammen¬
den, für Venedig bestimmten Waren vermittelte. Dieser
Dampfer beherbergte, wie sämtliche Schiffsmannschaft aus¬
sagte, und wie ich mich davon durch wiederholte sehr in¬
tensive Schwefelräucherung auch überzeugt hatte, absolut
keine Ratten, was dadurch zu erklären ist, daß das Schiff
zumeist die Ladung und Ausschiffung mittels Lichterboote
besorgt und keine Küche führt und daher auch keine Lebens¬
mittel für Ratten besitzt. Aber auch das andere Schiff, von
welchem die ,, Calipso“ die aus Indien herstammenden Waren
(Jute, Baumwolle, Oelsamen) für Venedig übernahm, und
welches daher für die Aetiologie des Pestfalles in Betracht
kommt, die ,, Austria“, war fast rattenfrei. Bei der nach der
Feststellung des Pestfailes unmittelbar vorgenommenen
Rattenvertilgung mittels Schwefelräucherung wurden nur
zwei Ratten und 18 Mäuse vorgefunden, die bei der
bakteriologischen Untersuchung keine Anzeichen einer Pest¬
infektion erkennen ließen.
Man könnte wohl gerade diesen Umstand, daß einer
der größten Lloyddampfer fast rattenfrei befunden wurde,
dahin deuten, daß vielleicht vorher auf dem Schiffe eine
Rattenpest herrschte, der bereits die meisten Ratten zum
Opfer gefallen sind. Dieser Hypothese muß man jedoch die
Tatsache gegenüberhalten, daß die ,, Austria“ ein modernes,
ganz aus Eisen konstruiertes Schiff ist, auf welchem die
Ratten notorisch keine günstigen Existenzbedingungen
finden. In der Tat wurden nach einer vor einem Jahre
ausgeführten Schwefelräucherung nur 14 Ratten vorge¬
funden, eine, im Verhältnis zu anderen Schiffen, die mit¬
unter Hunderte von Ratten beherbergen, ganz unbedeu¬
tende Zahl.
Noch interessanter als die dunkle Aetiologie des in
Rede stehenden Pestfalles dürfte der Umstand sein, daß
der Fall vereinzelt geblieben ist, trotzdem die Möglichkeit
zur Uebertragung der Krankheit, nach allen Umständen be¬
urteilt, reichlich gegeben w^ar.
Wenn man bedenkt, daß der mit Lungenpest behaftete
Patient noch einige Stunden vor dem Tode mit zahlreichen
Personen verkehrte. Besuche abstattete, das Krankenzimmer
mit anderen zwölf Patienten teilte, daß ferner in dem Bette
des Kranken an Bord unmittelbar nach dessen Ausschiffung
ein anderer Matrose schlief, ohne daß durch diesen engen
Verkehr weitere Pesterkrankungen zustande kamen, kann
man sich wohl nicht wundern, wenn selbst hochgestellte
Persönlichkeiten den Pestcharakter dieses Falles bezwei¬
felten. Und dieser Umstand ist mir auch ein Beweggrund,
den Sachverhalt im nachstehenden der Oeffentlichkeit mil¬
zuteilen.
Am 10. November 1906 habe ich erfahren, daß hei dei'
am 9. November ausgeführlen Obduktion der Leiche des Steuer¬
mannes xV. D. vom Lloyddampfer ,, Calipso“, welcher am 7. No¬
vember krankheitshalber ausgeschifft wurde und einen Tag spätei'
im hiesigen allgemeinen Krankenhause starb, verdächtige Sym¬
ptome vorgefunden wurden.
Die soforl eingeleiteten Erhebungen ergaben, daß der Ge¬
nannte am 7. November zu Fuß in die Ambulanz des Lloyd¬
arztes sich begab und von diesem, da Symptome einer fieber¬
haften Krankheit und Ikterus Vorlagen, in das Spital venviesen
wurde.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
187
Jin Spitale diagnostizierte man olme einen Verdacht zu
schöpfen, Pneumonie und als nach zwölfstündigem Spitalsauf¬
enthalte der Exitus eintrat, führte man 24 Stunden später wie
gewöhnlich die Obduktion der Leiche aus. Dabei wurde, wie mir
der Prosektor der Anstalt, Herr Dr. Ferrari, liebenswürdig
mitteilte, eine Bronchopneumonie, ferner Vereiterung einer Bron¬
chialdrüse, Ikterus, Milztumor und Degeneration der parencliy-
matösen Organe vorgefunden.
In den Ausstrichpräparaten aus der Lunge und der ver¬
eiterten Lymphdrüse waren bipolargefärbte. Gram - negative, l)läs-
chenartige Gebilde zu erkennen, welche auf den ersten Blick
an die Involutionsformen des Pestbazillus erinnerten. ^
Auf Grund dieses Befundes bezeichnete Dr. Ferrari den
Fall als pestverdächtig und verständigte die kompetenten Be¬
hörden. . .
Reinkultur vom Calipsoslamm, 24 Stunden alt.
Karbolfuchsinpräparat.
Fig. 2.
Agarkolonien vom Calipsoslamm, 48 Stunden alt.
Als ich von dem Falle erfahren hatte, war die_ Leiche
bereits vernäht, so daß ich nicht in der Lage war, mica \ on
den pathologisch-anatomischen Veränderungen, welche hei der
Autopsie gefunden wurden, persönlich zu überzeugen. Den Befund
in den Ausstrichpräparaten aus der Lunge und Bronchialdrüse
konnte ich jedoch bestätigen.
Bei der Obduktion hat Dr. Ferrari mit dem verdächtigen
Materiale zwei Agarröhrchen beschickt und bei Bruttemperatur
stehen gelassen. Nach 24 Stunden waren einige gelbbiauue,
mehrere Millimeter im Durchmesser fassende, dann aber auch
kleinere Kolonien entwickelt, deren nähere Untersuchung jedoch
erschwert war, weil gerade die verdächtigen Kolonien nahe dem
Boden der Röhrchen lagen, so daß man sie unterm Mikroskop
mit stärkeren Linsen nicht einstellen konnte.
Diese Kulturen, die mir Herr Dr. Ferrari liebenswürdig
überließ, bildeten das Ausgangsmaterial für meine Untersuchungen.
Am 10. November abends wurden mit diesen Kulturen
vier Meerschweinchen, zwei Ratten und zw^ei Mäuse teils sub¬
kutan, teils intraperitoneal infiziert. Außerdem wurde das ver¬
dächtige Material zwei Meerschweinchen in die rasierte, unver¬
letzte Haut eingeriehen.
Am 11. November früh, also zwölf Stunden nach der
Infektion, wurden alle Tiere bis auf die perkutan geimpften zwei
Meerschweinchen tot aufgefunden. _
Bei der Obduktion der Meerschweinchen konstatierte^ ich
hämorrhagische Peritonitis mit unzähligen Bazillen im Exsu¬
date, welche der Form und dem Tinktionsvermögen nach den
Pestbazillen entsprachen und mit Gentiana-Alaun-Tanniu gefäiht,
deutliche Kapseln erkennen ließen.
Im Herzblute der Meerschweinchen waren sehr siiärlicli
Bazillen vorhanden.
Die Ratten und Mäuse wiesen leichte Hyperämie des sub¬
kutanen Gewebes, Milztumor und zahlreiche Bazillen im Blute
auf, welche mit alkoholischem Methylenblau, sowie mit ver¬
dünntem Karbolfuchsin die charakteristische Polfärbung zeigten.
Die vom HerzbluLe der gestorbenen Tiere angolegtcii Agar¬
kulturen zeigten starke Verunreinigung mit einem Koli stamm,
jene, die von den Tieren stammten, welche mit vier Kultur von
der Drüse infiziert waren, außerdem Verunreinigung mit Ba¬
cillus Pyocyaneus.
In einigen Kulturen waren diese Saprophyteii derart über¬
wuchert, daß das Auf finden der Pestkolonien überhaupt un¬
möglich war. Ich versuchte eine derartige Mischkultur (mit
Bazilhis Coli) an Mäusen auszuwerten und fand, daß erst Dosen
von Vio Oese peritoneal einverleibt, die Tiere innerhalb 24 Stunden
mit Pestbazillenbefunden im Blute töteten, während nach ge¬
ringeren Dosen ^/loo, ^/looo etc., bis ‘/loonono Oese die Tiere
überhaupt nicht, oder erst nach 9 bis 20 Tagen ohne Infektions¬
befund eingingen.
Die zwei perkutan geimpften Meerschweinchen starben erst
nach dem vierten, bzw. fünften Tage nach der Infektion. Das
letztere von diesen Tieren ließ schon 24 Stunden nach der
Impfung die Pestdiagnose mit großer Wahrscheinlichkeit zu. Das
Tier schrie vor Schmerzen und man konnte in der linken Inguinal¬
gegend eine vergrößerte schmerzhafte Drüse fühlen. Bei der
Obduktion wurde ein hämorrhagisch infiltrierter Bubo mit zahl¬
reichen bipolargefärbten Bazillen vorgefunden, welche auch in
den angelegten Kulturen aufgingen. Das Herzblut lieferte Rein¬
kultur von Pestbazillen.
Der Sektionsbefuiid bei dem anderen Tiere war weniger
überzeugend. Es waren zwar auch in diesem Falle die Inguinal¬
drüsen etwas vergrößert und hämorrhagisch infiltriert, es gelang
jedoch weder mikroskopisch noch kulturell, Pestbazillen mit
Sicherheit nachzuweisen. Aus dem Drüsensafte ist nur Staphy¬
lococcus aureus gewachsen, während die vom Herzblute an¬
gelegten Kulturen steril blieben.
Der isolierte Stamm zeigte alle Eigenschaften einer typi¬
schen Pestkultur:
1. Kurze, an beiden Polen abgerundete und stärker sich
färbende, unbewegliche. Gram -negative Stäbchen (siehe Fig. 1),
in älteren Kulturen bläschenartige Involutionsformen.
2. Langsames Wachstum, sowohl bei Zimmer- als bei Brut¬
temperatur.- . .
3. Tautropfenähnliche, zarte, grauweiße Kolonien, mit iri¬
sierendem, gewelltem Rande (siehe Fig. 2), deren Durchmesser
selbst nach Wochen kaum 1 mm überschreitet.
4. Auf Gelatine zarte, halbdurchsichtige Kolonien ohne
Verflüssigung.
5. In Bouillon bei Zimmertemperatur sehr langsame Ent-
w'icklung in Form von kleinen Flocken am Boden und an den
Wänden des Kolbens; im späteren Verlaufe inselartig zerstreute
Flocken an der Oberfläche. Die Bouillon bleibt ungetrübL bei
Hiaittemperatu!' zeigt die Bouillon in den erstell lagen minimale,
gleichmäßige Trübung, nach vier Tagen findet ein starkes Wachs¬
tum an der Oberfläche in Form von feinen, leicht zu Boden
sinkenden W'olken statt.
6. In Zuckerbouillon keine Gasbildung.
7. Auf D r i g a 1 s k i - C o 11 r a d i s Lackmus - Violett - N utrose-
agar zaite, blau gefärbte Kolonien.
8. Der Stamm ist pathogen für Mäuse, Ratten und Meer¬
schweinchen, sowohl bei subkutaner und ])eritonealer, als auch
bei perkutaner Applik;yion. Zur Infektion genügen die mini¬
malsten Dosen. Rei intraperitonealer Einverleibung gingen Mäuse
und Ratten noch nach ^/loooüo Oese einer 24 Stunden alten
Agarkultur in 36 Stunden, nach '/loooooj Oese innerhalb diei
Tagen an Septikämie ein.
9. In keimfreien Filtraten von älteren Bouillonkulturen
sind für Mäuse toxische Substanzen nachweisbar.
Einen weiteren Kommentar über die Natur des Stammes
halte ich für ülierflüssig ; eher möchte ich einige Erwägungen
vom administrativen Standpunkte beifügen.
Wir sehen an dem beschriebenen Falle, daß ganz un¬
vermutet auf Schiffen und unter Seeleuten, gegen welche
nicht der mindeste Verdacht besteht, Pestfälle Vorkommen
können, welche erst post festuin zur Kenntnis der Seever¬
waltung gelangen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
„Die Bazillen lassen sich eben nicht kommandieren,
in welchem Verwaltungsgebiete sie aufzutreten haben“, sagte
mir scherzweise ein hervorragender Staatsmann und hat
mit diesen Worten den Kernpunkt der Sache getroffen.
Da meine Vorschläge auf Aktivierung eines Seemann¬
krankenhauses nach dem Hamburger Muster, in welchem
kranke Seeleute ohne Unterschied der Provenienz des
Schiffes Aufnahme finden könnten, nicht Anklang fanden,
ist es fraglich, oh die Anstellung eines Bakteriologen hei
der Seebehörde in Triest, welcher auf ein entlegenes, schwer
zugängliches Laboratorium ohne Kommunikationsmittel,
oline Assistenten und praktische Diener angewiesen ist, nicht
illusorisch sei und ob es nicht besser wäre, zu diagnostischen
Zwecken für die politischen Behördmi und die Seeverwaltung
ein gejiieiiisames, gut eingerichtetes Laboratoriiun zu be-
slimmen, wie es z. B. in Italien, Spanien und Portugal der
Fall ist.
ln Frankreich besteht allerdings bei dem maritimen
Bureau de la Saute auch ein bakteriologisches Laboratorium;
aber dieses Laboratorium befindet sich im Hafen, in der
nächsten Nähe des Seesanitätsamtes, an dessen Spitze ein
ärztlicher, bakteriologisch gebildeter Pachmann sieht und
nicht wie bei uns ein gewesener Marineoffizier.
Aus der III. mediz. Abteilung des k. k. allgemeinen
Krankenhauses in Wien. (Vorstand : Prof. Dr. N. Ortner.)
Ueber ein durch Gelatineinjektionen wesentlich
gebessertes Aneurysma der Arteria anonyma .*)
Von Dr. Vifetor Grünberger, Assistenten der IH. med. Abteilung.
Wir hatten auf unserer Abteilung einen Krankheits¬
fall, welcher sowohl durch das klinische Krankheitsbild als
auch durch den Erfolg der Therapie Interesse hervorzurufen
imstande ist.
Es handelt sich um einen 45jährigeii verheirateten Expeditor.
Der \'a1er des Patienten war ein mäßiger Trinker und ein starker
llaiicher und starh, 66 Jahre alt, an einem Schlagant'all. Die
sonstige Familienanamnese ist belanglos. Pat. hatte in der Kind¬
heit Scharlach und Typhus. Mit 25 Jahren erlitt er beim Militär
eiiieti Hilzschlag. Vor acht Jahren bekam Pat. im Anschlüsse an
eiiK' Infektion einer Rißwunde des rechten Mittelfingers eine
Schwellung der rechten Hand. Fünf Monate später trat eine all¬
gemeine Furunkulose (32 Furunkel) auf. Es wurde damals Zuck(!r
im Harn gefunden und eine Karlsbader Kur verordnet, die der
IkilienI im nächsten Sommer wiederholte.
Vor drei .Jahren bekam Pat. eine Rötung und Schwellung,
sowie Schmerzhaftigkeit und Fuidvtionshehinderung im rechten
Schul lergelenke. Bis auf ein leichles Unbehagen schwanden diese
Bescdi werden.
Am 4. oder 5. Januar 1905 konnle Pat. frühmorgens nicht
laul sprechen, auch nicht schlucken, der Hals war an der Vorder¬
seile stark geschwollen, der Kehlkopf war nach links verschoben,
gleichzeitig halle Pal. kein rechtes Gefühl im vierten und fünften
Finger der rechten Hand. Schon seit längerer Zeit bestand ein
leichter Grad von Atemnot. Es wurde damals eine rechtseitige
Rekurrenslähmung konstatiert (Prof. Cliiaril und Fisumschläge,
Jod, sowie der Genuß von Kalhsfußgelee verordnet (Professor
Chvosta'k). Nach einem (Monate liekam Pat. wieder die Stimme,
nach einem weileiam (Mojiale war er wieder diensttauglich.
Tm Juli 1906 hal l’al. auf einer ürlauhsreise stärkere An-
strcmgungen duicdigemacld. Danach fühlte er sich nicht recht
wohl. In der letzten Angus twoclie wui'de Pat. wieder heiser;
gleicli/,(dlig sl(*ltlen si(di auhalleude, nicdit näher zu charakterisie¬
rende SchmerzcMi im Hei-eiche der rechten Scludter ein, die im
Schulferhlait hc'gamum, in das Gelenk ausstrahlten, bei Rewegun-
geu Zunahmen und das Fiegeu auf der rechten Seite unmöglich
machien. Die vermindeile Empfindlichkeit des vierten und fünften
Fiugei’s der rechten Hand war noch vom ersten Anfall her
unverände)-t. Nach (dner Woche nahm der reißende Scdimerz in
der rechten Schulter zu.
Die Schmerzen in der nadden Schultei', sowie die Heiserk(dt
hielten bis zum lieutigen Tage an, ferner l)esteht jetzt Brechreiz,
Herzklopfen nach schnellerem G(>hen und nach der Mahlzeit,
*) Nach einer am 25. Januar 1907 in der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien abgehaltenen Demonstration.
Atemnot heim Stiegensteigen, sowie leichte Ermüdbarkeit. Patient
wacht bisweilen im Schlafe auf und findet sich sitzend.
Potus: Früher 10 Krügel Bier, später 4, seit einem Jahre 2.
Früher bisweilen statt des Bieres IV2 Liter Wein, zuletzt nur
ausnahmsweise. Auch jetzt noch täglich ein Tee mit drei liöffel
Rum, sehr selten Schnaps.
Tabak: Frühei' bis zu 10 Virginier, dann 6 bis 7 Tr'a-
huko, in den letzten Jahren 12 bis 20 'Zigaretten.
Gonorrhoe mil 18 Jahren, gleichzeitig Hodeiientzündimg.
Lues negiert.
31. Oktober 1906. S t a t u s p r a e s e n s : Pat. nimmt erhöhte
Rückenlage ein. Das Gesicht ist auffallend gerötet, die Rötung
ist diffus, man sieht keine ektatischen Venen, die Konjunktiven
sind auffällig injiziert, die IT'hergangsfalte ödematös, kein Oedem
des Schädels. Auf der Nase ein Schmill nach einem Säbelhieb.
Die Pupillen gleich, mitlelweit, auf Licht reagierend. Die Lippen
blaß und zyanotisch, eine graubraune Pigmentation auf der Unter*-
lipiie, eine Unzahl hläulichei' Thgmentflecke auf der Wangen¬
schleimhaut, die Zunge breit, feucht, geradeso wie die Wangen¬
schleimhaut gefärbt. Die Rachenschleimhaut blaß und fein ge-
höckert. ' ■ I ^ ' 1 I j 1
Der Hals abnorm dick, ziemlich gedrungen, dabei nach
unten u. zw. sowohl nach beiden Seiten, als auch nach vorne
ausladend. Innerhalb dieser gleichmäßigen Verdickung sieht man
etwas rechts von der Medianlinie eine wie aus der Incisura sterni
austretende, rechts und ülaer dieselbe sich erhebende, isolierte,
überwalnußgroße, jedoch mehr längsovale Protuheranz,
welche deutlich pulsiert u. zw. besteht die T’ulsation sowohl
von oben nach unten, wie von rechts nach links. Der hei
stärkerem Druck etwas druckschmerzhafte Tumor läßt sich vom
Sternum nicht ahdrängen. Der Tumor bietet ein deutlichef.
Schwirren dar und zeigt hei oberflächlicher Berührung zwei
Stöße. Ueher dem Tumor hört man eine deutliche Triphonie, der
zweite Halbton ist manchmal unrein, daneben hört man ein
fernes Sausen. Seitlich vom Tumor, über dem rechten Sterno-
kleidomastoideus, hör! man zwei Töne, noch mehr seitlich ein
lautes Sausen.
Der T..arynx ist in auffälliger Weise disloziert, so zwar,
daß der Pomus Adami einen guten Zentimeter nach links von
der (Medianlinie verlagert ist. Das C a r dar el li s che Symptom
ist positiv. I
Beide Karotiden ungleich, die linke zeigt einen, wenn
auch schwachen, so doch deutlichen Ihrls, die rechte Karotis
läßt sich als pulsierendes Gefäß nicht finden. Der Puls an der
Artei'ia temporalis ist links vor dem Ohre deutlich vorhanden,
fehlt rechts. Die rechte Suhklavia zeigt eine deutliche, wenn
auch schwache Pulsation über der Klavikula, ebenso die linke.
Keine der beiden Arterien ist in der M obre nh ei m sehen Grube
palpahel. Beide Radialpulse sind different, der linke entschieden
größer wie der rechte, auch scheint der linke früher anzukommen
als der rechte. Dieselbe Differenz zeigen auch die Bra¬
chialarterien. Die Kruralarterien pulsieren beide schwach und
kommen im Vergleich zu den Radialarterien deutlichj später.
Die beiden Fossae supraclavicula l e s erscheinen so¬
wohl in liegender, wie in slehiender Stellung different und zwar
ist die rechte PMssa supraclavicularis deutlichi vorgewölbt. Diese
Vorwölbung ist zum großen Teile durch eine diffuse Erweiterung
dm- Vena jugularis externa gebildet, an der man eine Pulsation
nicht nachweisen kann. .‘\uch zeigt sie kein inspiratorisches
.\hschwellen. '
Die Haut über dem oberen Sternum und namentlich rechts
von demselben, etwas weniger links von demselben, ist in der
Höhe des ersten bis vierten Interkostalraumes von korkzieher-
arlig geschlängelten, teils längsverlaufenden, teils auch quer¬
ziehenden, miteinander in grobem Maschenwerk kommunizieren¬
den, nirgends Ihilsation darhietenden und sich auf der Höhe des
Inspiriums v('islärkt stauenden Venen durchzogen. Ansonsten
ist die Haul in dem besagten Bereiche, namentlicli über dem
(Manuhrium sterni und rechts davon in der Höhe des erste"'
und zweiten Interkostalraumes bis zur vorderen Achselfalte
ödematös, ebenso die Haut dei' rechten Fossa supraclavicularis.
Man sieht im ersten und zweiten Interkostalramu, reclifs
vom Sternum, eine Spur auch über dem Manubrium sterni, eine
schwache systolische Pulsation und gleichzeitig fällt auf.
ilnß der Stei'nalanteil d('s zweiten Interkoslalraumes rechts stärkci'
mich oben zu ausladel wie links. Bei tiefer .Atmung bleibt der
rechte Thorax in den oberen Partien deutlich zurück. Dabei zeigen
die hypochondralen Inlerkostalräume eine beiderseitige, anschei¬
nend gleiche insidralorische Einziehung.
Die Distanz der rechten .Areola von der .Mittellinie beträgt
16 cm, die der linken 13 cm.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WCCIIENSCIIRIET. 1907.
18!)
Perkussion vorjie: Pie linke Fossa clavicularis schalli
voller als die röchle, die reclile Fossa iiifraclavicularis gibt außen
abnorm sonoren, spurweise tyinpaniüschen Schall, innen Scball-
däinpfung, links ist etwas kürzerer Schall als normal. Rechts ist
von der dritten Rippe an voller Schall bis zum oberen Rand der
sechsten Rip])e, daselbst deutlicbe respiratorische Verschieblich¬
keit. Pie Verkürzung des Schalles in der linken Fossa infra-
clavicularis nimmt nach unten an Intensität zu, im vierten tnter-
kostalraum beginnt die Herzdämpfung und gebt im fünften
Interkostalraum in den lympanitischen Schall des Trau besehen
Raumes über.
Auskultation vorne: ln der reebten Fossa supraclavi-
CLilaris ist im Reginn ein schwach vesikuläres, i’auhes Inspirium.
ein im Beginn schwaches, gegen Ende auffällig lautes bronchiales
Exspirium, in der linken Fossa supraclavicularis dasselbe bron¬
chiale Exspirium hörbar. Dasselbe bört man auch unter dem
Larynx über der Trachea. In der rechten Fossa iiifraclavicularis
fehlt das Inspirationsgeräusch, das Exspirium ist protrahiert und
bronchial, von da nach abwärts ist das Inspirationsgeräusch
noidi immer heimlich und wird erst vom 5. Interkostalraum an
lautei', bei noeb immer bestehendem bronchialen Exspirium. tu
der linken Fossa iiifraclavicularis besteht ein abgeschwächtes
vesikuläres Inspirium, ein bronchiales Exspirium.
Der S tiniinf reini tus ist in der rechten Fossa infra-
clavicularis deutlich gegenüber den anderen Partien unter der
Klavikula abgeschwächt, ebenso oberhalb der Klavikula rechts.
Auch in der linken Fossa infraclavii ularis ist der Stimmfremitus
abgeschwächt, jedoch ist die Abschwächung rechts stärker
wie links.
Die Stimnikonsonanz ist in der rechten Fossa infra-
clavicularis gegenülier der linken Seite stark abgeschwächt.
Die Wirbelsäule zeigt eine minimale, arkuäre Kyphose
und Sinislroskoliose im unteren Halssegmente, eine korrigierende
im oberen Brustsegmente, im mittleren Brustsegmente wieder eine
leichte Sinislroskoliose, im unteren Brustsegmente und oberen
Lendensegmente wieder eine Dextroskoliose.
Die rechte Fossa suprasiiinata erscheint leiidil vorgewolbt,
die linke eingesunken. Eine ähnliche Differenz besteht in den
beiden Fossae infraspinatae.
Die Haut in der rechten Fossa suprasiiinata und iufra-
spinata deutlich dicker, wulstiger, ödematös im Vergleich zur
linken. Dieses Oedem reicht bis zum unteren Rande der Skapula.
Perkussion hinten: Die linke Fossa supraspinata gibt
kürzeren Schall als normal, die rechte Fossa supraspinata gibt
hypersonoren Schall. Die linke Fossa infraspinata. ist gleichfalls
kürzer als normal, erst zwei Querfinger unter der Spina wird der
Schall voller, nach unten zu wird der Schalt sogar über¬
voll bis bandbreit unter den Angulus, woselbst deutlicbe
|■espil'atorisehe Verscbieb’icbkeit bestebt. Reebts ist der Schall
unter der Spina eher etwas kürzer als links u. zw. bis zni
Mitte der Skapula, von da an besteht voller Schall, allerdings
minder voll wie links, bis handbreit unter den Angulus reicbend
und gleicbfalls respiratorisch verschiehlich.
Auskultation hinten: In der nadden Fossa supra¬
spinata fehlt das Inspirium, man hört ein bionchiales Exspirium,
unter der Spina rechts allenthalben ein etwas scharfes, vesikuläres
Inspirium und eiir brotichiales Exspirium, Danehen besteht ein
entferntes, mehr kleinröhrenartiges, dumpfes Rronchia’atmen, be¬
sonders gut in der Höhe der Spina scai)ul'u^ zu bören, weitei
nach abwärts besieht ein forldam'rnd abgeschwächtes, vesikuläres
Inspirium, nui' an der Basis dei' linken Lunge ist dasselbe lautei
zu hören, daneben ein dichter, feuchter Katarrh, wähiamd sonst
über der linken Lunge nur leichtes Schnurram zu hören i^l-^__
Der Stimmfremitus ist in der linken Fossa supras|)inal:i
innen deutlich, außen geringgradig abgeschwä'dit, el)enso rechts,
ohne deutliche Differenz zwischen heiden Seilen. Unter (ler Spina
ist der Stimmfremitus beiderseits gleich, doch inmuwhin^ mäßig
stark und von oben nacb unten gegen die Basis an Intensität zu¬
nehmend.
Die S t i mm k 0 n s o n a n z fehlt in der rechten Fossa siipri-
spinata fast völlig, links ist eim* .Vndeutung von Aegophonie.
Un'er der Spina ist die Stimmkonsonanz i'(*chts etwas schwächei
wie links, von annähernd normalem Klangcharakter und gegen
die Basis zu stärker werdend. Bei angehaltenem Atcmi hört man
über d(Mn linken Thorax ein lautes systolisches Geräusch nach
dem schwachen ersten Ton, rechts von der Wirbelsäule ist das
Geräusch nur angedeutet.
Herz: Der Herzspitzensloß ist im tüniten Interkostalraum
in der linken äußeren Mamillarlinie schwach und beschränkt
fühlbar, eine präkordiale Pulsation ist im linken Mamillarbereich
sichtbar, nacb innen davon nicht eikennhar, (d.ienso zeigt aiu’h das
unteia' Sternum nichts von einer l’ulsation, hingegen sieht man
rechts vom Sternum im ersten und zweit('n I nlerkostalraum eiiu'
schwache systolische' Bulsation, Feiner sieht man eine
schwache epigastrale Pulsation.
Die Herzdämpfung (h'ckt sich mit dem Spitzenstoß,
geht von da nach oben zur linken äußeren .Mamillarlinie, geht
dann schräg durch die Areola, leichl nach oben nur bis in den
vierten Interkostalranm und nach lechts nur einen Querfingei'
nach links von der linken Sternallinie. Das übrige, rechts davmi
gelegene und supraslernale Gebiet. z('igt einen deutlichen Lungen¬
schall. Im ersten und zweiten Interkostalraum, links vom St(‘r-
num, 1 cm nach außen vom linken Sternalrand reichend, findet
sich eine Dämpfung, welche das ganze obere Sternum b('-
trifft und nach rechts sich einen Zentimeter übei’ den rechten
Sternalrand in den ersten und zweiten fnlerkostalramn und über
den Sternalansatz der dritten rechten Hippe ausdehnt. Die unü'ic'
Dämpf imgsgrenze bildet eiiu' sebräg von la'chls unten nach links
oben ziehende Linie, so dab die ganze obere Dämpfung eine
eigenlümlicbe scbalenförmige Figur liefert.
Auskultation des Herzens: Man hört an der Herz¬
spitze einen dumpfen systolischen Ton, ein schwacdies systolisches
(äeräusch, einen dumpfen zweiten Ton, zwei dumpfe Töne jirä-
kordial und im zweiten Interkostalraum links vom Sternum,
rechts vom Sternum sind die Töne etwas lauter und der ersle
Ton etwas unrein, am lautesten sind die Töne rechts vom Sternum
im ersten Intokostalraum. Ueber dem Trikuspidalostilim sind
dumpfe Töne.
Abdomen: Die Leber ist palpabel, überragt den Rippen¬
bogen um ungefäbr zwei Queifinger, der unteia^ Band ist etwas
stumpf, respiratorisch ist sie deutlich verschiebbar. Die iMilz ist
vergrößert, einen halben Querfinger unter den Rippenbogen rei¬
chend, mit ziemlich scharfem unteren Rande, respiratorisch gut
verschieblich.
Kein iVszites, keine Qedeme der unteren Extremitäten, die
Patellarsehnenreflexe sind vorhanden.
Harn- und Blutbefund normal.
Der Larynx bei und ergibt eine rechtseitige Rekurrens¬
lähmung (Dr. Kahler).
Aus dieser Kraiikeiigeschiclite ergibl sich, daß es sicli
in dem vorliegenden Falle um einen raimieinnehmenden
Tumor im Mediastinum handelt. Dafür spricht die Ver¬
größerung des ganzen rechten oberen Thoräxraiunes, die
Dämpfung am oberen Sternum, welche sich um je einen
Querfinger nach rechts und links von dem entsprechenden
Sternalrand erstreckt und welche rechts etwas tiefer reicht
als links. Dafür spricht ferner der walnußgroße, längs¬
ovale Tumor, welcher zwischen dem rechten Musen bis
sternocleidomastoideus und der Trachea aus der Incisura
Storni zum Vorschein kommt. Dies ist ferner durch eine
Reihe von Kompressionserscheinungen und Verdrängungs¬
erscheinungen bewiesen.
1. Man sieht erweiterte Venenstämmchen in der Haut
des Manubrium sterni und rechts vom Sternum, in der
Höhe des ersten bis vierten Interkostalraumes, die Haut
ist daselbst, sowie in der rechten Fossa supraclavicularis
und supraspinata ödematös, die Vena jugularis externa
dextra ist stark erweitert und nicht pulsierend, schwillt
auch insi)iratorisch nicht ab. Man hört im rechten seit¬
lichen Halsdreieck ein deulliches Sausen, dazu kommt das
in der Anamnese erwähnte, akut entstandene Oedem am
Halse, ^Momente, welche wohl alle für eine Kompression
der rechten Vena anonyma sprechen.
2. Besteht eine Lähmung des i'echten Nervus re¬
currens.
3. Es ist der Oherlappen der rechten Lunge kom¬
primiert. Dies ergibt sich daraus, daß über demselben zum
Teil ein kürzerer, zum Teil hyi)ersonorer und lympaniti-
scher Perkussionsschall bestcdit, daß der Stimmtremitus und
die Stimmkonsonanz über demselben abgeschwächt, das In¬
spirium fehlend, das Exspirium nur als fortgeleitetes tracheu-
bronchiales Atmen hörbar isl.
4. Es besteht eine Slenose des linkam Ih'onchus. Da¬
für s[)richt die Verkürzung d('S Perkussionsschalles in der
linken Fossa iiifraclavicularis, supi'aspinata und zum Teil
infraspinata, feiner das abgeschwächte Inspirium, vor allem
aber das namentlich in der Höhe der Spina scapulae hör-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 7
bare, lokal entstandene, kleiiiröhrenartige, dumpfe Bron¬
chialatmen. Dazu kommt noch der abgeschwächte ötimm-
fremitiis und die Aegophonie in der Fossa supraspinata
sinistra.
5. Das Herz ist nacli links verschoben. Man spürt
den Spitzenstoß im fünften Interkostalraum in der linken
äußeren ^Maniillarlinie und die Herzdämpfung reicht nicht
his an den linken Sternalrand.
6. Auch die Trachea und der Larynx sind sehr stark
nach links verschoben.
7. Die Parästhesien in der rechten Hand sind durch
Kompression des Plexus brachialis, die in die rechte Schulter
ausstrahlenden Schmerzen entweder durch Kompression
eines Nerven oder, wie Cardarelli behauptet, durch Kom¬
pression der rechten Vena anonyma entstanden.
Auch über die Art des Tumors besteht wohl kein
Zweifel. Es handelt sich um ein Aneurysma, denn wir
finden einen aus der Jncisura sterni kommenden Tumor,
der nach allen Richtungen hin gleichmäßig pulsiert, über
dem ein systolisches Schwirren und zwei Stöße palpahel
sind uud über dem man eine deutliche Triphonie hört.
Ferner finden wir, daß die rechte Karotis nicht nachweis¬
lich pulsiert, daß der rechte Radialispuls kleiner ist und
später kommt als der linke. Ferner sieht man ein zweites
pulsierendes Zentrum, nämlich eine systolische Pulsation
rechts vom Sternum im ersten und zweiten Interkostal-
raum. Für ein Aneurysma spricht ferner der rasche Be¬
ginn der Erkrankung und ganz besonders der rasche Wechsel
im Krankheitsbild.
Nun galt es, das Aneurysma genau zu lokalisieren.
Der erste Gedanke war, es handelt sich um ein Aneurysma
der Arteria anonyma. Dafür spricht die rechtseitige Re¬
kurrenslähmung, der für Anonymaaneurysmeu charakteri¬
stische Sitz des pulsierenden Tumors zwischen dem rechten
Sternokleidomastoideus und der Trachea, die Kompression
der rechten Vena anonyma und des rechten Plexus bra¬
chialis, die Kompression des Oberlappens der rechten Lunge
und die hochgradige Verschiebung des Herzens und des
Kehlkopfes nach links. Vor allem war es aber ein Sym¬
ptom, das die Diagnose eines Anonymaaneurysmas wesent¬
lich unterstützte und das war die Beteiligung der rechten
Badialis, Brachialis und Karotis. In Betracht käme da noch
ein am Uehergang zwischen Aorta ascendens und Arcus
aortae sitzendes, sackförmiges Aneurysma, welches sich
aber in ganz merkwürdiger Weise gegen die rechte Hals-
s(Mte hin ausbreiten müßle, um derartige Symptome zu
vfuiirsachen. Es wurde daher die klinische Diagnose Aneu¬
rysma der Arteria anonyma festgehalten. Mit dieser An¬
nahme lassen sich aber zwei Symptome nicht vereinbaren,
das ist das positive Oli ver- Card are 11 i sehe Symptom
und die Stenose des linken Bronchus. Diese beiden Sym¬
ptome führten zu der Annahme, daß neben dem Anonyma-
aneui'ysma noch ein zweites Aneurysma am Arcus aortae
bf'stände, eine Annahme, die um so herechtigter erschien,
als pathologisch-anatomisch ein gleichzeitiges Vorkommen
eines Aneurysmas der Arteria anonyma und des Arcus
aortae häufig ist.
Nun wurde die radiologische Untersuchung von
Priv.-Doz. Holzknecht vorgenommen. Diese bestätigte zu-
nächsl vollinhaltlicb die Diagnose Anonymaaneurysma, da¬
gegen wurde die Annahme, daß gleichzeitig ein zweites
Aneurvsma am Arcus aortae besteht, nicht bestätigt. Schon
am 23. .laiiuar 1905 war, wie sich nachträglich heraus-
stellh“, eiiu' Höntgenuntersuclmng vorgenommen und damals
die Diagnose auf ein apfelgroßes Aneurysma der iVrteria
anonyma gestellt worden.
Am 13. Afovember 1906 lautete der radiologische Be¬
fund : Der heutige Befund weicht qualilativ nicht, quan¬
titativ erheblich von dem am 23. Januar 1905 ab. Die
fremde Bildung im oberen Mediastinum, welche pulsiert,
hat kugelig(‘ Gestalt und fast die Größe einer Faust an¬
genommen, noch mehr als damals hat sie den dilatierten
-Aortenhogen nach links verdrängt.
Da wir nun diesen mit völliger Sicherheit angegebenen
Befund als unbestreitbaren Punkt in der Diagnose aner¬
kennen müssen, mußten wir die Annahme eines zweiten
Aneurysmas am Aortenbogen fallen lassen. Dann wäre
aber die Stenose des linken Bronchus und das
Oliver-Cardarellische Symptom nur d,adurch zu
erklären, daß der dilatierte und nach links ge¬
drängte Aortenbogen gegen den linken Bron¬
chus gepreßt wird und dadurch eine Stenose des¬
selben, sowie das Oliver-Cardarellische Sym¬
ptom hervor ruft. Ist diese Erklärung richtig, so hätten
wir in diesem Falle eine neue Entstehungsart dieser beiden
Symptome. Aus diesem Grunde ist der Fäll, der an sich
kein alltägliches Ereignis darstellt, von klinischem Interesse.
Von weit größerem Interesse ist aber dieser Fall durch
den Erfolg der Therapie. Der Patient wandte sich zuerst
an den Chirurgen. Hofrat Prof. Eiseisberg lehnte aber
jeden chirurgischen Eingriff entschieden ab. Es wurden
früher wiederholt Anonymaaneurysmen operiert und zwar
durch einzeitige oder zweizeitige Unterhindung der Karotis
und Subclavia dextra, mit welchem Erfolge zeigt eine
Statistik von Bennet,^) nach welcher von 35 derartig
operierten Patienten 23 unmittelbar nach der Operation
starben, sechs gebessert und sechs geheilt wurden. Gleich¬
falls ungünstige Resultate zeigen die Statistiken von Rosen-
stirn^) und Jakob s th al.^) Wir behandelten den Patien¬
ten mit subkutanen Gelatineinjektionen.
Bekanntlich haben Ijancereaux und Paulesco im
Jahre 1897 den Vorschlag gemacht, Aneurysmen mit sub¬
kutanen Gelatineinjektionen zu behandeln. Ueber den Wert
und die Erfolge dieser Alethode wurde seit dieser Zeit viel
geschrieben. Sorgo^) hat im Jahre 1901 ein umfassendes
Referat über die bis zum Jahre 1901 mit subkutanen Ge¬
latineinjektionen behandelten Fälle erstattet und kam da¬
bei zu folgenden Schlüssen. In einem hohen Prozentsatz
der Fälle kann man nach subkutaner Gelatineinjektion eine
direkte Verkleinerung und Verhärtung des aneurysmati¬
schen Sackes nachweisen, allerdings nur, wenn es sich
um sackförmige Aneurysmen handelt. Da aber in allen
diesen Fällen Bettruhe und entsprechende Diät eingehalten
wurde und da experimentell eine Steigerung der Gerin¬
nungsfähigkeit des Blutes l>ei subkutaner Injektion von Ge¬
latine nicht nachgewiesen wurde, wissen wir nicht, ob die
Gerinnung im Sacke wirklich (une Folge der Gelatinebehand¬
lung ist.
Seit dieser Zeit hat sich der Stand der Frage wesent¬
lich geändert. Vor allem ist experimentell nachgewiesen,
daß die Gelatine die Gerinnungsfähigkeit des Blutes stei¬
gert. So zeigte Mo 11,^) daß bei subkutaner Gelatineinjektion
nach 12 bis 24 Stunden eiue Fibrinogen Vermehrung im
Blute auftritt und daß ferner die roten Blutkörperchen
agglutiniert werden.
Die Steigerung der Gerinnungsfähigkeit des Blutes nach
Gelatineinjektion wurde übrigens auch von vielen anderen
Autoren nachgewiesen, wie Lütkens,^) Kaposi'^) und
Zi he 11.8)
Was den zweiten Einwand Sorgos anbelangt, daß
bei allen günstigen Fällen Bettruhe und strenge Diät an¬
geordnet wurde, so ist gerade unser Fall ein glänzendes
Beispiel dafür, daß trotz des Mangels dieser zweifellos gün¬
stigen Momente Gerinnung eintreten kann und daher vor
allem die Gelatine die Gerinnung im Sacke bewirkt. Patient
ist während der Behandlung als Stations- und Frachten¬
kassier im Dienste gestanden und hat auch eine strenge
Diät nicht eingehalten. Nachträglich hat sich sogar heraus¬
gestellt, daß er täglich einen Tee mit Kognak trinkt und
daß er den ganzen Tag Zigaretten raucht.
Bei unserem Patienten wurde folgende Gelatinelösung
verwendet. Es wird Goldgelatine in einer warmen, 9°/ooigen
Kochsalzlösung aufgelöst, dann filtriert, dann in Kolben
gefüllt und durch drei Tage bei 100® C durch je eiiu' Stunde
fraktioniert sterilisiert. Ich injizierte von einer 10^/oigen Ge-
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
191
latiiielüsung 1X31, 1X34, 1X37, 1X40, 1X45, 3X50 ciii^,
also im ganzen 337 g Gelatine.
Die Injektionen wurden allwöclientlicli einmal sub¬
kutan in der hinteren Axillarlinie, in der Höhe des Angulus
scapulae gemacht. Hei der Injeklion schmerzt der Einstich
der Nadel, sowie das Ende der Injektion. Regehnähig vier
Stunden nach der Injeklion bekommt der Patient durch
zwei Stunden anhaltende Schmerzen. Die durch die in-
jektionsmasse bedingte Geschwulst verschwindet in der
Regel nach 48 Stunden, bei Umschlägen mit essigsaurer
Tonerde etwas rascher, einmal blieb die Geschwulst durch
zwölf Tage, einmal bekam Rat. nach der Injektion Fieber
bis 39-2^, das aber nach einem Tage verschwand, einmal
bekam Pat. eine halbe Stunde nach der Injektion eine läh-
niungsartige Schwäche der linken Hand, welche nach einer
halben Stunde besser wurde und nach sechs Stunden ver¬
schwand.
An dem Patienten bemerken wir folgende Verände¬
rungen : Der Befund an den Pulsen ist unverändert, die
rechte Arteria temporalis und Karotis nicht pulsierend, der
Puls an der rechten Radialis und ßrachialis Ideiner und
später kommend wie links. Pat. gibt an, daß sein Hals¬
umfang um 4V2 cm abgenommen hat. Eine sichere Ver-
ändermig in der Lage des Kehlkopfes ist nicht nachweis¬
bar, doch behauptet der Patient, daß aucli der Kehlkopf
in seiner Lagerung etwas nach rechts gerückt ist.
Der zwischen dem rechten Sternokleidomastoideus und
der Trachea vortretende Tumor ist zwar nicht mehr sicht¬
bar, man spürt ihn aber bei Palpation als deutlich pulsie¬
renden Tumor, der mit seiner höchsten Kuppe die Incisura
sterni um iVi cm überragt. Doch ist die Pulsation bedeu¬
tend schwächer als damals, die Resistenz des Tumors ist
bedeutend stärker, der Tumor geht liinter den rechten Mus-
culus sternodeidomastoideus, verliert sich aber sofort hinter
dem vorderen Rande desselben. Man hört über dem Tumor
deuthche Triphonie, der zweite Halbton ist unrein.
Das Oedem der Haut ist geschwunden, die Venen¬
netze in der Haut sind viel spärlicher und kleiner, die
rechte Vena jugularis externa tritt nicht mehr auffällig her¬
vor, die Schmerzen in der rechten Schulter, die Parästhesien
im vierten und fünften Finger der rechten Hand sind ge¬
schwunden, das rechte Stimmbaird ist his auf eine geringe
Parese der Ahduktoren frei heweglich.
Die Asymmetrie des Thorax ist kaum mehr sichtbar,
die rechte Areola ist I2V2, die linke IIV2 cm von der
^littellinie entfernt (früher betrug die Differenz 3 cm). Der
Spitzenstoß ist im fünften Interkostalraum in der linkseitigen
inneren Mamillarliiiie kaum angedeutet palpahel. Er rückt
in Linkslage gut einen Querfinger nach außen von der
linkseitigen äußeren Mamitlaiiinie. Die Herzdämpfung er¬
reicht nicht ganz den linken Sternalrand.
Der Lungenbefund auf der rechten Lunge hat sich
nicht wesentlich geändert, nur ist das Inspirium etwas hör¬
bar, während es früher fehlte.
Dagegen ist links vorne derzeit normaler Lungen¬
schall, das Inspirium rauh vesikulär, im Inspirium hört
man ein fortgeleitetes tracheobronchiales Atmen. In den
beiden Fossae supraclaviculares ist der Stimmfremitus und
die Stimmkonsonanz rechts stärker als links abgeschwächt.
Das in der Höhe der Spina scapulae entstandene klein¬
röhrenartige Bronchialatmen ist nicht mehr hörbar.
Dagegen besteht noch ein deutliches Üliver-Car-
darellisches Phänomen, allerdings schwächer als früher.
Es ist also die rechtseitige Rekurrenslähmung, die
Kompression des rechten Plexus hrachialis, der rechten
Vena anonyma, ferner die Stenose des linken Bronchus
geschwunden, ferner ist der sichtbare Tumor um ein ganz
Bedeutendes kleiner und härter geworden, seine Pulsation
geringer.
Daraus ergibt sich, daß in diesem Falle der Aneu¬
rysmasack unter Gelatinebehandlung deutlich kleiner wurde,
ein Erfolg, der die günstigen Berichte über diese Behand¬
lungsart neuerdings bestätigt. So hat Baß^) in einem Sani-
nielreferat gezeigt, daß von 126 Fällen von sackförmigen
Aneurysmen 61 mit glänzendem Erfolge durch subkutane
Gelatiiieinjektionen behandelt wurden.
Der ganze Fall scheint demnach mitteilens¬
wert, weil es sich um ein am Krankenbett dia¬
gnostiziertes und durch den Röntgenbefund
zweifellos bestätigtes Aneurysma der Arteria
a 11 o n y m a handelt, weil wahrscheinlich d u r c h
dasselbe eine neue Ursache für das Zustande¬
kommen einer linkseitigen Bronchusstenose und
des Oliver - Cardarellischen Symptoms durch
einfache Verdrängung des Aortenbogen^ klarge¬
legt zu sein scheint und weil endlich der Fall
beweist, daß unter selbst ungünstigen äußeren
Verhältnissen des Kranken lediglich unter der
Einwirkung wiederholter G e 1 a t i n e i 11 j e k t i 0 n e n
eine objektiv sicher ge stellte, erhebliche Ver¬
kleinerung des Aneurysmas erreicht worden zu
sein scheint.
Zum Schlüsse erübrigt mir noch die angenehme
Pflicht, Herrn Prof. Ürtner für die Ueberlassung des Falles
meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
Literatur:
1) B e n n e t, The Lancet 188L - h Rosenstirn, Langenbecks
Archiv für klinische Chirurgie, Bd. 34. J a k 0 b s t h a 1, Deutsche
Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 63, 5. und 6. Heft. — Sorgo, Zeitschrift
für klinische Medizin 1901. — Moll, Wiener klinische Wochenschrift
1903. — ®j L ü t k e n s, Archiv für experimentelle Pathologie und Phar¬
makologie, Bd. 55. — 9 Kaposi, Mitteilungen aus dem Grenzgebiete
der Medizin und Chirurgie, Bd. 13. - Z i b e 1 1, Münchener medizinische
Wochenschrift 1901. — 9 B a ß, Zentralblatt für die Grenzgebiete der
Medizin und Chirurgie 1904.
Aus der II. internen Abteilung des städtischen Kranken¬
hauses in Triest. (Vorstand: Primararzt Dr. Viktor
Liebman.)
lieber Novaspirin, ein neues Aspirinpräparat.
Von Dr. Guido Liebinau.
Die moderne Therapie vt-rfügt über eine so große Reihe
von Salizylpräparaten, daß es wohl gewagt erscheint, mit
einem neuen, verbesserten Mittel an die Oeffentlichkeit
herantreten zu wollen, um so mehr, als das saiizylsaure
Natron von allen seinen Derivaten gewiß an Wert weder
überboten, noch durch sie verdrängt werden konnte. Somit
erschien auch die Skepsis gegen das Aspirin gerechtfertigt,
welche von allem Anfang seine Einführung hervorrief, bis
man zum sicheren Schlüsse kommen konnte, daß dieser
Essigsäureester der Salizylsäure — gegenüber der gewöhn¬
lichen Salizylsäure selbst — doch den Vorteil bietet, die
Schleimhaut des Magens fast gar nicht zu reizen, folglich
den Appetit nicht zu beeinträchtigen. Somit war in der
Tendenz, alle unangenehmen Nebenwirkungen abzuschaffen,
mit welchen man unstreitig bei jedem Präparate rechnen
muß, wieder ein Bedeutendes geleistet.
Und nach den Erfahrungen die man beim Ersatz der
Salizylsäure durch Aspirin gemacht hatte, blieb es nicht aus¬
geschlossen, ja sogar wahrscheinlich, daß auch neue Aspi¬
rinpräparate in einzelnen Fällen einen Vorzug durch Aus¬
schaltung gewisser ^uierwünschter Nebenwirkungen noch
aufweisen könnten. Ich will dabei nicht behaupten, daß
das Novaspirin, ein Methylzitronensäureester der Saliz’^d-
säure, als ein in jeder Hinsicht verbessertes Aspirin zu
betrachten ist; doch wage ich aus den mit clem neuen
Mittel angestellten Versuchen den Schluß zu ziehen, daß
auch dieses Präparat bei zweckmäßiger, von^ Fall zu Fall
zu bestimmender Anwendung nicht ohne AVert ist, weil,
wie gesagt, hei der ungemein häufigen Indikation der Sali-
zylate man mit allen bestehenden Präparaten noch immer
wieder auf eine von seiten der Kranken his zur Idiosyn¬
krasie gesteigerten Intoleranz gegen das eine oder das an¬
dere stößt. Als ein Beispiel will ich nur auf Kranke, die
an Hyperazidität leiden, hinweisen, welche Aspirin schlecht
oder gar nicht vertragen.
192
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
Das N o vaspiriii hat eine ähiiiiche Zusaniineiisotzung
wie Aspirin. Bei ersterem Iritt die Methylenzitroiiensäiire
an Stelle der Essigsäure. Somit ist der wirksame Bestand¬
teil des Citarins gegeben und man kann Novaspirin als
eine Verbindung von (’itarin und Aspirin be¬
trachten. Die Firma Bayer in Elberfeld wandte sich an
uns und wir stimmten mit ihr im Wunsche überein, dieses
neue Präparat speziell in Fällen anzuwenden, wo neben
rbeuma tischen auch gichtische Affeklionen bestehen.
Da aber leider im Spitalsmateriale gichtische Affek¬
tionen, besonders akute Gichtanfälle, sehr selten zur Be¬
handlung kommen, mußten wir die Prüfung in dieser Rich¬
tung dahingestelll sein lassen und icli unternahm im Auf¬
träge meines Chefs eine größere Reihe von Versuchen, in¬
dem ich mit Novaspirin vorwiegend Affektionen rheumati¬
schen Ursprunges behandelte. Bei über 50 derartigen Fällen
konnte ich zu einem sehr befriedigenden Endresultate
kommen.
An der Hand der gemachten Erfahrungen darf ich
annehmen, daß das Novaspirin nicht die geringsten Magen¬
beschwerden herv'orruft und meine Versuche, Novasi)irin als
einen vollkommenen Ersatz des Aspirins zu betrachten, in
Fällen, wo dieses letztere nicht toleriert wurde, stimmen
den günstigen Ergebnissen von Witthauer (Berliner kli¬
nische Wochenschrift 1907, Nr. 3) vollkommen bei. Die An¬
schauung \Vi Ithauers aber, Novaspirin habe eine schwä¬
chere Wirkung als Aspirin, wurde bei unseren Fällen nicht
bestätigt. Ich konnte hingegen — vermöge einer mit größeren
Dosen (4 bis 6 g pro die) eingeleiteten Behandlung — bei
P'olyarthritischen und einfach rheumatischen Affektionen,
ein sehr rapides Schwinden der Schwellung und der
Schmerzen, mit gleichzeitig sehr guter antipyretischer Wir¬
kung konstatieren, ln Kürze möchte ich nur einige der
vielen Krankengeschichten wiedergeben :
1. Fall. Pr. R... 22 Jahre aller Maurer, litt schon vor fünf
Jahren an Gelenksschwellimg an beiden Knien mit fieberhaftem
Zustand. Seit fünf Tagen wieder Schmerzen und Schwetluug an
verschiedenen Gelenken. Heftige Magenbescliwerden (Nause;), Er¬
brechen). Innere Organe normal. Heiztöne etwas dumpf. Tem¬
peratur 40°.
Rechtes Kniegelenk: Schwellung. Aktive Rewegunoeii ein¬
geschränkt, passive kaum möglicli und sehr schmerzhaft.
Linkes Kniegelenk: Sehr starke Schwellung und Schmerzen.
Aktive und passive Bewegungen aufgehoben.
Rechter Fuß: Sprunggelenk diffus geschwollen und intensiv
druckschmerzhaft. Bewegungen in jedem Sinne sistiert.
Linker Fuß : Etwas geringere Schwellung. Aktive Bewegun¬
gen etwas eingeschränkt.
Am rechten Schultergelenk Druckschmerzhaftigkeit.
18. November: 3 g Novaspirin. Status idem. Nausea. Zwei¬
mal Erbrechen.
Temperatur: Früh: 38-6°. Abend: 39-3°.
19. November: 4 g Novaspirin. Besserung. Die ganze rechte
untere Extremität ist in allen Gelenken aktiv beweglich und mini¬
mal schmerzhaft. Das linke Kniegelenk wird fast ganz flektiert.
Linker Fulf noch schmerzhaft. Rechts Schmerzen am Scliuller-
Ellbogen und Handgelenk. Beweglichkeit im rechten Schultergelenk
eingeschränkt. Nausea geschwunden. Kein Erbrechen.
Temperatur: Früh: 38-2°. Abend: 38 5°.
20. Novendmr: 4 g Novaspirin. Schmerzen an den unteren
Extremitäten geschwunden. Der rechte Arm kann aktiv nicht
gehoben werden. Allgemeinbefinden gebessert.
Temperatur: Früh: 38-4°. Abend: 39°.
* 21. November: 4 g Novaspirin. Die Finger der rechten Hatid,
die gestern etwas geschwollen und schmerzhaft, auch auf Druck
schmerzlos und in allen Gelenken beweglich. Komplette Beweglich¬
keit und Schmerzlosigkeit an den unteren Extremitäten. Magen¬
beschwerden ganz geschwunden.
Temperatur: Früh: 38°. Abend: 381°.
22. November: 4 g Novaspirin. Besserung schreitet fort.
Auch der rechte Vorderarm ist beweglich und schmerzlos. Der
Kranke fühlt sich wohl.
Temperatur: Früh: 37-5°. Abend: 37 8°.
23. November: 4g Novaspirin. Alle Gelenke frei beweg¬
lich. Keine Schmerzen. Allgemeinbefinden ein ausgezeichnetes.
Der Kranke, bisher bei flüssiger Kost, verlangt feste Nahrujig.
Temperatur : Früh ; 37'3°. Abend : 36-9°.
24. November: 3 g Novaspirin. lüs auf sehr gi'ringe Diuck-
schmerzhaftigkeit im rechten Schutlergelenk gar keine Be¬
schwerden. Vollkommenes VMhlbelinden. Sehr guter Appetit.
Temperatur: Früh: 36-6°. Abend: 36-7°.
25. November: 2 g Novaspirin. xVlte Beschwerden ge¬
schwunden.
Temperatur: Früh: 36-5°. Atmend: 36-5°.
26. Novemljer: Novaspirin wird eingestellt.
Ich lasse den Patienten noch zwei 'tage liegen und beludle
ihn, trotz seiner Widerspräche, eine Woclie lang als Rekonvales¬
zent in tier Anstalt. Keinerlei Schmerzen oiler Beschwerden
treten auf.
2. Fall. 4'. Z., 39 Jahre alter Matrose, litt wiederholt an
Gelenksschwellungen an den unteren Extremitäten. Seit einer
Woche ist Pat. von Schwellung und Schmerzen an sämtlichen Ex¬
tremitäten befallen. Ausgedehnte katarrtialische Erscheinungen an
beiden Lungen. Herztöne kaum hörbar und dumpf. Radialis etwas
hart, gesctdängelt. Puls 108, arrhythmisch. Temperatur 39-2°.
Beide Knie und Füße sind bei der leisesten Berührung in höch¬
stem Grade schmerzliaft. Beide Schultern, die Hände und der
ganze rechte Arm stark drucksclimerzhaft. Schwellung des linken
Sprung- und des rechten Ellbogengelonkes, welches ak iv unbeweg¬
lich. Sehr starke Schwellung des linken Handgelenkes.
24. November: Al)ends 3 g Novaspirin. Temperatur: 39-2°.
25. November: 4g Novaspirin. Pat. hatte eine sehr un¬
ruhige Nacht. Ziemlich starker Sclnveißiausbruch. Schmerzen in¬
tensiv. Objektiv keine Aeiideiamg.
Temperatur: Früh; 37-8°. Abend: 39°.
26. NWvember: 6 g Novaspirin. Pat. hat besser geschlafen.
Die Schmerzen haben wesentlich nachgelassen. Am Abend sind
alle Gelenke, bis auf den rechten Ellbogen, frei beweglich.
Temperatur: Früh: 37-3°. Abend: 38°. Puls 92.
27. November: 6 g Novaspirin. Nacht gut. Pat. klagt nur
noch über Schmerzen an beiden Armen. Sein Allgemeinbefinden
ist bedeutend gebessert. Es stellt sich Appetit ein.
Temperatur : Früh : 37°. Abend : 37-8°. Puls 80.
28. November: 4 g Novaspirin. Die Extremitäten sind aktiv
vollkommen beweglicb. Leichte Schmerzempfindung im linken
Hai’.d- und Tn rechten Fllbogengelenk.
Temperatur: Früh: 36-6°. Abend: 36-7°. Puls 84.
29. November: 4 g Novaspirin. Der Patient fühlt sich ganz
wohl. Gar keine Schmerzen, keine Schwellung. Sämtliche Be¬
wegungen werden unbeschränkt ausgeführt. Appetit ein sehr guter.
Temperatur: Früh: 36-2°. Abend: 36-6°. Puts 84.
Novaspirin wird eingesteltt. In den nächsten Tagen ist
kein Rückfalt zu verzeichnen. Pat. ist von seiner rheumatischen
Affektion ganz hergestellt. Auch die katariha'ischen Erscheiuungen
sind wesentlich gebessert.
3. Fall. L. S., 58 Jahre alter Taglühner, klagt über
Schmerzen beiderseits in der Regio mastoidea. Es besteht voll¬
kommene Kiefersperre. Beide Kiefergelenke sind stark druck-
schmerzhaft. Der Zustand ist, wegen den Beschwerden in der
Nahrungsaufnahme, ungemein lästig. Der PaHent hat ein dumpfes
Schmerzgefühl im rechten Ohre. Die otologische Untersuchung
ergibt normale Verhältnisise. MTr sahen uns daher veranlaßt,
den Prozeß als einen rheumatischen aufzufassen. Der ganze Zu¬
stand soll seit mehr als einer Woche dauern. Es wird Novaspirin
durch vier Tage verabreicht (3 g pro die). Schon nach der
dritten Gabe war Pat. imstande, den Finger zwischen die Zahn¬
reihe einzuführen. Die Schmerzen (auch die im Ohre) schwanden
in der kürzesten Zeit und am fünften Tage war Pat. vollkommen
genesen. Da er außerdem ein Ulcus varicosum an der linken
Wade hatte, behielt ich ihn noch zwei Wochen in Behandlung
und ich konstatierte, daß Pat. keinem Rezidiv seiner rheumati¬
schen Affektion anheimfiel.
Diese Fälle und der fast ganz ähnliche Verlauf vieler
anderer brachten mich zu der LTeberzengung, daß Nov-
aspirin in seiner Wirkung dem Aspirin gar nicht nach¬
steht. ln der Diaphorese konnte ich wohl — ceteris paribus
— einen minderen Effekt des Novaspirins den anderen
schweißtreibenden Mitteln gegenüber beobachten. Da ich
aber entschieden der Meinung bin, daß die Diaphorese bei
polyarthritischen Affektionen eher als eine schwächende als
eine wohltätige Wirkung anzusehen ist, so glaube ich die ge¬
ringeren Schweißausbrüche, bei erzielter Wirkung, un¬
bedingt als einen Vorteil betrachten zu können.
Absolut nicht schädlich beeinllußte Fälle von bestehen¬
den organischen llerzaffektionen ; unter Xovaspirinbehand-
lung vollkommen, nach Entfieberung, ausgeschaltctes Albu-
Kr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
193
men aus Kiweißliai'iien ; (laben des Präparates während der
Scliwangerscliati und im Kindesalter; stets bis zu 8 g pro
die, ajislandsl'os, auch durch lange Zeit tolerierte Dosen,
sprechen für die Tatsache, daß Novaspirin in keinem Sinne
unangenehme Nebenwirkungen hervorruft, noch die ge¬
ringste Clefahr darhietet.
Was die neuralgischen Affektionen anbelangt, konnte
ich bei meinen Fällen in Novaspirin gegenüber den übrigen
Salizylaten keinen ausgesprochenen VWrteil erblicken. Nur in
einem Falle von Trigeminusneuralgie bei einem Diabetiker
leistete es mir, nach lange vergeblich versuchten Antineu-
ralgizis und Salizylpräparaten, vorzügliche Dienste. Wo ich
aber Novaspirin fast als ein Spezifikum hetrachten
möchte, das sind die Fälle von Influenza. Ich sah in 'der
kürzesten Zeit — oft schon nach den ersten 24 Stunden —
eine heilende Wirkung. Ohne zu den vielen Krankenge¬
schichten zu greifen, will ich nur noch einen Fall, der mir
einigen Interesses würdig erscheint, erwähnen.
A. D., 33 Jahre alter Korbmacher, leidet seit 15 Tagen
an heftigen Schmerzen am Nacken und an den Extremitäten
(speziell am rechten Ellbogen, an den Knien, Schenkeln und
Zehen). Sehr intensive Schmerzen in der Sakralgegend. Der Pa¬
tient ist zum erstenmal krank. Sein Beruf zwingt ihn, stunden¬
lang im Wasser zu stehen. Potus und Lues werden negiert. Die
Untersuchung ergibt normale Verhähnisse, bis auf eine leichte
Vergrößerung der Milz, die deutlich zu palpieren ist (weiche Kon¬
sistenz). Die Temperaturkurve zeigt unregelmäßige Steigerungen
und Remissionen (höchste Temperatur 39°). Pat. fühlt sich sehr
angegriffen und kann fast nicht auf den Füßen stehen. Er hat
einen leidenden Habitus und klagt über Mattigkeit und Appetit -
mangel.
Malaria (außer dem Milztumor lag der Aufenthalt des Pa¬
tienten in suspekter Gegend vor) wird durch die wiederholten
mikroskopischen Untersuchungen ausgeschlossen. Gleichfalls fällt
der Verdacht auf eine Knoclienerkrankung im Sakrem, wo die
schmerzhafte Stelle vom Patienten konstant und genau lokalisiert
wird, u. a. auch durch den negativen radiologischen Befund.
Somit dachten wir an Influenza oder an eine rheumatische Affek¬
tion. Durch 25 Tage wurde Chinin, Phenazetin und Aspirin ganz
erfolglos angewendet. Die Milz ist zwar unterdessen nicht mehr
zu palpieren und Pat. ist auch zeitweise fast ganz entfiebert; die
Schmerzen dauern jedoch nach wie vor an und sind mit Un¬
wohlbefinden und lästigen subjektiven Beschwerden verbunden.
In der Nacht des 25. Krankheitstages (38°) versuchte ich 1 g
Novaspirin und gab tags nachlier 3 g. Schon am Abend des¬
selben Tages (37-5°) trat eine wesentliche Besserung ein. Aui
dritten Tage der Novaspirinbehandlung waren die Schmerzen
auf ein Minimum reduziert und der Appetit gebessert (36-6°). Am
vierten Tage (5 g Novaspirin) überstieg die Temperatur nicht
36-8°. Pcd. ist vollkommen munter, hat keinerlei Schmerzen und
Beschwerden außer etwas Mattigkeit. Nun stellte ich Nov¬
aspirin ein und beobachtete den Patienten ohne medikamentöser
Behandlung. Er bekam kein Rezidiv^, erholte sich bei Spitals¬
schonung rasch und gänzlich und verließ nach weiteren zehn
Tagen als vollkommen genesen die Anstalt.
Im Novaspirin habe ich somit ein recht nützliches
Salizylp ’äparat gefunden, das ich dem Aspirin ganz gleich-
steilen möchte. In Fällen, wo das letztere Magenbeschwerden
verursacht und bei Influenza ist es dem Aspirin entschieden
vorziiziehen. Bei neuralgischen Formen nicht zu über¬
schätzen, bleibt es erst Versuchen anhcimgestellt, die Wir¬
kung des Novaspirins bei gichtischen Affektionen zu er¬
gründen.
Ich möchte Novaspirin, wegen seiner absoluten Un¬
gefährlichkeit, gleich von Anfang in größeren Dosen verab¬
reichen und es — mich auf die gemachten Erfahrungen
stützend — mit Vorliebe bei fieberhaften Fällen anwenden.
Referate.
Das Militärsanitätswesen in Schweden und Norwegen.
Von Dr, Joliaiiii Steiner, k. u. k. Stabsarzt, a. o. Mitglied des k. u. k.
Militär-Sanitätskomitees.
Wien 1906, Safaf.
Steiner, dem wir schon eine größere Anzahl wertvoller
Publikationen auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens ver¬
danken, schildert in der vorliegenden Schrift das Militärsaiütäls-
west'ii der l)eiden Staaten auf der skandinavischen llalh-
insel, deren politische Verliältnisse in diesem Jahre im Vorder¬
gründe des allgemeinen Interesses standen.
Die Broschüre teilt sicli in drei Abschnitte. Der erste um¬
faßt die Organisation des Alilitärsanitätswesens in Schweden,
der zweite die von Norwegen, der dritte endlich bringt rectit
irjteressante, vergleichende Schlußhetrachtungen, welche sehr
zugunsten des letzteren Staates ausfielen, dessen Mititärsanitäis-
wesen in organisatoiischer Beziehung geradezu als Muster hin¬
gestellt werden kann.
Da. es unmöglich ist, in einem kurzen Referate diese Schrift
im' Detail zu besprechen, so will Ref. hier nur das* Wichtigste
liervorheben. In Schweden ist das Militärsanitätswesen in zwei¬
facher Abhängigkeit: in militärischer Beziehung vom Train und
der Intendanz, in ärztlicher Beziehung von der Zivilmedizinal-
ilirektion. Die Feldärzte sind halb Militärs, halb Zivilpersonen,
haben also die Pflichten des Soldaten und Mühen des ärztlichen
Berufes, ohne der Freiheiten eines bürgerlichen Arztes teilhaftig
zu werden . In der M e d i z i n a 1 d i r e k t i o n sitzt nur ein e i n-
z i g e s m i 1 i t ä r ä r z 1 1 i c h e s Mitglied, dem es gewiß nicht mög¬
lich ist, die militärärztlicheii Interessen voll zu vertreten. Daß die
gegenwärtig heslehende Organisation des Feldsanitätsdienstes
dtu'chaus nicht den modernen Anforderungen entspricht, beweisen
die Proljemohilisierung im Jahre 1900 und die großen Uebungen
im Jahre 1902. Die Ursache dieser Verhältnisse liegt in dem
Entwicklungsgang des schwedischen Militärsanitätswesens,
das sich ebenso wie in mancli’ anderer Armee aus dem kläglichen
Feldscherertum entwickelte. Unter Karl XIV. Johann (Bernadotle)
fand zwar ein vorübergehender Aufscliwung des schwedischen
Heeressanitätswesens statt, doch konnte dieser den Militärärzten
nicht jene Stellung verscbalfen, die ihnen veimöge ihrer wissen
schaftlichen Ausbildung gebührt. Ein Vorzug der heutigen Militär¬
sanität in Schweden ist die reiche personelle und materielle
Dotierung, sowie das im ärztlichen Korps herrschende rege wissen-
schal tliche Streben.
Demgegenüber finden wir in Norwegen ein organisatorisch
selbständiges und den übrigen Heeresdienstzweigen vollkommen
gleichgestelltes Militärsanitätswesen. Das norwegische Militär-
sanitätswesen entwickelte sich zwar auch aus dem Feldscherer¬
tum, vermochte sich aber in den Jahren 1853 bis 1883 durch einen
sozusagen niilitäräiztlichen Freiheitskampf auf die gegenwärtige
Höhe emporzuschwingen. Die heutigen norwegisicben Militärärzte
sind vollwertige Offiziere und tüchtige Aerzte, dem Milizcharakter
der norwegischen Armee entsprechend, betreibt der größte Teil
der Offiziere eine zivile Nebenbeschäftiigung. Ein Mangel der
norwegischen Militärsanität sind die relativ geringen Stände des
Sanitätspeisonals, insbesondere in den Sanitätsanstalten und die
kurze Ausbildungszeit, die allerdings eine Folge des Miliz¬
systems sind.
Zum Schlüsse spricht Steiner den Wunsch aus, daß die
Prinzipien der ausgezeichneten norwegischen Organi¬
sation a u c h i n a n d e r e n A r m e e n A n e r k e n n u n g und
Einführung f i n d e n mögen.
*
Nasziturus.
Eine gemeinverständliche Darstellung des Lebens vor der Geburt und
der Rechtsstellung des Menschen für Juristen, Mediziner und gebildete
Laien.
Verfaßt von Prof. Dr. Friedrich Alilfeld, Geheimer Medizinalrat,
Direktor der Universitäts-Frauenklinik und Hebammen-Lehranstalt in
• Marburg.
Leipzig 1906, Fr. Wilh. G r u n o w.
Ahlfeld verfolgt in der vorliegenden Schrift nicht nur
das Ziel, medizinische Laien, namentlich Juristen, über die Ent¬
wicklung des ,,Nasziturus“ aufzuklären, sondern er bringt unter
Kritik der gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen des deut¬
schen bürgerlichen und Strafgesetzbuches auch eine
Reihe von Vorschlägen, wie die Rechtsstellung des ,,Naszi-
turus“ in einem Zukunftsgesetze zu präzisieren sei.
Die Schrift ist in vier Abschnitte geteilt. Der erste handelt
von der Menschwerdung, dem Dasein vor der Geburt, dem Ueber-
gang des intrauterinen Lebens in das extrauterine, der Lebens¬
fähigkeit, der Bedeutung der menschlichen Gestalt, der zweite
umfaßt die Verheimlichung der • Schwangerschaft und Geburt, die
194
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
i
Zurechnungsfälligkeit Schwangerer, Gebärender und frisch Ent¬
bundener, die Geburtstörungen heindich Gebärender, welche
Scheintod und Tod des Kindes zur Folge haben können, den intra-
und extrauterinen Scheintod, die Lehensprohen. Im dritten
Abschnitte, der uns am meisten interessiert, bringt Ahlfeld
eine Kritik der jetzigen Stellung des Nasziturus im Recht,
sowie Abänderungsvorschläge, Motive und Folgerungen für die
Rechtspraxis, der vierte Abschnitt endlich beschäftigt sich mit
dem ärztlichen Beirat.
Ref. mu.ßl es sich versagen, im Detail diese Abschnitte zu
besprechen, da dies den Raum eines kurzen Referates weit über¬
schreiten würde; derjenige, der den Standpunkt, den Ahlfeld
in dieser Frage einnimmt, genau kennen lernen will, möge die
Broschüre im Original nachlesen. Den forensischen Medi¬
ziner und den Geburtshelfer werden in erster Linie die
.•\bschnitte 3 und 4 interessieren. In ersterem beschäftigt sich
A h 1 f e 1 d vorwiegend mit dem § 1 des deutschen bürge r-
lichen Gesetzbuclies, welcher lautet: ,,Die Rechtsfähig¬
keit des j\I e n s c h e n beginnt mit der Vollendung de r
Gehurt“; er kritisiert die Fassung desselben, indem er darauf
hinweist, dah. im juridischen Sinne nur ,,ein lebend geborener
Mensch rechtsfähig ist“ und ,,daß nur der Geborene lebt“, durch
welche Auffassung die Eltern des „Nasziturus“ und etwaige
rechtlich interessierte Dritte von den während der Gehurt ein¬
tretenden Ereignissen abhängig gemacht werden, während nach
Ahlfelds Ansicht dem Kinde der zweiten Schwangerschaftshälfte
die bürgerlichen Rechte nicht nur im Falle einer ,, Lebend¬
geburt“, sondern überhaupt bereits vor der Geburt zu sichern
seien. Ahlfeld macht schließlich folgende Vorschläge zur Ab¬
änderung des § 1 :
1. Die Rechtsfähigkeit des Alenschen beginnt mit dem sicheren
Nachweis seiner Existenz.
2. Mensch im Sinne des Rechtes ist jedes vom Manne und
Weihe erzeugte Schwangerschaftsprodukt, das ein Herz besitzt
und den sechsten Schwangerschaftsmonat in der Entwicklung
überschritten hat.
3. Der totgeborene Mensch gilt rechtlich als einer, der vorher
gelebt hat.
Der sichere Nachweis der Existenz des Menschen geschieht
durch Feststellung der ,,kindlichen Herztöne“; dieser soll
jedoch nicht obligatorisch, sondern fakultativ sein, d. h. Frauen,
die für ihre Frucht oder für sich selbst oder für weitere Inter¬
essenten einen Rechtsnutzen aus dem Existenznachweis erwirken
zu können glauben, sollen Gelegenheit haben, den Beweis zu er¬
langen, daß sie ein lebendes Kind tragen. Der Amtsarzt hätte
nun die Aufgabe, diesen E x i s t e n z, n a c h w e i s mittels eines Doku¬
mentes zu führen. Dieser Gedanke wird von Ahlfeld in den
„Folgerungen“ und ,,]\Iotiven“ noch weiter ausgesponnen
und seine Bedeutung auch für das deutsche Strafrecht (§ 211)
näher präzisiert.
Im vierten Abschnitt behandelt der Autor die Stellung
und Aufgaben des Arztes als Sachverständiger in geburts¬
hilflichen und gynäkologischen Fragen und erweist sich
hiebei als Anhänger der in Deutschland fast allgemein
vertretenen Ansicht, daß der tüchtigste Spezialarzti
auch der tüchtigste G e r i c h t s a r z t sei. Auch sollte nach
Ahlfelds Meinung dem Sachverständigen bei der V erne h m u n g
des Angeklagten und in der Voruntersuchung, schlie߬
lich auch hei der Entscheidung ein größerer Einfluß als bisher
gewahrt werden. Die dadurch bedingte größere Wertschätzung
des ärztlichen Beirates würde auch gleichzeitig mit einer
Hebung der gerichtlichen Medizin als Wissenschaft
e i n h e r g e h e n.
Diese Ansichten werden wohl nicht von allen praktisch
tätigen Gerichtsärzten geteilt werden. Eine obligatorische Zu¬
ziehung von Spezialisten zur Begutachtung der einschlägigen ge¬
richtsärztlichen Fragen würde eine Zersplitterung der gericht¬
lich - ui e d i z i n i s c h e n Wissenschaft herbeiführen, deren
Stellung unter den übrigen medizinischen Disziplinen da¬
durch gewiß nicht gewinnen würde. Auch ist diese Stellung in
anderen Ländern, so z. B. in Oesterreich, keineswegs eine so
untergeordnete, wie dies in Deutschland der Fall ist. (Ref.)
Reuter,
Atlas der deskriptiven Anatomie des Menschen.
Von Sobotta.
HI. Abteilung, 1. Lieferung.
Das Nerven- und Gefäßsystem des Menschen.
Lehmanns medizinischen Atlanten, Bd. 4.
München 1906, Lehmann.
Im vorliegenden Bande erfährt das schöne Tafelwerk des
Autors eine würdige Fortsetzung. Ein glücklicher Gedanke zur
Förderung des didaktischen Zweckes des Atlas liegt darin, daß
in der Mehrzahl der Fälle Gefäße und Nerven zusamhien ahgebildet
wurden und von dieser Darstellungsweise nur dort Abstand ge¬
nommen wurde, wo es der Deutlichkeit wegen unerläßlich war.
Hiedurch vermeidet der Student viel Zeitverlust beim Präparieren
durch lästiges Nachschlagen, da er die Gebilde einer Präparations¬
schicht auf einer einzigen Seite des Atlas vereinigt findet. Gleich¬
zeitig erhält der Leser eine Serie topographisch-anatomischer
Uehersichtshilder. Die technische Ausführung der Reproduktionen
(Anger er & Göschl, Wien) steht auf der gleichen, vollendeten
Höhe, wie in den bisher erschienenen Lieferungen.
*
K. V. Bardeleben, Lehrbuch der systematischen Anatomie
des Menschen für Studierende und Aerzte.
Berlin und Wien 1906, Urban und Schwarzenberg.
Das neue Lehrbuch der systematischen x\natomie füllt
einen stattlichen Band von 1000 Seiten. Es soll also nicht bloß
zum Rigorosum einpauken; für Studierende und Aerzte bestimmt,
hat es, wie der Verfasser selbst im Vorwort hervorhebt, die
Beziehung zur praktischen Heilkunde nicht außer acht gelassen.
Dabei wird es allen modernen Forschungsergebnissen gerecht
und gibt durch zahlreiche Literaturnachweise dem Leser Gelegen¬
heit zu genauerem Eingehen auf die einzelnen Fragen. Nicht
nur- die makro- und mikroskopische Anatomie, sondern auch die
Zellen- und Gewebelehre, die Entwicklungsgeschichte, die Grund¬
züge der Anthropologie sind mit dargestellt. Eine kurze Ueber-
sicht der Geschichte der xAnatomie (meist in Schlagworten) leitet
das Buch ein.
Einige kleine, heim Durchblättern gefundene Mängel möchte
Referent hervorheben. So ist das Kapitel über allgemeine Ent¬
wicklungsgeschichte wohl etwas gar zu kurz geraten und nament¬
lich die Darstellung der Gastrulation und Keimhlatthildung dürfte
in dieser knappen Fassung zu Mißverständnissen xAnlaß geben.
Ferner findet sich bei Beschreibung des Gehirnes zweimal die
Angabe, daß der Ple.xus chorioideus lateralis durch das Foramen
Monroi in den Seitenventrikel gelange. Auch mit der Auffassung
der Tela choroidea superior (S. 768) und der Fissura trans¬
versa cerebri (S. 772, im Text steht „cerehelli“) können wir uns
nicht ganz einverstanden erklären. Die Furchen und Windungen
des Großhirns sind etwas stiefmütterlich behandelt. Die Angabe,
daß. das Cavum septi pellucidi einer Einfaltung von der Lamina
terminalis aus seine Entstehung verdanke (S. 773), beruht wohl
nur auf ungenauer xAusdrncks weise. Doch ließen sich diese Punkte
bei einer Neuauflage leicht verbessern. Im allgemeinen ist das
Buch durch klare und übersichtliche Darstellung ausgezeichnet
und als Lehrbuch bestens zu empfehlen.
*
Räubers Lehrbuch der Anatomie des Menschen.
Neu bearbeitet und herausgegeben von Dr. Fr. Kopscli.
In sechs Abteilungen, mit 221, zum Teil farbigen Abbildungen.
Siebente Auflage.
Leipzig, Verlag von Georg T h i e m e.
Kopsch hat sich der dankenswerten xMühe unterzogen,
das bekannte Rau bersche Lehrbuch neu zu bearbeiten. Von
der richtigen Erkenntnis ausgehend, daß der größte xMangel des
Lehrbuches die ungenügenden Ahbildungen desselben darstellen,
hat der Herausgeber sich vor allem bemüht, das Buch mit möglichst
guten Illustrationen zu versehen. So weit man aus den beiden
bisher vorliegenden Abteilungen ersehen kann, ist dies auch voll¬
kommen gelungen, so sind vor allem die in der ersten Abteilung
befindlichen histologischen Ahbildungen, von welchen ein großer
Teil farbig ist, geradezu ausgezeichnet. Die naturgemäße Folge
der Verbesserung der beigegebenen Bilder ist die Vergrößerung
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
195
(lersolbeii und damit alicli die Vergrößerung des Formates. Auch
dadurch hat zweifelsolme das Buch au Wert gewonnen. Nur,
was die von Kopsch in der Einleitung erwähnte, Lesonders
liervorgehohene Methode der Herstellung der Originale anbelangt,
sei hier bemerkt, daß sie schon bei der Herausgabe des Heitz-
mann sehen iHlasses von Zuckerkandl verwendet wurde.
Die beiden erschienenen Abteilungen enthalten die allge¬
meine Anatomie, die Knochen-, die Bänder- und die Gelenkslehre.
Das Buch, welches ohne Zweifel viele Freunde finden wird, ist
ausgezeichnet ausgestattet und trotzdem sehr billig.
T a n d 1 e r.
*
Die Handhabung des Wasserheilverfahrens.
Ein Leitfaden für Aerzte und Badewartung.
Von Dr. M. van Oordt, St, Blasien.
Wien und Berlin 1906. Verlag von Urban & Schwarzenberg.
Verfasser schreibt im Vorwort, daß in den Hand-
Inichern und Anleitungen für das Wasserheilverfahren der letzten
Jahre die rein sachliche Schilderung der praktischen Wasser¬
behandlung hinter ihre physiologische, erfahrungsgemäße und ge¬
schichtliche Begründung zurücktrete. Das stimmt nicht ganz. Vor¬
liegendes Büchlein wird gewiß — abgesehen von einigen Mängeln
— seinen Zweck erfüllen, aber es darf nicht scheinen, als ob
V. Oordt derjenige wäre, der ,,in eine Lücke trete“. Der Autor,
der selbst sagt: ,,Der Beschreibung liegt eine im wesentlicben
unter dem Einfluß der Winter nitz sehen Lehren gemachte mehr¬
jährige eigene Erfahrung zugrunde,“ sollte den grundlegenden
Arbeiten Winter nitz’ und seiner Schule auch auf dem Ge¬
biete der Technik und den allgemein bekannten Publikationen
bierüber auch etwas mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es
ist nicht angezeigt, immer wieder auf ,, Lücken“ in der Literatur
hinzuweisen, namentlich, wenn solche gar nidit existieren. Auch
eine „Technik des Wasserheilverfahrens für Badediener etc.“ exi¬
stiert seit dem Jahre 1901 aus der Feder des Referenten, was wohl
dem Autor nicht so ganz unbekannt sein dürfte.
Was an dem Büchlein auszusetzen wäre, sind zunächst
die Angaben über die Dauer einzelner Prozeduren (wenn es
überbaupt angezeigt ist, in einer ,, Handhabung des Wasserheilver¬
fahrens“ hievon zu sprechen). Die Dauer der einzelnen Pro¬
zeduren hängt von so vielen Umständen ab, daß in einem Leit¬
faden Lehren, wie: ,,die Gesamtdauer einer Teilabwaschung
betrage bei Männern 3V2, bei Frauen 4 Minuten“ etc. etc., sehr
unangebracht sinil. So etwas kann doch nicht ernst gemeint
sein! Unverständlich ist, wie der Badende in der Abreibung (vor¬
ausgesetzt natürlicb, daß diese in einer Weise gemacht wird, wie
es üblich ist) gleichzeitig mitfrottieren solle.
Abgesehen, wie gesagt, von diesen und ähnlichen ,, tech¬
nischen“ Mängeln ist das Büchlein recht gut. Illustrationen fehlen.
♦
Beiträge zur Kenntnis der Anwendung und Wirkung
heißer Bäder, insbesondere heißer Teilbäder.
Von Georg Hauffe, Hilfsarzt am Krankenhause in Gr.-Lichterfelde.
Mit zahlreichen Kurven.
Separatabdruck aus der Wiener Klinik 1906.
Wien und Berlin 1906. Verlag von Urban & Schwarzenberg
Der Autor, ein Schüler Schweningers, plädiert für die
Anwendung heißer Lokalbäder u. zw. der Sitz-, Fuß-, Arm- und
Kopfbäder in allmählich ansteigender Temperatur. Die Erwägun¬
gen, welche Schweninger und mit ihm seinen Schüler Hauffe
veranlassen, die erwähnten Teilprozeduren anstatt der Vollbäder
zu gebrauchen, sind : ,,Man pflegt die Bäder nach ihrer Ver¬
wendung in Vollbäder, Teilbäder, je nach ihrer Temperatur in
kalte, Avarme und heiße Bäder einzu teilen. Der naheliegende Ge¬
danke, bei weitverbreiteten (Haut-) Erkrankungen V^ollbäder und
bei Teilerkrankungen Teilbäder zu geben, ist falsch. Kaum je
sind verschiedene Partien der Körperoberfläche gleich stark und
gleich lange erkrankt und schon aus diesem Grunde läßt sich
eine gleichmäßige Heilung nicht immer erreichen. Der erkrankte
Mensch ist doch nur ein Bruchteil des gesunden und es ist viel¬
fach geraten, ihn auch nur mit Bruchteilen von dem zu be¬
handeln, Avas der Gesunde ohne Schaden verträgt.“
♦
Zur physikalischen Therapie der habituellen Obstipation
und der sexuellen Neurasthenie.
Von Prof. Dr. J. Zabludowski.
Mit Textfiguren.
Berlin 1906. Verlag von August Hirschwald.
Z ablud OAVski geht von der Tatsache aus, daß das Ver-
Iraucn zu den physikalischen Heilmethoden beim großen Publikum
in stetem Wachsen begriffen ist. Neben der Wirksamkeit des
Heilmittels kommt aber unter den gegebenen Verbältnissen noch
in Betracht, daß die Apparate, die den HeilzAvecken dienen, nicht
kompliziert, der Beirieb einfach und billig sei.
Zabludowski scbildert in vorliegender Broschüre die ein¬
fachen, aber nicht minder Avirksamen, mechanotherapeu tischen
Älethoden, welche in der habituellen Obstipation anwendbar sind
und es ist von besonderem Interesse, den Ausfübrungen des Autors
über Selbstmassage und Selbstübungen zu folgen. Die Kritik der
Vibrationsmassage und der ihr dienenden verschiedenartigen Appa¬
rate ist sachlich und vollkommen begründet. Verf. berichtet aucJi
über die Wechselwirkung der Neurasthenia sexualis und der habi¬
tuellen Obstipation und beschreibt die Technik und Anwendungs-
Aveise eines Apparates, der die Hyperämisierung des Penis er¬
möglicht und in Fällen von Impotentia virilis gute Dienste leistet.
B u X b a u ni.
Aus v/ersehiedenen Zeitsehriften.
73. Aus dem königlichen Victoria- Hospital zu Ncav-
castle a. Tyne.) Allgemeine und lokale Zyanose. Von
Thomas Oliver. Verf. beschreibt zunächst einen Fall voii all¬
gemeiner Zyanose bei einem 27jährigen Mädchen. Es handelte
sich bei derselben um eine starke Zyanose der Wangen, Lippen,
Zunge und Hände, von einem Kolorit, Avie man es sonst bei Herz¬
fehlern im Stadium sclnverster Inkompensation zu sehen ge¬
wöhnt ist. Die Grundfarbe der Haut Avar von fahler Blässe.
Herz und Lungen waren völlig gesund. Der Uterus Avar ein Avenig
retroflektiert. Pat. hatte früher häufig an Ekzemen gelitten. Der
Stuhl Avar träge. Einige Zeit vor Ausbruch der Zyanose Avar eine
starke Uterusblutung vorausgegangen, Avelche sich jedoch nicht
Aviederholte. Im Urin Avar kein Eiweiß vorhanden, dagegen ein
urobilinähnlicher Körper. Das Blut enthielt 37% Hämoglobin und
3,100.000 Erythrozyten und zeigte spektroskopisch die beiden
Oxyhämoglobinstreifen. Die Zyanose dauerte AÜele Monate’ hin¬
durch, wechselte jedoch stark in ihrer Intensität, ohne nach-
Aveisbare Ursache. Einmal hatte die Patientin einen kollapsähn¬
lichen Anfall. Verf. suchte mit größtem Fleiße der Ursache
aiif die Spur zu kommen. Pat. hatte längere Zeit eine Ichthyol¬
salbe Avegen ihres Ekzems gebraucht, doch glaubt Verf. nicht,
dieselbe anschuldigen zu können, da die Zyanose noch Monate
nach Aussetzen derselben pensistierte, dagegen kam er endlich'
darauf, daß Pat. durch lange Zeit hindurch Koffein und Azet-
anilid gegen nervöse Depressionen gebraucht hatte. Versuche im
Beagenzglase zeigten ihm, daß Antipyrin, Azetanilid und Phen¬
azetin, besonders letzteres imstande sind, die rote Farbe des
Blutes durch Reduktion in eine blaurötliche umzuwandeln. Von
Interesse ist übrigens, daß nach der Verheiratung der Patientin
die Zyanose allmählich zurückging. Im Anschluß an diesen ball
beschreibt Verf. zwei analoge Fälle. In einem derselben Avurde
die Ursache der Zyanose im Gebrauch von Phenazetin, im anderen
im Gebrauch eines anilinhaltigen ,,Caputin“-Pulvers gefunden.
Weiters Avird auf Fälle aus der Literatur hingCAviesen, in Avelchen
die Zyanose enterotoxischen Ursprungs Avar. Es soll sich hierbei
in manchen Fällen um Vergiftungen mit im Intestinaltrakt ge¬
bildetem ScliAvefel Wasserstoff handeln. WTchtig ist, daß bei den
Fällen von enterotoxischer Zyanose ■ — sei es nun durch allge¬
meine Regulierung der Darmtätigkeit, oder durch Operation einer
Atresia ani — durch die Therapie nicht nur ein Verschwinden
der Zyanose, sondern eine Rückbildung eventuell vorhandener
Troinmelschlegelfinger möglich ist. Eine Aveitere Form von all¬
gemeiner Zyanose Avird bei Arbeitern in Anilinfabriken ange¬
troffen und soll hiebei vorzugSAveise auf Metbämoglot)inbildung
beruhen. Vom gewerbehygienischen Standpunkt ist wichtig, daß
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
‘96
beim Aussetzen der Beschäftigung eine Heilung möglich ist. Zur
lokalen Zyanose rechnet Verf. die Raynaud sehe Krankheit.
Er bespricht ihre Pathologie, ohne jedoch über eigene Fälle zu
berichten. — (Lancet 1906, 29. Dezember.) J. Sch.
*
74. Aus dem hirnanatomisclien Institut der Universität in
Zürich (Prof. Dr. v. Monakow). Ein Beitrag zur Ana¬
tomie der S e h s t r a h 1 u n g e n b e i m Menschen. Von Doktor
U. Tsuchida aus Tokio. Der von Tsuchida beschriebene
Fall von Erkrankung des Okzipitallappens bietet bezüglich der
Bedeutung der Großhirnrinde für den Gesichtssinn, namentlich
in Beziehung zur Frage des anatomischen Zusammenhanges, so¬
wie der kortikalen Lokalisation wichtige Ergebnisse und Auf¬
schlüsse. Es fand sich in dem vorliegenden Falle im Okzipital¬
lappen eine entweder angeborene oder frühzeitig durch Trauma
erworbene Zyste. Die mit Zerebrospinalflüssigkeit erfüllte Zyste
wurde durch einen chirurgischen Eingriff entleert und drainiert.
Der primäre Angriffspunkt des Herdes, dessen nähere Natur sich
als eine Ependymitis, verbunden mit einem alten Defekt (alter
Blutung) im Okzipitalkonus erwies, dürfte das retroventrikuläre
Markfeld im Okzipitallappen gewesen sein. Die weitere Zerstörung
aber erfolgte in einer besonderen elektiven Weise, die einer
vorzüglich ausgeführten experimentellen Ahtragung der Seh¬
sphäre gleichkommt. Klinisch hatte die eng begrenzte Läsion
eine komplette und dauernde homogene Hemianopsie hervorge¬
bracht. Während die primäre Zerstörung einesteils gerade hin¬
reichte, um als einziges örtliches Symptom eine Hemianopsie
vom Okzipitallappen aus hervorzurufen, brachte sie andernteils
in maximaler Weise die optischen Bahnen und Zentren zur
sekundären Degeneration. Nach den Ergebnissen vorliegenclen
Falles würde die pathologisch -anatomische Sehsphäre die Win¬
dungen des Okzipitallappens, welche hinter der Frontalebene des
Pedunculus cunei liegen, umfassen. Der Fall beweist ferner, daß
die ,, optischen“ Projektionsfasern, je nach Entfernung der Ebene
vom Okzipitalpol in frontaler Richtung, sukzessive verschiedene
Strata durchziehen. Endlich gibt der Fall wichtige Aufschlüsse
über die Verbindungen des Stratum sagittate internum und über
die des unteren Längsbündels. Die vorliegenden Befunde sprechen
für eine Endigung oder Unterbrechung der peripheren optischen
Fasern in den primären Optikuszentren (speziell im Corpus geni-
culatum externum) und für einen Weiterverlauf der kortikalen
optischen Bahn durch Einschaltung eines zweiten Neurons zum
Lobus occipitalis. Schaltzellen in den primären Zentren dürften
zur näheren Verknüpfung dieser beiden Neurone dienen. -
(Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 42, H. 1.)
■ t S.
*
Ib. Ueber subunguale Exostosen an den Zehen.
Von Broca. Diese relativ seltene, gutartige Affektion wird nur
hei Personen unterhalb des 25. Lebensjahres beobachtet und ist
vorwiegend an der großen Zehe, seltener an den anderen Zehen
oder den Fingern lokalisiert. In der Anamnese findet sich öfter
ein Trauma als Ursache der subungualen Exostose angegeben,
doch scheint es, daß das Trauma nur die Aufmerksamkeit des
Patienten auf die bereits vorhandene Exostose lenkt. Wenn der
Nagel durch eine unterhalb seiner Mitte sitzende Exostose in
die Uöhe gedrängt wird, so erfolgt eine Zerrung seiner Matrix
und es treten Schmerzen auf. Durch den Druck der Exostose auf
die Weichteile bilden sich Exkoriationen, welche durch Infektion
in Eiterung übergehen können. Diese Komplikationen trüben das
klinische Bild der Exostose und führen, wenn man an das Vor¬
handensein eines solchen Befundes nicht denkt, zur irrtümlichen
Diagnose des Lhiguis incarnatus. Eine nähere Besichtigung nach
Reinigung der Gegend ergibt das Vorhandensein eines lunden,
glatten, harten Tumors unter dem Nagel, dessen freier Rand in
die Höhe gehoben erscheint. Eine Verwechslung ist in jenen
Fällen denkbar, wo ein unter dem Nagel sitzendes Papillom
gleichfalls zu entzündlielier Reaktion der Umgebung führt. Hier
entscheidet der radiographische Befund, welcher bei Exostose
einen kleinen, in die Phalange implantierten Tumor zeigt. Die
Prognose ist günstig, der Tumor kann bis zu Haselnußgröße
anwachsen, bleil)t aber mit Abschluß des Wachstums bei der
bereits erreichten Größe. Die Wachstumsexostosen zeigen einen
Knochenkern mit knorpeliger Umhüllung; sie entstehen am Dia-
physenende, sind zunächst knorpelig und es tritt, ebenso wie
im Knochen, von welchem sie ausgehen, die Ossifikation sekundär
ein. Die Behandlung ist einfach, nach Entfernung des Nagels wird
die Exostose mit der Schere abgetragen, der Grund geschabt
und der Verband angelegt. Die kleine Wunde heilt schnell und
es erfolgt von oben her die Regeneration des Nagels. — (Journ.
de Prat. 1906, Nr. 42.) a. o.
*
76. Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Marburg
(Geheimrat Prof. Dr. Küster). Erfahrungen über Lumbal¬
anästhesie mit Novokain. Von Dr. R. Henking, Oberarzt
der Klinik. Verfs. Beobachtungen erstrecken sich auf 160 Fälle.
Die Methode der Injektion ist genau die von Bier angegebene.
Trotz einwandfreier Technik war nicht eine gleiche tadellose
Anästhesie zu erzielen. In 26 Fällen mußte noch eine leichte
Aethernarkose angewendet werden. Manchmal wurde vor Beginn
der Operation eine Morphiuminjektion gemacht. Die Dauer der
Anästhesie schwankte zwischen ein und sechs Stunden. Unter
den 160 Fällen war ein vollständiger Versager. Das Alter der
Patienten schwankte zwischen 5 und 77 Jahren. Irgendwelche
das Leben bedrohende Zufälle hat Verf. nie erlebt, niemals die
geringste Beeinflussung des Atemzentrums. Brechreiz war oft
vorhanden, Erbrechen kam 14mal vor. Einen unwillkürlichen
Abgang von Flatus, Kot und Urin hat Verf. mehrfach gesehen.
Von Nachwirkungen machten sich bei 23 Patienten besonders Kopf¬
schmerzen geltend. Bei tagelang bestehenden, sehr heftigen Kopf¬
schmerzen wurde eine noclimalige Punktion des Duralsackes mit
überra'schendem Erfolge vorgenommen. Eine vier Tage anhal¬
tende aseptische Meningitis wurde einmal beobachtet. Es bestand
lebhaftes Erbrechen, Nackensteifigkeit und Druckempfindlichkeit
der Dornfortsätze der Halswirbelsäule bei starken Kopfschmerzen.
Spontan gingen diese Beschwerden wieder zurück. In einem
Falle trat nach 14 Tagen eine Abduzenslähmung des rechten
Auges ein, die innerhalb drei 'Wochen wieder verschwand. Ver¬
einzelt wurde ein hoher Fieberanstieg bis 39*^ am Tage der
Injektion beobachtet. Inkontinenz von Blase und Mastdarm war
in zwei Fällen die Folge der Injektion; diese Störungen schwanden
nach acht Tagen. Ein Patient hatte nach der Injektion eine
Parese im linken Beine, die nach fünf Tagen spontan zurück¬
ging. Verf. erklärt, zum Schlüsse, mit den Erfolgen der Lumbal¬
anästhesie außerordentlich zufrieden zu sein. Gegenüber der All¬
gemeinnarkose liegt ein großer Vorzug darin, daß die Operation
als solche auf den Gesamtorganismus weit weniger eingreifend
und erschütternd wirkt. Auffallend gut wurde die Anästhesie
von alten Leuten, Kindern und elenden und schwächlichen Per¬
sonen vertragen. Die meisten Nachwirkungen und eine weniger
sichere und nicht so schnell eintretende Anästhesie sah Verf. bei
jungen und kräftigen Leuten. Verf. wendet die Lumbalanästhesie
grundsätzlich bei allen Operationen an den Extremitäten und
an der Anal- und Inguinalregion an. Bei Bauchoperationen wurde
sie bis jetzt auf die Probelaparotomie, auf die Entfernung des
Wurmfortsatzes und auf die transperitoneale Nephrektomie be¬
schränkt. Die Nachwirkungen wiegen nicht schwerer wie hei der
Allgemeinnarkose. Wertvoll ist die Möglichkeit, während der
Operation von dem Patienten die Erlaubnis zu einem größeren
Eingriffe einzuholen. In der Regel kann man den Narkotiseur
entbehren. Die Gefahr für das Leben scheint geringer zu sein
wie bei der Narkose. Eine postoperative Pneumonie wurde nie¬
mals beobachtet. Zu verwerfen ist die Lumbalanästhesie bei
schwer septischen und ängstlichen und aufgeregten Patienten.
— (Älünchener mediz. Wochenschrift 1906, Nr. 50.) G.
77. (Aus der II. medizinischen Univei-sitätsklinik in Berlin.)
Ueber das Vorkommen von S t ä r ke k ö r n e r n im Blute
und im Urin. Von Dr. Rahel Hirsch. Die Verfasserin teilt
mit, daß sie beim normalen Hunde und Menschen experimentell
wiederholt nachweisen konnte, daß Stärkekörner, die in größerer
Menge roh dem IMagendarmkanal zugefülirt wurden, durch die
Nieren unter vollständiger Erhaltung d('r bekannten Struktur
wieder ausgeschieden werden. Ebenso waren Stärkekörnei' im
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
197
Blutsediment zu finden. Die Versuche wurden selbstverständ¬
lich unter strengster Einhaltung aller Kautelen, die jede denk¬
bare Verunreinigung von außen ausschließen, angestelll. l)r. Habel
Hirsch gedenkt am Tierexperiment den Weg der Stärkekörner
im Verdauungsapparat zu verfolgen und das Verhalten noch
anderer geformter Elemente in dieser Hinsicht zu prüfen. Bisher
hatte es in der Physiologie als feststehend gegolten, daß geformte
Elemente vom unverletzten Darme aus unmöglich ins Blut ge¬
langen könnten, allerdings unter Ignorierung einer iMitteilung von
Bonders (1859), daß er selbst beim Fros.chc Amylumkörner
vom Darme ins Blut hätte übertreten sehen und einige andere
Autoren auch den Uebertritt von Kohlenpaxtikelchen in das Blut
vom Darme aus nachgewiesen haben wollten. — (Zeitschrift
für experimentelle Pathologie und Therapie, Bd. 3, H. 2.) K. S.
*
78. Aus dem Brisbane - Generalhospital, üeber neuere
Erfolge mit A m y 1 n i t r i t bei Hä in o p t y s e u n d a n d c r e n
11 äm o r r h a g i e n, berichtet Francis Hare. Pic und Peliijean
zeigten, daß bei Hunden, denen die vordere Brustwand entfernt
worden Avar, sich auf intravenöse Injektion von Amylnitrit Er¬
blassen der Lungenoberfläche einstellte. Sie konnten dann die
Lunge anschneiden, ohne daß mehr als ein Tropfen Blutes heraus¬
sickerte. Diese Vasokonstriktion in der Lunge soll mit einem
Steigen des Blutdruckes in der Pulmonararterie einhergehem Verf,
berichtet nun über neun Fälle, in denen die Anwendung von
Amylnitrit gleich oder bald darauf eine Hämoptöe zum Stillstand
brachte. Er berichtet über analoge Fälle in der Literatur, die zu¬
sammen mit seinen die Zahl 34 erreichen. (So interessant diese
Versuche sind, so wären nach Ansicht des Referenten — in
Anbetracht der landläufigen Ansicht von der va s o d i 1 a t a t o-
rischen Wirkung des Amylnitrits — jedenfalls noch zahlreichere
Bestätigungen abzuAvarten.) — (Lancet 1906, 24. November.)
J. Sch.
79. Rausch und Zurechnungsfähigkeit. Von Pro¬
fessor E. Meyer i]i Königsberg i. Pr. Im Anschluß an einen
speziellen Fall -- ein bisher unbescholtener iMann hatte in eii\em
ZAA^eifellos pathologischen Rauschzustand sich einer schweren
Körperverletzung schuldig gemacht — behandelt Meyer die Frage,
Avie sich die Zureclmungsfähigkeit im Rausch verhält. Er komnd zu
dem Ergebnis, daß ein sehr großer Teil aller Vergehen und Ver¬
brechen im Rausche begangen werden (speziell die Körperver¬
letzungen und sexuellen Delikte spielen unter ersteren eine Rolle).
Den Rausch definiert, er als akute Alkoholvergiftung, die zu kurz¬
dauernden psychischen Störungen führt, Avährend die körperlichen
Erscheinungen fehlen können. Bei allen im Rausche begangenen
scliAveren Vergehen und Verbrechen sollte zur Beurteilung der
Zurechnungsfähigkeit ein ärztlicher Sachverständiger herangezogen
Averden. Im neuen (deutschen) Strafgesetz sollte der Rausch
in gleicher oder ähnlicher Weise Berücksichtigung finden, Avie
die sonstigen psychischen; Störungen. Neben dem typischen Rausch
gibt es atypische Rauschzustände, die auf krankhafter Grundlage
ei'Avachsen. — (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten,
Bd. 42, H. 1.) S.
*
80. Revision der A ]) h a s i e f r ag e ; zur Frage der
s u b k 0 r t i k a 1 e n A p h a s i e n. Von P. j\I a r i e. Die bisher gültige
Einteilung in kortikale und subkortikale Aphasien ist tlurchaus
ungerechtfertigt, da die mit Herdläsionen zusammenhängeuden
Aphasien niemals auf die Rinde allein beschränkt sind. Man
darf überhaupt nicht die gesamte pathologische Physiologie der
Sprache mit der Hirnrinde in Zusammenhang bringen, da die
AA'eiße Substanz gerade Auun klinischen Standpunkt aus größere
Wichtigkeit besitzt. Wenn man ül)erhaupt die durcli zahlreicbe
Uebergänge zusammenhängenden Aphasieformcn in Grupj)cn ein
teilen Avill, so empfiehlt es sich, direkte und indirekte Formen
zu unterscheiden; bei ersteren ist die We r n i c k e sclie Sprach
zone und die daAmn ausgehenden Fasern durch die Läsion un¬
mittelbar und in beträchtlichem Grade betroffen, hiehcr gehören
die Brocasche und Wer nicke. sehe Aphasie. Bei den indi¬
rekten Ai)hasien handelt es sicli um Läsionen, welche nicht die
Wernickesche Sprachzone unmittelbar betreffen, sondern von
der Nachbarschaft aus einAvirk('u. Bei Sitz der Läsion im Lo
bulus lingualis, bzAv. Lobulus fusiformis findet sich die reine
! Alexie und die reine Wortblindheit der Autoren, bei Erkrankung
! des Lii'senkernes die reine Anarthrie, bzAV. motorische Aphasie
der Autoren. Der dritten linken Stiruwindung kommt keine spe¬
zielle Rolle bei der Sprachfunktion zu. Das eigentliche Sprach¬
zentrum Avird durch die W e r n i c k e sclie Zone repräsentiert,
welche aber kein sensorisches, sondern ein intellektuelles Zentrum
darstellt. Jede Läsion dieses Zentrums ruft außer der Störung
des gesprochenen Wortes eine Beeinträchtigung der Schreibfähig¬
keit und des durch den Unterricht Erlernten hervor. Die Anarthrie
ist klinisch durch Verlust des Sprachvermögens, bei erhaltenem
Verständnis des gesprochenen und gelesenen Wortes, soAvie der
Schrift charakterisiert, sie hängt mit Läsionen der Linsenkern¬
region zusammen, durch Avelclie die Koordination für die Pho
nation und Artikulation der Worte gestört Avird, ohne daß aber
echte Paralyse der IMuskeln besteht. Die Wernickesche Aphasie
Avird durch Läsioni dei' AVer nickeschen Zone erzeugt, die
Brocasche Aphasie ist F'olge einer Kombination der Anarthrie
erzeugenden Läsion mit einer Läsion der Wernicke sehen Zone.
Es ist unrichtig, daß der Fuß der ersten linken Schläfenwindung
ein sensorisches Zentrum für die akustischen Wortbilder dar¬
stellt und es existiert daher auch keine reine Worttaubheit. Die
reine .Vlexie wird bei Läsionen im Gebiete der Arteria cerebralis
posterior beobachtet, doch kann der Gyrus curvatus nicht als
Zentrum des visuellen AVortbildes angesehen Averden. — (Sem.
med. 1906, Nr. 42.) a. e.
*
81. Der NacliAveis des Toxins im Blute der Dipli-
theriek rank eil. Von C. Fraenkel. Ffffenheinier hat nach
Einspritzung des von diphtheriekranken Kindern geAvonnenen Blut¬
serums an MeerscliAveinclien 48 Stunden später ein deutliches
Oedeni der Brust- und Bauchhaut, durchsetzt mit ziemlich starken
Hämorrhagien gefunden und aus diesen Befunden den Schluß
gezogen, daß ,,eine schnelle Absättigung des so im Blute nach¬
gewiesenen freien Toxins durch Einspritzung von Heilserum“ be¬
sonders geboten sei und als vornehmste Pflicht des behandehiden
Arztes erscheine. Veif. sah sich nun veranlaßt, obzwar er vor
Jahren bereits zu völlig negativem Resultate gekommen Avar, die
Versuche neuerlich nachzuprüfen. Er machte 23 Tierversuche,
indem er das von 23 bakteriologisch nachgeAviesenen Diphtherie¬
kranken herstammende Blntserum den Tieren unter die Bauch¬
haut spritzte und sie 48 Stunden später tötete. Nur bei einem
einzigen Tiere, das mit dem Serum eines am gleichen Tage
bereits mit dem Diphtherieheilmittel behandelten Kranken ge¬
spritzt Avorden Avar, ließen sich leichte Symptome einer Ver¬
giftung mit dem Toxin der Löffler sehen Stäljchen ermitteln.
Die Bauchhaut Avar in Aveiter Ausdehnung gerötet und leicht ge¬
schwollen; doch fehlte auf der anderen Seite der Bauchhöhle' jede
Spur einer Reaktion, in allen übrigen 22 Fällen war bei der
Sektion der MeerscliAveinchen auch nicht die geringste Veränderung
Avahrzunehmen, die auf eine örtliche Eimvirkung des eingespritzten
Serums hätte schließen lassen. Verf. Avill also nach seinen F_jr-
gebnissen nur darauf hiiiAveisen, daßi die Ansammlung des Giftes
der Löf fl er sehen Stäbchen im Blute der Aum der Diphtherie
ergriffenen jMenschen keine so erhebliche ist, um sich auch hei
der Ueliertragung kleiuer Meng(m des Serums auf MeerschAAminchen
zu erkennen zu geben. Praktische A ei’Avendung daraus ableiten
zu AAmllen Aväre nicht am Platze. — (Münchener mediz. AA ochen-
schrift 1907, Nr. 1.)
• * '
82. Aus der II. Chirurg. Klinik der Universität Wien (Vor¬
stand: Prof. Dl. J. Hochenegg). Uelier einen F"all eines
u n gewöhnlich großen F^ i b r o a d e n o in a m a m m a e u n d
ü b e r b e n i g n e J' u m o r e n der aa^ e i b 1 i c h e n B rust d r ri s e.
Von Dr. .1. Finsterer. Eine 45jährige ledige Handarbeiterin
bemerkte AU)r \der Jahren einen kleinen bcAveglichen Knoten im
inneren unteren Guadranten der linken Mamma, der rasch aauicIis
und (trotz AiiAA’cndung A"on Salben und Pflastern) innerhalb zAAmi
Jahren Mannskopfgröße erreichte. Im letzten Jahre Auftreten von
Ulzerationen und büchten, zeitAAmise brennenden Schmerzen. F^s
bestehen gleichzeitig Atembesclnverden durch eine rechtsseitige
Struma. Bei der Siiitalsaufnahme betrug der größte Umlang des
am Thorax A'ollkommen verschieblichen, gegen diesen scharf ab-
108
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
gegrenzten Tumors 70 cm; an der Inserlionsstelle 40 cm: der
Durchmesser von oben nach unten 25 cm, Breite 24 cm, Dicke
12 cm ; am unteren Rande der Axilla eine hohnengroße, derbe,
verschiebliche Drüse, Infra- und Supraklavikulardrüsen frei. Pa¬
tientin ist blaß, schwäclilich, jedoch nicht kachektisch. Der Tumor
wird durch Umschneidung an seiner Basis, im Zusammenhänge
mit dem sternalen Anteile des Muse, pector. maj., bis auf die
Rippen reichend, unter gleichzeitiger Exenteratio axillae exsfir-
piert. Die histologische Untersuchung ergab, daß es sich um die
typische Form eines intrakanalikulären Fibroadenomas handelte;
dasselbe wog 4V2 kg. Bei einer Nachuntersuchung nach fünf ]\Io-
naten bestand vollkommenes Wohlbefinden und war nirgends
ein Rezidiv nachweisbar. Im Anschlüsse an diese Mitteilung,
sowie die hiezu zitierten ähnlichen Fälle der Literatur folgt •
ein kurzer Ueherblick über die Zeit des Auftretens, die Symptome
der gutartigen Mammatumoren, nach dem Materiale der Klinik
Billroth-Gussenhauer-Hochenegg aus den Jahren 1877
bis 1906. In diesen 29 Jahren kommen auf 800 Tumoren der
weiblichen Brustdrüse 681 Karzinome (85'12®/o) 66 Fi¬
broadenome und Zystoadenome (8-250/'o), 48 Sarkome
und Zys to Sarkome (6%) und 5 Zysten (0-63 %). (Die be¬
sonders in letzter Zeit ambulatorisch an der Klinik entfernten
bübroadenome sind hiebei nicht berücksichtigt.) Der Beginn als
Tumorbildung fiel meist in das jugendliche Alter, erst nach dem
Einsetzen der Menses in die Zeit zwischen dem 20. und 25. Le¬
bensjahre. Bei zwei Mädchen waren die Menses zur Zeit der
Tumorhildung noch nicht eingetreten gewesen. In vier Fällen
(davon zwei Frauen über 60 Jahre) bestand bereits Menopause.
Schmidt betonte dagegen, daß Fibroadenome niemals vor Be¬
ginn der Menstruation und nicht nach dem 40. Jahre auftreten
sollen. Auch die von Schmidt vertretene Anschauung, daß der
Tumorhildung in den meisten Fällen eine chronische, interstitielle
Mastitis vorangehe, konnte nach dem Älaterial der Klinik keine
Bestätigung finden. Auch für das Trauma als ätiologisches Moment
bieten die Fälle keinen Anhaltspunkt, obwohl hierauf besonders
geachtet wurde. Was die erkrankte Seite anbelangt, so zeigte
sich ein bedeutendes Ueberwiegen der linken Seite, indem in
42 Fällen die linke Mamma, in 22 Fällen die rechte und zwei¬
mal beide Brustdrüsen erkrankt waren. Die klinischen Symptome
(derbe, scharf umschriebene, abgekapselte Tumoren von Walnnßr
bis Faustgroße, mit glatter Oberfläche etc.) sind meist derart aus¬
geprägt, daß die Diagnose in der Regel keine Schwierigkeit macht,
soweit es sich um jugendliche Individuen handelt. Bezüglich
der weiteren Schicksale der bis 1900 operierten 47 Fälle konnten
bei 32 Patientinnen brauchbare Nachrichten erbracht werden.
Von diesen wurde von neuerlicher Tumorbildung und Operation
nichts berichtet; außer drei Frauen, die an anderen Krankheiten
starben, leben 29 noch. Verf. ist mit Rücksicht auf die Tat¬
sache, daß lange bestehende, benigne Tumoren malign degene¬
rieren können, ferner daß selbst bei kleinen Tumoren ein ganz
junges Karzinom oft mit Sicherheit nicht auszuschließen ist,
mit Braatz der Ansicht, daß jeder Mammatumor operativ ent¬
fernt und einer genauen mikroskopischen Untersuchung unter¬
zogen werden soll. — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1906,
Bd. 84, H. 4 bis 6.) F'. H.
*
83. (Aus der medizinischen Klinik in Graz.) Ueher das
Vorkommen von Labferment in den Fäzes. Von Doktor
Th. Pfeiffer. Mit der Untersuchung über das Vorkommen von
Pepsin und Trypsin in entleeiden Nährklystieren beschäftigt, prüfte
Pfeiffer gelegentlich die Fäzes auf Lab u. zw. mit positivem
Ausfall, was überraschend war, da es als gesicherte Tatsache
gilt, daß Lab gegen Alkalien sehr empfindlich ist und durch
Trypsin und Fäulnisbaklerien vernichtet wird. In seinen wei¬
teren Versuchen, welche er so durchführte, daß andere Ursachen
als Lab für Gerinnung seiner Milchprohen, wie xVziditätsver-
hältnisse, Bakterienwirkung, so gut wie sicher auszuschließen
waren, fand Pfeiffer, daß der Darminhalt von Tieren sogar auch
nach Fernhaltung des Zuflusses von Magen- und Pankreassekret
eine Labwirkung entfaltet. Nicht nur im Magen und Pankreas,
sondern auch im Dünndarm wird also Labferment gebildet, wo¬
bei es dahingestellt bleibt, ob außer der Darmschleimhaut etwa
auch Bakterien an seiner Produktion beteiligt sind. Diese Lab¬
bildung im Darme dürfte die Erklärung dafür gehen, daß dieses
Enzym, abweichend von den eiweißspaltenden, dagegen in Ueber-
einstimmung mit der sehr regelmäßigen Anwesenheit von Amylase,
nahezu regelmäßig in den Fäzes gefunden wird. — (Zeitschrift
für experimentelle Pathologie und Therapie, Bd. 3, H. 2.) K. S.
*
84. Aus dem Londoner Hospital - Medical - College. B e-
schreihung eines Herzens mit gummöser Infiltra¬
tion des atrioventrikulären Bündels. Von Artur K e i t h
und Charles Älille.r. Fs handelte sich um den Obduktionsbefund
eines Patienten, der an Peritonitis nach Perforation des Wunnfort-
satzes starb. Er hatte 28 Jahre vorher Lues gehabt. 13 Jahre
vor seinem Tode litt er an blrscheinungen, die in plötzlichem
Schwächegefühl, Niederfallen und Sekunden dauernder Bewußt¬
losigkeit bestanden. Zugleich bestand andauernd Herzklopfen. Die
Herzerscheinungen besserten sich allmählich und er fühlte sich
bis zu seinem Tode leidlich wohl. Acht Jahre vor seinem Tode
wurde Bradykardie von durchschnittlich 42 Schlägen in der IMi-
nute konstatiert. Die Obduktion ergab eine vollkommene anatomi¬
sche Trennung der Herzaurikeln von den Ventrikeln, durch gum¬
mös-narbige Infiltrationszüge. Verf. macht mit Recht darauf auf¬
merksam, wie auffallend es sei, daß trotz der weitgehenden Zer¬
störung des Reizleitungsystems des Herzens, der Patient dennoch
13 Jahre ohne besonders heftige Störungen der Herztätigkeit
leben konnte, wenigstens soweit dieselbe mittels der gangbaren
Untersuchungsmethoden des Kreislaufs zu beurteilen ist. Er be¬
tont daher die Notwendigkeit der häufigeren Benützung exakt
physiologischer Untersuchungsmethoden in der praktischen Herz¬
pathologie — wie sie von Wenckebach und Mackenzie
angehahnt worden sind — um auch solche Störungen des feineren
Herzmechanismus sinnfällig und der Diagnose dienstbar zu
machen, welche hei Benützung von weniger exakten Methoden
leicht der Beobachtung entgehen. — (Lancet 1906, 24. November.)
J. Sch.
*
85. Zur Behandlung der Wassersucht durch Re¬
gelung der Wasser- und der S a 1 z z u f u h r. Von Professor
Dr. 0. Minkowski in Greifswald. Beim Hydrops handelt es
sich nicht bloß um Retention von Wasser, sondern auch um eine
solche von Salzlösungen verschiedener Konzentration. Von
den Salzen kommt in praktischer Hinsicht nur das Kochsalz in
Betracht. Wichtig ist nun, zu eruieren, welche Störung hiebei
das Primäre ist, ob die Ausscheidung des Wassers oder die
der Salze primär gestört ist. Nach dieser Richtung hat die Er¬
fahrung gelehrt, daß bei dem kardialen Hydrops, bei welchem
die venöse Stauung zum Hydrops führt, in erster Linie die
Was'serausscheidung durch die Niere verringert ist; die Salz¬
retention ist hier mehr Folge der Wasserretention und tritt erst
dann ein, wenn eine komplizierende Niereninsuffizienz eintritt.
Ein Herzkranker mit gesunden Nieren kann auch einen konzen¬
trierten Harn ausscheiden. Schränkt man in einem solchen Falle
die Wasserzufuhr ein, so wird der Organismus, um die molekuläre
Konzentration des Blutes nicht ansteigen zu lassen, mehr Salze
im Harne ausscheiden und Wasser aus den Geweben nehmen.
Es wird also mehr Wasser ausgeschieden, als eingenommen,
d. h. die Einschränkung der Wasserzufuhr könnte hier direkt
den Hydrops vermindern. Weniger vorteilhaft wäre es, in einem
solchen Falle die Kochsalzzufuhr zu vermindern; das hätte bloß
den Effekt, daß entsprechend weniger Salze im Harne ausge¬
schieden würden. Ja, sogar die erhöhte Salzzufuhr wäre hier
am Platze, da zur Ausischeidung der erhöhten Salzmenge auch
mehr Flüssigkeit ausgeschieden wird, die Salze wirkten hier diure-
tisch, dem Organismus würde Wasser entzogen werden. Amlers
liegt der Fall, wenn der Hydrops primär auf einer Insuffizienz
der Nierentätigkei t beruhen würde. In einem solchen Falle
ist die Ausscheidung der gelösten Substanzen stärker beeinträch¬
tigt als die Wasserausscheidung. Bei der Schrumpfniere ist der
Harn bekanntlich stark verdünnt und salzarm, aber nur dadurch,
daß die Niere abnorm große Wassermengen ahsondert; Avird
dann der Zirkulationsapparat insuffizient, so stellt sich Hydrops
ein, der den Charakter des kardialen Hydrops trägt. Bei den
akuten und chronischen Formen sogenannter parenchymatöser
Nephritis leidet die Salzausscheidung in noch höherem Maße
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
199
als die Wasserausscdieidung. Hier gebt die Salzretenlion nach¬
weisbar häufig der Wasserretention zeitlich voraus. Schränkt
inan hier die Salzzufuhr etwas ein, so entledigt sich der Organis¬
mus des Salzüherschusses, damit schwindet die Ursache der
Wasserrelenlion, id est des Hydrops. Die Sache ist aber leider
nicht so einfach, es kommen noch viele andere Momente in Be¬
tracht. Vorerst führen bekanntlich die Erkrankungen des einen
Systems sehr bald konsekutiv zu den Erkrankungen des anderen
Systems, dann spielen noch besondere Zustände der Kapitlar-
endothelien eine Rolle, welche die Vorgänge bei der I,ymph-
sekretion beeinflussen, vielleicht auch noch gewisse Verände¬
rungen an den Gewebsel einen ten des ganzen Körpers, welche
diese befähigen, Wasser und Kochsalz zurückzuhalten. Größerer
Wasserreichtum des Körpers ist noch nicht Hydrops, das Wasser
muß sich hiebei in Lymphspalten und serösen Höhlen ansammeln.
Und der Hydrops entsteht nicht sofort, wenn nur die Wasser¬
ausscheidung gehemmt wird. Einmal führt die Scharlachnephritis
sehr früh zu Oedemen, dann wieder stellt sich bei Verschluß
beider Ureteren, also sicherer Wassere tention, erst nach vielen
Tagen Oedembildung ein. Auch geht bekanntlich das Wachsen
und Schwinden der Oedeme mit dem Sinken und Steigen der
Harnausscheidung nicht immer parallel einher. Die Sache ist
aber noch komplizierter. Eine schwerkranke Niere wird einer
erhöhten Anforderung nicht Folge leisten können, es werden
aber gewisse Störungen eher schwinden, wenn man die An¬
sprüche an die Funktion dieser Niere her ab setzt. Sind aber
noch genügend funktionsfäbige Elemente in der kranken Niere
vorhanden, so wird man mit einer Erhöhung der Wasser¬
oder Salzzufuhr eher eine diuretische Wirkung erzielen und schäd¬
liche Retentionsprodukte wegschaffen können. Aus allen diesen
^Momenten erklärt es sich, warum die Resultate der diesbezüg¬
lichen Beobachtungen so recht verschiedene, zum Teil einander
sogar widersprechende sind. Für die Praxis möchte Verfasser
empfehlen, bei kardialem Hydrops jede übermäßige Flüssig¬
keitszufuhr einzustellen, die Gesamtflüssigkeitsmenge der Nah¬
rung auf ca. IV2 Liter zu reduzieren. Will man die Wasserzufuhr
noch mehr einschränken, iso beachte man stets das Allgemein¬
befinden, die Harnsekretion und das Köiiiergewicht. Nach Be¬
darf kann man die Flüsisigkeitszufuhr auf 1200 bis 500 cnP täg¬
lich einschränken. Treten aber Uebelbefinden, Unbebagen, Kopf¬
schmerzen, Widerwillen gegen Nahrungszufuhr ein, so wird man
die Flüsisigkeitseinschränkung nicht fortsetzen. Diese ist kontra-
indiziert, sobald erhebliche Störungen der Nierenfunktion zu¬
tage treten. Die Kochsalzzufuhr wird man in solchen Fällen auch
etwas einschränken, um den Durst zu mindern und so die
Flüssigkeitsentziehung zu erleichtern. Bei Zirkulationsstörungen
wirkt eine solche geringe Salzeinschränkung oft auffallend günstig
auf den Hydrops. Bei akuter und chronischer parenchymatöser
Nephritis ist vorerst die Einschränkung der Salzzufuhr zu ver¬
suchen. Nach kürzerer oder längerer Zeit schwinden dadurch
allein oft schon Oedeme und Transsudate. Ist ein Erfolg erziel t,.
so kontrolliere man auch fernerhin die Kochsalzzufuhr, sodann
das KöiiJergewicht ; ein plötzlich merkliches Ansteigen desselben
läßt das Entstehen von Oedenien befürchten. Die Wasserzufuhr
ist trotz etwaigen Hydrops nicht zu yermindern, sondern eher
zu steigern (Entfernung der Stoffwechselschlacken). Da, wo
Urämie droht, wird man sogar das WWsser per os, per klysma
und, wenn nötig, auch subkutan zufübren. Uebertreibungen nach
dieser Richtung, z. B. reine IMilchdiät mit Zufuhr von drei
Litern Milch täglich, schaden; IV2 Liter genügen, wenn man
dem Nephritiker, sofern strenge Diät indiziert ist, zugleich reich¬
lich Kohlehydrate und Fette verabreicht. Unberechtigt ist die
reine Milchdiät völlig bei der Schrumpfniere (v. No or den),
anderseits braucht diese Niere mehr WMsser, um die festen Stoffe
auszuscheiden. Selbst bei Oedemen schränke man die Flüssig¬
keitszufuhr nicht zu sehr ein. Da diese Oedeme darauf beruhen,
daß die mit der Herzhypertrophie gegebene Kompensation nach¬
läßt und bei ungenügender Herztätigkeit die Niereninsuffizienz
offenbar wird, so wird man die Kardiotonika (Digitalis) verab¬
reichen müssen. Die diuretische Wirkung der Digitalispräparate
kommt nicht nur in einer Steigerung der Wasserausfuhr, sondern
auch in einer erhöhten Ausscheidung von Salzen zum Ausdruck.
Die Purinkörper (Koffein, Diuretin, Agurin, Theophyllin oder
Theozin) wirken direkt auf die Nierenfunktion, sie erliöhen außer¬
ordentlich die Salzausfuhr unrl wirken günstig auf den Stoff¬
austausch in den Geweben. Die salinischen Diuretika sind bei
den Nierenkranken nach dem oben Gesagten weniger indiziert.
— (Die Therapie der Gegenwart, Januar 1907.) E. F.
*
86. lieber die Beziehungen der Glandulae para-
thyreoideae zum Auftreten von Konvulsionen. Von
L. Alquier. Zahlreiche Versuche haben nahezu übereinstimtnend
ergeben, daß die vollständige Exstirpation der Nebenschilddrüsen
bei Tieren akute, rasch tödlich verlaufende Erscheinungen, am
häufigsten letanische, klonische, manchmal epileptiforme Konvul¬
sionen, Kontraktur verschiedener Ausdehnung, fibrilläre Zuckungen
und in einzelnen Fällen Tremor hervorruft. Zu diesen Erschei¬
nungen gesellen sich Torpor, Anorexie, heftiger Durst, manchmal
Erbrechen und Diarrhöen, welche öfters sanguinolente Beschaffen¬
heit zeigen, Dyspnoe, Tachykardie und Albuminurie. Bei unvoll¬
ständiger Exstirpation der Nebenschilddrüsen beobachtet man ähn¬
liche, aber abgeschwächte Erscheinungen und es tritt Heilung ein,
wenn eine genügende Älenge von Drüsensubstanz zurückgelassen
wurde. Chronisch rezidivierende Konvulsionen sind hei unvoll¬
ständiger Insuffizienz der Nebenschilddrüsen bisher nicht beob¬
achtet worden. Bei trächtigen Tieren wurde durch experimentelle
Insuffizienz der Schilddrüsen Eklampsie während der Schwanger¬
schaft oder intra partum hervorgerufen. Die Erfahrungen am Men¬
schen sprechen dafür, daß die Insuffizienz der Nebenschilddrüsen
ebenso wie bei den Tieren die Ursache der Tetania strumipriva ist.
Es ergibt sich aber hiebei die Frage, ob man auch andere Formen
von Konvulsionen einer spontan auftretenden Insuffizienz der
Nebenschilddrüsen zuschreiben darf. Bezüglich der Beziehungen
der postoperativen und der spontanen Tetanie zu dem Verhalten
der Nebenschilddrüsen herrscht noch keine Uebereinstimmung
der Anschauungen. Es wurde auch auf die Beziehungen zwischen
Paralysis agitans und Insuffizienz der Nebenschilddrüsen, sowie
die günstige Wirkung der Darreichung von Nebenschilddrüsensub¬
stanz hingewiesen. Das iVuftreten von Graviditätstetanie, Albu¬
minurie und Nierenläsionen bei parathyreoidektomierten Tieren
führt zu der Bh’age der Bedeutung der Nebenschilddrüsen für die
Genese der Eklampsie der Schwangeren. Es sprechen viele Beob¬
achtungen, darunter auch solche, welche über die günstige Wir¬
kung der Nebenschilddrüsensubstanz berichten, dafür, daßi die
Insuffizienz der Nebenschilddrüsen ein wichtiger Faktor in der
Pathogenese der puerperalen Eklampsie ist. Bezüglich der Be¬
ziehungen der Nebenschilddrüse zur Tetanie, Epilepsie, Morbus
Basedowii und Paralysis agitans sind noch weitere Untersiichungen
erforderlich. Die Konvulsionen sind nicht peripheren Ursprunges,
dagegen wurden von mehreren Beobachtern zerebrale Läsionen
nachgewiesen. Die therapeutische Darreichung von Nebenschild¬
drüsensubstanz hat auf die nach totaler Exstirpation der Neben¬
schilddrüsen manchmal auftretenden Konviilsionen nur eine
abschwächende Wirkung und vermag den letalen Ausgang nicht
hintanzuhalten. Die Anwendung könnte außer der internen Dar¬
reichung der Substanz, bzw. des Extraktes auch in Form der
Implantation geschehen, doch liegt bisher kein Bericht iiber die
Einpflanzung von Nebenschilddrüsen vor. — (Gaz. des hop. 1906,
Nr. 128.) a. e.
*
87. Aus der psychiatrischen Klinik in Straßburg (Professor
Dr. Fürstner). Ueber Bulbärparalyse bei Lipomatose.
Von Dr. E. Osann, Assistent der Klinik. In dem vorliegend mit¬
geteilten Falle fanden sich bei der Obduktion zahlreiche multiple
Lipome in der Brust- und Bauchhöhle (größtenteils subserös),
im Wirbelkanal peridurale Lipome im unteren Teile des Dorsal¬
teiles und im Sakralmark. In der Medulla oblongata makroskopisch
keine Veränderungen, mikroskopisch Degeneration des Nukleus
hypoglossi, des Nukleus ambiguus vagi und der Hypoglossus-
fasern. Während man in dem Bestreben, das ganze klinische
Bild auf eine einzige Ursache zurückzuführen, multiple Tumoren
(wahrscheinlich Sarkome) des Rückenmarkes und der Medulla
oblongata angenommen hatte, erwies die Obduktion eine eigen¬
artige Kombination von Lipomatose und Bulbäriiaralyse. Erstem
dürfte aber ^loch die letztere veranlaßt haben. IMan braucht nur
zu bedenken, daß bei ausgedehnter Erkrankung des Lymphappa-
200
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
rates maligne Wirkungen auch sonst gutartiger Geschwülste zu
orwarlen sieben, daß ferner, abgesehen davon, dem Körper durch
die massenhafte Anhäufung von Fett an einzelnen Stellen not¬
wendige Stoffe entzogen werden und daß dann eine Schädigung
an besonders empfindlichen Stellen des Nervensystems, wie an¬
der IMedulla oblongala, sich zuerst l)emerkbar macht. - — (Archiv
für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 42, H. 1.) S
♦
88. Aus der chirurgischen Universitätsklinik und der l'ni
versitälsfrauenklinik zu Würzhurg. Die Füllung der Blase
mit Sauerstoff, zum Zwecke der Zystoskopie und
Radiographie. Von Priv.-Doz. Dr. L. Burkhardt und Privat¬
dozent Dr. 0. Pol a no. Die Verfasser hatten gelegentticli der
Zystoskopie wiederholt mit Patienten zu tun, die teils kleinste
Flüssigkeitsquantitäten in der Blase gar nicht, oder nur unter
den größten Beschwerden vertrugen, teils aber trotz schonendsten
V'orgehens bei der zystoskopischen Untersuchung jedesmal )nitl
Blutungen reagierten, wodurch die Flüssigkeit stark getrübt wurde.
Sie halfen sich dadurch, daß sie die Blase statt mit Flüssigkeit,
mit chemisch reinem Sauerstoff füllten. Es fiel auf, wie außer¬
ordentlich tolerant diese Patienten sich der Sauerstoffüllung gegen¬
über verhielten und wie deutlich alle Einzelheiten in der Blase
beobachtet werden konnten. Gegenüber der Eüllung der Blase
mit Luft hat die Sauerstoffüllung den Vorteil, daß chemisch miner
Sauerstoff keimfrei und Embolie nicht zu fürchten ist. Eine
nachteilige Wärmeentwicklung innerlialb der Blase während der
Zystoskopie konnte nicht, beobachtet werden. Auch die Gefahr einer
Blasenruptur durch Sauerstofflähmimg scheint nach Ansicht der
Verfasser nicht zu bestehen, wenn man den Sauerstoff nicht
unter hohem Druck einströmen läßt. Die Technik der Sauerstoff¬
füllung ist sehr einfach. Mittels Metall- oder elastischen -Katheters
wird die Blase ausgiebig entleert und dann durch den Katheter
sofort der Sauerstoff injiziert. Man kann sich dazu eines gewöhn¬
lichen Gasometers bedienen, oder man nimmt eine ca. 120 g-
Flasche, die durch einen Patentpfropfen geschlossen und mittels
Gummischlauch mit dem Katheter verbunden wi:.!. Durch Anfüllen
der Elasche mit SToigem Wasserstoffsuperoxyd und Zusatz einer
als Katalysator dienenden Kaliumhypermanganpastille findet eine
ausgiebige, durch Drehen des Pfropfens leicht regulierbare Sauer¬
stoffentwicklung statt. 120 cm''^ HoOo produzieren nach Zufügung
der Pastille annähernd einen Liter Sauerstoff; in einer IMinute
werden 120 cm^ reinen Sauerstoffes entwickelt, so daß zur starken
Entfaltung einer normalen Blase zwei Minuten genügen. Weiters
machen die Verfasser darauf aufmerksam, daß; die mit Sauerstoff
gefüllte Blase viel schärfere und klarere Röntgenbilder liefert.
Während in der mit Borlösung gefüllten Blase ein Stein kaum
zu sehen war, präsentierte er sich in der mit Sauerstoff ge¬
füllten Blase sehr klar und deutlich, ja auch die Blasenwand zeigte
deutliche Differenzierung ihrer Details. Zum Schlüsse iuddären,
die Verfasser: Die Füllung der Blase mit Sauerstoff, zum Zwecke
der Zystoskopie, soll und kann natürlich nicht die klassische
IMethode Nietzes ersetzen. Sie kann aber von Vorteil sein,
wenn die Zystoskopie in der mit Flüssigkeit gefüllten Blase sehr
erschwert oder unmöglich ist. — (Münchener mediz. Wochenschrift
1907, Nr. 1.) G.
*
89. .\us der Infektionsabteilung des k. k. Kaiser- Franz-
.loseph - Spilales in Wien (Prim. Dr. Mairinger). Ueber .lodo-
l)hilie bei Skarlatina. Von Dr. W. Neutra. Nacli seinen
Untersuchungen hält Vei'f. die Koexisletiz von Jodophilie und
Eosinophilie füi' charakteristisch bei Skarlatina und konnte di(v
selbe weder bei den anderen akuten Exanthemen, noch bei Arznei-
('xanthenien jemals wabrnehmen. Die Jodreaktion tritt bei Skar¬
latina stets auf und ej-reicht zumeist einen bedeutenden Grad.
Das gätizliche Feblen der Jodreaktion während des ganzen Ver¬
laufes einer skarlatinaverdächtigen Erkrankung spricht gegen
Skarlatina. fh'ognoslisch zeigt sieb, daß das rasclie Vei*schwinden
der jodophilen Zellen im Blutbilde für einen günstigen Verlauf
s])i’ichl, während das mas.senhafte Auftreten dieser Zellen und
ihre Besl;indigk(dt im Blulbilde, mit der Schwere der Erkrankung
paralhd geht. - (Zeitsebrift für Heilkunde 1900, Bd XX VH
II. XI.) K. S.
Vermisehte flaehriehten.
Verliehen: Dem ordentlichen Professor der ('’hirurgie
und Vorstand der 11. chirurgischen Klinik in Wien Dr. Julius
Hochenegg der Titel und Charakter eines Hofrates. — Dem
Oberstabsarzt Dr. Bronislaus Majewski in Przemysl das Ritter¬
kreuz des Franz-Joseph-Ordens.
*
Vor kurzem feierte der bekannte Gynäkologe Franz v. Neu¬
gebauer in Warschau sein 25 jähriges D o k t o r j u b i 1 ä u m.
Ein Bild seiner überaus reichen Avissenschaftlich- literarischen
Tätigkeit in diesen 25 Jahren gibt das Verzeichnis seiner Schriften,
das seinem neuesten Buche: Zur Lehre Amn der Zwillings-
schAvangersebaft mit heterotopem Sitz der Früchte (Verlag von
Dr. Werner Klinkhardt, I^eipzig) beigeheftet ist.
Habilitiert: Dr. Stursberg für iunerc Medizin in Bonn.
*
Gestorben: Der Chemiker Prot. Men dele je w in Peters¬
burg. — Der Professor der Geburtshilfe Dr. P. Budin in Paj’is.
*
Der Herr Minister für Kultus und Unterricht Doktor
Marchei hat folgenden Erlaß hinarrsgegeben : „Auf Grund
des § 3 des Gesetzes vorn 31. Dezember 1896, R.-G.-Bl. Nr. 8,
finde ich hinsichtlich der Qualifikation der Assistenten bei der
Lehrkanzel für Anatomie und Physiologie der Haustiere an der
Hochschule für Bodenkultur die besondere Bestimmung zu treffen,
daß der imi § 1 der hierortigen Verordnung vom 1. Jänner 1897,
R.-G.-Bl. Nr. 9, zur Erlangung einer Assistentenstelle an der Hoch¬
schule für Bodenkultur vorgeschriebene QualifikationsnachAveis
bei dieser Lehrkanzel auch durch den medizinischen Doktorgrad
ersetzt Averden kann.“
In der Sitzung des niederösterreichischen
La ndessanitäts rates vom 4. Februar 1907 Avurden folgende
Gutachten erstattet: 1. Ueber ein Ansuchen um BeAvilligung zur
Erbauung eines Gemeindekrankenhauses in Niederösterreich.
2. Ueber die Aenderung der Wahlordnung und des Sitzes der
Aerztekammer für Niederösterreich mit Ausnahme von Wien soAvie
über eine Aenderung in der Anlage der Wählerliste der Wiener
Aerztekammer. 3. Ueber ein Ansuchen um Bewilligung zur Er¬
richtung eines Instituts für mechanische Behandlung der Atemnot
in Wien. Schließlich Avurde ein Initiativantrag betreffend die
Regelung der Aufnahme und Entlassung von Leprakranken in
den Spitälern eingebracht und einem Komitee zugewiesen.
*
Von der zurzeit noch in Bearbeitung befindlichen Statistik
der U n t e r r i c h t s a n s t a 1 1 e n für das Schuljahr
1904/05 ist der auf die österreichischen Universitäten
bezughabende Teil bereits abgeschlossen. Es ergeben sich daraus
nachstehende Daten, die dem ersten Heft der ,, Statistischen
Mitteilungen“ entnommen sind. Im Studienjahre 1904/05 Avaren
1727 (gegenüber 1690 im Vorjahr) Lehrpersonen tätig,
u. zw. 500 ordentliche und 234 außerordentliche Professoren,
17 honorierte Dozenten, 13 Supplenten, 456 Prizatdozenten, 452
Adjunkten etc. Vor zehn Jahren betrug die Zahl aller Universitäts¬
lehrkräfte 1262. Von der Gesamtzahl der Lehrpersonen gehörten
der Wiener Universität 574 = 33'3'’/(i an. Was die Verteilung aller
1727 Lehrkräfte auf die einzelnen Fakultäten betrifft, so Avaren
an der theologischen Fakultät 91 = 5’3”,/o, an der rechts- und
staatswissenschaftlichen Fakultät 187 = 10'8‘’/o, an der medizi¬
nischen Fakultät 753 = 43‘6‘’/o und an der philosophischen Fakultät
696 = dO’dVo tätig. Die G e s a jn t f r e q u e n z aller öster¬
reichischen Universitäten im Studienjahr 1904/05 be¬
zifferte sich im Wintersemester auf 22.374 Studierende gegenüber
21.091 im Jahre 1903/04 und 16.560 im Jahre 1894/95; im Sommer¬
semester belief sich diese Frequenz auf 19.496 Studierende gegen
18.805 im Jahre 1903/04 und 14.411 im Jahre 1894/95. Unter den
22.374, bzw. 19.496 Studierenden befanden sich 8232, bzAv. 6926
an der Universität in Wien ; Aveiter 1220 = 5‘5”/n (bzw. 896 = 4'6“/o)
gehörten dem weiblichen Geschlechte an. Von sämtlichen Uni¬
versitätsstudierenden entfielen im Wintersemester auf die theo¬
logische Fakultät 1390 (6'2'’/o), die rechts- und staatswissenschaft¬
liche Fakultät 9593 (42'97o), die medizinische Fakultät 3276
(l4‘6'’/o), die philosophische Fakultät 8115 (36’37o). Von sämtlichen
Studierenden des Wintersemesters (ausschließlich der 654 Fre¬
quentanten der medizinischen Fakultät in Wien, deren Nationale
nicht nachgeAviesen Avurde) Avaren 19.696 (90'77o) Inländer und
2024 (9'37o) Ausländer, unter den letzteren 744 aus den Ländern
der ungarischen Krone, 224 aus Deutschland, 43 aus der Schweiz,
16 aus Italien, 8 aus Frankreich, 521 aus Rußland, 20 aus der
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
201
Türkei, 62 aus Rumänien, 106 aus Serbien, 59 aus den übrigen
vier Erdteilen. Der Älutterspracbe nach waren von sämtlichen
Universitätshörern, bzw. Hörerinnen des Wintersemesters 9529
(43‘97o) Deutsche, 4405 (20’3“/n) Tscheclioslaven, 4418 (20'3"/(,)
Polen, 998 (l'O^/o) Ruthenen, 1153 (5-3"/o) Südslaven, 501 (2-3"/o)
Italiener, Ladiner und Friauler, 226 (l^/o) Rumänen, 126 (0'6“/oj
jMagyaren und 364 (LT^'o) anderer Nationalität. Nach dem
Religionsbekenntnisse , verteilte sich die Gesamtzahl der Stu¬
dierenden im Wintersemester auf 16.882 (77'77o) Katholiken, 677
(3‘l“/o) Griechisch-orientalische, 711 (3’3"/o) Evangelische, 6 Alt-
katholiken, 3333 (15'47o) Israeliten, 38 (0’2®/n) anderer Konfession
und 73 (0'3"/o) Konfessionslose.
*
Der 36. Kongreß der Deutschen Gesellschaft füi
Chirurgie findet vom 3. bis 6. April 1907 in Berlin ini
Langenbeck-Hause statt. Die Herren Mitglieder können im Bureau
des Herrn Melzer (Berlin N., Langenbeek-Haus, Ziegelstraße
Nr. 10/11) am 2. April, nachmittags von 4 bis 9 Uhr, sowie
am 3. April, vormittags voni 8 bis 10 Uhr, die gedruckte Tages¬
ordnung, sowie die Mitgliedskarten gegen Erlegung des Jahres¬
beitrages in Empfang nehmen. Gegen Einsendung des Jahres¬
beitrages pro 1907 an Herrn Melzer bis zum 20. März
werden Mitgliedskarten von diesem per Post zugesandt.
Die Eröffnung des Kongresses erfolgt am IMittwoch, den
3. April, vormittagis 10 Uhr, im Langenbeck-Hause. Die
Ankündigungen von Vorträgen und Demonstrationen haheu Ids
zum 3. März hei Prof. Ri edel -Jena mit einer kurzen Inhalts¬
angabe und der genauen Bezeichnung, oh Vortrag oder Demon¬
stration beabsichtigt wird, zu gescliehcn. Von auswärts komniende
Kranke können in der Kgl. Chirurg. Universitätsklinik (Berlin N.,
Ziegelstraße 5 — 9) Aufnahme finden. Präparate, Apparate und
Instrumente etc. sind mit Angabe ihrer Bestimmung an Herrn
Melzer (Berlin N., Langenbeck-Haus, Ziegelstraße 10/11) zu
senden. Ein Demonstralionsahend für Röntgenbilder ist in Aus¬
sicht genommen. Anmeldungen zur Aufnahme neuer Mitglieder
sind an den I. Schriftführer Herrn Kürte (Berlin W. 62, Kur¬
fürstenstraße 114) einzusenden. Zur Besprechung auf dem dies¬
jährigen Kongresse sind folgende Themata vorgemerkt : 1. Die
Chirurgie des Herzens, resp. des Herzbeutels (Herr Rehn). 2. Die
operative Behandlung der Lungenkrankheiten (Herr Friedrich).
3. Die Exstirpation, der Prostata (Herr Kümmel). 4. Ober¬
schenkelbrüche, besonders am oberen und unteren Drit teile (die
Herren Bardenh euer und König).
*
Der erste Kongreß der deutschen Gesellschaft
für Urologie wird unter dem Protektorate des Herrn Erzherzog
Rainer vom 2. bis 5. Oktober 1907 in W^ien im Gebäude der
k. k. Gesellschaft der Aerzte tagen. Als Hau])tthemen werden in
Diskussion gezogen : 1. Diagnostik und Therapie der Nieren¬
tumoren. Referenten: Küster- Marburg, v. Eiseisberg- Wien.
H. Diagnostik und Therapie der Nephrolithiasis. Referenten:
K ümmel -Hamburg, Holzknecht, K i e n b ö ck - Wien. Hl. Ilie
Albuminurie. Referenten: v. N o o r d e n - Wien, Po s ne r - Berlin.
Anmeldungen von Vorträgen und Demonstrationen haben mit eim'r
kurzen Inhaltsangabe versehen bis spätestens 15. Juli 1907 an
die Geschäftsstelle in Wien (Dr. Kap s am m er, IX., Maria
Theresienstraße 3) stattzufinden. Ebendaliin sind auch Anmel¬
dungen zur Diskussion über die genannten drei Hauptthemen zu
richten. Unhemittelte Kranke, welche zu Demonstrationszwecken
nach IVien kommen, werden für die Zeit des Kongresses au der
Wiener allgemeinen Polik'inik unentgeltlich untergebrachl. Wäh¬
rend des Kongresses wird eine Ausstellung von Präparaten, In¬
strumenten und urologischen Gebrauclisgegenständen veranstaltel,
für welche die Anmeldungen ebenfalls bis spätestens 15. .luli
an die Geschäflsstelle in M'ien zu erfolgen hal)en. Nichtmitgliedm'
wollen ihre Teilnalmu' an dem Kongreß an die Geschäftsstelle in
Wien melden, woselbst auch der Teilnehnnu’belrag von K 10
zu erlegen ist. Die Mitglieder der Gesellschaft werden gebeten,
den von der konstituierenden Versammlung in Stuttgart fesl-
gesetzten Jahresbeitrag von Mk. 10 an die Zahlstelle in Breslau
(Dr. F. Löwen har dt, Karlstraße l) zu senden.
*
Zur Beratung der Frage, betreffend die Gründung <'iuer
neuen russischen Universität an Shdle der seil längerer
•Zeit bereits geschlossenen Warschauer Universität war (wie die
Polersburger ined. WochenschrifI mitteilt) eine Kommission aus
Professoren der Warschauer Universität gebildet, die in ihren
Konferenzen mit den Vertretern verschiedene)' Slädte und
Semsfwos das nölige IMalerial daj'übei' gesainmelt hal, welche die
günsli"s!en Voi'bc'dingungen für die Eröffnung ei)ier Universiiät
bietet. Unter den Städlen, wcdclie den Wunsch geäußeit haben, die
Gründung einer Universität zu unterstützen, wären IMinsk,
Witebsk, Smolensk, Nishni-Nowgorod, Ssaratow und Woronesh
zu nennen. Am meisten Aussichten für die Errichtung einer
Universität haben Ssaratow, Nishni-Nowgorod und Woronesh,
weil sie gut eingerichtete Krankenhäuser haben, die in den ersten
Jahren die Kliniken ersetzen können.
Der dritte Kongreß der Deutschen Röntgen-
Gesellschaft findet am Montag, den 1. April 1907, morgens
9 Uhr, in Berlin im Langenbeckhause statt. Für die Wahl dieses
Tages war der Gesichtspunkt maßgebend, den Teilnehmern den
Besuch des am 2. April tagenden Orthopädenkongresses und des
am 3. April beginnenden Chirurgenkongresses zu ermöglichen.
Zur Diskussion steht das Thema: ,, Welchen Einfluß hat die
Röntgendiagnostik auf die Erkennung und Behandlung der
Knochenbrüche gehabt?“ Das Referat Hat Herr Professor
Dr. 0 b e r:s t - Halle, das Korreferat Herr Dr. Immel-
mann- Berlin übernommen. Anfragen sind an den derzeitigen
Vorsitzenden, Herrn Dr. Albers-Schönberg, Hamburg, Klop-
stockstraße 10, zu richten. Anmeldungen von VOrlrägen oder
Demonstrationen sind spätestens bis zum 1. März 1907 bei dem
I. Schriftführer der Gesellschaft, Herrn Dr. IMax Immelniann,
Berlin W. 35, Lützowstraße 72, anzumelden.
*
Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten wird ihren diesjährigen Kongi'cß,
den dritten seit ihrer Begründung, am 24. und 25. Alai in Mann¬
heim abhalten. x41s einziges Verhandlungsthema wird die Frage
der sexuellen Pädagogik eingehend erörtert werden. Nach der
vorläufigen Tagesordnung sollen folgende Spezialreferate erstattet
werden: Die Aufgabe der Vlutter, des Hauses, der Volksschule.
— Sexuelle Aufklärung in höheren Schulen, für xVhiturienten,
Seminaristen, Fortbildungsschulen, auf dem Lande. — Jugend¬
literatur. — Sexuelle Diätetik.
*
In Brüssel wurde eine Schule für tropische Medizin
eröffnet, zu deren Leiter Dr. van Kämpen hont ernannt wurde.
*
Zufolge Beschlusses des Herausgeberkomitces wurde an
Stelle des nach Slraßl)urg berufenen Hofrates Prof. Hans Chiari
Prof. R. Kretz, Wien IV., Theresianumgasse 25, mit der Re¬
daktion der Zeitschrift für Heilkunde betraut.
*
Der U n t e r s t ü t z u n g s V e r e i n für Witwen u n d
Waisen jener Mitglieder des Wiener Doktorenkollegiums, welche
in die Witwen- und Waisensozietät nicht einverleibt waren, hielt
am 24. Januar 1907 seine ordentliche Generalversannnlung ab,
in welcher der Präses, Herr Dr. iVnton Khautz von Eulen¬
thal sen. den Reclienschaftsbericht erstattete. Die Gesamtein¬
nahmen betrugen K 12.478-84, während die Gesamtauslagen sich
auf K 12.104-67 beliefen.
*
Bei der am 22. v. M. abgehaltenen Vollversammlung
des ärztlichen Vereines im VHl. Bezirke wurde die
Neuwahl des Vorstandes vorgenommen. Dieselbe ergab fol¬
gendes Resultat: Obmann: Dr. Ludwig Skorscheba)i; Ob¬
mannstellvertreter: Dr. Eduard Kraus; Kassier: Josef Hart-
.niann; Schriftführer: Karl Polläk und Arnim V^ajda.
Im Verlage der Hofbuchhandlung W. Braumüller er¬
scheint ein auf zehn Bände berechnetes Handbuch der Sach¬
verständigentätigkeit, welches von Prof. P. Dittrich in
Pi’ag unter VHIwirkung von Fachmännern herausgegeben wird. Der
bereits erschienene dritte Band hal in dieser Wochenschrift
schon eine eingehende Besprechung gefunden. Nun liegt auch
bereits der größte Teil des zweiten Bandes vor, lerner vom
zehnten B a n d e Liefei'ung 1 bis 3 : Die ö s t e r r e i c h i s c h e n
Sanitätsgesetze (552 S.), behandelt von Landessauitäts-
rcferent Di'. August Netolitzky. Der Subskriplionspreis pro
Liefei'ung (ca. 50 im ganzen) beträgt K 6.
*
Landesmann: Die Therapie an den Wiener Kli¬
niken. Achte vollständig umgearbeitete Auflage. Herausgegeben
im Verlage von Fr. De ul icke in Wien von Dr. Otto M;ir-
b u r g. Preis K 9-60. Whe dei' Herausgeber betont, hat die
vorliegende Auflage gegenülier der siebenten eine vollständige
Uinarbeilung und gründliche Revision erfahren.
Mr. Ph. J, Min des: Vlanuale der neuen Arznei¬
mil lei für A])olheker, Aerzte und Di'ogisten. Fünfle Auflaa'<v
D e u I i c k e, Wien. Preis K 12.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
2(>2
Aus dem S a n i t ä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 4. Jahreswoche (vom 20. bis
26. Januar 1907). Lebend geboren, ehelich 618, unehelich 271, zusammen 889.
Totgeboren, ehelich 54, unehelich 25, zusammen 79. Gesamtzahl der
Todesfälle 705 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
18 7 Todesfälle), an Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 18,
Scharlach 3, Keuchhusten 1, Diphtherie und Krupp 10, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 1, Rotlauf 6, Lungentuberkulose 104, bösartige Neu¬
bildungen 45, Wochenbettfieber 4. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 30 ( — 15), Wochenbettfieber 8 (-j- 5), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 110 (-f- 4), Masern 358 (-|- 2), Scharlach 75 ( — 15), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 5 ( — 2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 91 ( — 7), Keuchhusten 39 (-[- 1), Trachom 4 (-)- 4),
Influenza 0 ( — 1).
Freie Stellen.
Zwei Assistenzarztesstellen in der Landes-Irrenanstalt
in Kulparköw (Galizien). Mit dieser Stelle sind nachstehende Bezüge
verbunden: 1. Jahresgehalt K 1400; 2. ein Kostrelutum von jährlich
K 816; 3. eine Wohnung mit Beheizung und Beleuchtung. Gesuche sind
beim Direktor der Landesirrenaustalt in Kulparköw bis einschließlich
20. Februar 1. J. einzubringen.
Stelle eines Distriktsarztes in Uj^cie Solne (Galizien).
Der Sanitätsdistrikt Ujscie Solne umfaßt 23 Gemeinden mit einer Be¬
völkerung von 11.400 Einwohnern. Haltung einer Hausapotheke not¬
wendig. Jahresgehalt K 1200, jährliches Reisepauschale K 700. Gesuche
sind bis 1. März 1907 beim Bezirksausschüsse in Bochnia einzubringen.
Nach erfolgter Ernennung ist der Posten sofort anzutreten.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindegruppe
Mannswörth-Albern bei Wien mit dem Wohnsitze des Gemeinde¬
arztes in Mannswörth mit 1. April d. J. zu besetzen. Mit dieser Stelle
ist der fixe Bezug von K 680, sowie die freie Wohnung verbunden. Bis¬
her war die Stelle vom niederösterreichischen Landesausschusse mit
K 900 jährlich subventioniert; der Landesausschuß ist jedoch nicht in
der Lage, eine bestimmte Zusage in Hinsicht der Wiedergewährung der
Subvention derzeit schon zu machen und behält sich die endgültige
Fassung bis zum Einlangen des Besetzungsvorschlages vor. Bewerber
um diesen Posten wollen ihre mit den im § 11 des Landesgesetzes vom
21. Dezember 1888 (L.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1889) vorgeschriebenen Belegen
(Heimatschein, ärztliches Diplom, von einem Amtsärzte ausgestelltes
Gesundheitszeugnis und Sittenzeugnis) versehenen Gesuche bis spätestens
1. März d. J. an das Bürgermeisteramt Mannswörth einsenden, welch
letzteres zur Erteilung von etwa gewünschten Auskünften bereit ist.
Gemeindearztesstelle für die 1700 Einwohner zählende
Gemeinde Schön na bei Meran (Tirol). Wartgeld K 800, außerdem er¬
hält der Arzt eine Naturalwohnung und freien Holzbezug. Führung einer
Hausapotheke notwendig. Ordination und Visiten werden nach getroffener
Vereinbarung honoriert. Gesuche christlicher Bewerber sind bis spätestens
1. März d. J. an die Gemeindevorstehung Schönna zu richten.
An die Redaktion gelangte Werke.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Ziegler, Experimentelle und klinische Untersuchungen über die
Histogenese der myeloiden Leukämie. Fischer, Jena 1906. M. 4‘50.
llöuck, Ueber die Rolle des Sympathikus bei der Erkrankung des
Wurmfort.-atzes. Ebenda. M. 4' — .
Wulff, Die Lehre von der Krebskrankheit von den ältesten Zeiten
bis zur Gegenwart. Ebenda. M. 20’ — .
Mense, Handbuch der Tropenkrankheiten. 3. Bd. Barth, Leipzig.
M. 28-—.
Ledermaiiii, Die Therapie der Haut- und Geschlechtskrankheiten.
3. Aufl. Goblentz, Berlin. M. 6' — .
Dörbeck, Geschichte der Pestepidemien in Rußland von der
Gründung des Reiches bis auf die Gegenwart. Kern, Breslau 1906. M. 6' — .
Krückiuaiin, Die Syphilis der Regenbogenhaut. (Augenärztliche
Unterrichtstafeln.) M. 7* — .
Hancock und Higashi, Das Kano Jiu-Jitsu (Jiudo). Hoffmann,
Stuttgart.
Fiir und Siredey, Maladies des Organes genito-urinaires de l’homme
et de la femme. Bailliöre, Paris 1907. Frcs. 8’ — .
Gerhardt, Ueber einige neuere Gesichtspunkte für die Diagnose
und Therapie der Nierenkrankheiten. Stüber, Würzburg. M. — '75.
Sobotta, Grundriß (s. Atlas) der deskriptiven Anatomie des
Menschen. 3. Abt. Lehmann, München. M. 12'— .
Lelnnaiiii und Neaiiianii, Atlas und Grundriß der Bakteriologie.
4. Aufl. Ebenda. M. 18' — .
Grünwald, Grundriß der Kehlkopfkrankheiten und Atlas der
Laryngoskopie. 2. Aufl. Ebenda. M. 10' — .
Huinm, Ueber Wundinfektion. Festrede. Hirschwald, Berlin.
Oetlingeii v., Studien auf dem Gebiete des Kriegssanitätswesens
im russisch-japanischen Kriege 1904/05. Ebenda.
Heiträtfe zur Chirurgie und Kriegschirnrgie. Festschrift zum
70jährigen Geburtstage Prof. Dr. Ernst v. Bergmanns. Ebenda.
Hardelelicn, Erfahrungen über Cholezy.stektomie und Chole-
zystenterostomie nach 286 Gallenstein-Laparotomien. Fischer, Jena.
M. 4-—.
Arrhenius, Immunochemie. Aus dem Englischen von A. Fink ei¬
st ein. Akademische Verlagsanstalt, Leipzig.
Muskat, Das intermittierende Hinken als Vorstufe der spontanen
Gangrän. Breitkopf & Härtel, Leipzig. M. — ‘75.
W'iuckel V., Shakespeares Gynäkologie. Ebenda. M. — '75.
Hepeiidorf, Akute infektiöse Osteomyelitis des Unterkiefers. Ebenda.
M. --75.
ToejHitz, Des Säuglings Ernährung und Pflege. Preuß &
Jünger, Breslau. M. — 40.
Ebstein und Schwalbe, Chirurgie des praktischen Arztes. 2. Hälfte.
Enke, Stuttgart. M. 12' — .
Bergmann und y. Bruns, Handbuch der praktischen Chirurgie.
3. Aufl. 2. Bd. Ebenda. M. 21-60, 5. Bd. M. 25-—.
Döring, Die mathematisch richtige Erklärung der Entstehung und
Vererbung der Geschlechter. Selbstverlag. Böhlitz-Ehrenberg.
Zsigmondy, Ueber Kolloidchemie. Barth, Leipzig. M. 2- — .
Krückmann, Die Syphilis der Regenbogenhaut. Kern, Breslau.
Müller, Hemmungen des Lebens. Beck, München. M. 3' — .
Blaschkes, Dolmetscher am Krankenbette. Deutsch, französisch,
englisch, russisch. W. R o t s c h i 1 d, Berlin, ä M. 8- — . (Konversationsbuch
für sich M. 2 50, Wörterbuch M. 6-50.)
Kirsteiii, Grundzüge für die Mitwirkung des Lehrers bei der Be¬
kämpfung übertragbarer Krankheiten. Springer, Berlin. M. IMO.
Lesser, Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 2. Teil,
12. Aufl. Vogel, Leipzig 1906. M. 8- — .
Ferdy, 1. Teil: Die Mittel zur Verhütung der Konzeption. 2. Teil:
Die Stellungnahme des Arztes gegenüber dem Verlangen nach Konzeptions¬
verhütung im Volke. Spohr, Leipzig. M. 2-40 und M. l' — .
Burwinkel, Die Lungenschwindsucht, ihre Ursache und Bekämpfung.
2. Aufl. G m e 1 i n, München. M. 1' — .
Michel, Hautpflege und Kosmetik. Ebenda. M. — '80.
Goebel, Die englische Krankheit und ihre Behandlung. Ebenda.
Rodari, Die wichtigsten Grundsätze der Krankenernährung. Ebenda.
M. —-60.
Callicart, The essential similarity of innocent and malignant
tumours. Wright, London.
Koeniger, Gardone Riviera am Gardasee als Winterkurort. 5. Aufl.
Springer, Berlin. M. 1-20.
Vorträge über Säuglingspflege und Säuglingsernährung, gehalten
in der Ausstellung für Säuglingspflege in Berlin im März 1906 von
Baginsky, Bendix, Langstein, H. Neumann, Salge, Selter,
Siegert und T r u m p p. Ebenda. M. 2’ — .
Aruetli, Diagnose und Therapie der Anämien. Stüber, Würz¬
burg. M. 9' — .
Jenseii, Organische Zweckmäßigkeit, Entwicklung und Vererbung
vom Standpunkte der Physiologie. Fischer, Jena. M. 5- — .
H. Weber und Parkes Weber, Climatotherapy and balneotherapy.
The climates and mineral water health resorts (spas) of Europe and
North Africa. Smith, Elder, London.
Jamiu und Meckel, Die Koronararterien des menschlichen Herzens
in stereoskopischen Röntgenbildern. Fischer, Jena. M. 10- — .
Struntz, Johann Baptist van Helm ont (1577 — 1644). Ein Beitrag
zur Geschichte der Naturwissenschaften. Deut icke, Wien.
Kern, Das Wesen des menschlichen Seelen- und Geisteslebens als
Grundriß einer Philosophie des Denkens. 2. Aufl. Hirschwald, Berlin.
Schreiber, Medizinisches Taschenwörterbuch für Mediziner und
Juristen. 2. Aufl. Beust, Straßburg. M. 3- — .
Bardeiilieuer, Die allgemeine Lehre von den Frakturen und
Luxationen mit bes. Berücksichtigung des Extensionsverbandes. Enke,
Stuttgart. M. 11- — .
Politzer, Geschichte der Ohrenheilkunde. 1. Bd. Ebenda. M. 20' — .
Ebstein, Arthur S c h o p e n h a u e r. Seine wirklichen und ver¬
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Wesener, Medizinisch-klinische Diagnostik. 2. Aufl. Springer,
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& Schwarzenberg, Wien. M. 12- — .
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Sindiug-Larsen, Beitrag zum Studium der Behandlung der Hüft¬
gelenkstuberkulose im Kindesalter. S.-A. aus dem Nord. med. Archiv.
Diltricli, Handbuch der ärztlichen Sachverständigentätigkeit.
2. Bd., 1. Liefg. C h i a r i H.: Leichenerscheinungen und Leichenbeschaue.
2. und 3. Liefg. Hab er da: Behördliche Obduktionen. 4. Liefg., Fort¬
setzung der 3., und Kolisko: Plötzlicher Tod aus natürlicher Ursache.
10. Bd. 1. — 3. Liefg. Netolitzky: Oesterreichische Sanitätsgesetze.
Verlag von W. B r a u m ü 1 1 e r, Wien.
EndeiTen und Gasser, Stereoskopbilder zur Lehre von den Hernien.
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Reich, Das irreguläre Dentin der Gebrauchsperiode. Ebenda.
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Grober, Einführung in die Versicherungsmedizin. Ebenda. M. 3-60.
Stier, Die akute Trunkenheit und ihre strafrechtliche Begutachtung
mit besonderer Berücksichtigung militärischer Verhältnisse. Ebenda.
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Bechterew, Die Persönlichkeit und die Bedingungen ihrer Ent¬
wicklung und Gesundheit. Bergmann, Wiesbaden 1906. M. U — .
Lobedaiik, Rechtsschutz und Verbrecherbehandlung. Ebenda.
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Buschan, Gehirn und Kultur. Ebenda. M. I bO.
Soberuheini, Leitfaden für Desinfektoren. M a r h o 1 d, Halle.
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Diem, Schwimmende Sanatorien. Im Verein mit Schiffsbau-Ober¬
ingenieur E. Kagerbauer herausgegeben. Mit zwei Schiffsplänen.
D e u t i c k e, Wien.
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
2üb
Yerhandlnngen ärztlicher Clesellschaften und Kongreßberichte,
INHALT:
Offlzielles Protokoll der k. k, Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 8. Februar 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 24. Januar 1907.
Verliandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 9. Januar 1907.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
' Sitzung vom 8. Februar 1907.
Vorsitzender: Prof. H. H. Meyer.
Schriftführer: Dr. Alfred Exner.
Dr. Pollak demonstriert einen sechsmonatlichen Säugling,
bei dem seit vier Monaten täglich eine reichliche Menge von
ca. 1 cm langen und 2 cm breiten, gurkenähnlichen, rötlich¬
grauen bis weißgrauen Gebilden mit dem Stuhle abgehen. Die
nähere (mikroskopische) Untersuchung ergab, daß es sich um
die Glieder einer Taenia cucumerina handelte. Bekanntefinaßen
kommt diese Tänienart ziemlich häufig im Dünndarm des Hundes
oder der Katze vor; die Tiere akquirieren den ßandwurm durch
Verschlucken der Hundelaus (Trichodectes latus) oder des Hunde¬
flohs (Pulex serraticeps), in denen der Wurm sein Zyslizerkoid-
stadium durchniacht. Beim Menschen ist die Taenia cucumerina
verhältnismäßig selten gefunden worden; As am (Münchener
med. Wochenschrift 1903) konnte nur 20 Fälle aus der Litera¬
tur zusammenstellen; fast sämtliche Fälle hetreffen Kinder
(hauptsächlich in den ersten vier Lebensjahren), die durch den
Kontakt mit den infizierten Tieren die Tänia akquirieren. Im
vorliegenden Falle läßt sich Urheber und Zeitpunkt der In¬
fektion genau feststellen: Die Mutter des Kindes, die angeblich
in ihrer IVohnung nie einen Hund oder eine Katze beherbergt
hat, machte mit ihrem damals fünf Wochen alten Säugling einen
Besuch hei einer befreundeten Familie, wo das Kind neben eine
Katze aufs Bett gelegt wurde. Drei Wochen nach diesem Er¬
eignis gingen die ersten Glieder ab und dieser Zeitraum wird
auch von den Autoren als der zur Reifung der Taenia cucu¬
merina erforderliche angegeben. Im vorliegenden Falle hat die
Tänia nicht die geringsten Symptome gemacht. Das Kind Int
seit dem Abgang der Glieder nie Verdauungsstörungen durch-
gemacht und ist recht gut gediehen. Von anderen Autoren (zum
Beispiel Brandt) wurden Darmaffektionen und Erscheinungen
von seiten des Zentralnervensystems (Krämpfe) beobachtet; hei
den erkrankten Tieren sieht man ziemlich häufig pathologische
Erscheinungen (Diarrhöen), epileptische Anfälle, wutähnliche
Attacken (Pseudolyssa). Zur Abtreibung des Wurmes wird von
manchen (As am) besonders die Kamala (0-5 bis 20 g, je nach
dem Alter des Kindes), von anderen das Extract. Filicis maris
(Sonnenschein, Hl o s e n h e r g) in vorsichtiger Dosis em¬
pfohlen.
Dr. Artur Horner, Assistent der 1. med. Abteilung im
k. k. allgemeinen Krankenhause : IVIeiiie Herren ! Ich erliuhe
mir, aus der Abteilung des Herrn Prof. Pal einen Fall von
Älißbi klung an der linken Hand vorzustellen. Es handelt sich
um eine 36jährige Patientin, die vor ungefähr einein Monate
unsere Abteilung wegen Anfällen von Schwindelgefühl, Schwäche
in den Beinen, Unsicherheit des Ganges und Sehstörung auf¬
suchte. Bis zu ihrer gegenwärtigen Erkrankung will sie immer
gesund gewesen sein, gibt jedoch an, bereits seit ihrer Geburt
an einer Vergrößerung des Daumens und Zeigefingers der linken
Hand gelitten zu haben.
Die Untersuchung der Patientin ergibt neben den Initial¬
erscheinungen einer Taboparalyse eine ziemlich bedeutende Ver¬
größerung des linken Daumens. Derselbe ist um IV2 cm länger
als der rechte Daumen, sein Umfang übertrifft den des rcchtmi
Daumens um 2 cm. Wie aus dem Röntgenbilde ersichtlich ist,
erscheint der Knochen in normalem Größenverhältnis, die \o-
lumszunahme betrifft nur die Weichteile. Aus diesem Grunde
kann man die Affektion auch nicht als partiellen Riesenwuchs
bezeichnen, da für diesen auch eine V^ergrößerung des Skeletts
gefordert werden muß. Der linke Zeigefinger der Patientin lehlt,
es findet sich an seiner Stelle eine Operationsnarbe. Wie uns
die Patientin mitteilte, wurde ihr derselbe wegen seiner exzessiven
Länge im Alter von acht Jahren, angeblich aus kosmetischen
Gründen operativ entfernt. Nach der Erzählung der Patientin
wurde sie bereits als achtjähriges Kind einer ärztlichen Gesell¬
schaft demonstriert. Tatsächlich findet sich in einem Sitzungs¬
bericht der Gesellschaft der xVerzte aus dem Jahre 1879, vom
4. April, die Demonstration eines Falles von partiellem Riesen¬
wuchs durch Herrn Prim. Hauke verzeichnet. Derselbe betraf
den linken Daumen und Zeigefinger einer achtjährigen Patientin,
wobei der linke Zeigefinger etwa dreimal so groß wie jener der
rechten Hand gewesen sein soll, verbunden mit außerordejitlicher
Schlaffheit des betreffenden Metakarpophalangealgeleukes. Ob
auch an dem Zeigefinger die Größenzunahme nur die Weichteile
betraf, läßt sich heute nicht entscheiden; es erscheint jedoch
bei der bedeutenden Länge des Fingers wahrscheinlich, daß auch
der Knocheji von der Affektion mitbetroffen war. Nähere Details
konnte ich über den Fall nicht eruieren.
Der Liebenswürdigkeit des Herrn Prof. Kolisko verdanke
ich die Abbildung eines ähnlichen Falles von Vergrößerung des
Daumens, über den mir jedoch keine weiteren Angaben zur
Verfügung stehen.
Ich habe mir erlaubt, den Fall vorzustellen, weil er immer¬
hin zu den selteneren Erscheinungen gehört und anderseits auch
die Möglichkeit vorhanden ist, daß das Präparat des operativ
entfernten Zeigefingers noch in einer Sammlung vorhanden ist.
Prof. Dr. Riehl demonstriert einen jungen .Mann, der an
Keratosis palmar is hereditaria leidet. (Der Fall wird
ausführlich beschrieben werden.)
Dr. Leischner bespricht mehrere Fälle von Schädel Ver¬
letzungen. (Erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Dr. Oskar Kraus demonstriert ein von ihm konstruiertes
Modell eines Zweiwegehahnes zur Blasenspülung und zur Harn¬
röhrenspülung nach Janet. Das Prinzip dieses Hahnes beruht
auf der wechselweisen Kompression des zu- oder abführenden
Schenkels eines T-Rohres aus Nelatongummi durch eine besonders
konstruierte Quetschklemme, die mit dem ganzen Apparate
an den Irrigatorschlauch einerseits, an die Harnröhre, respektive
den Katheter anderseits angesteckt wird. Die Vorteile gegenüber
anderen Apparaten sind die IMöglichkeit der absoluten Sterili¬
sation, sowie die einfachere Manipulation (mit einer Hand regier¬
bar). Der Zweiwegehahn wurde an den Abteilungen von I^rofessor
Zuckerkandl und Primarius Latzko erprobt und empfiehlt
sich besonders, außer zur Vornahme von kurativen Spülungen,
zum Reinspülen der Blase vor der Zystoskopie. Er wird von
Reiner in Wien angefertigt und läßt sich überdies zur Spülung
von Körperhöhlen mit abwechselnd heißen und kalten Hüssig-
keiten verwenden.
Dr. Oskar Semeleder: Verwertung des Körper¬
gewichtes zur Korrektur von B e 1 a s t u n g s d e f o r m i-
täten. (Funktionelle Behandlung des Plattfußes und
Klumpfußes.)
Meine Herren! Ich werde mir die Freiheit nehmen, Urnen
einige Fälle von Plattfuß und Klumpfuß' vorzustellen, welche
nach einer, wie ich glaube, neuen Methode korrigiert wurden.
Wir verwenden beim Plattfuß gewöhnlich Einlagen, welche ilie
Fußwölbung stützen und die bestehenden Schmerzen lindern
sollen. Eine Korrektur der Deformität zu erzielen, sind diese
Einlagen nicht imstande. Um eine solche Korrektur anzustreben
oder einer Verschlimmerung des Leidens vorzuheugen, sind v/ir
in vielen Fällen gezwungen, zu sogenannten Plattfußapparaten
zu greifen. Es sind dies Apparate, welche an der Seite des
Unterschenkels Schienen besitzen und durch Riemen die Knöchel¬
gegend nach außen zu ziehen trachten. Abgesehen clavon, daß
solche Apparate wegen ihrer Größe und ihres Gewichtes von
Patienten zurückgewiesen werden, kommt eine Therapie mit sol¬
chen Apparaten sehr bald zum Stillstand. Unter der Einwirkung
der Körperschwere entstehen nämlich an der Stelle, wo der
Knöchelriemen anfaßt, also am inneren Knöchel, Entzündungen,
Schwielen mit Schleimbeuteln oder Dekubitus und diese Therapie
muß eingestellt werden. Der nächste Schritt ist das Redresse¬
ment force, ln der Narkose wird der Fußi in eine üherkorrigierte
Stellung gebracht und in dieser durch einen Gipsverband fixiert.
Gelingt es uns nun nicht, vor Abnahme des Gipsverbandes
Bedingungen zum Verschwinden zu bringen, welche früher füi
die Bildung des Plattfußes maßgebend waren, so wird mit der
■204-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
Zuiiahuie der ÜL-wegliclikeil in den (fclenken bald wieder eine
Flalli'ußcinlage und endlich wieder der PlaUrußai)i)arai notwen¬
dig werden und das Rezidiv ist eingetreten. Aelinlicli geht es
mit so manchem Klumpfuß. Nehmen wir nur zum !ieis])iel die
paralytischen Formen. xMan kann manchmal mit ganz gejänger
Kraft einen solchen Fuß in eine normale Lage bringen, aber
wir besitzen keinen Apparat, welcher imstande wäre, auf die
Dauer in brauchbarer Weise die KoiTekturstellung a.ucb im Moment
der funktionellen Belastung durch das Körpergewicht aufrecht
zu eihalten. Man nimmt eingreifende Operationen vor, man ver¬
sucht die womöglich knöcherne Verödung der Gelenke, die so¬
genannte Arthrodese. Auch diese gibt unter der funktionellen
Helastung nach. Daß die Methode der Sehnentransi)lantatiou,
die diesbezüglich in sie gesetzten Hoffnungen leider nicht, oder
nur zum kleinen Teil erfüllt, ist bekannt. Wir sind also in sehr
vielen Fällen nicht imstande, auf die Dauer gegen das funktionell
einwirkende Körpergewdcht anzukämpfen und Rezidive zu ver¬
hüten. Deshalb dürfte eine Methode von Interesse sein, welche
meiner Meinung nach imstande ist, solche Rezidive sicher zu
verhüten, jede vorgenommene Korrektur (auch eine zum Teil
gelungene) im Momente der funktionellen Helastung aufrecht zu
erhalten, ohne daß eine sogenannte Ueberkorrektur notwendig
wäre. Nicht genug dai’an, ist in vielen Fällen diese Melliotle
allein schon imstande, die Korrektur der Deformität selbst ohne
jede Operation, ohne jeden Eingriff auf funktionellem Wege,
geradezu automatisch herbeizuführen.
Der Grundgedanke der Methode, von der ich nun sprechen
will, ist ein sehr einfacher.
Die Methode hat zum Gegenstand die Rehandlung von
Plattfuß, Klumpfuß, X- und 0-Beinen. Alle diese Deformitäten
stehen unter dem ungünstigen Einflüsse des Körpergewichtes:
entweder sind sie durch die Einwdrkung der Körperscbwere ent¬
standen, oder aber werden sie durch den Einfluß des Körper¬
gewichtes gesteigert, verschlimmert. Ich will Ihnen, meine Herren,
nun zeigen, wie eben diese selbe Kraft, nämlich die Körper¬
schwere, imstande sein kann, diese Deformitäten wieder in eine
noiinale Stellung zurückzuführen und in dieser dauernd, auch
im Momente der Funktion zu erhalten. Meine Herren ! Wenn die
Körperschwere imstande ist, das einenial ein X-Bein, das andere-
mal ein O-Bein zu erzeugen, oder das einemal einen Plattfuß,
das anderemal einen Klumpfuß, also entgegengesetzte Produkte zu
bilden, so ist es gar nicht einzusehen, warum unter bestimmten
Bedingungen die Körperschwere nicht auch einmal aus einem
X-Bein ein O-Bein und aus einem Plattfuß, einen Klumpfuß zu
erzeugen imstande sein sollte. Erzeugt dieselbe Kraft entgegen¬
gesetzte Produkte, so muß der Weg, welchen die Kraft in den
beiden Fällen nimmt, ein entgegengesetzter sein; z. B. ich habe
hier ein X-Bein, hier ein O-Bein auf gezeichnet u. zw. sehen
Sie zwei linke Beine von rückwärts gesehen dargestellt. Zeichnen
wir uns die Kraftlinien der Körperschwere in Beziehung auf
das Kniegelenk, so finden wir, daß hauptsächlich zwei Kräfte
auf das Knie einwirken: P 1 und P 2. Die eine Kraft wirkt
längs des Oberschenkels nach abwärts, die andere, tech¬
nisch ausgedrückt, die sogenannte Auflagerreaktion, wirkt längs
des Unterschenkels nach aufwärts. Diese beiden Kräfte vereinigen
sich zu einer resultierenden Kraftwirkung, welche horizontal ge¬
richtet ist; diese resultierende Kraft, P 3, wirkt im Sinne eirier
Steigerung der Deformität, teils durch Lockerung des Handappa¬
rates, teils durch Veränderung der Spannungsverhältnisse in den
Epiphysenfugen, Veränderung der Druckverhältnisse der Kondylen
und so weiter. Beim O-Bein sehen wir wieder die Kraft P 3,
jedoch in verkehrter Richtung tätig. Diese horizontal wirkende
Kraft ist während der Funktion wirksam, sie ist daher keine
konstante Kraft, sondern beim Stehen, Gehen, Laufen, Springen
und so weiter eine gesteigerte. Gelingt es uns nun, die Richtung
dieser Kraft nach Belieben zu bestimmen, so müssen auch wir
nach Belieben X- oder O-Beine erzeugen oder korrigieren können.
Vom mechanischen Standpunkte betrachtet, stellen diese beiden
Zeichnungen nichts anderes dar als zwei Hebel, welche die senk¬
rechtwirkende Körperschwere in eine horizontale Richtung über¬
führen. Wenn Avir nun mit Hilfe der Körperschwere dieser Kraft
entgegeiiAvirken wollen, so müssen wir ebenfalls imstande sein,
die senkrecht wirkende K ö r p e r s c h w e r e in eine hori¬
zontale Richtung überzuführen. Ich zeige Ihnen nun,
auf Avelche einfaclie Weise man imstande ist, diese Aufgabe
zu erfüllen u. zav. vom Unterschenkel her, ohne das Knie un¬
mittelbar zu fassen. Es ist nichts anderes als ein Winkelhebel,
Avelcher derart angeordnet ist, daß der eine Arm des Hebels
unter den Fuß zu liegen kommt, während der andere Arm an
der Seite des Unterschenkels heraufzieht und durch einen Riemen
unterhalb des Knies befestigt ist, AVälirend das Hypomochlion
des Winkelhebels sich seitlich neben dem Fuße befindet. Wirk!
nun das Körpergewicbl beim Stehen, Gehen, Laufen etc. aut
den unter dem Fuß belindlichen, horizontalen Hebelarm, so dreht
sich der Winkelhebel im Hypomochlion und der senkrechte Hebel¬
arm bewegt sich ungefähr in horizontaler Richtung u. zw. mit
einer Kraft, Avelche durch seitliche Verschiebung des Hypomoch-
lions beliebig gesleig('rt werrlen kann. Diese Kraft ist dann eben¬
falls keine konstante, sondern in gleicher Weise beim Stehen,
Gehen, Laufen etc. gesteigert. Diese HorizontalbeAvegung des unter
dem Knie angebrachten Hebelendes kann ich als Druck oder Zug
verwerten und dadurch die Kraftverhältnisse im Kniegelenk be¬
liebig beeinflussen.
Ich kann die deformierende Kraft der Körperschwere ab¬
schwächen, ich kann sie aufheben und endlich kann ich sie
durch geeignete Verlegung des Hyponiochlions in eine korri¬
gierende, in eine redressierende von entgegengesetzter Richtung
überführen. Man kann sich aber auch darauf beschränken, die
Belastungsverhältnisse in den Epipliysenfugen in ginistigeni Sinne
zu ändern und so das Wachstum des Knochens zu beeinflussen
trachten. Ich Avill nuj' erwähnen, daß die in Betracht kommenden
Apparate, um die schädliche Stoßwirkung des Körpergewichtes
beim Auftreten auszuschalten und um zugleich die Phase des
Auftrittes zu verlängern, elastisch konstruiert werrlen müssen
und werde auf ihre Konstruktion später noch zurückkommen.
Soviel, meine Herren, über den Grundgedanken der Viethode,
welche in einer im wesentlichen ähnlichen Weise auch bei der
viel Avichtigeren Behandlung des Plattfußes und des Klumpfußes
zum Ausdruck kommt. Vleine Herren ! Es gibt Plattfüße, deren
Entstehung auf ein ungleiches Wachstum in den Fpiphysenfugen
der Tibia und Fibula zurückgeführt Avird. Bei diesen Plattfüßen
dürfte vielleicht eine Korrektur in ähnlicher Weise zu erklären
sein Avie bei den schon besprochenen Kniedeformitäten. Eine
ganz andere Erklärung dürfte jedoch bei der großen Zahl von
statischen und paralytischen Plattfüßen oder Klumpfüßen am
Platze sein. Ich Avill gleich im vorhinein erwähnen, daß es mir
gelungen ist, nach dieser Viethode einzelne, selbst ziemlich hoch¬
gradige Fälle von Plattfuß in eine vollständig korrigierte Stellung
überzuführen und im Vlomente der Funktion in korrigierter odei'
überkorrigierter Stellung zu erhalten.
Wenn wir die Gesetze kennen lernen wollen, nach welchen
der Plattfuß sich entwickelt, wenn Avir den Weg kennen lernen
wollen, auf welchem die Deformität zustande kommt, dürfen
wir nicht das Endprodukt zergliedern und aus den Veränderungen
über den Gang, Avelchen die Deformität genommen hat, urteilen,
sondern Avir müssen den beginnenden oder gar den normalen
Fuß und seine BeAvegungen zum Ausgangspunkte unserer Beob¬
achtungen und Betrachtungen machen.
Vleine Herren ! Bekanntlich kann auch ein normaler Fuß zum
Plattfuß Averden. Der erste Weg, Avelcher zum primären Platt¬
fußstadium führt, Avird daher sicher in den physiologischen Bahnen
und Grenzen der Gelenke erfolgen. Betrachten wir z. B. einen
beginnenden Plattfuß im Vlomente der Belastung, so sehen Avir
folgendes: der Patient stellt den Fuß; in normaler Stellung auf
den Boden, im Vlomente der Belastung sclnvindet die Fu߬
wölbung, zu gleicher Zeit können Sie beobachten, daß die Knöchel-
gegencl sich dreht, es dreht sich auch das Bein nach eiruvärts
und Avenn der Patient auf diesem Beine steht, so folgt sein
Körper der Drehung des Beines. Packen Sie nun den Patienten
und drehen ihn in entgegengesetzter Richtung, so erscheint all¬
mählich Avieder die Fußwö'bung, drehen Sie den Patienten weiter
nach ausAvärts, so erscheint die normale Gestalt des Fußes und
drehen Sie den Patienten noch Aveiter, so geht der Fuß in die
Klumpfußstellung über. Diese Erscheinungen kann man, wenn auch
in beschränktem Vlaße, auch beim normalen Fuß während eines
solchen Versuches beobachten. Dieser Versuch zeigt, daß Knöchel¬
drehung und FußAvölbung in inniger Beziehung zueinander stehen.
Wenn Avir nun untersuchen, avo die Achse dieser Knöcheldrehung
liegt, so finden Avir, daß sie bei fixiertem Oberkörper einerseits
durch das Hüftgelenk, anderseits durch einen, ungefähr am hin¬
teren Fersenrande befindlichen Funkt hindurchgeht.
Zur Bestimmung dieser Achse unternahm ich folgenden
Versuch. Der Fuß eines Patienten Avurde mit der Sohle auf den
Fußboden fixiert. Am äußeren und am inneren Knöchel AVurde
eine Stahlspange in der Weise fixiert, daß die in einer horizontalen
j Ebene liegenden, nach vorne und nach rückwärts in je einen Zeiger
endigenden Stahlspangen jede Drehung des Fußknöchels genau
mitmachen. An der Spitze jedes Zeigers befand .sich ein Stift,
welcher bei der Drehung des F'ußknöchels je einen Bogen auf
den Fußboden zeichnete. Die Verbindung der Endpunkte dieser
beiden Bögen ergab zwei sich schneidende Idnion, deren Schnitt¬
punkt die Achse der Drehung anzeigt. Dieser Schnittpunkt liegt
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
205
nielli im Kuöchclgelenk, somlorn iiinler dcmselhcn, uugefahi- am
F('i-.seni)oi. Wir halieu dalier keine Dretinng nm (diie zeulraie
Aclise, süiiilern eine e x z e ii t r i s c li e S c li w e n k n n g der Knöelud-
gegend um diese Achse. Diese e x z e n I r i s c li e Sclnvenkung oder
Dreliung der Knöehelgegend kann icli durcli einen seillichen Zug
Oller Druck auf den Knöchel erzeugen oder auch eventuell he-
kämpfen, was bei einer zentrischen Drehung unmöglich wäre.
Da wir aktiv imstande sind, diese Schwenkung vorzu-
nehinen, so ergibt sich daraus, daß; wir Muskelgruppen besitzen,
welche innslande sind, in horizoidal-frontaler Hichtung eine Ver¬
schiebung der Knöchelgegend zu bewirken, also die heschriehene
Schwenkung zu erzeugen.
Da ich nun nach meiner Methode auch imstande hin, dundi
die elastisch einwirkende Körperschwere in beliebiger Richlung
diese Schwenkung hervorzurufen, so kann ich auch die eine
oder andere Muskelgruppe in ihrer Funktion ersetzen, falls sie
durch Lähmung oder Insuffizienz ihrer Aufgabe nicht gewachsen
wäre. Dadurch hin ich imstande, die Deformität zurückzuführen;
dadurch, daß die gelähmte n, noch lebe n d e n, aber d u r c h
Inaklivität atrophierten Muskel einen elastisch wir¬
kenden Antagonisten hekommen, wird ein funktions¬
tüchtiges Gelenk erzielt und ein Rezidiv v e r-
m i e d e n.
Die bei der Behandlung in Verwendung kommenden Appa¬
rate sind nach dem schon geschilderten Prinzipe gebaut. Sie
sehen hier die Knöehelgegend hei der Einwirkung des Körper¬
gewichtes nach der Seite gedrückt oder gezogen, unter dem Fuß-
hebelarm befindet sich eine einseitig wirkende Feder, z. R. Die nach
diesem Prinzipe gebauten Schuhe sind mit einem einseitig federn¬
den Absatz versehen, welcher der Körperschwere entsprechend
bezüglich der Kraft seiner Federung dosiert sein muß.
Auf diese W'eise ist es möglich, die Wirkung auf das
Knöchelgelenk, hzw. Sprunggelenk zu beschränken und jede Neben¬
wirkung auf das Knie zu verhindern; anderseits zeige ich Ihnen
hier eine Apparatkomhination, welche imstande ist, zu gleicher
Zeit, z. B. ein Ü-Bein und einen Plattfuß, oder ein X-Bein und
einen Klumpfuß^ zu beeinflussen.
Der Grundgedanke für die Apparatkonstruktion ist wohl
ein einfacher, ich möchte aber doch erwähnen, daß ungezählte
Versuche notwendig waren, die Apparate auf die Stufe der Voll
kommenheit zu bringen. Ich zeige Ihnen hier z. B. Schuhe, in
welchen wohl niemand einen orthopädischen Apparat, geschweige
einen von so mächtiger Murksamkeit vermuten würde. Wie jedes
stark wirkende Mittel, so können auch diese Apparate, von un¬
kundiger Hand in Ainvendung gebracht, zu Vlißerfolgen führen.
Obwohl ganz bedeutende Kräfte zur Anwendung kommen,
ist durch die elastisch federnde und intermittierende Art ihres
Angriffes jede Schädigung des Patienten verhindert.
Meine Herren! ich bin heute nur in der Lage, Ihnen drei
Plattfußfälle vorzustellen, an welchen Sie jedoch ganz gut die
Wirkung der Methode und die Wirkung der unscheinbaren Appa¬
rate erkennen können.
Ich zeige Ihnen vor allem eine Patientin, die an Platt¬
füßen leidet, welche unter einem Körpergewichte von 120 kg
stehen und welche sich nach der beschriebenen Methode durcii
das funktionell wirkende Körpergewicht aufgerichtet, korrigiert
haben und durch solche Schuhe in korrigierter Stellung erhaltiui
werden.
Als zweiten Fall möchte ich Ihnen einen Patienten vor¬
stellen, welcher in seinem Berufe Kaufmann ist und als solcher
den ganzen Tag stehen muß:; er ist auch genötigt, oft sein
schwere Lasten zu heben. Pat. konnte trotz Einlagen und auch
ohne solche, keinen Schritt ohne die heftigsten Schmerzen machen
und zog es deshalb manchmal vor, in seinem W ohnzirnmer auf
den Knien herumzurutschen, als zu gehen. Therapie durch das
funktionell wirkende Körpergewicht ohne jeden weiteren Ein¬
griff. Der Patient konnte nach einigen Tagen ohne Schmerzen
gehen. Die vollständig eingesunkene Fußwölbung stellte sich nach
zirka gechs Wochen wieder her und der Patient macht heute drei¬
stündige Partien, ist wie früher in seinem Berufe tätig. Schmerzen
sind nicht wieder aufgetreten.
Als dritten Fall stelle ich Ihnen ein Kind mit paralytischem
Plattfuß vor. Korrektur nach derselben Methode, die Stellungs-
koi’rektur wird durch einen Schuh der beschriebenen Art ei-
halten. Das Kind wurde vorher durch Jahre hindurch täglich
massiert, trug eine Stauungsbinde. Trotzdem konnte ich abei
erst durch Anwendung dieser Methode ein plötzliches, rasches
Anwachsen der Wademnuskulatur am gelähmten Beine kon¬
statieren.
Diskussion: Hofrat v. Eiseisberg begrüßt es, daß der
Vortragende, wie ihm scheint, eine wertvolle Verbesserung dei
'riii'iapii' aitgah und lioffi, d:tß Versuche mit dem iKuieii Ap()aral
günstige Resullati' geben werden.
Dr. Haudek: Das wesentliche hei dem demonsli ierten
Platifußapparat scheint die Wirkung der im Absatz angebrachten
Federvorrichtung zu sein. Dieselhi* hmvii'kt beim Auftreten ein
Einsinken der Außenseite des Absatzi.'s, wodurch der Fuß in
die Supinationsstellung übergeführt wird. Die Idee iUitspriclit im
Prinziiie dinn von B e (d y angegeheium schrägen Absatz. Die
an der Innenseite des Schuhes angehraidite Sidiiime soll nach den
Ausführungen des Vorfragenden den Zweck haben, das Sprung¬
gelenk nach außen zu drängen, ohne daß bei dieser Vorrichtung
die so häufig anftretende Druckwirkung am inneren Kimcliel
zur Geltung kommt. Wenn der Wirkung der Schien.e tatsächlich
ein Einfluß zukommen soll, so glaubt Haudek, daß dies auch
hier nicht ohne Druck ahgehen wird. Der Vortragende mklärl
das Ausbleiben von Dekubilus bei seiner Vorrichtung dadurch,
daß im unbelasteten Zustande des Fußes die Druckwirkung auf
hört. Dies ist auch bei den bisher in Anwendung gezogemm
Vorrichtungen der Fall, da hier der Druck der innenseitig ange¬
brachten Schiern,* oder Feder nur im Momente der Belastung ziii'
Geltung kommt, wenn das Sprunggelenk in die Valgusstellung
kommt. Die gezeigten Erfolge sind ja sehr schön und müssen
zur Erprobung des Apparates veranlassen.
Dr. Oskar v. Hovorka: Obwohl die soeben be¬
schriebene neue Plattfußbehandlung nicht in allen Teilen als
neu zu bezeichnen ist, so macht sie auf jeden Fall den Eindruck
einer originellen Idee. Ich bin der Ueberzeugung, daß diese
Idee einer Nachahmung sicher wmrt ist. Die uns vordemon¬
strierten Schuhe stellen eigentlich eine elastisch federnd gemachte
schiefe Ebene dar und ich erinnere bei dieser Gelegenheit an das
von mir vor drei Jahren in die Plattfußtherapie eingeführte so¬
genannte ,,Supinatioii3brett“,^) welches sich seitdem unter den
aktiven Behandlungsmethoden des Plattfußes ganz gut bewährt
hat. Der Schuh von Semeleder hat den Vorzug, daß er den
kranken Fuß bei jedem Schritte, sozusagen ambulatorisch dazu
zwingt, in korrigierter Stellung die IJebung mitzumachen.")
Dr. Engel mann bemerkt, daß er öfters bei Plattfüßen
die Patienten schiefe Absätze mit Gummikeilen tragen ließ, welch
letztere immerhin eine gewisse Kompression hei Belastung zu¬
lassen. Er gibt die gute Wirkung der funktionellen Belastung
durch das Tragen der Semeleder sehen Schuhe zu, nur findet
er dieselben zu schwer und weist darauf hin, daßi durch die sehr
starke Versteifung der äußeren Fersen- und Knöchelgegend das
Entstehen von Dekubitus zu befürchten ist.
Dr. Haudek weist noch darauf hin, daß eine federnde
Vorrichtung zur Behandlung schwerer Plattfüße auch von Wolf er¬
mann angegeben wurde; es ist dies eine an der Innenseite
des Schuhes angebrachte, enorm gebogene Feder, die in Kulissen
läuft und zugleich mit einer elastischen Redression einen leichteren
Gang ermöglicht. Haudek muß auch die bisher übliche Be¬
handlung gegen die Angriffe des Vortragenden in Schutz nehmen.
In leichten Fällen von Plattfuß wird die Anwendung rationeller
Plaltfußeinlagen, resp. Plattfußsohlen sicher zum Ziele führen,
ln schwereren Fällen ist der Grund des Mißerfolges gewöhnlich
in dem ITnstande zu suchen, daß eine entsprechende Behand¬
lung mittels Massage und Gymnastik unterlassen wird. In den
schwersten Fällen wird man mit dem forcierten Redressement
gewiß zum Ziele kommen, wenn die Fixationsperiode nicht über
drei Wochen ausgedehnt und dann sofort eine energische Massage-
imd Gymnastikbehandlung durchgeführt wird. Es werden dann
wohl auch die von manchen Seiten geübten Operationen über¬
flüssig sein.
Prim. Dr. v. Fried Länder: Ich finde es ganz begreiflich,
daß jeder Orthopäde in dem neuen Verfahren Anklänge an die
von ihm geübte Methode findet. Aber es handelt sich dabei ent-
sebieden um eine Verkennung des ganz neuen Prinzipes, die
schädliche, uns in vielen Fällen geradezu für das Entstehen
der Deformität verantwortlich zu machende Körperlast^ in eine
therapeutisch wirkende Kraft umzuwandeln. Daß die Konstruk¬
tionen Dr. S e m e 1 e d e r s in W irklichkeit das leisten, was sie
rechnungsmäßig leisten sollen, davon konnte ich mich in einer
Reihe von Fällen überzeugen, die Herr Dr. Semeleder an
meiner Abteilung im Wilhelminenspitale und aus meiner Privat¬
praxis zur Behandlung übernommen hat. Ich konnte mich nicht
nur von der subjektiven Brauchbarkeit der Apparate, sondern
auch von ihrer ganz eminenten modellierenden Wirkung über¬
zeugen. Derartige Erfolge strebt wohl jeder Chirurg und Ortho-
*) Zeitschrift für orthop. Chir., Bd. 12. • i j ■
2) Nachtrag: Es ist schließlich zu erwähnen, daß Nikoladoni
kurz vor seinem Tode Plattfußeinlagen anfertigen ließ, welche im Schuh
um eine dem Chopartschen Gelenke entsprechende Achse wippten.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
20fi
päde au ; das Ziel ori'eicht hat nach nieiner Ueherzeugimg erst
Dr. S e m e 1 e d e r.
Dr. Seineleder; (Schlußwort); Äleiiie Herren! Nach dem
der Älethode zugrunde liegenden Prinzipe können die verschie¬
densten Apparatformen konstruiert werden. Ich habe Ihnen eine
Ausführungsform als Schuh gezeigt, weil ich annehme, daß die
unauffällige Form des Apparates als Schuh von psychischem
Einfluß auf den Patienten ist. Der schiefe Absatz des Beely-
schen Schuhes adaptiert sich beim ersten Auftreten des Fußes
der horizontalen Bodenebene und wirkt als Keihinterlage. Der
Schuh paßt sich der Deformität an und nicht die Deformität dem
Schuhe. Zur Vermeidung des häßlichen Aussehens wurde die
Keilunterlage in das Innere des Schuhes verlegt und sowohl unter
der Ferse, als auch unter dem Vorfuße verwendet. Zerlegen
wir uns nun den Plattfuß in eine vordere und eine hintere
Hälfte, so zeigt der vordere Teil die Form einer breiten Platte,
während der hintere Teil (Kalkaneus und Talus) im Durchschnitt
ungefähr die Form eines Ovoides darstellt, dessen Längsachse
schief (in Valgusstellung) steht. Diese schief stehende Achse
durch eine schiefe Unterlage aufzurichten, dürfte kaum ge¬
lingen, da ja die Schwerlinie einwärts vom Fußpuidcte des Ovoides
fällt. Es wird ein Ahgleiten nach der Seite (auswärts) erfolgen,
aber nie eine Aufrichtung. Beim Vorfuße ist es wohl leicht,
durch eine Keileinlage die Supination zu erzielen; doch steigert
eine solche die Deformität, weil der Vorfuß ja ohnehin schon
gegenüber dein hinteren Fußahschnitte in Supinationssteilung sich
befindet. AVenn ich vorhin erwähnte, daß es mir ein Leichtes
ist, hei einem 80 kg sclnveren Patienten einen Seitendruck von
40 kg auf die Knöchelgegend zu erzielen, so kann ich sagen,
daß wir solche Kraftwirkungen zur Korrektur auch wirklich
hi'auchen. Bezüglich der Wirkungsweise der AVolf ermannschen
Einlage dürfte sich der Herr Kollege geirrt haben; sie verfolgt
nicht den Zweck, im Momente des Auftretens korrigierend zu
wirken, sondern nachzugeben, um dann dem Fuße im unbe¬
lasteten Zustande, also nach dem Ahhehen des Fußes, durch
ihre Federkraft eine geAvisse bessere Form zu gehen.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 24. Januar 1907.
K. R e i 1 1 e r und L a u b e r stellen einen F all von typhöser
Neuritis des Nervus opticus vor. Eine Frau erkrankte
an Typhus; in der dritten Krankheitswoche traten Schmerzen
in den Beinen auf, welche von den Knien gegen die Knöchel
ausstrahlten, die Peronei waren druckempfindlich (Neuritis). Dann
begann Pat. schlechter zu sehen und das rechte Auge fing an
zu schielen. Die ophthalmoskopische Untersuchung ergab Neu¬
ritis des Nervus opticus. Beide Papillen waren geschwollen,
stellenweise waien in der Retina Hä,morrhagien zu finden. Bis
jetzt sind ca. 20 Fälle von Neuritis optica bei Typhus beob¬
achtet Avorden; in einer Anzahl von Fällen scheint dieselbe
von den Vleningen fortgeleitet, in anderen toxischen Ursprungs
gewesen zu sein.
IM. Salomon bemerkt, daß er eine intrameningeale Druck¬
steigerung mit Druckpapille hei Typhus öfters beobachtet habe.
Laub er erwidert, daß in dem Falle nicht eine Stauungs¬
papille, sondern eine Neuritis optica vorlag, welche auch auf
die Retina ühergegriffen hat.
H. V. Schrötter bestätigt aus eigener Erfahrung, daß
die Komplikation des Typhus mit Neuritis optica sehr selten ist.
A\'. AV intern! tz hat unter ca. 600 Typhusfälleu keineii
mit einer solchen Komplikation beobachtet.
K. V. N o o r d e n bemerkt, daß es sich in den von Salomon
beobachteten Fällen um Stauungspapille, nicht um Neuroretinitis
gehandelt habe.
K. Reitter und A. Exner stellen einen Mann vor, hei
Avelchem eine Cholecystitis posttyphosa operativ be¬
handelt Avorden ist. Pat. hatte vor einigen Jahren Schmerzen
unter dem rechten Rippenbogen, Avelche auf eine Magenaffeklion
bezogen AAmrden. Im AMrjahre machte er Typhus durch, Avohei
die Leber druckempfindlich Avar. AMr einigen Wochen stellten
sich krampfartige Schmerzen in der Lebergegend und Ikterus
ein, die Leber Avar vergrößert und besonders in der (legend
der (iallenblase druckempfindlich. Die Diagnose lautete auf
Cholelithiasis, vielleicht auch Cholezystitis. Bei der Operation
wurden in der Gallenblase kleine Steinchen vorgefunden, aus
denselben und der Galle wurden Typhushazillen gezüchtet. Außer¬
dem AA'urde ein retroperitoneal gelegener, faustgroßer Tumor kon¬
statiert, Avelcher dem Pankreas angehörte; dieser verschwand
nach der Operation spontan. ATelleicht handelte es sich um
eine Pankreatitis auf typhöser Basis.
R. Kolisch bemerkt, daß Symptome von Cholezystitis
das erste Anzeichen des Typhus bilden und eventuell als Indi¬
kation zu «einer Operation aufgefaßt Averden könnten, Avie Ko¬
lisch in einem Falle gesehen hat.
H. Schlesinger hat bei Typhus dreimal Cholezystitis
beobachtet, Ikterus Avar nur einmal vorhanden. Die Heilung
erfolgte ohne Operation.
H. Teleky trägt, oh der Harn auf Zucker untersucht
Avurde, da hei Pankreaserkrankungen mitunter ein schwerer Ikterus
infolge Kompression des Choledochus auftritt, ferner ob nicht
die Erkrankung der Gallenblase das Primäre war, Avorauf sich
dann in der letzteren Typhushazillen ansiedelten.
K. Reitter ei'Avidert, daß vor der Operation kein Zucker
im Harn nachweisbar Avar. Die ZAveite Frage läßt sich nicht
entscheidend heantAvorten ; es ist möglich, daß die Typhus-
bazillen nicht die Ursache des Entzündungsprozesses der Gallen¬
blase geAvesen sind.
H. Schlesinger berichtet über Typhusfälle, Avelche mit
Symptomen einer Appendizitis begannen.
G. No bl demonstriert eine Frau mit Erytheme in-
duree Bazin. An den Unterschenkeln sitzen im subkutanen
ZellgeAvehe halbkugelig prominierende, AÜolette, derbe und scharf
umschriebene Knoten, Avelche nirgends eine geschAvürige Um-
Avandlung erfahren, trotzdem sie stelleiiAveise erAveicht sind ; sie
Averden dann langsam resorbiert. Diese schmerzlose Affektion
besteht seit drei Älonaten, vor einem Jahre hat Pat. dieselbe
Erkrankung durchgemacht. Pat. hat skrofulöse Lymphdrüsen und
eine Lungenspitzenaffektion. Histologisch bestehen die Knoten
aus tuberkulösem GranulationsgeAvehe, der NachAveis von Ba¬
zillen ist in demselben jedoch nicht gelungen.
J. Fl e sch stellt eine BT-au mit koordinatorisch er
Störung der Phonation vor. Pat. Avurde vor 14 IMonaten
durch einen Schreck aphonisch, nach einigen Monaten kehrte
die Sprache zurück, sie Avar aber nur hei der Inspiration mög¬
lich, Avährend der Exspiration konnte Pat. überhaupt nicht
sprechen. Der Kehlkopfbefund und die Atmung sind normal.
Die Behandlung besteht in kräftiger Faradisation am Halse und
x\tmungsgynmastik. Pat. kann jetzt auch schon exspiratorisch
phonieren.
TI. V. Schrötter und AAT Roth Avünschen näheren iVuf-
schluß über die laryngoskopische Untersuchung.
J. Flesch erAvidert, daß nach der Untersuchung von
Ko sc hi er der laryngoskopische Befund und das A’^erhalteu der
Stimmbänder normal Avaren.
S c h o ß b e r g e r stellt einen Mann mit b lause h. w a r z e r
Pigmentierung der Zunge und mit Drinkelfärbung der
Finger der rechten Hand und der Bauchhaut vor. Pat. leidet
seit seiner Jugend an multipler Knochenkaries, ist anämisch
und hat beiderseitige Lungenspitzeninfiltration. Ueber die Ur¬
sache der Dunkelfärbung ist nichts zu eruieren.
H. Schlesinger demonstriert das anatomische Pr.äparat
eines Falles von Kompression des Rückenmarks durch
ein Sarkom der AAMrbelsäule. Ein 37jähriger Mann stürzte
Amr zehn Monaten auf das Gesäß und spürte seither Schmerzen
im Bereiche der Halswirbelsäule und des Kopfes. Vor fünf
Monaten erschien eine kleine AnscliAvellung im Nacken, dann
Avurden die rechten, später die linken Extremitäten gelähmt;
der rechte Arm Avar ausgesprochen atrophisch. Sensibilitäts-
störungen Avaren nicht nacliAveisbar, die Hirnnerven Avaren in¬
takt, Pat. konnte den Kopf gut beAvegen. Als Ursache der Lähmung
AAUirde ein paravertebraler Tumor der HalsAvirbelsäule ange¬
nommen, Avelcher das Rückenmark komprimiert. Die Diagnose
Avurde durch die Obduktion bestätigt; der Tumor Avar ein Sarkom,
Avelches in den Wirhelkanal eindrang und die ersten vier Zer¬
vikalsegmente des Rückenmarks komprimierte. Sonderbar ist die
gute BeAveglichkeit der oberen HalsAvirbelsäule bei dem Um¬
stande, daß ein Teil der Wirbelbogen dieses Abschnittes von
dem Tumor infiltriert Avar.
Ferner demonstriert H. Schlesinger das anatomische
Präparat eines Tumors der Hypophysis bei , Akrome¬
galie. Dasselbe stammt A'on einer 31jährigen Frau, Avelche
vor sechs Jahren unter reißenden Schmerzen in den Beinen
erkrankte und dann das Sehvermögen auf einem .4uge verlor.
Durch die ophthalmoskopische Untersuchung Avurde auf dem
einen Auge Atrophie des Optikus, auf dem anderen Hemianopsie
festgestellt. Dann entAvickelte sich das typische Bild der Akro¬
megalie. Pat. Avar dabei von kleiner Statur. Kopfschmerz Avar
nur im Anfang Amrhanden, die Kranke zeigte eine zuneinnende
1 Demenz und im letzten Monat' vor dem Tode häufig subnorniale
Nr. 7
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
20/
Temperaturen bis zu 35*’. Die Obduktion ergab ein großes klein¬
zelliges Sarkom der Hypophysis. In den letzten zwei Lebens¬
monaten entleerte Pat. eine kolossale Flüssigkeitsmenge durch
die Nase.
L. V. Fr a n k 1- H oc h w a r t fragt, ob im ersten Falle etwa.s
Näheres über das Trauma bekannt ist.
H. Schlesinger erwidert, daß der Sturz nicht schwer
gewesen zu sein scheint, da Pat. seinem Berufe nachgehen konnte.
W. Türk und Hel ly demonstrierten Präparate eines Falles
von seltener Blutcukrankung, als deren Ursache sie das voll¬
ständige Fehlen des granul ozytären Apparat('s an¬
nehmen. (Erschien ausführlich als Originalartikel in der vorigen
Nummer dieser Wochenschrift.)
Burger macht Bemerkungen zur Krankengeschichte des
zweiten Falles und verweist darauf, daß derselbe dazu mahnt,
die Diagnose und Prognose nicht auf Ctrund des Blutbildes
allein zu stellen.
Em. Schwarz erinnert an einen vor ungefähr vier .Jahren
von ihm in der Gesellschaft bespiochenen Fall von Sepsis mit
ähnlichem Blutbefunde, wie in den vom Vortr. besprochenen
Fällen. Vielleicht ist diese Blutanomalie eine bisher noch nicht
verständliche Reaktion auf eine Infektion.
Türkei bespricht einen ähnlichen Fall von Leukopenie.
W. Türk erwidert, daß die Diagnose im zweiten Falle
nach den bisherigen hämatologischen Erfahrungen gestellt werden
mußte. Den Fall von Schwarz hat Vortr. in seinen Ausführungen
zu erwähnen vergessen und wollte ihn im Schlußworte nach¬
tragen. Der Fall von Türkei lasse wohl nicht mit Wahr¬
scheinlichkeit die Deutung zu, daß es sich uni einen analogen
anatomischen Befund wie in den besprochenen Fällen ge¬
handelt habe.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
Sitzung vom 9. Januar 1907.
Vorsitzender : Finger.
Schriftführer : B r a n d w eine r.
Brandweiner demonstriert aus der Ambulanz der Klinik
Prof. Fingers einen 40jährigen Mann mit Skier osis redux.
Die Infektion hat vor sieben Jahren stattgefunden, der Patient
winde nur einmal einer spezifischen Behandlung unterzogen.
Brandweiner weist auf die wesentlichen klinischen Differen¬
zen hin, die das Bild einer Sklerosis redux vom Gumma unter¬
scheiden. Die Unterschiede bestehen vor allem in dem gänz¬
lichen Mangel jeder Tendenz zum Zerfall, der der Sklerosis
redux eignet. Sie bietet völlig das Bild einer frisch überhäuleten
Sklerose, doch fehlt jede Drüsenschwellung.
Ehrmann: Von ihm selbst sind Angaben gemacbt worden,
daß der Bau bei Sklerosis redux nicht dem eines Gumma ent¬
spreche, auch hatte er einen Fall vorgestellt, wo sowohl an Stelle
der Initialsklerose als auch an den Lymphgefäßen Sklerosierung
wieder auftrat, von Residuen an den Lymphgefäßen ausgehend.
Die Unterscheidung, Gumma, ein verkä.sendes, Sklerosis 'redux,
ein nicht verkäsendes Infiltrat, ist bekannt.
No bl bemerkt, daß die Reinduration des Sklerosenrestes
trotz der großen klinischen Aehnlichkeit mit dem Primäraffekl
bei der ätiologischen Gewebsuntersuchung von diesem namhafte
Abweichungen aufzuweisen pflegt. Nobl hat in letzter Zeit drei
Fälle von Reinduration des Endes des ersten Krankheitsjahies
mit der von Reichert angegebenen und von 1^ and stein er
und Mucha explorierten Dunkelfeldbeleuchtung auf
Spirochäten untersucht und trotz wiederhotter Entnahme von
Gewebsproben der spezifischen Einscldüsse nicht habhaft werden
können.
Brandweiner bemerkt, daß auch in dem von ihm vor-
geslellten Falle die Mitbeteiligung der Lymphgefäße deutlich zu
erkennen ist.
Nobl verweist 1. auf die Komponenten jener [)soiiasiforme)i
Hauterkrankung, welche nach dem Vorschlag Julius bergs als
Pityriasis lichenoides chi-onica bezeichnet wird; der
einen sechsjährigen Knaben betreffende Fall ist um so bemer¬
kenswerter, als die über dem Slernmn und den Extreinitäteu
disseminierlen, schuppeubedeckten Knötchen und bis fingernagel¬
großen, rosenroten, vielfach gerunzelt und wie exkaviert erschei¬
nenden, makulösen Herde mit einem charakteristischen, vorzüg¬
lich an Händen, Gesäß und Füßen lokalisierten, papulonekro-
ti sehen Tuberkulid vereint erscheinen. Die seit einem halben
Jahre verfolgte Eruption beidei’ ätiologisch sicherlich nicht zu¬
sammengehörigen Ausschläge schloß sich an Masern an.
2. Auf einen Fall von Primeldermatitis. Die Pflege
eines Exeniplares der Pj'imula obconica führte hei
einer 40.jährigen Frau zu foudroyant einsetzender Schwellung
und Rötung des Gesichtes, des Stammes und der Hände. Die
Wangen waren um ein Mehrfaches verdickt, die Lider in über¬
hängende, ödematöse Wülste umwandelt, dabei unerträgliches
Jucken, Brennen und schlaflose Nächte. Der abklingende Pro¬
zeß ist noch in Form einer diffusen, schilfernden Dermatitis
am Nacken und an den Armen festzustellen ; Krankheitsdauer
drei Wochen. Diese von Riehl zuerst des genaueren m'schlossenc
Pflanzendermatitis ist auf die reizende Wirkung einer in den
Drüsenhaaren der Blattstiele und Rippen enthaltenen braunen
Flüssigkeit zurückzuführen, welche bei der mikroskopischen Unter¬
suchung der eigenartig gegliederten, weichen Stacheln deulliidi
nachgewiesen werden kann. Hervorzuheben ist, daß sich die
Intoleranz der Patientin erst im Anschluß an eine Ver¬
brühung der Handgelenke entwickelt hat, indem sie bis dahin
14 Tage hindurch unbeschadet den Stock gepflegt hatte.
Ehrmann demonstriert einen Fall von Lichen chroni¬
cus Vidal. Eine 87 Jahre alte Frau mit einer mnschriebenen
IJaulerkrankung auf dem Halse, der Ellbogenheuge und der Kreuz¬
beingegend; teils abgeschliffene, lichenälmliche Effloreszenzeu,
teils exkoriierte Knötchen auf bräunlicher Unterlage; stellenweise
Nässen, Borkenbildung, IT'ticaria factitia vorhanden. Diarrhöen
seit Jahren mit Obstipation abwechselnd. Die Untersuchung des
Magensaftes zeigt vollständiges Fehlen der Säuren, Salz- wie
Milchsäure, sowie unverdaute Reste des Probefrühstückes. Er
fragt, wie die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft diese Krank-
heitsforni auffassen. Sie entspricht dem umschriebenen Ekzem
en plaques, der Neurodermitis circumscripta und dem Licheii
chronicus Vidal in den verschiedenen Phasen und Entwicklungs¬
stadien.
Spie gl er erklärt, es komme nicht so selir auf den Namen
an, den man dem ITozeß gebe, als vielmehr auf die Deutung
der Erscheinungen und ihres inneren Zusammenhanges. Hier¬
aus ergebe sich die Diagnose zwanglos von selbst. Analysieren
wir den vorliegenden Fall, so ergibt sich zweierlei: 1. Die¬
jenigen Erscheinungen, Avelche man als Urticaria papulosa kennt,
in Form von über das Hautniveau leicht erhabenen, rotbraunen,
derbinfiltrierten, etwa linsengroßen Knötchen. Da diese stark
jucken, werden sie zerki'atzt und sind an der Oberfläche- von
einem Blutbörkchen bedeckt. Zwischen diesen zerstreut und an
den oberen Extremitäten, Gesäß sehen wir 2., in mehr zusammen¬
hängenden Herden, die Erscheinungen eines reinen, in¬
filtrierten, chronischen, teilweise krustösen Ekzems. Wir haben
es also hier zu tun mit einer Urticaria chronica papulosa,
einer bekanutlich heftig juckenden Dermatose, kombiniert mit
dem durch das Kratzen erzeugten chronischen Ekzem. Diesen
Zusammenhang zwischen Kratzen und Ekzem kennen wir ja
seit Ferdinand Hebra sein- genau. In neuerer Zeit wurde, ohue
daß hiedurch in der Sache selbst unsere Kenntnisse er¬
weitert worden wären, für diesen Vorgang von Broeq der
Name ,;Lichenifikation“, von Besnier ..Lichenisation“ eiuge-
führt, lediglich eine Bereicherung unserer Nomenklatur. Geg(;u
den Ausdruck „Prurigo diathesicRie“ der Franzosen möchte ich
einwenden, daß^ wir unter dem Namen ,, Prurigo“ ein anderes, gut
charakterisiertes Krankheitsbild festgelegt haben. Fm kurz zu
resümieren, lautet meine Diagnose: Urticaria i)apulosa, kom¬
biniert mit dem durch das Kratzen bedingten chionischen Ekzem.
Der von Ehrmann bereits hervorgeholiene Dermographismus
entspricht ja übrigens dem urtikariellen Zustand.
Finger: Im vorigen Jahre wurde von uns ein analoger
Fall hier vorgestellt. Neumann stellte anfangs die Diagnose
Prurigo, bekannte sich spätei' aber doch zu Urtikaria. Der Prozeß
war am Stamm und an dmi Extremitäten ziemlich ausgebreitet,
z. T. zahlreiche Knötchen und beetartige Effloreszenzen, die mit
Borken bedeckt waren oder näßten. Spie gl er betonte damals,
daß dies ein Fall von Urticaria chron. sei. Richtig ist, daß
Jadassohn beim Kongreß in Bern einen analogen Fall als
Neurodermitis vorstellte. Nun müßte man von diesem Bilde ab-
ti-ennen, was Vidal als Lichen simplex acutus und als Lichen
chron. verstand. Bei ersterem haben die Effloreszenzen einen mehr
subakuten Charakter, ein ephemeres Dasein, während letzterer
ein mehr stabiles Krankheitsbild bietet. Bei unsercMU Kranklieitsf'ill
hinwiedeiiim ist eiiu' Rc'stilutio ad integrum völlig möglich. Die
gastrischen Störungen sprechen ganz Rir Urticaria chronica.
Ehrmann bemerkt, daßSpiegler dem von ihm genannten
Namen noch einen hinzug('fügt habe: Urticaria chronica. Aber
hier ist das Primäre das Jucken, das Sekundäre ist das Knöt¬
chen, daiu'ben bi'sleht die Urtikaria faktisch und es kommt zu
Ekzematisation, die mit zirkumskripten Lichenphupies abwech-
WIENEU KLINISCHE WOCHENSCnUIET. 1907
Nr. 7
soll. Er küuiie Abbildungen zeigen von Fällen, \vu diifanga nichts
naeh\veisl)ar war, dann Irat auf oiiinial Lichen, dann Ekzem auf
und dann wieder Lichen. Ein ähnliches Krankheilsbild sah er
in Paris untei' dem Namen LiclKui chronicus circuniscriptus Vidal.
Er biltel, die Lokalisation am Hals, in der Ellenbeuge und am
(lesäß zu merken. Unter den Karlsbader Patienten werden sich
vi(de mit solchen Hautleiden finden. Die lichenartigen Knötchen
sind aber ganz gewiß keine lAdikariatfiiaddeln, weil ihnen alle
Hei'kmale einer (Quaddel iiberhanpt fehlen.
Reines demonstriert ans der Aldeilung Prof. Ehr man ns
einen Fall von liiipus vulgaris bei einem 17 Monate alten
Kind(‘, wahrscheinlich durch Inokulation anläßlich einer Ver¬
letzung der Nasenspitze eidstanden. Ihmierkenswert sind das
Alter der Patientin und die Pathogenese des Lupns (Inokulations-
lupus).
Winkler demonstriert einen Kranken mit Periostitis
nach Typhus.
R. Volk: Wenn Winkler meinl, daß er durch den posi
tiven Ausfall der Reaktion nach Zugabe von aspiriertem Absze߬
inhalt zum Fick ersehen Diagnostiknm einen Beweis für eine
durch Ty])husbazillen lu'rvorgerufene Infektion geliefert hat, so
ii'i't er. Damit ist nur gezeigt, daß im Abszeßinhalt Agglutinine
vorhanden sind. Wollte man die postlyphöse Natur der Abszesse
erweisen, so wäre dies enlw^eder durch den Nachweis von Typhus¬
bazillen möglich, der nicht gelungen ist, orler man hätte mit
(dnem Immunserum im Abszeßinhail spezifische Präziiiiline be¬
kommen müssen; schließlich könnte aindi noch die Entstehung
von Typhusagglnlinin nach Einverleibung von Abszeßinhail heim
Versuchstier diesen Beweis erbringen.
Uli mann demonstriert einen Patienten mit Lupns ery-
t h e ni a t o d e s und ]> a p u 1 o n e k r o t i s e h e m T u b e r k n 1 i d, nach
Spengler liehandelt.
Die bereits vorgeführte ‘22jähr. Kranke ist mit zahlreichen
paiiulonekrolischen Tuberkuliden am Vorderarm und Schenkel,
besonders aber mil einer dimi Lupus erythematodes sehr ähn¬
lichen, Aveim nicht inil ihm identischen Affektion über dem Nasen¬
rücken, sowie seil ihrem neunten Lebensjahre mit einer nunmehr
obsoleten Felsenbeinkaries behaftet, linier fünf in steigender Dosis
giMiiachten Einsiiritzungen von Perlsuchltuberk'ulin nach Doktor
Karl Spengler sind nun die Hautmanifestationen liis auf An¬
deutungen gänzlich gescliwunden, neue nicht aufgetrelen; es be¬
standen nur leichte, lokale Reaktionen an den Injektionsstellen, so-
wde minimale Temperatursteigerung (nur einmal über 88-2'0- Ich
habe das Zurückgehen von typischem und sicherem Lupns ery¬
thematodes auf Allluhei'kulininjektionen im Wege der lokalen
Reaktionen schon des öfteren gesehen. Ob sich Perlsiudittuber-
knlin für derlei Haulaffektionen besser eignen wird, werden weitere
Erfahrungen zeigen.
Winkler vei'fügt auch über einen solchen Fall, den er
mit Altlnberkulin behandelt hat. ln demselben Irat Fieberreaklion
von 40” auf. Das Exanthem schwand. Nach dem Abklingen
der Reaktion verschwand der Effekt.
Uli mann: Wenn ich von einem Zurückgeben oder Ver¬
schwinden des Lupus erythematodes durch .Mttuberkulin oder
läu'lsruddtuberkulin gesi)rochen habe, so meiide ich natürlich
nicht jenes tem])orä)’(' Undeutlich werden nnler dem Einfluß der
r('akliven Scdiwellung und Hyperämie, sondern das definitive Ver¬
schwinden der infiltrierten, verfärbten und schup])enden Partien
auf immer od('r wenigstens auf lange Zeit hinaus, soweit ich
es wf'nigsleiis in mehreren Fällen beobachten koTinte. Daß mil-
nnt(‘r, wenn am Individuum tuberkidöse Veränderungen anderer
.\rt voihanden sind, doch auch wieder an denselben Stellen oder
anderwäi'ts Lupus erythematodes eintriti, das hat wohl mit diesem
Vorgang in therapeTdischer und diagnostischer Beziehung nichts
zu tun. I
Finger bespricht zunächst jeme Ers(dieiiiungen, welche von
den Autoren ziendicdi übereinstimmend als Cbarakteie der so-
genantden Lues maligna angesehen werden: Frühzeitiges Auf¬
treten papulöser, i'ascdi zerfallendei' Effloreszenzen der Haut,
Freibleiben der Seddeimbaut odei' hier Auftreten von nicht zer-
fallendfui, diphtlu't'oiden Fap('lformen, schwere Beteiligung des
Allgemeinbefindens. VerschlimiiHuaing oder zumindest keine Be-
i‘inflvissung der Krankheilserscdieinungen durcdi Quecksilber¬
behandlung.
Der Voll ragende (hnnonsl riiud dann fünf Fälle von Syphi¬
lis ulcerosa iiraecox, die in die vorstehende Drd'inilion nicht
hineinpassen, weil sie di(‘ angeführlim Erscheinungen nur teil-
weisi' darbieten. So zadgen die ersten beiden Patienten wohl
ulzeröses Syphilid und intensive Beteiligung des Allgemeinbefin¬
dens, reagieren abei' gut auf Quecksilber; der dritte Patient
zeigt eine Lues maligna, die aussfddießlich auf der Nasen- und
Rachenschleimhaul abläid't und sechs Monate nach der Infektion
mit ulzeröser Zerstöiung des weichen Gaumens begann. Die
beiden letzten Ikilicmten zeigen gummöse, zerfallende Ihuderschei-
nungen; der eine ein halbes Jahr, dei' andere zwei Jahre nach
der Infektion, aber keine für Lues maligna charakterislischen
Symptome.
Sc herber demonstriert 1. ein Präparat von (‘ineni Falle,
welcher die höchst seltemm Erscheinungen einer Phlebitis
migrans darbol. Der Fall, von Hofrat v. Ne ns so r zur Do-
monstralion ülierlassen, betrifft einen 82jährigen Arbeiter, der
im A])ril H)()4 mudi schwerer köi'iierlicher Anstrejigung unter
den Symploimm eiiu's Rheumatismus erkrankte; dabei traten
an versidiiedenen Slidlen des Körpers, besonders an den unteren
Extremitäten, Knoten auf. Zw^ei Badekuren brachten elwas Lin¬
derung und Rückgang der Erscheinungen; im Herbste' 1904 An¬
schwellung des linken Kiefergelenkes mit Kieferklemme. Im Fi üh-
jahr 1905 bildete sich in der rechten xVchselhöhle ein schmerz¬
hafter, haselnußgroßer Knoten, der bis unter die Kubita nach
abwärts wanderle; dann sei der Knoten wieder nach anfwärls
bis zur Gelenkslinie der Kubita gewandert, um von hier au
der Ulnarseile bis zum Handgelenk nach abwärts zu wandern
und hier unter einem sclnvarzen Pflaster, (ärztlich verordnet)
zu verschwinden. Als der Patient Ende Seplember 1906 auf
die Klinik v. Neusser kam, zeigte er an der Beugeseite des
linken Ai'ines, etwas olierhalb der Kubita, einen nußgroßen, mit
der Haut vei'wachsenen, derben, länglichen Tumor, der am
31. Oktober 1906 auf dej' 11. chirurgischen Klinik exstii'pieit
wurde. Am 15. November 1906 trat an der ulnaren Seite des
linken Ellbogens eine neue, längliche, derbe, auf Druck schmerz¬
hafte Geschwulst auf, welche von Erhsen- bis zur Haselnu߬
größe hei'anwuchs und ein deutliches Wandern nach abwäils
zeigte; mit diesem Knolen kam Pat. in die Ambulanz der Klinik
Finger. Der Knoten wanderle bis zum 24. Dezendjcr 1906
noch vier Querfinger nach ab- und ausAvärts an die Streckseite
d('s Unterarmes und bildete sich hier unter Jothioneinpinselungen
völlig zurück. Die Injektion von 0001 xVlttuberkulin rief
weder lokale, noch allgemeine Reaktion hervor. Der neue, in
seiner Wanderung Aum Scher her deutlich heobachlete Knolen
hatte sich in der Fortsetzung des exzidierten entwickelt. Das
demonstrierte Präparat vom exzidierten Knoten zeigt den Durch¬
schnitt einer Vene der Subkutis. Die Vene ist in ihrem ganzen
Umfang fast gleichmäßig in ihrer Wand pathologisch A'eräiidert.
Die Wand erscheiid bedeutend verdickt u. zw. durch Verbreite-
terung, besonders der Vledia und xXdventitia. ln der .Media sind
die Muskelbündel stark auseinandergedrängt, das dazwischen
liegende BindegeAvebe erscheint zellreicher; die Zellen sind teils
ein- und mehrkernige Rundzi dien, teils auch längliche Zellformen.
Die zellige Infiltration ist in den äußeren Schichten der Media
und in der Adventitia am reichlichsten und nimmt auch das
perivaskuläre Binde- und FettgeAvebe in lireitem Umfang ein.
Die Endothelzellen iler Inlima erscheinen nur stellenweise und
da in einfacher Lage erhalten. Es handelt sich in diesem Falle
um einen Fall von Phlebitis migrans; die diesbezüglichen
Publikationen sind äußerst spärlich, es sind dies die von E. Neis-
ser, Buschke und Schwarz.
Die Aetiologie unseres Falles isl unklar.
2. Eine 22jähiäge Frau mit zahlreichen Narben am Halse,
am Stamme und an den Extremitäten, wadche von einem, im
zehnten Lebensjahre bestandenen, Avahrscheinlich tuberkulösen
Prozeß herrühren. Vor drei Jahren ak(iuiri('rte Pat. Lues, lin
Frühjahr und Herbst 1904 Rezidive u. zw. beide Male unter
dem Bilde der auch jetzt Avieder aufgetretenen Erscheinungen.
Pat. zeigt an beiden unteren Extremitäten zahlieiche, teils
runde, teils längliche, derbe, auf Druck schmerzhafte Knoten
iin Unterhautzellgewebe; die Knoten entstehen in der Subkutis,
Avachsen langsam nach oben, verlöten mit der Haut, Avelche an¬
fangs nur leicht gefärbt isl, dann eiiu'ii livid rotbraunen Farben¬
ton annimmt. Schließlidi kommt es zur Exulzeration, Avie die
flachen GeschAvüre an den .Wadem zeigen. Die Injektion v<)n
0-001 Alllubeikulin ilef allgenu'ine, aber keine lokale Re¬
aktion hervor. Es scheint sich hier um jeiu's in Knotenform
auftrelende luetische Exanthem zu handeln, das, von den Ge¬
fäßen der Subkutis ausgehend, eben Aveil s('in(' Effloreszenzen
exrdzei'ieren, am besten als nodösi's Syphilid bezeiebnet Avird.
Finger: Nachdem bei der Patientin deutlich skrofulöse
Erscheiuungen nacliAveisbar sind, muß man an beide ätiologische
Momente denken: Tuberkulose und Liu's. Tuberkulin ist injiziert
Avorden; Pal. hatte allgemeine, aber keine lokale Reaktion.
Mucha demonstriert aus der Klinik Prof. Finger:
1. Einen Fall von Folliculitis decalA^ans. Der Pro
zeß ist zAvar bereits größtenteils mit kleinen, haarlosc'ii Narben
Nr. 7
WIENEU KLINISCHE WOCHENSCIHUFT. 1ÜÜ7.
ausgeheilL doch sieht man noch immer einzelne frische, folli- ;
knläre Infiltrate.
2. Eim; Frau mit einer etwa vier Monate alten Lues, mit
dem Sklei'osenrest an der rechten Mamilla, mit gruppiertem
papulösen Exanthem am Stamme und besonders unter der linken'
Mamma, papulösen Effloreszenzen am Augenlid, ad genitale und
im Munde, sowie luetischer Iritis.
3. Einen Patienten mit einer vier Monate alten Lues, ab¬
geblaßtem, makulösen Exanthem, sowie pustulösen Eftloreszenzen
in den Achselhöhlmi und auf dem Kopfe.
4. Einen Patienten mit bisher ludjehandelter, etwa vier
I)is lünf IMonate alter Lues, ahgeblaßtem Exanthem und orhi-
kulären, seborrhoischen Papeln im Gesicht, an der Brust und
an der Schulter.
5. Drei Patienten mit ausgebreiletem Lupus disseminatus,
die nach der von Karl Spengler angegebenen Methode mit
Perlsuchttuberkulin behandelt werden. Obwohl bis beute (nach
etwa zelmwöcbenllicber Behandlung) ein abscliließencles Urteil
noch nicht möglich ist, scheint es doch, daß eine Beeinflussung
des Prozesses durch die Injektionen möglich ist und daß die
Wirkung des Perlsuchttuberkulins der des alten Koch sehen Tu¬
berkulins überlegen ist; ob bloß eine vorübergehende Besse
rung durch diese Art der Behandlung zu erzielen ist oder Heilung
ei'ieicht werden kann, läßt sich derzeit nicht entscheiden.
IMucha und Landsteiner berichten über die Fort¬
setzung ihrer Untersuchungen über die Spirochaete pallida (mit
Hilfe der Punkelfehlheleuchtung).
Die Untersuchungen über die Lebensdauer der Spirochaete
pallida ergaben, daß sie im Laufe von etwa zwei Tagen die Eigen-
hewegung verlieren, wenn das Material, vor Austrocknung ge¬
schützt, zwischen Deckglas und Objektträger hei Zimmertem¬
peratur aufhewahrt wild. Bei 37*’ C wird die Bewegung zunächst
intensiver, schwindet jedoch noch früher als hei Zimmertempera¬
tur; hei Aufbewahrung im Eisschrank nimmt die Intensität dei'
Bewegung etwas ah, scheint aber eher besser erhalten zu bleiben,
doch konnte auch hier bis jetzt nicht länger als durch zwei
Tage Bewegung nachgewiesen werden. Präparate, die einer Tem¬
peratur von 45° C durch eine Viertelstunde ausgesetzt worden
waren, hatten ihre Beweglichkeit eingehüßt; höhere Temperaturen
führten zu noch schnellerem Beweglichkeitsverlust.
Weiters wurde die Einwirkung verschiedener Flüssigkeiten
eauf die Spirochaete pallida geprüft u. zw. : Normales Menschen¬
serum, Serum von Syphilitikern, Meerschweinchenserum, Kanin¬
chenserum, Wasser, Kochsalzlösung in verschiedener Konzen¬
tration, Bouillon, Peptonwasser, Hydrozelenflüssigkeit. Alle diese
Flüssigkeiten wirkten bewegungsbeeinträchtigend, keines der
Seren rief Agglutinationserscheinungen hervor. Der Umstand, daß
auch normales menschliches Serum die Beweglichkeit der Spiro-
(diaele pallida beeinträchtigt, könntr' vielleicht ein Grund d;i-
für sein, daß die Spirochaete pallida ungleich anderen Spiro¬
chätenarten kein eigentlicher Blutparasit ist. '
Sei'um eines, durch intraperitoneale Einverleil)ung spiro¬
chätenhaltigen Materiales immunisierlen Kaninchens zeigte inten¬
sivere schädigende Wirkung als normales Kaninchenserum. Die
Spii'ochäten zeigten unter der Einwirkung dieses Serums ah-
norme Bewegungsformen (Kontraktionen ähnlich) und nahmen
irreguläre Ruhestellungen an.
Weiters gelang es, ein Agglulinationsphänomen zu beob¬
achten, das sich in dem, von syphilitischen Effloreszenzen (Pa¬
peln und Sklerosen) gewonnenen Safte zeigte. Kurze Zeit muh
der Abnahme läßt sich in den Sekreten sehr oft die Bildung
von Sternfiguren und Häufchen beobachten, die allmählich zu¬
nimmt und nach einigen Stunden einen hohen Grad erreichen
kann. Nach den bisherigen Untersuchungen hat es den Anschein,
als oh diese Erscheitmng in länger bestehenden syphilischen
Effloreszenzen ausgesprochener wäre* als in jüngeren. Wenn man
berücksichtigt, daß ähnliche Erscheinungen hei der V(n'wendung
von Blutsernm der betreffenden Patienten fehlen, so ist daraus
wohl auf eine lokale Antikörpm'bildung (Agglutininhildungi)
zu ischließen.
Kyrie stellt das in K a y s e i- 1 i n g scher Flüssigkeit kon¬
servierte Präparat von dem Sarkom der großen Zehe vor, welchen
Fall Dr. Scherher aus der Klinik Prof. Fingers in dei'
vorletzten Sitzung besprochen hat. Aus dem makroskopi¬
schen Befund wäre nicht ohne weitei's zu sagen, oh das Neo¬
plasma von der Kutis oder Suhkutis ausgeht; eventuell wäre
auch an das Periost als Sarcoimnatrix zu denken. Dii' hislo-
logische Untersuchung ei'gibt, daß es sich um ein pigmentfreies
nävogenes Sarkom von alveolärem Ban hamhdi, welches in seinem
Aufbau und in der Anordnung der neoplasmatischen Einzel¬
elemente an die Rndothelsarkome erinnert.
Ehrmann bemerkt, daß er sich der Diagnose nävo¬
genes Sai’kom anschließe. Offenbar war es ein pigmentfreier
Nävus, aus dem das Sarkom sich entwickelte. Uigmentfreie
Nävn charakterisieren sich durch Mangel iler Melanoblasten
(Chromatophoren), welcher bedingt, daß die Zellen der Nävus¬
nester pigmentfrei sind. Ehr mann hält diese beiden Ele¬
mente auseinander, währeml Bibbert sie identifiziert, was die
Genese lietrifft. Im fertigen Pigmentsarkom sind sie ausein¬
anderzuhalten.
B. Müller demonstriert das Ergebnis eines in Gemein¬
schaft mil Oppenheim angestellten Versuches, das in deutlicher
Weise durch Hemmung der Hämolyse infolge Komplementah-
lenkung das Vorhandensein von Antikörpern im Serum eines
an Flpididymitis gonorrhoica leidenden Patieiden beweist. Die
hier verwendete Technik war dieselbe, wie sie von den Ge¬
nannten in einer früheren Arbeit angewendet wurde. .
M. Oppenheim demonstriert eine 15 cm lange, Va cm
Durchmesser zeigende, biaune, Röhre, die ein Patient, der wegen
chronischer Gonorrhoe mit Silbernitratinstillationen in der Klinik
Prof. Finger behandelt wui'de, in seinem (Morgenurin fand.
Unter dem (Mikroskop zeigt sich die Wandung dieses Schlauches
aus kubi.schen und platten Epit heilen zusammengesetzt, vom
Typus des Harnröhienepithels, mit reichlichen Körnchen erfüllt.
Es kam also zu einer Abstoßung des geschichteten Harnröhren¬
epithels in toto, auf die ganze vordere Harnröhre sich (u--
streckend (15 cm) und ohne daß der Zusammenhang der Epi-
thelien gelockert worden wäre. Eine Epithelmembran in solcher
Ausdehnung gehört gewiß, zu den größkm Selteidieiten, kleineia;
röhrenförmige Epithelparlien und lamellöse Schuppen findet man
ja häufig. Es ist der Zusammenhang der Epithelzellen wohl
nur so zu erklären, daß die austrocknenden Epithelzellen noch
genug Feuchtigkeit enthalten, um den Zusammenhang mit den
anderen Zellen zu bewahren. Die unmittelbare Ursache der Ab¬
stoßung waren die adstringierenden Silbernitratinstillationen.
Diese Ausstoßung von Harnröhrenepithelien darf nicht mit
dem Naiuen L'rethritis memhranacea belegt werden, da unter
dieser Bezeichnung eine sehr heftige Urethritis acuta gemeint ist,
bei der es zu einer kruppösen Entzündung der Schleimhaut und
zur Abstoßung von Fihrinbelägen kommt.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in
Böhmen.
XV. Sitzung vom 7. November 1906.
B. Fischt demonstriert ein ßVajähriges (Mädchen mit meh¬
reren ki'eisrunden, harten, scharf begrenzten und verschieblicdien
Tumoren in den oberflächlichen Partien der Bauchhöhle. Dieselben
sind auffallend dünn und haselnuß- bis kinderhandtellergroß. Sie
müssen als tuberkulöse Tumt)ren anges(dien werden und zeigen
weitgehende Uehereinstimmung mit den Geschwülsten des zu¬
erst von Barlhez und Rilliet als ,,Epiplocite plasticine“ he-
schriebenen Kraidcheitshildes, welches eine ausscliließliche oder
vorwiegend im großen Netze in Form isolierter, plattenförmigej’
Tumoren sich etablierende Bauchhöhlenluberkulose darstellt. Auf
RöiUgenhestrahlung gingen die Tumoren sehr zurück.
äVeiter stellt Fischt einen achtjährigen Knaben vor, der
als einer jener interessanten Fälle aufzufassen ist, die Oppen¬
heim als paralytische IMrm der Pseudobulhärparalyse beschrieb.
Die Erscheinungen begannen nach einer im vierten Lehensjahia'
durchgemachten, mdcomplizierten Masernerkrankung, so daß wohl
eine unter dem Einfluß' derselben entstandene infektiöse Enzepha¬
litis angenommen werden muß, aus der sich eine diffuse zerebrale
Sklerose entwickelte, deren Endeffekt die langsam bis zur gegen¬
wärtigen Höhe gediehene Krankheit darstellt.
XVI. Sitzung vom 14. November 1906.
V. .1 a k s c h : a) Dcunonstration eines Falles von A n e u r y s m a
des Arcus aortae und der Aorta a see tide ns mit über
kindskopfgroßer, deutlich pulsierender Geschwulst rechts vorn
Sternum.
h) Demonstration eines Falles von chronischer Blei¬
vergiftung, welcher wegen seiner Darmerscheinungen mit der
Diagnose ,,lleus“ auf die chirurgische Klinik gebracht worden
war. Bezüglich der Aetiologie wurde eruiert, daß der Patient
(Eisenbahnbediensteter,) sich seine Krankheit durch Manipulation
mit Bleiplomben zugezogtui hatte.
c) Zwei Fälle von chronischer (Manganvergiftung.
V. Jaksch betont namentlich die unter entsprechender Elektro-
und Mechanotberapie eingetrtdetu' Besserung des Zustandes. Die
Prognose ist demnach auch bei chronischer (Mangantoxikose gün¬
stig zu stellen. Seiner .\nsicht nach ist als wirksames Prinzip
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 7
hei der Vergiftung das in Slauhforin eingeatrnete Manganoxydul
anzusehen.
d) Denionslralion eines .Mannes, bei welchem ein mächtiger
Tumor d’er linken Flalsseite (histologisch Lympho-
s a r k o m) nach wenigen R ö n 1 g e n h e s t r a h 1 n n g e n nahezu voll-
sländig geschwunden war.
e) Demonstration von Röntgenaufnahmen von Schä¬
deln, unter anderem einer Platte von einem Falle von Akro¬
megalie, die einen deutlichen Tumor in der Gegend der Sella
turcica zeigt.
W a 1 k o : I ' e b (i r Magen- u n d 1 ) a r jn e r k r a n k u n g e n bei
(■ h r o 11 i s (■ 1 1 e r R 1 e i v e r g i f t u n g.
Der Vol l ragende berichtet über Untersuchungen der Alagen-
und Darmfunktionen bei 35 Fällen chronischer Rleivergiftung,
meist durch Dleistaubinhalation bedingt. In der Mehrzahl der
Fälle Avar die Salzsäuresekretion (freie und gebundene Salsäure)
vom Reginne der Erkrankung an hochgradig herabgesetzt oder
felille vollkommen ; dementsprechend bestand gewöhnlicb starke
Schleimprodnktion. Die Fermente, resp. Profermente fehlten nur
in den schweren Fällen. Die Störungen der motorischen Funktion
äußerten sich anfangs als Hypermol ilität, später als Atonie, doch
ohne vollständige Erschlaffung der Äluskulatur. Durch Kombina-
lion dieser Erscheinungen kamen Krankheitsbilder, ähnlich denen
scdiwerer clironisclier Gastritis, Gastritis anacida, subacida und
mucosa, der Acbylie und auch des Magenkrebses zur Reobachtung.
Der Verlaut war ein sehr protrahierter. Die sekretorische In¬
suffizienz blieb oft monatelang bestehen bei sub.iektivem Wolil-
befinden der Kranken, was bei dem Fehlen von iMotilitätsstörungen
des Magens für ein kompensatorisches Einsetzen des Darmes
spricht. Remerkenswert waren die Spätanfälle von Vergiftungs-
(‘rscheinungen zu einer Zeit, als die Arbeiter längst nichts mehr
mit dem Rlei zu tun hatten. Rezüglich der Genese der Magen¬
krankheiten kommen in Mel rächt: 1. Parenchym Veränderungen
der Schleimhaut; 2. Veränderungen des Rlutes; 3. die begleitende
Obstipation; 4. Erkrankungen der gastrointestinalen Nerven.
Die Fimktionsprüfung des Darmes ergab hauptsächlich das
Restehen von motoris(dien Störungen, während die Sekretion und
Resorption nur wenig beeinträchtigt Avar, Avie aus den Stuhlunter-
suehungen nach d('r S c b m i d t sehen Probemahlzeit hervorging.
XVII. Sitzung AM) m 21. November DJOG.
V. Jak sch bespricht den Verlauf des Falles von Aorloti-
aneurysma, Avelchen er in der letzten Sitzung vorgestellt hat.
Der Patient ging unter den Erscheinungen des Erstickungsloiles
infolge Durchbruches in den Herzbeutel plötzlich zugrunde.
M' ö 1 f 1 e r : a) ( ) e s o p h a g o t o m i e wegen eines F r e m d-
körpers. Heilung.
Ein 27jähriger iMann hatte im Schlafe sein Gebiß geschluckt.
iM it (1 er Schlnndsonde kam man in der Höhe von 18 cm auf einen
deutlichen Widerstand. Die Röntgenphotograpliie ließ deutlich
in der Gegend des ersten RrustAvirbels die Umrisse des Gebisses
(‘rkennen. Nach offener Rehandlung der Wunde glatte Heilung.
b) Ueber P a n k r e as z y s te n.'
Wölf 1er besprichl zunächst die SchAvierigkeilen, die sich
der Exstirpation der Pankreaszysten entgegoistellen tind stellt
hierauf einen 28jährigen Kranken vor. Reginn der Erscheinungen
vor acht Wochen. Da die Exstirpation der zwei bis drei Liter
einer hämorrhagiscben, tiüben Flüssigkeit enthaltenden retroperi-
lonealen Zyste AA^egen innigster VerAvachsung mil. der hinteren
i\IagenAvand nicht gelang, Avurde die Höhle, an deren Grund man
gelbe Massen (nekrotisches PankreasgeAvebe) sah, drainiert. Aus
der chemischen Flnlersuchung (v. Zeynek) ging hervor, daß
die Zyste in der Tat Pankreassekret enthielt. Die gering sezer-
nicuende Fistel schloß sich nach drei Monaten.
V. Lieblein stellt zwei Fälle von Schußverletzungen
vor, bei welchen er das Projektil auf operativem Wege ent¬
fernt hat. In dem einen Falle (28jähriger Kellner) Avar die Ein¬
schußöffnung in der rechten Gesichtshälfte, knapp am unteren
Jochhogenrand, ca. G cm An)r der äußeren Gehörgangsöffnung.
Eine Ausschußöffnuug Avar nicht vorhanden. Nach den pathologi¬
schen Veränderungen, die der linke Rulbus darbot, niußte der
Sitz des Projektils in den linken retrobulbären u. zav. in den
lem])oralen Anteil derselben \mrlegt AA'erden. Auch :.iie Lagebestini-
mung mittels Röntgenstrahlen führte zu dem gleichen Resultat.
Der \ ortiagende entferide in diesem Falle das Projektil, indem
(*r sich durch die lemi)oräre Resektion der lateralen Orbitahvand
nach Krünlein den Weg dahin bahnte. Heilung per primam.
Während vor der Operation der Kranke nur imstande war, Finger
in einer Entfernung von 2V2 m zu zählen, betrug die Sehschärfe
drei Wochen nach der Operation 0-2, Avar also beiläufig auf das
Doppelte gestiegen.
Im zAAmiten Falle (25jähriger Kaufmann) handelte es sich
um einen Pharynxschuß. Der Kranke kam zirka zAvei Monate
nach Amrübtem Suizidversuch an die Klinik. Die vernarbte Ein¬
schußöffnung fand sich in der Mittellinie des Halses zwischen
Zungenbein und Schildknorpel. Die hintere PharynxAvand Avar
durch eine teigige, gegen das hintere IMediastinuin sich erstreckende
Gesclnvulst vorgeAvölbt und zeigte in der Höhe des Schildknorpels
eine für die Fingerkuppe gut durchgängige Perforationsöffnung,
aus der sich Eiter entleerte. Die Röntgenaufnahme zeigte, daß
das Projektil im hinteren Mediastinum vor dem ersten Drustwirbel
lag. Der Vortragende entfernte das Projektil in der Weise, daß
er durch einen Schnitt am Innenrand des linken Sternokleido-
mastoideus die vordere Fläche der HalsAvirbelsäule bloßlegte und
die hier befiiidliche Abszeßhöhle öffnete. Am Roden derselben
lag frei das Projektil, das durch Fassen mit der Kornzange leicht
entfernt Averden konnte. Heilung.
R u b r i t i u s : Ueber F r ü h o p e r a t i 0 11 e n bei akuter
0 s t e om y el i I i s.
Als Frühoperationen kommen bei der Rehandlung der akuten
Osteomyelitis der langen Röhrenknochen in Detracht : 1. Die
primäre Auftneißelung mit Evidement des eitrig infiltrierten Kno¬
chenmarkes ; 2. die subperiostale Resektion der Diapjaysen. Die
erstere Operation ist imstande, einmal die Heilungsdauer erheb¬
lich al)zukürzen und ferner die Nekrosenbildung in den meisten
Fällen ganz oder teil\Amise zu verhüten, bietet also große Vorteile
gegenüber der konservativen Rehandlung, Avelche sich auf die
Eröffnung der Weichteilabszesse beschränkt. Ruhr i tins be¬
richtet über acht Fälle, bei Avelchen die primäre Aufmeißelung
ausgeführt Avorden war; zAAmi Fälle endeten trotz dieser letal.
Von den sechs geheilten Fällen Averden fünf vorgestellt. Rei
drei Fällen von Tibiaosteomyelitis und bei einem Falle von Osteo¬
myelitis des Radius gelang es, in höchstens 59 Tagen vollständige
Heilung ohne Nekrosenbildung herbeizuführen. Zum Schlüsse
demonstriert Rubritius noch einen besonders scliAveren Fall
von multipler Osteomyelitis, bei welchem primär die rechte Tibia
und die linke Fibula aufgemeißelt Avurden; trotz: scliAverer All¬
gemeininfektion (Staphylokokken im Dlute) gelang es, den Fall
durchzubringen, bei Avelchem sich im Aveiteren Verlaufe noch
eine Osteomyelitis des rechten Radius und des linken Humerus
entAvickelte.
Programm
der am
Freitag den rs. Februar 1907, 7 IJbr abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof, Dr, E. Lang stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Stabsarzt Dr. K. Franz: Demonstration.
2. Dr, L. Hofbauer : Herzmuskelkraft und Kreislauf.
Einen Vortrag hat angemeldet Herr Dr. C. v. Pirquet.
Bergmeister, Paltauf.
Um die reclitzelti^e Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermögiichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer iiocli am SitzmijcHabeuU zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Eschericli Donnerstag den 14. Februar 1907, um 7 Uhr
abends, statt.
Vorsitz: Dozent Dr. Zappert.
Programm:
I. Demonstrationen.
II. Dr. li. Bieuenfeld: Das Verhalten der Leukozyten in der
Serumkrankheit. Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 18. Februar 1907, 7 Uhr abends, im
Silzungssaale des Kollegiums, I., Rolenturmstraße 19, unter Vorsilz des
Herrn Prof. E. Finger statlfindenden wissenscliaftlichen Versammlung,
Doz. Dr. E. R. y. Czylilarz: Die neue Behandlung des Morbus
Basedowii.
V.r»ntworlHch*r Rddakteur: Adalbert Karl Trupp. VtrUg ron Wilhelm Braumüller in Wien.
Drnok von Bruno Burtelt, Wien, XVIII., Theresiengasee 8.
f
Die
,, 'Wiener kllulsctie
■Woclieiisclirlft“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nacli
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
Redaktion :
Telephon Nr. 16.282.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Aboiiuementsprel»,
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Insertions-
Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämlein,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
Abonnements deren Abbestel¬
lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
lu s era t e
werden mit 60 h = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebereinkommen.
Verlagshandlung:
Telephon Nr. 17 .618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang.
Wien, 21. Februar 1907.
Nr. 8.
INH
I. Oi'iginalartikel : 1. Erfahrungen, Beobachtungen und Versuche
im Stau- und Saugverfahren. Von Dr. Franz Riedl, Bad
Ullersdorf, Nordmähren.
2. Aus der Grazer dermatologischen Klinik. (Interim. Vorstand:
Priv.-Doz. Dr. Leo v. Zumbusch.) Zur pathologischen Histologie
der inneren Organe beim Verbrennungstod. Von Dr. R. Pollan d,
I. Assistenten.
3. Aus der II. Chirurg. Abteilung der k. k. Rudolfstiftnng. (Vor¬
stand: Primarius Priv.-Doz. Dr. 0. Föderl.) Zur Kasuistik der
Pneumokokkenmetastasen. Von Dr. Anton v. K h a u t z jun.,
Assistenten der Abteilung.
4. Aus der Prosektur der Landeskrankenanstalt in Brünn.
(Prosektor Doz. Dr. Karl Sternberg.) Ueber eine Fehlerquelle
bei der Ferrocyankaliprobe als Eiweißreaktion. Von Dr. Hugo
S c h m i e d 1, Marienbad.
5. Aus dem Institute für allgemeine Pathologie in Graz. (Vor¬
stand: Prof. R. Klemensiewicz.) Leitfähigkeitsbestimmungen der
Gleichenberger Mineralwässer. Von Dr. Johann v. Szaböky,
ein. Assistenten der kgl. Universität in Budapest, dz. Kurarzt
in Gleichenberg.
Erfahrungen, Beobachtungen und Versuche im
Stau- und Saugverfahren.
Von Dr. Franz Riedl, Bad Ullersdorf, Nordmähren.
In der Heilkunde dürfte es seit langem keine so für
die breitesten Schichten der Allgemeinheit hedeutungsvolle
Beobachtung und geschickte Nutzan-vvendiing in einem ziel-
be’wußten Verfahren gegeben haben, -wie es die in neuester
Zeit zur vollen Würdigung gelangte Stau- und Saugbehand¬
lung ist. Schon die Beobachtung und Bestätigung der Wir¬
kungsweise an Tierversuchen läßt es uns kaum glaubhaft
erscheinen, wie eine so natürliche Maßregel, auf der ein¬
fachsten Beobachtung fußend, mit so logischem und klarem
Erfolge, daß es einer besonderen Begründung fast gar nicht
bedarf, auf so weiten, geradezu mit Irrtümern gepflasterten
Umwegen erst in einer durch die Lösung der schwierigsten
Fragen großen Zeit zur Erkenntnis gelangen konnte. Dies
muß um so mehr wuudernehmen, als das Verfahren schon
mehr als zehn Jahre durch seinen Entdecker weit bekannt
war und damals schon, freilich infolge mangelhaften Ver¬
fahrens und zu wenig augenfälligen Erfolges nur als Volks¬
und Hausmittel, Vorläufer hatte.
Immer wieder las man in den letzten Jahren von
erfolgbelohnten Versuchen im Stauungsverfahren ; sie be¬
trafen aber stets zu lange dauernde und nicht immer ein¬
wandfreie Fälle. Auch außer diesen veröffentlichten machte
sonst einer oder der andere gelegentlich eine gute Erfah¬
rung damit, aber alles blieb im ewigen Zweifel und Vor¬
urteil stecken, bis wir uns endlich gegen die Gültigkeit
ALT:
II. Referate: Schwimmende Sanatorien. Von Dr. Karl Diem und
Ernst K a g e r b a u e r. Ref. : Dr. A. Hinterberger. — Die
Behandlung von Kranken durch Suggestion und die wahre
wissenschaftliche Bedeutung derselben. Von Dr. W. Br ü gel¬
mann. Physikalische Therapie der Erkrankungen des Zentral¬
nervensystems inklusive der allgemeinen Neurosen. Von
Dr. H. Determann. Untersuchungen über Muskelzustände. Von
Prof. Rieger. Die psychischen Störungen nach Kopftraumen.
Von 0. K Ölpin. Grundriß der Psychiatrie in klinischen Vor¬
lesungen. Von Karl Wernicke. Ueber Sprachverwirrtheit. Von
Dr. Erwin Stransky. Die Nervosität, ihre Ursachen, Erschei¬
nungen und Behandlung. Von A. Gramer. Ueber Neur¬
asthenie. Von E. Jendrassik. Die gemeinnützige Forschung
und der eigennützige Forscher. Antwort auf die von Wilhelm
Fliesz gegen Otto Weininger und mich erhobenen Beschuldi¬
gungen. Von. Priv.-Doz. Dr. Hermann Swoboda. Ref.: E. Rai-
mann.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
eines geradezu über Nacht erzielten Erfolges nicht mehr
wehren konnten und mm — ■ staunen wir!
Dieses Verfahren erstreckt sich auf alle durch Infek¬
tionen bedingte akute und clironisclie, örtlich begrenzte Ent¬
zündungen, Abstoßung toten Gewebes ohne oder mit, allen¬
falls nur nebensächlicher, Infektion, wahrscheinlich auch
auf Abstoßung oder Einschließung steriler Fremdkörper, so
daß wir darin einen hedeulenden Teil alltäglichster und ver¬
breitetster Erkrankungen inbegriffen sehen. Der Wert des
Verfahrens steht über jedem Zweifel; nur die Durchführbar¬
keit und Anwendungsweise ist noch nicht für jedermann
und alle so einfach und volkstümlich, daß es von allen
Aerzten und allen Kranken anfgenommen und glatt erledigt
werden könnte. Auch die Ergründung der Wirknngsursachen
und der größtmöglichsten Anwendungszweckmäßigkeit ist
zum vollen Aufbau des Verfahrens noch nötig.
Vor allem sehen wir in den bisherigen Berichten —
fast alle aus Spitälern und Ambulatorien — stets darauf
hingewiesen, den Kranken mit Stauverfahren nicht aus dem
Auge zu lassen; ja es wird von Bier selbst vor Anßer-
achtlassen dieser Vorsichtsmaßnahme gewarnt; und auch
das Saugverfahren stand bisher wohl meist unter jedes¬
maliger und beständiger Aufsicht des Arztes. Stauungs¬
und Saugverfahren, insbesondere ersteres, rufen oft fast
beängstigende Erscheinungen hervor, deren Bedenkenlosig¬
keit noch nicht über Zweifel steht, die zur Verallgemeinerung
gewiß noch Hindernisse bilden, und deren unbedingte Not¬
wendigkeit in solcher Hochgradigkeit noch unerwiesen war.
So ist es nicht zu verwundern, daß in manchen Berichten die
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
JMeinuiig auflaucht, dieses neue' Verlalireii vorläufig nocli
der Erprobung in den Spicalsainbulaforien zu überlassen,
bis es für eine allgemeine Durchführung geeignet wäre.
Nach einiger Erfahrung (210 Fälle) will ich nehen der
Besprechung der Schwierigkeiten hei breiter Durchführung
der Stau- und Saugbehandlung und deren Ersichtlichkeil
aus angeführten Belegen, wie mir scheint, geeignete Vor¬
schläge bringen, die ich bei Behandlung von Kranken nach
diesem Verfahren hefolgte, ohne jemals eine Beeinträchti¬
gung der bereits anerkannten vorzüglichen Erfolge beob¬
achtet zu haben. Auch Versuchsheobachtungen, die Ergrün¬
dung der Wirkung betreffend, werden eingeflochten sein.
Die Ambulatorien, insbesondere die chirurgischen,
denen neben Unbemittelten Krankenkassenmitglieder über¬
wiesen werden, sind sicherlich reichlich mit Arbeit ver¬
sehen, ebenso jene Aerzte, denen obiges Krankenmaterial
zufällt; und dieses gerade stellt die größte Anzahl der in
Betracht kommenden Erkrankungen. Wenn aber Kranke,
die bisher jedeti zweiten oder dritten Tag, seltener täglich,
zum Verbandwechsel kamen, oder mit Ohr- und Nasenleiden
nur zeitweilig zur Nachschau erschienen, fortan täglich
zwei- bis dreimal behandelt oder nachgesehen werden sollen,
bedeutet dies eine große Arheitshäufung, die kaum durch
die Abkürzung der Behandlungsdauer und Verminderung
der Kosten wettgemacht w^erden dürfte. Und was für eine
Probe würde eine längere, regelmäßige, mit Zeitverlust ver¬
bundene Behandlung für die im vorhinein ungeduldigen
Kranken bedeuten, zumal, wenn sie trotzdem ihren Unter¬
halt zu verdienen oder ihr Hauswesen zu bestellen be-
müssigt sind oder arbeitsfähig ihrem regelmäßigen Berufe
nachgehend nur früh und abeuds zur Behandlung Zeit finden,
wo weder Amhulatorium, noch Arzt behandeln kann? Was
dann, wenn sich hoch in den Bergen bei stundenlangen,
ungangbaren Wegen Arzt und Kranke unmöglich erforderlich
regelmäßig zusammenfinden können? Und eine Behandlung
mit derartigen Erscheinungen, die wohl nur bei kunstge¬
rechter x4.usführung des Verfahrens ohne Nachteil sein
dürfte, wie uns einige bisher mitgeteilte, trotz peinlichster
Sorgfalt mit ungünstigem Ausgange durchgeführte Fälle be¬
weisen, kann doch wohl unter den hestehenden Verhält¬
nissen die Besorgtheit des Arztes nicht herabsetzen. Wenige
ungünstig ausgegangene Fälle würden bedauerlichst die her¬
vorragende Güte des Stau- und Saugverfahrens vor der
breiten Allgemeinheit zu deren eigenem Nachteile in Verruf
bringen. Bei der großen ivlenge der Bedürftigen wäre dann
das Vorurteil um so tiefer, ein geradezu zur Schau wan¬
delnder Mißerfolg, wahrscheinlich auch ein nur zu oft un¬
gerecht angerufener Zeuge. Um so mehr muß unser Trachten
dahin gehen, die Wohltat des neuen Verfahrens den breiten
Massen selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen und
bedenkenlos zuteil werden zu lassen. Der Jubel über Chloro¬
form und Kokain war auch groß und doch kamen wir auf
Aetherrausch und Schleich-Lösung und sind noch nicht zu¬
frieden; und was für Bedenken trafen später die schnell
entschlossenen Chirurgen im serbisch-hidgarischen und bos¬
nischen Kriege zur Zeit zu geringer Beachtung konservativ
chirurgischer Behandlung.
Meine Erfahrungen erstrecken sich auf 210 Fälle in
einem Zeitraum von IV2 Jahren, so daß ich auch über die
Dauerwirkung des Verfahrens bei chronisch-entzündlichen
Erkrankungen, wie es insbesondere die tuberkulösen sind,
urteilen zu dürfen glaube.
Ich hehandelte mit dem Stau- und Saugverfahren:
4 A])kappungeii und Abqaetschungeii der Finger, 6 Unter-
schonkelgeschwüre, 2 Granulationsflächen (l an der Scliulter
nach Karbunkel, 1 an der großen Zehe nach Erfrierung), 14 Fu-
ruidadn (2 Nacken, 1 Wange, 8 Unterarm, 1 Schulter, 1 Unter¬
schenkel, 1 Gesäß), 4 Karbunkeln (3 Nacken, 1 Schulter),
2 heiße Abszesse, 10 Panaritien (1 unterdrücktes), 22 Phleg¬
monen (6 ünlei'arm, 6 Fuß, 1 Bauchdecke, 3 Gesäß [Säuglinge!,,
2 Unterscheidcel, 4 Hals), 20 Sehnenscheidenphlegmonen (4Hand-
jücken, 7 llohlhand, 9 Finger), 4 llotlauf (l Hand', 1 Ge¬
sicht, 1 Bein. 1 Gesäß), 10 Brustdrüseneiterungen,' 1 Drüsen¬
eilerung, 1 (dirige 'rrämmsackentzündung, 1 Abszeß bei Ekzc-in,
1 Lymphgefäßenlzündung, 1 Fistel nach Verletzung mit Knochen¬
abgang, 2 Thrombophlebitiden (1 große Schamlippe, 1 Unter¬
schenkel), 22 tuberkulöse Fisteln, 4 tuberkulöse Abszesse (2 Schul¬
ter, 2 Unterarm), 10 tuberknlöse Drüseneiterungen, 19 tuber¬
kulöse Beinhautentzündungen (ö Hand, 5 Finger, 4 Rippen,
3 Fuß', 2 Unterschenkel), 1 Lupus, 1 Ellbogengelenkstuberkulose,
5 Kieferbeinhautentzündungen nacb Zahnfäule, 2 Ekzeme, 4Slirn-
höhleneiterungen, 3 Slinknasen, 10 hypertrophierende Nasen¬
schleim hau tkatarrhe, 4 akute Mittelohrentzündungen, 11 chro¬
nische Mittelohrentzündungen, 3 Gehörgangsentzünduiigen.
Ich konnte durchwegs eine günstige Beeinflnssimg des
neuen Verfahrens auf den Krankheitsvorgang feststellen,
sofern eine richtige Anwendimgsweise Platz fand. In einigen
Fällen dagegen hatte eine unrichtige Dosierung der Stauung
oder Saugung bei Zuviel oder Zuwenig keine ausreichende
oder ungünstige Einwirkung. So konnte ich bei der Sau¬
gung Nekrose der Wundränder und der Reaktionszone sehen,
z. B. selbst bei Furunkelbehandlung als insbesondere Schä¬
digung des Granulationsgewebes, das auch durch zu starke
und dabei zu lange Stauung, bei Bläuung, benachteiligt
wurde. Hingegen brachte auch zu schwache Stauung nicht
die gewünschte Schnelligkeit des Erfolges.. Im allgemeinen
sah ich bei der durchgeführten Selbstbehandlung der Kran¬
ken nach dem Stau- und Saugverfahren mit den im folgenden
angegebenen Abänderungen, daß die Stauung eher zu wenig,
die Saugung mitunter zu stark durchgeführt wurde. Zum
Beispiel :
H., Hausiererin aus Z., zwei Stunden weit, zerfallender
Karbunkel auf der linken Schulter; angeordnet dreimal täglich je
eine Viertelstunde kurz unterbrechende Saugung, bei Granula¬
tionsbildung abgeschwäcbt fortzusetzen. Nach acht Tagen kam
die Kranke wieder und klagte über Beschwerden infolge der
Behandlung und Verschlechterung der Wundfläche. Der Augen¬
schein ergab eine Vergrößerung der Wunde auf das Doppelte,
von Kronen- auf Guldengröße, nekrotisches Granalationsgewebe
wie am Grunde eines Unterschenkelgeschwüres, grüngelbe Zone
der Haut ringsherum. Also offenbar zu starke Saugung: und da¬
durch bervorgerufene Nekrose. Nach Belehrung und Lanolin-
Vaselin als Deckung der zarten Granulation glatte, entschieden
beschleunigte Heilung; Ueberhäutung in zwölf Tagen.
S., Arbeitersgattin im Orte, mit Phlegmone von der rechten
Ferse bis zum äußeren Knöchel, durch Nageleintreten vor 14 Tagen
verursacht; starke Schmerzen bei Tag und Nacht bis gegen das
Knie, Temperatur 37-8°. Bei Druck auf die Gegend unter dem
Knöchel Eiterentleerung aus der Einstichwunde an der Sohle.
Ohne irgend andere Heilmittelunterstützung verordnete ich Ab¬
binden über dem Knöchel mit Kalikotbinde, in zwei bis drei
Stunden auf eine halbe bis eine Stunde aussetzend. In zwei
Tagen ließen die Schmerzen nach, in acht Tagen die Eiterung;
in 14 Tagen vollständige Heilung. Doch traf ich die Binde bei
der Nachsicht stauend, aber mitunter zu locker angelegt, sonst
hätte erfahrungsgemäß die Heilung früher erfolgen müssen.
Abweichend vom bisherigen Verfahren nahm ich die
Stauung nicht mit einer Gummibinde vor, sondern mit einer
gewirkten oder selbst mit einer gewöhnlichen engmaschi¬
geren Kalikotbinde. Dazu veranlaßte mich zunächst ein gün¬
stiger Versuch vor drei Jahren, den ich jedoch bis zu den
jetzigen Behandlungen unbeachtet gelassen hatte, der gute
Erfolg der ersten jetzt durchgeführten Fälle, dann aber
auch der Tierversuch und die übrigen Beobachtungen, wie
ich sie unten ausführen werde, die mir anzuzeigen schienen,
daß es sich im wesentlichen um Herbeiführung einer Erwei¬
terung der Gefäße im Herde handelt, die wohl durch eine
Abbindung leicht erzielt werden kann, welche jedoch weder
arteriellen Zufluß, der ebenso notwendig scheint, abschlie¬
ßen, noch die ErnäJirung des Gewebes durch allzu starke
Stauung behindern darf.
Aus demselben Grunde kürzte ich die Stauungsdauer
von 20 bis 22 Stunden, die ich bei den ersten Fällen an¬
wandte, auf kürzere Fristen von zwei bis sechs Stunden
mit einer Unterbrechung von einer halben bis einer ganzen
Stunde. Die Nacht über ließ ich häufig ohne Stauung ver¬
streichen. Insbesondere legte ich auf energischere,
länger dauernde oder später in ununterbrochener
Folge von Stauungs- und kurzen Ruheabschnitten erfolgte
1 Abbindung in der ersten Zeit der Behandlung großen
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
213
Wert, bis ich aniielimen konnte, daß die Abinauernng des
Herdes bereits stattgefunden hat. Ich setzte jedoch auch
dann noch die Stauung fort, weil ich durch dieselbe auf das
Wachstum der Granulationen und die Wiederherstellung des
Verlustes an Gewebe eine günstige Beeinflussung wahr¬
nehmen konnte, wie es jene Verletzungen zeigen, die, ohne
infiziert zu sein, unter Stauung ein günstigeres Heilungs¬
ergebnis darboten.
A., Sägearbeiter, mit unregelmäßiger, zerrissener Abkap-
pimg des halben rechten Daunienendgliedes mit Erhaltung des
Nagelgrundes, vor zwei Tagen durch Kreissäge erfolgt; Wunde
nekrotisch zerklüftet und eiterig belegt, Knochen mit der Sonde
fühlbar, Schmerzen im Unterarm, Schwellung des ganzen Daumens.
Stauung am Unterarm 22 Stunden (mit Kalikotbinde). Folgen¬
den Tages Schmerzen geschwunden. Danach durch vier Tage
Stauung am Daumen selbst. Nach zwei Tagen Nekrosen abge¬
gangen, Wund fläche rein und schon nach sieben Tagen über¬
häutet; nach neun Tagen arbeitsfähig.
Den Ort der Anlegung der Stauungsbinde wählte ich
nicht zu entlegen vom Entzündungsherd, da ich
wieder in der Beobachtung des unbeeinflußten Ablaufes
eines Entzündungsherdes den Fingerzeig zu sehen glaubte,
daß es sich im wesentlichen um eine Stauung gerade nur
im Gebiete der Entzündung handelt, wie es ja schließlich
auch der Erfolg der Behandlung mit Saugglocken ersicht¬
lich macht. Ich staute also Entzündungen der Hand über
dem Handgelenke, der Fingerendglieder am Grunde der
Finger, des Fußes über den Knöcheln, und älmlich. Als
Beispiel nicht ganz zweckmäßiger Behandlung diene folgen¬
der Fall:
Furunkel. Bauer im Orte, mit beginnendem Furunkel an
der Vorderseite der unteren Hälfte des rechten Unterarmes mit
handtellergroßer Infiltration und Schwellung der unteren Uuter-
armhälfte, Lymphgefäß- und Lymphdrüsenentzündung bis in die
Achselhöhle; Schmerzen im ganzen Arm, Temperatur 39-2^’.
Stauung mit gewirkter Binde siebenmal je 20 bis 22 Stunden.
Besondere Besseiaing nicht bemerkbar. Darauf Saugglocke drei¬
mal täglich je eine halbe Stunde. Nach zwei Tagen Abgrenzung
und Entfernung des Pfropfes. Heilung in weiteren zwei Tagen.
Der Grad der Stauung war stets iiur bis zur Heiß-
und Rot Stauung. Nachteile des Abbindens bei richtiger
Durchführung fand ich nie, dagegen konnte ich die Schmerz¬
losigkeit, von der die meisten bisherigen Veröffentlichungen
sprechen, nicht immer erreichen, sondern nur dann, wenn
die Stauung stark, aber nicht zu stark, war und an einer
Stelle stattfand, wo ich einen Druck auf alles umfaßte Ge¬
webe, also auch die durchlaufenden Nerven, annehmen
konnte, insbesondere dort, wo kein oder nur ein Knochen
das Gewebe durchzog. Eine Hohlhandphlegmone war bei
Stauung am Oberarm schmerzlos, ober der Handwurzel da¬
gegen — bei offenem Zwischenknochenraum — oft von
empfindlichen Schmerzen begleitet, im Entzündungsablauf
jedoch günstiger beeinflußt. Immer jedoch war, auch bei
der Saugbehandlung, wenn nicht sofortige, so doch baldige
Schmerzlinderung feststellbar.
Die Saugglocken wählte ich nicht zu klein oder sog
mehrmals im Kreise, immer konzentrischer, gegen den Enl-
zündungsherd, meistens drei- bis viermal täglich, eine Viertei¬
bis eine halbe Stunde lang, mit kurzen Unterbrechungen von
einer bis drei, höchstens fünf Minuten. Ich war damit stets
zufrieden und konnte insbesondere eine rasche Abstoßung
des toten Gewebes sehen, wenn ich auch eine durch zu
starke Saugung hervorgerufene Schädigung und dadurch
bedingten Zerfall mit folgender neuer rotlaufartiger Infil¬
tration, die jedoch niemals Folgen brachte, nicht verschwei¬
gen darf. Zerfall von Granulationen rief übrigens auch zu
starke und zu lange Stauung hervor, doch selten, wie ich
schon oben erwähnt habe.
Was das operative Angehen der Entzündungsherde
betrifft, verhielt ich mich verschieden. Bei akuten Entzün¬
dungen machte ich die Erfahrung, daß die möglichst
rasche Eröffnung eines bereits Eiter enthaltenden Herdes
unter jeder Bedingung günstig wirkte, wenn es mir auch in
einzelnen Fällen gelang, ohne Eröffnung den Eiter durch
die Staubehandlung abzutöten oder mitunter, wo er sicher
bereits bestand, wenn vielleicht auch nur in geringer Menge,
zur Aufsaugung zu bringen.
Die Oeffnungen machte ich sehr klein, wählte aber
immer jenen Teil, welcher der Selbsteröffnung am nächsten
war, um nicht zu viel für die Erzeugung von Granulation
brauchbares Gewebe zu zerstören und durch Gefäßtren¬
nungen Umlaufsbehinderungen zu verursachen. Ich wandte
niemals Desinfektionsmittel an oder doch nur kaum
nennenswert schwache Lösungen, weil mir die da¬
durch verursachte Schädigung des zarten Granulations¬
gewebes entschieden ungünstig zu wirken schien und ich
übrigens von ihnen, deren Wirkung meist auf Eiweißgerin¬
nung beruht, eine gleiche Beeinträchtigung der Bakterien
aber auch Gewebe, also keinen tatsächlichen Gewinn, vor¬
aussetzen konnte. Aus demselben Grunde wählte ich nie¬
mals stark imprägnierte oder mit zu scharfen Desinfektions¬
mitteln getränkte Gaze zu Tamponaden. Diese letzteren
wieder führte ich nicht zur vollständigen Aus¬
stopfung des Hohlraumes durch, sondern beschränkte
mich auf eine bloße Dochtung oder selbst nur Offen¬
haltung des Ausganges.
Ich verband, um durch Austrocknung der herausge-
dochteten Flüssigkeit und Krustenbildung und dadurch her¬
vorgerufenen Abschluß die vielleicht sogar künstlich er¬
zeugte Herdöffnung nicht wieder gleichgültig zu machen,
stets den Herd mit einem feuchten Verbände, den ich
nur mit gänzlich harmlosen Lösungen, wie dünnem
Borsäurewasser oder meistens sterilem destillierten Wasser
oder physiologischer Kochsalzlösung, befeuchtete.
Der Deckverband lag stets locker, um so mehr, als
man bei Durchführung der Stauung auf eine Schwellung
bedacht sein mußte, die durch den Verband in ihrer Wirk¬
samkeit nicht eingeschränkt werden durfte.
Anfangs machte ich mitunter ebenso kleine Gegen¬
öffnungen, doch waren manche sicher überflüssig und ich
unterließ sie später ohne Nachteil.
Die in der Tiefe der Oeffnung sichtbaren weißen
Flocken, die abgestoßenes, nicht verflüssigtes Gewebe dar¬
stellten, zog ich mitunter in weit größeren Klumpen, als daß
sie leicht oder ganz durch dje kleine Herdöffnung durchzu¬
bringen gewesen wären, mit der Hakenpinzette heraus.
Ich sah überhaupt in den meisten Fällen nicht sehr
viel Eiter, wenn ich von den Brustdrüseneiterungen absehen
will; in den meisten Fällen vollzog sich die Heilung mit Ab¬
stoßung des Gewebes in Klumpenform. Nur sehr starke,
vollkommene (um einen Knochen stattfindende) Stauung
schien eine stärkere und raschere Verflüssigung zu bewerk¬
stelligen, ohne jedoch eine schnellere Heilung zur Folge
zu haben. Dagegen boten aber auch die Mastitiden den
besten Beweis von Infiltrations- und Eiterrückgang durch
S tauungsbeeinflussung.
Brustdrüsenentzüiidung. N., Gastwirtin, an beiden Brüsten
erkrankt; eine von selbst geöffnet, die andere wird kurz einge-
sobnitten; an ersterer eine, an letzterer zwei Fluktuationen,
bleiben uneröffnet ; große Schmerzen ; Saugglocke zweimal täg¬
lich je eine Stunde. Nach drei Tagen schmerzlos; Fluktuationen
gehen zurück, Wunden geschlossen nach fünf und zwölf Tagen.
Infiltration geschAvunden nach drei Wochen. Selbstbehandlung,
Nachsicht jeden zAveiten bis siebenten Tag.
H., Fabrikarbeitersfrau, erschien vor acht Monaten mit an
einer Stelle fluktuierender Mastitis, verweigerte Eröffnung luid
kam nicht mehr wieder. Behandelte sich mit Hausmitteln, worauf
im Wechsel von Besserung und Verschlimmerung drei Selbst¬
öffnungen entstanden und ein artefizielles Ekzem; des Warzen¬
hofes und seiner nächsten Umgebung. Kommt nun, um endlich
los zu werden. Die letzte Oeffnung und das Ekzem bestehen
noch, desgleichen eine faustgroße Infillration der Drüse ; Schmer¬
zen. Saugglocke zweimal täglich je drei Viertelstunden. Selbst-
behandhing; jeden zweiten bis vierten Tag Nachsicht. Schmerzen
am nächsten Tage geschwunden, Wunde in zwei Tagen rein,
in vier Tagen geschlossen; Infiltration und Ekzem in 16 Tagen
geschwunden. Acht Monate krank, dann in 16 Tagen gesund,
was sie seither, ein Jahr, geblieben ist.
L., Bauersfrau in S., drei Stunden weit. Vor vier Wochen
wurde anderwärts nach alter Methode Brustdrüsenabszeß ge-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 8
J \ '±
I
üITiiet, daiauf Jjis zur 1-08111011011 Inl'iltraUüii iiacli und nach Uosso-
ruug. Hoi Erkrankung dor zweilon Hrusldrüso Einstich nieinor-
soits, Saugglocko Uiglicli zweimal je eine Stunde. Selbstbehand¬
lung mit zwei Nachsiebten. Zwei nicht eröft'nete Fluktuationen
gingen zurück. Schmerzen nach vier Tagen, Eiterung nach zehn
Tagen geschwumlen. Vollständige Heilung fler Intiltration nach
vier Wochen. Selbstheliandlung nach Schwinden der Schnierzeii
nachlässig.
H., Arbeitersgal tin mit vollständig verhärteter Hrustdrüse;
keine Fluktuation. Saugglocke täglich dreimal eine halbe Stunde
mit zwei bis diei Winuten Unterbrechung; nach 48 Stunden
kleiner Einstich außenseitlich des Warzenliofes, mit Eiterent¬
leerung. Zwei andere fluktuierende Stellen, sowie Infiltration
fler ganzen Drüse schwinden nach elf Tagen. Die sehr heftigen
Schmerzen waren nach 24 Stunden beseitigt.. .
\V., Friseursgattin in P., eine Stunde weil, erscheint mit
einer schon mit Saugglocke behandelten Brustdrüsenentzündung
und wird nach standesordnungsgemäßer Hegel ung der Sachlage
von mir übernommen. Sie gibt an, die Schmerzen hätten (lurch
die Glockenbehandlung zugenomnien und nun sollte sie nochmals
geschnitten werden, wa.s sie vermeiden wolle. An der jechten
Brustdrüse, außenseitig dei- Warze, Wunde und durch dicke Granu¬
lationen verschlossene Oeffnung; innenseitig am oberen Drüsen¬
rande tauheneigroße, geschwollene und gerötete Fluktuationsstelle.
Einführung eines kurzen Drains zur Offeidialtung der Eiterhöhle
und längere stärkere Saugung, dreimal täglich, beseitigt in zwölf
Stunden die Schmerzen und bringt in zehn Tagen Heilung mit
Aufsaugung des obigen Eiterherdes.
Bei den tuberkalösen Entzündungen schien mir die
Saugbehandlung weit günstiger zu wirken, weil es mir vor¬
kam, daß die Staiumg zu wenig wirksam wäre, insofern,
als es nicht rasch genug möglich wäre, das tote oder lehens¬
schwache Gewebe ahstoßen and dann innerhalb des
Herdes die Bazillen auslumgern zu können. Da insbe¬
sondere hei tuberkalösen Vorgängen durch die zu lange
Dauer, ungenügende Ernährang und immerwährende Neu¬
schädigung das Granulationsgewehe ungesand wuchert, ins¬
besondere wenn eine Eröffnung stattfindet oder eine zu
starke Oeffnung besteht, saugte oder staute ich den un-
eröffneten Herd so lange, bis ich annehmen konnte, es hätte
sich das Gewebe, das unbedingt verloren ist, genügend ab¬
gestoßen und günstiges Granulatiohsgewebe eingefunden.
Das bestand meist bei derber gewordenem, lappig sich an¬
fühlenden, kalten Abszeß. Ich konnte dann auch nach
kleinem Einschnitt mit der Hakenpinzette oft den ganzen
Herd in Ge websfetzen herausziehen, um eine glatte Höhle
zu finden, die sich bei Fortsetzung der Behandlung rasch
bis auf eine Fistel wieder schloß.
Rippen! uberkulose. K., Maurer, der seine Arbeit ununter¬
brochen gut versah, mit hühnereigroßem tuberkulösen Herd reebts
an der siebenten Rippe. Dreimal täglich Saugung eine halbe
Stunde. Nach drei Wochen Einstich und Herausziehen des toten
Gewebes. Die Höble schlaff, vollkommen mit Granulationen aus¬
gekleidet, 'schließt sich in vier Wochen. Die Fistel ist in vier
Monaten vollständig geheilt. Seither, acht Monate, keine Rück¬
fälle; Befinden sehr gut.
St., Fabriksarbeiterin. In einem Spitale wurde die Kranke
durch breite Eröffnung und Auskratzung einer Tuberkulose der
zweiten rechten Rippe gebessert. In der genähten Schnittnarbe
nach fünf Monaten acht tuberkulöse Fisteln; die achte Rippe
derselben Seite bei meiner Uebernahnie auch mit hühnereigroßem
Herde erkrankt. Saugen dreimal täglich je eine halbe Stunde;
Eröffnung nach drei Wochen, Herausziehen des toten Gewebes;
Heilung der Fistel in drei Monaten. Heilung der Fisteln der ersten
Operationswunde in zwei bis sechs Wochen. Ein dritter Herd
über der ersten Rippe grenzte sich, ohne zu verflüssigen, ein¬
schließlich der Haut guldengroß ab und wurde, scharf gegen
das Gesunde abgegrenzt, mit Sonde und Pinzette geschieden und
entfernt. Höhle und Fistel in acht Wochen geheilt. Seit einem
halben Jahre ausgezeichnetes Befinden ohne jeden Rückfall. Die
Kranke behandelte sich selbst und stand neben ihrem Haushalte
von 6 Uhr früh bis 6 Uhr abends bei anstrengender Arbeit
im Fabriksdienste.
Nur in solchen Fällen, avo ich schon im Herde neben
Flüssigkeit bereits Granulationsgewehe vermutete, ließ ich
durch kleine Fistellegung den meist serösen Eiter gleich
eingangs der Behandlung abfließen.
Z., Gastwirt in B., cdne Stunde weit, Tuberkulose dei-
Beinhaut des dritten Mitlelbandknochens am Fingerende, wurde
in einem Spitale mit Jodoformeimdsioneinspritzung behandelt.
Daraufhin infolge lebhafter Granulalionsw'ucherung Vergrößerung
der Geschwulst zu Halbhülmereigröße und Verflüssigung an der
Kuppe. Wird in diesem Zustande vom hiesigen Kollegen am
3. April 1904 zu mir gebracht. Am 9. April breiter Einsclmitt,
Beiseileschiebung der Sehne, die im kranken Gewebe steckte
und Auskratzung alles Erkrankten (auch Knochen). Jodoform¬
tamponade. Erfolg ungenügend, da stets schwammige Granu¬
lationen, trotzdem sie zweimal ausgekratzt worden waren, )iach-
wucherten und die Erkrankung am Knochen höher hinaufstieg.
Da bis 14. Juni (zwei Monate) wieder die Granulationen,, so
auch der Herd selbst größer waaren als hei der letzten Auskratzung,
beschtoßi ich das damals schon bekannte Stauungsverfahren nach
Bier anzuw'enden. Ich staute der großen Entfernung des Kranken
wegen vorsichtshalber geringgradig und nur mit Kalikotbinde am
Unterarm u. zw. von einem zum anderen Verbandwechsel (zw-ei
bis drei Tage) ununlerbrocben. Allerdings ließ die Stauung iureb
Nachgiebigkeit der Binde ehvas nach, bestand aber stets noch
beim Verbandwechsel mit mäßiger Schwellung. Wie waren wir,
Kollege und ich, erstaunt, nach drei Wochen den Herd vollständig
abgeheilt zu sehen. Gebrauchsfähigkeit war vollkommen unein¬
geschränkt. Nach einem Jahre, jetzt vor IV2 Jahren, schnitt
ich eine seither eidstandene Hauttuberkulose in der Narbe (zwmi-
hellergroß) und eine ebensolche von Guldengröße im Zwischen¬
fingerraum des Daumens derselben Hand aus. Nach glatter Heilung
bis im letzten September, also 1906, nichts Krankhaftes an der
Hand bemerkbar. Damals wieder laubeneigroße Schwellung der
Stelle des früheren Krankheitsherdes, mit Schmerzen bei Druck
und FingerbeAvegung. Daraufhin Stauung mit gewirkter Binde.
Zunächst Vergrößerung der Gesclnvulst und Schwammigvverden
(Ga-anulation), dann Selbstöffnung mit verschwindendem serösen
Abgang; vollständige Heilung ohne geringsten Eingriff oder Heil-
mittelaiiAvendung, nur mit Wirkbindenstauung. Mitte Dezember
1906, also nach vier Monaten: Allgemeinbefinden stets gut; keine
Berufsstörung trotz der ungünstigen Verhältnisse für solche Er¬
krankungen beim Wirtsgeschäfte.
N. in W., Werkführer, IVi Stunden w^eit, mit tuberkulöser
Beinhautentzündung des ersten rechten Mittelfingergrundgliedes.
Einschnitt anfangs Juni 1905; bei Jodofornitamponade Heilung
der Wunde bis auf die derbe Schwellung in vier Wochen. Dann
Jodtinkturpinselung. Die SchAvellung AAÜrd jedoch größer, es ent¬
stehen zAvei Fisteln. Seit Mitte November stete Stauung mit ge¬
wirkter Binde, geringgradig bis zu leichter Schwellung, hochgradig
nur früh, mittags und abends je eine Stunde, da der Kranke
seinen Dienst \mrsehen muß, der andere Arm aber seit 20 Jahren
(Schlotterhruch des Oberarmes) gebrauchsunfähig ist. Jetzt Fisteln
fast geschlossen, ScliAvellung zurückgegangen, Heilung bevor¬
stehend.
Fisteln sog ich in nicht zu kleinem Umfange, Avählte
daher meist verhältnismäßig größere Glocken.
Hier sei auch ein Fall, der seit drei Monaten eben
wieder zur Nachsicht kommt und mich staunen läßt, niit-
geteilt. Er betrifft eine Tuberkulose des Mittelhandknochens
des rechten Zeigefingers, die einen eitrigen Herd gesetzt
hatte, der ungeöffnet unter Wir khindenstauung
vollständig verscliAvunden ist.
H., Kaufmannsgattin aus M.-T., erschien im Juli 1906 mit
Tuberkulose des rechten Zeigefingermittelhandknochens, welche
den halben Handrücken bis einscbließilich des Daumenballens
in eine apfelgroße, stark und oberflächlich fluktuierende, gerötete
GeschAvulst verwandelt batte, die schon seit iVr Jidiren immer
zunehmend bestand. Außerdem alte Pleuritis, Apizitis und fünf¬
kronenstückgroßer Lupus am linken Oberarm und beginnender
kalter Abszeß des linken äußeren Fußknöchels. Ich verordwete
Abbinden der Hand über der HandAvurzel mit gewirkter Binde,
zAveimal täglich je zAvei Stunden, des Fußes mit stellbarem Gummi¬
band nach Bier, von Eschbaum bezogen und Saugglocke auf
den Lupus. Nach 2V2 (Monaten Avar die in der Zwischenzeit an-
geschAvollene, heißgewordene, daher auch schmerzende Geschwulst
gleich geblieben, ließ nur an einzelnen Orten neben Fluktuation
derbere Stellen tasten; Lupus war besser; Fuß ohne Veränderung.
Die Ungunst des Wetters, Weite der Bahnfahrt und Lungenver¬
schlechterung gestatteten erst jetzt nach drei Monaten neuerliche
Nachsicht. SchAvellung in der Hand vollständig ge-
s c h Av u n d e n, dafür in der Tiefe derbes, 0 f f e n 1) a r narbiges
GeAvebe tastbar, das bei vollständig normaler Haut eine Ein¬
schränkung der DaumenbeAvegliclikeit bedingt; Lupus bei weitem
besser, FußgeschAvulst vergrößert; Lungenspitzen kränker.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Was die verwendeten Binden und Apparate und ihre
Zweckmäßigkeit betrifft, habe ich schon von den Staubinden
erwähnt, daß ich stets mit Wirk- und Kali kotbinden
oder in improvisierten Fällen mit irgendwelchen Stoffstreifen
vollständig mein Auslangen gefunden habe.
F., Kutschersgaitin in Th., eine Stunde weit, mit Phlegmone
über der linken Achillessehne, seit sechs Tagen, sehr schmerz¬
haft bis zum Knie, mit Schwellung des ganzen Fußes, ins¬
besondere der Knöchelgegend, durch Schuhdruck verursacht. Fän-
stich auf der Höhe, Eiterabgang, Höble nach beiden Seiten der
Achillessehne 3 bis 4 cm sondier])ar. Mangels eines anderen
Behelfes Stauung mittels weichen Leinwandstreifen über den
Knöcheln, nach zwei bis drei Stunden auf eine Stunde unter-
brecheml. Uebernächsten Tages der ganze Herd höchstens guldeii-
groß, Oeffnung klein; in vier Tagen vollständig geheilt, davon
drei Tage gestaut, nachts nicht; die Stauung soll anfangs ge¬
schmerzt haben.
Dagegen war ich bei der allgemein abgewickelten
Durchführung, wobei der Kranke sich zum Teil in Selbst-
behandlung befand, mit den Saugglocken und ihrer Armie¬
rung nicht immer zufrieden. Saugglocken ohne Eiterhehälter
mit zuviel Leisten und Einsprüngen schienen mir nicht
zweckmäßig, da die Reinigung behindert war. Auch ein¬
springende Glasröhrchen mit Ansatz von Drainröhrchen
schienen mir durch gewöhnliche, auf die Haut mit Heft-
sl reifen befestigte Drainröhrchen und einfache Glocken er¬
setzbar und in der Handhabung entschieden leichter,
Ganz besonders aber konnte ich mich mit den Gummi-
hällen und Gummischläuchen nicht befreunden, denn sie
waren die denkbar besten Infektionsträger, sobald sie den
Kranken überlassen waren, konnten dann ohne Schädigung
nicht mehr gereinigt werden, waren meistens für den un¬
gelenken Gebrauch durch den Kranken viel zu zart und
wurden zu sehr verbraucht, erhöhten die Kosten zu stark,
wenn diese aüch durch Verband und Zeitersparnis wett-
geniacht wurden. Die Auslage hei Ankauf durch den
Kranken hätte derselbe oft genug nicht oder nur schwer
tragen können, sO' daß ein solcher Apparat nicht für die
Verallgemeinerung einer Methode beitragen kann. Insbe¬
sondere war es auch mit den Gummiballen nicht oder schwer
möglich oder nur mit den allzu filigranen Ventilballons,
die Stauung abzustufen, ganz besonders dann, wenn dickere
und steifere Ballons Verwendung fanden, die ihrer Dauer¬
haftigkeit wegen allerdings vorzuziehen gewesen wären.
Wenige Ballons mit vielen Ansätzen oder mit Vorrichtungen
zum Abnehmen versehene sind überflüssig und unpraktisch,
sobald sich der Kranke in teilweiser Sell)sthehandlung be¬
findet, weil die Gebarung für ihn nicht so^ einfach ist. Der
Arzt würde freilich der geringeren Anschaffungskosten
wegen, da er nur wenige solche Ballons benötigen würde,
gern zugreifen, muß davon jedoch absehen, weil er unmög¬
lich den Kranken jedesmal zur Sitzung in sein Haus
kommen lassen kann. Er muß daher über eine größere
Anzahl dauerhafter, leicht desinfizierbarer
Saugapparate verfügen, soll er für Erfolg und Verall¬
gemeinerung dieses wohltätigen Verfahrens wirken.
Ich würde daher einem kurzen Gummischlauch, den
man an die Glasglocke setzt und nach jedesmaligem Ge¬
brauch oder zumindest nach zu Ende geführtem Falle ver¬
brennen kann, ohne auf die geringeren Kosten achten zu
müssen, das Wort reden. Diesem Schlauche wäre eine Säug¬
pumpe anzufügen, die möglichst einfach zerlegbar
und leicht desinfizierhar sein müßte; insbesondere
in ihren Ventilen gut zu gebrauchen, mit genügend starker
1*’eder versehen oder auch ohne dieselbe, böte sie die Mög¬
lichkeit einer Dosierung und gleichmäßigen Erhaltung der
Stauung durch beliebige Wiederholung des Pumpens und
wäre dabei die denkbar dauerhafteste Vorrichtung. Wir
müssen also, um zusammenzufassen, unser iVugenmerk
hauptsächlich auf Glocken legen, die dem Körperteil leicht
anleghar sind, durch ein kurzes Gummischläuchchen mit
einer im obigen Sinne brauchbaren Säugpumpe verbunden
werden können. Letztere sind mir in befriedigender Aus¬
führung bisher noch nicht zu Gesicht gekommen.
Dann wäre es für jeden Arzt leicht möglich, ohne
auf allzuviel birsatz zugrunde gerichteter Apparate bedacht
sein zu müssen, mit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl
eine einmalige Beschaffung bedeutender Säugpumpen, also
mit geringen Kosten, sein Auskommen zu finden.
In dieser Art vorgehend, hat sich mir die auffallendste
Einflußnahme der Blutstauung auf den Ablauf von Entzün¬
dungen etwa in folgenden Erscheinungen am besten zur
Beobachtung geboten. Vor allem merkte ich einen baldigen
Stillsland der Entzündung, so daß ich nach der verhältnis¬
mäßig großen Anzahl von Beobachtungsfällen geradezu fest¬
legen möchte, daß man mit großer Sicherheit darauf rechnen
kann, den Herd mit Beginn der Stauungshehandlung auf die
zu dieser Zeit bestehende Ausbreitung beschränken zu
können, insofern, als jenes Gewebe, welches im Entzün¬
dungsherd, nicht mehr leben s- und erholungsfähig ist, un¬
bedingt verloren geht, das andere aber sich erholt, den
Verlust ersetzt und die Heilung zur möglichst folgenlosen
Wiederherstellung bewirkt.
H., Fabriksarbeiter, Sehnenscheideiientzüiidimg der Holil-
harid; Phlegmone vom rechten Mittelfingergrundgliede ausgehend.
Schwellung der ganzen Hand. Temp. 38-7, LymphgefälP und
Lymphdrüsenentzündung am ganzen Arme, bezüglich in der Ell¬
bogen- und Achselbcuge; tiefer Einstich oberhalh des Mittelfinger¬
grundgliedes, Eiterabgang auf Druck in der Hohlhand. Abbinden
mit Wirkbinde je sechs Stunden mit einer Stunde Pause, nachts
längere Ruhe. Ueberflüssige Gegenöffnung am Handrücken am
zweiten Tage entleerte nur Blut, wenn auch die Sonde durch
Granulationen zur Handtelleröffnung führte. Nach vier Tagen
Eiterung nach Abstoßung von Gewebsfetzen zu Ende, nacli sieben
Tagen Heilung, am elften Tage Wiederaufnahme der Arbeit. Stau¬
ung zwei Tage anfangs schmerzhaft, jedoch nachlassend.
H., Knecht im Orte. Sehnenscheidenentzündung (Hohlhand-
phleginone), von einer Schwiele über dem linken Mittelfinger
ausgehend. Schwellung der ganzen Hand und der Drüsen in
Ellbogen- und Achselbeuge. Temp. 37-9. Einstich in der Hohl¬
hand wie oben. Abbinden mit Wirkbinde je zwei bis drei Stunden
mit einstündiger Pause. Am ZAveiten Behandlungstage zog ich
totes Gewebe aus der Wunde, Höhle schön granuliert,^ damit
Eiterung zu Ende. Heilung am vierten Tage, wo ich den Kranken
wieder ackern sah. Stauung drei Tage, am ersten Tage die erste
Viertelslunde schmerzhaft.
Abgesehen davon, daß ich mich niemals von einer
Lymphgefäß- oder Lymphdrüsenentzündung abhalten ließ,
nahe am Herd ahznhinden, und diese eben genannten Ent¬
zündungen vollständig ohne jede Sonderbehandlung außer
Betracht nahm, habe ich auch in der nächsten Umgebung
des Herdes, welche Gewebsart immer betreffend, diese Be¬
obachtung des unbedingten Gewebszerfalles und der be¬
dingten Erholung nach Einflußnahme der Blutstauung be¬
obachten können.
Sehneuscheideueulzünduug. S., Polier im Orte, mit Pana¬
ritium tendiueum des rechten Zeigefingers. Von einem Kollegen
geöffnet und nach zwei Tagen wegen Sehnenscheidenentzündung
zu mir geschickt. Ausgiebigerer Einscbnilt bis zur IMitte des
zweilen Gliedes; alte Behandlung. Tags darauf Schwellung üboi
d(‘m Gi'undgelenke und Lymphdrüsenentzündung in der Ellbogen¬
beuge und Achselböhle ; Temp. 38-8. Schmerzen im ganzen Arm.
Daraufhin Stauung mit Kalikotbinde am Unterarm, läglich
14 Stunden mit ein- bis zweimaliger Unterbrechung. Tags darauf
ahgeschwollen und schmerzlos; in sechs Tagen geheilt; in acht
Tagen gebrauchsfähig.
R., Magd in N., eine Stunde Aveit. Herbstlich schlechter
Weg. Sehnenscheidenentzündung am rechten Handrücken ^von
einer Vei’letzung über dem Mittelhandknocben ; Sonde reicht 6 cni
Aveit vom belegten GescliAVÜrsgrund quer über die Strecksehnen
gegen das Handgelenk. Kalikotbiiule Ader Tage je 1() Stunden, nach
zAvei Tagen kein Eiter mehr, nach sechs Tagen geheilt. Zwei der
letzten At>bindungen besorgt die Kranke selbst, da sie nur jeden
ZAveiten Tag zur Nachsicht kommt. Keine Folgen.
H., Spinnereiarbeiter in B., IV'i Stunde Aveit, Avird _ von
einem hiesigen Kollegen ZAvecks Eröffnung einer Sehnenscheiden¬
entzündung (Hohlhandphlegmone) mit Beteiligung der beiden imit¬
ieren Finger zu mir gebracht. Ganze Hand und unteres Uniei-
armdiittel gescliAAmllen und gerötet, Lymphgefäß- und Lymph¬
drüsenentzündung bis in die Achselböhle. Heftige JAchmerzen
im ganzen Arm. 4’emp. 391. Einstich in der Hohlhand nbe^ dem
Mittelfingergrundgelenke und seitlich gegenüher am Handrücken,
216
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
beide Einstiche nur für Hohlsonde durchgängig. Abbindung mit
gewirkter Binde. Tags darauf sind die Erscheinungen des Lymph¬
systems und die Schmerzen geschwunden. Temp. 37-8. Vier Tage
Stauung je 14 bis 20 Stunden. Nach zwei Tagen kein Eiterabgang
mehr, nach sieben Tagen gelieilt, nach zehn Tagen ohne Folgen
arbeitsfähig.
Bauer aus B., zwei Stunden weit, Sehnenscheidenentz'in-
dung der rechten Hand (Hohlhandphlegmone) mit Beteiligung
sämtlicher Finger. Schwellung bis zur Unterarmhälfte. Lymph¬
systementzündung bis in die Achselhöhle, Schmerzen im ganzen
Arm ; Temp. 39-2. Eiterung in der Hohlhand, sämtliche Sehnen
umgreifend, am ^Mittelfinger bis in das zweite Glied und am
Handrücken über den zweiten Mittelfinger. Einstiche wie im
vorigen Falle; Stauung siebenmal je 20 bis 22 Stunden; nach
Stauung Schwinden der Lymphsystemerscheinungen und Arm¬
schmerzen; nach fünf Tagen keine Eiterung mehr, nach zwölf
Tagen geheilt, nach 15 Tagen ohne Folgen arbeitsfähig.
Phlegmone. K., Fabriksarbeiter, IV2 Stunden weit in St.,
sehr bescliAverlich auf Hochebene, mit Zellgewebsentzündang an
der Vorderseite der unteren Hälfte des rechten Unterarmes ; In¬
filtration handtellergroß, Lymphgefäßentzündung. Achtmal Stau¬
ung mit gewirkter Binde je 16 Stunden. Kommt zweimal wegen
Glatteises und Ungangbarkeit des Fußweges von der steilen Höhe
nicht zur Nachsicht, legt sich jedoch die Binde unaufgefordert
selbst an. Daraufhin bloß jeden zweiten Tag .jVachsicht; am
zAveiten Tage Fluktuation; Einstich auf der Höhe Jiiit wenig
Eiter; nach fünf Tagen gereinigt, nach: acht Tagen igeheilt, nach
zehn Tagen arbeitsfähig.
Sch., Fabriksarbeiter in N., eine Stunde weit mit Phleg¬
mone an der Vorderarmseite infolge vernachlässigten Furunkels
(auf der Kuppe zerfallen), Infiltration zweihandtellergroß; fünf
Tage Stauung mit Kalikotbinde je 16 Stunden. Bleibt zwei Tage
aus, legt sich jedoch die Binde seihst an. Nach zwei Tagen
rein, nach sechs Tagen geheilt und arbeitsfähig.
Ich hal)e insbesondere, gleichviel ob man früher mehr
oder weniger tatkräftig operativ vorging, mit mehr oder
weniger starken Desinfektionsmitteln viel oder wenig sparte,
eine weitaus schnellere als nach der alten Behandlimg
und weitaus frühere Entwicklung des so wichtigen Granula¬
tion sge wehes sehen können.
B., Fabriksarbeiter im Orte, zog sich einen Einstich mit
einem Holzschiefer in die rechte Hohlhand zu. Schon tags darauf
erkrankte er unter heftigen Schmerzen des ganzen Armes und
Fieber bis 39-6. Er kam zu mir; ich trug die Schwiele bis gegen,
die Kutis ab, sondierte die Stichöffnung, ohne etwas zu finden
und ließ ihn Stauung über dem Handgelenke mit Kalikotbinde
durchführen, in drei bis vier Stunden zu unterbrechen. Auf dem
Wege nach Hause brach er zusammen und wurde unter heftigem
Schüttelfrost nach Hause geschafft. Am Arme bis gegen die
Achsel Lymphgefäßentzündung. Schon tags darauf sah ich aus
der Stichöffnung verhältnismäßig üppig Granulationen wuchern
und die Epidermisreste waren bläulichrot unterlegt. Am nächsten
Tage waren diese Oberhautstellen vom Granulationsgewebe durch¬
brochen und boten so eine Eiweiterung der ursprünglichen Stich-
Öffnung, in deren Tiefe gelbliches totes Gewmbe sichtbar war.
Letzteres zog ich an diesem und am nächsten Tage heraus,
worauf der Kranke am fünften Tage vollständig hergestellt, wieder
arbeitsfähig war. Die sehr heftigen Schmerzen hatten schon am
zAveiten Tage nachgelassen, gleichzeitig auch die Lymphsystera-
entzündungen am Arme. Vier Tage Stauung.
Freilich haben sich mir dabei je nacli der Art des
Gewebes auch Unterschiede gezeigt, sowohl was Bildung,
als aiicli Wachstum des Granulationsgewebes betrifft. Dieses
Gewebe entwickelte sich überall dort am schnellsten und
beschränkte auf diese Weise den Herd in seiner Aushrei-
lung dort am ehesten und günstigsten, wo die Abstoßung
des lel)ensunfahig gewordenen Gewebes am allerschnellsten
und leichtesten durchführbar war. Das lockere weiche
Bindegewebe vom ünterhautzellgewebe bis an die Musku¬
latur war rasch imstande, sich mit Granulationen gegen
den Herd ahzuschließen, dagegen bot das derbere Gewebe,
wie Faszien und Sehnen, immer größere Widerstände und
dementsprechend natürlich auch langsamere Wirksamkeit
der Stauhehandlung. So z. B. vollzogen sich Entzündungen
in der Hohlhand, in den Grundgliedern der Finger, im
Ünterhautzellgewebe überhaupt meist leicht beeinflußbar,
während solche am Nacken, Bücken, Oberschenkel, Finger¬
rücken u. dgl. immer mehr Widerstand boten; ebenso auch
Sehnenscheidenentzündungen, die schon zu weit vorge¬
schritten waren. An diesen Stellen ist das derbe Binde¬
gewebe, von dem ich eben sprach, da es gar nicht oder
wenig unmittelbar vom Blute ernährt wird, sondern nur
durch die Gewebssäfte und andernteils wahrscheinlich auch
mit Geringem davon sein Auslangen findet, frühzeitig mit
eintretender Entzündung in dieser Ernährung somit jn
seinem Lehen gestört worden und war stärkerer Schädi¬
gung verfallen, ohne vollends und rasch zugrunde zu gehen.
Es konnte sich auch bei eingetretener Blutstauung nicht
mehr erholen, und da es sehr derb war, zerfiel es auch lang¬
sam, konnte also nicht so rasch wie das übrige Gewebe ab¬
getrennt werden. Bei dieser Gelegenheit konnte ich bei¬
spielsweise bei Karbunkeln im Nacken beobachten, wie oft
in einem durch Kreuzschnitt gebildeten Lappen, wenn ich
denselben teilweise abtrug, größere Gebiete vollständig
hepatisiert, also mit Exsudaten und geronnenem Blute er¬
füllt waren, während nur an einzelnen Orten nur ver¬
hältnismäßig größere Gefäße erhalten geblieben waren und
bluteten. Schnitt ich seihst solche sich offenbar in 'derselben
Weise veränderte Lappen nicht durch, so verfielen sie in
ihrem diesem Vorgänge enisprechenden Anteile dem Zer¬
falle oder der Schrumpfung. Lange und starke Saugung
vernichtete davon ein größeres Stück, während mäßige mehr
zu erhalten schien.
Oft konnte man in einem widerstandsfähigeren Ge-
websfetzen, wenn man ihn zur Beschleunigung der Beini-
gung des Geschwürsgrundes abtrug, ein stärkeres blutendes
Gefäß beobachten. Die Hyperämie bewirkte dann durch
Unterernährung beschleunigte Abstoßung. Diese noch, aber
zu wenig ernährten Gewebsteile zerfallen wohl ßei gewöhn¬
lich ablaufenden Entzündungen mit der Funktionsstörung
und Verödung der Gefäße von selbst, aber die Stauung
vermag diesen Zerfall offenbar durch Behinderung der Blul-
erneuerung zu beschleunigen und damit eine raschere Ent¬
fernung schädlicher Stoffe zu bewirken.
Ich sah, wenn ich einige Worte über diese Abstoßung
vmn Gewebe anführen soll, überhaupt bei Entzündungen,
die durch Stauung beeinflußt waren, das unbedingt verlorene
und daher abzustoßende Gewebe fast immer, jedenfalls aber
viel häufiger als bei natürlichem Ablaufe oder dem nach
alter Behandlung in großen Gewebsfetzen, wie Furunkel-
pfröpfe, abgehen, während früher meist zuerst eine Ver¬
flüssigung stattfand. Insbesondere erfreulich war in dieser
Beziehung (der raschen Abgrenzung) selbst das derbere Ge¬
webe, wie hei Karbunkeln im Nacken oder an den Schul¬
tern oder am Rücken, beteiligt, wenn auch etwas lang¬
samer als das weiche. Wie erfreulich erholte sich so einer
von den unangenehmen Nackenkarbunkeln in seinen In¬
filtrationsgebieten, wenn er auch bis zu beiden Kopfnickern
reichte und beschränkte sich im Zerfall auf Stellen wie
kaum ein Fünfkronenstück, während sonst weit größere
Gebiete unter größeren und längeren Qualen verfallen ge¬
wesen wären.
R., Karbunkel, Maurer in N., eine Stunde weit; teilweise
eingeschniolzener Karbunkel von Fünfkronenstückgröße, mit In¬
filtrationshof aid der linken Schulter. Erhielt wegen Schnee¬
gestöbers und VVegungangbarkeit eine Saugglocke mit nach Hause;
Anlegen derselben täglich zweimal je eine halbe Stunde fünf
Tage hindurch; rasche Abgrenzung des Nekrotischen; in drei
Tagen gereinigt, in acht Tagen geheilt.
St., Fabriksbeamter, ambulatorisch behandelt, mit teilweise
eingeschinolzenem, guldengroßen Karbunkel im Nacken; Saug¬
glocke täglich je eine halbe Stunde drei Tage hindurch; nach
2V2 Tagen gereinigt, nach vier Tagen geheilt.
Th., Ausgedingerin in M., zwei Stunden weit, schwer erreich¬
bar, 72 Jahre alt, mit gefährlichem Karbunkel am Nacken von
Kinderfaustgröße und Schwellung bis zu beiden Kopfnickern, dem
Hinterhaupthöcker und unteren Halswirbeln. Temp. 39-6; sehr
heftige Schmerzen. Geradezu lächerlicher Kreuzschnitt durch Haut
und Faszien. Saugung vom Umfange der Schwellung konzentrisch
gegen die Mitte. Stillstand der Entzündung und Eiterung am
vierten Tage. Abstoßung des toten Gewebes meist in Fetzen
bis zum achten Tage, damit Reinigung. Schwellung trotz weiterer
Saugung am neunten Tage geschwunden, vollständige Heilung
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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am 16. Tage. Schmerzen waren am dritten Tage beseitigt. Ge-
scluvürsf lache nur gtildengroß. — Zwei Monate vorher liatte ich
eine nur 65 .Tahre alte Frau mit ganz gleicliem Karbunkel nach
altem Verfahren behandelt und trotz. . Spaltung bis 10 cm im
Kreuzschnitt erst am 12. Tage Stillstand, 18. Tage Reinigung
und erst nach 56 Tagen vollständige Heilung erreichen können,
wobei die zu schließende Wundfläche handtellergroß geworden
war und nach Herstellung einige Bewegungsbeliinderung zu¬
rückließ.
Die Eiterungen, bei denen das derbe Bindegewebe
beteiligt war, das durch Stauung in seiner Ernährung weniger
beeinflußbar ist, eben wegen seiner Derbheit und Nahrungs¬
genügsamkeit, dauerten meistens immer länger, aber es ge¬
lang stets den Herd zu beschränken und die Entzündung
auch schneller und ohne so starke operative Eingriffe zur
Heilung zu bringen, wie nach altem Verfahren.
Am auffälligsten zeigte sich die Beschränkung des
Herdes im Stillstand und raschen Rückgang der bereits
eingetretenen Entzündungen des Lymphgefäßsystems oder
im Mangel des Auftretens solcher Fälle, wo man das siclier
vermutet und befürchtet hatte. Diese Erholung des geschä¬
digten Gewebes oder Abstoßung des unbedingt verlorenen,
konnte ich übrigens auch in solchen Fällen beobachten
und durch die Stauung günstig beeinflußt sehen, in denen
es sich nicht um eine Entzündung, sondern um eine Ver¬
letzung und Erledigung der zur Wiederherstellung sich ah-
wickelnden Vorgänge handelte. Auch da konnte ich eine
schnellere Erholung der Gewebe auch vielleicht bei größe¬
rem Gebiete, als ich erwartete, rasche Abstoßung der toten
Massen und eine schnelle Bildung von Granulationsgewebe
wahrnehmen. Ich sah selbst ein besseres Wachstum der
Granulationen unter der Stauung und insbesondere auch
eine schnellere Ueberhäutung offener Stellen, wenn ich auch
dabei durch zu große Stauung hervorgerufene Störungen
in der Granulationshildung, die sich im Zerfall und in Ver¬
flüssigung der am meisten entlegenen Stellen kundgaben,
nicht ableugnen kann.
Jedenfalls aber konnte ich von einer möglichst früh¬
zeitigen Eröffnung des Herdes nur den l)esten Erfolg für
einen günstigen Ablauf der Staubehandlung erkennen, wenn
es mir auch — wie gesagt — in eipigen Fällen, wo ich
es darauf ankommen ließ, gelang, ohne Eröffnung den Herd
zu beschränken, abzumauern und darin die Bakterien ver¬
hungern und auflösen zu lassen, so daß die darauf vorge¬
nommene Eröffnung vollständig klare, geradezu seröse
Flüssigkeit ergab, ln dieser ließen sich weder Bakterien
nachweisen, noch konnte man am Versuchstiere eine Ent¬
zündung setzen, trotzdem die seinerzeitige P'robepunktion
typischen, akuten, staptiylokokkenreichen Eiter ergeben
hatte.
Ich bin überzeugt, daß auch die Umwachsung steriler
Fremdkörper, die unter Entzündungserscheinungen abläuft,
durch Hyperämie günstig zu beeinflussen wäre.
Die chronischen Eiterungsvorgänge, also vornehmlich
tuberkulöse, ließen sich unleugbar ebensogut, wenn auch
nicht SO' rasch beeinflussen; letzteres offenbar deshalb, weil
die Bakterien dieser Vorgänge, die Tuberkelbazillen, gegen
Entbehrungen, also auch gegen das Verhungern widerstands¬
fähiger sind, das Granulalionsgewehe aber doch auch in
seiner Ernährung und daher Widerstandskraft mitunter an
einzelnen Punkten leiden mag und daher nicht so vollständig
den Abschluß hersteilen kann. Erst Heißwerden der Ent¬
zündung änderte die Sachlage.
Aber auch bei diesen tuberkulösen Entzündungen war
es am günstigsten, wenn der Herd weiches, rasch abstoß-
bares, unbedingt verlorenes Gewebe besaß, so daß die Ent¬
fernung auch rasch vor sich gehen konnte. Trotzdem war
es leicht und scheinbar ohne nachteilige Folgen, die Herde
allzuschließen und daun nach Eröffnung zur Heilung zu
bringen.
Am belangreichsten und für den Wert und die Wirkung
der Stauung üherhaupt am augenfälligsten war jener obige
Fall, bei dem nach einer geringfügigen Verletzung, einem
Nagelstiche, schon nach wenigen Stunden der Stauung aus '
diesem Stiche Granulationsgewebe hervorwuchs und nach
zwei Tagen eingelretener spontaner Erweiterung mit der
Pinzette ein haselnußgroßer Pfropf enifernt werden konnte;
und dies alles in der Hohlhand bei einem Falle, der schon
sechs Stunden nach der Verletzung Lymphgefäß- und he-
denkliche allgemeine Erscheinungen gezeigt hatte und
schließlich in fünf Tagen Heilung und am sechsten voll¬
ständige Arbeitsfähigkeit brachte.
Um mir diese Erscheinungen der Stau- und Saug¬
behandlung zu erklären, stellte ich an Versuchstieren Be¬
obachtungen an. Ich wählte Kaninchen als Warmhlüter mit
empfindlichen Gefäßen, die leicht an einzelnen Körperteilen
zu beohachten sind, und als Wesen, die für Infektionen leicht
zugänglich scheinen.
All diesen Kaninchen wählte ich als Beobachtungsgegen¬
stand das Ohr, denn die Gefäße desselben sind flächenhaft, daher
denllich, in ihrem Verlaufe einfach, Arterien und Venen in der
Beobachtung leicht unterscheidbar, selbst ohne allzugroße Ver¬
größerung und hei gleich guter Beobachtungsgelegenheit der
Beeinflussung durch verschiedene äußere Einwirkungen leicht
zugänglich. Insbesondere zeigte sich mir eine sehr leichte Be¬
einflussung des Gefäßsystems am Kaninchenohre durch Stau¬
ung. Ich legte die Infektionsstellen in verschiedenen Beziehungen
zu diesen Gefäßsystemen an, sowohl Arterien als Venen be¬
treffend. Einmal wählte ich Stellen am Kaninchenohre, die voll¬
ständig im Kapillarsysteme lagen, ein andermal solche nnmittelbar
neben einer größeren Arterie, oder auch neben einer größeren
Vene. Ich schnitt selbst solche Arterien und Venen durch und
legte in den Durchschnitt eine Impfstelle. Am Kapillarsystem
impfte ich bald am Ende einer Vene, bald am Ende einer
Arterie, bald etwa an der Scheide mehrerer in verschiedener
Richtung a])gehender Venen.
Die Stauung selbst beobachtete ich zunächst in ihrem na¬
türlichen Verlaufe ohne irgendein Zutun, oder ich staute das
Blut mittels Klammern, die nach Art einer Serviottenpresse an
den Grund des Ohres angelegt wurden, so daß darunter das Ohr
platt ausgebreitet lag, ohne irgendwie Falten zu machen. Was
die Entwicklung der Impfstelle betrifft, so bemerkte ich, daß
sich meistens nur verhältnismäßig kleine Pusteln bildeten, selbst
wenn der Infektionsherd durch mehrere nebeneinander liegende
Verletzungen mit einer Lanzette gesetzt worden war. In vier Fällen
suchte ich am Rücken des Kaninchens und an den Beinen unter
der Haut Infektionsherde zu erzeugen, doch verlor ich alle diese
Tiere an Blutvergiftung. Der Eiter, den ich verwendete, stammte
ausschließlich aus akuten Prozessen : Fingerwurm, Brustdrüsen¬
entzündung, Drüsenvereiterung, Sehnenscheidenentzündung und
ähnlichen. Ich habe da, was Ausbreitung von Infektionsstoffen
im Kaninchenkörper betrifft, gleiche Erfahrungen gemacht wie
Baum gar ten u. a.
In zwei Fällen, bei denen ich am Ohre zu stark und zu
lang gestaut hatte, verlor ich gleichfalls die Versuchstiere wie die
oberen, offenbar auch infolge unbehinderter Ausbreitung des In¬
fektionsstoffes, beziehentlich seiner Gifte im ganzen Körper, trotz¬
dem die Impfstelle klein war und auch sonst von keinem außer-
gewöludiclien Aussehen zeugte. Diese Beobachtungen der Aus¬
breitung des Infektionsstoffes infolge der Stauung scheinen mir
auch tatsächliche Beweise für die Versuche und Ausführungen
Lexers und W o 1 f - E i s 1 e r s zu sein, abgesehen davon, daß
sie uns auch in den Fällen der erstgenannten vier Versuchstiere
eine besondere Neigung des Kaninchenkörpers für allgemeine
Infektionen, bezieheidlich Infeklionsvergiftungen zu beweisen
scheinen.
Wenn ich vom natürlichen Verlauf der Blutstauung in einem
Entzündungsherde ausgehen will, so werde ich zunächst die Er¬
scheinungen am Gefäßsystem schildern, wie ich sie im Laufe
des Entstehens eines künstlich gelegten Infektionsherdes ab¬
laufen isah.
Schon die in verschiedener Beziehung zum Gefäßsysteme
angelegten Herde lassen auch in dieser Hinsicht verschiedene
Beobachtungen vermuten, die aber alle schließlich in ihrem Ab¬
lauf auf ein und dieselben Gründe zurückführhar sind.
Ziehe ich vor allem jene Infektionsstellen in Betracht, die
ich an das Ende der Arterien setzte, so beobachtete ich folgendes;
Da der Herd von dem mit einer stärkeren Lupe am gerade
noch sichtbaren Ende der Arterien lag, konnte ich vor Anlegung
desselben mit freiem Auge, natürlich hei dnrchfallendem Lichte,
die Arterien lange nicht bis zur Infeklioiisstelle verfolgen. Ent¬
wickelte sich nun die Entzündung, so wurde die Arterie an
ihi'em Ende bis znm Herde weiter und daher nicht nur mit
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
der Lupe augenfälliger, sondern ich konnte sie selbst mit freiem
Auge, wenn nicht bis zum Herde, so doch l)ei weitem ein größeres
Stück als früher sehen. Diese Erweiterung war um so stärker,
je größer der Herd angelegt war, oder richtiger gesagt, je größer
er wurde. Dabei konnte man eine stärkere Schwellung der Ar¬
terien am Grunde des Ohres beobachten, oder auch vermissen ;
immer aber war das Gefäßsystem gegen mechanische und ther¬
mische Reize empfindlicher und schwoll stets von einer durch
solche Reize erzeugten lebhafteren Füllung langsamer ab, als
im gesunden Zustande. Insbesondere bestand stets diese Er¬
weiterungsempfindlichkeit in der unmittelbaren Herdnähe.
Vornehmlich zeugten die Gefäße, die zu und von den
Herden führten, soweit sic nicht eine scheinbare größtmögliche
Weite erreicht hatten, von ganz besonders langsamer Abschwel¬
lung. Diese letztgenannten Erscheinungen galten für alle Impf¬
stellen.
Legte ich den Herd mitten in das Kapillargefäßsystem an
eine Stelle, an der ich mit freiem Auge überhaupt kein Gefäß
sehen konnte, mit der Lupe nur schwer und undeutlich sichtbare
bemerkte, sah ich schon nach wenigen Viertelstunden stärkere
Gefäßzüge gegen die starken Gefäße am Grunde des Ohres ziehen.
Diese Gefäßzüge betrafen immer Venen und verhielten sich je nach
der Infektionsstelle ganz verschieden. War der Herd groß ge¬
worden bis zu einer Pustel von Linsengröße, so konnte ich
Venen sehen, die wohl auf ein Vielfaches der normalen Weite
geschwollen waren und so eine Dicke erreicht hatten, die den
großen abführenden Venen am Grande des Ohres oft nicht viel
nachstand. Diese Erweiterung der Venen nahm verhältnismäßig
mit dem Verlauf gegen den Ohrgrund ab, so daß die Vencn-
kapillare um ein staunenswert Vielfaches geschwollen erschien,
während die ableitende größere Vene kaum merklich erweitert
war. Von dieser letzteren betraf die Erweiterung immer nur
den Teil, in welchen die Abflußvene des Herdes mündete und
von da abwärts, so daß es aussah, als hätten Haupt- und Zu¬
fluß getauscht oder, wenn ich ein Gleichnis mit einem Flusse
wählen soll, als wäre aus einem weit kleineren Nebenflüsse durch
eine Ueherschwemmung ein im Verhältnisse zum Hauptflusse
im Rollenwechsel mächtiger Strom entstanden.
Ich konnte in diesem Falle beobachten, daß von einzelnen
Herden nur das System eines einzigen Venenstämmchens ge¬
schwollen war und von diesem oft auch nur wieder eine einzelne
Abzweigung, die sich von den in nächster Nähe befindlichen ganz
oder fast normal weilen Venen mächtig abhob.
Andere solche Stellen hatten nach zwei Seiten venösen
Abfluß durch erweiterte AederChen. Selten merkte ich Impfstellen
mit mehr als zwei erweiterten Abflüssen. Die allgemeinen Erschei¬
nungen des Gefäßsystems des ganzen Ohres, wie ich sie oben
b('schrieb, waren auch hier sichtbar; nur bei rachitischen Ka¬
ninchen und bei größerer Kälte zeigten sich Verschiedenheiten,
auf die ich jedoch nicht eingehen will. Die Impfstelle, bei der
nur ein erweiterter Abfluß zur Beobachtung kam, zeigte im Ver¬
laufe des Venenästchens eine kaum nennenswerte Zersplitterung
bis knapp vor dem Herde. Da schien es sich rasch büschelförmig
in kleine Aestchen zu teilen, während ein oder zwei größere
von den Seiten gegen die abgelegeneren Teile der Impfstelle zogen,
um sich dann gleich rasch seitlich gegen den Herd zu zersplittern.
Dagegen waren jene Stellen in ihrem Venenverlaufe schein¬
bar viel belangreicher, die nach zwei Seiten hin ihren Abfluß
sandlen. Bei diesen konnte man weitaus zumeist deutlich starke
Venenäslchen beobachten, die rings um den Herd strömend wie
ein Wallgraben, die beiden Veuenstämmchen, die eben den Ab¬
fluß besorgten, zu verbinden trachteten. Und auch von diesen
verbindenden Venen scheint die feine Gliederung in den Herd
ausgegangen zu sein.
Bei jenen Stellen, die nach mehr Seiten Abfluß hatten, sah
man verhältnismäßig eng aneinander, unmittelbar vorn Herde
weg, die Venenäslchen ziehen, ähnlich, jedoch nur an Zahl ver¬
mehrt, wie bei den Stellen, die nur einen Abfluß hatten; nur
mitunter bestand eine stärkere Verbindung zweier Aestchen.
Wenn ich noch jene Herde erwähnen will, die ich in den
Durchschnitt von Aiferien und Venen legte, so seien folgende
Beobachtungen beschrieben. Zunächst die Venen betreffend,
merkte ich nach erfolgtem Durchschnitte, daß der abfließende
Teil sich sofort enveiterte, bis sich ein Kollateralkreislauf ge¬
bildet hatte, der ineist die kürzesten \Vege wählte, die zu er¬
reichen waren, ln einzelnen Fällen schien sich, trotzdem sich
der Herd zur gewöhnlichen Fustelgröße erweiterte, doch auf
irgendeine Weise eine Verbindung zwischen dem zu- und ab-
fließenden Teile der Venen gebildet zu haben, ohne einen sieb.t-
baren Umweg. Immer jedocli blieb nur derjenige Teil der Vene
wesentlich erweitert, der vom Herde wegführte. Der zuführende
Teil schwoll nur so viel, als durch die schon oben genannte
Reizbarkeit des ganzen Ohrgefäßsystems in oben ausgeführtem
Sinne bedingt war, während doch eine Stauung bedingende Er¬
weiterung gerade umgekehrt den zufließenden Venenast geschwellt
haben müßte.
Weiters legte ich wieder einen Herd in die Durchschnitts¬
stelle einer Arterie. Da konnte ich meist eine Entstehung eines
Kollateralkreislaufes auf größeren Umwegen überhaupt nicht beob¬
achten, sondern es stellte sich nach einem kurzen, scheinbar
geringeren Gefülltsein des Endabschnittes eine stärkere Erwei¬
terung und Füllung desselben ein, die sich au der Durchschnitts-
und Infektionsstelle scharf vom nicht erweiterten zuführenden
Teil schied. Dahei konnte ich durch Aufklaffen der üurchschnitts-
stelle, die ich in einzelnen Fällen absichtlich durch die ganze
Dicke des Ohres geführt hatte, eine geradlinige Wiedervereinigung
der Schnittenden ausschließen, so daß ich die Herstellung eines
Kollateralkreislaufes durch die Gefäße des Infektionsherdes an¬
nehmen mußte. Merkwürdig war auch in mehreren dieser Fälle,
daß der Infektionsherd klein blieb und keine hervorragend starke
venöse Abfuhr zeigte. Die Venen, die aus dem Kapillarsysteme
eines solchen Arterienendstückes hervorgingen, waren in keinem
ihrer Teile besonders erweitert. Einfache, nicht infizierte Gefä߬
durchschnitte wiesen gewöhnlichen Verlauf zur Wiederherstellung
des Kreislaufes auf, mit nur verhältnismäßig kurzwmhrender Eiavei-
terung. Dieselben Erscheinungen boten Fälle mit gleichzeitigem
Durchschnitte und Herde an Arterie und Vene.
Schließlich seien noch jene Infektionsstellen orwmhnt, die
sich in unmittelbarer Nähe von Arterien oder Venen befanden.
Die Arterien zeigten keine besondere Veränderung, dagegen waren
die Venen, wenn Abflüsse des Herdes in dieselben stattfanden,
geschwollen, aber auch nur von der Stelle des Abflusses. In
einzelnen Fällen, wo der Herd sehr nahe an einer großen Vene
lag, war diese erweitert so weit der Herd reichte, trotzdem
der venöse Abfluß durch sichtbare Stämmchen weiter abwärts
mündete und nicht unmittelbar der Hauptvene zuging. Da war
oft die entzündliche Infiltration in einer auffallend größeren Ent¬
fernung vom Herde längs dieser Vene sichtbar, als bei anderen
Infektionsstellen die Infiltration reichte. Auch dann war die Vene
schon vom Beginn der Infiltration an erweitert, trotzdem, wie
gesagt, der Abfluß aus der Pustel weit tiefer mündete.
Was die Dauer dieser Gefäßsclnvellung betrifft, konnte man
noch bei schon eingetretener Narbenbildung eine Erweiterung
beobachten, die nur sehr langsam zurückging und Wochen, selbst
Monate bestand, trotzdem vom Herde nichts mehr übrig war
als eine etwas dicke Narbe, gleichsam ein Keloid; und der leb¬
haftere Abfluß, der wahrscheinlich auch einem wenigstens teil¬
weise stärkeren Zufluß entsprach, war scheinbar hauptsächlich
durch die Gewebszunabme bedingt. Allerdings waren diese Venen¬
erweiterungen nicht mehr so stark, wie zur Zeit der Entzündung
und auch ihre Ausbreitung war unmittelbar vor der Narbe nicht
so jäh abbrechend, wie vor dem Entzündungsherd, sondern cs
waren, in die Narbe hineinführend, einzelne Aederchen sichtbar,
ähnlich wie bei normaler Blutversorgung. Immerhin war bei
vollständiger Wiederherstellung ein Gefäß, vom Narbengewebe
abführend, sichtbar, wo vorher ein solches nicht gesehen werden
konnte.
Diese Beobachtungen ergaben zuerst die Tatsache, daß
zu einem entzündlichen Herde eine größere Blutmenge z u¬
fließt, was sich aus der Erweiterung der Arterien in dem
gegen den Entzündungsherd gelegenen Gewebsteile ergibt;
weiters die Tatsache, daß nicht sämtliche Venen in der Um¬
gebung der Entzündung erweitert sind, sondern lediglich
diejenigen, welche die Abfuhr aus dem Entzündungsherde
besorgen. Und diese Venen wieder sind gerade in dem
Teile geschwollen, welcher der Entzündung am nächsten
liegt und nehmen an Schwellung in ihrem iVerlaufe ver¬
hältnismäßig rasch ab. Dann war insbesondere auffällig, daß
in jenen Fällen, wo es sich um die Beteiligung mehrerer
Venen handelte, nur der in unmittelbarster Nähe des
Herdes gelegene Kollateralkreislauf, welcher meist nur aus
einem oder zwei Venenstämmchen bestand, durch deren
stärkere Füllung hergestellt und befördert war.
Ueberdies zeigte in den Fällen, wo der Herd im Durch¬
schnitte von Gefäßen, gleichgültig ob Arterien oder Venen,
gesetzt worden war, immer der vom Herde den Abfluß
besorgende Gefäßteil Erweiterung u. zw. auch in der Nähe
des Herdes stärker als davon entfernter. Selbst wenn wir
diese Erweiterung, bloß als durch Beiz der Gefäßnerven
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
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lierv'üi'gc‘ruii'11 aiisclieii, isl es aiilfällig, daß iiiclil beide
Teile erweiteid sind, der ableiteiide 1'eil idadit sofort nacdi
dem Durelisclmitt niid daß beispielsweise bei den Arterien
die Krweilerung, also Hlntfülle, nicht auch über das Kapillar-
systein auf die enlsprechend(3 Vene übergreift und daß die
Erscheinungen bei nicht infiziertem Dnrchschnitl fehlen oder
geringer auftreten, l)e.i und während der Entzündung alxn*
immer zunehmen.
Ebenso auffällig ist das Verhalten der Venen, daß
gerade nur die Stämme erweitert sind, die voin Herde ab¬
leiten und auch der Hauptstamm nur von der Mündung
des Nebenstämmchens, und daß üherdies eine Benachbarung
des Herdes an Hauptstämme auch eine Erweiterung dieser
letzteren, ohne daß sie Abfluß bilden, anslöst.
Würde es sich um eine gewöhnliche Blntslauung han¬
deln, müßte doch der ganze Verlauf der Vene erweitert sein,
insbesondere der zuführende. Ebenso müßten alle Venen-
stänime, die in der Umgebung des Herdes liegen, auch wenn
sie nur den Kollateralkreislanf besorgen, geschwollen sein ;
so aber scheint doch das Verhalten der (lefäße, Arterien
sowohl als Venen, beim Ablauf von Entzündungen doch
nicht so sehr eine Stauung des venösen Blutes zur un¬
mittelbaren Abtötung der Entzündungserreger hervorzurufen,
die Bestimmung zu haben, sondern sie dient nach den Be¬
obachtungen nur einem mittelbaren Zw(‘cke dieses
Zieles.
Wir wissen, daß frisches Gewebe eine gewisse Wider¬
standskraft gegen Bakterien besitzt. Nur wenn diese Wider¬
standskraft heruntergeselzt ist oder gar aufgehoben wird,
ist es den Bakterien möglich, üppig auf Kosten dieses Ge¬
webes und ihres Wirtes zu wuchern, in dem Bestreben, mög¬
lichst viel für sich in Anspruch zu nehmen. Diese Herab¬
setzung oder Aufhebung der Widerstandskraft des Gewebes
geschieht beispielsweise durch Verletzungen, wo Gewebs-
bestandteile mit geringerer Widerstandfähigkeit hei gleich¬
zeitiger Infektion Bakterien zugänglich gemacht werden, wo¬
bei die letzteren durch das zerdrückte und gequetschte und
dadurch weniger widerstandsfähige Gewebe von vornherein
mehr oder weniger günstigen Nährboden erhalten. Durch
die Eigenschaft, Stoffe abzusondern und in solche zu zer¬
fallen, welche eine Herabsetzung oder Tötung der Eebens-
fähigkeit des zunächstliegenden Gewebes und schließlich
auch des Wirtes ermöglichen, können sich dann die Bakterien
stets neuen Nährstoff zubereiten. Das Gewebe wieder hat
die Fähigkeit, mit einzelnen Einrichtungen dieser Schädigung
seines Bestandes entgegenzu treten und die Bakterien an der
Abtötung gesunden Gewebes zu hindern und sie selbst
vollständig des Einflusses auf noch gesundes Gewebe zu
berauben und den Einbruch aller Gifte zu hemmen; dies ge¬
schieht insbesondere dadurch, daß es flurch Bildung eines
Schutzgewehes, Granulationen, die Bakterien von dem ge¬
sunden Gewebe abschließt, den Herd also geradezu ah-
zumauern versucht. Das Schutzgewebe stellt dann auch
das Ersatzgewebe.
Diese Abmauernng des Gewebes wird eingeleitet durch
lebhaftere Einwanderung der Bundzellen, deren besonderei'
Sendungszweck noch unerforscht ist, in das bedrohte Gebiet
und Hervorrufung der vielleicht unter Leukozyteneinfluß
oder -mithilfe stattfindende Erzeugung genannten Granula¬
tionsgewebes. Dieses mit großer Schnelligkeit entstehende
Gewebe erfordert offenkundig eine sehr lebhafte Ernährung
zu seinem Wachstum, abgesehen davon, daß schon die Häu¬
fung von Rundzellen, also Vermehrung des Gewel)es über¬
haupt, eine lebhaftere Nahm n gsz uf uhr bedingen
muß. Daraus läßl sich schon die Notwendigkeit schließen,
warum das zuführende Gefäß, die Arterie, zu einem solchen
Entzündungsherde erweitert ist, also mehr Blut zuführt,
und warum dieser lebhafteren Blutzufuhr natürlich aucb
eine stärkere Abfuhr enlsprechen muß.
Wir sehen ja schließlich auch in dem von Infek¬
tion unbeeinflußten Falle von Fremdköri)ereinheilung ganz
gleiche Erscheinungen.
Wenn wir aber im Gefäßsystem (‘ines Kaninchenohres
Beobachtungen anstellen, sehen wir, welch starke Venen
als Bluiahfuhr ganz dünnen Artej'ien gegenübtu'slebeJi. Wenn
wir and(‘rnteils aber die Beohacbtung der Erweiterung derab-
führenden Gefäße in den Fällen der G(‘fäßdurchschnitts-
b(!obachtungen in Betracbt ziehen, so müssen wir uns sagen,
daß die jedenfalls durch Gefäßnei'venreiz hervorgerufene
Ifrweiterung gerade am Durchschnitt mit Entzündungsherd
und bei Benacbbarung eines großem \'(menstammes vielleicht
doch noch eine andere Bedeutung haben muß und daß diese
auch auf die Erweiterung d(!r vmn einem Infektionsherde
abführenden Gefäße überhaupt übertragbar und anwendbar
sein könnte.
Wir wissen, tlaß die oben angeführten Erzeugnisse
der Bakterien das Leben des inngebenden G(‘webes stören,
daß diese Erzeugnisse verhältnismäßig rasch und weit sich
in den Spalträunien verbreiten und vor allem auch das feine
emplindliche Gewebe der Gefäße, zumal der dünnen Kapil¬
laren ergreifen niici daß die Gefahr der Ausbreitung aller
Arten von Erzeugungs- und Zerfallsgiften dort am nächsten
ist, wo der Abschluß vom Gesunden und Kranken nicJit
stattfinden konnte oder verzögert ist. Dadurch wird aber
sofort ein kleines, der Ernährung durch die Kapillare ent¬
sprechendes Gebiet in der Ernährung heruntergesetzt und
daher erfahren die Bakterien neuerdings eine Zimahjiie an
Nährstoff. Diese Zunahme erzeugt eine stärkere und üppigere
Ernährung von Bakterien, welche wieder eine um so größere
Giftmenge ahzusondern in der Lage sind. So laufen im Ent¬
zündungsherde fort Gefäßentzündungen ab, die sich natür¬
lich stromabwärts leichter verbreiten können, ins¬
besondere, da die Venen empfindlicher scheinen als die
Arterien.
Diese Gefäße werden dadurch gehrauchsunfähig, daß
durch die Giftstoffe die Wände ergriffen werden und das
Blut in den Gefäßen gerinnt. Diese Gerinnung reicht
aber offenbar weiter als die verursachende Sch ä d i-
gung der Gefäßwand; es ist also anzunehmen, daß inuner
ein größerer Teil des G(nvebes durch Unterernährung infolge
mangelnden Nahrungszuflusses an Lebensfähigkeit eiid^üßt
und so den Bakterien verfällt, als das von diesen unmittel¬
bar lebensunfähig gemachte Gebiet umfaßt.
Das Gleiche muß auch den Bund zellen wider¬
fahren, sobald sie im Gewebe liegen, das nicht mehr ge¬
nügend durch Nahrungsstoffe ernährt wird. Dadurch aber
ist wieder die Erzeugung des abmauernden Granulations¬
gewebes behindert, das übrigens für sich schon eine sehr
lebhafte Ernährung durch günstigen, ausreichenden Blut¬
zufluß erfordern würde.
Üb der Alkaliverlust im Kapillarsystem, insbesondere
bei wachsendem Granulationsgewehe nicht durch lebhaftere
Zufuhr wettgemacht werden soll, bliebe auch bedenkens¬
wert. Dieser Alkaliverlust würde ja auch wieder die Ge¬
rinnbarkeit nur noch erhöhen.
Die mächtige Anschwellung des Gewebes, das für so
(unen Gewebszuwachs von vornherein nicht eingerichtet ist,
bildet mit der Rundzellenhäufung, Gefäßausschwitzung, nöti¬
gen Vermehrung des Nährstoffzuflusses und dadurch beding¬
ten Sp a n nu n g s e r h öh u n g des Gewebes einen mächtigen
Druck, insbesondere auf die dünnwandigen, weichen, leicht
zusammendrückbaren Gefäße ebendieser Entzündungsge¬
schwulst seihst. Dadurch würde natürlich wieder eine Unter¬
ernährung erzeugt.
Abgesehen davon, daß die Gerinnung des Blutes in
den Gefäßen von der beschädigten Gefäßwand ausgehen
dürfte, wollen wir nicht vergessen, daß sowohl nach den
älteren, als auch nach den neueren Untersuchungen hei
jeder Gerinnung irgendwelche aus den weißen Blut¬
körperchen stammenden Stoffe von Einfluß sind. Die
leichte Gerinnbarkeit des Blutes bei kruppösen Pneumonien
mit ihrem Zerfalle einer ungeheuren Eeukozytenmenge mag
hier angeführt sein.
Wenn wir aber im Entzündungsherde bis an seine
äußerste Grenze Bundzelbm gehäuft finden, gegen den
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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mit den liakleiieii um so dieliter gedrängt, su
müssen wir einselien, daß jede Scliädignng des Ulnt-
als A' all r s Lo l'f z u fl ü s s e s nicliL mir eine IJeein-
träeliligung der sn nütz liehen L e n k n z y t e n t ä ti g-
keit hervurrufen muß, sondern auch durch den infolge
Li n t e r e r n ä h r u n g e r z e u g t e n f{ u n d z e 1 1 e n t o d IS to f f e
f r e i in a c h L, die ihrerseits wieder durch B e f ü r d e r u n g d e r
(leriniiung des Blutes in den Lie faßen eine Bn ler¬
ernäh rung einzelner Teile des Biitzüiidungsherdes be¬
dingt.
L'eherdies würde durch L e u k oz y t(' n ver 1 u s I oder
deren Lelienshehinderuiig wahrscheinlich die
lytische Alltrennung des zugrunde gegangenen
de wehes verzögert werden, wenn, wie es den An¬
schein hat, die neueren Beobachtungen und Versuche über
die Wirkung der den Leukozyten innewohnenden oder von
denselben stammenden Fermente recht behalten.
Fs ist klar, daß die oben erwähnte derinnung dort am
meisten gefährlich sein wird, wo sich die am wenigsten
widerstandsfähigen Gefäßwände befinden, lang¬
samer Blut läuft, Enge der Gefäße und Eindickiing
des Inhaltes vorhanden ist (Blutplättchen) und vor allem
dort, wo überhaupt die Abfuhr der schädigenden
Stoffe stattfindet.
Wir dürfen es daher als keine besondere Erscheinung
ansehen, wenn sich gerade die V e n e n des Entzündungsherdes
erweitern, da wir ■ doch wissen, daß dergestalt eine
solche E n t z ü n d n n g in i ni in e r w ä h r e n d e m F o r t-
sch reiten kleinster und kleiner Venen e n tz ün-
(1 u n gen a b 1 ä u f t. Ein akutes Unterschenkelgeschwür bildet
uns da das brauchbarste und allbekannteste Beispiel, das
uns in seinem Ablaufe auch am Menschen den besten Be¬
obachtungsgegenstand natürlich hervorgerufener Stauung,
ihres Zustandekommens, Vei-gehens und ihres Zweckes
abgibt.
Diese Erweiterung bezweckt also zunächst genügende
Abfuhr der stärkeren Blutzufuhr, Besserung der
l'irnährung, Vorsorge möglichst rascher Herstel¬
lung des Kollateralkreisla ufes für den Fall von
Thrombosen und möglichst ungünstige Gelegenheit für
G e r i n n u n g s vo r g ä n g e des ohnehin eingedickten und von
den Ergänzungs- und Zerfallstoffen geschädigten Blutes, so¬
wie Förderung der G r a nul a ti o n s bil du n g. Daß die
Erweiterung der Venen im Kapillargefäßsystem die Gerin-
nimgs Vorgänge hintanhält, läßt sich aus der Tatsache schlie¬
ßen, daß venöses Blut, wenn es ungeschädigt ist, für sich
schwerer gerinnbar ist als arterielles. Eine Hückstauung im
Kapillargefäßsystem setzt also die Gerinnbarkeit des Blutes
in diesem herunter; ebenso ist die Erweiterung der
engsten Gefäße für Gerinnungsvorgänge ungünstiger.
Die Eindickung des Blutes nimmt schon Rokitansky
an und bewiesen, allerdings ohne Sicherheit, teilweise Jün¬
gere. Ich habe durch Blutkörperchenzählung aus Arterien
und Venen des Kaninchens auch von dieser Seite eine Ein¬
dickung zu ergründen getrachtet und wieder Beobachtung
einer tatsächlichen, verhältnismäßigen Vermehrung in eid¬
zündeten oder erweiterten Venen des Entzündungsherdes
angestrebt, ln Venen fand ich allerdings die Blutkörper¬
chen häufig vermehrt, doch war das Ergebnis zu unsicher,
um es als ständig hinstellen zu dürfen. Die verhältnismäßige
Vermehrung in beeinflußten und normalen Venen war mir
der Kleinheit der Venen wegen unmöglich festzustellen oder
gab in den größeren kein beachtenswertes Ergebnis. Ebenso
unergründlich ist bisher die Viskosität des Blutes.
Die vermehrte F 1 ü s s i gkei t s a b ga b e und viel¬
leicht schon dadurch bedingte teilweise Eindickung ersehen
wir an nach Art des Au gust sehen Feuchtigkeitsmessers
äthergekühlten Saugglocken mit dem reicheren Wasserbe¬
schlage hei Entzündungsherden als bei normalem Gewebe,
sowi(' an der gleichsinnigen Zunahme dieser Abscheidung,
je größer die natürliche oder künstliche Stauung, bzw. Ent¬
zündung ist. Ich habe diese allerdings groben Versuche oft
gemacht und immer wieder bestätigt gefunden. Ueberdies
würde auch zu s 1 ar k e r A Ik al i v e iT u s t, auf den ich schon
oben hin wies, die Gerinnungsfähigkeit hefördern.
\'on den Tatsachen über Gerinnung habe ich mich auch
selbst durch Anstellung von zahlreichen Beobachtungen bei
Versuchen über die Gerinnbarkeit des Bildes nach dem
Vier ordtschen Vorgänge überzeugt.
Derselbe sucht die Gerinnungszeil in feinen Glasröhr¬
chen, die mit Blut gefüllt werden und durch die ein Pferde¬
haar führt, festzustellen und miteinander zu vergleichen.
Ich zog verschieden starke Haarröhrchen, die ich unter
dem Mikrometer möglichst nach gleicher Innenweite in
Gruppen stellte, gleich lang brach und mit einem weißen,
gereinigten, jedoch nicht entfetteten Pferdehaar versah.
Darauf entnahm ich dem Kaninchenohre aus Venen und
Arterien mit diesen Kapillaren Blut und konnte nun Ver¬
gleiche mit diesen entnommenen Blutmengen in diesen Ka¬
pillaren anstellen. Al)gesehen davon, daß sich, was Gerin¬
nungszeit betrifft, stets arterielles Blut dem venösen gegen¬
über, natürlich in gleich weiten Kapillaren, ungünstiger er¬
wies, an dem herausgezogenen Haare bei arteriellem Blut
Klümpchen geronnenen Blutes früher sichtbar waren, stellte
sich überdies auch ein deutlicher Unterschied innerhalb
jeder einzelnen Blutgattung bei verschiedener Weite der
Kapillaren zugunsten verlängerter Gerinnungszeit bei den
weiteren Röhrchen ein.
Brachte ich in einem Uhrschälchen oder direkt in einer
Kapillare mit dem Blute Eiter oder zentrifugiertes Eiter-
seruni in Berührung, konnte ich regelmäßig eine bedeu¬
tende Verkürzung der Geriimungszeit feststellen, insbeson¬
dere dann, wenn ich leukozytenreichen Eiter oder dessen
Serum verwendete.
Die Beobachtung im hängenden Tropfen, wie sie zu¬
nächst Schwab angibt, die Feststellung der Gerinnungs¬
zeit durch Beobachtung des am Rande auftretenden Fibrin¬
netzes bezweckt, führte zu demselben Ergebnisse. Tatsäch¬
lich können wir, wie gesagt, ähnliche Fälle am Menschen
selbst beobachten, in denen wir bei mancher Pyämie oder
bei jeder kruppösen Lungenentzündung, wO' starker Leuko¬
zytenzerfall stattfindet, eine übermäßige Vermehrung des
Fibrinnetzes und GerimiLuigsbeschleunigung festzustellen
vermögen.
Diesem Zwecke d e r G e r i n n u n g s b e h i n d e r u n g
und damit Ernährungsbeförderung scheint die re¬
flektorische Erweiterung gerade der ab fließen den Ge¬
fäße überhaupt und insbesondere der Venen in ihrem
kapillaren Teile zu genügen.
Die künstliche Stauung brachte eine sozusagen
prophylaktische Erweiterung der Venen zustande,
da die natürlich eintretende erst im Augenblick
der höchste n G e f a h r und daher oft schon z u s p ä t
in Erscheinung trat. Weil in diesen prophylaktisch zu er¬
weiternden Gefäßgebieten die Abschwellung zu bald statt¬
fand, mußte auch die Stauung lang genug und, da
die engen Gefäßchen über ihr Können erweitert werden
mußten, auch stark genug vorgenommen werden.
Wenn ich nun meine obigen Beobachtungen über die
nach der Bi ersehen Blutstauung behandelten Entzündun¬
gen im Zusammenhang des eben Vorgebrachten besprechen
soll, will ich die wichtigsten Erscheinungen bei der normal
ablaufenden Entzündung hervorheben, die sich durch die
Wirkung der Blutstauung günstig beeinflussen lassen, um
dann schließlich die Ursache dieser günstigen Wirkungs¬
weise durch die Beobachtungen beim Tierversuche zu er¬
klären.
Wir können im allgemeinen die gefährliche Tätigkeit
der Bakterien dann als beendet oder, besser gesagt, un¬
wirksam für den Organismus betrachten, wenn es letzterer
zustande gebracht hat, den Entzündungsherd durch Granu-
lationsgewebe abzu mauern. Dann ist es für gewöhnlich
den Bakterien nicht mehr möglich, gesundes Gewebe zu
zerstören, da dieses durch das Granulationsgewebe geschützt
wird; den Bakterien selbst aber ist gleichzeitig jeder Nähr¬
stoff entzogen und sie müssen in ihrem eigenen Schmutz
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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verli Uli gern und werden wahrselieinliidi durch Perniente
gelöst. Von irgendeiner unmittelbar stattl'indenden
keimtötenden Wirkung des Blutes kann man wohl so lange
nicht sprechen, als die Versuche so gegensätzliche Ergebnisse
zeiligen. Wenn ein Entzündungsherd nicht gegen die ge¬
sunde Umgebung abgeschlossen isl, kann die zerstörende
Wirkung des Bakterienlebens immer weitergreilen und
können die Gifte, wie sie immer heißen und sein mögen,
zur allgemeinen Ausbreitung der Bakterien oder Gifte im
Gesamtkörper und zu dessen Schädigung führen.
Damit ein solcher Herd abgemauert wird, ist es zu¬
nächst notwendig, daß alles Gewebe in der Umgebung des
Herdes möglichst lebenskräftig erhalten, das der Zerstörnng
verfallene Gewebe möglichst rasch entfernt wird und daß
die Einwirkung der Bakterien in ihren Erzeugimgs- und
Zerfallsgiften heruntersinkt. Bei all dem ist die Leiiko-
zy teile rlial tun g scheinbar von herv'orragendstem Werte.
Zur möglichsten Erhaltung und Kräftigung der Um-
gebimg des Entzündungsherdes ist vor allem eine lebhaftere
Zufuhr von Nährstoffen notwendig; dies um so mehr in
solchen Fällen, wo das Gewebe und seine Ernährung durch
Vermehrung (weiße Blutkörperchen) und lebhaftere Vorgänge
mit der früberen Ernährung sein Auslangen wohl nicht
finden kann, als auch durch Ausdehnung des Gefüges (Ex¬
sudation) und durch Verhärtung und dadurch bedingten
Druck eine Behinderung der Nahrungszufuhr erfährt, ganz
besonders aber dann, wenn noch diesen Wegen der Zufuhr
und Ernährung die Absperrung (Gerinnung) droht.
Das rasch wachsende und offenbar auch sehr üppigen
Stoffwechsel erfordernde Granulationsgewebe hat wohl auch
reichliche Nahrungszufuhr nötig, soll es eine günstige
und feste M a u e r abgeben.
Die Entfernung des zerfallenden Gewebes wird wohl
dann am raschesten erzielt werden, wenn es schnell vom
gesunden Gewebe abgetrennt wird. Das geschiebt teilweise
dadurch, daß die Zone des minder ernährten oder von
Bakterien teilweise geschädigten Gewebes eingeengt, die
Bildung des Granulationsgewel)es angeregt und unrettbares
Gewebe nicht noch mit unzulänglichen Nährstoffen er¬
halten wird, als übermäßig lang bestehende, für den Bak¬
terieneinbruch günstige Bresche in der Granulati jnsmauer.
Dazu dient wieder die künstliche Stauung mit der Erhaltung
der Leukozyten.
Die Bakterien aber werden in ihrer Wirksamkeit her¬
untergesetzt, wenn ihnen Nährboden entzogen mul dadurch
bedingte Virulenzherabsetzung das Auftreten von gewebs-
schädigenden Stoffen (Erzeugungs- oder Zerfallstoffe) be¬
schränkt wird, bzw. wenn die verschiedenen Erzeug ungs-
und Zerfalls gifte unschädlich gemacht werden.
Dies erreicht man, wie schon Lexer nachwies, am
l)esten dadurch, daß man am Entzündungsherde durch Er¬
öffnung und Entleerung der Bakterien und des sonst
am Herde hefindlichen Unrates diesen genannten Schädi¬
gungen günstig begegnet.
Neben den Bakterien, ihren Erzeugungs- und Zerfalls¬
stoffen finden sich im Eiter außerdem noch nicht ganz ver¬
brauchte, für die Bakterien Nährstoff abgebende Gewebs-
bestatidfeile und weiße Blutkörperchen, welch letztere, in
ihrem Leben geschädigt, auch wieder den Bakterien als
Beute zufallen können. Diese weißen Blutkörperchen aber
können überdies noch eine schädigende Wirkung durch Er¬
höhung der Gerinnbarkeit des Blutes in den zuführenden
Gefäßen ausüben. Ihre Abstoßung aus dem Herde,
wenn sie dem Verfalle geweilit sind, oder andernfalls ibre
rnöglicbste Erbaltung durch Unterstützung der Ernäh¬
rung im Bandgebiete — denn sie dürften ja doeb mit der
Bildung des Granulationsgewebes oder der Abtrennung des
Ahgetöteten in irgendeiner Beziehung stehen — scheint mir
auch nicht so ganz belanglos zu sein.
Die günstige Ernährung des Randgebietes, welche die
Widerstandsfähigkeit des Gewebes erhalten, vermehren oder
zurückgeben soll, wird offenbar am leiebtesten dadurch er¬
reicht, daß durch lehhafte Bhitzufuhr und Blutfülle die Er¬
nährungsverhältnisse gebessert werden. Daher die natür¬
liche Vermehrung der Blutmenge im Entzündungsiierde, so¬
wohl des arteriellen Zuflusses, als auch des venösen Ab¬
flusses; daher der in dem vermebrten Gewebe um so nötigere
Blutzudrang, dessen Gefäßbahnen überdies gegen den auf
ihnen erhöht lastenden Druck um so lehhafter gesi)annt sein
müssen, um der Zerstörung durch Nichtversorgung im Kol-
lateralkreislaufc und iler Beförderung der Gerinnung durch
Ahfallstoffe aller Art, insbesondere der Leukozyten, be¬
gegnen zu können, zu deren Erhaltung vielleicht zum größten
Teile die erhöhte Blutzufuhr veranlaßt wurde.
Die Trennung des unbedingt der Zerstörung anheini-
gefallenen Gewebes wird auch dadurch günstig beeinflußt,
daß die oft noch bestehende, aber weitaus zur Wieder¬
belebung unzulängliche N ah r u n g s z uf uhr ab ge¬
sperrt oder der Wert der Nabrung herabgesetzt
wird.
Alle diese nötigen iMaßnahmen des Organismus im
Ablauf einer Entzündung werden in verschiedenem Maße
tatsächlich von selbst duJ'cTi den Organismus geleistet und
zwar ungefähr im Verhältnis zur Schnelligkeit und Schädlich¬
keit der Verbreitung von Bakterien und deren Schädigungen.
Meistens reichen diese Maßnahmen nicht aus,
den Herd zu e n t f e r n e n o d e r unter möglichst gün¬
stigen Bedingungen in möglichst kurzen Zeit¬
räumen und mit Hinterlassung von geringsten
Eolgen zu beseitigen.
Künstliche Hilfe kann diese nafürlichen
Maßregeln äußerst wirksam unterstützen, wie
es uns eben das S t a u v e r f a h r e n Biers gelehrt hat.
Wir beleben derart oft bereits leicht gesdiädigtes Gewebe,
erhalten das zum Entzündungsherde geschickte lieer von
weißen Blutkörperchen, die für den günstigen Ablauf der
Entzündung von so großem W''’erte sind, zerfallen aber nicht
nur diesen Wert entbehren lassen, sondern sich sogar in
einen schädigenden Bestandteil verwandeln können, um das
entsprechend versorgte Gebiet neuerdings dem Verfalle aus¬
zuliefern. Wir können durch künstliche Stauung im Rand¬
gebiete jene Teile, die infolge Entzündung und Gerinnung
in den versorgenden Gefäßchen iji ibrer Lebensfähigkeit
soweit heruntergesetzt wurden, daß an eine Wiederherstel¬
lung mit Anwendung keinerlei Mittel zu denken ist, dadurch,
daß wir auch den letzten Rest des iNährsboffes in seinem
Werte eben durch diese Stauung weiter herabsetzen (venöses
Blut mangels an genügendem Kollateralkreislauf nicht er¬
setzbar und daher minderwertig) einem beschleunigteren
Zerfall preisgeben und so raschere Abgrenzung igegen das
gesunde Gewebe hervorrufen. Wir geben aber auch da¬
durch, daß wir das Randgebiet, wo es noch kräftig genug
ist, doch einige Zeit günstig zu ernähren vermögen, dem Ge¬
webe Gelegenheit, aus sich mit Hilfe der kräftig erhaltenen
weißen Blutkörj)erchen das schützende Gewebe der Granu¬
lation zu erzeugen und durch eine Unzahl von feinsten
Kapillaren günstig und widerstandsfähig genug zu erhalten
und schließlich zur Wiederherstellung des durch zerfallendes
Gewebe entstandenen Verlustes wirksam zu verwendeji. Da-
ber behält auch das oben über vorbeugende Wirkung der
Stauung Gesagte, auch bei der Anwendung am Menschen wie
beim Tierversuch seine höchstwahrscheiuliche Wirkimgs-
gültigkeit.
Diese Unterstützung des natürlichen Vorganges werden
wir selbstredend dann am besten besorgen können, wenn
wir durch Eröffnung des Eiterherdes immer wieder neuen
in der eben erörterten Weise drohenden Sebädigungen von
seiten seines Inhaltes begegnen.
Anhangweise seien jene Saug- und Staubehandlnngen
angeführt, die sich auf Ohr und Nase beziehen. Da ich auf
diesem Gebiete dureb Versuche Wirkungsbeobachlungen
nicht belegen kann, weil ich mich damit nicht befaßt babe,
will icb nur kurz meine Erf'ilirungen auf diesem Beband-
lungsgebiet mitteilen.
Besonders günstige kuT'olge l)ei der Saugbehandlung
an der Nase erziell(' ich bei Stinknase und chroni-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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seil (Ml KalairluMi st'llisl iiu’l hyiK'rlroiihicrUM“ ScIiUmiii-
Jiiiul. .\ l)g('S(‘lien davon, daß sich sciioii nach inehiaoa'n
Silznngen l'i rJ e i c h l e i' n n g d (m- B e s c ]i vv oj'd (mi geltend
niaclde, kojiiden dnr(di Oanerheliandinng seihst die (io-
wehsvei'änd(M’ungen zor Xorin znriiekgelührt werden.
Ich nu'ichU' da auch zwei(‘r k'älle adenoider W'nclie-
riiiig(ni ini Naseurachenranin Krwähiuing tiui, die mit chro¬
nischem Katarrli hegleilel waren. Icli löste mit dem h'iiiger
die athmoiden Wnehernngen dnrcli den Mnnd oder zer¬
drückte si(‘ lind ließ dann die Sangvorrichlimg gehrancheii
n. zw. zwei- bis dreimal täglich je eine halbe Stunde mit
kiirzim Uni erbrech im gen von einer bis drei Minuten. I(‘h
verwandte sowohl die von Bier ange.gehenen Saugvorricli-
tungen als aucli die nach S o n d e r m a n.n -M u ck ; beide
Alien mit ziemlich gleicner \’erwemlharkeit. Bei diesen
oben genannten adenoiden AVueherungen merkte ich nach
einigei' Zeit Bückgang und selbst Besserung des iKatarrlis
und auch Bückbildnng der Wucherungen bis auf fast nor¬
male Besidiaffenheit der Aasenrachenraum-Schleimhaut.
Sehr von Wert war mir aucli dieses Verfahren an
der Nase hei stark schmerzhaften Stirnhöhlen¬
eiterungen a k Li t e r o d e r c h r o n i s c h e r A r t. Die akulen
Katarrhe oder EiteTungen ließen schon nach wenigen Sitzun¬
gen eine Herabminderung der Schmerzhaftigkeit heohacliten
und gelangten in verhältnismäßig kurzer Zeit, ohne chro¬
nisch zu werden oder wiederzukehren, zur anscheinend
vollständigen Keilnng. ,
Ein hesonders günstiger Eall eines (dironischen Stirn¬
höhlenempyems sei seiner auffallenden Besserung wegen
eingehender mitg(deilt.
Die Ijetreffcnde Kranke litt seit mehr als sechs Jahren
im Befolge einer hiflnenza an heftigen, der rechten Stirnhöhle
(‘iitsprechenden S( Imn'rzen, die örtlich eine flache, (leidlich merk-
hare Anfti'eibung in diesem (iebiete , liegleitide. Beim Liegen floß
in den Nasenrachenrauni dicker, griinlichgelber, stinkender
Schleim; zeitweilig bestanden auch Temperatursteigernngen. Diese
Zustände waixm zuerst leicht, ohne sich allzu häutig in stärkerem
Brade bemerkbar zu nuudien, verschlimmerten sicdi jedoch in
den letzten .lahren zu solcher Heftigkeit, daßi die Kranke tage-
iang ihr t'uhig(rs Lager luden mußte, von den heftigsten Schmerzen
ge([uäh. Dalnd nahm auch der Eiterabgang immer nudir zu.
Die .Aidireibnng sclnvoll stärker wie sonst und .ging, was frülu'r
nie (dntraf, nicht melir vollständig zurück. Schon melirmatigi'
Anwendung des S a ii g v e rf a h r e n s ließi eine Besserung
(‘i'kennen insofern, als der Schmei'z h e r a b g e m i n d e r 1 war,
der enlsjjrechemh' Stirmudeil nicht mehr so stai'k sclnvoll
und insbesondeo' aindi der S c h 1 e i m a b g a n g sich be-
schi'änktce Hartnäckige 1) a n e rb e h a n d 1 u n g, bei der ich die
Behaniiclikeil der Kranken günstig beeitdlussen konnte, vermochte
(‘iidlich eine fast vollständige W i e d e r h e r s t e 1 1 u n g zn
(Mzi(den, so daß alle g(mannten hauptsäcldichsten Erscheinungen
vollständig znrückgegangen sind. Ein Vierteljahr erfolgte die l’e-
handtung tägticli,. dann ließ allerdings die Kranke selbst darin
loidvcrer. End min seil einem weiteren .lahre, wäliiamdderssen
die Behandlung d(*r Kranken kaum nennenswert war, blieb di((
lU'Sserung anhaltend und nur noch (dwas gegen die Ahirin er¬
höhte Schleinia bsonderung zeugt von der seimmzeitigen Er¬
krankung.
Audi Ohrimerki'ankmigeii, sowohl akiiti' als auch
chronische AI i 1 1 ei oli r e u l z ü ii d u n g e ii, koimlen in
ihrer Abheilung durch die Saughehaudlimg u. zw. mittels
Vorrichtimgeu nach Aluck zur Heilung oder iMilzüudmigs-
freiheil gehracld wumdeii.
Iiishesonders erfiamlidi war die mir bisher nie ver-
sagemh' Ih'sseruiig der chroiiisehen Alittelolireilerimgen, für
(leien ühh' Ersclnduungen wir bisher olmeliiu kein zuver¬
lässiges Mittel liattmi. .\uch hei dii'sen Erkrankungmi sei
ein Eall hi^sonders erwähnt.
Ein Alädchmi von 28 Jahren hatte vor 20 .lahren nach
Scharlach (dne (dterige Alittelohrenlzündung erhallen, die in be-
sländigimi We(dis(d von Fluß- und .Vblieilnngsbest relxm bisniin
bestand und sie in der letzten /(dt durch neuerlichen stärkeren
Eiterfhiß, Schmerzen und ludtiges Obrmisnusen belästigte. Bleich-
z(dtig bestand bei dii'ser Patientin eiiu' Verdickung der Nasen-
ra(dienrauni-Sclil(dmhaut und eine sohdu' der NasenschleimbauL
Die Behandlung mit Saugaiiparaten an Ohr und N ise brachte
i schon in kurzer Zeit günstige Besserung, sowtdd Kopfschmerz
als Atmiingserleichterimg betreffend, sowie Abnahme der
räusche. Ja, ich konnte sogar eine W'rkleim'rung dei' 'rrommel-
fellöffnungen dnndi Vernarlumg beobachten, nachdem sich 'der
Eiter veiloreii und das in der 'l'iefe sichtbare Branulalionsgewebe
lebendiger gi'Z(dgl halle. Diese Kranke stand bis vor kurzem,
im ganzen fast ein .lahr, in obiger Art in Selbstbehandlung bei
zeitweiliger Nachsicht duiadi mich und ist .selbst mit dem jetzigen
Zustand sehr zufrieden.
Die Saughehamlluiig am Obre koimle ich ohne viele
Aiühe auch hei kleinen Kindern durchführen; doch wmr
es in allen Bällen von besonderer Wichtigkeit, daß der
Kranke inshesoiidere lud chronischen Fällen in der Be¬
handlung nicht mnddieß; sonst konnte mau nienmis von
einem Dauererfolg sprechen. Die Besserung offen¬
harte sich stets diirih Nachlassen des Eiter-
ah ganges, der serös-schleimig wurde, ln diesem
Zustande heslanden dann meist keijie oder nur geringe,
von den Destruktionsverltälinissen im Mittelohr herrüh¬
rende Beschwerden, wie Sausen usw., was sich jedoch oft
genug auch noch im Laufe weiterer Behandlung einschrän¬
ken ließ. Oh eine länger fortgesetzte Sauganwendung über
den erreichten Erfolg noch günstigere Aussichten bietet,
muß wohl abgewartet werden. Desgleichen ist die Erkennt¬
nis der Notwendigkeit betreffs Alaßnahmen über das Nach¬
lassen und Aufhören der Saughehandlung am günstigen
Zeitpunkt weiterer Erfahrung zu überlassen, um so mehr,
als es gerade hei diesen zumeist chronischen Erkrankungen
den Anschein erweckt, als würde die Behandlung eher zu
kurz, doch nie genug lang fortgesetzt.
Es mußten mich die Behandlungen chronischer Mittel¬
ohrentzündungen mit hübschem Erfolge desto mehr freuen,
als man ja bisher bei zuwartender Behandlung mit Ein-
stauhen und Ausspritzen den hellsten Gegensatz trieb, der
kaum helfen, wohl aber reichlich schaden konnte und als
selbst operatives Angehen betreffs Dauerheilung zweifel¬
haften Erfolg in Aussicht stellte.
Diesbezüglich sei noch mitgeteilt, daß ich einen Ar¬
beiter mit chronischer Mittelohrentzündung behandelte, der
noch jetzt in Selhsthehandlung mit zeitweiliger Nachsicht
steht, nachdem er eine Badikaloperation und Eröffnung
und Ausräumung des AVarzenfortsatzes hinter sich hatte
und doch nicht vollends genesen konnte. Die zwei Jahre
lange Zeit seit der Operation hedeutele für ihn einen be¬
ständigen Wechsel von Schmerzen und banger Furcht vor
ihrer Wiederkehr, bis das angewandte Saugverfahren end¬
lich Nachlaß der Eiterung und der Beschwerden zeitigte.
Dieser günstige Zustand währt nun ein halbes Jahr. Und
erst vor wenigen Tagen erklärte der Kranke, er wolle lieber
noch lange treulich und unverdrossen Saugbehandlung
treiben, als die Wiederkehr der Schmerzen und Unannehm¬
lichkeiten an die AVand zu malen und vmr ihnen bangen
zu müssen.
Auch akute Ohreutzündungen waren günstig be¬
einflußbar, wenn auch mitunter das Chronischwerden nicht
zu vermeiden ging; doch begegnete dieses dann eben auch
in der Behandlung keinerlei Bedenken und Schwierigkeiten.
Jedenfalls hedeutet auch diese Anwendung des Saug¬
verfahrens hei der großen Anzahl in Betracht kommender
Erkrankungen und der nun in ihrer Alinderwertigkeit oder
önzweckmäßigkeit selbst Bedenklichkeit erst recht offen¬
kundiger alter Behänd luugsweisen eine höchst erfreuliche
Neuerung, die neben der Einfachheit und Allgemeindurch-
führharkeit auch logische Nutzanwendung und Heilwirkung
zu ihren Eigenschaften zählt, daß ihr beiderseitiges ge-
reiddes Vertrauen von Arzt und Kranken zufliegen muß.
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berg, Aerztl. Reformzig. 1905.
Aus der Grazer dermatologischen Klinik. (Interim. Vor¬
stand: Priv.-Doz. Dr. Leo v. Zumbusch.)
Zur pathologischen Histologie der inneren
Organe beim Yerbrennungstod.
Von Dr. R. Polland, 1. Assistenten.
Die kliiiisclieti und aiiatoniisclieii J^h’scheinungeii bei
tödlich verlaufenden Verbreunungen sind bereits Gegenstand
einer stattlichen Reihe von Arbeiten geworden, unter denen
viele auch auf dein Wege des Tierexperinientes zur
Klarlegung der einscblägigen Fragen zu kotnmen trachten.
Hin von den Autoren, welche diesen Weg eitigeschlageii
haben, nur einige zu nennen, so seien hier Lustgarten,
Reiß, K i j a n i t z i n , A j e 1 1 o und P a r a scan d o 1 o, W e i-
de life Id, ganz besonders aber Slockis und Helsted her¬
vorgehoben, von denen viele nainenllich über tlie Natur
der nacb schweren Verbrennungen iin Urganisinus entstehen¬
den Gifte eingehende Lnlersuchungen und d'ierversuche an¬
stellten. ln jüngster Zeit hat sich besonders Hermann
Pfeiffer (\Gr chows Archiv H)Ü5, Rd. 180, Zeitschrift
für Hygiene 1900, Rd. 54) in eingehender Weis(' mit den Fr-
sachen des Verbrennungstodes beschäftigt und durch zahl¬
reiche Tierversuche, sowie ausgedehnte chemische Lnter-
suchungen der hier in Betracht kommenden giftigen Stoff-
wechselprodukle die Angaben früherer Autoren teils richtig
gestellt, teils ergänzt.
Durch diese Arbeiten Pfeiffers angeregt, kotinte icti
daran gehen, die histologischen \’ erände rungen, die
sich bei tödlicben Verbrennungen an den inneren Or¬
ganen finden, zu studieren, weil diese Verhältnisse in den
früheren Arbeiten vorwiegend nebensächliche Berücksichti¬
gung gefunden haben und meist nicht systematisch bearbeitet
worden sind. Die früheren Arbeiten zum Ausga,ngsi)md<t
meiner Untersuchungen nehmend, fand ich vor allem bei
Parascandolo AViener med. Wochenschrift 1904, Nr. 14
bis 16) ziemlich ausführliche Angaben über die Verände¬
rungen an inneren Organen bei Verbrannten und verweise
namentlich bezüglich der Literatur auf diese Arbeit.
Um ein brauchbares Material für meine Uidersuchungen
zu gewinnen, benützte ich dazu Kaninchen, die nach dem
Vorgang Pfeiffers künstlich verbrüht wurflen. Ktollege
Pfeiffer hatte die besondere Freundlichkeit, diesen vorbe¬
reitenden Teil der Arbeit im hiesigen forensischen Institut
auszuführen, wofür ich ilnn an dieser Stelle meinen besten
Dank sage. Bei den meisten Tieren kam es früher oder später
spontan zum Exitus, nur wenige überlebten die Prozedur
und wurden später getötet. Die diesen Tieren eidnommenen
Organe wurden in Müller scher Flüssigkeit fixiert, in Alko¬
hol gehärtet und daun in zwei Teile geteilt; die eine Hälfte'
wurde zur üntersuebung auf Fett mit Osmiumsäure be¬
handelt, die andere Hälfte in gewölmlicher WA'ise eingebettet
und mit Uebersichtsfärbungen gefärbt.
Ich will nun zunächst die Ergebnisse dieser Fntersu-
ebungen, so weit sie etwas Betnerkenswertes ergaben, etwas
eingehender darlegen. Die Vc'rbrühungen wurden so vor¬
genommen, daß die mit Aether betäubten Kaninchen an der
Bauchhaut zirka eim' Mimile lang mit siedendem Wasser
überrieselt wurden, nachdem die Haare an dieser Stt'llc
möglichst kurz geschoren worden waren ; denn es hat sich
schon bei früheren Versuchen herausgestellt, daß der dichte
Pelz die W'hrkung sowohl der Verbrühung, wie auch von
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
Flammen bedeutend abschwäclil. Es pflegen übrigens auch
bei geschorenen Tieren und bei letalen Verbrühungen die
L'okalerscheinuiigen auf der flaut durchaus nicht bedeutend
zu sein und es heilen die gesetzten Verletzungen bei über-
le])enden Kaninchen meist rasch und 'ohne allzugroße Narben¬
bildung. Auf die klinischen Erscheinungen bei diesen experi¬
mentellen Verbrennungen an Kaninchen brauche ich nicht
näher einzugehen, es ist dies nicht Aufgabe der vorliegenden
Arbeit und kann das nähere darüher in Pfeiffers Publi¬
kationen eingesehen werden.
Die nachstehenden Untersuchungsergebnisse sind in
anfsteigender Reihenfolge geordnet nach der Zeit, die
zwischen Verbrühung und Tod verflossen ist.
Hase 1. IV2 Sluiuleu post ainbustionem t. Pathologiscli-
analonhscher Hefnnd negativ. Die Osiniuinsäiirepräparate ergeben
keine fettige Entartung der inneren Organe. Sonst war an
der Niere und Leber l^eginnende, parenchymatöse Degene¬
ration und leichte Entzündungserscheinungen festzustellen; alle
übrigen Organe waren normal.
Hase 2. 2V2 Stunden ])Osl ambustionem f. Sektion ])e-
gativ. Keine Fettentartung, an der Niere akute Entzündung
mit starker Hyi)erämie, stellenweise Dlutaustritt. Blut- mul granu¬
lierte Zylinder in den Harnkanälchen. Das Epithel derselben
in parenchymatöser Degeneration. Alle anderen Organe unver¬
ändert. ' I i ’ i ^ '
Hase 3. 6 Stunden post ambustionem f. Die Leber
stark hypeiämiscb, die Kapillaren stark gefüllt, das Zellpi’olo-
l)lasma gekörnt, Kerne blaß gefärbt, Zellgrenzen verwischt. Herz¬
muskel: Ouerstreifung zum Teil geschwunden, Kerne meist noch
gut gefärbt. Niere: Epithel der Tubuli conlorti zum Teil lioch-
gradig köiuig zerfallen, Kerne schwach gefärbt, keine Spur von
Zellgrenzen. Die Kapillaren strotzend gefüllt, Malpighische
Körperchen Avenig verändert. Leber (im Osmiumpräparat): In
den fiallenkapillaren und in einzelnen Leberzellen kleine Fett-
tröpfchen. ;
Hase 4. 12 Stunden post ambustionem t. Sektion: Ekchy-
mosen im Peritoneum, parenchymatöse Degeneration der Nieren.
Histologischer Befund: Niere: Reichlich ausgedehnte Blutge¬
fäße, Glomeruli intakt, zahlreiche kleine Blutungen. Kerne schwach
gefärbt, Zellgrenzen verwischt, Protoplasma gekörnt. Leber:
Kerne schwach, zum Teil gar nicht gefärbt, Zellgrenzen ver¬
wischt; Protoplasma gekörnt, Blutgefäße erweitert. Im Osmium¬
präparat zahlreiche, verschieden große Fettröpfchen. Gehirn
(Osminmprä])arat) : Stellemveise kleinste Fettröpfchen, Marksub-
stanz zeigt hie und da Andeutung von Verfettung.
Hase 5. 16 Stunden post amhustionem f. Sektion: Zahl¬
reiche ekcbymotische Ulzera im Magen und Darm. Histologie :
IMagen und Dünndarm: Stark gefüllte Gefäße, mäßige, klein¬
zellige Infiltration, zahlreiche ausgedehnte Blutungen an der Ober¬
fläche der Schleimhaut, Epitheldefekte. Herz: Kerne blaß, Quer¬
streifung undeutlich, zahlreiche kleine Blutungen in der Mus¬
kulatur. Niere: Kerne deutlich, Zellgrenzen unscharf, Proto¬
plasma körnig, Kapillaren stark ausgedehnt, kleine Blutpunkte
im Parenchym. Die übrigen Organe, auch das Gehirn und Rücken-
tnark, ohne Veränderungen; nirgends fettige Entartung.
Hase 6. 26 Stunden post ambustionem f. Leber: Proto-
]dasma stark gekörnt, Zellgrenzen gänzlich verwischt. Herz:
Struklur verwischt, Kerne undeutlich, keine Querstreifung. Niere:
.\lle Zelhyi stark parenchymatös, keine Kerne, keine Zellgrenzen,
überall Zeichen einer starken Entzündung.
Hase 7. 72 Stunden post ambustionem f. Herz: Quer¬
st l•eifnng größtenteils verloren, Kerne blaß gefärbt, Blutgefäße
stai’k gefüllt. Niere: Ausgedehnte Nephritis; starke, körnige
und teilweise fettige Degeneration des Epithels der Harnkanäl-
clum ; Kerne meist noch erhalten, Zellgrenzen verwischt; die
■M a 1 ]» i gh i sehen Körperchen sind ])esser erhalten, die Kerne
deullicdier gefärbt. Die übrigen Organe, auch Gehirn, ATedulla
und Rückenmark, intakt.
Hase 8. 8 Tage post ambustionem f. Sektion: Geschwüre
im Darm. Histologischer Befund: Niere: Parenchymatöse Ent¬
zündung mit ausgedeluder parenchymatöser und fettiger De-
g(Mieralion d('r Epithelien der Harnkanälchen und Rundzellen¬
infiltration. Die Rindenleile sind etwas besser erhalten. Herz:
Wenig vei'ändert. Darintrakt: Hochgradige Entzündung, aus¬
gedehnte Gefäße und reicldicbe Rundzelleninfiltration, slellen-
AV('is(' Epitbeldefekte. Osmiumpräparate: Niere: Nament-
li(di in d('n Tnbulis rectis zweiter Ordnung, weniger in den
Tubnlis contortis, in den Epithelzellen zahlreiche Fettröpfchen,
in den Harnkamälchen granulierte und Rlutzylinder, hesonders
croßc' Fettropfen am Hilus. G e lii r n : Stelbmweise feinste Fett¬
tröpfchen in den Ganglienzellen und in der Glia. Leber: ln
den Zellen und besonders in den Kapillaren zahlreiche Fett-
tröpfeben. Herz: Spärliche Fettröpfchen, namentlich im Binde¬
gewebe. I i 1 U
Hase [). 10 Tage post ambustionem t. Im .Magen starke
Blut(u'güsse, tlie stellenweise bis zur Oberfläche der Schleim¬
haut reichen, aus den submukösen Gefäßen bei geringer ent¬
zündlicher Veränderung. Niere: Kerne meist gut gefärbt und
und ej'halten, Protoplasma z. T. körnig, größitenteils aber voll
Vakuolen. Harnkanälchen z. T. mit Blut ausgegossen. Leber:
Kerne eihalten, Protoplasma in beginnender parenchymatöser De¬
generation. Dünndarm: Stark hyperämiscb, starke Rundzellen¬
infiltration, Di'generation des Drüsenepithels. Milz: Stark hyper-
ärnisch. Gehirn: wie bei 8; an einer Stelle in der weißen
Substanz eine frische, oberflächliche, ziendich ausigedehnte Hämor-
rhagie. Osm iuinprä parat e : Leber: In den Zellen verein¬
zelte Fettröpfchen. Niere: In der Hilusgegend reichliche Fett-
anhänfungen. Die übrigen Organe normal.
Hase 10. 14 Tage post ambustionem f. Niere: Be¬
ginnende parenchymatöse Degeneration. Glomeruli intakt. Di(i
übrigen Organe ohne auffallende Veränderungen. Im Getiirn
etwas stärker gefüllte Gefäße. Das Herz hat in einzelnen Teilen
etwas gekörntes Protoplasma. Fett ist nirgends in ausgesproche¬
nem Grade zu finden.
Ha:se 11. Wurde in acht Tagen zweimal über Brust und
Bauch verbrüht; er nalmi in der Folge von 2700 bis 2050 g
an GeAvicht. ab, starb aber erst vier Wochen nach der Ver¬
brennung. Sektion: SchAvere Degeneration der Nieren, links
ein kleiner Infarkt; kleine Lungenatelektasien, Degeneration des
Herzens. Histologischer Befund: Herz: Muskelfasern ge-
quollen, Kerne etAvas blaß, aber ziemlich reichlich, Querstreifung
verwischt, einzelne Blutungen. Gehirn: Gefäße stark gefiillt,
zahlreiche Rundzellen. Ganglienzellkerne gut gefärbt. Niere:
Glomeruli ohne besondere Veränderung; in den Harnkanälchen
sind die Zellkerne meist erhalten und gefärbt, das Protoplasma
stark gekörnt, die Zellgrenzen verwischt. Leber: Ganze Partien
stark degeneriert, die Kerne kaum gefärbt und in Auflösung.
Keine Zellgrenzen. Struktur AÜelfach verloren gegangen. Die
Lunge blutreich mit einzelnen lobulärpneumonisclien Herden.
In den Leberzellen ziemlich zahlreiche kleinste Fettkugeln,
manchmal in größeren Gruppen.
Hase 12. Ebenfalls zweimal verbrüht. Tod nach AÜer
Wochen. Sektion: Lokaleffekt fast ausgeheilt. Parenchymatöse
bis fetlige Degeneration der parenchymatösen Organe.
Histologischer Befund: Magen: Epithel der Schleim¬
haut streckeiiAveise verloren gegangen. Submuköse Blutgefäße stark
gefüllt. M i 1 z : Sehr blutreich, mit einzelnen kleinen Hämor-
rhagien, Kerne und Zellen gut gefärbt. Herz: Scheint normal.
Niere: Stark blutgefüllt, Blutzylinder, Adele Kerne der Harn¬
kanälchen schwach gefärbt, keine Zellgrenzen, die Zellen zer¬
fallen, Protoplasma gekörnt. Im Parenchym vielfach Rlutaus-
tritte. Glomeruli Avenig verändert. Leber: Kerne blaß mit Va¬
kuolen, Zellen gekörnt, Grenzen verwischt, sehr viel Blut. Darm¬
trakt: Ohne besondere Veränderung. Großhirn: Sehr blutreich,
Zcltkerne z. T. blaß mit Vakuolen, einzelne Lücken im Rinde-
geAvebe. Im Marklager finden sich nebst kleinen Fettkugeln auch
einzelne verfettete Alarkscheiden.
Die Darmdrüsen enthalten hesonders gegen das’ Lumen
zu reichlich Fett. Die übrigen Organe zeigen Avenig fettige Ent¬
artung, doch finden sich auch in der Leber stellemveise kleine
Gruppen von Fettröpfchen.
Die Untersuchung der verbrühten Hautpartien selbst hat
vei'hältnismäßig .Avenig bedeutende Befunde ergeben. Es finden
sich die Zeichen der Dermatitis, reichliche Gefäßfüllung und
Rundzelleninfiltration, Abhebung mit Kolliquation der Epidermis,
eventuell SubstanzAmrluste. Die zahlreichen Haarfollikel Avaren
meist nur Avenig A-erändert ; die knapp unter der Haut liegenden
Mnskelbündel zeigten in einigen Fällen fettige Entartung, ebenso
eiwiesen si(di die Scheiden der markhaltigen Nerven der Sub-
kutis stellemveise fettig degeneriert.
Bevor icli auf die Deutung der oben dargelegten tat¬
sächlichen Befunde eingehe, Avill ich zunächst kurz auf die
A'O)! anderen Ardoren darüber veröffentlicditen Angalmn zu
sprechen kommen. Fast hei allen, die sich mit "der Ver-
lirennung beschäftigt haben, findem wir auch Berichte über
den Zustand der inneren Organe hei Verbrannten. Die vdeh-
tigsten dieser Angaben sind von Parascandolo (Experi¬
mentelle T^ntersuchungon über Verbrennung, Wiener medi¬
zinische Wochenschrift 1904, Nr. 14 bis 16) mit Angabe
der Quellen entsprechend gewürdigt AAmrden, und ich kann
Nr. 8
WIENER KIRN ISCHE WOCllENSCIIRIET. 1907.
duller hier auf die Wiederholung von Eiiizellieileii und er-
sidiöpfendeii Angalien der Literatur verzichten. Bezüglich
tier histologischen Veränderungen an den einzelnen Or¬
ganen kann man daraus folgendes entnehmen:
Am Herzen findet sich parenchymatöse, manchmal
auch fettige Degeneration; auch in einzelnen Fällen stellen¬
weise Andeutung von Vakuolenbildung in den Zellen; die
Ouerstreifung ist oft undeutlich, die Oefäße stark mit Blut
gefüllt. i\n den Lungen wurden wiederholt lobäre und
lobuläre pnemnonisclie Herde mit fibrinösem Exsudat in den
Alveolen beschrieben, einhergehend mit starker Hyperämie.
In der Milz zeigten sich Schwellungen einzelner Malpighi-
scher Körperchen mit zentralen Nekrosen, Zerstörungen der
Zellkerne bei gleichzeitigem Auftreten abnormer Zellen von
ganz verschiedenem Aussehen und manchmal endothelialem
Charakter; manche Autoren gehen auffallende Füllung der
Oefäße an. Die Leber zeigt meist körnige, manchmal auch
Andeiitmig von fettiger Degeneration, einzelne 'Zellen sind
nekrotisch, die Zellgrenzen verwischt, die Kerne vakuoli-
siert; in allen Fällen wird die starke Füllung der Venen
und Kapillaren betont. Geschwüre wurden im Magen,
Duodenum und Ilenm gefunden und von einzelnen Auto¬
ren, so von Curling, sehr genau studiert. Sie reichten
mehr oder weniger tief, die Darmfollikel waren mäßig ge¬
schwellt, stellenweise im Zentrum nekrotisch, die subnmkö-
sen und interglandulären Gefäße strotzend mit Blut gefüllt,
stellenweise punktförmige Hämorrhagien ; an einzelnen
Stellen die Schleimhaut durch Hämorrhagien von ihrem sub-
mukösen Gewebe abgehoben.
Ebenfalls zahlreiche Autoren berichten über Verände¬
rungen an den Nieren; sie fanden körnige und fettige De¬
generation, auch Nekrosen an den Epithelien, besonders
an denen der Tubuli contorti; die Gefäße erweitert und mit
dichtgedrängten Blutkörperchen gefüllt.
Ueber die Veränderungen des Nervensystems bei
Tieren, die an Verbrennung gestorhen sind, hat besonders
Parascandoli (Arch, de Physiol, norm, et pathol. 1898,
pag. 714, und Arch. Intern, di Med. et Chirurg. 1899, Nr. G
größere Untersuchungen angestellt und dabei Degenerationen
in verscheidenen Teilen des Zentralnervensystemes finden
können.
Zwar keine histologischen, aber genaue patholo¬
gisch-anatomische Angaben über die Befunde an den
inneren Organen seiner ex|)erinientell verbrühten Kaninchen
gibt Pfeiffer (siehe ohenV Er konnte feststellen, daß die
degenerativen Veränderungen an den inneren Organen
zunehmen, je länger die 'lie re nach der Verbrennung
am Leben bleiben. Er fand im großen und ganzen ähn¬
liche Veränderungen, wie sie von den früheren Autoren be¬
schrieben worden sind, also namentlich Degeneration
der parenchymatösen Organe und, vor allem bei
länger lebenden Tieren, char akteristische Geschwüre
im Magendarmtrakt. Hauptsächlich um die Arbeiten Pfeif¬
fers in der Bichtung der Untersuchung der veränderten
Organe experimentell verbrannter Tiere zu vervollständigen,
habe ich meine oben angegebenen Untersuchungen an¬
gestellt.
Diese ergaben im wesentlichen eine Bestätigung
der von anderer Seite gemachten Beobachtungen, ferner
aber namentlich im Hinblick auf die von Pfeiffer ge¬
fundenen und genau erforschten e r ä n d e r u n g e n i in
Serum der Tiere einige bemerkenswerte Tatsachen, auf
die ich später zurückkommen werde.
Die einzelnen Organe betreffend, ist folgendes zu
bemerken. In allen Fällen und fast stets am stärksten ver¬
ändert erwiesen sich hei nudnen Kaninchen die xNieren.
Wir finden da Hyperämie mit nur stellenweise vorhan¬
dener, beginnender feinkörniger Degeneration der
Epithelien der Harnkanälchen bis zum ausgesprochenen
nekrotischen Zerfall des Parenchyms großer Bezirke
und Nephritis mit granulierenden und Blutzylinderu in den
Harnkanälchen. Am wenigsten beteiligt sind dabei die
Forjiuscula Malpighi; in den leichleren Fällen scheinen
sie ganz intakt, aber auch iu schwereren findet man außer
starker Füllung der Kapillaiam nur wenig Veränderungim
an einzelnen Zellen, die Keine sind stels noch gut färbbar.
Von F e 1 1 e n t a r 1 11 n g ist wenig zu merkmi, nur in wenigen
Fällen, besonders hei sohdien, wo es ersl längere Zeit nach
der Verbrennung zum Exilus kam, haben sich in einzelnen
Zellen, besonders der Ausführungskanäle, kleine Fettröpf-
chen gebildet.
Daß die Beteiligung der Nieren so stark in den Vorder¬
grund tritt und auch schon heiTieren sich findet, die wenige
Stunden nach der Verbrennung zugrunde gingen, kann
nicht verwundern, wenn man die Ergebnisse von-P f e i f f e r s
Arbeiten berücksichtigt: er fand, daß das beträchtliche An¬
steigen der Toxizität im Harn der Tiere expm’inienlell
nachgewiesen werden kann; schou vier Stunden post am-
hustionem kann der Harn giftig sein, wenngleiidi innerhalb
der ersten 24 Stunden in der Mehrzahl der von ihm beob¬
achteten Fälle eine liesondere Giftigkeit des Harnes nicht
zu konstatieren war. Aber die Tiere, die eben so rasch
starben (Hase 1 bis 3), müssen doch liereits in dieser kurzen
Zeit beträchtliche Giftmengen gebildet haben, daher
man auch hei ihnen Veränderungen der Nieren nicht ganz
vermißt.
Als das am nächst häufigsteu befallene Organ
muß ich nach meinen Untersuchungen die Leber bezeich¬
nen, die in acht Fällen mehr oder weniger deutliche Ent¬
artung, meist im Sinne einer körnigen Degeneration,
erkennen läßt. Ausgesproidmne Fettenfartung war nicht
zu beobachten, doch fanden sich in einigen Fällen in den
Parenchymzellen feinste Fettröpfchen. Bezüglich der
Leber muß bemerkt werden, daß die Veränderungen nicht
genau im Verhältnis mit der Lebensdauer nach der
Verbrennung zunebmen, denn es erwies sich namentlich
beim Hasen 3, der schon sechs Stunden post ambust.
verendete, die Leber ziemlich stark parenchymatös degene¬
riert, sogar mit Andeutungen con Fett, während anderseits
bei einem erst später verendeten Tiere nennenswerte Ver¬
änderungen des Lebergewebes überhaupt nicht zu konsta¬
tieren waren. Ebenso wiesen bei den Hasen 11 und 12,
die beide ungefähr noch vier Wochen gelebt hatten, die
Leberbefunde insofern einen Unterschied auf, als hei dem
letzteren Tiere nur schwache, bei dem ersteren jedoch sehr
starke Degenerationen zu finden waren.
Verhältnismäßig wenig histologische Veränderungen
konnten am Herzen beobachtet werden; sie waren in der
Hegel stärker l)ei den später gestorbenen Tieren und be¬
stand en vorwiegend in feiner K ö r n ii n g des Prot o p I a s-
mas mit stellenweisem Verlust der Querstreifung, hie und
da Andeutung von fettiger Entartung. In einem Falle (Hase 5)
fanden sich Zeichen einer Myokarditis mit kleinen Hämorrha¬
gien in der Herzwand.
Die Milz zeigte sich in den Fällen, wo wir sie unter¬
suchten, da bereits makroskopische Veränderungen zu sehen
waren, analog den in der Literatur angegebenen Befunden
verändert, indem nebst einer oft sehr starken Hyperämie
eine Schwellung der Corpora Malpighi und gelegentlich Ne¬
krose einzelner Zellpartien zu konstatieren war.
Besonders bemerkenswert sind die Veränderungen des
Darmtraktes. Dabei läßt sich klar feststellen, daß di(‘
kurz nach der Verhrennung verendeten Tiere noch normah'
Verhältnisse aufwiesen, während die länger überlebenden
Entzündungs- und Geschwürsprozesse im xMagen und Darm
selbst bis zu höheren Graden zeigten. So fand sich bereits
beim Hasen 8 (acht Tage post ambustionem t) Geschwiiia*
im Darm und die histologische Untersuchung ergab im Magen
und Dünndarm starke entzündli(die Bundzelleninfiltratiou
mit maximaler Füllung der submukfisen Gefäße, während es
in der Schleimhaut seihst allenthalben zu Blutaust.ritten ge¬
kommen war und das Epithel stellenweise Defekte auf¬
wies. Stärker waren alle diese Erscheinungen b(dm Fla sen 9
(10 Tage post amhustionem t) oiid sehr ausgesprochen hei
den Tieren, die noch vier Wochen gelebt hatten, bei denen
5
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
sich Cie schwüre im iVlagen und Darm liehst starker
Hyperämie imd Entzündung fanden.
Die K ö r p erm u ske I n entfernt von der V'erhrennungs-
stelle erwiesen sich intakt; an den verhrannten Teilen
konnte man starke Degeneration, namentlicli fettige,
heobachten, was offenbar auf direkt schädigende Einwirkung
des heißen Wassers zurückzutühren ist.
In einem Falle, heim Hasen 11, fanden sich pnen-
monische Prozesse in einzelnen Limgenalveolen, die mit
fibrinösem und zelligem Exsudat ausgegossen waren. Bei
den anderen Fällen hatten sich die Lungen makroskopisch
als unverändert erwiesen und wurden daher nicht weiter
untersucht. Eine wesentliche Beteiligung dieses Organes
liegt jedenfalls nicht vor.
Die Untersuchung der Haut an den verbrühten Stellen
hat keine bemerkenswerten Resultate ergehen. Bei dem
außerordentlichen Reichtum an Haaren, den die Kaninchen
aufweisen, sind die lokalen Folgen der Verbrennung bei
diesen Tieren durchaus nicht so hochgradig und typisch
wie etwa auf menschlicher Haut. Man sieht einfach eine
starke Dermatitis mit teilweisem Verlust des Epithels, Hyper¬
ämie, sonst aber wenig. xVufgefallen ist mir nur die Fett-
(3 n t a r t u n g d er Ne r v e n s c beiden an den Nerven der
Kutis.
ln allen Fällen wurde auch das Z entrain er veu-
system untersucht, ii. zw. verschiedene Teile des Hirn¬
stammes, der Oehirnrinde und des Kleinhirns, sowie
die Medulla oblongata und Teile des Rückenmarkes, nach
verschiedenen Färbemethoden, meist nach Marchi. Das
Ergebnis dieser Untersuchungen kann man wohl dahin zu¬
sammenfassen, daß sich irgendwelche bemerkenswerte
Schädigungen dieser Organe in keinem Falle erkennen
ließen; hie und da war vielleicht die Füllung der Gefäße
eine stärkere, das läßt sich aber leicht auf die Vorgänge
beim Tode zurückführen, wodurch es sicherlich zu einer
momentanen Stauung kommen kann, die dann postmortal
persistiert. Größere Hämorrhagien der Gehirnhäute in einem
Falle sind ebenfalls sicher erst bei der Entnabme des Ge¬
hirns aus dem Schädel entstanden. Degenerationsvorgänge
an den Nervenzellen selbst ließen sich nirgends mit Sicher¬
heit nachweisen.
mittelt, daß die Giftigkeit des Harnes nach einigen
Stunden nach der Verbrennung beginnt und dann rasch
zunimmt bis zur 5ß. Stunde; von da ab sinkt die Toxizität
des Urins in der Begel wieder beträchtlich ab, die Giftig¬
keit des B 1 u t s e r u m s hingegen steigt konstant an bis
zum Tode, anfangs zwar viel langsamer als die des Harnes,
erreicht aber schließlich einen höheren Wert. Ebenso hat
Pfeiffer experimentell die nekrotisierende Wirkung
des Serums und Harns verbrannter Tiere nachgewiesen,
welche hei subkutaner Injektion dieser Flüssigkeiten zu¬
tage tritt.
Aus meinen Enters uchungen hinwieder scheint hervor¬
zugehen, daß die histologischen Veränderungen an den
inneren Organen der verbrannten Tiere rocht gut zu
diesen Befunden Pfeiffers passen. So macht sich
hei den bald nach der Verbrennung verendeten Tieren zu¬
nächst die Wirkung des giftigen Harnes geltend, durch
den naturgemäß in erster Linie die Niere in Mitleidenschaft
gezogen wird und wir finden daher degenerative Verände¬
rungen dieses Organes auch bei jenen Tieren, bei denen
es sonst noch zu keinen w(3iteren Erscheinungen gekommen
war. Daß sich die Intensität der Degeneration steigert, je
länger das Tier noch lebt, erscheint leicht verständlich, wenn
man bedenkt, daß es später zu einer Anreicherung des
toxischen Prinzips kornnd und dann noch die Gift¬
wirkung des Serums hinzutritt und eine allgemeine
Kachexie hervorruft, deren eine Folge die Degeneration
der parenchymatösen Organe und des Herzens ist.
Die sich mit dem längeren Lehen stets steigernde
Toxizität des Serums führt schließlich zu nekrotisie¬
renden Prozessen und Hämorrhagien im Darmtrakt, die sich
als Entzündung und Geschwürsbildung äußern. Diese Er¬
scheinungen treten also hauptsächlich bei Tieren auf, die
längere Zeit am Leben blieben, etwa nach zehn bis vierzebn
Tagen und bei denen das Serum die nekrotisierenden Eigen¬
schaften erlangen konnte.
Ebenso wie frühere Autoren, besonders Paras ca n-
dolo, konnte auch Pfeiffer eine starke Wirkung der Ver¬
brennungsgifte auf das Z e n I ral n er ve ns y s t e in der Tiere
konstatieren, wobei auf ein anfängliches Reizstadium Läh¬
mung und schließlich der Tod erfolgt. Diese Beteiligung
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11 !
12
1^2 Stund.
2^/2 stund.
6 Stund.
12 Stund.
16 Stund.
26 Stund.
72 stund.
8 Tage
10 Tage
14 Tage
4 Wochen
4 Wochei
Niere
beginnende
parenchym .
Degener.
leichte
Entzündung,
Hämorrh.,
parenchym .
Degener.
parenchym.
Degener.,
Hyperämie
Hämorrh.,
parenchym.
Degener.
Ekchymosen
parenchym.
Degener.
Nephritis,
parenchym.
u. fett.
I'egener.
Nephritis,
starke
parenchym.
u. etw. fett.
Degener.
Nephritis,
parenchym.
und fett.
Degener.
parenchym.
Degener.,
Hämorrh.
beginnende
parenchym.
Degener.
parenchym.
Degener.
hohen
Grades
parenchym.
Degener.
hohen
Grades,
Nephritis
Leber
stellenweise
parenchym.
Degener.
OC
Hyperämie,
beginnende
parenchym.
Degener.
Hyperämie,
leichte
parenchym.
Degener.
oc
parenchym.
Degener.
‘Zx:
beginnende
parenchym.
Degener.
beginnende
parenchym .
Degener.
OC
starke
parenchym .
Degener.,
Fett
stai'ke
parenchym.
Degener.,
Hyperämie
Herz
oc
cc
schwache
parenchym
Degener.
OC
Ekchymosen
z. T.
parenchym.
Degener.
parenchym.
Degener.
parenchym.
Degener.
?c
OC
oc
l)arenchym.
Degener.
cc
Magen, Darm
"C
'V
OC
re
Hämorrh. ,
Ent¬
zündungen
OC
■\
Ent¬
zündungen,
Hämorrh.,
Geschwüre
Hämorrh.,
Ent¬
zündungen,
Geschwüre
Ent¬
zündungen,
Hämorrh.
/
Ent¬
zündungen,
Hämorrh.
Milz
oc
/
/
Hyperämie
Hyperäm'e
oc
' 'X'
Ent¬
zündungen
Hyperämie
OC
/
Hyperämie,
Hämorrh.
Nervensystem
oc
oc
lOC
OC
V
cc
CV'
X'
evT
oc
OC
oc
oc
— negativer Hefund.
nicht untersucht.
1
Aus den vorstehenden Befunden, die i(di in diu' bei¬
gefügten Tabelle übersiiditlich zusammengestellt habe, er-
g(d)(‘n sich im Hinblick auf die Befunde PfeiffiM's einisie
nicht uninteressante Gesichtspunkte. Pfeiffi'r hat auf
Grund seiner zahlreichen und genauen Untersuchungen er-
des Nervensystems kommt aber im histologischen Bilde
nicht zum Ausdruck; die Veränderungen dürften daher
entweder nur funktioneller Natur sein oder sie sind so ge¬
ringfügiger Art, daß sie mil unseren Hilfsmitteln nicht zur
Darstellung gebracht werden können.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
227
Aus der II. Chirurg. Abteilung der k. k. Rudolfstiftung.
(Vorstand: Primarius Priv.-Doz. Dr. 0. Föderl.)
Zur Kasuistik der Pneumokokkenmetastasen.
Von Dr. Aiitou v. Kliautz jun., Assistenten der Abteilung.
Die Lokalisation des Diplococcus lanceolatiis außer¬
halb der Lange, wodnrcli er in den verschiedensten Korper-
gebieten Entzündung und Eiterbildung anregen kann, ist
schon von seinen Entdeckern Eraenkel und Weicbsel-
baum bekantitgegeben worden. Wenn auch die Diplokokken¬
eiterungen meist metapneunionisch sind, so sind doch Fälle
heschrieben, besonders Peritonitiden, wo ein pneumonischer
Herd nicht zu eruieren war (Weichselbaum, Banti,”)
Dalliard^) u. a.) und die nachgewiesene Lokalisalion an¬
scheinend die primäre war. Daß aber auch der umgekehrte
Weg möglich ist, nämlich, daß nach einer extrapulmonalen
Diplokokkeneiterung sich eine Pneumonie entwickelt, zeigt
der Fall von Heddaeus,^) wo nach einer akuten Strumitis
wahrscheinlich auf embolischem Wege eine Pneumonie ent¬
stand, aus deren Sputum ebenlalls Pneumokokken in Rein¬
kultur gezüchtet wurden. Bevorzugte Organe für die Meta¬
stasierung dieser Bakterien sind die Knochen, Gelenke und
das Peritoneum; seltener die Glandula tliyreoidea. Parotis,
Tonsille usw. Auch rein intramuskuläre Abszesse sind nicht
häufig. Eine übersichtliche Zusammenstellung der bisherigen
Puhlikationen, vermehrt um eine Anzahl an der Straßburger
chirurgischen Klinik beobachteter Fälle, brachte vor einigen
Jahren Ernst Meyer.^)
Im folgenden sei mir gestattet, über drei selbst beob¬
achtete Fälle von metapneumonischer Eiterung zu berichten,
die ich an der Abteilung meines Chefs, Herrn Primarius
Föderl, zu sehen Gelegenheit hatte. Die beiden ersten
Fälle betrafen das Kniegelenk, während im dritten Falle
die Regio scapularis beteiligt war.
1. F. K., 52 Jahre alt, Wäscherin, aufgenommen am 20. Ja¬
nuar 1906 sub J.-Nr. 773.
Vor sechs Jahren Gelenksrheumatismus und linksseitige
Rippenfellentzündung. Seit dieser Zeit bei Anstrengungen Atem¬
not und Herzklopfen.
Seit fünf Tagen Schmerzen im rechten Kniegelenk, das
langsam anschwoll. Zu gleicher Zeit schwollen beide Unter¬
schenkel an, der linke stärker.
Status praesens: Mittelgroß, mittelkräftig, gut genährt.
Temperatur 37-9, Puls 100.
Rechts hinten unten von der achten Rippe an Lungen¬
schall und Atmen stark abgeschwächt. Links von der neunten
Rippe an Dämpfung, Atmen normal.
Vorne rechts von der sechsten Rippe, links von der vierten
Rippe an Dämpfung.
An Herz und Abdomen nichts Besonderes.
Am linken Unterschenkel ein kronenstückgroßes, eiterndes,
kallüses Fußgeschwür, der Unterschenkel geschwollen, ödematös
gerötet, schmerzhaft, desgleichen der rechte Unterschenkel in der
Gegend des Sprunggelenkes.
Das rechte Knie geschwollen, Konturen verwischt, Ballo¬
tement der Patella. Druck und Bewegungen schmerzhaft.
Diagnose: Pneumonia dextra, Thrombophlebitis cruris
utriusque. Gonitis dextra.
Therapie: Bettruhe, Burow-Umschläge.
Dekursus: Fieber (38 bis 39“) anhaltend, rechts hinten
deutliches Bronchialatmen und Rasseln. Die Unterschenkel schwel¬
len ah, das rechte Knie stärker geschwollen.
24. Januar. Probepunktion des rechten Kniegelenkes er¬
gibt gelbliche, seröse Flüssigkeit, in welcher Diplococcus
lanceolatus in Reinkultur nachgewiesen wird (Priv.-Doz. Dok¬
tor C. Sternberg).
26. Januar. Kritischer Fieberabfall. Die Schmerzen auf der
Brust und im Knie lassen nach.
28. Januar. Knie abgeschwollen.
b Zenlralblatt für Rakt. und Parasitenkunde 1889.
b Sperimentale 1889, Febbraio.
Bullet, et m4m. de la soc. m4d. des hop. de Paris 1890.
*) Münchener med. Wochenschrift 1896.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Med. und Chir. 1903, Bd. 11.
31. Januar. Sclmierzen in beiden Hüftgelenken und im
linken Kni(^gelenk. Natr. salicyl. 4X1.
4. Februar. Sclnnerzhafligkeit in “allen Gelenken geschwun¬
den. Temperatur dauernd normal. Geheilt entlassen.
2. E. R., zwei Jahre alt, Bahnhedienstetensohn, aufgenom¬
men am 28. Dezember 1906 sub J.-Nr. 12.971.
Vor einem Jahre Lungenentzündung; seit dieser Zeit Husleii.
Vor 14 Tagen an linksseitiger Lungenentzündung erkrankt, die
angeblich sieben Tage dauerte und nach deren Ablauf am
23. Dezember das rechte Knie unter Schmerzen in wenigen Stunden
anschwoll. Stand in privatärztlicher Behandlung.
Status praesens: Schlecht genährter, rhachitischer
Knabe, blaß. An Kopf, Oberlippe und Nasenflügeln Ekaemkrusten.
Ueber beiden Lungen trockene Rasselgeräusche. Temperatur 39-1“.
Das rechte Kniegelenk in Beugestellung von ca. 120“, kugelig
angeschwollen, Konturen der Patella verwischt. Haut i)läulich,
zahlreiche Venen durchschimmernd, glatt, glänzend, prall gespannt.
Deutliche Fluktuation im Gelenk, Ballotement der Patella.
Diagnose: Empyema genus dextri metastaticum.
Therapie: Im Aetherrausch werden durch je eine 4cm
lange Inzision zu beiden Seiten der Patella ca. 100 cm“ dicken,
grünen Eiters enl leert; zwei' Gümmidrains quer durchgeführt;
Bur ow- Verband.
Bakteriologischer Befund (Dr. Mare sch): In Deck¬
glaspräparaten nur mit Kapseln versehene. Gram-beständige Diplo¬
kokken. Auf Blutagarplatten Diplococcus lanceolatus in
Reinkultur.
Dekursus: Seit der Inzision fieberfrei. Infolge vorüber¬
gehender Verschlimmerung der Bronchitis vereinzelte Temperatur¬
steigerungen bis 38-5“.
AVundsekretion anfangs sehr stark. Unter drei- bis vier¬
tägigem Verbandwechsel mit Sublimatdurchspülungen nimmt die
Sekretion rasch ab, so daß am 17. Januar die Drains entfernt
werden können.
24. Januar 1907. Inzisionswunden geheilt; Gelenk gänz¬
lich abgeschwollen, zeigt normale Konfiguration.
Aktive Beugung und Streckung frei. Passiv geringe, abnorme
Beweglichkeit im Sinne der Hyperextension und Adduktion. Ge¬
heilt entlassen.
3. M. D., 44 Jahre alt, Hilfsarbeitersgattin, aufgenommen
am 24. Mai 1905 sub J.-Nr. 5299 auf die erste medizinische
Abteilung. i
Erkrankte vor vier Tagen plötzlich mit Schüttelfrost, Fieber
und Seitenstechen.
Status praesens: Mittelgroß, schlecht genährt; zyano¬
tisch, starke Dyspnoe (Atmung 40), Puls 96, Temperatur 36-8“.
Thorax vorne entsprechend dem Oberlappen gedämpft tympani-
tisch, sonst normale Schallverhältnisse. Im Bereiche der Däm¬
pfung lautes Bronchialatmen, Krepitieren. Ueber der übrigen
Lunge spärliche, feuchte Rasselgeräusche. Am Herzen an allen
Ostien ein lautes, systolisches Geräusch, am lautesten über der
Basis.
Diagnose: Pneumonia dextra superior.
Unter Digitalis- und Pyrenohnedikation sind nach einer
Woche bei fast fieberfreiem Verlaufe die pneumonischen Er¬
scheinungen geschwunden.
Mitte Juni werden Zeichen von hämorrhagischer Nephritis
konstatiert, die auf Milchdiät allmählich zurückgehen.
16. Juni. Pat. klagt seit fünf Tagen über Schmerzen in
der linken Schulter, ausstrahlend in die linke obere Extremität.
Ueber der linken Skapula eine über faustgroße, fluktuierende,
schmerzhafte Geschwulst, von normaler Haut bedeckt. Probe¬
punktion ergibt dicken, gelben Eiter. Temperatur 38“. Im Eiter
Diplococcus lanceolatus in Reinkultur (Priv.-Doz. Doktor
C. Sternberg).
Pat. wird am 17. Juni auf die zweite chirurgische Abteilung
transferiert.
18. Juni. Im Aetherrausch Inzision und Gegeninzision am
oberen und unteren Pol der Geschwulst, wodurch eine zwischen
Latissimus dorsi und den Skapularmuskeln gelegene xVbszeßhöhle
eröffnet und ca. 150 cm“ dicken, grünen Eiters entleert werden.
Der Knochen nirgends bloß zu tasten. Gummidrainage.
Dekursus: Die Wundsekretion nimmt langsam ab, die
Höhle granuliert aus.
15, Juli 1905. Geheilt entlassen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
Aus der Prosektur der Landeskrankenanstalt in Brünn.
(Prosektor Doz. Dr. Carl Sternberg.)
lieber eine Fehlerquelle bei der Ferrocyankaii-
probe als Eiweißreaktion.
Von Dr. Hugo Scliiniedl, Marienbad.
üiitersuchuiigeii von Kaniiichenharneii in der Vor¬
periode eines Sloffwechselversuclies ergaben auffälligerweise
bei der Ferrocyankaliprobe konstant positive Eiweißreaktion.
Eine Nachprüfung an einer größeren Zahl von Kaninchen
zeitigte iinnier dasselbe Resultat, an dem auch Eutterwechsel
nichts änderte. Es wurden nun zur Kontrolle die Sulfo-
salizylsäure- und die Sublimatreaktion herangezogen, die
außer einer intensiven Nukleoalbumintrübung auf Säiire-
zusatz oft — aber durchaus nicht konstant - - ein deutliches
Stärkerwerden der Trübung zeigten.
Da es von vornherein unwahrscheinlich war, daß es
sich hier um einen Eiweißniederscblag handle, habe ich,
um die Möglichkeit einer nachträglichen Harnverunreinigung
auszuscliließen, die Kaninchen katheterisiert; die so erhal¬
tenen Harne zeigten konstant negative Ferrocyankalireaktion,
während das Verhalten der anderen Reaktionen unverändert
blieb. Damit war festgestellt, daß die Ferrocyankalireaktion
durch eine außerhalb des Körpers zum Harn hinzugetretene
Substanz bedingt war.
Die Tiere wurden in Drahtnetzkäfigen auf verzinkten
Eisenblechtassen gehalten und es war natürlich die nahe¬
liegendste Annahme, daß hier irgendwelche Substanzen in
den Harn gelangt waren und den positiven Ausfall der Re¬
aktion verursachten. Ich verdanke nun Herrn Professor
Obermayer, bzw. dessen Assistenten Herrn Dr. Zak die
Kenntnis der Tatsache, daß nach den Erfahrungen von
Herrn Prof. Mau timer eine positive Ferrocyanreaktion
des Harnes durch die Anwesenheit von Zinksalzen in dem¬
selben verursacht sein kann; ich versuchte daher zuerst
den Nachweis von Zink in dem in den Tassen gesammelten
Kaninchenharn.
Eine Probe des Harnes wurde mit Salzsäure versetzt,
auf dem Wasserbad zur TTockne verdampft, hierauf durch
gelindes Glühen die organische Substanz zerstört und der
Rückstand in verdünnter Salzsäure aufgenomrnen. Die von
Kohleteilchen filtrierte Lösung wurde klar erhalten und neu¬
tralisiert. Ein Teil derselben wurde mit Schwefelammonium
versetzt ; aus der neutralen oder schwach alkalischen Lösung
fiel ein weißer Niederschlag aus, ebenso aus der essig¬
sauren Lösung. Dieser Niederschlag war in Salzsäure lös¬
lich. Hiermit war gezeigt, daß es sich um ein Metall der
111. Grappe (Fe, Zn, Mn, Cr, Al, Ur, Ni, Go) handelte.
Die weiße Farbe des Niederschlages ließ nur mehr das
Vorhandensein von Zink oder Aluminium zu (Fe, Ni, Co
geben einen schwarzen, Cr einen grünlichen, Mn einen
fleischroten, Ur einen schwarzgrünen Niederschlag). Es
wurde daher ein zweiter Teil des Filtrates tropfenweise mit
Ammoniak versetzt; es entstand zuerst eine weiße Ttü-
bung, die aber bei weiterem Zusatz verschwand: eine Re¬
aktion, welche das Vorhandensein von Aluminium aus¬
schließt. Es enthielt also der Harn einen nicht flüchtigen
Destandteil, u. zw. ein Metallsalz, welches durch obige Re¬
aktionen als Zinkverbindung identifiziert wurde. Dadurch
war nachgewiesen, daß der stark alkalische Kaninchenham
beim stundenlangen Stehen in den Tassen Spuren des Metall¬
materiales gelöst hatte und tatsächlich zeigte Katlieterharn
mit negativer Ferrocyanreaktion auf die Tassen ausgegossen
nach zwölf Stunden prompt positiven Ausfall der genannten
Reaktion.
Die vorgetäuschte Eiweißreaktion kommt dadurch zu¬
stande, daß Zinksalze in neutraler, alkalischer oder essig¬
saurer Lösung mit dem Ferrocyankalium das Zinksalz der
Ferrocyanwasserstoffsäure bilden, welches in Wasser un¬
löslich ist und in einer dem Eiweißniederschlag ähnlichen
Form als flockiger weißer Niederschlag ausfällt. Diese Re¬
aktion läßt sich etwa so formulieren :
Fe (CN)« K4 + Zn x K. x -f Fe (CN), K2 Zn
Fe (CN)ö K4 -p 2 Zn X 2 K2 x + Fe (C N)^ Zn2.
Je nachdem das Zinksalz oder das Ferrocyankalium
im lieberschuß ist, geht die erste oder zweite Reaktion
vor sich, x bedeutet oben ein zweiwertiges oder zwei ein¬
wertige Radikale.
Zur Erklärung des konkreten Falles scheint es noch
notwendig, auf die leichte Löslichkeit des Zinkes und auf
die Empfindlichkeit der Ferrocyanzinkreaktion hinzuweisen.
Zink ist in sauren und alkalischen, nicht aber in neutralen
Flüssigkeiten löslich; die Angreifbarkeit des Zinkes war
in unserem Falle noch erhöht, weil ein anderes Metall :
Eisen, mit dem Zink der Flüssigkeit in Berührung stand.
Es bildet dann Zink-Flüssigkeit-Eisen, ein galvanisches Ele¬
ment, in welchem der stärkere, elektropositive Teil, hier 'also
das Zink, aufgelöst wird, rascher noch, als bei Abwesenheit
eines zweiten Metalles.
Um die Empfindlichkeit der Reaktion zu konstatieren,
stellte ich mir eine Lösung von 2 g des kristallinischen
Zinksulfates (sieben Moleküle Kristallwasser enthaltend) in
100 criN Wasser her. Einen Tropfen dieser Lösung fügte
ich zu 10 cm^ eines normalen Menschenharnes und ver¬
suchte die Ferrocyankalireaktion, die einen deutlichen
Niederschlag ergab. Dieselbe Zinkmenge in 20 cni^ des
gleichen Harnes ergab bei der genannten Reaktion nunmehr
eine kaum merkliche Trübung. Die Konzentration des Zinks
im Harn war im ersten Falle 0 000022 g pro cm^ Harn,
im zweiten Falle 0-000011 pro cm^. Daraus folgt, daß niini-
male Zinkmengen bei der Ferrocyankaliprobe eine dem
Eiweißniederschlag ähnliche Fällung geben.
Es erscheint mir jetzt noch notwendig, auf die anderen
eingangs erwähnten Eiweißreaktionen zurückzukonnnen,
deren positives Ergebnis ja ganz anders zu erklären ist. Die
Biuretreaktion ließ sich an den Kaninchenharnen leider
nicht ausführen, da sie sehr dunkel gefärbt sind und bei
Diluierung des Harnes die Befürchtung nahelag, durch zu¬
weitgehende Verdünnung die Reaktion illusorisch zu machen.
Es sei hier bemerkt, daß der stark alkalische 'Kaninchenharn
sehr trüb ist, und daß man erst durch mehrfaches Filtrieren
mit Kieselguhr oder durch heißes Filtrieren des erliitzten
Harnes ein klares Filtrat erhält. Dieses zeigte auf Säure¬
zusatz eine starke Nukleoalbumintrübung, eine Erscheinung,
die für den Pflanzenfresserharn gut bekannt ist; diese Trü¬
bung wurde häufig noch deutlich stärker, wenn dem mit
Essigsäure angesäuerten Harn Sulfosalizylsäure oder dem
mit Salzsäure versetzten Harn konzentrierte wässerige Subli¬
matlösung zugesetzt wurde. Wie mir scheint, ließe sich
als einzige Erklärung hiefür anführen, daß bei im Vergleich
zum Menschenharn stark alkalischen Kaninchenharn Reak¬
tionen zwischen Phosphorsäure und Sublimat, bzw. zwischen
Sulfosalizylsäure und Magnesium, Kalzium eintreten könn¬
ten. Da die Vorschriften für die Ausführung dieser Reak¬
tionen für Menschenharn gedacht sind, erzielt der gleiche
Zusatz von Salzsäure, bzw. Essigsäure in dem viel stärker
alkalischen Kaninchenharn eine nicht genügende An¬
säuerung, so daß Bildungen von basischen Salzen oder doch
solchen, welche in saurer Lösung ausgeschlossen wären,
erfolgen können. •
Ich habe schließlich versucht, die gewonnenen Er¬
fahrungen am Menschenharn zu erproben, und eiweißfreie
Harne, angesäuert oder mit Alkali versetzt, auf dieselben
Tassen ausgegossen und zwölf Stunden stehen gelassen.
Die Harne zeigten dann konstant eine sehr starke Ferrocyan¬
kalireaktion, alle anderen Eiweißreaktionen waren selbst¬
verständlich negativ.
Die überaus große Empfindlichkeit der Ferrocyanzink¬
reaktion verleiht der Sache auch ein großes praktisches In¬
teresse. Wenn Harne in verzinkten Gefäßen aufbewahrt
oder versendet werden, wird bei der leichten Löslichkeit
sicher Zink gelöst; auch können bei der Harnuntersuchung
chronischer Gonorrhoiker, die mit Zinkeinspritzungen behan¬
delt werden, Spuren der Zinklösung, die an der Schleimhaut
hafteten und durch den Harn ausgespült wurden, zur Täu-
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
229
schling Veranlassung geben.* *) Es kann daraus ein für den
Patienten verhcängnisvoller Irrtum erwachsen, und es er¬
scheint daher notwendig, daß die Aerzte von dieser Fehler-
Riielle unserer am häufigsten geübten Eiweißreaktion Kennt¬
nis haben.
Leider läßt sich die. Löslichkeit des Zinkniederschlages
in konzentrierter Salzsäure differentialdiagnostisch gegen
einen Eiweißniederschlag nicht verwenden, da auch der
letztere bekanntlich im Ueberschuß von konzentrierter Salz¬
säure löslich ist. Immerhin wird der positive Ausfall der
Ferrocyankalireaktion bei negativem Ausfall aller anderen
Eiweißreaktionen Verdacht auf Zinkbeimengung zum Harn
erwecken; eine sichere Entscheidung in derartig fraglichen
Fällen wird jedenfalls der relativ leichte Nachweis des
Zinkes zu erbringen imstande sein.
Aus dem Institute für allgemeine Pathologie in Graz.
(Vorstand: Prof. R. Klemensiewicz.)
Leitfähigkeitsbestimmungen der Gleichenberger
Mineralwässer.
Von Dr. Joliann v. Szaböky, em. Assistenten der kgl. Universität in
Budapest, dz. Kurarzt in Gleichenberg.
Die vorliegende Mitteilung bildet eine Ergänzung
meiner Arbeit: Osmotische Versuche mit den Gleichen¬
berger Mineralwässern^) und befaßt sich mit der Bestim¬
mung der Leitfähigkeit^) dieser Mineralwässer.
Zur Ausführang meiner Versuche benützte ich die
IMethode von Kohl rausch, wie sie Hamburger^) be¬
schrieben hat. Da ich aus äußeren Gründen^) verhindert
war, die Resultate dieser Versuche in unmittelbarem An¬
schluß an meine osmotischen Versuche mitzuteilen, so be¬
schränke ich mich hier auf die Versuchsresultate, die ich
in möglichst gedrängter Form wiedergebe.
Ich bestimmte die Leitfähigkeit sowohl des C02-hal-
ligen als auch der C02-freien Mineralwassers. Die Be¬
freiung des Mineralwassers von CO2 geschah durch Durch¬
lüften, so wie ich das in meiner genannten Arbeit be¬
schrieben habe. Vor den Leitfähigkeitsbestimmungen wurde
jedesmal auch das A (Gefrierpunkterniedrigung) ermittelt.
Ich machte mit jedem einzelnen Wasser vier bis fünf
Untersuchungen — an Wässern beliebiger Füllungszeit --
dann aber stets zwei Untersuchungen an Ouellenwässern
frischer Füllung. Den Durchschnittswert der beiden letzten
Bestimmungen nahm ich als endgültig an. Bei sämtlichen
Untersuchungen war die Temperatur auf 17° C konstant
erhalten. Die Umrechnung auf die Quellen geschah nach
der folgenden Formel:®) Kt = Ko (1 ct), wo Kt das Leit¬
vermögen bei der Ausgangstemperatur, Ko das Leitvermögen
bei der gesuchten Temperatur c°) den Temperatur¬
*) Wie wir einer brieflichen Mitteilung Prof. Mauthners ent¬
nehmen, hat derselbe diese Erfahrung bereits mehrfach gemacht.
U Dr. V. Szaböky, Die osmotische Konzentration von Gleichen¬
berger Mineralwässern. Wiener klinische Wochenschrift, 1906, Nr. 26
Die elektrische Leitfähigkeit einer Substanz ist der reziproke
Wert ihres Leitungswiderstandes. Hamburger, Osmotischer Druck und
lonenlehre, 1. B., S. 99.
Hamburger, Osmotischer Druck und lonenlehre, l.B.,S. 98 bis 128.
*) Mir standen während der Ausführung meiner osmotischen Ver¬
suche die Apparate zur Bestimmung der Leitfähigkeit noch nicht zur
Verfügung, da das Institut für allgemeine Pathologie dieselben nicht
besaß. Erst später hat uns der Vorstand des physiologischen Laboratoriums
Herr Professor Oskar Zoth dieselben leihweise überlassen, wofür ich
ihm meinen besten Dank auszusprechen verpflichtet bin.
Welche bei Hamburger, Osmotischer Druck und lonenlehre,
1. B., S. 124, beschrieben ist.
®) Als Wert für c habe ich 0 02, den Temperaturkoeffizienten sehr
verdünnter Salzlösungen angenommen, der meiner Meinung nach nicht
wesentlich von dem für jedes Mineralwasser besonders zu bestimmenden
Werte abweichen dürfte. Solche besondere Bestimmungen von c nach der
Formel c
wovon K, und K„ die Leitfähigkeiten bei
1 Ki-K„
Ko ü-to ’
den Temperaturen t, und t« bedeuten, habe ich nicht ausführen können,
da mir ein zweiter Thermostat nicht zur Verfügung stand und eine
sukzessive Bestimmung mit ein und demselben Apparate wegen des
Kohlensäuregehaltes der Wässer unbrauchbare Werte ergeben hätte. Bei
koeffizienten und t die Temperaturdifferenz zwischen d(U‘
Ausgangs- und der gesuchten Temperatur hezeichnete.
Um den Gang der Bestimmungen zu schildern, will
ich das Verfahren nur bei einem Quellenwasser (Conslan-
lin) anführen, hei den anderen aber fasse ich nur die
Resultate tabellarisch zusammen.
1. C'onstantin-Wasser. Füllung 10. März 1905;
Untersuchung 13. März 1905. A des CO^-haltigen Wassers
0-517, des C02-freien Wassers 0-320.
Zuerst wurde die Kapazität des Widerstandsgefäßes
bestimmt. Kapazität des Widerstandsgefäßes. Inhalt
Normalchlorkaliumlösung. Temperatur 17° C.
Widerstand Ablesung
R
auf dem
a
Gesuchter
im Rheostat
Brückendraht
lOOü-a
Widerstand
111
504
1-0161
112-7871
110
501
1-0040
110-4400
112
507
1-0284
115-1808
109
498
0-9920
108-1280
Sa. :
446-5369 : 4 ^^ 111-6339
Die
spezifische
Leitfähigkeit
; der ^/50-Nürmalchlor-
kaliumlösung nach Ko hl rau sch hei 17° C = 0-002345 -“^K.
Kapazität C = W X F
= 111-6339 X 0 002345 = 0-26178149.
Erste Bestimmung der Leitfähigkeit des CO->-hal-
tigen Constantin-Wassers bei 17° C
Widerstand
Ablesung
R
auf dem
a
Gesuchter
irn Rheostat
Brückendraht
1000-a
Widerstand
17
501
1-0040
17-0680
17-5
506
1-0243
17-9252
16-5
488
0-9531
15-7261
Sa.: 50-7193 : 3 = 16-9064
T -.fu- 1 C 0.26178149 nniA/o/o
Leitfähigkeit K — ™ = — , - , — = 0-0154842.
VV Io-90d4
Zweite Bestimmung der Leitfähigkeit des C02-hal-
tigen Constantin- Wassers bei 17° C :
Widerstand
R
Ablesung
auf dem
a
Gesuchter
im Rheostat
Brückendraht
1000-a
Widerstand
17-5
506
1 0243
17-9252
18
511
1-0450
18-8100
17
499
0-9966
16-9422
Sa. :
53-6774 : 3 = 17-8924
Leitfähigkeit K •=
0 2617814
— 00148308
17-89248
Erste Bestimmung der Leitfähigkeit des evakuier-
ten C'onstantin-Wassers
hei 17° C:
Widerstand
R
Ablesung
auf dem
a
Gesuchter
im Rheostat
Brückendraht
JOOO-a
Widerstand
18
515
1-0619
19-1142
18-5
521
1 0877
20-1224
17-5
510
1-0-108
18-2240
Sa. :
57-4606 : 3 19-1535
Leitfähigkeit K ■-=
0 2617814
r= 0-0136675.
19-1535
Zweite Bestimmung der Leitfähigkeit des evakuier-
ten Gonstantin-Wassers
hei 17°
C:
Widerstand
R
Ablesung
auf dem
a
Gesuchter
im Rheostat
Brückendraht
1000-a
Widerstand
18-5
523
1-0964
20-2834
19
527
1-1 142
21-1698
18
517
1-0704
19-2672
Sa. :
60-7204 : 3 = 20-2601
Leitfähigkeit K =
0-2617814
91 9nni
= 0 0131210.
dem geringen Gehalte der von mir untersuchten Mineralwässer an festen
Bestandteilen erachtete ich den von mir eingeschlagenen Weg, trotz des
anhaftenden Fehlers, dennoch für die Vergleichung der Wässer für
zulässig.
230
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
Die Leitfähigkeit des C02-haltigeii Gonstantin-Wassers
ist bei 17° C ()■() 151575, die des evakuierten Coiistantiii-
Wassers bei 17° C 0 0131961.
Bestimmung bei einer Temperatur
von 17® C
Umrechnung auf Brunnen¬
temperatur
CO.;-haltiges | Evakuiertes
Wasser l Wasser
Ouellen-
Tem-
peratur
COj-
haltiges
W-asser
Evaku¬
iertes
Wasser
A j fähig’Lit j A
Leit¬
fähigkeit
Leit¬
fähigkeit
Leit¬
fähigkeit
Constantiii-
wasser
0-517
0-0151575
0-320
0-0133942
Emmawasser
0432
0 0135661
0-266
0-0125159
14 C
0 0129200
0-0009470
Johannisbrunnei.
0-387
0 0107952
0-182
0-0187681
11-5« C
0-0092540
0-0018262
Maria Theresia¬
quelle
0-418
0 0134334
0-30i
0-0126879
17-4« C
0-0133273
0-0007401
Römerquclle
0-389
0-0112493
0-235
0-0103664
14 6«C
0-0116882
0-0026554
Werlesquelle
0-350
0-0108259
0-245
0-0102603
12-6« C
0 0099502
0-c 009072
Klausenquelle
0-090
0-0016314
0-018
0-0011059
9-7« C
0-0014186
0-0004569
1
{Referate.
Schwimmende Sanatorien.
Von slädt. Oberarzt i. P. D;r. Karl Dieni unter technischer Mitarbeit von
Ober-Ingenieur Ernst Kagerbauer.
Leipzig und Wien 1907, Franz D e u t i c k e.
Wer jemals Gelegenheit hatte, eine Vergnügungsfahrt auf
dem Meere zu machen, wird sich stets an diese Zeit gerne er¬
innern, oh er nun im mittelländischen Meere, Europa, Asien und
Afrika berührend, gebummelt hat oder an den Küsten Norwegens
die Pracht nordischer Gletscher schauen konnte oder auch nur
auf dem kleinen Vergnügungsdampfer, welcher während der Saison
in Abbazia fast täglich in der Zeit vom Diner bis zum Souper
eine Anzahl vergnügter Kurgäste an den x4bbazia naheliegenden
Küsten spazieren führt, sehr behagliche Stunden verlebte.
Dem Arzte sowohl als dem Laien mußte dabei unwillkür¬
lich der Gedanke kommen, daß eine solche Seefahrt, bei ruhigem
Wetter gemacht, eines der besten Mittel sein müsse, um einen
durch Krankheit geschwächten Körper in seinem Streben, wieder
dem Normalen nahezukommen, zu unterstützen.
Was bisher eine weitgehende Verwertung der Seereisen als
Kurmittel beeinträchtigte, war die nur für Gesunde gedachte Bau¬
weise der Passagierdampfer und der auf Erreichung bestnnmter
Ziele in bestimmten Zeiten festgesetzte, also die Bewegung des
Meeres und das Wetter nicht berücksichtigende Fahrplan eines
rasch fahrenden Schiffes.
Das vorliegende Buch Diems zeigt uns eine sorgfältige
Bearbeitung und vollendete Lösung der Frage, welche Kranklieits-
prozesse durch Seefahrt günstig beeinflußt werden können, wie
das Schiff gebaut sein müsse und endlich, wo und in welcher
Weise das Schiff kreuzen soll, um das Maximum der durch Auf¬
enthalt auf der See erreicldjaren Heilerfolge zu erzielen.
Das Buch beweist auch, wie vorteilhaft es ist, wenn der
.\rzt und der Techniker, Hand in Hand gehend, eine Frage in
Angiiff nehmen, deren Lösung einerseits nur auf Grund der
nalnrwissenschafllichen Bildung des Arztes, anderseits nur dem
le( hnischen Wissen des Ingenieurs möglich ist. Arzt und Tecli-
niker bilden bei solchen Arbeiten zwei sich gegenseitig ergän¬
zende Kräfte, deren Ai'beitsergebnis infolgedessen auch nach jeder
Richtung einwandfrei und ohne weiteres durchführbar sein kann.
Das Projekt eines schwimmenden Sanatoriums ist wohl auch
mit größter Wahrscheinlichkeit sogar in finanzieller Bezielmng
anssichlsvoll zu nennen. Ein Sanatoriumscliiff ist zwar gewiß
etwas teurer im Bau als ein gewöhnlicher Passagierdampfer. Es
hat auch höhere Kosten beim Betriebe insoferne, als mehr Warte¬
personal nötig ist und endlich und schließlich auch die Aerzte
nicht bloß gegen die Kranken, sondern auch gegen sich selbst
human sein müssen und für ihre Arbeit bezahlt sein wollen.
Aber ein Sanatoriumschiff braucht weniger Kohle und leidet
weniger als ein Schnelldampfer. Denn es will ja nicht die Fluten
der Meere kilometerfressend durchrasen, sondern es will im Glanze
der Sonne, in der reinen, erfrischenden Seeluft schön langsam
und ruhig seines Weges ziehen. Volldampf braucht das Schiff
ja nur dann, wenn es rasch einen Hafen oder eine schützende
Insel erreichen will, um bewegter See aus dem Wege zu gehen.
Den Faktor des IMinderverbrauches an Kohle kann man heute
schon berechnen, der Faktor der Minderabnützung des Heil¬
schiffes gegenüber der des Schnelldampfers dürfte aber wohl
kaum mit voller Sicherheit feststellbar sein, denn es dürfte heute
noch keine erstklassig gebauten, großen Dampfer geben, welche
längere Zeit wirklich bummeln konnten. Dazu kommen noch
zwei Gesichtspunkte, welche dem Kapitalisten, der daran denkt,
diese neue Kapitalsanlage zu versuchen, tröstlich sein können.
Erstens kann ein schwimmendes Sanatorium von der Art, wie
es der Autor hier vorführt, jederzeit zu einem den weitestgehendcji
Anforderungen entsprechenden Vergnügungsschiff gemacht werden,
sowie der Betrieb als Sanatorium nicht die gewünschte Bente
abwirft, zweitens würde im Kriegsfall — an diese abscheuliche
Eventualität muß man ja leider auch heute noch immer denken
• — das Schiff wohl sofort als Lazarettschiff, als VerwundeteJi-
schiff, gechartert oder auch angekauft werden, so daß auch
in diesem Falle keine Verluste zu befürchten wären. Wenn man
weiters bedenkt, was für Riesenkapitalien in Badeorten während
einer Saison von vier bis sechs Wochen verzinst und amortisiert
worden müssen und auch tadellos verzinst werden, so muß es
doch wahrscheinlich erscheinen, daß ein schwimmendes Sana¬
torium, dem eine ganzjährige Saison zur Verfügung steht (es
kann sich ja stets dort aufhalten, wo das Klima angenehm ist),
ein rationelles Unternehmen sein muß.
Soviel zur Orientierung für unternehmende Männer und
tatkräftige Gesellschaften.
Diem hat in seinem Buche eine große Reihe von Indika¬
tionen mitgeteilt, welche mit eingehender Berücksichtigung der
Literatur und in einer, sogar dem eingefleischten Skeptiker plau¬
siblen Weise besprochen sind und hebt auch hervor, weshalb
gerade die Adria, die herrlichen Küsten Dalmatiens sich für das
Kreuzen von Heilschiffen eignen. Er legt uns dar, daßi diese
Küsten sogar im Sommer diesem Zwecke besser entsprechen als
die heute allgemein bekannten, gegen bewegte See so geschützten
Fjorde Norwegens. Er stellt die beim Aufenthalt auf der See
wirkenden Heilfaktoren (reiniste Luft, größte Dichte der Luft,
geringe Temperaturschwankungen, direktes und reflektiertes Son¬
nenlicht) zusammen und bespricht diese, indem er darauf hin¬
weist, inwieweit sie bei Kurorten, speziell Höhenkurorten in
gleicher Weise zu finden sind, wobei er auch Gelegenheit findet,
die Kontraindikationen, welche für Heilschiffe gelten, zu erwähnen.
Die Betrachtung der von Kagerbauer entworfenen Pläne
zeigen uns ein genau durchgearbeitetes Projekt eines Schiffes,
welches den Komfort einer Privatjacht bietet und zugleich den
Bedürfnissen eines Sanatoriums vollauf genügt.
Der Schiffskonstrukteur hat einen 123 m langen, 15 in
breiten Doppelschraubendampfer (etwa die Größe eines mittel¬
großen Dampfers der Hamburg-Amerika-Liniie) für eine maxi¬
male Schnelligkeit von 20 km in der Stunde entworfen. Das
Schiff hal Raum für bedeutende Kohlenvorräte, große Proviant-
räumo (aber rieh ligerw eise keine Schlachträume), selir große
Räume für Siißwasser (im Hinblick auf die Hydrotherapie), große
Decks für Liegekuren, Sonnen-, Luft- und Sandbäder, Räume für
operative Eingriffe, für Hydrotherapie, Zander-Maschinen, Elektro¬
therapie etc. ; es hat ein Lazarett, alle erdenklichen Räume für
gemeinsame Benützung durch die Passagiere und meist einbettige,
doppelt so groß als gewöhnlich gehaltene Kabinen für 211 Passa¬
giere. Es würde zu weit führen, auf die zahlreichen intei'ossanteji
Details hier einzugeheji. Es war gewiß auCerordeiitlich schwierig,
zugleich allen Anfordeiungen der Kranken, der Erholungsbedürf-
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
J.
ligeii und auch des Arztes in hygienisch einwandfreier Weise
in dem engen Rahmen eines Ozeandampfers genüge zu leistet).
Nur einige Kleinigkeiten seien hier bemerkt. Die T^azarelt-
kiihinen könnten vielleicht beide an derselben Seite des Schiffes
liegen und durch Vergrößerung des Vorramnes und liinschalten
eine)- in das Fi’eie führenden, mit einem Tabernakelfenster ver¬
sehenen AuSgangstür des Badezimmers zu einwandfreien Isolier-
kahinen für Influenza, Pneunionien, Erysipela etc. gemacht wer¬
den, wobei es sich noch empfehlen würde, an die eine derselben
den Desinfektionsraum unmittelbar anzulegen und einige xVngeln
für in den Gängen einzuhängende Türen vorzusehen, um eines
oder auch beide „Hospitäler“ von dem übrigen Schiffe sofort
vollkommen isolieren zu können.
Falls die Frage aufgeworfen würde, was man an dem Schiffe
weglassen kann, um eventuell mehr Kabinen, also mehr Erträgnis
zu haben, so ist diese dahin zu beantworten, daß der Saal für
Elektrotherapie und Massage und eventuell auch der Komplex
des Operationssaales durch eine geringe Vergrößerung der Or¬
dinationszimmer der Aerzte ersetzt werden könnten.
Niemand wird das Buch aus der Hand legen, ohne den
W'unsch zu fühlen, daß der blaue Spiegel der Adria bald ein
solches Schiff tragen möge. Niemand wird sich dem Eindruck
entziehen können, daß, ärztliches imd technisches Wissen und
Können vereint, hier eine interessante und Erfolge versprechende
Aufgabe in der Wichtigkeit der Sache gebührenderweise be¬
arbeitet haben. Dr. A. H i n t e r b e r g e r.
«
Die Behandlung von Kranken durch Suggestion und die
wahre wissenschaftliche Bedeutung derselben.
Dargestellt v. San.-Rat Dr. W. Brägelinaiiii.
Leipzig 1906, Georg Thiemo.
Die vorliegende kleine Schrift ist als Erwiderung gedacht
auf ein vom preußischen Kultusministerium abverlangtes Gut¬
achten des Aerztekammerausschiisses, welches sich über den
Hypnotismus als Heihidttel und als symptornatisches Mittel in
der denkbar abfälligsten Weise aussprach. Br ü gelmann, der
etwa 13.000 hypnotische Sitzungen geleitet zu haben behauptet,
bespricht zunächst die hypnotische Behandlung der Hysterie;
er wird freilich durch die mitgeteilten günstigen Fälle nicht
widerlegen können, daß es prinzipiell verfehlt ist, die Hysterie
durch Hypnose heilen zu wollen, wenngleich es in manchen
Fällen kein prompteres Mittel gibt, um hysterische Symptome
verschwinden zu machen, als Hypnose. Brügelmanns 1’ech-
nik soll als einwandfrei anerkannt werden, ebenso wie ihre Er¬
folge bei Asthma und Neurosen aller Art.
Im Anhang, betitelt ,,Die Philosophie in der Medizin, eine
psychiatrische Studie“, kommen nebst allgemeinen Erörterungen
auch konkrete, z. B. die sexuelle Frage, zur Lösung. Verfasser
geht dabei von der freilich nicht allgemein geteilten Voraus¬
setzung aus, daß in zahlreichen Fällen völlige Abstinenz die
Frauen hochgradig hystensch mache, sie eventuell dem Irren¬
hause zuführe; er kommt also zur Gestattung der freien Liebe,
lief, erscheint es allerdings fraglich, ob je die ärztliche Bewilli¬
gung angesucht werden wird.
*
Physikalische Therapie der Erkrankungen des Zentral¬
nervensystems inklusive der allgemeinen Neurosen.
Von Priv.-Doz. Dr. H. Deterinaim.
Stuttgart 1906. Ferdinand Enke.
Ein ebenso modernes als gutes Büchlein. Die systema¬
tische Einführung der physikalischen Heilmethoden in die Th('-
rapie der Nervenkrankheiten hat eine gewaltige Umwälzung in
den Ileilungsbedingungen derselben hervorgerufen. Wie wichtig
es ist, daß die xAerzte sich mit dieser Therapie vertraut machen,
um Mißbrauch zu verhindern, ist von berufener Seite schon dar¬
gelegt worden. Der Neurologe findet in je einem Abschnitt ah-
gehandelt die physikalische Behandlung der Rückenmarks- und
der Gehirnki’ankheiten, sowie der allgemeinen Neurosen, ohne
Uebei'schwang gepriesen, vielmehr in erfreidicher Kritik und Sach¬
lichkeit, mit strenger Berücksichtigung der Anzeigen und Gegeu-
anzeigeu. So wird hei dei' Hysterie anerkannt, daß sehr oft
das betreffende physikalische Heihnittel auf den Wert des Zwi¬
schen- oder Zweckinittels herabgedrückt ist, an den die Vor¬
stellung des Patienten zur Heilung geknüpft werden soll, daß
in gleicher Stärke die Mittel auch im entgegengesetzten Sinne
von den Patienten verwertet werdeir, also eine Verschlimme¬
rung des Zustandes oder eines Symptoms herheiführen können.
Der Rahmen der physikalischen Therapie ist insoferne sehr weit
gezogen, als vereinzelt auch interne Medikationen, chirurgische
und orlhopädische Maßnahmen zur Sprache gelangen.
*
Untersuchungen über Muskelzustände.
Von Prof. Rieger.
Mit 32 Bildern im Text.
Jena 1906, Gustav Fischer.
Eine dem zweiten Kongreß für experimentelle Psychologie
(Würzburg, April 1906) dargebrachte Begrüßungsschrift.
In ausführlicher Beschreibung, unterstützt durch die zahl¬
reichen xAhhildungen, zeigt Rieger, wie man die Lagen eines
Gliedes zum Horizont auf einem berußten Zylinder von fünf
zu fünf Winkelgraden markieren, wie man dazu die Zahlen an¬
schreiben kann für die Kilogramm, die jeweils als Belastung
wirken.
Vlit diesem Apparat gelangt Rieger zu einem Gesetz der
Wendungen oder auch der ersten Schritte: iVm lebenden Gliede
findet eine Bremsung statt; immer dann, wenn man ein Glied,
das man bisher in einer Richtung gedreht hatte, durch eine
Umkehrung im Sinne der Belastung, in der anderen Richtmig
dreht. Die anfangs starke Bremsung wird bei Fortsetzung der
Drehung in der gleichen Richtung immer schwächer. Vom Nor¬
maldiagramm, das der Majorität der Menschen eignet, gibt es
Ausnahmen, sogenannte Bremser, die, ohne es im mindesten
zu wissen oder zu wollen, kolossale Kraft in den Muskeln ent¬
wickeln. Daran knüpfen sich sofort weitere Fragen, die der
Autor zu studieren verspricht.
*
Die psychischen Störungen nach Kopftraumen.
Von 0. Kölpiu.
Nr. -118 aus der Sammlung klinischer Vorträge, begründet von Volkmaiin,
neue Folge.
Leipzig 1906, Breitkopf & Härtel.
Anknüpfend an die noch nicht sehr reichhaltige Literatur,
bespricht Kölpin die Hirnerschütterung, die folgende Amnesie,
von akuten Psychosen das traumatische Delirium. Korsakoff-
Bilder, wie sie Kalberlah beschreibt, traumatische Dämmer¬
zustände werden erwähnt, Anfälle des manisch-depressiven Irre¬
seins, die Dementia praecox, die progressive Paralyse als nicht
spezifisch traumatisch erklärt. Demgegenüber repräsentieren die
chronisch traumatischen Neurosen und schließhch die traunia-
tische Demenz spezifische Krankheitsbilder. Ueher deren patho¬
logische Anatomie ist erst wenig bekannt. Ein Resümee, dem
vollinhaltlich zugestimmt werden kann, beschließt die sehr schöne
klinische Darstellung.
*
Grundriß der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen.
Von Karl Wernicke.
Zweite, revidierte Auflage.
Leipzig 1906, Georg Thieme.
Es ist noch in frischer Erinnerung, wie tragisch Wernicke
von jähem Tode ereilt wurde. Das Vorwort teilt mit, daß er
eben in der Revision dieser zAveiten Auflage seines Lehens¬
werkes begriffen war. Nur unwesentliche Aendermigen hat er
gegenüber der ersten Auflage vorgenommen, der un revidierte
dritte Teil wurde unverändert ahgedruckt. Die Ausgabe besorgte
11. Liepniann in pietätvoller Weise; er hat damit seineni Lehrer
das schönste Monument gesetzt.
Die originelle xVnschauungsweise Wernickes ist be¬
kannt; für jeden, der sich der Psychiatiäe widmen, für jedon^
der sie als Wissenschaft betreiben will, wii'd das Studium des
Buches durch die Anregungen, die daraus zu scdiöplen sind, nacdi
wie vo)' uiienlhehrlich sein.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
lieber Sprachverwirrtheit.
Beiträge zur Kenntnis derselben bei Geisteskranken und Geistesgesunden
Von Dr. Erwin Stransky.
Halle a. d. S. 1905, KarlMarhold.
Eine dankenswerte, qualitative Untersuchung über einige
wicliligere Formen der Sprachverwirrtheit, worunter der Autor
iin weiteren Sinne jede nicht durch bloß aphasische oder arlikula-
torische Störungen bedingte Anomalie der sprachlichen Ausdrucks¬
form versteht. Stransky hat eine große Anzahl von Versuchen
angestellt, indem er Versuchspersonen durch je eine Minute, an
ein Stichwort anknüpfend, darauf losreden ließ', was und wie
es ihnen gerade einfiel. Die Analyse der Versuche an Geistes-
gesunden zeigt ein Gemisch von Ideenflucht und Haftenbleiben;
die Kontaminationstendenz nimmt unter dem Einflüsse des Auf¬
merksamkeitsmangels ganz beträchtliche Dimensionen an. Minder
Gebildete produzieren mehr innere Assoziationen, bewahren ge¬
ordnetere, schuhnäßige Diktion und neigen im allgemeinen stärker
zum Konfabulieren.
Anschließend daran prüft Stransky die Sprachverwirrt¬
heit bei einer Reihe von Kranken mit Dementia praecox, berührt
die Manie und die Paranoia, hei welch letzterer Kontamination
und paralogisierende Konstruktionen überhaupt fehlen. Mit be¬
sonderer Liebe wird die Redeweise der Katatoniker analysiert,
ein regelloses Durcheinander von Ideenflucht und Perseveration;
es fehlen Ohervorstellung und logischer Aufbau. Die Kontamina¬
tionen werden noch plastischer dadurch, daß die gewohnten und
stabilisierten Kopulativwendungen zwischen den einzelnen, gleich¬
sam nur mechanisch aneinander gereihten Vorstellungen eine
Art grammatikalischen Zusammenhanges schaffen.
Die Nervosität, ihre Ursachen, Erscheinungen und Be¬
handlung.
Von A. Cramer.
Jena 1906, Gustav Fischer.
Unter die Nervosität reiht Gramer die Neurasthenie, die
endogene Nervosität und die Hysterie. Er betrachtet erstere als
eine rein durch exogene Schädlichkeiten bedingte, chronische
Erschöpfung der Neurone, während bei der Nervosität von Haus
aus eine leichte Erschöpfbarkeit der Neurone besteht. Die Hysterie
faßt er als eine Krankheit auf, welche auf dem Roden einer endo¬
genen Disposition entsteht, sich durch eine krankhafte Labilität
der Vorstellungen auszeichnet und gewöhnlich mit einer gestei¬
gerten Einbildungskraft und einer gesteigerten Erregbarkeit im
Affekt und der Reflexe verbunden ist — also keine sehr ein¬
fache Definition. Gramer trennt auch Hysterie und Geistes¬
störung.
Wenngleich die Subjektivität des ganzen Ruches nicht nur
hier, sondern auch anderwärts geradezu zum Widerspruch her¬
ausfordert, kann man sich derselben doch nur freuen. Zunächst
für die eigenen Schüler Gramers bestimmt, wirbt seine Lehr¬
auffassung neue Schüler und im Widerstreit der Meinungen wird
auch die Wissenschaft gefördert, wiewohl der Autor in allzugroßer
Bescheidenheit nur von einem Nachschlagehuch für Studenten
und junge Aerzte spricht. Die Gelegenheiten, sich über nervöse
Zustände zu informieren, sind nicht allzu zahlreich, jedenfalls
noch immer nicht im Verhältnis zur Häufigkeit dieser Krank¬
heitszustände. Und man muß dankbar sein, wenn eine Infor¬
mation in so prägnanter Weise erfolgt, wie dies hier geschieht.
i\Iit einem Blicke erfaßt man die Einteilung des Buches; außer¬
dem ist ein ausführliclies Sachregister angeschlossen. Nach Ab¬
sätzen in verschiedenem Druck gegliedert, findet sofort jede Frage,
die man au das Buch stellt, ihre Antwort. Fast 100 Seiten sind
der Therapie gewidmet, die von durchaus modernem Geiste ge¬
tragen wird.
♦
Ueber Neurasthenie.
Von E. Jendrassik.
Aus der Sammlung klinischer Vorträge von Richard Volkmaiiii, neue
Folge Nr. 426/427.
Leipzig 1906, Breitkopf & Härtel.
Zwei Vorlräge, gehalten im Ferialkurs für Aerzte 1905.
ln ahgerundeler Darstellung wird Aeliologie, Pathologie, Diagno-
slik, Pia.tgnose und, breilei- ausgesponneu, die Tbeiaiiie der Neu-
rastbenie abgebandelt. Den Praktiker erkennt man: „Wir dürfen
nicht vergessen: der Kranke sucht beim Arzte Genesung und
nicht eine Diagnose, er sucht Beruhigung und keine mit allen
Eventualitäten rechnende, wissenschaftliche Prognose. Der Kranke
überläßt die Sorge uns und wir handeln gegen das Interesse
unseres Patienten, wenn wir, statt zu heilen,' nur seine Befürch¬
tungen vermehren. Wer so handelt, ist nicht zum Arzte geboren.
Bei der Behandlung der Neurasthenie manifestiert sich evident
die Wahrheit, daß die Heilkunde nicht bloß eine Wissenschaft,
sondern zugleich eine Kunst ist.“
*
Die gemeinnützige Forschung und der eigennützige
Forscher. Antwort auf die von Wilhelm Fliesz gegen
Otto Weininger und mich erhobenen Beschuldigungen.
Von Priv.-Doz. Dr. Hennanu Swoboda.
Wien und Leipzig 1906, Wilhelm Braumüller.
Es scheint dem Referenten über alle Diskussion er haben,
die selbstverständlichste Sache von der Welt, daß das Referat
eines Buches an dieser Stelle niemals persönlich genommen wer¬
den dürfe; auch die abfälligste Kritik richtet sich nicht gegen
die Person des Autors, sondern nur gegen die der Beurteilung
unterbreiteten Thesen, eventuell gegen die Fassung derselben.
Wenn also Ref. vor kurzem über eine Schrift von Pfennig
den Ausdruck einer peinlichen Empfindung nicht zu unterdrücken
vermochte und seiner Entrüstung, daß über ein Mitglied des
Lehrkörpers unserer Universität so etwas geschrieben werden
konnte, vielleicht allzu impulsiv Ausdruck verlieh, so sollte da¬
durch niemand beleidigt werden, auch Swoboda nicht, mit
dessen Person allerdings Pfennig sich in der unsanftesten Weise
beschäftigt hatte. Auch wenn jene Schrift ein Pamphlet genannt
werden könnte, sie enthielt doch tatsächliche und detaillierte
Angaben, so daß dem Gefertigten eine Vogel Strauß - Politik nicht
angebracht erschien. So schwer es aber auch dem Referenten
gemacht wurde, akademisch und unpersönlich zu bleiben, er
will angesichts der ihm seither zugekommenen Gegenschrift
Sw oho das sein Möglichstes versuchen.
Swoboda läßt Pfennig, den ,, Büttel“ beiseite, eine viel¬
leicht unzulässige Vereinfachung und richtet seine Polemik aus¬
schließlich gegen Fliesz. Man denkt an den alten Wahrspruch:
Womit man sündigt, damit wird man gestraft! So sehr hat
SAVoboda die arme, wehrlose Psychiatrie geschmäht, nun Avill
er sie gar zu Hilfe rufen. ,,. . . Nachdem sich bei Fliesz einmal
der Wahn, beraubt zu sein, festgenistet hatte (S. 14) . . . immer
von dem Wahne besessen (S. 24) . . . von dem Wahne befangen
(S. 28) . . .“ Swoboda möge dem Psychiater verzeihen, der
ihm die Berechtigung bestreitet, diesen Ausdruck überhaupt ge¬
brauchen zu dürfen. Selbst wenn die Annahmen von Fliesz,
die Swoboda den Darlegungen Pfennigs entnimmt, sich mit
dem nicht decken, was Swoboda behauptet, so folgt daraus
erst, daß einer der beiden Streitteile sich irrt, höchstens daß er
voreingenommen ist.
Der Pfennigschen Darstellung, welche, von der Form ab¬
gesehen, ganz aktenmäßig gründlich klang, wird eine andere ent¬
gegengesetzt, die an Präzision der Behauptungen ebenfalls nichts
zu wünschen übrig läßt. Es Avird mit Fliesz polemisiert, all¬
gemeine Betrachtungen angestellt, Briefe kommentiert und ge¬
deutet, die Genese und selbständige Bedeutung der eigenen Ge¬
danken ausführlichst dargelegt. In einem Referat lassen sich der¬
artige Auseinandersetzungen nicht Aviedergeben ; Interessenten
seien auf das Original verwiesen. Wo Behauptungen gegen Be¬
hauptungen stehen, ist natürlich nur ein Gefühlsurteil möglich.
Recht, in eigener Sache zu entscheiden, kann der Autor nicht
beanspruchen. Ref. muß mit Rücksicht auf persönliche Angriffe,
denen er ausgesetzt war, ahlehnen, irgendein Urteil abzugeben.
SAVoboda ficht mit etwas feinerer Klinge; auf die Keulen¬
schläge Pfennigs antAvortet er mit Hieben und Stichen, die
freilich den Getroffenen nicht weniger schmerzen. Was der Un¬
beteiligte schaudernd genießt, ist ein in Avissenschaftlichen Kreisen
unerhörtes Schimpfduett. Et tant de bruit pour une omelette!
Das Buch des ,, bestohlenen“ Fliesz müßte Ref. so in Grund
und Boden krili.sieren, daß- Herr Dr. SAA'^ohoda seine helle
Freude daran haben konnte. Und Avas ist es mit den „Periode]i
des menschlichen Organismus“ von Swoboda? Der Gefertigte
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
wild sich nicht aimialk'ii, zu würdigen, welche Ihnwälzung der
l’hilosoiihie durcli dieses Buch angebahiiL wurde; leider war
Dl'. Swolioda so unvorsichtig, auch in rein medizinisclies Cle-
hiet vorzuhrechen und seine Entdeckungen der Wiener klini¬
schen Wocliensclirift zu unterhreilen, worauf der Gefertigte ex
officio die unverstandenen, aus medizinischen Büchern zusamnien-
gelesenen Brocken registrieren und die daran geknüpften, voll-
koniinen undiskutablen Theorien auf das entschiedenste ahlchnen
mußte. Bei anderen Referenten ist es ihm übrigens nicht besser
ergangen. Nun haben sich durch die Indiskretionen Pfennigs
die Grenzen zwischen dem, was in Swobodas Buche der philo¬
sophischen und was der medizinischen Fakultät angehört, noch
bedeutend zugunsten der medizinischen, also zu ungunsten Swo¬
bodas verschoben. Es ist ein gewiß nicht näher zu ciualifizie-
rendes Vorgehen, wenn Pfennig Privatbriefe ohne Zustimmung
dos Schreibers publizistisch verwertet. Aber was nun leider ein¬
mal öffentlich bekannt wurde, wirft auf die ,,NormaT‘psychologie
Swobodas ein eigenartiges Licht. Wenn der Autor S w o b o d a
sich selbst zum Objekt macht, aus dem eigenen Seelenleben
Gesetze ableiten, so hat er die Pflicht, uns über die Persön¬
lichkeit des Objektes vollkommen aufzuklären, sonst ist das eine
wissenschaftliche Irreführung. Nun erfahren wir von dritter Seite,
daß dieses Objekt Patient war: ex juvantibus läßt sich a'ueh
eine ungefähre Diagnose stellen. Der Gefertigte hätte in seinem
damaligen Referat kürzer sein können; Periodizität und Suggesti-
bilität als psychopathische Erscheinungen brauchen von den Irren¬
ärzten nicht mehr entdeckt zu werden.
Ref. kann nur mit dem W'unsche schließen, es möge dieser
Prioritäts- und Plagiatstreit abgeschlossen werden, eine unpar¬
teiische Autorität ihr Urteil sprechen. Gewonnen hat jedenfalls
kein Teil etwas und es bleibt tief bedauerlich, daß man einem
Mitglied des Lehrköri>ers unserer Alma mater Viennensis mit
einem Schein von Begründung — ob zu Recht oder Unrecht,
bleibt ja beiseite — Dinge nachsagen konnte, die in ihrer Ver¬
allgemeinerung, wie sie leider nicht ausblieb, alle anderen Aka¬
demiker persönlich kränken müßten. E. Raimann.
Äus v/ersehicdetien Zeitsehriften.
90. Kinderheilkunde. Seitdem es durch experimentelle
und pathologisch-histologische Studien sichergestellt ist, daß die
nach Kropfoperationen bie und da auftretende Tetanie durch
den Ausfall der Epithelkörperchen bedingt ist, lag die Frage sehr
nahe, ob nicht auch die anderen Formen der Tetanie, so unter
anderem die Tetanie der Kinder, mit Funktionsstörungen der
Glandulae parathyreoideae in Zusammenhang zu bringen seien.
Die bisher in der Literatur darüber niedergelegten Befunde,
noch recht spärlich, haben noch keine befriedigende Aufklärung
bringen können. Th ie mich (Monatsschrift für Kinderheilkunde,
5. Band, Nr. 4) hat die Epithelkörperchen von drei Kindern, die
an „latenter“ Tetanie gelitten haben, anatomisch untersucht und
keinerlei pathologische Veränderungen an denselben finden
können. Auf Grund dieser negativen Ergebnisse wendet sich
der Autor gegen die Annahme, daß ein Zusammenhang zwischen
Kindertetanie und Veränderungen der Epithelkörperchen bestehe
und sucht dem Einwand, daß das Fehlen histologischer Verände¬
rungen noch nicht gegen eine Funktionsstörung des betreffenden
Organes zu verwerten sei, mit der Bemerkung zu begegnen, daß
bei allen drüsigen Organen, deren Funktionsstörungen zu be¬
stimmten Krankheiten in Beziehung gebracht werden, z. B. der
Schilddrüse, der Hypophysis, den Nebennieren usw., anatomische
Veränderungen gefunden werden.
Demgegenüber stehen positive Befunde von Erdheim (Ge¬
sellschaft für Kinderheilkunde in Wien, 22. November 1906).
Derselbe fand in zwei Fällen von tödlich endender Tetanie in
allen vier Epithelkörperchen alte Hämorrhagien, während König¬
stein (Gesellschaft für Kinderheilkunde in Wien, 6. Dezember
1906) die Epithelkörperchen eines tetaniekranken Kindes normal
fand, dagegen bei einem ,, tetaniefreien“ Säugling zahlreiche,
allerdings frische Blutungen in den Glandulae parathyreoideae
nachweisen konnte.
Gegen den supponierten Zusammenhang von Kindertetanie
und Epithelkörperchen wendet sich auf Grund klinischer Be-
Irachlungen StölLz uer (Jahrbuch für Kinderheilkunde, 64. Band,
Nr. 3). Fürs erste behauptet er, daß der klinische Symi)lomen-
kornplex der Kindertetanie (Spasmophilie) von dem der experi¬
mentellen Tetania parathyreopriva erheblich abweiche (bei ersterer
fehlen die fibrillären Zuckungen, Tremor, Tachypnoe und Tachy¬
kardie, Apathie, Albuminurie etc.), wobei er aber noch immer
die Möglichkeit zuläßt, „daß ein rachitischer Säugling auf den
Ausfall der Funktion der Epithelkörperchen anders reagiert als
ein Hund oder eine Katze, und auch anders als ein erwachsener
Mensch, an dem eine Kropfoperation gemacht worden ist“. .Fürs
zweite aber hält er die beiden Erkrankungen ,,ini Wesen“ für
verschieden u. zw. aus dem Grunde, weil sie durch die Art der
Ernährung in verschiedener Weise beeinflußt werden. Während
die postoperative Tetanie durch Zufuhr von Fleischbrühe ver¬
schlimmert, durch Zufuhr von Milch gemildert wird, „steigen
und fallen die Symptome der Spasmophilie der Rachitischen
bekanntlich mit der Menge der von den Kindern getrunkenen
Kuhmilch“.
Nun läßt sich aber die Frage des Nahrungseinflusses bei
der Kindertetanie gewiß nicht in der apodiktischen Weise halten,
wie dies Stöltzner tut. Erfahrungen der letzten Zeit haben
den hoch veranschlagten Wert der Kulunilclientziehung (Frauen¬
milch, Mehlnahrung), wie sie namentlich von Finkeistein
propagiert wurde, erheblich herabgemindert.
Mendelssohn und Kuhn aus dem Baginsky sehen
Krankenhaus (Archiv für Kinderheilkunde, 44. Band, Heft 1 bis 3)
haben an der Hand eines größeren Materials zeigen können,
daß der Einfluß der kuhmilchfreien Diät auf die Symptome der
(latenten) Tetanie erheblich seltener festzustellen war, als auf die
Laryngospasmen, in vielen Fällen jedoch keinerlei Einflußi sichtbar
war. Auch v. Pirquet (Wiener ined. Wochenschrift 1907, Nr. 1)
sah bei Nachprüfung der Angaben Finkeisteins ,,die allzu
optimistischen Hoffnungen auf diese Therapie“ herabgesetzt. (In
gleichem Sinne sprechen auch einige, wenngleich noch spärliche
Erfahrungen des Referenten.) Es erscheint daher kaum berechtigt,
daß Stöltzner auf Grund des Nahrungseinflusses die Kinder¬
tetanie und die postoperative Tetanie dem Wesen nach prinzipiell
trennt und damit scheint auch der von ihm durchgeführte Be¬
weis, daß die Kindertetanie mit der Funktion der Epithelkörper¬
chen nichts zu tun habe, durchaus nicht gelungen.
In einem früheren Referate (Wiener klin. Wochenschrift
1906, Nr. 36) war von Stöltzners Theorie, die Kindertetanie
sei als eine „Kalziumvergiftung“ aufzufassen, die Rede.
In Fortsetzung der Untersuchungen von Quest, der be¬
kanntermaßen zu entgegengesetzten Resultaten gelangt als
Stöltzner, hat Cybulski aus der Breslauer Kinderklinik
(Monatsschrift für Kinderheilkunde, 5. Band, Nr. 8) den Kalk¬
stoffwechsel eines tetaniekranken Säuglings untersucht; seine
Resultate sind nicht geeignet, die Stöltzner sehe These zu
stützen. Die Kalkretention war während der Eklampsie am
kleinsten und nahm mit eintretender Besserung des Kindes zu;
es war somit kein Grund vorhanden, zur Zeit der manifesten
Tetanie eine Kalkstauung anzunehmen.
Auch Pirquet (Gesellschaft für Kinderheilkunde in Wien,
22. November 1906) muß auf Grund seiner Erfahrungen die
Wahrscheinlichkeit der Theorie Stöltzners anzweifeln.
Dem letztgenannten Autor verdanken wir übrigens neue
Details in der Frage der galvanischen Erregbarkeit im Säug¬
lingsalter. Bezüglich der Technik der Untersuchung verweise ich
auf das Original (Wiener med. Wochenschrift 1907, Nr. l).
Pirquet hat gefunden, daß^ zwischen dem normalen elektrischen
Verhalten und der galvanischen Uebererregbarkeit, wie sie durch
das Auftreten der Kathodenöffnungszuckung bei Stromstärken von
— 5 Milliampere charakterisiert ist (Thiemich), eine Mittel¬
gruppe sich differenzieren läßt, welche durch das Auftreten der
x\nodenöffnungszuckung unter 5 Milliampere gekennzeichnet ist
(anodische Uebererregbarkeit). Diese anodische Uebererregbarkeit
fand sich etwa zehnm,al so häufig als die ,,kathodisohe ,, bei
Flaschenkindern häufiger als bei Brustkindern, viel öfter im Winter
als im Sommer.
Ein neuer Beitrag zur Kenntnis der Unterschiede zwischen
Frauen- und Kuhmilchernälirung ist von Ludwig F. Meyer
(Monatsschrift für Kinderheilkunde, 5. Band, Nr. 7) geliefert
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
NL 8
Würden, lii d:is (leljiel dieser vieluinstrilleiieu und bisher noch
ungelüsleii Frage isl eine neue Theorie eingezogen. Meyer hat
(dner Koinponenle der Milch, die „nocli niclil genügende Heach-
lung g(‘funden haf‘, den in <ler Molke vereinigten anorganischen
üeslandteilen seine Aufincrksarnkeit gewidmet. Der Verfasser legte
sich die Frage vor: „Liegt der Unterschied der Wirkung zwischen
Frauen- und Kiihmüch in dem Fett und in dem Eiweiß oder ist
der (irund der verschiedenen Wertigkeit in den Molken be¬
dingt?“ Meyer bereitete zur Verfütterung an Säuglinge zwei
verschiedene Nährgemische, von denen das eine <lie Molke der
Frauenmilch, Fett und Kasein der Ivulunilch eidhielt, während
das andere die Kuhmilchmolke mit dem Frauenmilchfett und
-kasein vereinigte. Diese heiden Präparate wurden je drei Säug¬
lingen gegeben, u. zw. in der Weise, daß dieselben vorerst mit
(ler Frauenmilch-i\lolkennahrung gefüttert wurden. Es zeigte sich
nun in der Entwicklung der Kinder unter dieser Ernährung absolut
keine Differenz gegenüber dem Verhalten bei reiner ßrusternäh-
rung. Wurden dieselben Säuglinge dann mit jenem Gemisch
ernährt, das die Kuhmilchmolke enthielt, traten regelmäßig Ge¬
wichtsabnahmen oder -Stillstände, Veränderungen der Stuhleid-
leerungen (häufigere, dünnbreiige, manchmal zerfahren schleimige,
grüne Stühle), beträchtlich größere Tagesschwankungen der Tem¬
peratur, Blässe, Unruhe, kurzum dyspeptische Zustände auf, die
hei Rückkehr zum Brustmolkengemisch rasch wieder schwanden.
Der Verfasser zieht aus dem Ergebnis seiner Ernährungsversuche
den Schluß, daß das Kuhmilchfett und das Kuhmilchkasein bei
einer Kombination mit Frauenmilchmolke vom Säugling gut ver¬
tragen wird und daß es nicht angeht, in der Schwerverdaulichkeit
des Kuhmilchkaseins den Kardinalpunkt der Minderwertigkeit der
künstlichen Ernährung zu erblicken. (Die Stühle in der Kuhmilch-
niolkenperiode enthielten fast regelmäßig die „Kaseinbröckel“
(Biedert), die auch die Mill on sehe Reaktion gaben und in
dem Nahrungsgemisch war überhaupt kein Kuhkasein!). Dagegen
sieht Meyer die Hauptdifferenz in der Wirkung beider Milch¬
arten in der Verschiedenheit der beiden Molken. Was die in
Betracht kommenden Komponenten der Molke anbelangt, sind dies
das Albumin und die anorganischen Salze; das Albumin als
Träger der Fermente (Versuche mit abgekochtem Frauenmilcli-
molkengemisch zeigten einen hemmenden Einfluß auf das Ge¬
deihen des Kindes); aber außer dem, Fehlen der Frauenmilch-
ferniente muß nach j\I e y e r noch in der Kuhmilclmiolke ein schädi¬
gender Faktor vorhanden sein, der die schweren Störungen unter
der Ernährung mit Kuhmilchmolke erklären würde, und da kann
nach des Autors Ansicht ,,nur die qualitativ und quantitativ
verschiedene Zusammensetzung beider Molken in bezug auf ihre
anorganischen Bestandteile oder deren Relation zu den Nähr¬
stoffen in Frage kommen“.
Ueber die ,, Grünfärbung der Säuglingsfäzes“, über deren
Ursache bisher nur recht unklare hypothetische Vermutungen
voiiiegen, hat Koeppe (Monatsschrift für Kinderheilkunde,
5. Band, Nr. 8) neue Studien unternommen. Bekanntermaßen hat
vor nicht langer Zeit ernste dt ein oxydierendes Ferment
als Veranlassung des Auftretens grüngefärbter Säuglingsstühle
bezeichnet. Koeppe hat nun weitere Fermentreaktionen an
Säuglingsfäzes unternommen, u. a. auch die Prüfung der mit
Oü^/oiger NaCT-Lösung durchgeschüttelten Fäzesemulsion auf Zu¬
satz von l®/oiger H202-Lösung. Dabei zeigte sich in vielen Fällen
eine grüne Verfärbung, anfangs nur in wenigen Flocken, mit
der Zeit der gesamten Fäzes. Die mit H2O2 sich grünfärbenden
Stühle stammten von Kindern, die mit verschiedensten Nähr¬
mitteln gefüttert wurden; diese H202-Zersetzung läßt auf ein Fer¬
ment (Katalase) schließen, das in den Fäzes wahrscheinlich
bakteriellen Ursprunges ist; vielleicht erfolgt die Zersetzung auch
durch die Bakterien selbst. Es w'äre denkbar, daß auch die von
den Säuglingen grün entleerten Stühle auf ähnliche Weise ihre
grüne Farbe erhalten. Da zum Zustandekommen der Grün¬
färbung mehrere Faktoren notwendig sind (1. ein Peroxyd, von
dem aktiver Sauerstoff abspaltbar ist, 2. ein Ferment, welches
die Abspaltung bewirkt, und 3. der Farbstoff, der in einen grünen
oxydiert wird), wird das unregelmäßige Auftreten der Grün¬
färbung verständlich.
In einer Arbeit von Philips aus der Breslauer Kinderklinik
(^Monatsschrift für Kinderheilkunde, ö. Band, Nr. 8) vvmrde die
,,Fermc‘ntthej'api('“ beim Säugling durcli wissenschaftliche Unter¬
suchungen auf ihren Wert geprüft und, um es gleich vorweg zu
nehmen, als völlig wertlos hwfunden. Von der Ansicht ausgehend,
daß die Fermente beim neugeborenen und jungen Säugling quan¬
titativ und qualitativ zur Verarbeitung der Nahrung unzureichend
seien, wurden von verschiedenen Pädiatern teils vorverdaute
Milchpräparate (Backhausmilch usw.), teils Fermentzusätze zur
Nahrung empfohlen (Pegnin, Pankreon usw.). Die Indikation zur
Einleitung der Fermeidtherapie besteht (nach Sie gort) nament¬
lich in Fällen von mangelhaftem Gedeihen trotz rationeller Quali¬
tät und Quantität der Nahrung, was auf ungenügende Verdauungs¬
arbeit hindeute, wo Magen- und Darmaffektionen, sowie andere
Krankheiten fehlen. Von dieser Indikation geleitet, ernährte
Philips Säuglinge mit Zusatz eines Gemisches von Pepsin, Pan¬
kreon und Emulsin und untersuchte den Stoffwechsel dieser
Kinder. Das Resultat seiner Untersuchungen ergab nun, „daß die
Zufuhr von Fermenten liehen der Nahrung weder auf die Re¬
sorption von Stickstoff, Fett und Kohlehydraten, noch auf die
Retention von Stickstoff, noch auf das Gedeihen der Kinder
einen Einfluß hat. Weder Säuglinge, die den Indikationen
Siegerts für eine erfolgreiche Fermenttherapie entsprachen,
noch solche der ersten Lebenswochen, bei denen angeblich die
Fermentsekretioii herabgesetzt ist, ergaben eine Differenz im
Stoffwechsel der -Vorperiode, gegenüber dem der Fermentperiode.
Ein Gedeihen der Kinder hatte erst statt, als eine von rationellen
Gesichtspunkten geleitete qualitative Aenderung ihrer Nahrung
vorgenommen wurde.“ Durch dieses Urteil hat die so allgemein
verbreitete und beliebte ,, Fermenttherapie“ einen argen Stoß
erlitten.
Ueber „Buttermilchfieber“ berichtet Tugendreich aus
dem Ba gin s ky sehen Kinderkrankenhaus (Archiv für Kinder-
heilkmide, 44. Band, Heft 1 bis 3). Im Anschluß an die erstmalige
Buttermilchdarreichung tritt bei manchen Säuglingen (im übrigen
ziemlich .selten) entweder sofort oder nach mehreren Stunden
Fieber auf, welches wechselnde Höhen aufweist, in einem Teil
der Fälle in ganz kurzer Zeit zur Norm abfällt, um nicht wieder
aufzutreten, in einem anderen Teile aber persistiert und zum
Nahrungswechsel nötigt. Dabei ist das Allgemeinbefinden mehr
weniger alteriert (sogar kollapsartige Zustände wurden beobachtet),
die Stühle werden häufig dünner, aber nicht schleimig (in man¬
chen Fällen hleiben sie normal) und das Körpergewicht bleibt
stehen oder geht zurück. Das Aussetzen der Buttermilch wirkt in
allen Fällen heilend. Der große Wert der Buttermilchernährung
ist durch das Auftreten solcher jedesmal durch rationelle Behand¬
lung reparabler Komplikationen durchaus nicht herabgesetzt.
Tugendreich bringt diese Zustände bei der Buttermilchdar¬
reichung in Analogie mit jenen Erscheinungen, wie sie manchmal
beim Uebergang von Frauenmilch- zur Kuhmilchnahrung auf treten
und wie sie von Sc bloß mann als Ueberempfindlichkeit gegen
das artfremde Eiweiß, von Czerny und Keller als solche gegen
das Milchfett gedeutet wurden. Nun kann selbstverständlich bei
Uebergang zur Buttermilch das artfremde Eiweiß keine Rolle
spielen und die Fettarmut der Buttermilch macht eine Fettintole¬
ranz höchst unwahrscheinlich. Es müssen daher noch andere
Erklärungsmöglichkeiten für derartige Erscheinungen in Betracht
kommen; der Hinweis Finkeiste ins auf eine Mobilisation
pathogener Darmbakterien habe viel für sich, zumal ja nach Be¬
hauptung mancher Autoren der therapeutische Wert der Butter¬
milch auf eine Umstimmung der Darmflora zurückzuführen sei.
Die von Much und Römer angegebene ,,Perhydrasemilch“
wurde von Böhme (Deutsche med. Wochenschrift, 32. Jahrgang,
Nr. 43) einer Nachprüfung unterzogen. Dieselbe ist eine mit
30°/o Wasserstoffsuperoxyd (3-3 cm® pro Liter) versetzte Milch;
durch diesen Zusatz werden sämtliche Keime, auch Tuberkel¬
bazillen, vernichtet. Der Verfasser kann diese Tatsachen be¬
stätigen. Die Ernährungsversuche mit der ,,Perhydrasemilch“
haben nach Ansicht des Autors zu befriedigenden Resultaten ge¬
führt. Die „Perhydrasemilch“ stellt eine für Säuglinge über ein
Vierteljahr (ganz junge Säuglinge vertragen die Milch anscheinend
weniger gut) geeignete Nahrung dar, ,,die einer gekochten Milch
bester Qualität mindestens ebenbürtig ist“. „Die größere Ge¬
wichtszunahme mancher Kinder und das Schwinden der
Rachitis (?) scheinen sogar für eine direkte Ueberlegenheit der
Nr. 8
WIENEIl KLINISCHE WOCIIENSCIIUIET. 11)07.
Perhydraseniilcli zu spiccheii." Nuii isl aber aus deu Kraidveu-
goschiclitiMi ohne weiteres oi'sichtlicli, daß nur vier von den oll'
beobachteten Säuglingen eine befriedigende Zunahme zeigten,
während alle anderen ein weil unter dem Durch'schnitte hefind-
liches Gedeihen aufweisen, so daß das woldwollende und auf-
munleriuh' l’rleil des Verfassers schier unbegreiflich erscheint,
ganz ahgesehen davon, daßi <ler Wert einer Milch, die doch als
Dauernahrung gedacht ist, nicht nach so kurzer Deohachtungszeit
(nur ein Kind wurde drei Monate, die meisten viel kürzere Zeit
ernährt) an so geringem Material aljgeurteill werden kann.
Eine interessante Studie über die Aetiologie der ,,Dirsc li¬
sp run gschen Krankheit“ verdanken wir Bing aus dem Ba¬
gin sky sehen Kinderkrankenhaus (Archiv für Kinderheilkundi^
44. Band, Heft 1 bis 3). Nach eingehender Berücksichtigung der
his heute gellenden Theorien und kritischer Sichtung derselben
kommt der Verfasser auf Grund eigener Beobachtungen und Uuler-
suchungen zu dem Schlüsse, daß <lie für die ,,H i r sc h s p r ii n g sehe
Krankheit“ charakteristische Dilatation und Hypertrophie des
Kolon keine angehorene ist; angeboren ist nur eine mangelhafte
Innervation des Dickdarmes, deren weitere Folge ein schwacher
'ronus der Kolomnuskulatur und eine träge Peristaltik; daraus
resultieren dann die Symptome des Meteorismus uml der Obstipa¬
tion. Die Krankheit verläuft entweder akut, wobei sie schnell
zum Tode führt, odei' mehr chronisch mit einer Dauer bis in
höheres Alter. Rudolf Poll a k.
*
1)1. Die Behandlung der G e f ä ß( ve r 1 e t z u n ge n im
Kriege 1904/1905. Von Dr. W. Zoege v. Man teuf fei. Die
im russisch-japanischen Kriege vom Verfasser gemachten Be¬
obachtungen bestätigten ihm die von r. Bergmann nach dem
Türkenkrieg schon vorausgeahnte Anschauung, daß' im modernen
Kriege eine große Menge von Gefäßverletzungen und speziell
von Aneurysmen zu erwarten sein werde. Ueher den Zeitpunkt
der operativen Behandlung der Gefäßverletzungen differieren der¬
zeit die Ansichten führender Kriegschirurgen nicht unbetfächl-
lich. Bornhaupt und Brentano forderten, man soll die Ge¬
fäßverletzungen alle in die Reservehospitäler sendeii. Verfasser,
der sowohl in den vorderen Linien, als auch auf der langen
Elappenstraße und im Rücken der Armee als Kriegschirurg tätig
war, weist diese von einem ganz einseitigen Beobachtungsstand-
puid'Cl vertretene Ansicht auf das energischeste zuii'ick und wand,
sie für einen zukünftigen Krieg als Richtschnur zu akzeptieren,
weil dies \Telen Alenschen das Leben kosten würde. Im letzten
Kriege wurden viele Gefäßverletzungen nicht als solche erkannt,
weil <las japanische Spitzgeschoß eine sein' kleine äußere Wunde
und dadurch eine geringe primäre Blutung setzte, so daß die
Verletzten häufig als ,, einfache“ Weichteilschüsse direkt vom \ er-
handplatz sofort einem fünf- bis vierzehtdägigeu Transport in
die Reservehospitäler ausgesetzt wurden. Keine gering(‘
Anzahl verblutete unterwegs; auf jeder Station sab man
eine beträchtliche Anzahl, die als Leichen ausgeladen wurden.
Von den Ueberlehenden zeigte ein Teil Fieher, ein Teil große
HäTnalome oder Nachbildungen, ein Teil Gangrän, die an Etappen¬
lazarette abgegeben werden mußten. Nur die ohne auffällige
Verletzungssymptome kamen bis Gharbin etc. weit biider den
Rücken der Armee und konnten so als „durchgesiebtes Material“
mit einer äußerlich verheilten Wunde und einem bereits ausge¬
bildeten Aneurysma, die dort beschäftigten Cbirurgen zu der cu’-
wähnten Forderung fi'ihren. Die Erwägung der auf dem Heim¬
weg noch drohenden Komplikationen : Nachbildung, Infektion und
Gangrän gibt Aufschluß, avo und wann die Geläßverlelzung zu
behandeln ist. Verf. berichtet aus si'inem i'eicheii Dt'obacldungs-
material über 32 Gefäßverletzungen und tritt, hic'bei in überzeu¬
gender Weise für die Frühoperation d e i' G e f ä h s c h ü s s (*
ein. Bedingung hiefür ist : f r ü Ii e D i a g n o s e, aseptische E i n-
richtung und Zeit. Die Fri'didiagnose ist. allerdings ungemein
häufig sein’ erschwert; die lür Gefäß'Verletzungen charakteristi¬
schen Erscheinungen werden — besonders an ilei' Femoralis
im Adduktorenschlitz, der Fossa iioplitea, der .Axilla und der
Kuhitalis — oft durch ein weiches Hämalom völlig versli'ckl.
,,Einzig und all(*in die von Wahl für die Diagnose*
a u c h d e r f r i s c h e n V e r 1 e I z u n g e n h (* r a n g e z o g i* n e A u s-
k u 1 1 a I i 0 n gibt sofort eine ii i’ ä z i s e und ras c h e 0 r i e u-
Lieruug.“ Verf. hat diese üntersuchuugsmethoile mit dem Stetho¬
skop nie, auch hei dem Höllenlärm des .Arlilleiie- und Kleingewebr-
feuers am Schacbö nicht, im Stiche gelassen. Die Frühdiagnose
ist — gleichgültig, wo der Verletzte ojierierl wird — deshalb
von so großer Bedeutung, weil dem Verwundeten danach die
Direktive bei dei' Evakuation mitgegeben wird. Aus deu g(*-
machten Erfahrungen ergaben sich für den Verfasser folgende
Schlüssi*: ,,1. Die Gefäßverletzungen sind auf dem Haiiplver-
handplatz, res]). dem ersten, in (‘inigen Stunden zu erreichemh'ii
Etappenlazarett zu operieren, d. h. doppelt zu unterbinden.
2. Wo das unmöglich ist, wird man mit Komplikationen reclnn'U
müssen u. zw. mit Infektion, Gangrän und Nachblutung. 3. Es
sind drei Perioden im Verlaufe einer Gefäßverlelzuug zu unter¬
scheiden: 1. Periode: bis zu ein- bis zweimal 24 Stunden; in
dieser Periode isl die Unterbindung einfacb, das Hämatom läßt
sich entleeren, die Teih* legen sich aneinander. II. Periode:
Derbes Infiltrat in der Höihle, die nach Entfernung der Koagula
zurückhleibt. und Tamponade fordc'iä ; ungünstige Periode vom
5. bis 14. trage bis drei Wmchen. Hl. Periode: nach drei Wochen
nach Rückbildung des Hämatoms, günstige Bedingungen für die
Operation des ausgebildelen Aneurysmas.“ .... „Drei W'oehen
abwarten, ist aber nicht in allen Fällen, ja nur in einer b(‘-
schränkten Anzahl möglich; zudem ist es den Fällen nicht an¬
zusehen, welche warten können.“ Von den 32 berichteten Fällen
sind alle his auf einen, der nach A'erletzung der G lutea an Osteo¬
myelitis ilei und Pyämie gestorlien ist, geheilt entlassen worden.
Zum Schlüsse folgt ein Bericht über acht perforierende Herz¬
schüsse mit gleichzeitiger Wndetzung der Pleura; die Vei'-
letzten wurden mit Ruhe, Eisheut(‘l, später Kompressen um deu
Thorax, hei Fieber oder Atemnot mit Punktion und Ent¬
fernung der Blutergüsse bis 5üü cnP im Alaximum behandelt.
Sämtliche heobachteten acht Fälle konnten evmkuiert werden.
— (Langeidjecks Archiv für klinische Chirurgie 190(5, Bd. 81,
I. Teil, Festschrift für v. Bergmann.) l- H-
*
92. Leber die Pathogenese des angeborenen
Ikterus des Erwachsenen. Von Chauffard. W'enn auch
der Ikterus das objektiv sicherste Symplom der Leberkraukbeiten
ist, so ist die Pathogenese mancher Formen doch nicht ge¬
nügend aufgeklärt; hieher gehört auch der angeborene Ikterus
der Erwachsenen. Der Verfasser berichtet über einen 24jährigen
Mann, bei welchem der Ikterus schon am ersten Tage nach der
Geburt auftrat und seither mit Variationen der Intensität forl-
besteht. Im elften .lahre stellte, sich nach heftigem Nasenbluten
Anämie und Milzschwellung ein. Vluskelanstrengungen, längere
Reisen führen eine Zunahme des Ikterus herbei, welche von
Schmerzen in dei' Lebergegend begleitet ist, dagegen iiben Aer-
änderungen der Diät keinen Einfluß auf das A erhalten des Ikteius
aus. Die Stühle des Patienten sind nicht acholisch, im Harn
findet sich reichlich Uiohilin, dagegen kein Gallenpigmeut, Haut¬
jucken und Hämori'ha.gien sind niemals aufgetreten, die I uls-
freipienz beträgt t55 bis 72 Schläge. Die Leber ist nicht wesentlich
vergrößert, dagegen die Milz hart und vergrößert. Alan kann
nach den Insherigen Beobachtungen drei Hauptfornien des kon¬
genitalen Ikterus unterscheiden u. zw. l'älle von biliärei' Leber¬
zirrhose mit xVngiocbolitis, durch hochgradigen Ikterus acholische
Stühle, Gehall des Harnes an Gallenpigment, Auftreten von
Blutungen, Alilz- und Leberschwellung gekennzeichnet. Die Er¬
krankung steht oft im Zusammenhang mit hereditärer Syphilis.
Eine zweite Gruppe umfaßt die Fälle von frühzeitig auftretender
Stenose oder Gbliteralion des Ductus choledochus. Die dritte
Grupix* umfaßt jene Fälh*, wo k(*ine Stenose des Ductus chole¬
dochus besteht und die als chronischer Ikterus mit Spleuo-
megalie, Urobiliuurie uml Siderosis dei' Nieren beschrieben wurden.
Als Grundlage dieses Krankheitsbildes wirrl eine Zerstörung von
Dlutpigment in der Alilz angesehen. In diese Kategorie ist auch
der milgeteille P’all zu rechnen, wofür die Zunabme des Ikteius
im Anschluß au die nach der E])isl:ixis aufgetretene Anämie und
Alilzschwellung spricht. Die Blutunlersuchung ergab A^erkh*ineiung
des Durchmessers der Erytbrozyten und heraligeselzte Resistenz
gegen Hämolyse, währi'iid sonst die Erythrozyten bei Ikteius
das entgegengi'setzte \T*rhalt('n zeigen. Auch ilii* latsachen dei
experimentellen Pathologie s])rechen zugunsten der nämolyti
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCIIRIFT. 1907.
Nr, 8
■r.(\
sclitMi Theorie, da jede stärkere Zerstörung von Blutfaibstol'f
die reicldiclie Sekretion von ])leioehromer (ialle begünstigt.
Dtn- kongenitale Ikterus der Erwachsenen ist eine durch ge¬
steigerte Fragilität der Erythrozyten hcrvorgeiaifene Erkrankung.
Der Ausgangsi)unkt der Ei'krankung ist in der .Milz gelegen, die
Heteiligung der Leher ist sekundär und es ist auch das llinzu-
treten von Angiocliolilis in diesem Sinne aufzufassen. Es spricht
auch sonst vieles dafür, daß eine Anzahl von anscheinend pri¬
mären Leheraffektionen von einer Erkrankung der ’\Iilz ab¬
hängig ist. — (Sem. ined. 1907, Nr. 3.) a. e.
♦
93. Aus dem patholog. - anat. Institut (llofrat Professor
W e i c h s e 1 b a u in) und der Ohrenklinik (Hofrat Prof. Politzer)
dm- k. k. Eniversität in Wien. Ucber lymphomatöse Ohr-
(‘ r k r a nku n ge n. Die Erkrankungen des Gehörorganes
liei Leukämie, Chlorom und den verwandten Krank¬
heiten. Von Pri\vDoz. Ür. G. Alexander, klin. Assistent.,
\'erf. bespricht in seiner .Monographie die wenigen einschlägigen
Fälle aus der Literatur, sowie 25 eigene u. zw. 15 in klinischer
und analomischer Hinsicht und 10 lediglich klinisch untersuchte
Fälle. Die Untersuchungen betrafen: I. .Vkute Lymphomatösen:
1. akute lymphoide Leukämie; 2. Chlorom; 3. akute lymphoide
Leukämie und Lymphosarkom; 4. akute myelogene Leukämie;
5. akute myelogen -lymphoide Leukämie. 11. Chronische Lympho¬
matösen: 1. chronische lymphoide Leukämie. In klinischer Hin-
si(dit resultiert, daß die lymphomatöse Ohrerkrankung (dne häufige
und typische Komplikationsform der Lymi)homatosen darstelll,
daß sie je nach vorliegenden akuten oder chronischen Lympho¬
matösen klinische Verschiedenheiten zeigt, aber keine weitere
Differenzierung entsprechend den verschiedenen Formen der
Lymphoinatüse znläßt. ln den meisten Fällen zeigen sich bi¬
laterale und gleichartige, wenn auch nicht gleichgradige Verän¬
derungen. Die Prognose ist ungünstig; hochgradige Schwerhörig¬
keit und 'l'aubheit die Folge, wenn auch manchmal die Erkrankung
langsam (in den chronischen Fällen) verläuft oder gar stille
zu stehen oder vorübergehend sich zu bessern scheint, ln ana¬
tomischer Hinsicht läßt sich gleichfalls eine Unterscheidung nach
den verschiedenen Formen der Lymphomatösen nicht treffen,
wenn auch im ganzen und großen die weitergehenden Verände¬
rungen bei den akuten Fällen durch die Blutungen repräsen¬
tiert oder wenigstens mit Blutungen verbunden waren; auch
waren die anatomischen Veränderungen des Gehörorganes desto
ausgedehnter und stärker, je ausgedehnter die lymphoiden Verän¬
derungen überhaupt waren und je länger sie bestanden hatten.
Nach dem vorhandenen iMaterial ließen sich folgende lymphoide
Ohrerkrankungen unterscheiden: 1. der akute, exsudative I\littel-
ohrkatarrh; 2. der akute und subakute Tubenkatarrh, eventuell
mit Lymphosarkom oder Chlorom; 3. akute hämorrhagisch-eitrige
.Mittelohrentzündung; 4. akute hämorrhagifsche .Mastoiditis; 5. akute
hämorrhagische Panotitis; 6. akute Labyrinthitis; 7. akute Neu¬
ritis acustica leucaemica; 8. Gehörgangsblutung; 9. Mittelohr-
blntung; 10. Labyrinthblutung. Die Therapie kann nur syinpto-
matisch sein. — (Zeitschrift für Heilkunde 1906, Bd. XXVH,
Heft Xll.) K. S.
*
94. Aus der psychiatrischen Klinik in Freiburg i. B. (Pro¬
fessor Hoch e ). U e b e r Variationen im Verlaufe de r
Py r a m i d e n 1) a h n. Von Dr. Bumke, Privatdozenlen und Assi¬
stenten der Klinik. Variationen im Verlaufe der menschlichen
Pyraniidenbahn sind nichts Seltenes und haben häufig Beschrei¬
bung gefunden. Der von Bumke mitgeteilfe Fall ist insofern
von besonderem Interesse, als er fast alle Haupttypen der bisher
bekannten .\bweichungen vom gewöhnlichen Verlaufe der Pyra¬
midenbahn vereinigt. — (.\rchiv für Psychialrie und .Xerven-
krankh(.dten, Bd. 42, 11. 1.) S.
♦
95. Ueber die Veiwendung des rohen Fleisches
i n d e r P r a x i s. Von H i r t z und B e a u f u m e. Es sind drei
I'leischarten, welche in rohem Zustande zur Verwendung kommen,
nämlich Rind-, Hammel- und PfeiMefleisch, während das Schweine¬
fleisch wegen Schwerverdaulichkeit und der Gefahr der Ueber-
tragung von Trichinen und Finnen nicht im rohen Z\tstande zur
.\nwendnng gelangt. Das Hamnudfleisch hat den Vorzug, daß es
in rohem Zustand genossen, nicht die Gefahr der Uebertragung
von Bandwürmern mit sich bringt, es ist aber wegen des hohen
Preises zur Verwendung in Krankenhäusern wenig geeignet, sieht
auch wegen seiner Irübrötlichen Färbung nicht so gut aus, wie
rohes Rindfleisch. Das Pfeidefleisch ist dunkelrot, nimmt aber
rasch eine bräunliche Färbung an, sein Geschmack ist wegen des
Reichtums an Glykogen und Glykose süßlich und weniger ange¬
nehm. Billigkeit und Freisein von Parasiten sprechen für die An¬
wendung des Pferdefleisches in Krankenhäusern, doch wird der
Nährwert dadurch beeinträchtigt, daß viele alte und schlecht ge¬
nährte Pferde zur Schlachtung kommen. Das Rindfleisch ist
wegen seines schönen .Vussehens und angenehmen Geschmackes
zum Genuß in rohem Zustande besonders geeignet, jedoch darf
man nicht die zartesten Stücke nehmen, weil diese erst Jiach
dem Kochen durch guten Geschmack ausgezeichnet sind. Zum
Genuß in rohem Zustande sind besonders die an der Innenseite
des Schenkels gelegenen Muskeln geeignet, welche nicht von Fett
durchw'achsen sind und leicht geschabt werden können. Die
Gefahr der Uebertragung von Tänien durch den Genuß rohen
Rindfleisches wird überschätzt, da vorwiegend durch das Kalb¬
fleisch die Uebertragung erfolgt. Das zum Genuß im rohen Zu¬
stand bestimmte Fleisch soll nicht durch Zerhacken, sondern
durch Schaben gewonnen werden. Die Gewinnung des Schab¬
fleisches wird erleichtert, wenn man das Fleisch schief gegen
die Richtung des Muskelfaserverlaufes durchschneidet. Ein Fleisch¬
stück von 250 g Gewicht liefert ca. 200 g Schabfleisch. Bei dem
vielfach gegen den Genuß rohen Fleisches bestehenden Wider¬
willen hat man verschiedene Methoden der Einführung, sowie
mannigfache Zusätze, wie Salz, Zucker, .Xlkohol empfohlen. Meist
genügt die Verabreichung in Form von kleinen Kugeln, welche
in Oblaten eingeschlagen sind. Sehr ratsam ist die Darreichung
des Schabfleisches in lauwarmer, nicht zu fetter Bouillon. Man
gibt das Schabfleisch zu Beginn der beiden Hauptmahlzeiten
in Mengen von je 100 g. Man kann bei bestehendem Widerwillen
zunächst mit kleinen Dosen beginnen und diese in heißer Bouillon
darreichen, dann steigt man mit der Dosis und nimmt immer
weniger heiße Bouillon. Falls langdauernde Ueberernährung not¬
wendig ist, empfiehlt es sich, mit der Darreichung des rohen
Fleisches zeitweilig auszusetzen. ■ — (Gaz. des hop. 1906, Nr. 136.)
96. Stokes- A d a m s s c h e K r a n k h e i t u n d 11 e r z-
arrhythmie. Von John Hay und Stuart A. (Moore. Als
Stokes- A dams sehe Krankheit Avird bekanntlich ein Symiito-
menkomplex bezeichnet, Avelcher ini Avesentlichen in .-Vnfällen
von ScliAvindel und BcAviißtlosigkeit, verbunden mit extremster
Bradykardie, besteht, Avelche sich bis zum völligen Stillstand,
dem sogenannten Herzblock, steigern kann. Nun ist man gegen-
Avärtig der xVnsicht, daß speziell die Bradykardie auf verminderter
Reizleitung vom Vorhof zum Ventrikel beruhe. Der Wert des
milgeteilten Falles liegt nun darin, daß Verf. einerseits in aus¬
gezeichneten polygraphischen Kurven die verminderte Reizleitung
demonstriert, ferner durch den Obduktionsbefund zeigt, daß das
Hissche Atrioventrikularbündel, dem die Reizleitung vom Vor¬
hof zum Ventrikel zugeschrieben Avird, degeneriert Avar. — (Lancet.
10. November 1906.) J. Sch.
*
97. Die Entfernung von B r u s Iav a n d g e s c h av ü 1-
sten mit breiter E r ö f f n u n g d e r Pleura. \'on Dr. L. Rehn-
Frankfurt a. M. Die breite Eröffnung der Pleura Avurde und
Avird von den meisten Chirurgen aus Furcht vor dem Pneumo¬
thorax, dem gefährlichen Kollaps der Lungen und den si)äteren
Folgen, der Infektion des Pleuraraumes, nach Möglichkeit gemiefhm.
Unter dem Schutze der pneumatischen Operationskammer von
Sauer bruch können die Gefahren eines Pneumothorax zwar
erfolgreich verhütet Averden; avo aber Luftdruckapparate nicht
zur Verfügung stidien, kann, Avenn auch nicht mit derselben
GeAvißheit, so doch mit einer gewissen Ruhe und Sicberheit den
üblen, gefahrbringenden Zufällen bei Lungenoperationen auch
in einfacherer Weise begegnet Averden. Verf. empfiehlt nach seinen
Erfahrungen vor Einschneiden der Pleura, eine große, runde,
gekrümmte Nadel ziemlich lief durch Pleura und Lunge zu führen,
um letztere durch Rindenzügel zu sichern; nachdem man nun
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1007.
einschneidet, Wird gleichzeitig die Lunge mit einer feucliten
Kompresse zart gefaßt und nacli außen gelialten, ohne sie un¬
sanft durch Pressen 'mit Fingern und Zangen zu l)ehandeln.
Sorgfältigste Blutstillung ist bei Exstirpation des Tumors von
großer Wichtigkeit, uni inshesonders Blutansammlungen im Pleura¬
raum zu veihinderii. Tm weiteren Verlauf ist nun (unter Orien¬
tierung des Bindenzügels) die Anheftung der Lunge
in größeren Abschnitten und entsprecliender natürlicher Lagerung
durch zahlreiche, exakt gelegte Nähte an die Brustwand von
größter Bedeutung. Drei Nähte, wie Bayer ursprünglich vor-
gi'schlagen, genügen nacli Verf. nicht zur sicheren und crfolg;-
reiclien Aniieflting der Lungen. Nach exakter Naht der Weich¬
teile wird über die an die Brustwand angeheftete Lunge uml
Pleura die Hautwunde vollkommen, eventuell mit Hilfe einer
Plastik geschlossen. Der luftdichte Yerschlußi der Pleura
erscheint Verf. von größter Beden lang zur Verhütung von In¬
fektion des Pleuraraumes. Er verzichtet daher auf Drainage und
Tampon grundsätzlich. Nach diesen Gesichtspunkten operierte
Hehn in letzterer Zeit mit Erfolg drei Patienten, deren Operations¬
geschichten genau berichtet werden. Einmal wurde hei ciiuu'
öhjährigen Frau ein Rezidiv von Mammakarzinom, welches
in großer Ausdehnung die Rippen der rechten Brustwand er¬
griffen hatte, nach Resektion der dritten, vierten, fünften und
sechsten Rippe vom Sternum bis zur Axillarlinie, samt der mit-
verwachsenen erkrankten Pleura costalis entfernt und der große
Defekt mit Haut vollkommen gedeckt. Die Patientin üherstand
den Eingriff gut, war noch fast zwei Jahre gesund und starb
erst 2V2 Jahre post operationem an inneren Metastasen. Ebenso
überstand ein 48,iähriger I’atient die Exstirpation eines großen
Rippenchondrosarkoms nach Resektion der vierten und füniten
rechten Rippe in einer Ausdehnung von 12 cm und eines ent¬
sprechenden Teiles des verwachsenen, mit Geschwulstknoten be¬
setzten Rippenfelles zunächst gut. Nach abermaliger Operation
wegen Rezidiv nach zwei IMonaten Exitus. Bei einer dritten
Patientin wurde ein vom Periost ausgehendes Spindelzellensarkom
der zweiten und dritten rechten Rippe, das mit der Pleura fest
verwachsen war und sich stark halbkugelig gegen die Imnge
vordrängte, mit Erfolg exstirpiert und sogar eine ideale Heilung
in zehn Tagen erzielt. Die Patientin ist \^U Jahre post operalionem
noch ohne Rezidiv und vollkommen heschwerdefrei. — (Langen-
hecks Archiv für klinische Chirurgie 1906, Bd. 81, I. Teil, Fest¬
schrift für V. Bergmann.) F- H-
*
98. (Aus der Erzielmngsanslall für Schwachsinnige „Erne-
slinuin'“ in Pi'ag.) Die Ohrmuschel liei Schwachsinnigen.
Von Dr. R. Imhof er-Prag. Verf. bringt eine Studie über die
Degenerationszeicheu an der Ohrmuschel, deren diagnostischer
Wert ebenso wie der anderer Degenerationszeichen (das sind nach
Wildermuth anatomische und funktionelle Abweiclmngen von
der Norm, welche an und für sich die Existenz des Organismus
unerheblich, aber für offene oder latente neuropathische Anlage
charakteristisch sind) durchaus kein unbestrittener ist. Die Unter¬
suchungen Imhofers an 200 Ohren ergaben folgende Resultate:
1. Eine für Idioten chaiakteristische Ohrform gibt es nicht. 2. Bei
Idioten kommt eine Anzahl Abnormitäten, oder besser gesagt,
Varietäten, in größerer Anzahl vor als hei Normalen. 3. 1 on
diesen sind einige Varietäten als solche anzusehen, die in phylo¬
genetischer, resp. ontogenetischer Hinsicht eine mindere Fortent¬
wicklung andeuten. So ist der morphologische Index des Idiolen-
ohres gegenülier dem Normaler relativ niedriger (morphologischei
Index nach Schwalbe Ba.l00A\L Ba — Ohrbasis Llngc
der Insertionslinie der Ohrmuschel; WL = wahre Länge
Entfernung der Darwinschen Spitze von der Incisura Iragi-
cohelicina). Weiters findet sich der hintere untere Winkel des
Embryonenohres heim Scliwachsiimigen häufiger als beim Noi-
malen; ebenso findet sich beim Idioten häufiger eine ausgeprägle
S a t y r spitze'. Doppelt so oft endlich wie bei Normalen findet
sich bei Schwachsinnigen das sogenannte Henkelohr. — (Zeit¬
schrift für Heilkunde 1906, Bd. XXVH, Heft XH.) K. S.
*
99. Aus der bakteriologischen Anstalt zu Straßbiirg i. L.
t Oberleiter: Prof. Dr. J. Förster). B a k t e r i o 1 o g i s c h e 1 Be¬
fund bei der xA u t o p s i e eines T y p h u s b a z i 1 1 e n t r ä g e 1 s.
Vorläufige Mitteilung. Von I’rof. Dr. E. Levy und Dr. Heinrich
Kays er, Oberarzt im Inf. -Reg. Nr. 172, kommandiert zum In¬
stitut. Die Verfasser waren in der Lage, Leichenmaterial von
einem „Bazillenträger“ untersuchen zu können, den sie ein Jahr
lang unter ihi'or hakteriologischcn Kontrolle hatten. Es handelt,
sich um eine ISjährigc Frau, die seit 13 Jahren in der Irren¬
anstalt Stephairsfeldt -Hördt wegen Epilei)sie sich befand. Im
Jahre 1903 machte sie daselbst Typhus durch und genas. Gelegent¬
lich gehäufter Ty])husfälle auf der Hördter Frauenabteilung wurde
genannte Pat. als Bazillenträgerin erkannt; ihr Stuhl enthielt
Typhuskeime. Derselbe positive Befund wurde noch zebnmal er¬
hoben (1905). Oktober 1906 erkraidUe diese Patientin fieberhaft
unter schweren psychischen und nervösen Erscheinungen. In
der zweiten Fieberwoche ging sie unter einer hypostatischen Pneu¬
monie und IlerzscliAväche am elften Tage zugrunde. Die Sektion,
welcher die Verfasser nicht beiwohnten, ergab hypostatische Pneu¬
monie des rechten Unterlappens,' ein schlaffes Herz wie mudi
septischen Erkrankungen, eine leichte jMilzVergrößerung. Hirn¬
befund negativ. Die von den Verfassern au den iluien zur Ver¬
fügung gestellten Organen, Milz, Leber, mit Gallenblase vorge¬
nommene Untersuchung ergab zunächst in der Gallenblase einen
mehr als doppelt bohnengroßen Gallenstein. Die Züchtnngsl)efiinde
ergaben im Milzinnern, Leberiiinern, Galle, Gallenblasenwaiid und
im Innern des Gallensteines reichliche Typhushazillen. Andere
Mikroorganismen konnten weder direkt mikroskopisch noch kul¬
turell, noch durch Tierversuche nachgewiesen werden. Nach An¬
sicht der Verfasser ist damit zum ersten' IMale an eiirem notori¬
schen Bazillenträger ein Beweis dafür erbracht, daß die Gallen¬
blase nach der von Forster und Kaiser aufgestellten Theorie,
den Dauersitz, den Vegetalionsort der Typhuskeime chronischer
Bazillenträger darstellen kann, denn die Verfasser haben die
E be rth-Gaffky sehen Bazillen aus dem Innern des Gallen¬
steines einer Bazillenträgerin kultivieren können. Das Vorkommnis
demonstriert aber auch, daß bei Typhusbazillenträgern eine Auto¬
infektion zustande kommen kann. Nach dean Leichenbefund und
den klinischen Notizen ist dje Patientin einer Typhussepsis er¬
legen ; das Auftreten der Typhushazillen in der Milz läßt sich zu¬
sammen mit den Krankheitssymptomen nicht anders erklären, als
durch eine Allgemeininfektion mit diesen Keimen. Dieselbe wäre
nach den Verfassern als eine Auto-Re-Infektion von den Gallen¬
wegen aus anzusehen, denn die Frau leble seit einem Jahre
in einer Baracke der Irrenanstalt isoliert. x\n eine Infektion
von außen her kann nicht gedacht werden, zumal in diesem Jahre
zu Flördt keine Typhusfälle vorgekommen sind. — (Vlünchener
tnodiy Wnf bonsehTift 1906. Nr. 50.)
*
100. D a s Scheue n d e r P f e r de. St a m p e d e of horses;
Tierpaniken. Ein Beitrag zur Kenntnis der Psy¬
chosen der Tiere. Von Prof. H. Dexler, Deutsche Universität
in Prag. Das Durchgehen von Pferden u. zw. ebensowohl ein¬
zelner Individuen wie ganzer Rudeln ist eine häufige Erschei¬
nung, so häufig, daß; sie zur Frage drängt, warum gerade Pferde
so oft durchgehen. Das Scheuen und Durchgehen einzelner In¬
dividuen findet leicht eine ausreichende Erklärung in den psy¬
chischen Eigenlümlichkeiten der Pferde, in ihrer Furchtsamkeit,
in ihrem Erschrecken und Scheuen vor neuen, ungewohnten,
plötzlichen Wahrnehmungen, in ihrer geringen Intelligenz. Bei
manchen leicht scheuenden Pferden sind Gehirnkrankheiten mit
psychotischen Begleiterscheinungen, bei vielen organische Augen¬
krankheilen die Ursache häufigen Durchgehens. Alle diese Er¬
klärungsversuche reichen aber nicht aus, um die Masseiia.usbrüche
von Pferden aufzukläaen, die mitunter in Rudeln, ja in ge¬
schlossenen Herden durchgehen, dabei durch ihre verkehrte Hand¬
lungsweise aufs deutlichste den totalen oder partiellen Verlust
ihrer Besonnenheit dokumentieren und dadurch sich oft schwere
Verletzungen zuziehen, ja seihst die V'^ernichtung ihres Lehens
herheiführeu. Solche Vlassenaushrüche von Pferden wurden oft
beobachtet und wiederholt unter dem Titel Pferdepaniken, Stam¬
pede of horses (Stampede, wahrscheinlich von dem spanischen
,,stampedo“ [estampida] ) beschrieben, aber nie genügend auf¬
geklärt. Dexler ist geneigt, diesen Massenausbrüchen wenigei
ein gedankliches Moment, als eine unbewußte J riebbandlung als
Hauptgrundlage zuzusprechen und die Vorhernschaft einer In-
WlLNEll KMNISCIIE WOCIIKNSCIIIUKT. l'J07
Nr. 8
slinkiroakliDii aiizuseluMi. Die Daiiikeu der i\leuscheii eiuertseits,
Inn deiieii die Sugg<*sli(xji, - die' lde<*.ldil)erlraglmg,^ di(; (ie-
daiikeniilaeiiflan/.ung die wiiddigste UelU; spielt and das
Massendarehgelu'i) dei' Id’erde and der übrigea IJaasliero
aadersei(s lial)ea also eine ganz verschiedene ])sychologische
(Irandlage and i^ind liar ' ähnlich'e, Picdd aber gleicdiarlige
Drscbeinaagea, W iirde man — was w old nicht anzanelnnen
isl — die Danik der .Menschen allgemein als Dsychose
gelten lat+sen, -so däi'fl# -man amMdmam, (lall da.s Stampede
of horses gleichfalls eine l^sychose, eine der ohigen analoge
Psychose, jedoch in veränderter Form, darstellt. — (Archiv für
Psychialric' and Nervenkrankheilen, IJd. 42, H. 1.) S.
Vermisehte flaehriehten.
t
Ernannt: Prof. Pier in Bonn zam Rlarinegeneralarzt
ä hl suite des Marinesaaitätskorps. — Der a. o. Professor an der
l.hiiversität in Jena Dr. D. Gerhardt zam ordentlichen Pro¬
fessor der medizinischen IVliklinik der Kinderheilkunde and
Pharmakologie in Erlangen. — Der a. o. Professor für gerichtliche
Medizin in Freiburg i. B. Dr. ^dolf Schule zum etatsmäßigen außer¬
ordentlichen Professor. - Prof. Friedr. .Moritz in Gießen als
Nachfolger v. Krelils zuni ordentlichen Professor und Direktor
der medizinischen Klinik in Straßburg.
*
V c r 1 i e h e 11 : Dem Polizeibezirksarzt Dr. Heinrich Popper
in Wien der Titel eines kais. Rates und dem Polizeibezirksarzt
Dr. Josef Schrank der Titel eines, Polizeioberhezirksarztes. —
Dem Privatdozenten für Psychiatrie in Göttingen Dr. W. AVeber
der Professortitel.
*
H a b i 1 i t i e r t : In Petersburg am medizinischen Institut
für Frauen: Dr. D o b r o w o 1 s k Y für Hygiene und Dr. T a r a-
n u k h i 11 e für gerichtliche Medizin!
*
Gest ,o. r b e n : Dr. Roland Stiche r, Privatdozent für
Frauenheilkunde in Breslau.
Der internationale Kongreß für Psychiatrie,
Neurologie, Psychologie und I r r e n p f 1 e g e w'ird in
Amsterdam vom '2. bis 7. September 1907 stattfinden. Das öster¬
reichisch-ungarische Komitee besteht aus den Herren: Professor
Dr. G. Auto n-Graz, Prof. Dr. L. F. v. H o c h w a r t h-Wien, Professor
Dr. J. Wagner v. J a u r e g g-Wien, Prof. Dr. C. Mayer-Inns¬
bruck, Prof. Dr. H. 0 b e r s t e i li e r-Wien, Prof. Dr. A. Pick-
Prag, Dr. E. R e (1 1 i c h-Wien,’ Dr. T. Saig o-Badapest, Doktor
J. Stärlinge r-AIauer-Oehling.
*
Die Frage der ■ Z u 1 a s s u n g der Oberrealschul-
a b i t u r i e 11 1 e n zu den ärztlichen Prüfungen i m
Deutschen Reiche ist, wie die Münchener med. Wochenschrift
mitteilt, nunmehr endgültig entschieden und der Beschluß des
Bundesrates wird demnächst veröffentlicht wmrden, der im wesent¬
lichen folgendes bestimmt: Von Ostern 1907 an werden die ge¬
nannten Abiturienten ohne weiteres zum medizinischen Studium
zugelassen, ohne daß sie den Nachweis lateinischer Kenntnisse,
wie bisher, zu erbringen brauchen. Dahingegen müssen sie, wenn
sie zur ärztlichen Vorprüfung zugelassen werden wellen, den
Nachweis erbringen, daß sie diejenigen lateinischen Sprach-
kenntnisse besitzen, welche für die Versetzung nach Obersekunda
eines Realgymnasiums erforderlich sind. Dabei genügt schon das
Zeugnis des Direktors einer Oberrealschule über die erfolgreiche
Teilnahme an dem in dieser Schule^ eingerichteten wahlfreien
Eateinunterricht und nur dann, wenn ein solcher Unterricht nicht
eingerichtet sein sollte, ist der Nachweis lateinischer Sprach-
kenntnisse durch ein auf Grund einer Prüfung ausgestelltes
Zeugnis der Leiter eines deutschen Gymnasiums oder Real¬
gymnasiums zu erbringen. Damit hat der Bundesrat der vor zwei
Jahren durch den Abgeordneten Eickhoff im Reichstag ge¬
gebenen Anregung Folge geleistet. Die Folge dieses Beschlusses
wird sein, so schreibt die Voss. Ztg., daß nun an allen deutschen
Oberrealschulen wnihlfreie Lateinkurse eingerichtet werden, damit
den Abiturienten dieser Anstalten das medizinische Studium er¬
leichtert wird. Auch ist anzunehmen, daß denjenigen Studenten
dei- Medizin, die Abiturienten von Oberrealschulen sind und sich
daher nur in der philosophischen Fakultät einschreiben lassen
konnten, dieses Studium nachträglich angerechnet werden wTrd,
wie es seinerzeit gegenüber den Abilnricnten der Realgymnasien
geschah.
Von den t i r e n z f r a g e n d es Ne r v e n- und Seelen¬
leben Sy herausgegeben im Verlage von J. F. B e r g m a n n in
AViesbaden von Dr. Löwenfeld in München und Dr. H. K li¬
re 1 1 a in Ahrweiler, ist das 47. Heft erschienen. Es hat eine
Arbeit von Dr. Send AI e y e r in Danzig: Ueber den Schmerz,
zum Inhalt, welche die Untersuchungsresultate über die psycho¬
logischen und physiologischen Bedingungen des Schmerzvorganges
widergibt. . .
♦
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 5. Jahreswoche (vom 27. Januar bis
2. Februar 1907). Lebend geboren, ehelich 677, unehelich 338, zusammen 1015.
Totgeboren, ehelich 50, unehelich 35, zusammen 85. Gesamtzahl der
Todesfälle 715 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
19 0 Todesfälle), an Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 14,
Scharlach 3, Keuchhusten 4, Diphtherie und Krupp 8, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 5, Lungentuberkulose 102, bösartige Neu¬
bildungen 59, Wochenbettfieber 1. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 34 (-|- 4), Wochenbettfieber 5 ( — 3), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 72 ( — 38), Masern 332 ( — 26), Scharlach 82 (-j- 7), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 7 (-1-2), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 85 ( — 6), Keuchhusten 35 ( — 4), Trachom 1 ( — 3),
Influenza 1 (-[- 1).
Freie Stellen.
Stadtarztesstelle für die Stadtgemeinde Kaaden,
Böhmen. Mit dieser Stelle ist ein jährlicher Bezug von K 1200 ver¬
bunden. Die Besetzung erfolgt auf ein Jahr provisorisch und hat der
Dienstantritt womöglich am 1. März 1907 zu erfolgen. Gesuche sind bis
spätestens 22. Februar 1. J., mittags 12 Uhr, beim Bürgermeisteramt
Kaaden einzubringen.
Stelle des V. Sekundararztos im allgemeinen Kaiser-Franz-
Joseph-Krankenhause zu Mährisch-Ostrau mit 1. März 1. J. pro¬
visorisch zu besetzen. Jahresgehalt K 1200, freie Wohnung, Beheizung,
Beleuchtung und Verpflegung nach der I. Gebührenklasse. Die Gesuche
sind bis 24. Februar 1. J. an den Stadtvorstand in Mährisch-Ostrau
einzusenden. Beigefügt wird, daß neben der deutschen Sprache die
Kenntnis der böhmischen oder polnischen Sprache erwünscht ist. In
dem Kompetenzgesuche ist ausdrücklich zu erklären, daß der Bewerber
für den Fall der Anstellung auf jede Privatpraxis verzichtet und sich
verpflichtet, mindestens ein Jahr im Verbände des Krankenhauses zu
verbleiben. Vor Ablauf dieses Dienstjahres steht nur der Gemeinde das
Recht der sechswöchentlichen Kündigung zu, nach Ablauf desselben
können beide Teile vierteljährig kündigen.
In der Kaiser - Franz-Joseph-Landesheil- und Pflegeanstalt zu
Mauer-Oehling und in der niederöslerreichischen Landespflege¬
anstalt für Geisteskranke zu Ybbs gelangt je eine Hilfsarztes¬
stelle zur Besetzung. Mit jeder dieser Stellen ist ein Honorar monat¬
licher K 100, das Kostrelutum von monatlich K 50 und der Genuß
einer Dienstwohnung samt Beheizung und Beleuchtung verbunden. Be¬
werber um einen dieser Posten haben die Erlangung des Grades eiues
Doktors der gesamten Heilkunde an einer inländischen Universität, die
österreichische Staatsbürgerschaft, die deutsche Stammesangehörigkeit,
ferner die bisherige Tätigkeit im ärztlichen Dienste nachzuweisen und
ihre mit einer Stempelmarke zu K 1 versehenen Gesuche unter An¬
schluß des Tauf- und Heimatscheines, sowie eines amtsärztlichen Ge¬
sundheitszeugnisses bis längstens 15. März 1907 um 2 Uhr nach¬
mittags tunlichst im Wege persönlicher Vorstellung beim Landesaus-
schusse des Erzherzogtums Oesterreich unter der Enns in Wien,
I., Herrengasse Nr. 13, einzubringen. Wien am 9. Februar 1907. Der
Landesausschuß des Erzherzogtums Oesterreich unter der Enns.
Eingesendet.
Verehrte Kollegen! Die Summe, welche von den wohl¬
habenden Vertretern unseres Standes an die minder Begüterten jährlich
ausgegeben wird, ist gewiß eine nicht zu unterschätzende. Groß sind
auch die Beträge, welche die Unterslülzungsinstitute der Aerztekammern
und verschiedene ärztliche Vereinigungen ausgeben.
Es erscheint nun wünschenswert, daß die Verteilung dieser zahl¬
reichen Beträge, die von verschiedenen Ausgabestellen erfolgt, von einer
einheitlichen Stelle verzeichnet werden, damit einerseits dort Erkundigung
über die Würdigkeit und Bedürftigkeit der Bittsteller eingeholt werden
könne und anderseits vermieden werde, daß einzelne Hilfesuchende nur
infolge ihrer genaueren Kenntnis der Hilfsstellen und weil diese letzteren
voneinander ^ unabhängig austeilen, auf Kosten ebenso Würdiger oder
noch Bedürftigerer einen zu großen Anteil der Unterstützungsgelder an
sich reißen.
Die Aerztekammer ersucht auf Grund des Vorstandsbeschlusses
vom 5. Februar 1907 alle Unterstützungsinstitute und Kollegen, welche
Unterstützungen an Aerzte oder deren Hinterbliebene austeilen, sie in
der Führung dieses Verzeichnisses zu unterstützen. Zu diesem Zwecke
regt sie an: 1. Sich bei der Aerztekammer über die Unterstützungs¬
bedürftigkeit und Würdigkeit der zu Beteilenden — insofern es dem
Geber nötig erscheint — zu erkundigen. 2. Stellt sie die Bitte, der
Aerztekammer mitzuteilen, wann und zu welcher Zeit eine Unterstützung
verliehen wurde. Wertvoll wäre es natürlich auch, die Höhe des Betrages
verzeichnen zu können, der ausgegeben wurde und werden wir für eine
diesbezügliche genauere Angabe sehr dankbar sein.
Der Präsident der Wiener Aerztekammer: Dr. Ewald m. p.
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Verhandlttiigeii ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT;
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 15. Februar 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde iii Wien.
Sitzung vom 31. Januar 1907.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
vom 23. Januar 1907.
Aerztlicher Verein in Brünn. Sitzung vom 23. Januar 1907.
Offizielles Protokoll • der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitz'ung vom 15. F(*l)ruar 1907.
Vorsitzender: Prof. Ed. Lang.
Scliriftführcr: Dr. Fritz Hitschmann.
Der Vorsitzende leill folgendes Dankschreiben der Familie
V. Härtel mit: „Sehr geehrte Gesellschaft! Für die uns in
diesen schweren Tagen erwiesene herzliche Teilnahme, sowie
für den pj'achlvollen Kranz, den die geehrte GesellschafI am
Sarge meines verslorhenen Vat(n-s niederlegen ließ, sage ich
unseren liefgefühlten, innigsten Dank. Mit dem Ausdruck vor¬
züglicher Hochachtung verbleibe i(dilhr ergebenslei' Karl Hartei.
Der Vorsitzende teilt ferner mit, daß am 9. Februar I. .1.
das ordeidliche Mitglied Herr Dr. Fdiiard Fischer im 55. Lebens¬
jahre gestorben ist.
Die Versammlung erhebt sich zum Zeiche]i der Anteilnahme.
Dr. Leischner stellt ein zweijähriges Mädchen mH Polio¬
myelitis acuta anterior vor, hei dem nebst der rechten unteren
Extremität, der rechten Hand und der Rückenmusknialiir auch
di(^ linken (jueren Bauchmuskeln partiell betroffen waren. In¬
folge des letzteren Umstandes wurde eine Hernia ventralis late-
rahs, wie sie Wyn als angeboren Ireschriehen hal, vorgetäuschl.
Die Milhcteilignng dei' Bauchmnskidatiir bei der’ spinalen Kinder -
lähmung ist liisher mir selten beohaclitel worden (Duc hennr',
(j p p ß n h e i m, I b r a h i m und B a u m a n n. St r a ß h u t g c i ).
(Eine ausfühidiche Pnlrlikation des Ealles wir'd später m'-
scheinen.)
Diskussion : Prof. Dr. .M. S t e r n h c i' g ; Umschriebene ITriich-
muskellähmungen sind nicht so selten, wie es aus der von dem
Herrn Vortragenden zitierten Literatur hervorzugehen scheint.
Redner hat erst vor kurzem einen solchen Fall bei tuberkulöser
Spondylitis beobachtet und durch die Obduktion verifizieren
können. Daß sich die benachbarte Bauchwand nicht wie bei
einer Hernie durch einen deutlichen Rand von der umschriebenen
Vorwölbung abgrenzt, beruht darauf, daß der gelähmte Teil des
Transversus oder eines schiefen Rauchmuskels nicht scharf von
dem übrigen Muskel geschieden ist, sondern trotz der segmentalen
Innervation, ganz allmählich in den gesunden Muskel übeigeht.
Das beruht wieder darauf, daß jedes Segment nicht von einer,
sondern von mehreren Nervenwurzeln versorgt wird. Am Ka¬
daver fällt der Unterschied zwischen dem im Leben kontra¬
hierten Muskelanteil und dem passiv vorgewölbten gelähmten
Teile weg, man sieht daher am frei präparierten Muskel nur
einen Unterschied in der Dicke und Farbe der gelähmten Paitie,
die ganz allmählich in den normal aussehenden benachbarten
Teil übergeht. Bei dem vom Redner lieobachteten, obduzierten
Falle, befand sich die partiale Bauchmuskellähmung in der rechten
unteren Bauchhälfte, die Muskelatrophie war am Kadaver,
insbesondere am Transversus und Obliquus internus der rechten
Seite deutlich.
Dr. Leischner: Auf den Einwand dos ' Prof. Dr. S I e ru¬
he rg, daß Sülche Bauchmuskellähmungen nicht gar so selten
sind,’ erlaube, ich mir Folgendes zu erwidern: Icli
glaube durch Aufzählung der wenigen Autoren bei der Demou-
stralioii des Falles wohl sämtliche Puhlikationen über Baiicli-
muskellähimmg hei l'ol iomyelitis acuta anterior eiwamil
zu haben. Daß derlei Lähmungen auch hei anderen Nervenkrank-
heilen (Polyneuritis, Tabes dorsalis, imiltipler Sklerose
obachtet wurden, streifte ich kurz am Schlüsse meimu .\us u i
rung und verwies diesbezüglich auf IMinkowski und Oppt'U-
heini.
Prof. Ehrmann: Aleine Herren! Vor kurzem halte ich (.ie-
tegenheil, timen einen Fall vorzustellen, der zugleich uut
F i-s ch e i u u n g e 11 von Spät syphilis auf der Haut ^
gedehnte ha u m förmig e u n d n et z f ö r m i g e, 1 1 v_i de / o i ( i-
iLungen darhot, die ich auf eine Erkrankung der Ideinsleti HaiiL
gefäße infolge von Lues bezog und zugleich führte ich noch drei
andere Fälle meiner Beobachtniigen, von dmien zwei sicher, d(*r
eine mutmaßlich Syphilis . waren.
Einen fünf len Fall dieser Art erlaube ich miT Ihmm vor¬
zustellen. Fs handelt sich um ein Mädchen von 23 .iahren,
das angihi, immer gesundAfeWusöii zu sein /.von den Geschwislorn
sind einige an nnbekannteii Krankheiten gestorben. Die .Mn i lei'
verlor Pal., als sie zwei .lahre all war, der Vater iehl.
Die livideu, haumförmigen Zeichnungen findet man hei (1er
Palienlin auf den Armen, in der Hecken- und Schiiltergegend,
ähnlich, wie hei dem zuletzt vorgestelllen Palienlen, nur daß
sie hier ülier den ganzen Körper ausgedehnl waren.
Ich vermeide es deshalb, auf Delails einzugehen.
Diese Haiitveränderimg soll schon seit ihrer Kindheit he-
slehen uml sie war es auch nicht, welche Bat. bewog, unseri'
Abteilung aufznsuchen. Sie kam wegen akul aufgetrelener Haril-
häinorrhagieii nnler Fiebererscheinungen und wegen einer Ulze¬
ralion iiu Bachenraum. Bei der Inspektion des Isthmus fand pch
am rechten Bande der Uvula ein etwa linsengroßes, rnndhehes,
specki*’' heleales Geschwürchen auf infiltrierter Basis, dem mau
es solMrt an^sehen konnte, daß es eine Fortsetzung eines Pro¬
zesses an der Hiiiterfläche der Uvula sein müsse. Die auf meine
Bitte vorgenommeiie Untersuchung des Nasenrachenraumes, durch
Kollegen Stabsarzl Fein ergab . gummöses Infiltrat des \ehims,
teilweise zerfallen, die hintere Pharynxwand bis an das Imc.ien-
dach infiltriert und ulzeriert. Ulzeriertes Infiltrat an der rechten
Seite des Septums im Uehergang in Perforation. Larynx iioimal.
Die Perforation war am folgenden Tage noch deutlicher.
Ol) diese unzweifelhafte Lues, welche Pat. zeigt, eine in
frühester Kindheit akquirierte oder eine hereciitäre ist, kann mit
Sicherheit nicht entschieden werden, da keine manifesten Fr-
scheinnngen liereditärer Lues vorliegeii. .ledenfalls handelt es
sich um eine späte Form. Von Interesse ist es, die Beziehungen
der jetzt aufgelrelenen febrilen Purpura zu. dem syphililisclmii
Prozeß zu untersuchen. In, den Gefäßzeiclmungen konnte icii
keine nähere topographische Beziehung eiiideckeii. Auffällig war
es, daßi nach Avisspülinig <les Nasenracheiiraiinies das Tieher
sistierte und nein' Hämorrhagien nicht niehi auf Halt n.
Ich möchte dieshezüglich auf die Erfahrung hinweisen, daß
toxische und namenilich hämorrhagische Erytheme hei Fiteiuii-
geii^und Sekretionen iin Nasenrachenraum auffällig hantig anl-
H-eten und mit ihnen sistieren, was wohl auf Resorption toxischer
Körper oder vielleicht auf die Aufnahme von Mikroben zu beziehen
ist. Namenilich scheinl mir die Aufnahme der Matena peccans
aus den verschluckten Sekreten durch den Darmkaiial zu ge¬
schehen. ; 11. 11- 1’..
Der Zusammenhang zwischen Lues und den akuten Li-
scheinungen ist hier nur eiii indirekter.
Dr. 0. V. Frisch stellt einen Fall von i s o li e r t e r k r a k I ii i
eines Processus s p i u o s u s
V e r I e b r a 1 i s vor. ( F rsc hei 1 1 1
ausführlich.,) ....
Prim Dr Latzko: .Meine Herren! Diese Patientin, eiim
ißjährige Virgo, trat am 28. November 1906 an meiner Ah-
ieilung ein. Auf den ersten Blick war an dem charakteristisdien
Fntengaiig eine Osteomalazie zu erkennen. Die Symptomentnas
— Knocheiidnickempfindlichkeil, lleopsoasparese und Addnktoieu-
konfraktur — stellten die Diagnose sicher, trotzdem typische Ske-
lettdeformitälen fehlen. Die Kranke datieil den eginu *
Leidens drei .lahre zurück; seit drei Monaten konnte sie nicht
mehr Tvejipen steigen. Unter Phosphortherapie Irat rasche Besse¬
rung ein, so daß das Mädchen heute fast als gesund hetrachh'l
werden kann. Lin derartiger Erfolg bietet an sich men ts anßei-
gewöhnliches und hätte mich ebensowenig wie der Uinstaml,
(laß es sich hier urn einen der nicht allziihäufigen Migmellen
Osteomalaziefälle handelt, veranlalM, Ihre kostbare Zeit in -Oi-
spruch zu nehmen, wenn nicht Prof. Rossi ' 7..
Universilätsfranenklinik in Gemia, im Zeniralhlalt tui Gynak(^lo„u
unter dem Titel: Neliennieren und Osteomalazie, uhcT neue th.u-a-
pevitische und wissenschaftliche Versuche hm'Tchfet halle, atil die
zurückzukommeii mir erlaiiht sein möge.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
JJie Üierai)t‘ii[isclieii \'c*r«uclie in der lägiielicJi
subkutanen Injekliun von bis 1 cg der l%o AdrenaUnlösung.
Das Ergebnis seines ersten Versuches an einer iin achten iMonate
graviden üsteoinalazischen, bewog Hossi in seiner ersten \'er-
öi'tentlichung vom 19. Jänner zu dem Ausrufe: „Stehen wir
vor der Entdeckung des Mittels gegen die Knochenerweiclumg
und somit auf dem logischen Wege zur Erforschung der Fatho-
g(Miese der Usteonialazie ?“ Er spricht weiter, wenn auch mit
\ orbehalt von „dem Mittel, welches seit langem von der \\ issen-
s(diaft, wie auch von den Kranken ersehnt wird“.
Heim Niederschreiben dieser Sätze vergaßi Hossi offen¬
bar die ausgezeichneten Heilerfolge, die bei Osteomalazie seit
Jahrzehnten mit Kastration, ebenso aber mit konsequenter Phos-
phorbehandlung erzielt wurden. Ich kann auf weit mehr als
‘dUÜ Fälle von Osteomalazie zurückblicken, von denen der größere
Teil nur mit Hilfe des Phosphors von seinen Heschwerden befreit
und dauernd geheilt wurde; darunter hefinden sich Heobachtungen
von lojähriger Dauer und mehrere Sicherstellungen des Heil¬
erfolges durch Sektionsbefunde nach Tod an interkurrenteti Er-
krankungen.
Demgegenüber beruhen die Mitteilungen Hossis in seiner
ersten Veröffentlichung auf nur sechstägiger, in seiner zweiten
auf nur zwölftägiger, resp. dreiwöchentlicher Heohachtung. Wenn
man aber in der Heurteilung therapeutischer Erfolge nicht vor-
sichlig genug sein kann, so gilt dies in erhöhtem Maße für die
Osteomalazie. Ich erinnere an die Versuche Petr ones, die
Osteomalazie mit Chloralhydrat zu heilen, deren vorübergehender
Erfolg ihn zu dem Schlüsse führte, der Heilfaktor der Kastration
sei nicht in der Entfernung der Eierstöcke, sondern in der gleich¬
zeitigen Chloroformnarkose zu suchen. Eine Nachprüfung der
Hehauptungen Petr on es ließ dieselben als falsch erkennen. Es
war allerdings des öfteren ein überraschend günstiger Einfluß
der Chloroforninarkose auf die subjektiven Heschwerden der Osteo¬
malazischen zu konstatieren; doch trat fast stets nach längerer
oder kürzerer Zeit ein Rückfall ein. Nur zwei Fälle sind mir
ei'innerlich, in welchen sich an Chlorofornmarkose dauernde
Heilung anschloß', oh post hoc — denn es kommen auch Spontan¬
heilungen im Verlaufe der Osteomalazie vor — oder propter hoc,
muß dahingestellt bleiben. Wie schwierig die Heurteilung des
kausalen Zusammenhanges in diesen Fällen ist, geht übrigens
daraus bervor, daß ich in einem Falle auch nach Aethernarkose
Verschwinden der Schmerzen und Dauerheilung sah.
Auf Grund dieser Erfahrungen würde ich mit Rücksicht
auf die kurze Heobachtungszeit Hossis nicht wagen, nur nach
dem Inhalte seiner Mitteilungen mir eine positive Ansicht über
die Wirkung von Adrenalin bei Osteomalazie zu bilden, trotz¬
dem, oder vielleicht gerade, weil diese Mitteilungen dem Adrenalin
eitlen zauberhaften, jeder medizinischen Erfahrung widersprechen¬
den Einfluß auf das osteomalazische Skelett zuschreiben.
Hossi beschreibt das Becken seines ersten Falles als hoch¬
gradig osteomalazisch verengt, mit schnabelförmiger Symphyse,
so daß er mit Rücksicht auf die intra partum zu befürchtende
Uterusruptur die prophylaktische Sectio caesarea ins Auge faßte.
Vom 27. Novemher bis zum 16. Dezember beobachtete er „eine
allmähliche tägliche Zusammenziehung des Beckens“. An diesem
'Page begann dit' Behandlung und schon am ,21. Dezember sind
die Knochen des Beckens ,, offenbar im Begriffe, in ihren nor¬
malen Zustand überzugehen“. Am 7. Januar wird die Patientin
spontan von Zwillingen entbunden, deren schwererer 3250 g wog.
Hossi glauht, er verdanke diesen Erfolg einzig dem Extrakt
der Nehennieren.
Meine Herren 1 So etwas gibt es nicht. Das ist nach meiner
Y\nsicht, speziell in geburtshilflicher Beziehung, nicht vorurteils¬
lose Naturheohachtung, sondern freie Phantasie.
Allerdings kann es auch hei absolut verengten osteomala¬
zischen Hecken unter Umstämlen zur Geburt eines reifen, unver-
kleinerten Kindes aid' natürlichem M"ege kommen, nämlich (hum,
wenn die Knochen weich, kautschukartig dehnhar sind. Ich habe
selbst einen derartigen Fall beobachtet. Ein derartiges Hecken
nimnd aber nach dem ’ Passieren des kindlichen Schädels seine
frühere Form wieder an. Nie kann man eine Veränderung eines
osteomalazischen Reckens zum Besseren während der Heilung
l)eohachlen. Im Gegeideil 1 Trotzdem gelegentlich nach Kastration,
aber auch ohne jede Intervention nach einer Geburt Schmerzen
und Bewegungsstörungen gewissermaßen unter unseren Augen
in wenigen Stunden mehr weniger verschwinden, sehen wir auch
in solchen Fällen bis zur vollständigen Konsolidierung des Skeletts
(dne Zunahme der Knochenverbiegungen, si)ezie]l der Hecken¬
verengerung.
Das ist auch gaiiz natürlich. Die Osteomalazie an sich
macht den Knochen nicht krumm, sondern weich und di(* Heilung
macht ihn nicht gerade sondern fest. Bis dahin braucht es aber
geraume Zeit und während dieser können Körperlasl und Älusktd-
ZLig ihre ’Wirkung auf das Skelett geltend machen wie vorhej'.
Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, daß wir auch im Adrenalin
ein Heilmittel gegen Osteomalazie zu begrüßen haben, obwohl
dem länger fortgesetzten Gebrauch von Adrenalin nach dem Er¬
gebnis der Tierversuche gewisse Bedenken anhaften. Infolge¬
dessen habe ich mich veri)flichtet gefühlt, einen vorsichtigen
\'ersuch mit der Adrenalintherapie zu machen. An meiner Ab¬
teilung liegt ein schwerer Fall von Osteomalazie, mit absolut ver¬
engtem Hecken, hochgradigen Thoraxverbildungen, der seit lange
gehunfäbig ist. Derselbe erhält seit 14 Tagen Adrenalininjektionen.
Feber den Erfolg werde ich nach Ablauf einer entsprechenden
Heoliachtungszeit mir zu berichten erlauben.
Diskussion: Hofr. Dr. Esch er ich: Die Vorstellung, daß
die Funktion der Nebenniereii zu dem KnochenwachisLum Be¬
ziehung hat, ist auch in pädiatrischen Kreisen erörtert wordeji.
Slöltzner stellte vor mehreren Jahren die Theorie auf, daß
die Rachitis durch eine Funktionsstörung der Nebennieren v('r-
ursacht sei. Er hat damals auch Versuche angestellt, den rachiti¬
schen Prozeß durch Verabreichung von Nehennierenpräparaten
zu beeinflussen. Trofz der günstigen Resultate, von denen er
berichtet, ist schon seit mehreren Jahren von dieser Behandlung
nicht mehr die Rede gewesen, so daß man aiinehmen muß,
daß der Autor selbst dieselbe aufgegeben hat.
Prof. Riedl: Ich möchte bei dieser Gelegenheit nicht ver¬
säumen, darauf hinzu weisen, daß bei therapeutischen Versuchen
mit Adrenalin — vor allem bei der subkutanen Applikation
der Substanz — mit Rücksicht auf die vorliegenden Erfahrungen
im Tierversuche, eine gewisse Vorsicht geboten ist. Von der
Gefahr einer gelegentlichen unbeabsichtigten intravenösen In¬
jektion abgesehen, ist schon die einmalige Anwendung des
Adrenalins wegen der danach konstant eintretenden Glykosurie —
dem von Blum entdeckten sogenannten Nebennierendiabetes —
nicht ganz belanglos. Bei fortgesetzter Einverleibung der wirk¬
samen Substanz der Nebennieren in geringen Dosen ist eine zu¬
nehmende Abmagerung und der Tod der Versuchstiere zu be¬
obachten. Neben der vasokonstriktorischen Wirkung ist nämlich
auch eine in erster Reihe das Herz schädigende giftige Kom¬
ponente des Extrakts der Nebennieren oder allgemeiner des
chromaffinen Gewebes zu berücksichtigen, was ich in einer
gemeinschaftlich mit Dr. Wiesel ausgeführten Arbeit schon vor
einigen Jahren hervorgehoben habe. Zum Schlüsse möchte ich
noch bemerken, daß meine eigenen Erfahrungen über die Folgen
der Nebennierenexstirpation, sowie über die Wirkung des Adre¬
nalins die von Primarius Dr. Lätzko vorgebrachte Kritik voll¬
kommen berechtigt erscheinen lassen.
Stabsarzt Dr. Karl Franz demonstriert zwei große Nieren¬
steine, die von einem vor zwei Jahren verstorbenen General
herrühren. Derselbe stammte aus einer tuberkulösen Familie.
Im 28. Lebensjahre erlitt er eine Verletzung am rechten Vorder¬
arm mit Durchtrennung der Radialis; wegen hochgradigen Blut¬
verlustes erholte sich der Genannte sehr langsam und war ge¬
zwungen, mehrere Monate am Rücken zu liegen. Bald darauf
stellten sich Schmerzen in den Nierengegenden ein, die anfangs
unbestimmten Charakter hatten und erst später in ausgesprochene
oft wiederkehrende Nierenkoliken ausarteten. Seit dem Jahre 1896
traten die Kolikanfälle nicht mehr auf, der Harn blieb jedoch
während der ganzen Zeit mehr oder weniger trüb, war zeitweilig
mit Blut vermischt, reagierte alkalisch und enthielt reichliches
Sediment, manchmal auch kleine bis erbsengroße Steinchen,
welche wiederholt die Harnröhre verlegten und künstlich extra¬
hiert wurden. Die chemische Untersuchung des Niederschlages
ergab vorwiegend kohlensauren und phosphorsauren Kalk. Sonst
fühlte sich Pat. bis auf zeitweilige dyspeptische Störungen recht
wohl und konnte seinem Berufe vollkommen nachkommen. Die
Behandlung bestand in Verabreichung von Milchsäure und Salz¬
säure, die jahrelang verhältnismäßig in großen Mengen genommen
und gut vertragen wurden. Im Jahre 1904 stellten sich auf der
Heimfahrt von Amerika bei unruhiger See wieder Nierenschmerzen
ein, welchen urämische Anfälle folgten und den Tod herbei¬
führten. Bei der unterwegs am Schiffe vorgenommenen Obduktion
wurde in der rechten Niere ein Konkrement vorgefunden, welches
den reinen Abguß des erweiterten Nierenbeckens und der Kelche
darstellt und in dieser Art zu den schönsten und größten gehört,
die überhaupt in der Literatur verzeichnet sind. Das Gewicht
beträgt 92g, die Länge dein, größte Breite 6cm. Im linken
Nierenbecken befand sich ein zweiter Stein von der Form und
Größe eines Daumens mit etwas zugespitzten Enden, 22 g schwer,
6 cm lang. Beide Steine sind mäßig harter Konsistenz, an der
Oberfläche etwas rauh, brämdich, vom veränderten Blutfarbstoff
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
2il
Nr. 8
verfärbt; sie bestehen aus kohlensaureni Kalk, phorphorsaurej'
Magnesia und phosphorsau rein Kalk. Der kleinere der beiden
Steine wurde durchgesägt und es zeigte sich, daß auch die
zentralen Schichten dieselbe chemische Beschaffenheit haben.
Auffallend war, daß die Steine in den Nieren während der
letzten acht Jahre keine wesentlicheren Schmerzen verursachten,
um so mehr als Pat. fast täglich geritten ist und auch durch
Ausübung anderen Sportes den Körper heftigeren Erschütterungen
aussetzte.
Diskussion: Priv.-Uoz. Dr. Stoerk weist im Anschluß
an die Uemonslration des Stabsarztes Dr. Franz darauf hin,
daß das eine Konkrement einem Nierenbeckenausguß von tadel¬
loser Vollkommenheit entspricht und zeigt zum Vergleiche Wachs¬
paraffinausgüsse verschiedener Nierenbecken vor. An diesem Kon¬
krement lassen sich eine Reihe von charakteristischen Einzelheiten
erkennen, insbesondere auch der Umstand, daß es sich im be¬
treffenden Falle um eine ,, Doppelniere“, resp. um eine Niere
mit geteiltem Becken gehandelt haben müsse. Der Befund des
geteilten Beckens sei nach seinen an Ausgußpräparaten gewon¬
nenen Erfahrungen im allgemeinen ein so häufiger, daß er —
wenigstens andeutungsweise — fast an .jeder Niere nachzuvveisen
sei. Der Befund des geteilten Nierenbeckens sei nicht nur vom
entwicklungsgeschichtlich- und deskriptiv-anatomischen, sondern
auch vom klinischen und pathologisch-anatomischen Standpunkt
aus von Interesse; es erscheine nicht unwichtig, zu konstatieren,
daß im Falle des Geteiltseins eine Reihe von Erkrankungsformen
der Niere, insbesondere iles Nierenbeckens, auf den einen Ab¬
schnitt der Niere, resp. des Nierenbeckens beschränkt bleiben
könne.
Dr. Kap’sammer: Im allgemeinen besteht kein direkter Zu¬
sammenhang zwisclien der Größe von Nierensteinen und den
durch dieselben verursachten Schmerzen. Es kommt im Gegen¬
teil eher das Verhältnis einer umgekehrten Proportion zum Aus¬
druck : große Steine, welche, einen vollkommenen Ausguß des
Nierenbeckens darstellend, fest eingekeilt sind, bestehen oft lange
Zeit ohne Beschwerden, während ganz kleine Konkremente wegen
ihrer freien Beweglichkeit häufig zum Ureterverschluß führen
und auf diese W^eise die unerträglichsten Schinerzanfälle verur¬
sachen.
Die von Kollegen Stoerk erwähnte Zweiteilung des Nieren-
heckens ist klinisch von großer Bedeutung. Wir waren wieder¬
holt in der Lage, dieselbe mittels des Uretereukathelerismus
klinisch zu diagnostizieren. Es ist bemerkenswert, daß die beiden
Abschnitte derselhen Niere 'manchmal verschiedene Krankheits¬
prozesse zeigen oder daß bei gleichartiger Erkrankung auf dem
Wege des Ureterenkatheterismus verschiedene Grade der anato¬
mischen wie der funktionellen Läsion in den beiden Nierenab¬
schnitten festgestellt werden konnten. Ich erinnere auch noch
an eine Beobachtung, welche ich vor längerer Zeit an flieser Stelle
zu erwähnen Gelegenheit hatte : doppeltes Nierenbecken mit
Y-förmigem Ureter; Tuberkulose des unteren Nierenabschnitles
und des unteren Ureters; an der Gabelung infolge der spezifi-
seben Infillration Stenose des oberen Ureters und dadurch hydro-
nephrolische Ei’weiterung des oberen Nierenbeckens.
Dr. L. Hofbauer: Vortrag über Herzmuskelkraft und
Kreislauf. (Erscheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Diskussion: Prof. Biedl: Die vorgerückte Zeit erlaubt es
mir nicht, die im Vortrage Dr. Hofbauers enthaltenen Behauptungen
einzeln zu besprechen und widerlegen, ich halte es aber doch für
notwendig eine wenn auch etwas summarische Kritik vorzubringen,
in erster Reihe um der Meinung entgegenzutreten, daß uns hier
viele neue Tatsachen und aus den bekannten Erfahrungen bisher
nicht abgeleitete neue Schlußfolgerungen mitgeteilt worden sind.
Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Den Grundgedanken des
Vortrages, soweit ich ihn verstehen konnte, bildet der Zusammen¬
hang zwischen Zirkulation und Respiration. Ueber diese Frage
liegt eine sehr ausgedehnte Literatur vor, sie ist aber auch in
den gangbaren Lehrbüchern der Physiologie zur Genüge, im Lehr¬
huch der Physiologie des Kreislaufes von Ti g erste dt (1893)
ganz ausführlich behandelt. Wir wissen schon lange, daß die
eigentümliche Art und Weise, wie die Lungen in dem Brustkasten
eingesetzt sind, ein günstiges Moment für die Rückströmung des
Blutes in das Herz darstellt, daß ein weiteres, noch wichtigeres
in der direkten Ansaugung bei der Inspiration hinzukommt.
C. Ludwig hat schon 1847 gezeigt, daß der Blutdruck bei den
Atembewegungen wesentliche Veränderungen erleidet und man
bezeichnet diese großen Schwankungen, welchen die Herzpulse
als kleine Zacken aufgesetzt sind, als respiratorische
Schwankungen des Blutdruckes. Wir wissen aber auch, daß
bei dem Zustandekommen dieser Atemwellen einerseits die
mechanischen Verhältnisse der ln- und Exspiration in der mannig¬
fachsten Weise mitwirken, andererseits auch die zwischen Atem-
und Gefäßnervenzentren bestehenden Korrelationen modifizierend
eingreifen. Es ist uns nicht neu, daß das Herz in gewissen
Phasen der Respiration sein Volumen verändert, wir kennen dies
aus der direkten Inspektion, neu ist höchstens die radiologische
Feststellung dieser bekannten Tatsache. Es ist keine neue Schlu߬
folgerung, wenn Dr. Ho fb au er behauptet, daß bei der kardialen
Dyspnoe die Vertiefung der Respiration zur Besserung der Zirku¬
lation verhilft. Die Frage ist nur, auf welchem Wege kommt die
Veränderung der Atmung zustande. Diesbezüglich wird nun mit
Recht gelehrt, daß das dipnoische Blut als Reiz für das Zentral¬
nervensystem wirkt und daß somit die veränderte Respiration auf
nervösem Wege ausgelöst wird. Die herangezogenen Untersuchungen
von Kraus haben auf die stärkere Desoxydation des venösen
Blutes bei der Dyspnoe direkt hingewiesen, die tiefdunkle
Färbung des Venenblutes hei der Dyspnoe ist ja auch allgemein
bekannt.
Ich muß mich mit den wenigen Bemerkungen leider be¬
gnügen, denn eine ausführliche Besprechung des Vortrages würde
zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Nur das eine möchte ich noch
hinzufügen, daß der von Dr. Hofbauer benützte Ausdruck:
„vitale Retraktionskraft der Lungen“ mir nicht genügend klar
erscheint und ich nicht einsehe, warum er nichl einfach die
Lungenelastizität, den physikalischen klaren Begriff benützt.
Dr. Hofbauer: Herrn Prof. Biedl s Vorwurf gegen¬
über, das von mir Vorgebrachte sei nicht neu, muß ich betonen,
daß sowohl die von mir mitgeteilten Versuchsresultate als auch
die daraus gezogenen Schlüsse vollkommen neu sind.
Neu ist und bislang nirgends beschrieben die radiologisch
nachweisbare Verbreiterung des Herzschattens bei der Inspiration,
Verkleinerung bei der Exspiration.
Neu ist die Feststellung, daß das Zwerchfell bei Lage¬
änderung des Patienten so wesentliche Aenderungen seines
Standes aufweist.
Neu ist, daß eben dadurch seine Exkursionsbreite so
wesentlich verändert wird.
Neu ist ferner die von mir gegebene Erklärung für die
Pathogenese der kardialen Orthopnoe.
Daß es nicht berechtigt ist, wenn man behaupten will, der
von mir betonte Einfluß der Respirationsorgane auf die Zirkulation
sei jedem aus der Physiologie bekannt, beweist der Umstand,
daß selbst hervorragende Physiologen, wie M a r e und Moss o,
angeben, der Einfluß der Atmung auf die Bewegung des venösen
Blutes mache sich in entgegengesetzter Weise für das Strom¬
gebiet der oberen und der unteren Hohlader geltend, ,,es heben
sich daher die Wirkungen gegenseitig auf“.
Als Beweis dafür, daß man in der Klinik den Einfluß der
Atmung auf die Blutbewegung ganz wesentlich unterschätzt hat,
will ich eine von den vielen bislang offenen Fragen anschneiden,
welche bei Würdigung des Einflusses der Respiration auf die
Zirkulation sich leicht beantworten, ich meine die Erklärung der
lebensrettenden Wirkung der Digitalis bei der Pneumonie. Daß
dieselbe bislange nicht genügend erklärt wurde, dafür gibt den
schlagendsten Beweis eine im 53. Band des Archivs für experi¬
mentelle Pathologie und Pharmakologie, also vor ganz kurzer Zeit
erschienene Arbeit von Herzig, welche sich mit der Lösung
dieser „Frage“ beschäftigt. Er kommt auf Grund einer langen
Versuchsreihe zu dem Resultat, daß die Digitalis bei der Pneu¬
monie deshalb so günstig wirke, weil die Digitalis eine Leuko¬
zytose hervorrufe.
Wenn Herr Prof. Biedl damit, daß die Blutversorgung des
Gehirns beim Liegen schlechter sei als beim Sitzen, die kardiale
Orthopnoe erklären zu können glaubt, so ist erstlich diese seine
Annahme von der schlechteren Blutversorgung nicht erwiesen
und ferner würde, selbst wenn dies richtig ist, damit nicht zu
erklären sein, warum die Patienten, wie allgemein bekannt, ain
Tage, trotzdem sie im Bette liegen, genug Luft haben, bei
Nacht aber nur im Sitzen Luft genug haben. Wenn Herr
Prof. Biedl die vitale Retraktionskraft nicht anerkennen will,
so kann ich ihn lediglich auf die darüber bestehende, ziemlich
umfangreiche liiteratur aufmerksam machen.
Prof. Dr. M. Groß mann: Der Herr Vortragende hat
darauf hingewiesen, daß vor ihm noch kein Forscher die Ver¬
größerung des Herzens im Momente der Inspiration gesehen hat.
Für das Röntgenbild mag diese Behauptung zutreffen. Es sind
aber mindestens 50 Jahre, daß Bonders den Nachweis erbracht
hat, daß mit jeder Einatmung ein diastolischer Stillstand
des Herzenz erfolgt. Und wenn ich nicht irre, war es C z e r m a k,
der hei seinen Vorlesungen dieses Phänomen seinen Schülern an
sich selbst demonstrieren konnte. Die inspiratorische \ er-
größerung des Herzens ist somit eine längst bekannte und
WIKNKU KLINISCIIK WOCHKXSCIlllIFT. 1907.
Nr. 8
zweifellos fesIgeslellLe 'I'afsaelie. Das Höafgenhild hat die lli(ddig-
keit derselben — wie dies von vornherein zu erwarten war
bestätigt, aber nichts Neues gelehrt.
Die Arbeit der beiden in ihrem muskulären Dau so diffe¬
renten Herzventrikel habe ich mir seit je folgendermaßen zurecht¬
gelegt : Im rechten Ventrikel verhält sich der Druck zu jenem
im linken Vorhofe beiläufig wie 30 bis 35 zu 1. Es besteht
somit ein Stromgefälle, welches — wenn wir die kurze Strecke
in Erwägung ziehen, innerhalb der es sich entwickelt - weit
günstiger ist als jenes im großen Kreislauf. Der rechte V^entrikel
wird also mit seiner geringeren Muskelkraft die ihm zufließende
Hlutmenge mit Leichtigkeit in jener Zeit dem linken Vorhof zu¬
führen, innerhalb welcher Zeit der linke Ventrikel die ihm zu¬
fallende, weit größere Arbeit zu besorgen hat. Die Erhaltung eines
funktionellen Gleichgewichtes ist bei diesem Arbeitsverhältnis der
lieiden Ventrikel, trotz der eklatanten Differenz ihrer muskulären
Kräfte durchaus nicht auffallend und bedarf, wie ich glaube,
keiner weiteren Aufklärung.
Herr Dr. Hof bau er sprach von Dyspnoe, Orthopnoe,
kardialer Dyspnoe usw. und war bemüht, die verschiedenen
Formen der Atmungsstörung auf die Behinderung der elastischen
Kräfte der Lungen, Thoraxwandungen etc. zurückzuführen. Die
Beziehungen der Blutzirkulation zur Atmung wurden von ihm
überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Und doch haben die Er¬
gebnisse einer 20- bis 25jährigen experimentellen Untersuchung im
Laboratorium von v. Basch gezeigt, daß die Blutstauung in
den Lungen, gleichwie in jedem anderen Corpus cavernosum,
nicht allein eine Vergrößerung, sondern auch eine Bigidität des
Organes zur Folge hat, welche dem Ein- und Ausströmen der
Luft ein Hindernis entgegensetzt, welches in gleichem Grade
durch andere Momente kaum hervorgerufen werden kann.
Davon kann sich ein jeder leicht überzeugen, der das Verhalten
der bloßgelegten Tmnge bei der künstlichen Atmung beobachtet.
Unter normalen Zirkulationsverhältnissen wird die Lunge bei
jeder Einblasung der Luft bis zu einer gewissen Grenze aus¬
gedehnt, um im Stadium der Exspiration wieder zusammenzu¬
fallen. In dem Moment, als durch irgendeinen Eingriff eine Stauung
des Blutes im kleinen Kreislauf hervorgerufen wird, werden dieselben
respiratorischen Kräfte die Lunge während der Inspiration kaum mehr
ausdehnen und sie wird während der Exspiration nicht zusammen¬
fallen. — Dieselbe Erfahrung machen wir auch bei dem spontan
atmenden Tier. Trotz der Dyspnoe, welche die Blutstauung in
den Lungen zur Folge hat und trotz der größten Atmungs¬
anstrengung, welche dieselbe auslöst, bleibt der Nutzeffekt der
Bespiration ein ungenügender.
Herr Dr. Hof bauer hat in Uebereinstimmung mit seinem
Gedankengange, daß die Atmungsstörung durch die Beeinträch¬
tigung der von ihm zweifellos weit überschätzten elastischen
Kräfte bedingt sei, auf die Form der e x s p i r a t o r i s c h e n
D i s p 11 o e hingewiesen und betont, daß hier die Exspirations¬
störung durch die Herabsetzung der elastischen Kräfte hervor¬
gerufen werde. Diese Distinktion — inspiratorische und exspira-
torische Dyspnoe — erscheint mir in vielen Fällen durchaus
unberechtigt. Bei einem bestehenden Atmungshindernis werden
wir die bedeutenden inspiratorischen Kräfte in ihrer Aktion ver¬
folgen können, nicht aber die Aktion der minimalen exspiratori-
schen Hilfskräfte. Dadurch wird der täuschende Eindruck hervor¬
gerufen, daß bloß die Ausatmung behindert sei, während in
Wirklichkeit ein insuffizientes In- und Exspirium besteht.
Ich kann auch die Aufklärung des Herrn Vortragenden,
daß einzelne Kranke im Schlaf oder in liegender Stellung des¬
halb schlechter atmen, weil die von ihm angenommenen elasti¬
schen Kräfte in diesem Zustand sich weniger gut geltend machen
können, nicht als richtig anerkennen. Abgesehen davon, daß
in wachem Zustand der Kranke gleich bei beginnender Ver¬
schlechterung der Atmung in der Lage ist, die ihm zur Verfügung
stehenden Hilfskräfte — energischere Inspiration, forcierte Ex¬
pektoration etc. — in Anwendung zu bringen und dadurch einer
Steigerung der Dyspnoe bis zu einer gewissen Grenze vorzu¬
beugen sucht, wird es sich auch unter den in Rede stehenden
Umständen kaum um etwas anderes handeln als um eine
Aenderung der funktionellen Herzaktion.
Dr. H o f b a u e r ; Auf die Einwürfe der beiden Redner kann
ich ganz kurz antworten, indem ich auf seit langem bereits in
der Literatur niedergelegte Aussprüche anerkannter Kliniker
hinweise. Riegel hat bereits vor mehreren Dezennien in
Volk m a n n s Vorträgen ausdrücklich darauf hingewiesen, daß
es nicht angeht, einfach von Dyspnoe zu sprechen. Man muß
die inspiratorische Dyspnoe und die exspiratorische Dyspnoe von
der gemischten Dyspnoe scharf trennen. Diese Aeußerung
Riegels dürfte wohl genügen.
Auf ilie V. Basch sehe Lehre in der von Frof. Gi'oß-
mann vorgetragenen Form nochmals einzugehen, halte ich mit
Rücksicht darauf, daß ich schon vor mehreren Jahren an dieser
Stelle mich darüber geäußert habe, für unnötig. Ich brauche nur
kurz darauf hinzuweisen, daß selbst bei Annahme der Groß-
m a n n sehen Hypothesen sich absolut nicht erklären läßt, warum
die von ihm postulierte, beim Liegen auftretende stärkere Blut¬
stauung in den Lungen am Tage anstandslos vertragen wird,
während sie bei Nacht die Erscheinungen schwerster Atemnot
auslöst.
Im Rahmen der von mir gegebenen Erklärung läßt sich
diese Erscheinung überaus leiebt verstehen. Am Tage hilft der
Patient durch die Aktion der auxiliären Exspiralionsmuskeln den
insuffizienten elastischen Exspirationskräften nach. Es kommt
daher zu genügenden respiratorischen Leistungen. Bei Nacht
hingegen muß der Einfluß der Hirnrinde und mithin auch die
Aktion der unter der Herrschaft der Hirnrinde stehenden Hilfs¬
muskel wegfallen. Der Patient muß seine exspiratorischen
Kräfte steigern, durch eine Steigerung von seiten automatisch
wirkender Kräfte nachhelfen. Er tut dies dadurch, daß er sich
aufsetzt und dadurch eine Steigerung der elastischen, also auto¬
matisch wirkenden Kräfte hervorruft.
Und nun zum Schluß noch ein letzter Beweis dafür, daß
man den Einfluß der Respiration auf die Zirkulation nicht ge¬
nügend hoch eingeschätzt hat. Man erklärt die kardiale Dyspnoe
als eine Folge der Kohlensäureüberladung des Blute.s, resp. als
Folge der dadurch ausgelösten Reizung des Atemzentrums. Nun
haben aber die früher erwähnten chemisch-analytischen Unter¬
suchungen ergeben, daß diese supponierte Aenderung im Gas¬
gehalte des Blutes der Herzkranken in Wirklichkeit gar nicht
konstant vorhanden ist. Es läßt sich durch Kohlensäureüber¬
ladung des Blutes die Vertiefung der Atmung beim Herzkranken
nicht erklären. Sie wird aber leicht verständlich auf Grund der
Auffassung, daß der Patient durch Vertiefung der Atmung die
Auxiliärkräfte seines Herzens anspannt, weil der Herzmuskel
den ihm gestellten Anforderungen nicht genügen kann. Diese
Erkenntnis, daß die Respiration eine wesentliche Auxiliärkraft
für die Zirkulation darstellt, hat einen bedeutenden patho-
genetiseben und therapeutischen Wert.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung der p ä d i a t r i s c h e n Sektion v o m
31. Januar 1907.
0. Grüner demonstriert die Präparate eines Falles von
hochgradiger granulierter, atrophischer Leberzirrhose mit chro-
uischem Milztumor und Verblutung aus einem geplatz¬
ten Varix im unteren 0 e s o p h a g u s a b s c h ni 1 1 bei einem
13jährigen Alädchen. Das Kind war, scheinbar aus voller Ge¬
sundbeit heiaus — nur bäufiges Nasenbluten war vorausge-
gangen ■ — , plötzlich an unstillbarer Hämaternesis erkrankt und
nach 30 Stunden gestorben. Die Autopsie ergab den oben er-
Avähnten Befund, auße]' minimalem Aszites keine Pfortader¬
stauung, dafür als Ausdruck eines gut ausgebildeten Kollateral-
kreislaufes zahlreicbe Veuenektasien im Oesophagus. Aetiologisch
kommt bei diesem Falle ein allerdings sehr mäßiger Alkoholismus
(ca. Vt 1 Bier täglich durch mehrere Jahre) in Betracht. Ein
ähnlicher Fall Avurde im Dezember 1906 von Bl eich r öder
in Berlin demonstriert (14jähriges Mädchen mit luetischer Leber-
zij'rhose und Verblutung aus einem Oesophagusvarix).
Preleitner stellt ein 12jähriges Mädchen mit 'isolierter
Lähmung des Serratus antic us vor. Bei tier Patientin
soll früher eine beiderseitige Lungensi)itzenaffektion konstatiert
Avorden sein ; die Lähmung soll vor zwei Monaten aufgetreten
sein. Die linke Schulter ei'scheint länger und absch’issiger als
die rechte, das linke Schulteiblatt steht höher, ist nach außtm
gedreht und vom Thorax abgehoben; die Asymmetrie verschwin¬
det, Avenn der Arm nach rückwärts gelialten wird. Wird di('
Skapula fixiert, sind die ArmbeAvegungen im vollen Umfange
möglich, Avährend sonst die Aiinhebung nicht voll ausführbar
ist. Die Therapie Avird in der Ainvendung eines Stützapparates
bestehen, Avelcher die Skapula gegen den Thorax andrückl, even¬
tuell käme (une Fixation derselheu durch Silberdralilnalil an die
Rippen in Betracht.
W . K n ö 1) f e 1 m a c h e r : Die Entstehung des I c t j’ u s
neonatorum. Vortr. bekämpft vorerst die bis au)!' kurzem in
Geltung gestandenen Hypothesen, Avelclie den Ikterus niit (hmi
massenhaften Untergang von roten Blutkörperchen nach der (ie-
burt in Zusammenbang bringen. Er Avendet sich ferner gegen
Quinckes Annahme, daß der Icterus neonatorum auf Resorption
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
24.
von Gallenbestandteilen aus dem Mekonium zurückzuführen sei
und führt eigene Beobachtungen und Versuche hierüber an: Ent¬
fernung des Mekoniums aus dem Darme unmittolbar post partum
mittels wiederholter Irrigation hat keinen Einflußi auf den Ikterus.
Dann nimmt die Intensität dos Ikterus noch zu, wenn die spon¬
tane Entleerung des Mekoniums einen bis zwei Tage lang schon
beendet war. Weiter zitiert er Kehrers Angabe, daß Kinder,
welche intra partum ihr. Mekonium a.usstoßen, doch ikterisch
/verden. Endlich macht er darauf aufmerksam, daß Quinckes
Hypothese irrtümlicherweise voraussetzt, daßi die Resorption von
Gallenfarhstoff aus dem Darmkanal nicht durch die Chylus-, son¬
dern durch die Blutgefäße erfolgt, was gänzlich unhaltbar ist.
Vortr. hat an 43 Kindern Lehersclmitte nach Eppinger gefärbt
und den Nachweis erbracht, daß ein Stauungsik terus aus¬
zuschließen ist, da Rißtrichter niemals gefunden werden konnteii.
Viskositätsbestimmungen der Galle nach Ostwald ergaben hohe
Viskosität der Galle bei totgel)orenen Kindern, geringe Viskosität
der Galle hei Kindern, welche in den ersten Lebenslagen ge¬
storben waren. Die Abnahme der Viskosität der Galle, dann
die in histologischen Bildern nachweisbare Ektasie der Gallen¬
kapillaren hei jenen Kindern, welche zwei, bis vier Tage gelebt
haben, lassen darauf schließen, daß die Gallenproduktion un¬
mittelbar post partum gesteigert sein muß. Die Steigerung der
Gallenproduktion führt Vortr. vornehmlich auf die Störung der
Blutzirkulation heim Partus zurück. Auf seine Befunde gründet
Vortr. folgende Theorie der Entstehung des Icterus neonatorum:
Derselbe ist eine Sekretionsanomalie der Leherzellen, welche mit
der Steigerung der Gallenproduktion unmittelbar nach der Ge¬
burt zusammenhängt. Die neugehildete Galle kann nur schwer
abfließen, da ziemlich zähe Galle in den Gallemvegen der Neu¬
geborenen vorhanden ist. Die Lcberzelle bringt nicht den hiezu
nötigen, rein mechanischen Druck auf, um die Galle in tlen
Gallengängen fortzubcAvegen und so Platz für die neugehildete
Galle zu schaffen; infolgedessen kommt es zum LTeberlritt der
Galle aus der Leherzelle in die Blut-, resp. Lymphhahn und so
zum Ikterus.
Th. Escherich hält die Untersuchungen des Vortragenden
noch nicht für abschließend, denn dieselben kommen eigent¬
lich auch auf die Annahme einer Stauung der Galle hinaus.
Ob der Ikterus nicht nebenbei auch auf einem stärkeren Zerfall
der roten Blutkörperchen beruht, ist nicht zu entscheiden. Zur
definiti\mn Lösung der Frage sind noch weitere Untersuchungen
nötig. Schnitze nimmt an, daß durch den Eintritt der Re¬
spiration nach der Gehurt eine Druckerniedrigung in der Vena
cava inferior eintritt, wodurch der üebertritt von Galle in das
Rlut ermöglicht wird.
A. Hecht weist darauf hin, daß' die Viskosität der Galle
individuell verschieden sein kann.
.Tos. Friedjung bespricht die Resorption der Galle aus
dem IMekonium.
Fr. Hamburger bemerkt, daß es nach der Theorie des
Vortragenden nicht zu erklären ist, warum der Ikterus nicht
schon bei der Geburt vorhanden ist.
J. Fischer bemerkt, daß die Theorie nicht erklärt, warum
der Ikterus bei starken Kindern schwächer ist.
Wh K n ö p f e 1 m a c h e r erwidert, daß auch seine Theorie
eine Stauung annimmt, aber nicht in dem Sinne der anderen
Theorien. Die Inspiration dürfte scliAveiTich die Ursache des
Ikterus sein. Neugeborene haben eine geringe Gallensekretion,
AAÜrd sic stärker, so tritt Ikterus auf.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
Sitzung am 23. Januar 1907 .
Vorsitzender : F i n g e r.
Schriftführer : B r a n d w e i n e r.
N o b I demonstriert : 1. Einen Fall von Erythema in d u-
ratum Bazin, der ein 20 jähriges, anämisches, seit neun
Jahren an D r ü s e n t u b e r k u 1 o s e leidendes Mädchen betrifft.
Die violettroten, tief sitzenden Unterschenkelknoten zeigen vielfach
zentrale Erweichung und Rarefizierung des Integuments. Toi’i
einzelnen Granulomen sind nach der Tiefe hinziehende Stränge
zu verfolgen. Superfizielle Phlebektasien sind nirgends zu ge¬
wahren. Der seit Monaten fast unverändert persistierenden Aus¬
saat ist vor einem Jahre eine ähnliche Eruption vorangegangen.
Wangen und Hals sind dicht von bis faustgroßen Skrofuloderma-
narben eingenommen. In der rechten Submaxillarregion reiben
sich hühnereigroße erweichte Drüsenpakete aneinander. Verkäste
Lymphome der linken Halsseite wurden vor drei Jahren an der
Station Gersuny entfernt. In den Lungenspitzen besteht spezifischer
Katarrh. Die Vergesellschaftung mit manifesten tuberkulösen
Läsionen, der histologische Bau und die oft verzeichnete positive
Lokalreaktion auf Tuberkulin lassen trotz des negativen Bazillen¬
befundes die spezifische embolische Abstammung des Prozesses
mehr als wahrscheinlich erscheinen.
2. Ein Fall von Pityriasis lichenoides chro¬
nica. Das zum Teil psoriasiforme, zum Teil lichenoide Exanthem
betrifft einen 9jährigen Knaben. Die hirse- und hanfkorngroßen,
von festhaftenden Schuppenkegeln besetzten disseminierten
Knötchenschübe haben vorzüglich am Stamm, an den Lenden,
Oberarmen und Oberschenkeln den Standort. Die membran¬
ähnlich abkratzbaren Decken lassen intensiv rote Papeln zutage
treten. An allen Regionen alternieren mit den Knötchen bis
fingernagelgroße, kaum schilfernde, im Zentrum unternivellierte,
blaßrote, an den unregelmäßigen Rändern oft fein gefelderte und
granulierte makulöse Herde, in zahlreichster Einstreuung und mit
dem klinischen Aussehen der Pityriasis rosea in der Lenden-
und inneren Oberschenkelgegend. Der Verlust der superfiziellen
Hornlamelle im Zentrum der makulösen Formen zeitigt in Ver¬
bindung mit der Saumelevation den atrophischen Eindruck der¬
selben.
Gleich allen anderen hier vorgestellten Beobachtungen
rangiert der Fall im Rahmen der „P a r a p s o r i a s i s B r o c q‘‘
auf derselben Stufe als die von Jadassohn (Derm, psoriasi¬
formis nodularis), N e i s s e r, J u 1 i u s b e r g, K r e i b i c h, E h r-
mann, Rille, Spie gier, K a 1 1 e n b r u n n e r, Ri ecke u. a.
hervorgehobenen Typen.
Weidenfeld demonstriert einen Fall von Acne
cachecticorum. Mit 7 Jahren Periostitis und Drüsenabszesse am
Halse. Jetzt findet man große unterminierte Geschwüre mit blau¬
roten Rändern am Unterschenkel, außerdem an Brust, Bauch,
Rücken, an den Streckseiten der Arme und Oberschenkel folli¬
kuläre Knötchen mit Pusteln, einzelne von ihnen mit Krusten,
nach deren Ablösen follikuläre Geschwürchen ^ Zurückbleiben.
Außerdem findet man haselnußgroße Infiltrate, mit Krusten bedeckt,
nach deren Ablösen runde unterminierte Geschwüre Zurück¬
bleiben, deren Basis von einer zunderartigen Nekrose bedeckt ist.
Nirgends findet man aber jene blauroten Knötchen, die die tiefer
sitzende Nekrose durchschimmern lassen, so daß man diese
Affektion als Acne cachecticorum gegenüber den Tuberkuliden
ansehen muß.
U 11 mann: Der Fall zeigt an den Unterschenkeln auch
stellenweise die Kennzeichen der papulonekrotischen Tuber¬
kulide — eingesunkene, braun pigmentierte, leicht narbig ein-
gezogene Flecke — gleichzeitig aber auch die vom Vortr.
als Acne cachecticorum im Sinne Kaposis gekennzeichneten
Pusteln und schlappen Infiltrate, sowie zahlreiche oberflächliche
Ilautulzerationen auf sichtlich tuberkulöser Grundlage. Es
beweise dieses Zusammenvorkommen nur die Zusammengehörig¬
keit dieser drei morphologisch-differenten Formen auf dem
gemeinsamen Boden der tuberkulösen Dyskrasie, wobei teils
innere (Tuberkulide), teils äußere Momente (Mischinfektion durch
banale Eitererreger) die Verschiedenheit der Effloreszenzen hervoi-
rufen. So w^erde gerade Kaposis Acne cachecticorum durch
das Zusammentreffen mit anderen Tuberkuliden als besondere
(Misch-) Form verifiziert.
W e i d e n f e 1 d : Wenn man die Progression des Ganzen
ins Auge faßt, so habe er hervorgehoben, daß ein Knötchen der
Anfang ist, das follikullär gestellt ist, dann werden daraus Pustelchen
und dann Geschwüre. Beim Tuberkulid kommt es aber zu
weißer Nekrose, die erst langsam an die Oberfläche ansteigt,
aber zu keinen Pusteln.
Löw demonstriert einen Fall von Kraurosis vulvae
bei einer 35jährigen Frau. Die Innenfläche der großen Labien und
die kleinen Labien sind von weißglänzender, atrophischer Schleim¬
haut bedeckt, das Vestibulum verengt, die Klitoris hinter dem
Präputium ganz A’^ersteckt. In der Klitorisgegend finden sich zahl¬
reiche Rhagaden. Die Anamnese, die genaue Uriniintersucliung
und der Befund der inneren Organe ergeben keinen Anhaltspunkt
für ein ätiologisches Moment der Erkrankung.
Müller stellt aus der Klinik Finger vor:
1. Zwei Fälle von Dermatitis herpetiformis
D u h r i n g. An dem einen Patienten, der vor vier Wochen von
Dr. Scherbe r der Gesellschaft vorgestellt Aviirde, sieht man
beute nur mehr gelblich-braun pigmentierte Stellen dort, avo früher
Erytheme, sowie die papulösen und vesikulösen Eftloreszenzen
lokalisiert waren.
1'
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
Bei dem zweiten Patienten, einem 25 jährigen Schneidergehilfen,
sieht man am Rücken, an beiden Schultern, in der Mitte des
Kreuzheines und in der Gegend des linken Darmbeinkammes
mehrere bis handtellergroße, daneben auch kleinere, bis kronen¬
große landkartenförmige, scharf begrenzte, am Rande erythematöse,
im zentralen Teile deutlich pigmentierte Flächen, deren Rand
zum Teile oder ganz von kleinen Knötchen besetzt ist. Manche
dieser Knötchen tragen an ihrer Kuppe ein kleinstes, mit klarem
Inhalt gefülltes Bläschen. Der Patient klagt über heftiges
Jucken und so kommt es, daß die meisten dieser Bläschen
durch Kratzen zerstört wurden und statt ihrer eine blutige
Exkoriation sichtbar ist.
Pat. leidet seit mehreren Wochen an dieser Affektion.
Unter unseren Augen entstanden mehrere kleinere Herde,
während die alten zum Teil sich nach der Peripherie aus¬
dehnten, zum Teil zurückgingen.
Bis auf das heftige Jucken ist das Allgemeinbefinden des
Patienten nicht gestört.
In diagnostischer Hinsicht kommt die Gruppe des Pemphigus
und die der Erytheme in Betracht.
Multiformes Erythem ist wegen der Lokalisation aus¬
zuschließen. Gegen ein toxisches Erythem spricht die lange
Dauer, das Weiterschreiten der Erytheme, sowie auch das heftige
Jucken.
Die Affektion wäre daher in die Gruppe des Pemphigus zu
reihen u. zw. glauben wir sie wegen des Fehlens schwerer
Allgenieinerscheinungen, sowie wegen des auffallend heftigen
Juckreizes, vor allem aber wegen der Polymorphie der Efflores-
zenzen und des Freibleibens der Mundschleimhaut als Dermatitis
herpetiformis Duhring ansehen zu müssen.
Weidenfeld: Die Fälle sind fast alle konform. Er er¬
innert an seinen Fall, wo auch das Gesicht und wie bei diesem
Patienten besonders die Nates beteiligt waren. Ganz identische
Bilder: Kleine Kreise von Knötchen oder Bläschen, die progre¬
dient sind und Pigmentierungen zurücklassen. Entscheidend für
die Frage, ob es sich um Pemphigus oder Dermatitis Duhring
handelt, wäre, wenn andere Pemphigusformen hervorgehen
würden. Und dies ist der Fall. Er sah Pemphigus miliaris in
Pemphigus foliaceus übergehen.
E h r m a n n hält die Affektion für Dermatitis herpetiformis
Duhring. Die Quaddelbildung, die Polymorphie, der chronische
Verlauf, die Attacken sprechen dafür. Er bezieht sich auf einen
Fall, wo Kollegen aus Amerika Dermatitis herpetiformis Duhring
diagnostizierten, während Neumann Herpes iris, Herpes
circinatus annahm.
Weidenfeld: Kaposi liielt Herpes Iris nicht für
eine eigene Krankheit, sondern für eine Form des Erythema
multiform e.
No bl erinnert an den von ihm vor mehreren Wochen
vorgestellten Fall eines zehnjährigen Knaben, der das klassische
Bild der Dermatitis herpetiformis Duhring mit
zyklischen Ausbrüchen von zirzinären Bläschengruppen und den
ganzen Körper (besonders Brust, Rücken und Arme) überdeckenden
geschlängelten Erythemfiguren darbot. Das seit drei Vierteljahren
bestehende Leiden kehrt nach Intervallen stets in den gleichen
Formen wieder und gestattet gleich den sonstigen, dem
Pemphigus vulgaris angegliederten Läsionsformen jugendlicher
Individuen, in bezug auf die Heilung die günstigste Vorher¬
sage. Im Gegensatz zu dieser Erfahrung war man im Sinne
der Lehre Kaposis früher bei der Begutachtung eines jeden
noch so leichten Pemphigusfalles zu düsterster Färbung der
Prognose verhalten. Die besondere Benignität der als Dermatitis
Duhring ausgeschiedenen Gruppe trägt mit dazu bei, daß die
Annahme stets mehr an Anhang gewinnt, daß die Varietät aus
dem Formenkreis des Pemphigus auszuschalten sei.
Weide nfeld: Kaposi lehrte, daß bei Pemphigus oft
jahrzehntelange Intermission en Vorkommen, er sprach ja sogar
von Heilung. Er kannte auch den Pemphigus miliaris bei Kin¬
dern, nicht circinatus, wie in diesem Falle. Für die Diagnose
entscheidend wäre : der Uebergang in Pemphigus foliaceus, ferner
der Versuch, durch Druck Bläschen zu erzeugen.
Ullmann: Bekanntlich hat Hans v. Hehra seinerzeit die
Dermatitis herpetiformis als selbständige Dermatose gegenüber dem
Pemphigus verfochten. Doch entstand auch bei ihm eine ge¬
wisse Unsicherheit, als eine etwa 45jährige Frau (R. K.),
die lange mit einem juckenden, aus Papeln und Erythemen und
Pigmentflecken an Stamm und Extremitäten durch Jahre be¬
stehendem chronischen Exanthem behaftet war, das ganz diesem
Typus entsprach, nach einiger Zeit doch auch Blasenbildungen
an den Extremitäten bekam und auf die Poliklinik aufgenommen,
dort unter Erscheinungen eines schweren galoppierenden Pem¬
phigus und unter septischen Erscheinungen starb. Da wir
damals an die Möglichkeit einer spinalen Veränderung dachten,
wurde Prof. K o 1 i s k o gebeten, die Medulla spinalis zu kon¬
servieren und untersuchen zu lassen. Ich weiß nun nicht, ob er
dies ausführte. Seither war auch v. Hehra in bezug auf
Diagnose sehr vorsichtig geworden. Freilich beweist ein solcher
Fall noch immer nichts gegen die Existenz einer absolut benignen
polymorphen Form, als welche die Dermatitis herpetiformis an¬
gesehen wird. Dieser erwähnte Fall spricht natürlich zugunsten
der Auffassung Kaposi - Weidenfeld.
Finger weist darauf hin, daß Kaposi die Einheitlich¬
keit der Pemphigusgruppe immer durch die Angabe stützte, daß
derselbe Patient bei verschiedenen Rezidiven die verschiedenen
Formen des Pemphigus darbieten könne, eine Behauptung, die
Kaposi nicht durch Krankengeschichten belegt hat. Die Beob¬
achtungen anderer Autoren (N e i s s e r, B r o c q etc.) sprechen
dafür, daß der einzelne Fall innerhalb der einmal angenommenen
klinischen Form rezidiviert, höchstens daß ein Pemphigus vulgaris
schließlich in einen Pemphigus foliaceus übergeht. Was den vor¬
liegenden Fall betrifft, so ist die Diagnose Erythema multiforme
und Herpes iris schon mit Rücksicht auf die Lokalisation ent¬
schieden abzulehnen. Wir haben nur die Wahl zwischen Erythema
toxicum und jener Pemphigusform, die gegenwärtig als Dermatitis
herpetiformis (D u h r i n g) bezeichnet wird. Wir haben uns für
letztere Diagnose entschieden und möchte ich als differential¬
diagnostisch wichtig nur hervorheben, daß das Erythema toxicum
flüchtige Effloreszenzen setzt, während die Erytheme bei
Duhring scher Erkrankung stabiler sind und sich nur langsam
exzentrisch ausbreiten.
Müller demonstriert : 1. Einen Fall von Mykosis fungoides,
der gleichfalls schon mehrmals der Gesellschaft demonstriert
wurde. Die Erscheinungen des ersten und zweiten Stadiums
haben sich teilweise rückgebildet. Es schwand zum größten Teil
die Erythrodermie, sowie jene bis zu hellergroßen, scharf be¬
grenzten, hellrot gefärbten, flachen Infiltrate. Dagegen ist der
bereits involviert gewesene Tumor der Haut der rechten Skapular-
gegend wieder exulzeriert.
Die diffuse braune Pigmentierung der Haut ist wohl eine
Folge der Arsenkur.
In den letzten Wochen litt Pat. an heftigen Diarrhöen und
verlor 14 kg seines Körpergewichtes, so daß die Arsenmedikation
eingestellt werden mußte.
2. Einen Fall von Periostitis ossificans bei einem 40jährigen
Selchergetiilfen, der im Jahre 1898 eine Sklerose akquiriert,
seither zahlreiche Quecksilberkuren durchgemacht hatte.
Seit drei Jahren leidet er an schmerzhaften Verdickungen
der Stirnbeine, die auf Jodmedikation stets prompt zurückgingen.
Seit vier Monaten bestehen die jetzt sichtbaren Auftreibungen
am linken Stirn- und Scheitelbein, die trotz Darreichung von
Jodkali und Enesolinjektionen bisher nicht zurückgingen.
3. Einen Fall von frambösiformen Papeln der Ober¬
lippe und
4. einen Fall von Syphilis corymbosa bei einem 19jährigen
Hilfsarbeiter, der seit drei Vierteljahren an Lues leidet. An ver¬
schiedenen Stellen des Körpers sieht man um eine in Ausheilung
begriffene Papel einen scharf begrenzten, ungefähr fingerbreiten
Kreisring von normaler Hautbeschaffenheit, an dessen äußerer
Peripherie sich zahlreiche in Haufen gruppierte lentikuläre Papeln
anschließen.
M. Oppenheim: Ueber Phosphaturie bei
Gonorrhoe. Die Phosphaturie ist ein häufiges Ereignis bei
Gonorrhoe ; darüber herrscht so ziemlich Einigkeit unter den
Autoren. Zwei Erklärungen werden hiefür gegeben ; die eine
geht dahin, daß die Phosphaturie durch Neurasthenia sexualis
bedingt sei als Sekretionsneurose der Niere, die im Gefolge
einer Urethritis chronica posterior auftritt (Finge r), die andere
stellt die Phosphaturie als den Effekt einer reflektorischen Reizung
des Nierenparenchyms dar, durch die periphere Erkrankung eines
Anteils des zusammengehörigen Urogenitalsystems (Duhring).
Für manche Fälle komme auch die Aziditätsverminderung des
Urins durch die Diät der Gonorrhoiker und durch den Genuß
alkalischer Wässer in Betracht (Finger). Für die Erklärungen
fehlen noch die Beweise. Die vermehrte Ausscheidung von
Phosphaten bei Neurasthenie wird von hervorragenden Forschern
wie z. B. Minkowski geleugnet; die zweite Erklärung, für
die sich namentlich Duhring einsetzt, könnte nur durch das
Nr. 8
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
24;
Tierexperiment bewiesen werden. Nach den Angaben der meisten
Autoren und wie in vier eigenen Fällen nachgewiesen werden
konnte, ist die Phosphorsäure bei der Phosphaturie nicht ver¬
mehrt. S o e t b e e r und T o b 1 e r haben in einigen Fällen von
Phosphaturie bei Kindern eine vermehrte Kalkausscheidung ge¬
funden. Das Sediment bei der Phosphaturie besteht aus basisch
phosphorsaurem Kalk und Magnesia, welche bei alkalischer Re¬
aktion des Urins ausfallen. Sie repräsentieren nur einen kleinen
Teil der Phosphorsäure im Harn, weil zwei Drittel der Phosphor¬
säure an Kalium und Natrium gebunden sind ; diese Salze sind
im Urin immer löslich. Gibt man zu saurem Urin etwas Alkali
dazu, so trübt sich dieser durch Ausfall der Kalzium- und
Magnesiumsalze. Der Ausfall dieser gibt uns also nur über die
Reaktion des Urins Aufschluß, nicht aber über dessen Gehalt an
Phosphorsäure.
Die unmittelbare Veranlassung, die Frage der Phosphaturie
anzugehen, war die Beobachtung von Differenzen in der Trübung
des Urins und dessen Reaktion ; u. zw. findet man häufiger
die zweite Portion mehr phosphorhaltig und stärker alkalisch
reagierend als die erste Portion und diese Fälle betreffen chro¬
nische Prostatitiden, während das umgekehrte seltener der Fall
ist, bei Urethritis acuta anterior. Dieses auffallende Verhalten
läßt sich mit den bisherigen Theorien auch nicht mit einer
Sedimentierung der Phosphate in der Blase erklären. Auch noch
andere Momente, die hier anzuführen zu umständlich wäre,
sprechen dagegen.
Das Prostatasekret reagiert normaliter sauer, wenn
katarrhalisch verändert alkalisch (P e z z o 1 i). Nach Bering
bestehen die Corpora amylacea aus phosphorsaurem Kalk; dann
gibt es Fälle von Prostatorrhoe, wo am Schlüsse des Miktionsaktes
krümelige, kreidige, stark alkalische Massen entleert werden.
Es wäre also a priori denkbar, daß das alkalisch reagierende
Prostatasekret bei neutraler oder schwach saurer Reaktion des
Urins eine Aenderung der Urinreaktion bewirken könnte.
Um dies zu beweisen, wurden folgende Experimente an¬
gestellt. Bei einem Falle von Phosphaturie bei Urethritis chronica
totalis und Prostatitis catarrhalis, dessen Urin gleichmäßig diffus
milchig trübe alkalisch reagierte, wurde eine halbe Stunde nach
einer phosphaturischen Miktion mittels Katheters klarer Urin
von neutraler Reaktion entleert. Dann wurde die Prostata massiert,
wobei ein paar Tropfen alkalisch reagierenden Prostatasekretes
gewonnen wurden. Diese wurden zu dem mit Katheter entleerten
Urin zugesetzt, wobei eine Trübung entstand, die sich auf Essig¬
säurezusatz klärte.
Ein zweiter Patient mit Phosphaturie, der durch fünf Stunden
den Urin in der Blase zurückgehalten hatte, entleerte phosphaturischen
Urin von alkalischer Reaktion. Dann wurde die Blase ausgewaschen
bis das Waschwasser neutral reagierte. Nach einer halben Stunde
urinierte der Patient klaren Urin von schwach saurer Reaktion.
Dann Massage der Prostata und Entleerung eines alkalisch
reagierenden Prostatasekretes. Die Miktion nach einer halben
Stunde fördert diffus milchig trüben Urin zutage, der sich auf
Zusatz von Essigsäure klärt. Beide Versuche lehren, daß das
alkalisch reagierende Prostatasekret imstande ist, eine Fällung
von Phosphaten herbeizuführen. Es wäre denkbar, daß bei langer
Urinretention durch Kommunikation der Prostatadrüsen mit dem
Blaseninnern (Einbeziehung der Pars prostatica der Harnröhre zur
Blasenwand), das Prostatasekret in den Urin gelangt.
Bei den Fällen, in denen die erste Portion des Urins
stärker durch Phosphate getrübt ist, als die zweite, findet sich
häufig eine stärkere eitrige Sekretion der pars anterior urethrae
(Fälle von Urethritis acuta anterior). Wäscht man
die Pars anterior urethrae in solchen Fällen mit wenig
Wasser aus, so reagiert das Wasser alkalisch, setzt
man dieses zu Phosphaturin zu, so erhält man stärkere
Trübung, die stärker ist als der Trübung durch das Waschwasser
allein entsprechen würde. Aus naheliegenden Gründen sind Ver¬
suche, wie in den ersten Fällen, unmöglich. Es wurden zahlreiche
verschiedene Versuche angestellt, manchmal auch mit negativem
Resultat. Das Gelingen der Versuche ist natürlich von drei
Faktoren abhängig; Alkaleszenzgrad des Urins, Alkaleszenzgrad
der durch die Gonorrhoe produzierten Sekrete und die Menge
dieser beiden Bestandteile.
Der verminderte Säuregrad des Urins ist die Folge der
Diät und des Genusses alkalischer Wässer; dasselbe Moment
käme bei Neurasthenie in Betracht.
Es kommt aber noch ein Umstand in Betracht, auf den
Sendtner, Panek, Soetbeer, Tobler aufmerksam ge¬
macht haben und das wäre eine vermehrte Kalkausscheidung.
Diese könnte bei Gonorrhoe durch den reichlichen Genuß der
Milch erklärt werden, die ja das k a 1 k r e i c h s t e Nahrungs¬
mittel ist.
(Schluß folgt.)
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 23. Januar 1907.
Vorsitzender: Kais. Rat Dr. Kroczak.
Schriftführer: Dr. Schweinburg.
Primarius Dr. W. Bittner demonstriert ein vier Jahre
altes Mädchen, das im Alter von VI2 Jahren mit ^multiplen
angeborenen Gelenksdifformitäten in seine Behand¬
lung kam u. zw. Luxatio coxae sin. Luxatio genu
p r a e f e m o r a 1 i s bilateralis, Defectus totalis
patellae utriusque, Pes equino varus bilateralis.
Diese Kombination von angeborenen Luxationen, bzw. De¬
fekten und Mißbildungen ist bei einem sonst psychisch und
physisch normal entwickelten Kinde sehr selten und sind bisher
bloß vier analoge Fälle bekannt u. zw. ein Fall von Reiner,
zwei Fälle von Bacilieri, zu denen kürzlich ein Fall von
Strauß in Breslau hinzukam.
Die Vorstellung des Falles ist daher gerechtfertigt, um so
mehr, als der therapeutische Effekt in diesem Falle ein recht zu¬
friedenstellender ist.
Das Kind wurde am Ende einer normalen Gravidität ge¬
boren u. zw. in Schädellage mit an den Leib gezogenen Beinen.
In der Familie sind Mißbildungen nicht vorhanden. Bei dem
Kinde, das sich sonst geistig und körperlich normal entwickelt
hatte, fiel zunächst die Stellung der unteren Extremitäten auf.
Dieselben waren hyperextendiert und beim Stehen besonders war
ein hochgradiges Genu recurvatum sichtbar. Das Kind konnte mit
hyperextendierten Knien und flektierten Hüftgelenken mühsam
einige Schritte machen, bewegte sich daher vorwiegend auf ,, allen
Vieren“, wobei es eine ziemliche Behendigkeit entwickelte. Eine
aktive Beugung im Kniegelenke war unmöglich, dafür eine
ziemlich bedeutende Ueberstreckung. Auch die passive Beugung
war nur in sehr geringer Exkursion möglich. Die unteren Extre¬
mitäten waren auch in Rückenlage im Kniegelenke in hyperexten¬
dierter Stellung. Bei der Untersuchung der Kniegelenke fehlten
zunächst die normalen Konturen derselben. Vorne war eine
tiefe quere Falte sichtbar, rückwärts eine kugelige Prominenz,
gebildet von den Kondylen des Femurs. Die Patellae waren nicht
tastbar, auch am Röntgenbilde nicht sichtbar, aber auch bei der
blutigen Operation nicht nachweisbar, fehlten also vollkommen.
Der Unterschenkel war auf den Femur nach vorne vollkommen
luxiert ; die Luxation ließ sich nicht ganz reponieren. Erst in
Narkose war eine Reposition durch Zug und Druck am Unter¬
schenkel möglich ; die Stabilität der Reposition war aber gleich
Null. Nach der Reposition war eine passive Flexion in etwas
größerem Umfange durchführbar. Am rechten Femur fiel noch
der Umstand auf, daß das distale Ende mit den Kondylen etwas
nach hinten gebogen erschien, so daß die vollkommene Arti¬
kulation der Gelenkskörper erst in ziemlich starker Beugung
möglich war. An zwei demonstrierten Röntgenplatten sind die
anatomischen Verhältnisse deutlich sichtbar.
Was die übrigen Gelenke anbelangt, so bot das linke Hüft¬
gelenk eine kongenitale Luxation dar ; der Trochanter stand 3 cm
über der R o s e r - N e 1 a t 0 n sehen Linie, der Kopf war etwas
antevertiert.
Die Füße standen in hochgradigster Klumpfußstellung. Die
Gelenke der oberen Extremität waren normal, nur ist eine leichte
Hyperextendierbarkeit der Fingermetakarpalgelenke auffallend.
Was nun die Therapie anbelangt, so wurde mit Rücksicht
auf die Jugend des Kindes und den Umstand, daß das Kind bei
der Aufnahme noch nicht bettrein war, von der Behandlung der
Hüft- und Kniegelenke vorläufig abgesehen und wurden zunächst die
Klumpfüße in Angriff genommen. Durch Redressement und
Tenotomie der Achillessehne wurde — wie der Fall zeigt be¬
sonders rechts ein fast ideales Resultat, links eine bedeutende
Besserung erzielt. Der linke Klumpfuß setzte der Behandlung
große Schwierigkeiten in den Weg. Doch ist das Kind imstande,
auch auf den linken Fuß plantigrad aufzutreten; nur eine
geringe Verunstaltung deutet auf den einstigen schweren Klump¬
fuß hin.
Erst im zweiten Lebensjahre des Kindes wurden die Knie¬
gelenke in Behandlung genommen. Zunächst wurde der
I u 11 1) 1 u t i g e Weg versucht: Reposition in Narkose, Gipsverband
! in Flexion, jedoch ohne Erfolg.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 8
Üi6
Hierauf versuchte der Vortragende dadurch zum Ziele zu
gelangen, daß durch einen Schnitt an der lateralen Seite des
Kniegelenkes, die Gelenksköiper bloßgelegt und in reponierter,
flektierter Stellung der Condylus externus femoris et tibiae durch
Silberdraht fixiert wurden. Auch dieses V'erfahren hatte keinen
Erfolg.
Ausgehend nun von der Annahme, daß die laixation haupt¬
sächlich dadurch ermöglicht wurde, daß die Q u a d r i z e p s-
sehne zu kurz, die hintere Gelenk skapsel da¬
gegen zu weit war, wurde behufs Verlängerung der
Quadrizepssehne und Kürzung der hinteren Gelenkskapsel am
10. November 1905 folgende Operation u. zw. zunächst am
linken Kniegelenk ausgeführt: Ein leicht nach unten bogen¬
förmiger Schnitt über das Gelenk legte die Gelenkskapsel und das
Ligamentum patellare bloß. Nun wurde durch einen lateralen
und medialen Schnitt das Gelenk eröffnet, die Seitenbänder
durchschnitten. Von dem medialen und lateralen Ende dieser
Schnitte wurden parallel dem Ligamentum patellare zwei Schnitte
nach abwärts bis auf die Tibia und in weiterer Fortsetzung auf
der Tibia bis fast 2 cm unter die Tuberositas tibiae durch das
Periost geführt, die Enden dieser Schnitte durch einen Querschnitt
verbunden und hierauf mittels Meißel ein ca. 12 mm breiter
Periost - Knochen lap pen samt der Tuberositas tibiae,
dem Ansatzpunkte der Quadrizepssehne, abgemeißelt. Dadurch
wollte der Vortragende einerseits die Strecksehne verlängern,
anderseits durch Verschiebung der Tuberosität nach oben gleich¬
sam eine neue Patella schaffen.
Nun war das Gelenk vollständig eröffnet. Die abnorm
langen Ligamenta cruciata wurden verkürzt und von der
hinteren, auffallend weiten Gelenkskapsel ein
über 1 cm breiter, quer verlaufender Streifen
reseziert. Dadurch sollte die abnorm weite Kapsel verkürzt
werden. Der Kapselspalt wurde mit feiner Seide genäht und
hiebei schon konstatiert, daß eine Reluxation unmöglich war.
Hierauf folgte die Naht der Ligamenta cruciata und der vorderen
Gelenkskapsel mit Seide. Der untere Rand des Periost Knochen¬
lappens wurde mit Silberdraht an den ebenen Rand der Tibia
fixiert ; Hautnaht mit Seide, Gypsverband in leichter Flexion.
Die Heilung erfolgte per primam, ohne Reaktion; der Erfolg ist
ein ausgezeichneter. Das Kind kann aktiv bis zum rechten
Winkel flektieren und strecken, die Reposition ist vollkommen
und fest. Etwas über die Gelenkslinie tastet
man die rundliche Tuberosität, die sich als
neue Patella präsentiert.
Auf gleiche Art wurde auch das rechte Kniegelenk am
21. November 1906 operiert. Der Erfolg ist hier insofern kein
solch ausgezeichneter, als hier ein geringer Grad von Subluxation
besteht, ein Umstand, der aber hauptsächlich durch die schon
erwähnte leichte Knickung des distalen Endes des Femurs nach
rückwärts bedingt ist, wodurch eine Artikulation der Gelenks¬
enden in Strecksteilung unmöglich ist, vielmehr dieselbe erst in
Beugung eintritt. Das Kind kann aber aktiv bis zum rechten
Winkel beugen und strecken; der Gang ist noch etwas steff und
schleudernd, aber aufrecht und bessert sich zusehends. Au ch am
rechten Kniegelenk ist die Tuberosität als neue Patella tastbar.
Vielleicht ließe sich das Resultat am rechten Kniegelenk dadurch
noch vervollkommnen, daß der distale Teil des Femurs durch
eine Osteotomie nach D r e h m a n n nach vorn geknickt
würde, wodurch die Gelenksenden auch in Strecksteilung des
Kniegelenks zur Artikulation kämen.
Das linke Hüftgelenk wurde in dem Intervall
zwischen den beiden Kniegelenksoperationen am 17. März 1906
nach Lorenz reponiert und zur funktionell normalen Aus¬
heilung gebracht. In anatomischer Hinsicht ist zu bemerken, daß
die schon anfangs erwähnte Anteversion des Kopfes eine nicht
ganz zentrale Einstellung des Kopfes in die Pfanne veranlaßt hatte.
Diese 0 p e r a t i o n s m e t h o d e, die im wesent¬
lichen darin besteht, daß durch A b m e i ß e 1 u n g
eines Periost-Knochenlappens samt der Ansatz¬
stelle der Quadrizepssehne, der Tuberositas
tibiae, die Strecksehne einerseits verlängert,
die Tuberosität anderseits als neue Patella
verwendet wird, weiters, daß durch quere Re¬
sektion der hinteren, in solchen Fällen natur¬
gemäß weiten G e 1 e n k s k a p s e 1 letztere verkürzt
w' i r d, scheint noch in keinem analogen Falle
i n V e r w e n d u n g gekommen zu sein und i s t w o h 1
mit Rücksicht auf den sehr guten E.rfolg in
analogen Fällen empfehlenswert.
Die Behandlung hat also in einer Heilung des linken Hüft-
und Kniegelenkes und des rechten Klumpfußes, in einer be¬
deutenden Besserung des rechten Kniegelenkes und des linken
Klumpfußes ihren vorläufigen Abschluß gefunden, da das Kind
nun in den Stand gesetzt ist, nach Menschenart zu stehen und zu
gehen. Der Vortragende hofft auch, das rechte Kniegelenk und
den linken Fuß des Kindes, das jetzt nach fast 272 jährigem
Spitalsaufenthalt entlassen wird, zur Heilung zu bringen.
Pros. Priv.-Doz. Dr. C. Stern borg demonstriert die Ab¬
bildungen mehrerer Hemmungsmißbildungen, die er in der letzten
Zeit zu untersuchen Gelegenheit hatte und die Dr. Theodore w
(Sophia) demnächst in der Zeitschrift für Heilkunde publizieren
wird. In diesen Fällen kann, wie Vortr. ausführlich darlegt und
begründet, eine amniogene Entstehung der Mißbildungen mit
Sicherheit angenommen werden.
Dr. Julius Stein: Ueber neuere Blutfärbungs-
m e t h 0 d en.Vortr. hat in derProsektur des Brünner Landesspitales
die verschiedenen Blutfärhungsmethoden an einem größeren Material
eingehend erprobt und empfiehlt für die Zwecke des praktischen
iVrztes zur schnellen Orientierung in fraglichen Fällen die
J e n n e r sehe Methode sowie die Roman owsky sehe Färbung
in den Methoden nach Leishman oder Giemsa. Vortr. be¬
spricht die Ausführung dieser Färbungen, das normale und
pathologische Blutbild sowie eine Reihe von Krankheitsbildern,
die nicht die sogenannten eigentlichen Blutkrankheiten betreffen
und in welchen die Blutuntersuchung nicht zu unterschätzende
diagnostische oder prognostische oder therapeutische Fingerzeige
geben kann.
Diskussion: Priv.-Doz. Sternberg weist auf den hohen
Wert der klinischen Blutuntersuchung hin und führt einige be¬
sonders drastische Fälle an, in welchen lediglich das Unterlassen
der Blutuntersuchung, wie sich am Sektionstisch zeigte, eine voll¬
ständig irrige Diagnose zur Folge hatte.
Prim. Dr. Mager schließt sich diesen Ausführungen an
und berichtet über einen sehr komplizierten Fall aus den letzten
Tagen, in welchem er erst durch die Blutuntersuchung imstande
war, .die Diagnose auf ,, Eigenartige Tuberkulose des lymphatischen
Apparates“ (== Lymphogranulomatose) zu stellen, welche Diagnose
durch die Obduktion bestätigt wurde.
Programm
der am
Freitag den 22. Februar 1907, 7 lllir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. H. H. Meyer stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Dr. C. V. Pirquet: Eine Theorie des Blatternexanthems.
Bergmeister, Paltauf,
Um die reclitzeitisre Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer iiocli am Sitzuiisfsatoend zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Neusser Donnerstag
den 2i. Februar 1907, um 7 Ulir abends, statt.
Vorsitz: Hofrat Professor v. Neusser.
Programm:
I. Demonstrationen angemeldet: Dr. Neurath, Doz. Dr. Marburg,
Prof, Dr. Schlesinger, Doz. Dr. A. Fuchs, Dr. Wiesel, Dr. S. Gara.
II. Reg. -Arzt Dr. Mattauschek: Zur Epidemiologie der Tetanie.
Das Präsidium,
Wiener med, Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 25. Februar 1907, 7 Uhr abends, im
Sitzungssaale des Kollegiums, I., Rolenturmstraße 19, unter Vorsitz des
Herrn Prim. Doz. Dr. Lotheisen stattfindenden wissenscliaftlichen
Versamiulung.
Dr. M. Kahane: Ueber Hochfrequenzströme und ihre wichtigsten
Indikationen.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm der am Montag den 25. Februar 1907, 6 Uhr abends
im Hörsaal der k. k. Universitätsohrenklinik stattfindenden
wissenschaftlichen Sitzung.
1. Demonstrationen: Die Herren Hofrat A. Politzer, Dr. H. Neu¬
mann, G. Alexander, F. Alt, E. Rüttln.
2. Dr. E. Urbantschitsch : Zur Behandlung des chronischen
Mittelohrkatarrhs.
Urbantschitsch. Alexander. Frey.
verantwortlicher Redakteur: Adalbert Karl Trupp.
Verlag Ton Wilhelm Rranmttller in Wien.
Druck von Bruno ßartelt, Wien, XVIII., Theresiengasee 3.
Die
„Wiener kliulsclie
Woclieuscbrifl“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
^ ^
Redaktion :
Telephon Nr. 16.282.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. V. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
fr - ~ ^
AbouuemeutsprelN
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Insertions-
Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
Abonnements deren Abbestel¬
lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
lu s erat e
werden mit 60 h = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebereinkommen.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 17 .618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 28. Februar 1907. _ Nr. 9.
INH
I. Originalartikel : 1. Aus dem pathologisch-anatom. Institute
(Vorstand: Prof. Weichselbaum) und der II. chirurgischen Klinik
in Wien. (Vorstand: Prof. Hochenegg). Durch Bakteriengifte
erzeugte Haut- und Schleimhautblutungen. Vorläufige Mit¬
teilung von Dr. J. Heyrovsky, Operateurszögling der Klinik.
2. lieber pathologische Magenschleimabsonderung. (Ein Beitrag
zur Diagnostik und Therapie des chronischen Magenkatarrhs.)
Von Privatdozent Dr. Emil Schütz in Wien.
3. Aus der dermatologisch-syphilidologischen Abteilung des
k. k. Krankenhauses Wieden in Wien. (Vorstand: Professor
Dr. S. Ehrmann.) Zur Kenntnis des Molluscum contagiosum.
Von Dr. B. Lipschütz.
4. Aus der Universitäts-Klinik für Geschlechts- und Haut¬
krankheiten in Wien. (Vorstand: Prof. Ernest Finger.) üeber
die Schicksale des intramuskulär injizierten Hydrargyrum
salicylicum. Von Privatdozenten Dr. Leopold Freund,
Assistenten der Klinik.
ALT:
5. Aus der ersten chirurgischen Klinik in Wien. (Vorstand: Hofrat
Prof. Freiherr V. Eiseisberg.) Beiträge zur Kasuistik der Schädel¬
stiche. Von Dr. H. L e i s c h n e r, Assistenten der Klinik.
6. Bemerkungen zu dem Artikel: „Ein Beitrag zur Wirkung der
Wechselstrombäder bei Arteriosklerotikern mittleren Grades“ von
Dr. L. Pöhlmann. Von Dr. 0. v. Aufschnaiter, Wien-Rohitsch-
Sauerbrunn.
II. Referate: Experimentelle und klinische Untersuchungen über
die Histogenese der myeloiden Leukämie. Von Dr. Kurt Ziegler.
Karl Weigert und seine Bedeutung für die medizinische
Wissenschaft unserer Zeit. Von Prof. Dr. Robert Rieder.
Methodik der klinischen Blutuntersuchungen. Von Prof. Doktor
Ernst Grawitz. Ref.: Karl Sternberg.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßherichte
Aus dem pathologisch-anatom. Institute (Vorstand:
Prof. Weichselbaum) und der II. chirurgischen Klinik
in Wien. (Vorstand: Prof. Hochenegg.)
Durch Bakteriengifte erzeugte Haut- und
Schleimhautblutungen.
Vorläufige Mitteilung von Dr. J. Heyrovsky, Operateurszögling der Klinik.
Meines Wissens ist es bisher nicht gelungen, mit Bak¬
teriengiften bei Versuchstieren ähnliche Läsionen der Haut
und Schleimhäute zu erzeugen, wie wir sie am Menschen
hei hämorrhagischen Formen der Septikopyämie, verschie¬
denen Pnrpnraformen und einigen sog. toxisch-infektiösen,
hämatogenen Dermatosen (z. B. Erythema nodosum)^) zu
sehen (xelegenheit haben, obwohl wir die Entstehung sol¬
cher Gewebsveränderungen auf die (lokale oder entfernte)
Wirkung eines, von dem in Betracht kommenden Erreger
produzierten oder durch Zerfall desselben frei gewordenen
Giftes zu beziehen geneigt sind.
In den folgenden Versuchen glaube ich den Nach¬
weis erbracht zu haben, daß man durch die Einver¬
leibung keimfreier Bakterienkulturfiltrate bei
weißen Mäusen hämorrhagische Dermatosen,
Schleimhaut- und .Gewebsblutungen erzeugen
könne.
Die zu meinen Untersuchungen benützten Gifte stamm¬
ten aus Glykosebouillonkulturen typischer Stämme des
^) Literatur siehe Jadassohn, Ueber infektiöse und toxische
hämatogene Dermatosen. Berliner klin. Wochenschr. 1904, S. 979,
Diplococcus pneumoniae und Streptococcus mucosus, zweier
Bakterienarteii, die einander, wie aus den Untersuchungen
mehrerer Autoren, sowie auch aus meinen Beobachtungen
liervorgeht, biologisch sehr nahe stehen.
In einer im Zentralblatt für Bakteriologie und Para¬
sitenkunde, I. !Abt., Orig., Bd. XXXVIll, S. 704, erschie¬
nenen Arbeit: Ein Beitrag zur Biologie und Agglutination
des Diplococcus pneumoniae, habe ich liervorgehoben, daß
der auf gebräuchlichen Nährböden in der Regel mir küm-
merlicli wachsende Diplococcus pneumoniae in einer lAoigen
Glykosehouillon 2) außerordentlich üppig gedeiht, jedoch in
kürzester Zeit in seinen eigenen Stoffwechselprodukten ab¬
stirbt und zerfällt. So' vermag z. B. in der Regel eine mit
dem Herzblut der an Diplokokkensepsis eingegangenen Maus
beimpfte Glykosebouillon, nach 24stündigem Verweilen
bei Bruttemperatur, in beliebiger Dosis eine Maus nicht
mehr zu töten, während eine minimale Menge desselben
Blutes oder einer mit demselben Blute beimpften Bouil¬
lonkultur die Maus in kürzester Zeit tötet. Ebenso ver¬
hält sich auch der von Schottmüller zuerst genauer
beschriebene Streptococcus mucosus beim Wachstum in
einer Glykosebouillon, während die übrigen Strepto¬
kokken in der Regel resistenter sind.
Da man nun annehmen mußte, daß in solchen Gly¬
kosebouillonkulturen des Diplococcus pneumoniae
und des Streptococcus mucosus sicli eine beträchtliche
^) Zusammensetzung: Fleisch wasser, 0'5°/o Kochsalz, l''/o Witte-
Pepton, l®/o GUykose. Alkaleszenz : Eben deutliche Rötung des Phenol¬
phthaleins.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 9
24'S
Menge von Stoffwcchselprotliiklen, sowie auch gelöster Bak-
terieJileiber vorfinden muß, lag es nahe, die Fill rale dieser
Knltnren auf ihren evenlnellen (ielialL an Toxinen, l)e-
ziehungsweise Emlotoxineii zn i)rnfen.
Ich konnte nun hei weißen Mäusen durch Finverlei-
hung von keimfreien Puka 11- Filtraten der Glykosehouil-
lonkulturen einzelner Stämme der beiden Bakterienarten
ein Ivrankheitshild erzeugen, welches dem Bilde der ver¬
schiedenen BnriHiraformen des Menschen außerordentlich
ähnlich ist.
Da durch Serum- oder Blutzusatz zu der Blykose-
b 0 Li i 1 1 0 n k ul tn r das Wachstum beider Bakterienarten be¬
deutend intensiver wird und da nach den bisherigen Ver¬
suchen die Giftwirkung der Kidturen von der Virulenz des
Stammes für Mäuse al)hängig zu sein scheint, habe ich
in der Mehrzahl der bisher ausgeführten Versuche die ur¬
sprüngliche Versuchsanordnung heihehalten, indem ich ein¬
zelne Ilöhrchen von Glykosebouillon mit einem Tropfen
des unter aseptischen Kautelen mit einer Glaskapillare ent¬
nommenen Herzblutes der eingegangenen Tiere beimpft
habe. Während nun die so beimpften Röhrchen nach
z w ö 1 f s t ü n d i g e m Verwei len ] )ei Bruttemperatur hoch¬
virulente und auf geeignete Nälirböden abimpfhare Kokkeji
der erwähnten Art in ungeheurer Zahl enthielten, waren
nach zirka 24 Stunden in der Regel die Kulturen incht
mehr überimpf bar und nicht infektiös. Die mit solchen Kul¬
turen oder deren Filtraten geimpften Mäuse blieben fast
sämtlich am Leben und boten das unten näher beschrie¬
bene Krankheitsl)ild ; die mit mehr als acht Tage alten (vor¬
her wirksam gewesenen) Kulturen geimpften Mäuse blieben
hingegen sämtlich ohne Erscheinungen.
In einigen Versuchen habe ich mit dem gleichen Er¬
folg von Agarkultnren beimpfte Glykosebouillonkidturen
verwendet, um dem Einwand, es handle sich um die Wir¬
kung des eingebrachten septikämiscben Blutes, vorzu¬
beugen. Da ich die unten näher beschriehene Giftwirkung
keineswegs bei allen meinen Stämmen dei’ beiden Bak¬
terienarten beobachten konnte und da ich iiicht immer einen
geeigneten Stamm des Diplococcus pneumoniae besaß (hei
dieser Kokkenart habe ich b(U’eits im Jahre 1906 wieder¬
holt und bei verschiedenen Stämmen dieselbe Giftwirkung
beobachtet), benutzte ich gegenwärtig zu meinen Versuchen
einen aus eitriger Otitis in Reinkultur gezüchteten Stamm
des Streptococcus mucosus, signiert mit ,,Stojan“.
Die mit keimfreien Filtraten der 24stündigen oder
etwas älteren Glykosebouillonkultur dieses Stammes intra¬
peritoneal oder subkutan geimpften Mäuse zeigten nach
zirka zwölf Stunden folgende Erscheinungen:
Vorwiegend an den schwach behaarten Körperstellen
(Ohren, Pfoten, Schweif, Schnauze, Genitale) lokalisiertes,
hämorrhagisches Exanthem in der Form von lividroten,
Hachen oder leicht erhabenen, runden oder unregelmäßig
begrenzten, oft konfluierenden Effloreszenzen ; diffuse, ziem¬
lich hochgradige Schwellung und blaurote Verfärbung der
Pfoten; in einigen Fällen (jiehen dem beschriebenen Exan¬
them an anderen Körperstelleii) eine anscheinend nicht
hämorrhagiscbe, rasch sich rückhildende Schwellung der
Pfoten und des Genitales. xVn den dicht hehaarten Körper¬
stellen konnten trotz sorgfältiger Untersuchung keine Hämor-
i-hagien gefunden werden, mit Ausnahme der Infektions¬
stelle j)ei subkutaner Impfung und der Stellen, die bei
der Impfung einem mechanischen Insulte ausgesetzt waren
(Haut in der Nackengegend beim Fassen der Maus.)
Die meisten Mäuse zeigten schleimige, einige Mäuse
auch blutige Diarrböen. Die große Mehrzahl der einmal
mit der Menge von “/lo cm^ bis 1 cuF des Filtrates ge^
impften Mäuse blieb am Leben.
Die beschriebenen Haulveränderungen bildeten sich
im Laufe von einigen Tagen unter gelblicher Verfärbung
der betreffenden Haidpartie oder auch ohne dieselbe voll¬
kommen zurück.
Eine in einem Zeitintervall von 24 Stunden zweimal
geimpfte Maus (Dosis 1 Vio cnP, Dosis II 1 cm^) zeigte am
nächsten Tage einen Nachschub der Hautblutungen, blutige
Stühle, verklebte Augen, verminderte Freßlust und ging
ein. Bei der Sektion derselben fanden sich außer reich¬
lichen Hämorrhagien der Ohren und Pfoten, des Schweifes,
der Schnauze und des Skrotums, Hämorrhagien des harten
Gaumens, der Lungen, des Darmes und der Harnblase,
vergrößerte Milz und Flyperämie der Nieren. Mehrere in
zwei nächstfolgenden Tagen geimpfte Mäuse zeigten ^uin
Teil nach der zweiten Infektion einen Nachschub der Haut-
hlutungen, zum Teil blieb dieser aus. Eine kleine Zahl voii
mit wirksamen Filtraten geimpften Vläusen endlich (drei von
sechzig) blieb trotz wiederholter Impfung ohne Er¬
scheinungen.
Bei den durch Aetherinhalation getöteten, erkrankt
gewesenen Mäusen fanden sich ähnliche Veränderungen der
inneren Organe wie bei der spontan, eingegangenen Maus,
allerdings nicht so hochgradig und nicht immer. Am häufig¬
sten fand ich neben den Veränderungen der Haut Blutun¬
gen im Parenchym' der Lungen, sowie in der Mukosa des
Rektums.
Die vom Herzhlute, von der Milz und den Hautblutun¬
gen der eingegangenen, sowie der getöteten Mäuse ange¬
legten Kulturen blieben särntlicb steril. Ebenso fand ich in
den mit Methylenblau und nach Gram- Weigert gefärbten
Sclmitten der Organe keine Bakterien.
Die genaue bistologische Beschreibung der beobach¬
teten Veränderungen behalte ich mir vor; es sei nur kurz
erwähnt und besonders betont, daß sich in der Haut außer
den ausgedehnten, vorwiegend im subkutanen Gewebe ge¬
legenen Blutungen deutliche entzündliche Verände¬
rungen mit serös zelligem, zum Teil auch serös zelligfibri-
nösem Exsudate fanden. Jm Darm konnten den makroskopi¬
schen Befunden entsprecbend histologisch Blutungen der
Mukosa, Submukosa, Muskularis und Serosa, in den Lungen
subpleural und im Parenchym gelegene Blutungen konstatiert
werden. Die anderen Organe zeigten keine auffällige]i histo¬
logischen Veränderungen.
Die zur Kontrolle der Versuche mit steriler . G ly- ,
kosebouillon geimpften Mäuse blieben sämtlich ohne
pathologische Erscheinungen; ebenso auch die Mäuse, die
mit dem Filtrate von Glykosebouillon, vermischt mit dem
Blute einer an Diplokokkenseptikämie gefallenen Maus, ge¬
impft wurden.
Die Versuche über die Eigenschaften des in Betracht
kommenden Giftes, sowie Versuche über die Immunität, sind
noch nicht abgeschlossen.
Wien, 22. Februar 1907.
Ueber pathologische Magenschleimabsonderung.
(Ein Beitrag zur Diagnostik und Therapie des
chronischen Magenkatarrhs.)
Von Privatdozent I>r. Emil Schütz in Wien.
Zur Zeit, als die Diagnostik der Magenkrankheiten
sich noch in ihren Anfangsstadien befand, bestand der
Brauch, Dyspepsien der verschiedensten Art als Folge einer
katarrhalischen Erkrankung des Magens anzusehen und dem¬
gemäß zählte der Magenkatarrh zu den am häufigsten dia¬
gnostizierten Erkrankungen.
Diese Anschauung gründete sich zum Teil auf die alte,
die Magenpathologie lange Zeit beherrschende Lehre
Broussais’, sie fand später eine Stütze in der pathologisch-
anatomischen Beobachtung, welche auf das häufige Vor¬
kommen eines katarrhalischen Zustandes des Magens bei
anderweitigen Erkrankungen hinwies.
Erst als die Anwendung des Magenschlauches Eingang
in die Diagnostik fand, und hiedurch die Kenntnis der
Störungen der Viagenverdauung und ihrer Ursachen immer
mehr gefördert wurde, gelangte man zu der Erkenntnis, daß
ein primärer Magenkatarrh keineswegs zu den häufigen Vor¬
kommnissen zähle.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Trotzdem bildet der „Magenkatarrh“ noch immer einen
häufigen Lückenbüßer in der Magenpathologie und nicht
selten wird diese Diagnose auch jetzt noch ohne jeden
weiteren Anhaltspunkt, als auf Grund gewisser ätiologi¬
scher Momente oder des Vorhandenseins einer Reihe von
Symptomen gestellt, die ohne Berechtigung als bezeichnend
für das Bild des chronischen Magenkatarrhs angeführt zu
werden pflegen ; endlich auch per exclusionem gemäß einem
früheren Vorschläge Leuhes,^) dem später auch Riegel“)
unter Hinzufügung einer Klausel heipflichtete. Leu he
empfahl seinerzeit, sich erst dann mit der Diagnose „Magen¬
katarrh“ zu begnügen, wenn andere mit Dyspepsie einher¬
gehende chronische Erkrank nngen mit annähernder Sicher¬
heit ausgeschlossen werden können; und Riegel forderte,
daß dieser Ausschluß mittels der modernen diagnostischen
Hilfsmittel, nicht aber, wie vordem, bloß auf Grund sub¬
jektiver Symptome erfolgen müsse. Negative Anhaltspunkte
sind aber, wie jedermann weiß , namentlich für Erkran¬
kungen mit anatomischer Grundlage nicht hinreichend ; hiezu
bedarf es — und dies gilt für die Erkrankungen des Magens
ganz besonders — positiver Merkmale. Als ein solches
ist aber für den Magenkatarrh die gesteigerte Schleimabson¬
derung zu betrachten, deren Nachweis selbstverständlich
nur durch die Prüfung des Mageninhaltes ermöglicht wird.
Im Hinblick auf das anatomische Verhalten der Magen-
schleimhauL wo das schleimproduzierende Oberflächen¬
epithel direkt in jenes der Drüsen übergeht, ist man viel¬
fach geneigt, den Katarrh mit einer Entzündung des Drüsen¬
parenchyms zu identifizieren und von seiten einiger Autoren
wurde sogar der Vorschlag gemacht, die Bezeichnung
,, Magenkatarrh“ gänzlich fallen zu lassen und überhaupt
nur von ,, Gastritis“ zu sprechen. Die Beteiligung des Drüsen¬
parenchyms beim Magenkatarrh ist aber eine Voraussetzung,
die keineswegs immer zu treffen muß, und tatsächlich auch
nicht immer zutrifft; erst kürzlich hat Saito^) bei der
histologischen Untersuchung der Magenschleimhaut von
Hunden, bei denen er experimentell durch Aetzung mit
Alkohol und Argentum nitricum einen chronischen Magen¬
katarrh mit vermehrter Schleimbildung erzeugt hatte, nur
ganz oberflächliche Veränderungen gefunden. Es liegt also
vom anatomischen Standpunkte keine Veranlassung vor,
den Begriff ,, Magenkatarrh“ zu eliminieren.
Die klinische Diagnose ,, Gastritis“ anderseits gründet
sich — wie bereits erwähnt — vielfach auf das Vor¬
handensein von Symptomen, welche auch bei anderen
Erkrankungen des Magens beobachtet werden und da
auch die Aziditätsverhältnisse des Mageninhaltes nichts
Charakteristisches bieten, werden auch die Beobach¬
tungen immer zahlreicher, bei welchen eine klinisch
diagnostizierte ,, Gastritis“ sich mit der Zeit als Magen¬
geschwür entpuppte. Auch die Symptome, welche der Alko¬
holgastritis eigen sind, können heute nicht mehr als
Grundlage für die Diagnose einer Gastritis im allgemeinen
gelten, da wir gegenwärtig wissen, daß jene Erkrankung,
je nach ihren Stadien, unter ganz verschiedenen klini¬
schen Erscheinungen verlaufen kann, und nur in ihrer
schwersten Form gewisse Eigentümlichkeiten besitzt. Der
früher als typisch für die Alkoholgastritis angesehene Vomi-
tus matutinus ist, wie wir jetzt wissen, durchaus nicht dieser
Erkrankung eigentümlich ; es handelt sich bei diesem Sym¬
ptom bekanntlich entweder um Würgbewegungen, hervor¬
gerufen durch den Reiz des über Nacht angesammelten
und festhaftenden Sekretes der katarrhalisch erkrankten
Rachenschleimhaut, die mit reichlicher Speichelentleerung
einhergehen, oder um Erbrechen reichlich abgesonderten
und nachts verschluckten Speichels oder um stagnierende
Speisereste oder endlich urn Entleerung reinen Magensaftes
als Folge einer „Secretio continua“ ; alle diese Erscheinun¬
gen können, wie wir gegenwärtig wissen, auch bei ver¬
schiedenen anderen Krankheitsprozessen des Magens zur
Beobachtung gelangen. Ebensowenig gibt das chemische
Verhalten des Magensaftes Aufschluß nach dieser Richtung,
seitdem es bekannt ist, daß selbst bei vorgeschrittenen ana¬
tomischen Veräuderungeii am Drüsenapparat, nicht — wie
man früher allgemein angenommen hatte — eine Verniin-
derung der Azidität die notwendige Folge isl, sondern
die verschiedenartigsten Aziditätsverhältnisse Vorkommen
können.
Auch die Untersuchung von Scldeimhautstückchen, die
bei der diagnostischen Sondierung oder bei Ausspülungen
gelegentlich im Mageninhalt oder im Spülwasser vorgefunden
werden, kann, wie begreiflich, nicht als ein geeignetes Hilfs¬
mittel für die Diagnostik dieser Erkrankung angesehen
werden, da die Fälle, bei denen man solche Objekte vor¬
findet (mit Ausnahme vereinzelter Fälle von Achylie),
namentlich bei vorsichtiger Manipulation recht selten sind
und wohl niemandem zuzumuten ist, eine Losreißung der
Schleimhaut durch ein brüskes Vorgehen oder irgendein
anderes Verfahren zu erzwingen; und selbst wenn, wie erst
vor kurzem von verschiedenen Seiten angenommen worden
ist, eine solche Herausbeförderung von Gewebspartikelchen
häufig gelänge, wäre damit für die Diagnose der Gastritis nur
wenig gewonnen, da solche. Objekte doch immer nur einen
verschwindend kleinen Abschnitt der Schleimhautoberfläche
darstellen, dessen Beschaffenheit keinen bestimmten Schluß
auf Fehlen oder Ausbreitung einer pathologischen Verände¬
rung in den übrigen Schleimhautregionen zuläßt.
Als einzigen Anhaltspunkt für die Diagnose ,, Magen¬
katarrh“ können wir sonach bloß den Nachweis einer krank¬
haft gesteigerten Absonderung des Magenschleimes ansehen ;
ob und in welchem Grade hiebei das Drüsenparenchym
miterkrankt ist, dafür fehlen uns sichere Anhaltspunkte;
schon aus diesem Grunde wird es vom klinischen Stand¬
punkt zweckmäßiger sein, sich auf die Bezeichnung ,, Magen¬
katarrh“ für solche Fälle zu beschränken.
Bevor wir jedoch eine gesteigerte Magenschleimproduk¬
tion als Kennzeichen einer Erkrankung der Magenschleim¬
haut ansehen, wäre noch die Frage in Erwägupg zu ziehen,
ob eine Schleimvermehrung nicht auch durch nervöse
Einflüsse bedingt sein könne. Während die Abhängigkeit
der Magensaftsekretion vom Nervensystem außer Frage
steht, wissen wir derzeit über dessen Einfluß auf die Magen¬
schleimabsonderung nichts Bestimmtes und es fehlt jede
Berechtigung, aus der ersteren Tatsache auf ein gleiches
Verhalten betreffs der Schleimsekretion zu schließen. Sicher
ist, daß die Absonderung beider Sekrete ganz unabhängig
voneinander vor sich gehen könne. Daß aber der Nerven¬
einfluß bei der Schleimabsonderung des Magens entweder
gar keine oder nur eine untergeordnete Rolle spiele, dafür
sprechen nicht bloß -klinische Erfahrungen, sondern auch
experimentelle Beobachtmigen an anderen Schleimhäuten;
so habe ich^) schon vor längerer Zeit bei Versuchen, die
ich über die Wirkung örtlich sekretionshemmender und be¬
fördernder Stoffe an der Eroschhaut, deren Drüsen zum
größten Teile aus Schleimdrüsen bestehen, anstellte, weder
bei Ausschaltung der Nerven und Gefäße, noch nach Atropin¬
injektion eine nennenswerte Herabsetzung der Schleim¬
sekretion beobachten können; und in allerneuester Zeit
sind Bickel,^) Kast*^) undPewsner^) durch Experimente
am Magen von Hunden, die nach der Pawlow sehen Me¬
thode operiert wurden, gleichfalls zu Ergebnissen gelangt,
welche eine Abhängigkeit der Schleimsekretion des Magens
vom Nervensystem unwahrscheinlich machen. Pewsner
weist gleichzeitig mit Recht darauf hin, daß die bisherigen
klinischen Beobachtungen, welche als Steigerung der Magen¬
schleimsekretion auf nervöser Basis angeführt worden sind,
ebenso wie die sog. Colica mucosa in bezug auf ihre Ent¬
stehungsursache auch eine andere Auffassung zulassen.
Alle diese Umstände sprechen dafür, daß insbesondere
eine dauernd gesteigerte Schleimabsonderung im Magen als
Folge einer krankhaften Beschaffenheit der Magenschleim¬
haut anzusehen ist.
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, stellen wir
den Satz auf, daß man znr klinischen Diagnose
,,Magenkatarrh“ nur dann l)erechtigt ist, wenn
es gelingt, den Nachweis einer gesteigerten
WIENER KLINISCHE
Ala ge ns c li 1 ei m a b so 11 (1 e ru 11 g (lurch die Unter¬
such u ii g des AI a g e 11 i n li a 1 1 e s zu er h ring e n.
ill einer vor kurzem erschienenen Ahliandlung^) habe
icli unter Berücksichtigung der bisher über das Verhalten
des Schleimes im Alageninhalt in der Literatur vorhandenen
Angaben, sowie aut Grund meiner eigenen Erfahrungen
an einem reichen Beobacht ungsmaterial alle jene Alomente
eingehend besprochen, deren Beachtung uns in die Lage
versetzt, diesen Nachweis zu liefern. Hier seien nur einige
wesentliche, diese Frage betreffende Punkte hervorgehoben.
Das wichtigste makroskopische Merkmal des fremden
(ektogenen*) Schleimes, der aus Mundhöhle, Rachen, aus
den Respirationsorganen und Oesophagus stammt, ist, daß
dieser nie mit dem festen Mageninhalt innig gemischt, son¬
dern in Form von Ballen, Klumpen, Flocken oder einer nicht
scharf begrenzten schleimigen Masse deutlich von ihm ge¬
sondert erscheint, meist an der Oberfläche des flüssigen
Inhaltes schwimmt, zuweilen findet er sich aber auch in
dem Speisebrei und selbst auf dem Grunde desselben ; auch
in der Spülflüssigkeit des nüchternen Alagens erscheint er
meist in obiger Gestalt und in* verschiedener Färbung —
gelblich, weißlich, grünlich, bräunlich, grau — je nachdem
es sich um eine Imprägnierung desselben mit Galle, Blut¬
farbstoff, Farbstoffen aus den Ingestis, Reichtum an Leuko¬
zyten oder pigmenthaltigen Zellen handelt. Noch genauere
Anhaltspunkte liefert der mikroskopische Befund, der in
solchen Objekten Pflasterepithelien aus Alundhöhle und
Speiseröhre, Leukozyten und meist gnippierte Leukozyten¬
kerne, sowie spiralige Gebilde erkennen läßt.
Der eigentliche Alagenschleim (endogener Schleim) ist
dem Speisebrei in der Regel innig beigemischt; dies erklärt
sich wohl aus der Tatsache, daß der während yler Verdauung
stärker und gleichmäßig abgesonderte Magenschleim durch
den mechanischen Akt der Verdauung mit den Ingestis
eine innige Vermengung eingeht; einen weiteren Anhalts¬
punkt dafür, daß dieser Schleim auch wirklich als Alagen¬
schleim anzusehen sei, läßt sich, wie meine Untersuchungen
gezeigt haben, aus dessen chemischem Verhalten entnehmen.
Nach Fixierung in Förrnol und Einbettung in Paraffin zeigten
nämlich Alikrotomschnitte aus dem ektogenen Schleim
nach deren Behandlung mit sog. spezifischen Schleimfarb¬
stoffen — ^ Aluzikarmin, Muchämatin, Alethylenblau, Töluidin
— deutliche Färbung, bei Anwendung des letztgenannten
Farbstoffes ausgesprochene Aletachromasie ; bei der gleichen
Behandlung des innig mit dem Speisebrei vermengten
Schleimes, dessen Einbettung eine möglichst sorlgfältige:
Trennung vom Speisebrei und Sedimentienmg in der Zentri¬
fuge vorausging, keine oder nur sehr unvollkommene Tink-
tion; insbesondere die metachromatische Färbung war nur
sehr schwach ausgesprochen, ein Verhalten, welches mit
jenem des schleimigen Inhaltes der schleimbereitenden Epi-
thelien des menschlichen Alagens übereiiistimmt.
Erwähnt sei ferner noch, daß die Untersuchung des
aus dem nüchternen Alagen gewonnenen Schleimes, selbst
jenes, der auf Grund seines sonstigen Verhaltens nicht mit
Bestimmhteit als ,,ektogener“ Schleim angesehen werden
konnte, in dieser Hinsicht recht verschiedenartige, mithin
unsichere Ergebnisse lieferte, sO' daß ich vermute, daß dieses
Resultat auf die verschieden starke Vermengung des „nüch¬
ternen“ Schleimes mit anderen Schleimarten, insbesondere
mit Speichel zurückzuführen sei. Den im nüchternen Magen
Vorgefundenen Schleim war ich somit nur dann in der
Lage als Alagenschleim zu betrachten, wenn er reichlich
abgestoßene Alagenepithelien oder deren charakteristische
Kerne, auf die besonders Ad. Schmidt®) aufmerksam ge¬
macht hat, enthielt, oder wenn er sich durch eine eigen¬
tümliche, glasige, homogene Beschaffenheit auszeichnete und
sich hie(iurch und durch die in den Flocken enthaltenen
Formelemente von verschlucktem Speichel unterscheiden
ließ. Diese letztere Art von Schleim fand ich nur bei
schwereren Erkrankungen des Alagens, insbesondere bei
*) Der Ausdruck ekto- und endogener Schleim stammt von
Pewsn er.
WOCHENSCHRIFT. 1907. Nr. 9
Karzinom, wo ich nicht selbm auch, namentlich bei Unter¬
suchung an gehärteten Schleimpräparaten, ausgesprochene
Karzinonizellen im Schleim eingebettet nachweisen konnte.
(Siehe meine zitierte Abhandlung, S. 541.) In solchen Fällen,
wo im nüchternen Alagen derartige reichliche Schleimmassen
vorgefunden wurden, zeigte in der Regel auch der Speise-
In-ei reichlichen Gehalt an Alagenschleim, während ander¬
seits im letzteren Falle der nüchterne Alagen durchaus nicht
regelmäßig auch einen vermehrten Schleimgehalt aufwies.
Diese Beobachtungen führen zu dem Schluß, daß eine ge¬
steigerte Ala ge ns chleimab Sonderung in erster
Linie durch das Verhalten des Speise breies ge¬
kennzeichnet ist, die Untersuchung sonach vor
allem auf das Verhalten des letzteren gerichtet
werden müsse.
Die A'Iethode, deren icJi mich zum Nachweise des
Schleimes im Speisebrei bediene, habe ich in der erwähnten
Arbeit ausführlich beschrieben; da ich seither weitere Er¬
fahrungen hierüber gesammelt habe, will ich es nicht unter¬
lassen, mich hier etwas eingehender mit derselben zu be¬
fassen. Vorausschicken will ich nur, daß sich meine Unter¬
suchungen am speisehaltigen Alagen ausscldießlich auf jenen
Mageninhalt beziehen, der eine Stunde nach Einnahme eines
Probefrühstückes (300 cm^ und eine Semmel von ca. 50 g)
durch Expression gewonnen wurde.
Zur Beurteilung des Schleimgehaltes im Speisebrei
eignet sich weder die bloße Besichtigung, noch das Ueber-
gießen desselben aus einem Gefäß in das andere, noch
das Erheben des Breies mittels Glasstabes; letzteres aus
dem Grunde nicht, weil die schleimige Masse von dem
glatten Stabe rasch hinabgleitet. Ich verfahre deshalb fol¬
gendermaßen : Zunächst wird der in ein zylindrisches Ge¬
fäß entleerte Alageninhalt von den oben schwimmenden
fremden Schleimbeimengungen sorgfältig befreit, dann eine
Weile stehen gelassen, bis sich der feste Anteil abgesetzt
hat ; hierauf gießt man möglichst viel von der oben stehenden
Flüssigkeit ab und untersucht nun den Speisebrei mittels
des Schleimfängers, der aus einem 20 cm langen und 2mm '
dicken Draht aus Neusilber besteht, dessen unteres Ende
in Form eines Halbkreises von 2 cm Durchmesser abge¬
bogen und an der inneren Fläche mit Einkerbungen ver¬
sehen ist, welche den Zweck haben, das allzu rasche Ab¬
gleiten des Schleimes zu verhindern. Durch Eintauchen
dieses Endes in den Brei versucht man nun diesen an ver¬
schiedenen Stellen emporzuheben; da es notwendig ist,
den Schleimfänger möglichst tief in den Brei einzutauchen,
muß bei nicht genügend reichlicher Menge des Breies ent¬
weder ein kleineres Gefäß (eventuell auch ein kleinerer
Draht) gewählt oder das Glas geneigt werden. Unter nor¬
malen Verhältnissen oder bei geringem oder mäßigem
Schleimgehalt bleiben bei dieser Alanipulation neben einigen
Speisepartikelchen nur spärliche Schleimflocken am Drahte
haften; bei gesteigertem Schleimgehalt läßt sich die schlei¬
mige Masse in großen Konvoluten aus dem Niveau des
Breies erheben; eine Verwechslung zwischen Schleim und
einfacher Quellung des festen Inhaltes (z. B. bei amylazeen-
reicher Nahrung), wie dies bei bloßer Besichtigung, beim
Neigen des Glases oder Uebergießen wohl Vorkommen kann,
ist bei dieser Art der Untersuchung ausgeschlossen.
Wichtig ist es, darauf zu achten, daß nicht fremde
Schleimbeimengungen, die sich zuweilen nicht vollständig
entfernen lassen, bei der Untersuchung störend einwirken;
der mit reichlichem Schleim innig vermengte Brei läßt
sich als eine zusammenhängende Alasse aus dem Brei
hinausheben ; zuweilen wird auch ein wiederholtes Ein¬
tauchen und Erheben des Schleimfängers jeden Zweifel
beseitigen. Zu betonen ist ferner noch, daß es notwendig
erscheint, die Untersuchung möglichst bald nach der Ent¬
nahme des Alageninhaltes vorzunehmen; denn schon nach
einigem Amrweilen (oft schon nach 15 Alinuten) kann es
namentlich bei starkem Säuregehalt Vorkommen, daß sich
der Schleim vom Brei teilweise absondert und die hie-
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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durch entstehende Ungleichmäßigkeit der Schleimbei¬
mischung die Deutlichkeil; des Ergebnisses beeinflußt.*)
Wenn es nun auch keinem Zweifel unterliegt, daß
es sich bei den geschilderten Beobachtungen um Magen¬
schleim u. zw. um eine gesteigerte Absonderung: desselben
handelt, könnte dennoch der Einwand erhoben werden, daß
diese nicht als die Folge eines pathologischen Zustandes
angesehen werden müsse, sondern wohl auch als eine wäh¬
rend der Expression des Mageninhaltes eintretende und
vielleicht durch die Sondierung, also auf mechanischem
Wege hervorgerufene Steigerung der Schleimproduktion zu
betrachten sei.
Gegen einen derartigen Einwand läßt sich folgendes
anführen :
1. Die innige Mischung des Schleimes mit dem
Speisebrei.
2. Der Umstand, daß bei Gesunden eine reichliche
Schleimbeimengung in der Regel nicht beobachtet wird.
3. Ist ein reichlicher Schleimgehalt häufig auch dort
vorhanden, wo die Prozedur der Mageninhaltsentnahme nur
wenige Sekunden in Anspruch nimmt, während anderseits
bei längerer Dauer derselben und bei starkem Würgen
durchaus nicht immer reichlicher Schleim vorhanden ist;
im letzteren Falle scheint es wohl zuweilen zu einer etwas
gesteigerten Magenschleimabsonderung zu kommen, die
sich aber in jenen Grenzen hält, die als normale anzu¬
sehen sind. Nur eine reichliche Schleimbeimengung ist
pathologisch und bildet das Substrat für die Diagnose
„Älagenkatarrh“.
4. Die sauere Reaktion, die der Magenschleim in der
Mehrzahl der Fälle besitzt, spricht gleichfalls für dessen
längeres Verweilen im sauren Mageninhalt. Untersucht
man einen schleimreichen Mageninhalt im nicht filtrierten
Zustand, sowie das Filtrat (wobei ein großer Teil des
Schleimes auf dem Filter zurückbleibt) in bezug auf die
Azidität, so findet man nur geringe Unterschiede^ die kaum
von denen eines schleimfreien, in derselben Weise geprüf¬
ten Mageninhaltes abweichen; dieses Verhalten ist nur auf
die Weise zu erklären, daß der Schleim bereits seit längerer
Zeit mit dem sauren Mageninhalt in Berührung ist und
mit ihm eine innige Mischung eingegangen ist; übrigens
vermag das Muzin zweifellos ebenso wie das Albumin die
Salzsäure zu binden. (Diese Tatsachen sprechen allerdings
auch gegen die Anschauung Pa w lows, der den Magen¬
schleim als einen die Azidität des Magensaftes wesentlich
beeinflußenden Faktor betrachtet; anderseits hat es den
Anschein, als ob der reichlich sezernierte Magenschleim
auch die Magensaftproduktion stärker anrege, wie man aus
den so oft zu beobachtenden hohen Aziditätsgraden bei
schleimhaltigem Mageninhalt entnehmen könnte.)
Auch die häufig zu beobachtende Zähigkeit des Schlei¬
mes im Mageninhalt spricht nicht für ein kurzes Verweilen
desselben im Magen, da, wie schon A. Schmidt**) gezeigt
hat, die Verdauung des Schleimes viel langsamer vor sich
geht als jene des Eiweißes.
Alle diese Umstände berechtigen uns, einen
reichlichen Gehalt des Speisebreies an Magen¬
schleim als Folge einer pathologisch gesteiger¬
ten Magenschleimabsonderung an zu sehen.
In meiner früheren Arbeit habe ich im ganzen
110 Fälle angeführt, bei deiiv^n die Untersuchung auf Magen¬
schleim im Mageninhalt in der beschriebenen Weise vor¬
genommen wurde ; ich habe nebstdem in allen diesen
Fällen auch den Schleimgehalt des nüchternen Magens
*) In einem mehrere Monate nach dem Erscheinen meiner oben
zitierten Abhandlung verötfentlichten Artikel, betitelt »Die Diagnose des
chronischen Magenkatarrhs« empfiehlt Schilling^“) für den gleichen
Zweck die Verwendung einer gekrümmten Präpariernadel. Er sagt dies¬
bezüglich; »Schütz verfährt, ähnlich wie ich, doch halte ich mein
Verfahren für evidenter.« Ich bemerke hiezu nur noch, daß ich gelegent¬
lich mannigfacher Vorversuche, auch solche mit der Präpariernadel vor¬
nahm; sie erwies sich für den genannten Zweck nicht geeignet.
**) a. a. 0.
untersucht, sowie auch das Spülwasser, welches nach Rein-
waschung des speisehaltigen Magens abfloß. Unter diesen
110 Fällen konnte ich bei 36 einen reichlichen Gehalt an
JRagenschleim im Mageninhalt nachweisen; 28 davon sind
unter der Rubrik „chronischer Magenkatarrh“ angeführt.
Bei diesen waren keinerlei Anhaltspunkte für eine ander¬
weitige anatomische Läsion des Magens vorhanden. Die
übrigen acht Fälle verteilen sich auf Magenkarzinom (sechs
Fälle), ein Fall auf Ulcus ventriculi und ein Fall auf
Carcinoma hepatis (primäres Magenkarzinom?). In den
übrigen 74 Fällen waren keine nennenswerten Schleimbei¬
mengungen im Mageninhalt vorhanden.
Im Laufe der letzten zwei Jahre (1905/1906) habe
ich bei der Untersuchung des Mageninhaltes regelmäßig
die Prüfung auf Magenschleim in der obengenannten Weise
vorgenommen;*) hiedurch gelang es mir, eine größere An¬
zahl von Fällen zu beoliachten, bei denen ich auf Grund
des Mageninhaltbefundes die Diagnose „Magenkatarrh“
stellen konnte. Die im folgenden näher besprochenen Be¬
obachtungen betrafen ausschließlich chronische, primäre Er¬
krankungen; die sekundären Erkrankungen habe ich hier
nicht einbezogen.
Sie erstrecken sich auf 87 Fälle, die sich unter 694
Patienten (meines Ambulatoriums für Magen- und Darm-
kranke im Wiener allgemeinen Krankenhause) fanden, bei
denen während des obigen Zeitraumes Mageninhaltsunter¬
suchungen vor genommen worden sind.
Da nur an einem Bruchteil der während dieser Zeit
daselbst behandelten Fälle Mageninhaltsuntersuchungen ge¬
macht worden sind, läßt sich aus obiger Zahl kein be¬
stimmter Schluß betreffs der Häufigkeit dieser Erkrankung
bei obigem Krankenmaterial ziehen; nur soviel läßt sich
hieraus entnehmen, daß solche Fälle keineswegs zu den
häufigen gehören, denn sie bilden bei meiner Beobachtung
bloß 12-5 To aller auf obige Art untersuchten Fälle. (Daß
in meiner letzten Arbeit, allerdings unter einer viel klei¬
neren Zahl von Untersuchungen, diese Ziffer fast doppelt
so groß war, liegt sicherlich zum Teil auch darin, daß
seither meine Erfahrungen betreffs dieser Untersuchungs¬
methode immer mehr zugenommen haben und ich daher
auch in der Beurteilung der Schleimbefunde vorsichtiger
geworden bin.)
Die 87 Fälle verteilen sich auf 67 Männer und
20 Frauen; da unter den 694 untersuchten Patienten sich
482 Männer und 212 Frauen befanden, so entsprechen die
obigen Zahlen einem Verhältnis von 13-5 To der Männer
und 9-4 To der Frauen. Die Häufigkeit des chronischen
Magenkatarrh ist also bei Männern um ein Erhebliches
größer als bei Frauen, welcher Umstand wohl auf den
bei ersteren vorkommendeu Mißbrauch des Alkohols und
Tabaks zu beziehen sein dürfte ; allerdings konnte nur bei
19 Fällen ein solcher Abnsus mit Sicherheit ermittelt wer¬
den. Dagegen sind fünf Fälle von Bleiintoxikation unter¬
sucht worden, von denen jeder eine katarrhalische Magen¬
erkrankung aufwies. Von anderen ätiologischen Momenten
wären zu bemerken : Zweimal vorausgegangene Lues, drei¬
mal Lungentuberkulose, drei Fälle, bei denen die Beschwer¬
den ihren Ausgangspunkt von einem Diätfehler und: ein
Fall von einem Trauma in der Magengegend! nahmen. In
den übrigen Fällen fehlte jeder ätiologische Anhaltspunkt.
Betreffs des Alters standen zwei im Alter von 10 bis
20, je 25 im Alter zwischen 20 bis 30 und 30 bis' 40,
23 zwischen 40 bis 50, 11 zwischen 50 und 60 Jahren;
ein Fall war über 60 Jahre alt.
Was die Krankheitsdauer anbelangt, sei hier er¬
wähnt, daß wir nur solche Erkrankungen zu den chroni¬
schen rechneten, bei denen eine mindestens sechswöchent¬
liche Dauer der Beschwerden vorhanden war; recht häufig
*) Die Reinwaschung des speisehaltigen Magens zum Behufe der
Untersuchung des Spülwassersauf Schleim, auf die besonders A. Schmidt
und seine Schüler Gewicht legen, habe ich bei den nachfolgenden Unter¬
suchungen unterlassen, da sie sich, wie meine früheren Untersuchungen
ergeben haben, für die vorliegende Frage bedeutungslos erwies.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 9
fanden sich Fälle, bei denen die Erkrankung seit mehreren
Jahren datierte.
Symptome; Von subjektiven Beschwerden wurden
am häufigsten Magensclmierzen und Magenkrämpfe ange¬
geben (43mal), 28mal Magendrücken, welches meist kurz
nach der Mahlzeit auftral, 40mal Brechreiz, mit oder ohne
Erbrechen, nach der Mahlzeit oder in nüchternem Zustand;
völlige Appetitlosigkeit 17mal. Aufstoßen von Gasen oder
Speisen ohne Geschmack 2inial, Sodhrennen und gaures
Aufstoßen 20mal (darunter achtmal bei Hyperazidität, zwei¬
mal bei Subazidität, achtmal hei normaler Azidität des
Mageninhaltes), Uehelkeit viermal, allgemein nicht näher
zu definierende, subjektive Magenbeschwerden dreimal. In
sechs Fällen bestanden anhaltende Diarrhöen; bei der
überwiegenden Mehrzahl war hartnäckige Obstipation vor¬
handen.
Objektiv ließ sich ferner in den meisten Fällen ver¬
schieden starke Druckempfindlichkeit, meist im Epigastrium
und in der Gegend des Pylorusteiles, nachweisen.
Wie aus dieser Zusammenstellung hervorgeht, zeigten
die Fälle keinerlei typische Symptome; Magen¬
schmerz oder Magendrücken, Druckempfindlich¬
keit des Magens, sowie Obstipation bildeten eine
nahezu r e g e 1 m ä ß i g e E r s c, h e i n u n g.
Verhalten des Mageninhaltes; Betreffs des
Schleimgehaltes des speisehaltigen Magens sei hier
auf das früher Gesagte verwiesen; ich füge hinzu, daß
überall dort, wo die Untersuchung nach kurzer Zeit wieder¬
holt wurde, der Schleimgehalt nahezu der gleiche geblieben
war. ln der Mehrzahl der Fälle wurde auch der nüchterne
]\Iagen auf seinen Gehalt an Schleim untersucht, wobei
es sich, wie bei den früheren Versuchen, zeigte, daß der
nüchterne Magen durchaus nicht regelmäßig einen ver¬
mehrten Schleimgehalt erkennen ließ; in einer Anzahl von
Fällen war nur spärlicher Schleimgehalt beobachtet worden
oder es fehlte jede Schleimheimengung. Es konnte sich
in diesen Fällen wohl kaum um ein Uehersehen des Schlei¬
mes durch mangelhafte Beimischung zum Spülwasser in¬
folge Festhaften desselben an der Wand des leeren Vlagens
gehandelt haben, da ich in jedem Falle während der Spü¬
lung durch Erschüttenmg des Magens mittels der außen
aufgelegten Hand etwaigen anhaftenden Schleim loszulösen
trachtete.
Was das sonstige Verhalten des Mageninhaltes in den
angeführten Fällen betrifft, zeigte eine Anzahl (16 Fälle)
eine Vermehrung des Mageninhaltes (120 bis 700 cm^);
wie die Untersuchung lehrte, handelt es sich in diesen
Fällen fast ebenso häufig um eine Vermehrung des festen
Inhaltes (motorische Insuffizienz), als um eine solche des
flüssigen Anteiles tHypersekretion'). 35mal war gute Chy-
mifikation, 31mal schlechte Verteilung des Semmelbreies
(einmal wechseludes Verhalten) zu beobachten. (In den
übrigen Fällen fehle:u diesbezügliche Angaben.) Dreimal
waren im nüchternen IMageji Verdauungsrückstände, vier¬
mal Magensekret in größerer Menge vorhanden.
Die mikroskopische Untersuchung des Mageninhaltes
ergab in der Mehrzahl der Fälle keine wesentliche Ab¬
weichung vom nonnalen Verhalten, doch war recht häufig
ein größerer Reichtum von Hefezelleii in Sprossung und
in Verbänden nachzuweiseii ; in vereinzelten Fällen waren
Sarzine in größerer Menge, ferner reichliche kurze Stäb¬
chen vorhanden. Das mikroskopische Verhalten des Schlei¬
mes ist bereits früher besprochen worden.
In zwei Fällen fanden sich kleine Schleimhaulslück-
clieii im Mageninhalt.
A z i d i t ä t s ve rh ä 1 t n i s s e ; In den folgenden zwei
Rubriken findet si(di eine übersichtliche Zusammenfassung
der in den Fällen der ohenstehenden Tabelle gefundenen
Aziditätswerle für .\zidität und für freie Salzsäure, nach
beslimmlen Aziditälslufen gruppiert; die den entsprechen¬
den Prozentzahlen in Klammern beigefügten Ziffern be¬
ziehen sich auf die in meiner jüngst publizierten Arbeit;
Ueber Hyperazidität, ^^) in Prozenten ausgedrücklen Häufig¬
keitsziffern der in 830 Fällen erhaltenen Aziditäten; sie
dienen als Normalwerte zum Vergleich mit den neben¬
stehenden Zahlen.
Es fand sich unter den 87 Fällen;
für A:
eine Azidität unter 20 in 1 Fall = U17o
>» » von 20—40 » 11 Fällen =:= 13-77o (13-37o)
» » 40—60 »29 » = 33-3Vo (33-37o)
. , 60—80 * 33 » = 37-97„ (28-97o)
> » » 80—100 » 13 » = 14-97o (lO-lO'Vo)
» » über 100 » — » = — % (3-37o)
Summe 87 Fälle
für freie Salzsäure:
:cÖ
‘n
a>
.S
’S
unter 20 = unter 0'077o in 15 Fällen = 167o (177o)
von 20—40 = 0-07— 0-1 5'’/,
von 40— 60 = 015— 0-227(
von 60-80 = 0'22— 0-297(
. über 80 = über 0’297(
38 » 437o (357o)
25 » =28-77o(33-67o)
5 » = 5-67o (10-47o)
4 » = 4-57o (3’17o)
Summe 87 Fälle.
Vergleicht man die gefundenen Aziditätswerte mit
den in Klammern befindlichen, sO' ergibt sich für A eine
Verringerung der Zahl der niedrigen und eine Zunahme
der höheren Aziditätswerte, während in der Rubrik für
freie Salzsäure gerade das gegenteilige Verhalten (Zunahme
der niedrigeren, Abnahme der höheren Werte) zu beobach¬
ten ist. Dieser Gegensatz in dem Verhalten der freien
Salzsäure zu jenem der Gesamtazidität beruht darauf, daß
die Differenz zwischen den W'erten für freie Salzsäure und
für Azidität in den einzelnen Fällen recht häufig eine un¬
gewöhnlich große ist; während sie hekaimtlich normaler¬
weise 15 bis 20 lieträgt, finden sich hier nicht selten
Ditferenzen von 30 und darüber. Solche erhebliche Unter¬
schiede beobachtet man (wenn man von den Fällen, wo
organische Säuren vorhanden sind, absieht) bekaimter-
inaßen häufig bei motorischer Insuffizienz, wo das längere
Verweilen der Speisen im Magen eine umfangreichere Bin-'
dung der eiweißhaltigen Stoffe und somit ein .reichlicheres
Auftreten von gebundener Salzsäure zur Folge hat; viel¬
leicht erklärt sich das häufigere Vorkommen einer solchen
Differenz heim schleimreichen Mageninhalt auch dadurch,
daß der reichliche Schleim die Salzsäure in erhöhtem Maße
zu binden vermag.
In einer größeren Anzahl von Fällen haben wir auch
Pepsinhestimmungen (nach der Methode von Hammer¬
schi a g) gemacht ; es zeigte sich hiebei keinerlei Abwei¬
chung von der Nonn, meist war Pepsin reichlich vorhanden.
Das spezifische Gewicht des Filtrates war in den meisten
Fällen recht hoch, meist über 1020. Endlich ergab die
Prüfung des Filtrates auf Amylolyse mittels der Jodjod¬
kaliprobe gewöhnlich eineji roten oder violetten Färben¬
ton, nur ausnahmsweise blieb jede Färbung aus.
Der Mageninhalt zeigt somit beim chroni¬
schen Vlagenkatarrh mit Ausnahme des reich¬
lichen Schleimgeha Ites im Speisebrei keinerlei
typische .Merkmale.
Die A z i d i t ä t V e r h ä 1 1 n i s s e sind im ganzen
ä h n 1 i c h wie hei d e r AI e h r z a h 1 der i’i h r i g e n AI a g e n-
erkrankungen; doch sind höhere Aziditätswerte
für Azidität zahlreich vertreten. Suhazidität
findet sich nur selten.
Aus den geschilderten Befunden geht hervor, daß
beim chronischen Ala genkatarrh nicht, wie man
bisher ziemlich allgemein a n g e nom m e n h a t, eine
Tendenz zur Ahnahme der Azidität besteht;
(1 a r a u s 1 ä ß t s i c h s c h ließen, d a ß d i e s e Erk r a n k u n g
keineswegs häufig, sondern nur ausnahms¬
weise mit einer tiefgreifenden Destruktion des
D r ü se n appa ra t es einhergeht. Das häufige Vorkom¬
men hoher Aziditätsgrade spricht eher dafür, daß beim
chronischen Magenkatarrh ein andauernder Reizzustand be-
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
2o6
slehl, der eine Steigej'img der JSekredüiisUUigkeil zur
Folge hat.
Daß, wie niaiiche aiiiielniieii, die Hyi)erazidi(äl einen
Magenkatarrli zur Folge Jiaben könne, (iahe icli nicht für
wahrscheinlich; die Tatsache, daß unter den von mir in
meiner erwähnten Arbeit: Ueher Hyperazidität, angeführ¬
ten 164 Fällen von Hyperazidität des Mageniidialtes sich
nur zwölf Fälle (7-9^/o) von Magenkatarrh fanden, also
relativ weniger als unter sonstigen Verhältnissen, spricht
an und für sich gegen diese Annalime. Auch der Ein¬
wand, daß der hohe Säuregehalt die Vertlauung des
Schleimes befördern könne, wodurch sich dieser leicht dem
Nachweis entziehe, winl durch jene zahlreichen, bereits
oben erwähnten ßcohachtungen entkräftet, bei denen höhere
Säurewerte mit reichlichem Schleimgehalt eiiüiergehen.
Wir gellen nun zur Besprechung der Therapie über.
Voi'her seien mir jedoch einige Bemerkungen über die Be¬
handlung der Magenerkranknngen im allgemeinen gestattet.
Die Aufstellung von Behandlnngsschemen ist nirgends
weniger angezeigt, als gerade bei Erkrankungen des Magens,
da bekanntlich auch dort, wo es sich inn pathologische
Zustände hanidelt, die auf der gleichen anatomischen oder
funktionellen Grundlage beruhen, kaum jemals ein Fall dem
anderen gleicht, sondern jeder einzelne seine Besonderheiten
darbietet, und individuelle Eigentümlichkeiten und Bedürf-
nfsse zeigt, denen bei der Behandlung Rechnung getragen
werden muß. Ganz besonders gilt dies für die bei der Be-
liandlung Viagenkranker in erster Linie in Betracht kom¬
mende diätetische Behandlung; aus diesem Grunde ist die
noch immer in den Lehrbüchern so beliebte Aufstellung von
Diätschemen für jede einzelne Erkrankungsform keineswegs
angebracht. Allgemeine diätetische Verordnungen sind
selbstverständlich für jede spezielle Erkrankung erforderlich,
aber jede einzelne Kranke bedarf eines besonderen Speise¬
zettels. Eine Ausnahme machen die akuten Erkrankungen
des VTagens, sowie das Auftreten gewisser, das Krankheits¬
bild beherrschender Komplikationen, z. B. VTagenhlntungen ;
hier ist das Schema am Platze.
Das Gesagte gilt natürlich in noch höherem Vlaße für
eine Erkrankung, welche, wie die vorliegende, keinerlei
Typus im Krankheitsbilde erkennen läßt. Die Aetiologie,
die Symptome, das individuelle Verhalten im einzelnen Fall,
sowie auch insbesondere dus Ergebnis der Vlageninhalts-
untersnchimg werden uns zur Richtschnur für unser thera¬
peutisches Vorgehen dienen.
Die ätiologische Therapie (für welche die angeführten
Fälle allerdings nur dürftige Anhaltspunkte lieferten) wird
sich auf Hintanhaltung jener Schädlichkeiten ersi recken
müssen, die in den gegebenen Fällen oder erfahmngsgemäß
einen chronischen Reizzustand der V'fagenschleimhaut unter¬
halten können (Alkohol, Tabak, starke Gewürze, mangel¬
haftes Kauen und alle in Betracht kommenden Nachteile der
gewohnten Ernährungsweise). Bei der diätetischen Therapie
wird die Art der vorhandenen Beschwerden, ihre Abhängig¬
keit von der Mahlzeit, sowie die Beschaffenheit des Magen¬
inhaltes, sein Chemismus, seine Menge, die Art der Chymi-
fikation des Speisebreies usw., ins Auge gefaßt werden
müssen. Von diesen Faktoren wird auch die Anwendung
der Alkalien, der Stomachika und Narkotika abhängig zu
machen sein; vom Gebrauche der letzteren konnte in vielen
Fällen Umgang genommen werden, da durch eine geeignete
Diät, soAvie auch durch Zuhilfenahme der Applikation
feuchter oder trockener Wärme auf die VTagengegend (even¬
tuell auch durch Anwendung von Alkalien) eine baldige
Linderung oder Beseitigung der Schmerzsymptome in der
VTehrzahl der Fälle erziel! werden konnte.
Ausspülung des Magens wurlden nur dort vorgenom¬
men, wo Gärungserscheinungen oder Verd:nnmgsrück-
slände im nüchternen VTagen nachzuweisen Avaren.
Vlit Vorliebe Amrordne ich bei der genannten Er¬
krankung den Gebrancli von Vlinerahvässern. Ich habe
dabei keinesAvegs die übrigens Amrschieden beurteilte
MTrkung dieser Wässer auf die Magensaftabsonderung
im Auge; diese Frage, welche neuerdings von meh¬
reren Seilen auf experimentellem Wege zu lösen
versiiciit AAurden ist, hat für die* geschilderle Erkrau-
kungsform Aveniger Bedeutung; in Betracht kommt hier
vielmehr die schleimlösende Wirkung des warmen alkali¬
schen AVassers (ich vei’Avende ausschließlich warmes Karls¬
bader Wasser) für jene wohl die Vlehrzahl bildenden Fälle,
bei denen die Schleimhaut des nüchternen Magens mit einer
zähen Schleimschicht bedeckt ist die ohne Zweifel auf jene
einen schädlicheji Reiz ausübt, und Aurmutlich ebenso eine
Quelle des morgendlichen Brechreizes oder Erbrechens
bildet, Avie die so häufig den Viagenkatarrh begleitende
Pharyngitis ; auch bei dieser befördert das nüchtern getrunkeiu'
Avaiane alkalische AVasser eine Wegschaffung des über Nacht
angesammelten zähen Rachenschleimes. Die Behandlung der
Pharyngitis betrachte ich überhaupt als ein Avesentliches
Frfordernis der Therapie des chronischen Viagenkatarrhs,
da anhaltender Brechreiz und Erbrecheji, Avelche Symptome
durch eine solche Komplikation häufig hervorgerufen
Averden, an und für sich einen chronischen Reizziistand
der ohnehin schon erkrankteji VlageiiAvand erzeugen können,
Avelcher für den Verlauf der Erkrankung nicht gleichgültig
sein kann. Ich stehe deshalb auch nicht an, in solchen Fällen,
selbst dort, avo eine Vlineralwasserkur aus anderen Grün¬
den kontraindiziert ist, Avie z. B. bei Stauungs- und Gärungs¬
prozessen, ein Quantum bis 200 enU (bei häuslicher Trink¬
kur) einnehnien zu lassen.
Fndlich bedarf es Avohl keiner speziellen Betonung,
daß die fast regelmäßige Obstipation eine besondere thera-
l)eutische Berücksichtigung erfordert .
Ueher den unter Einhaltung dieser Behandlungsprin¬
zipien beobachteten Krankheitsverlauf kann ich nur soviel
sagen, daß ich in einer größeren Anzahl von Fällen nicht
selten ein rasches ScliAvinden der meisten BescliAverden
feststellen komite. Die Beschränkungen, Avelche ambula-
torisclie Beobachtungen in dieser Hinsicht auferlegen, ge¬
statteten es nur in Avenigen Fällen , nach A blauf einer ge-
Avissen Zeit eine neuerliche Kontrolle des Vlageninhalts-
befundes A^orzunehmen. Ein abschließendes Urteil über
das Ergebnis einer solchen muß künftigen ITntersuchungen
Vorbehalten bleiben.
Literatur:
0 Leu be, Krankheiten des Magens. Ziemssens Handbuch der
speziellen Pathologie und Therapie 1878, Bd. 7, 2. — Riegel, Die
Erkrankungen des Magens. Nothnagels Handbuch 1897, Bd. 16, 2. Teil.
— 0 Saito, Zur pathologischen Physiologie der durch Aetzung erzeugten
S( hleimhanterkrankung des Magens. VirchoAVS Archiv 1906, Bd. 185. —
0 E. Schütz, Heber örtlich sekretionshemmende und sekretionserregende
Wirkung. Arch. f. exp. Path., Bd. 27. — ®) Bickel, Zur pathologischen
Physiologie des Magenkatarrhs. Arch. f. klin. MeV 1906, Bd. 89. —
Käst, Experimentelle Beiträge zur Wirkung des Alkohols auf den
Magen. Arch. f. Verdauungskrankh. 1906, Bd. 12, 6. — Pewsner,
Zur Frage der Schleimabsonderung im Magen. Berliner klin. Wochen¬
schrift 1907, 2 und 3. — ®) E. Schütz, Untersuchungen über den Magen-
schleitn. Arch. f. Verdauungskrankh. 1905/06, Bd. 11, Heft 5 und 6. —
®) A. Schmidt, Heber die Schleimabsonderung im Magen. Arcb. f. klin.
Medizin, Bd 57. — Schilling, Die Diagnose des chronischen
Magenkatarriis. Wiener klin. Rundschau 1906, Nr. 24. — E. Schütz,
Heber Hyperazidität. Wiener med. Wochenschr. 1906, 46 bis 49.
Aus der dermatologisch-syphilidologischen Abteilung
des k. k. Krankenhauses Wieden in Wien. (Vorstand :
Prof. Dr. S. Ehrmann.)
Zur Kenntnis des Molluscum contagiosum.
Von Dr. B. LipscliUtz.
In den folgenden Zeilen erlaube ich mir in Form einer
vorläufigen Vlitteihmg über mikrosko])is(die Unfersnclnmgen
zu berichten, die ich bei Vlollusca contagiosa des Vlensclien
seit September 1906 vorgeiiomimm habe, um bei dem axu’-
bältnismäßig seltenen Vorkommen dieser Affekt ion in unse¬
rem ambulatorischen und Krankeidiausmaterial die von mir
beol)a(dd(‘ten Tatsaclien schon j(‘tzt zu fixiei’en.
Von der AMraussetziiug ausgehend, daß • — Avie dies auch
Remlinger vor kurzer Zeit in einem interessauten Aufsatz
ausgefülirt hat — filtriei'hare und imsichtbare Vlikroorgauis-
254
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 9
men durchaus nicht identischer Natur sein müssen, hatte ich
mir vorgenommen, trotz aller bis heute vorliegenden nega¬
tiven Resultate, nochmals eine Reihe von Mollusca conta¬
giosa einer genauen mikroskopischen Untersuchung zu unter¬
werfen, dabei aber mich nicht histologischer Untersuchungs¬
methoden, sondern der für die Erforschung von Infektions¬
krankheiten klassischen Methode der Untersuchung im nati¬
ven Präparat und im gefärbten Deckglasausstrich zu be¬
dienen. Meine Voraussetzung hat durch das Auffinden
kleinster, morphologisch und tinktoriell wohl charakteri¬
sierter Gebilde im Inhalt von bisher verarbeiteten sieben
einzelnen Molluska, die ich von drei verschiedenen Personen
gewonnen hatte, Restätigung gefunden.
Was die Technik der Untersuchung betrifft, so wurde
folgendermaßen vorgegangen : Es wurde entweder das in toto
flach exzidierte Molluskum oder nur der ausgedrückte Inhalt
in einer sterilen Reibschale mit einigen Ti''opfen destillierten
Wassers oder physiologischer steriler Kochsalzlösung fein
verrieben und mit der Emulsion einerseits Untersuchungen
im nativen Präparat ausgeführt, anderseits in Alcohol ab-
solutus oder in Alcohol absolutus und Aether ana fixierte
dünnste Deckglasausstriche verschiedenen Färbungsmethö-
den unterworfen.
Die nach gewissen, weiter unten in Kürze zu erwäh¬
nenden Färbungen hergestellten Präparate zeigten überein¬
stimmend folgenden Befund ; Bei der Untersuchung mit
Zeißscher Apochromatlinse 2 mm, Apertur 1-30 und Kom¬
pensationsokular 4 findet man im ganzen Gesichtsfeld
kleinste, punktförmig erscheinende, gleich große, gut ge¬
färbte und — bei gelungener Färbung — von dem hellen
Untergrund sehr scharf sich abhebende Elemente. Bei Ver¬
wendung stärkerer Okulare (8, 12 und 18) und Lampenlicht
lassen sich dieselben näher ins Auge fassen : Man erkennt
am mikroskopischen Bilde rundliche oder auch vollkommen
kreisrunde, homogen gefärbte, de facto kugelige Gebilde, die
keinerlei Fortsätze oder Geißeln aufweisen. In der Regel
sind sie einzeln gelegen, ihre Zahl ist in gut gefärbten
Präparaten eine außerordentlich reichliche. An einzelnen
Stellen des Gesichtsfeldes sieht man ferner je zwei dieser
Gebilde dicht nebeneinander nach Art eines Diplokokkus
gelegen, wobei manchmal nur bei schärfster Einstellung
und genauester mikroskopischer Betrachtung die Auflösung
in zwei gleich große Einzelgebilde wahrnehmbar ist; endlich
sieht man, jedoch selten, auch drei Individuen reihenförmig
angeordnet. Von etwaigen Verunreinigungen des Präparates
oder Niederschlägen, die durch die gleich zu besprechende
Färbungsart oft bedingt sein können, sind die beschriebenen
Elemente sehr leicht von jedem mikroskopisch Geübten zu
differenzieren.
Die Größe eines jeden dieser gleich großen Elemente
beträgt nach genauen Messungen an gefärbten Präparaten
ca. 0-25 P im Durchmesser, also etwa mit dem Breitendurch¬
messer des kleinsten Bakteriums, des Influenzabazillus, über¬
einstimmend.
Tinktoriell sind die beschriebenen Elemente da¬
durch gekennzeichnet, daß sie durch gewöhnliche Färbun¬
gen entweder überhaupt nicht oder ungemein blaß, schatten¬
haft und in geringer Zahl, hingegen vorzüglich durch die
für die Darstellung von Geißeln verwendeten Methoden zur
Anschauung gebracht werden können. Negative Resultate
ergaben daher des öfteren, beispielsweise 10 Sekunden
langes Färben in Karbolfuchsin, 20 Minuten in Löf fl er¬
schein Methylenblau, drei Stunden in Kresylechtviolett oder
Färben in Karbolfuchsin durch Erwärmen über dem Bunsen¬
brenner. ln solchen Präparaten sieht man zwar, wie dies
eben bei der Verarlieitung eines jeden zelligen Materiales
der Fall ist, hie und da im Gesichtsfeld ein oder mehrere
Granula, die jedoch bei einiger Uebung mit den von mir
gefundenen kleinsten Gebilden nicht verwechselt werden
können. Ausgezeichnete Resultate ergab die Geißelfärbungs¬
methode nach Löffler, ferner zweistündiges Färben in
v'erdünnter G iemsa-Lösung bei 56® und schließlich als
die allerschnellste Methode das von B e n i g n e 1 1 i und G i n o
zur Darstellung von Geißeln empfohlene Färbungsverfahren
(alkoholische Gentianaviolettlösung mit Zusatz beizender
Substanzen : Tannin, Alaun und Zinksulfat). Die kleinen
Elemente sind Lei dem ersterwähnten Verfahren deutlich
bis leuchtend rot, bei dem zweiten rosarot, bei dem letzten
bläulichviolett gefärbt.
Dieselben Elemente, die im gefärbten Deckglasaus¬
strich klar und deutlich hervorgetreten, konnte ich bei in¬
tensiver Beleuchtung und genauester Untersuchung auch im
nativen Präparat auffinden, wo sie, bei halb geschlossener
Blende, als kleinste, dunkle Pünktchen erscheinen. Endlich
hatte ich Gelegenheit in einem vor kurzer Zeit untersuchten
Falle, nachdem mir die Gebilde im gefärbten Präparat schon
genauestens bekannt waren, dieselben auch im Ultramikro¬
skop (Reichert) nachzuweisen. Sie erscheinen dabei als
helle, nicht glitzernde, sondern rein weiße, rundlich kugelige,
von dem dunklen Gesichtsfeld sehr scharf sich abhebende,
in der Regel einzeln gelegene, hie und da auch zu Diplo-
fomien zusammentretende feinste Körperchen, die, was ich
besonders betonen will — und dasselbe gilt auch für das
gewöhnliche native Präparat — keine Spur von Beweg¬
lichkeit zeigen. Außer diesen Elementen, deren Zahl eine
überaus große ist, ließen sich keine weiteren Gebilde bei
der ultramikroskopischen Untersuchung wahrnehmen. Auch
möchte ich hier hinzufügen, daß sie keinerlei Aehnlichkeit
mit den lebhaft tanzenden und leicht glitzernden Körperchen
aufweisen, die wir bei der ultramikroskopischen Betrachtung
des Blutes Luetischer und Nichtluetischer häufig zu beob¬
achten Gelegenheit haben.
Diese hier beschriebenen Gebilde konnte ich bisher nur
in den Mollusca contagiosa nachweisen, während Kontroll-
untersuchungen, die ich mit Vakzine, mit Condylomata acu¬
minata und Portiokarzinomen ausführte, durchaus negativ
ausfielen. Die Zahl der Kon troll versuche ist aber bisher
noch keine sehr große und müssen daher dieselben weiter
fortgesetzt werden.
Ich habe die beschriebenen Elemente mit keiner be¬
sonderen Bezeichnung belegt und enthalte mich auch vor¬
läufig jeder Aeußerung bezüglich ihrer eventuellen Bedeu¬
tung, da wir uns damit begnügen wollen, das von uns tat¬
sächlich Beobachtete mitzuteilen; weitere Schlüsse werden
aus Untersuchungen abzuleiten sein, mit deren Ausführung
wir uns demnächst beschäftigen werden.
Schließlich erachte ich es für notwendig, um jedem
Mißverständnis vorzubeugen, hier noch anzuführen, daß nach
einem im Jänner 1907 im Bulletin de Einst. Pasteur erschie¬
nenen Referat Casagrandi bereits im Juli 1906 in einer
Arbeit (erschienen in den Boll. d. soc. tra i cultori d. Soc.
med. e inat. in Cagliari), die bisher weder in die deutsche,
noch in die französische Literatur Eingang gefunden hatte,
mitteilt, in dem durch Berkefeld-Filter, Marke W, ge¬
wonnenen Filtrat von zerriebenen Mollusca contagiosa kleine
bewegliche Körperchen nachgewiesen zu haben, die mit
gewöhnlichen Farbstoffen (Löfflers Methylenblau,
Karbolfuchsin etc.) leicht darstellbar sind und längliche
oder bimförmige Gestalt aufweisen.
Aus dieser Beschreibung C a s a g r a n d i s ergibt sich klar,
daß zwischen den von mir gefundenen Elementen und den
von diesem Autor beschriebenen nicht der geringste Zu¬
sammenhang bestehen kann.*)
Aus der Universitäts-Klinik für Geschlechts- und Haut¬
krankheiten in Wien. (Vorstand; Prof. Ernest Finger.)
lieber die Schicksale des intramuskulär
injizierten Hydrargyrum salicylicum.
Von Privatdozenten Dr. Leopold Freund, Assistenten der Klinik.
lieber den Wert und die Vorteile, welche die Behand¬
lung der Syphilis mittels Injektionen unlöslicher Qneck-
*) In einer späteren Arbeit, der ich auch Abbildungen beigeben
werde, wird die gesamte auf die Aetiologie des Molluscum contagiosum
bezugnehmende Literatur berücksichtigt werden.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
silberijräparate bietet, ist man schon seit langem einig. ;
Die Ansichten der meisten Syphilidologen hierüber spiegeln |
sich in den Worten Fingers; ,,Die Methode der Injektion I
unlöslicher Salze beruht auf dem Prinzip, größere Mengen {
unlöslicher Quecksilberverbindungen an gewissen Stellen !
im Organismus subkutan zu deponieren und nun durch
die Zirkulation die allmähliche Resorption derselben be¬
sorgen zu lassen. Die Möglichkeit, jeweils größere Mengen
des Präparates zu injizieren, von dem also auch größere,
Quantitäten zur Resorption kommen, der Umstand, daß von
dem durch die einmalige Injektion gesetzten Depot allmäh¬
lich durch längere Zeit Quecksilber aufgenommen wurde,
ermöglicht eine energischere (in vielen Fällen überraschend
schnelle, ja nach Le loir sogar brutale) Merkurialisierung
mit gleichzeitiger protrahierter Resorption, also auch größere
Remanenz des Quecksilbers in der Zirkulation. Die Mög¬
lichkeit, ein größeres Quantum auf einmal zu injizieren,
bedingt aber auch weiters die Möglichkeit, die Injektion
nicht täglich, sondern in größeren Intervallen, wöchentlich
einmal, vorzunehmen, also eine wesentliche Bequemlich¬
keit für Patient und Arzt.“
Man hält die Methode für wissenschaftlicher als die
Inimktions- und die interne Behandlung der Syphilis mit
Quecksilber, da sie eine genauere Dosierung des Medika¬
mentes gestattet; man hält sie aber auch für ener¬
gischer, weil man bei den Injektionen mit wenig viel
leistet, das heißt wegen des relativ hohen Quecksilber¬
gehaltes der unlöslichen Salze schon mit kleipen Dosen des
Mittels ausgesprochene kurative Effekte erzielt. Die Me¬
thode ist praktisch, weil man der chronischen syphilitischen
Vergiftung des Körpers in dem Quecksilberdepot ein chro¬
nisch wirksames Mittel, eine medikamentöse Reserve gegen¬
überstellt, deren gradatim erfolgende Absorption den Kör¬
per unter den Einfluß einer kontinuierlichen Merkuriali-
sation bringt.
Unentbehrlich wird die Injektionsbehandlung in jenen
Fällen, in denen die Atrien der Haut (Haarbälge, Schwei߬
drüsen) teils angeboren, teils erworben pathologische Ver¬
änderungen aufweisen und daher das Eindringen der Queck-
silberkügelcheii verhindert ist. Solches ist der Fall bei
Variolanarben,, Prurigo, Ichthyosis, Psoriasis. Hiezu kom¬
men noch die Vorteile, daß die Methode den Spitalsaufent¬
halt der Patienten abkürzt, daß sie nur wenige Interven¬
tionen des Arztes nötig macht, daß sie die Kur verbilligt,
daß sie bloß in die Hände des Arztes gelegt, ihn vom Pa¬
tienten und Wartepersonal unabhängig macht, jede List
derselben ausschließt und reinlich und unauffällig ist.
Gegenüber diesen bekannten, außerordentlichen Vor¬
zügen der Syphilistherapie mittels Injektionen unlöslicher
Quecksilberpräparate, in deren Anerkennung die meisten
Autoren übereinstimmen, haben sich auch mancherlei Be¬
denken gegen diese Methode geltend gemacht. Die Gefahr,
daß man ein unkontrollierbares Depot von Quecksilber in
den Körper bringt, welches sich unter Umständen abkapselt,
um nach langer Zeit durch irgendwelche Ursachen resorbiert
zu werden und zu schweren Intoxikationserscheinungen
Veranlassung zu geben, ist nicht wegzuleugnen. Die An¬
nahme, daß bei der Injektion unlöslicher Verbindungen dem
Organismus ganz allmählich das Quecksilber zugeRihrt und
man dadurch vor einer unvermutet 'auf tretenden Intoxika¬
tion geschützt ist, ist durchaus nicht stichhaltig, da gerade
gegenteilige Beobachtungen vorliegen, welche den Beweis
liefern, daß in Fällen, die im vorhinein ganz unberechen¬
bar sind, schon wenige Injektionen die schwersten Intoxi¬
kationserscheinungen hervorzurufen vermögen. E. Finger
hat wiederholt, wenn auch selten, Fälle beobachtet, bei
denen regelmäßig nach jeder Injektion, die am Nachmittag
vorgenommen wurde, am Abend etwas Fieber und in der
Nacht ein Anfall von Enteritis mit kolikartigen Schmerzen
und zahlreichen wässerigen, ja selbst blutigen Stuhlent¬
leerungen vorkamen, welche Anfälle am nächsten Tage
vollständig abgelaufen waren, sich aber bei der nächsten
Injektion wiederholen konnten. Es spricht dies dafür, daß
bei manchen Fällen und unter unbekannten Verhältnissen
eine raschere und reichlichere Aufnahme von Quecksilber
stattfinden muß. Auch M. v. Zeißl erwälint einen Fall,
bei dem bei vorsichtiger Injektion einer Kalomelemulsion
(er spritzte jedesmal 010 Kaloniel in der ursprünglichen
Formel Scarenzios ein) hach jeder Injektion Schwindel,
Uebelkeit, Brechreiz und Di aalioe auftraten und während
des Verlaufes der Behandlung der Kranke wesentlich ab¬
magerte. Der betreffende Mann hatte im Verlaufe von sechs
Wochen vier Injektionen, im ganzen 0-40 Kalomel, erhalten.
Die Injektionen waren am ersten und siebenten Tage der
ersten Woche, am ersten Tage der vierten und* am ersten
Tage der sechsten Woche unter antiseptischen Kautelen
mit frisch bereiteter Emulsion, in die Glutäalmuskulatur
gemacht worden. Da die oberi geschilderten Symptome nach
jeder der vier Injektionen auftraten, so ist man doch sicher
berechtigt, zu sagen, daß dieselben durch die Injektionen
veranlaßt wurden. Bei dem Kranken wurde wegen einer
14 Tage nach Abschluß der Injektionen aufgetretenen Iritis
eine Schmierkur ausgeführt, welche er anstandslos ver¬
trug. Aehnliche Beobachtungen wurden auch von anderen
Autoren gemacht. Wenngleich derartige nachteilige Folgen
der Injektionen unlöslicher Quecksilberpräparate selten und
da zumeist auf eine unrichtige Technik der Injektion oder
unzweckmäßige Wahl des Medikamentes zurückgeführt
werden können, so ist doch in Anbetracht der Tatsache, daß
die verschiedenen Individuen gegen Quecksilber verschieden
empfindlich sind, die theoretische und praktische Möglich¬
keit nicht von der Hand zu weisen, daß bei dem einen
oder anderen Individuum von einem Tage zum anderen
größere Mengen des Quecksilberdepots in seinem Körper
resorbiert würden, als zweckmäßig wäre, als der Arzt in
seinem therapeutischen Plane beabsichtigen würde.
Wir wissen nicht, i]i welchem Zeitraum das ganze
zur Injektion gelangte Quantum, wir wissen nicht, wieviel
am ersten, wieviel an den folgenden Tagen davon zur Re¬
sorption kommt. Es ist uns unbekannt, ob die Absorption
des Quecksilbers allmählich, methodisch oder ungleichmäßig,
rapid, mit einem Schlage erfolgt; wir können nicht kon¬
trollieren, ob sich das injizierte Quecksilber mit einem ent¬
zündlichen Infiltrat umgibt, sich einscheidet und in diesem
Falle vollständig nutzlos bleibt. Ohne all das zu wissen,
vertrauen wir, wie Fournier bemerkt, mit dem frommen
Wunsche, er möge damit keinen Mißbrauch treiben, dem
Körper eine tüchtige Portion Quecksilber an und überlassen
es ihm selbst, die allmähliche oder abrupte Entnahme ein¬
zelner Rationen von diesem Depot zu regeln. Ganz unbe¬
rechenbare Zufälle können den Modus der Absorption be¬
einflussen, beschleunigen oder verlangsamen, ohne daß der
Arzt bisher davon Kenntnis gehabt hätte, ohne daß er im¬
stande gewesen wäre, die Absorption nötigen Falles zu
unterbrechen.
Es hat allerdings nicht an Männern gefehlt, welche
sich alle diese Fragen vorgelegt hatten und an die Lösung
derselben heran getreten sind. Diese ist aber nur zum kleinen
Teile gelungen. Die betreffenden Arbeiten Jadassohns
und Zei sings, Wolters, Julliens, Allgeyers, Audry s
und Pezzolis befaßten sich zumeist mit der histologischen
Untersuchung menschlicher IMuskelteile, in welche 16 Tage
bis zu drei Jahren vorher die Quecksilberinjektion gemacht
worden war. Nach so langen Zeiträumen, clie seit den
Injektionen verstrichen waren, konnte selbstverständlich
über die allmählichen Wandlungen, welche die injizierten
Präparate in den Geweben erfahren hatten, wenig ermittelt
werden. Hingegen sind die anatomischen Veränderungen,
welche die injizierten unlöslichen Quecksilberpräparate im
subkutanen und im Muskelgewebe hiebei erzeugt hatten,
recht genau studiert worden und haben wir namentlich
aus der gründlichen Arbeit Pezzolis aus dem Finger
sehen Ambulatorium ein klares Bild hierüber bekommen
Aus derselben ist zu entnehmen, daß die injizierten Queck¬
silberpräparate in zweifachem Sinne örtlich wirkten ; Erstens
mechanisch, nämlich durch das gewaltsame Eindringen der
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liijekti'onsmasse nicht nur in sclion vorlumdene Spalträumc
und J^yniplibahnen, sondern auch in die Gewebe, durch
deren Auseinanderdrängung Hohlräume entstehen; zweitejis
chemisch, indem die Gewebe, welche mit der Injektions¬
masse in Berührung kamen, teils der Nekrose (wachsigen
Degeneration) anheimfielen, teils entzündliche Veränderun¬
gen (fibrinöse Exsudalion, zelliges Infiltrat, Granulations¬
gewebe) durchmachen. Von der Injektionsstelle wird die
Injektionsmasse durch Muskelkontraktionen nach rechts und
links durch die Lymphspalten getrieben und so entstehen
an Lokalisation, weit entfernt von der ersten Injektions¬
stelle, Hohlräume, welche mit der Injektionsmasse gefüllt
sind. Diese erzeugt als Fremdkörper wieder Entzündung
und an Stelle der zugrunde gegangenen Muskulatur ent¬
stehen Narben.
Fig. 1.
Chotzen fand bei der Untersuchung einer walnuf3r
großen Glutäalgeschwulst, welche nach einer vor sechs
Jahren gemachten subkutanen Injektion von Hydrargyrum-
thymolikum zurückgeblieben war, innerhalb einer mächtigen,
bindegewebigen Kapsel, welche als Endprodukt hochgradi¬
ger Entzündung zurückgeblieben war, zahlreiche einzelne
und noch in Gruppen geordnete Quecksilberthymolkristall¬
reste jener vor sechs Jahren injizierten Quecksilbermenge.
Bei Injektionsversuchen ergab sich dasselbe Bild zwischen
dem achten und vierzehnten Tage. Chotzen nimmt nach
dem mikroskopischen Bilde an, daß diese Resorptionshem-
niung in der mechanischen Kompression, sowie in der endo-
arteriellen Veränderung der subkutanen Gefäße liege.
Einige Aufschlüsse über die Schicksale injizierter un¬
löslicher Quecksilberpräparate in den Geweben geben die
Injektionsversuche Harttungs und S. Grosz’. Harttun g
gibt an, daß bei Hunden und Kaninchen, denen er intra¬
muskuläre Injektionen mit Kalomel machte, zwei bis drei
Stunden nach Einspritzung des Kalomels dieses in mehrere,
allerdings wenig räumlich getrennte Haufen, deren jeder an
seinem Platze erhebliche traumatische Verändenmgen ge¬
schaffen hatte, verteilt war. Diese Fortbewegung des In-
jektums führt Harttung auf die aktive Tätigkeit des Mus¬
kels zurück. S. Grosz hat aber bei seinen interessanten
Experimenten an der Leiche über die Wahl der richtigen
lnj(‘ktionsstelle festgestellt, daß nicht nur die aktive Muskel¬
tätigkeit den Transport des Depots besorgt, sondern auch
die lokale Beschaffenheit der Gewebe, die Schwere und
der bei der Einspritzung wirkende Druck eine Fort¬
bewegung des Injektums veranlassen können. Einen
Einblick in die Art und Weise der Resorption, ob
sie allmählich oder nur schubweise fortschreitet, gaben
aber alle diese Untersuchungen nicht; die Ergebnisse
derselben sind ferner auch noch durch den Umstand
unklarer, weil sie zumeist Gewebe betreffen, in welche zu
verschiedenen Zeiten mehrere Injektionen gemacht wurden.
Da sich überdies die beim Tiere und an der Leiche er¬
haltenen Befunde wegen der geringeren Widerstandsfähig¬
keit, welche die zarte, resp, tote Muskulatur den mechani¬
schen und chemischen Einwirkungen des injizierten Präpa¬
rates darbietet, nur mit Vorsicht für den lebenden Menschen
I
1,
Fig. 2.
anwenden lassen, ergab sich die Anregung zu weiteren
Untersuchungen, welche eine bessere Einsicht in diese nicht
ganz klaren Vorgänge verschaffen sollten.
Das Mittel, mit dem ein Einblick, wenigstens in den
Modus normal und gewöhnlich verlaufender Resorptionen
zu erreichen möglich wäre, schien mir das Röntgenverfahren
zu bieten.
Da das Quecksilber ein bedeutend höheres Atom¬
gewicht hat als die Haut, die Muskulatur und das sub¬
kutane Zellgewebe, sO' läßt es Röntgenstrahlen viel schlechter
durch als jene, es wirkt demnach schattenbildend und wir
besitzen in den Röntgenstrahlen ein Mittel, um Quecksilber
in den Geweben nachzuweisen.
Mit Hilfe dieses Verfahrens versuchte ich die Beant¬
wortung folgender Fragen :
1. Welche Form, Größe und sonstige Beschaffenheit
hat das injizierte Depot des unlöslichen Quecksilber-
präparates ?
2. Auf welchen Wegen und mit welcher Schnelligkeit
findet die Resorption des Quecksilbers statt?
3. Nach welcher Zeit ist die Resorption des Queck¬
silbers vollständig beendet?
4. Läßt sich etwas über den Chemismus der Reson^-
tion des unlöslichen Quecksilberpräparates ermitteln?
Das Mittel, um über diese Fragen Aufklärung zu be¬
kommen, boten mir Röntgenaufnahmen der injizierten
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Körperstellen, welche unmittelbar nach der Injektion, dann
mehrere Male aufeinander folgend in kleineren und grö¬
ßeren Zeitabschnitten vorgenommen wurden, um den Ver¬
lauf der Resorption verfolgen zu können. Die Untersuchun¬
gen wurden an Patienten der Klinik, welche wegen Lues
latur, sondern in den Muskelwulst der lateralen Fläche des
Oberschenkels gemacht. Hier, in der Muskulatur des Vastus
niedius des Musculus extensor cruris quadriceps bestand
die Gefahr nicht, bei der Injektion ein größeres Blutgefäß
oder einen wichtigen Nerven zu verletzen ; an dieser Lokali-
q- J
WwMgmm
wM&m
fSÄSti
Fig 3.
Fig. 4.
Quecksilberinjektionen erhielten, vorgenommen. Das in¬
jizierte Präparat, war immer das Hydrargyrum salicylicum,
suspendiert in Paraffinum liquidum im Verhältnis 1 : 10.
Aus praktischen Gründen, weil eine Röntgenaufnahme der
Olutäalmuskulatur bloß einer Seite Schwierigkeiten bietet,
wurden bei den Fällen, die zur Röntgenphotographie be¬
stimmt waren, die Injektionen nicht in die Glutäalmusku-
tät konnte aber auch das injizierte Quecksilberdepot mittels
Röntgenstrahlen (Blendenaufnahmen) leicht siclitbar ge¬
macht werden. Die Injektionen an dieser Stelle wurden
anstandslos vertragen und hatten genau dieselben thera¬
peutischen Effekte, wie entsprechende Injektionen in die
Glutäalmuskulatur. Die Untersuchungen wurden an meh¬
reren Patienten vorgenommen und gaben übereinstimmend
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Ü,jS
gleiche Resultate. Als Typus derselben möge folgendes Bei¬
spiel angeführt werden :
Am 30. April erfolgle die Injektion von 1 cni^ der
Salizylquecksilberemulsion in den rechten Oberschenkel,
selbstverständlich unter strengen aseptischen Kautelen.
Die unmittelbar nach der ii.ijektion vorgenommene ventrodor-
sale Röntgenaufnahme*) (Fig. l) zeigt uns einen von der Ober¬
fläche des Muskels schief nach innen und unten zu ziehen¬
den, dichten, an der breitesten Stelle 6 mm, im ganzen
schmalen, 60 mm langen, streifenförmigen Schatten, der
gegen das proximale Ende (der Einstichstelle zu) in eine
schiliale, lange Spitze ausläuft, gegen das distale Ende zu
sich aber verbreitet. Die seitlichen Begrenzungen dieser
Schattenfigur sind keine geraden Linien, sondern wir sehen
an der dem Knochen zugewendeten Profillinie, annähernd
in der Mitte, eine Stufe, an welcher das spitz auslaufende,
Ende scharf absetzt und der breitere Teil der Schatten¬
figur beginnt. An der der Muskeloberfläche zugekehrten
Seite zieht parallel zu der sanft geschwungenen Profillinie,
von ihr durch einen 1 mm breiten normalen Zwischenspalt
getrennt, ein zweiter, 30 mm langer und 2 bis 3 mm breiter
Schattenstreifen. Das distale Ende der ganzen Schattenfigur
ist nicht so scharf umschrieben und dichten Schatten werfend
wie die anderen Teile derselben.
Das am nächsten Tage, am 1. Mai, unter gleicher An¬
ordnung aufgenommene Radiogramm (Fig. 2) ergibt schon
wesentliche Veränderungen im Schattenbilde. Im großen
und ganzen sind die Umrisse der Figur vom vorigen Tage
noch erhalten, doch erscheint der ganze Schatten nicht
mehr gleichmäßig dicht, sondern rarefiziert. Dies ist nicht
nur an dem schmalen Parallelstreifen, der jetzt eine große
und mehrere kleinere Unterbrechungen zeigt, sowie an der
Spitze und am distalen Ende der Schattenfigur, welches
ausgefasert erscheint, besonders auffallend ausgeprägt, son¬
dern auch die Hauptmasse der ganzen Schattenfigur ist ver¬
schmälert, innerhalb derselben sind zahlreiche lichtdurch¬
lässige Lückchen und Streifchen zu erkennen. Hingegen
bemerkt man in der Umgehung der Schattenfigur, sowohl
in der Fortsetzung der Injektionsachse, als auch seitlich in
der Umgehung, bis auf eine Entfernung von 1 cm von den
Rändern der Schattenfigur, kleine punkt- und fleckenförmige
Schattengehilde, welche früher nicht vorhanden waren.
Dieses Bild der fortschreitenden Rarefaktion des In-
jektums von innen und von außen ist in den, an späteren
Tagen aufgenommenen Radiogrammen in noch höherem
Grade ausgeprägt. So zeigt das Bild vom vierten Tage nach
der Injektion eine beträchtliche Intensität und Dichte
des Schattens nur mehr im untersten Dritteile und auch
hier hat die an der Masse des Injektums nagende Resorp¬
tion schon manche Defekte erzeugt; die übrigen Teile des
Injektums liefern aber außerordentlich, dünne, stellenweise
ganz imterhrochene Silhouetten. Das seitliche Nehendepot
erscheint an diesem Tage hei der ventrodorsalen Aufnahme
nur mehr als ganz schwach angedeutete Linie.
Am neunten Tage nach der Injektion ist von der ur¬
sprünglichen Schattenfigur bis auf einen ganz undeutlichen
Fleck, entsprechend ihrem früheren distalen Ende, nichts
mehr wahrzunehmen.
Eine ganz klare Vorstellung über die Ausdehnung und
Form des Quecksilherdepots in der Muskulatur gab die
radiographische Aufnahme in ventrodorsaler Richtung allein
nicht. Denn hiebei gewann man nur Aufschlüsse über Aus¬
dehnung und Formation des Depots im frontalen Querschnitt.
Wollte ich diese Qualitäten des Injektums in bezug auf
seinen sagittalen Durchmesser kennen lernen, dann mußte
ich weitere radiographische Aufnahmen in einer auf der
früheren senkrechten Richtung vornehmen. Diese wurden
auch an verschiedenen Tagen in mediolateraler Richtung
gemacht, ln denselben zeigte sich die Schattenfigur als
*) Behufs besserer Reproduktion ließ ich die Originalpiatten ab¬
pausieren und erst die Pausen im verkleinerten Zustande reproduzieren.
Herr Prof. Brandlmayer hatte die Freundlichkeit, sich dieser Mühe
zu unterziehen, wofür ich ihm bestens danke.
ein dichtes, annähernd dreieckiges, aber nicht von geraden,
sondern von konvexen Linien begrenztes Gebilde, dessen
Scheitel an der Einstichs teile einen bald größeren, bald
kleineren, zumeist 30® großen, spitzen Winkel bildete. Die
Höhe des Dreieckes betrug gegen 60 nnn, seine Basis (das
distale Ende des Quecksilberdepots) bildete keine scharf
gezeichnete gerade Linie, sondern in dieser Gegend löste
sich die Sdiattenfigur in blässere, unregelmäßig in das Ge¬
webe hineinragende und sich daselbst auflösende Schatten-
hildungen auf (Fig. 3). Auch bei der Aufnahme in dieser
Richtung ließ sich schon nach 24 Stunden eine bedeutende
Rarefaktion des Schattenbildes erkennen ; in seinem Innern
zeigten sich große Lücken, wo die Röntgenstrahlen mangels
eines absorhierenden Mediums leicht hindurchgedrungen
waren. Diesen Aufnahmen zufolge war die Größe des
Depots am zweiten Tage sicherlich auf zirka die Hälfte
der ursprünglichen Menge reduziert. Einen noch viel
weiteren Fortschritt in der Resorption zeigte die radio-
graphische Aufnahme des Injektums am vierten Tage.
An Stelle der ursprünglichen, homogen dichten Schatten¬
figur waren nur einzelne größere oder kleinere Konkremente
zu erblicken, die in ihrer Gesamtheit die Konturen der
ursprünglichen Schattenfigur andeuteten. Am siebenten
Tage war auch letztere, aus den wenigen kleinen, an Stelle
des ursprünglichen Depots vorhandenen Schattenflecken nicht
mehr zu erschließen (Fig. 4). Vom zweiten Tage an sah man
in der Umgebung des Depots kleine bis hanfkorngroße
Flecken. Jedoch die Menge derselben zusammengehalten,
entsprach nicht der Größe der Defekte in dem Schattenbild
des Depots. Auch bei diesen Aufnahmen erschien die Re¬
sorption des Depots am neunten bis zehnten Tage abge¬
schlossen, weil die radiographischen Aufnahmen an diesen
Tagen nur mehr negative Resultate gaben.
Die bisherigen Befunde ergaben demnach, daß das
Injektionsdepot keinen ausgesprochen spindeligen Bau,
sondern, entsprechend der Nachgiebigkeit der auseinander
weichenden Muskelhündel, eher die Form einer ovalen, vom
Rande gegen die Mitte zu sich verdickenden Scheibe hat.
Diese Form bleibt aber an der von der Einstichstelle ab¬
gewendeten Seite der Schattenfigur nicht erhalten, sondern
letztere löst sich dort, wo der abnehmende Injektionsdruck
die Kohärenz der Gewebe nicht mehr vollständig zu über¬
winden und diese zum Klaffen zu bringen vermag, in weniger
opake Bestandteile auf, welche sich allmählich in die um¬
gebenden Gewebe auflösen. Schon bei der Injektion kann
es Vorkommen, daß ein Teil des Injektums sich von der
Hauptmasse loslöst, in irgendeinen leicht zugänglichen
Muskelspalt in der Umgebung gelangt und dort ein kleineres
Nebendepot bildet. Die Resorption der Injektionsdepots er¬
scheint unter normalen Verhältnissen am neunten bis
zehnten Tage nach der Injektion beendet.
Aus der Beschaffenheit der verschiedenen Schatten¬
figuren ließ sich auch einiges auf die Art und Weise, wie
die Resorption des Quecksilbers stattfindet, schließen.
Die Defekte in dem Depot können nur au? zweierlei
Weise entstehen: 1. Indem das unlösliche, schattenwerfende
Präparat noch im Depot selbst in eine die Röntgenstrahlen
durchlassende Form überführt wird, und 2., indem sich
einzelne Partikelchen des noch unveränderten Präparates
loslösen, vom Blute, Gewebssäften oder dem Lymphstrome
in die Umgebung geschwemmt werden und erst dort der
Umwandlung in eine für Röntgenstrahlen durchlässige Sub¬
stanz anheimfallen. Daß letzteres tatsächlich der Fall, ist
aus dem radiographischen Nachweise einzelner Partikel¬
chen in der Umgebung des ursprüngliclien Depots zu ent¬
nehmen. Es fragt sich nur, ob dies der einzige Modus der
Resorption isL Berücksichtigt man die Tatsache, daß schon
nach kurzer Zeit große Defekte im ursprünglichen Depot
sichtbar und daß die einzelnen vom Hauptdepot ausgewan-
derten Partikelchen sehr klein sind, so müßte man, um die
Entstehung so großer Lücken erklären zu können, annehmeti,
daß sich ununterbrochen derartige Partikelchen vom Haupt¬
depot loslösen und in rascher Aufeinanderfolge in das um-
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
209
liegende Gewehe answandern. Es müßte demnach eine um
diesen Zeitpunkt vorgenommene radiographische Aufnahme
eine große Anzahl von losgelösten Partikelchen in ver¬
schiedenen Größen, d. h. in verschiedenen Stadien der
Auflösung zeigen. Dies ist aber nicht der Fall. Die Zahl
der ausgewanderten Partikelchen in der Umgebung, welche
auf der Röntgenplatte sichtbar sind, ist im Vergleich mit
den vorhandenen Defekten auffallend klein. Berücksichtigt
man nebenbei, daß auch die Dimensionen des Injektions-
depots schnell kleiner werden, so können wir wohl mit
Berechtigung annehmen, daß neben der Ablösung von klei¬
neren Teilen des Depots und Auswanderung in die um¬
gebenden Gewebe auch die umfangreiche chemische Um¬
wandlung der Injektionsmasse im Hauptdepot selbst und ins¬
besondere an seinen Rändern an der Verkleinerung des¬
selben beteiligt ist. Wohl ist es möglich und wahrscheinlich,
daß hei ausreichender Muskeltätigkeit die Loslösung der
Partikelchen vom Hauptdepot in größerem Maße stattfindet;
in unseren Fällen fand diese äußere Beeinflussung der Re¬
sorptionsschnelligkeit nur in außerordentlich geringem Grade
statt, da die betreffenden Kranken nach der Injektion ver¬
halten wurden, das Bett zu hüten.
Es war verlockend, dem interessanten Problem von
dem Chemismus der Resorption der Quecksilbersalze auch
auf radiographischem Wege näher zu treten. Nach Mer get
dringen die bei Einreibung mit grauer Salbe sich entwickeln¬
den Quecksilberdämpfe mechanisch durch das Lungenepithel
in das Blut und mit diesem in alle Teile des Körpers, ohne
daß sie ihren ,, metallischen Zustand“ verlieren, ln dieser
Form, ,,en nature“, wirkt das Quecksilber auch auf die
Syphilis. Die Quecksilberpräparate, welche per os oder sub¬
kutan in großen Dosen eingeführt werden, wirken alle
dadurch, daß sie in Quecksilber reduziert werden. Die
lokalen Reizwirkungen der Quecksilberpräparate führt
Mer get auf die Säuren zurück, welche mit ihnen verbunden
sind oder welche durch ihre Reduktion frei werden ; ihre
Allgemeinwirkungen beruhen auf der Absorption der Chlor-
albuminate oder der des ,.Oxyalbuminates hydrargyro-
alcalins“, welche das Hämoglobin frei machen.
Bekanntlich hat mau aber auch vielfach die Darstel¬
lungen Voits akzeptiert, denen zufolge das Endschicksal
aller Quecksilberverbindungen, auch das des reinen Metalls,
nach dessen Resorption im lebenden Organismus dasselbe
ist. Alle Quecksilberverbindungen bilden in Berührung mit
den eiweißhaltigen Sekreten im Körper Quecksilberchlorid,
bzw. Quecksilberchlorid-Chlornatrium. Diese Verbindung
verhält sich dem Eiweiß gegenüber anders wie das reine
Quecksilberchlorid oder Aetzsuhlimat. Versetzt man eine
Eiweißlösung mit Aetzsuhlimat, so entsteht sofort eine Fäl¬
lung; dieselbe tritt aber nicht ein, wenn man der Eiwei߬
lösung Kochsalzlösung zugesetzt hatte. Auch löst sich der
einmal gebildete Niederschlag hei nachheriger Versetzung
mit Kochsalz oder auch mit überschüssigem Eiweiß. Es
bildet sich dabei ein lösliches Quecksilberalbuminat. Das
Quecksilberchloridalbuminat ist jedoch noch nicht als das
Endprodukt anzusehen; es ist nachgewiesen worden, daß
das Quecksilber in dem Albuminat als eine Sauerstoffver¬
bindung u. zw. als Oxyd vorhanden ist.
In der Voraussetzung, daß die erste Umwandlungsstufe
des unlöslichen Quecksilbers Quecksilberchloridnatrium sei,
machte ich folgenden Versuch, um zu ermitteln, ob sich das
Injektionspräparat in diesem Umwandlungsprodukte etwa
nachweisen ließe, oh die ermittelten Schattenfiguren
nicht etwa schon auf gebildete Umwandlungsprodukte zu
beziehen seien, ln die Wadenmuskulatur einer Leiche
wurde nebeneinander je 1 cnU folgender Flüssigkeiten in¬
jiziert: 1. 01. Paraffini, 2. Sublimatlösung 0-2:100, 3. Subli-
imatlösung 0-5:100, 4. Sublimatlösung 1:100, 5. lOToige
Salizykiuecksi Iberemulsion, 0. Wasser. Der Unterschenkel
wurde dann radiographiert. Die entwickelte Platte zeigte
nur einen hellen Spalt in der Muskulatur, entsprechend
dem 01. Paraffini und eine Injektionsfigur vorn Salizylqueck-
sillrer, welche den oben geschilderten Bildern entsprach.
Von den übrigen Injektionen war auf der Platte nichts zu
sehen. Aus diesem Befunde läßt sich der Schluß ziehen,
daß die Injektionsmasse jedenfalls nicht in eine der hier in¬
jizierten Sublimatlösungen umgewandelt zur radiographi¬
schen Aufnahme gelangte, oder falls das Uniwandlungs-
produkt eine höher konzentrierte Sublimatlösung ist, diese
sich in äußerst dünner Schichte im Gewebe befand. Auch
bei eventueller Umwandlung des metallischen Quecksilbers
in Dampfform ließen sich die minimalen Spuren des letzteren
wohl nicht radiographisch darstellen.
Wie aus unseren Bildern zu entnehmen ist, findet
normaliter in den ersten vier Tagen nach der rnjektion
die Resorption des Quecksilbers in größerem Umfange statt
als in den folgenden fünf bis sechs Tagen. Daraus ergibt
sich die praktische Schlußfolgerung, daß durch Injektionen,
welche wie gewöhnlich in Zwischenräumen von acht Tagen
gemacht werden, eine kontinuierlich anhaltende, annähernd
gleichmäßige Resorption von Quecksilber erzielt wird. Wollte
man jedoch aus irgendwelchen Gründen eine zweite Injek¬
tion erst dann verabfolgen, bis das erste Injektum vollständig
resorbiert ist, dann müßte man den Ergebnissen obiger
Untersuchungen zufolge mindestens zehn Tage nach der
ersten Injektion abwarten. Die Kontrolle, ob das hiebei
gesetzte Depot tatsächlich verschwunden ist, bietet unschwer
die radiographische Untersuchung. Durch eine solche ließen
sich eventuell auch jene seltenen Fälle kontrollieren, wo die
Resorption des Quecksilbers durch eine bindegewebige
Kapsel um das Depot herum oder durch Gefäßkompression
aufgehalten wird. Die radiographische Untersuchung wäre
aucli in jenen seltenen Fällen anzuwenden, wo- die
einmalige Injektion sehr heftige Reaktionserscheinungen zur
Folge hat.
Eine Erklärung des Umstandes, warum in solchen
Fällen die ungewöhnliche Reaktion eintritt, ob infolge einer
rascheren und reichlicheren Aufnahme des Quecksilbers oder
ob dieselbe etwa, wie angegeben wird, dadurch zustande
kommt, daß infolge einer besonderen Idiosynkrasie des In¬
dividuums die Quecksilberinjektion Fieber und die höhere
Temperatur hinwiederum eine raschere Verdampfung des
Quecksilbers bewirkt; eine Erklärung solcher Ereignisse
haben meine Untersuchungen nicht ergeben, weil in den zur
Untersuchung gelangten Fällen die Aufnahme von Queck¬
silber normal vonstatten ging.
Aus der ersten chirurgischen Klinik in Wien.
(Vorstand : Hofrat Prof. Freiherr v. Eiselsherg.)
Beiträge zur Kasuistik der Schädelstiche.
Von Dr. H. Leisclmer, Assistenten der Klinik.
Von den Verletzungen des Schädels haben Stichwunden
für den Chirurgen namentlich dann besonderes Interesse,
wenn es sich um Mitverletzung des Inhaltes der knöchernen
Kapsel handelt. Schon die Diagnose, ob eine intrakranielle
Schädigung besteht oder nicht, ist unmittelbar nach dem
Trauma oft schwer mit Sicherheit zu stellen, da die äußer¬
lich sichtbare kleine Wunde keine Schlüsse auf den Grad
der Verletzung zuläßt und die Folgen sich erst später mit
dem Heranwachsen des Blutextravasates manifestieren.
Anderseits kommt es vor, daß durch den penetrierenden
Stich keine wichtigen Zentren des Gehirns oder deren Lei¬
tungsbahnen getroffen wurden und auch größere Gefäße
intakt geblieben sind, wobei sich eine derartige Verletzung
klinisch überhaupt nicht kundtut und die Diagnose auf eine
solche intra vitam gar nicht gestellt werden kann.
Beweisend, wie geringe Folgen hie und da gewisse zirkum¬
skripte Verletzungen des Gehirnes nach sich ziehen, ist der von
Carpenter (Virchows Jahrh. 1876, II, S. 71, zitiert nach
Koliskos Lehrh. der gerichtl. Medizin) beschriebene Fall, bei
dem im Gehirn eines Geisteskranken, der sich mit Morphium
vergiftet hatte, verschiedene Gegenstände, wie Drahtstücke, ein
Nagel und eine eingefädelte Nadel vorgefunden wurden, die er
sich früher selbst ohne Folgeerscheinungen in den Schädel ein¬
gestochen hatte.
261)
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 9
Bestehen aber bei einer Scbädelstichverletzung Herd-
symptome oder Zeichen einer intrakraniellen Blutung oder
findet man Anhaltspunkte für eine sich entwickelnde Menin¬
gitis, dann wird die Ausdehnung der Verletzung wohl nie¬
mandem mehr unklar sein.
Eine andere Frage, die an den Chirurgen bei einem
derartigen Falle heran tritt, ist die, zu entscheiden, ob sich
ein Stück des gebrauchten Instrumentes oder ein Knochen¬
splitter in der Wunde befindet oder nicht. Ersteres kommt
dann meist vor, wenn das als Waffe gebrauchte Werkzeug
in einer anderen Richtung zurückgezogen wird, als es ein¬
gestochen wurde. Die bestimmte Beantwortung dieser Frage
ist von großer Wichtigkeit, einerseits bei der Beurteilung
der Infektionsgefahr, anderseits bringen im Schädelinnerii
oder im Knochen gebliebene Fremdkörper oft unangenehme
krankhafte Zustände im weiteren Leben des Patienten her¬
vor, wie die Literatur genügend beweist. Doch auch Aus¬
nahmen in diesen beiden Punkten sind bekannt.
So stellte Nicolai am XXII. Chirurgenkongreß einen Mann
vor, bei dem eine ins Gehirn eingedrungene Dunggabel keinerlei
Infektion verursachte und S c h m i d t b berichtet beispielsweise
über das Verbleiben einer Messerklinge durch 41 Jahre im Kopfe
eines Verletzten.
Und welche Mittel stehen uns bei dieser Entscheidung
zur Verfügung? Leicht ist sie in den Fällen, wo ein Stück
des Fremdkörpers in der Wunde zu sehen oder palpabel
ist, ein weiteres Hilfsmittel.bietet die Röntgenuntersuchung.
Auch aus der Intaktheit des Instrumentes können mit Vor¬
sicht Schlüsse gezogen werden. Oft wird man aber voll¬
kommen machtlos sein, sich Sicherheit über diese Komplika¬
tion zu verschaffen.
Folgender Fall, der bei der ersten Untersuchung un¬
bedeutend erschien und sich später als eine schwere Ver¬
letzung erwies, kam an der 1. chirurgischen Klinik zur
Beobachtung und Behandlung.
Der 22jährige Student W. P. geriet am 26. Februar 1906,
um 2 Uhr nachts, im berauschten Zustande mit einem ihm Un¬
bekannten in Streit und erhielt mit einem kleinen Taschenmesser
einen Stich in die rechte Schläfegegend. Er lief dem Täter un¬
gefähr 50 Schritte nach und streckte ihn mit einem Faustschlag
in den Nacken zu Boden. Um 6 Uhr früh brachten ihn zwei
Kollegen in die Klinik, wo die kleine, nicht blutende Wunde ver¬
bunden wurde und man dem Patienten vorschlug, sich daselbst
aufnehmen zu lassen, obwohl keinerlei Erscheinungen von seiten
des Gehirns zu bemerken waren. Die leichte Benommenheit schien
vom Alkoholgenuß herzurühren. Er verweigerte aber die Aufnahme
und man trug seinen Begleitern, die Mediziner waren, auf, den
Kollegen strenge zu bewachen und ihn sofort in die Klinik zu
bringen, sobald Symptome, die auf eine Hirnverletzung hindeuten,
auftreten. Um 8 Uhr stellten sich bereits heftige Kopfschmerzen
ein, die Benommenheit nahm zu, einigemal sollen kurzdauernde
Krämpfe in der linken oberen Extremität aufgetreten sein, weshalb
Pat. schon nachmittags wiederum in die Klinik eingeliefert wurde.
Die Untersuchung des mittelgroßen, kräftigen, sonst gesunden
Mannes ergab eine ungefähr 4 cm oberhalb und etwas nach vorne
vom oberen Ansatz der rechten Ohrmuschel gelegene, kaum 1 cm
lange, lineare Wunde, deren Ränder verklebt waren. Die Um¬
gebung derselben erwies sich als normal, nirgends bestand Druck¬
empfindlichkeit. Die linke Nasolahialfalte war verstrichen und der
Mundwinkel derselben Seite stand etwas tiefer als der rechte.
Die Zunge wich beim Hervorstrecken nach links ab. Die Sehnen¬
reflexe, namentlich links, waren gesteigert, sonst normaler Nerven-
befund. Die Augenuntersuchung ergab außer geringgradiger
Myopie nichts Abnormes. Auch im Ohr konnten keine patho¬
logischen Veränderungen vorgefunden werden. Erst auf wiederholt
gestellte Fragen wurde undeutlich geantwortet. Das Röntgenbild
vom Schädel zeigte normale Beschaffenheit desselben. Puls 88,
Körpertemperatur 37‘6 ; letztere stieg bis Älitternacht auf 38‘4 und
die Pulszahl sank auf 68. Die Benommenheit war im Vergleich
zur Zeit der Einlieferung bedeutend vorgeschritten. Durch Lumbal¬
punktion gewinnt man 5 cm^ rosarot gefärbte Zerebrospinal¬
flüssigkeit, deren mikroskopische Untersuchung rote Blutkörperchen,
wenig Leukozyten und Gram-positive, lanzettförmige Diplokokken
in geringer Anzahl ergibt. '•fi Ein zweiter Befund lautete auf Blut¬
bestandteile im Sediment, ohne Mikroorganismen.
') S c h mfl d t, Med. Korrespondenzbl. d. Württemberg, ärztlichen
Vereines 1900, 70. Bd., Nr. 3.
Am 27. Februar 1906 früh Trepanation (Dr. Leischner).
In leichter Narkose mit Billroth-Mischung wird die Stichwunde
ovalär Umschnitten und nach oben und rückwärts bogenförmig
verlängert, so daß nach Zurückschieben des M. temporalis und
des Periostes ein Teil des rechten Schläfebeines frei zutage liegt.
Man sieht nun daselbst, entsprechend der Hautwunde, im Knochen
einen ebenso langen, linearen Stich ohne jede Infraktion oder
Fissur. Mit dem Meißel wird dann ein ungefähr 4 cm im Durch¬
messer betragendes Stück des Schläfebeines, in dessen Mitte sich
die Verletzung befindet, entfernt. Auch an der Tabula interna
war von einer Splitterung nichts nachzuweisen. Nach sternförmiger
Erweiterung des in der Dura befindlichen Schlitzes lag die ent¬
sprechende, mit Blutkoagiila bedeckte Hirnpartie frei zutage. Man
entfernte die Gerinnsel, wobei es aus der etwas klaffenden, keil¬
förmigen Stirnwunde zu einer stärkeren Blutung kommt, die durch
Tamponade mit einem Gazestreifchen zum Stillstand gebracht
wird. Die sichtbaren Partien der Pia zeigten lebhafte Rötung.
Anlegen eines aseptischen Kompressionsverbandes. Kaum war der
Patient aufs Zimmer gebracht, kommt es zu einer stärkeren Nach-
hlutung. Beim Verhandwechsel findet man einige der Pia an¬
gehörende blutende Gefäße, die gefaßt und ligiert werden. Neuer¬
liche Tamponade der Wunde, Kompressionsverhand.
28. Februar. Höchste Temperatur 38‘2, Puls kräftig, 88.
Pat. ist sehr apathisch, spricht spontan gar nicht, reagiert nur
langsam auf Anrufen.
3. März. Tägliche Temperatur his 38. Puls stets zwischen
80 und 90. Fazialis- und Hypoglossusparese wie ante operationeni.
Sensorium etwas freier.
6. März. Temperatur unter 37, Paresen wie früher, Wunde
granulierend.
8. März. Sensorium frei, nußgroße Vorwölbung in der Mitte
der granulierenden AVundfläche. Paresen wie früher.
12. März. Kompressionsverband mit eingelegtem Schwamm.
19. März. Paresen geringgradiger.
28. März. Der Prolaps erscheint behoben, die pulsierende
Fläche liegt im Niveau der granulierenden Wunde. Epidermisierung
von den Rändern her.
31. März. Wundfläche auf die Hälfte verkleinert. Geistige
Funktionen vollständig normal. Fazialisparese eben noch ' an¬
gedeutet.
6. April. Wundfläche gänzlich mit Epithellbedeckt. Paresen
vollständig geschwunden.
13. April. Deckung des Knochendefektes mit
einer Zelluloidplatte nach Alex. Fraenkel. In
Narkose mit Billroth scher Mischung wird durch Umschneiden
und Abtragen der Weichteile der 4 cm im Durchmesser betragende
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Knochendefekt freigelegt. Einmeißeln eines Falzes in den den Defekt
hinten umgehenden Knochenrand. Vorne ist dies undurchführbar,
da der Knochen zu dünn ist. Während nun ein Assistent die
Blutstillung durch Kompression besorgt, wird eine Zelluloidplatte
passend gekrümmt und deren Ränder zugeschärft. Einige die
Platte durchsetzende Löcher sollen eine Sekret-, resp. Blut¬
ansammlung hinter derselben verhüten. Da wegen Fehlens des
Falzes an der vorderen Umrandung des Defektes die Platte nicht
fest eingepaßt werden kann, wird sie noch durch gitterförmig ge¬
legte Catgutnähte an dem umgebenden Periost befestigt. Be¬
deckung derselben mit einem der benachbarten Kopfhaut ent¬
nommenen gestielten Hautlappen. Der neuerliche Substanzverlust
kann durch Zusammenziehen der Wundränder fast völlig ge¬
schlossen werden. Aseptischer Verband.
Der weitere Wundverlauf war vollständig reaktionslos.
Am 1. Mai wurde Patient entlassen. Der Knochendefekt war
fest verschlossen. Keinerlei Beschwerden. Im Juli stellte sich Pat.
vollständig gesund wieder vor. Die Zelluloidplatto war un¬
beweglich in der rechten Schläfegegend zu tasten.
Vier Stunden nach dem erlittenen Trauma waren also
in diesem Falle noch keinerlei Erscheinungen von seiten
der penetrierenden Schädelverletzung bemerkbar. Die leichte
Benommenheit allein konnte für eine sichere Mitverletzung
des Schädelinhaltes wohl nicht in Betracht kommen, zumal
dieselbe ebensogut auf den Alkoholgenuß oder eine gering¬
gradige Commotio cerebri zurückzuführen war. Weiters
mußte auch der Umstand in Erwägung gezogen werden, daß
der Patient der deutschen Sprache nicht vollkommen mächtig
war und vielleicht aus diesem Grunde die gestellten Fragen
nicht geläufig beantworten konnte. Erst sechs Stunden nach
dem erhaltenen Stich manifestierte sich die kortikale Läsion
durch Krämpfe in der kojitralateralen oberen Extremität,
Fazialis- und Hypoglossusparese. Von jetzt an war die Dia¬
gnose auf eine penetrierende Wunde sicher. Der Sitz uud
die Art der V^erletzung ließ sich leicht feststellen. Eine
primäre Schädigung einer motorischen Region oder deren
Leitungsbahnen konnte ausgeschlossen werden, da die Sym¬
ptome erst spät nach dem Trauma auftraten, eine Impression
des Knochens war nach dem Palpationshefund kaum an¬
zunehmen und an eine Verletzung eines größeren Gefäßes
oder gar der Arteria meningea media war nicht zu denken,
es wäre dann gewiß zu stürmischeren und ausgebreiteteren
Drucksymptomen gekommen. Die allmählich auftretenden Er¬
scheinungen konnten nur durch einen langsam sich ver¬
stärkenden Druck auf eine bestimmte Hirnpartie oder durch
eine geringgradige, länger dauernde Blutung ausgelöst wer¬
den, die die Funktion derselben immer mehr und mehr
beeinträchtigte. Nach den bereits erwähnten Symptomen,
Beschränkung der Lähmung auf die Mund- und Wangen¬
äste des linken Fazialis, Parese des linken Hyppoglossus und
kurzdauernde Spasmen der linken oberen Extremität, zu
schließen, befand sich die in Mitleidenschaft gezogene Hirn¬
partie zweifelsohne im unteren Teil der rechten vorderen
Zentralwindung, wo ja bekanntlich die motorischen Zentren
für die genannten Körpergegenden einander benachbart
liegen. Uebereinstimmend damit war auch die Lokalisation
der Hautwunde am Schädel.^)
Es lautete daher die Diagnose auf zirkumskripte
intermeningeale Blutuu g in der vorderen rechten
Zentral Windung mit fazio-lingual er Monoplegie
und vorübergehendem brachialen Monospasmus.
Da keine Anhaltspunkte für einen zurückgebliebenen
Fremdkörper vorhanden waren, sah man von einem so¬
fortigen Eingriff ab. Erst das Ansteigen der Temperatur
und die immer mehr und mehr zunehmende Benommen¬
heit ließen den Gedanken an eine beginnende Meningitis
oder weitere Blutung aufkommen und ergaben die Indi¬
kation zur Operation. Dieselbe bestand im Debridement und
Tamponade der Hirnwunde. Die starke Gefäßinjektion der
Pia in der Umgebung der Verletzung ließ auch an eine In¬
fektion in den allerersten Stadien denken.
2) Vgl. T i 1 1 m a II n s Lehrbuch der speziellen Chirurgie, 1. Bd.,
Figur 96, S. 155.
Was den weiteren Wundverlauf anbelangt, so bot der¬
selbe nicht viel Bemerkenswertes. Das Sensorium war nach
acht Tagen vollständig frei, die Paresen schwanden inner¬
halb 37 Tagen und der drohende Hirnprolaps wurde erfolg¬
reich mit Schwammkompression verhindert, so daß nach
44 Tagen die Wunde vollständig verheilt war und der
Knochendefekt mittels Zelluloid platte geschlossen werden
konnte. Die Deckung sofort an die erste Operation anzu¬
schließen war ja wegen der geschilderten Verhältnisse un¬
möglich.
Aus der Lumbalpunktion konnten in diesem Fall, wo
ein größerer Bluterguß und eine ausgebreitete Meningitis
ausgeschlossen waren, natürlicherweise keinerlei Schlüsse
gezogen werden. Die Zerebrospinalflüssigkeit war gewiß nur
durch Blutheimengung vom Einstich rötlich gefärbt und die
in der ersten Portion gefundenen Mikroorganismen stammten
entweder von der Haut der Einstichstelle oder waren zu¬
fällige Verunreinigungen der bei der Untersuchung ge¬
brauchten Gegenstände.
Fig. 2.
Ein ähnlicher Fall kam vor mehreren Jahren im Wiener
gerichtlich-medizinischen Institut^) zur Obduktion.
Der 22jährige Schlossergehilfe J. H. geriet im trunkenen
Zustande am 17. März 1901, um 2 Uhr nachts, mit einem Fremden
in Streit, wobei ihm derselbe das Taschenmesser in die rechte
Schläfe stieß und davonlief. Der Begleiter des Verletzten zog das
Messer aus dem Schädel seines Freundes heraus und führte ihn
in ein Spital, wo man der kleinen, nicht blutenden Wunde wenig
Beachtung schenkte, eine Naht anlegte und verband. Zur Aus¬
nüchterung wurde er dann auf das Polizeikommissariat gebracht
und morgens nach Hause geschafft. Um 10 Uhr vormittags starb
er, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. (Nähere Daten
über die klinischen Erscheinungen konnte ich| nicht ermitteln.)
Bei der Obduktion fand man in der rechten Schläfegegend an der
Haargrenze ungefähr in der Mitte zwischen oberem Ohransatz
und äußerem Augenwinkel eine 14 mm lange und h bis 1 mm
breite, mit einer schwarzen Blutkruste bedeckte, scharfrandige
Wunde. Entsprechend derselben erschien das Unterhautzellgewebe
und der M. temporalis in etwa fünfkronenstückgroßem Umfang
durch Blutaustritt schwärzlich gefärbt und im letzteren ein 14 mm
Für die Ueberlassung der Protokolle und des Präparats bin ich
Herrn Prof. K o 1 i s k o zu großem Dank verpflichtet.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 9
■* *T
langer, klaffender Spalt. In der rechten Schläfebeinschuppe
fand sich eine keilförmig gestaltete Lücke, die den Knochen
scharf ohne jede Splitterung durchsetzte und in die das Messer,
mit dem der Stich geführt wurde, vollständig einpaßte (Fig. 1 und 2).
Durch diesen Knochenspalt gelangte man in eine ungefähr hühnerei¬
große, mit Blutgerinnseln ausgefüllte Höhle des rechten Schläfe¬
lappens, die teils von zertrümmerter, dicht von kleinen Blutungen
durchsetzter Hirnsubstanz, teils von den Windungen der Fossa
Sylvii begrenzt war. Dieselbe reichte bis an das rechte Seiten¬
horn, wo sich eine Kommunikation mit der Hirnkammer knapp
hinter dem Sehhügel fand. Der vierte Ventrikel und der Aquae¬
ductus Sylvii waren mit geronnenem Blut erfüllt.
Es war hier ein als Waffe gebrauchtes Taschenmesser
diircli die rechte Schläfe lief in das Gehirn eingedrungen,
der Grad der Verletzung nicht erkannt worden und infolge
Gefäßverletzung an den Hirnhäuten und in der Hirnsuhstanz
kam es zu einer umfangreichen Blutung, die Bewußtseins¬
verlust und den Tod nach acht Stunden herbeiführte.
Man ersieht also aus diesen Fällen, wie schwer es
oft ist, eine sichere Diagnose auf penetrierende Schädel¬
verletzung zu stellen. Im ersten Fall wurde bei der ersten
Untersuchung eine solche nur vermutet und erst nach einigen
Stunden bestätigte sich der Verdacht, bei dem zweiten
Patienten wurde die Bewußtseinsstörung ausschließlich auf
den Alkohol genuß zurückgeführt und der Verletzung gar
keine Bedeutung beigelegt. Aus alledem geht hervor,
daß gerade jene Schädelstiche mit hesonderer
Vorsicht zu heur teilen sind, hei denen anfäng¬
lich jedwede Symptome fehlen und erst die nach¬
trägliche Blutung im Bereiche des Stich kan als
gefahrbringend wird und daß der heutzutage zu¬
meist schon übliche Standpunkt gerechtfertigt
erscheint, man solle prinzipiell jede Schädel¬
verletzung unter ständiger ärztlicher Kontrolle
belassen, um sofort chirurgisch ein greifen zu
können, sobald bedrohliche Hirnerscheinungen
au f tr e te 11.
Bei beiden Verletzten handelte es sich um Stiche in
die Schläfegegend. Es ist ja dies eine Prädilektionsstelle
für Verwundungen, die im Streit beigebracht werden, denn
sie liegt erstens in der Führungsrichtung einer mit der
vollen Faust geführten Waffe, zweitens ist es in der Laien¬
welt allgemein bekannt, daß durch ein Trauma dieser Gegend
am leichtesten ein Individuum kampfunfähig gemacht werden
kann. Ich möchte daher diese beiden Fälle den typischen
Bauferverletzungen zuzählen.
Ferner sei noch über einen an der Klinik beobachteten
Fall von Stichverletzung berichtet, deren Folgen erst
während der Wundversorgung klar wurden:^)
F. M., ööjähriger Pfründner, wurde am 5. März 1904 über¬
fallen und von rückwärts in den Kopf und rechten Oberarm ge¬
stochen. Er lief dem Täter nach, ohne ihn zu erreichen. Von der
Hetlungsgesellschaft wurde der stark blutende Patient provisorisch
verbunden und in die Klinik gebracht.
Das Sensorium des mittelgroßen, mit Bronchitis und Em¬
physem behafteten Mannes war bei der Aufnahme etwas be¬
einträchtigt, so zwar, daß man ihn für leicht berauscht halten
konnte. Puls kräftig, nicht verlangsamt. Keinerlei Störungen von
seiten des Gehirns. Die Untersuchung des rechten Armes ergab
eine Stichwunde lateral vom Ansatz des M. deltoideus, 4 cm lang,
wenig blutend.
Am Schädel blutete er stark aus einer links und etwas
oberhalb der Protuberantia occipitalis gelegenen sagittalen ca. 3V2 cm
langen Wunde. Ligierung der verletzten Arter. occipital. In der
Tiefe der Verletzung erkennt man ein kreuzergroßes Knochenstück,
das so aus der Kontinuität herausgelagert ist, daß man durch
einen schmalen Spalt bis an die Dura sieht. Die Blutung daraus
war sehr gering. Im Umkreis eines Handtellers ist die Kopfhaut
durch ein Hämatom mächtig vorgewölbt. Während der Versorgung
der Weichteilwunde kommt es plötzlich zu epileptiformen An¬
fällen. Sofortige Operation in Narkose mit B i 1 1 r 0 1 h scher
Mischung (Dr. v. Haberer). Ein kreuzförmiger Schnitt erweitert
hinreichend die Hautwunde, das türflügelförmig eingedrückte
*) Der Fall wurde am 10, Juni 1904 von Dr. v. Haberer in der
k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien vorgestellt. Wiener klin. Wochenschr
1904, S 688.
Knochenstück wird gelockert und dann mit der Zange entfernt.
Die darunter befindliche Dura zeigt einen 1 cm langen Riß, aus
dem dunkles Blut in furibunder Weise quillt. Mit einer Knochen-
kneipzange wird der bestehende Schädeldefekt nach allen Seiten
erweitert, wobei die venöse Blutung immer mehr zunimmt. Die
Umstechung des nahe der Einmündung des Sinus medialis in den
Sinus transversus verletzten Sinus transversus gelingt nicht.
Kräftige Tamponade mit Vioformgaze bringt die lebensgefährliche
Blutung endlich zum Stillstand.
Obgleich die Operation nur wenige Minuten in Anspruch
nahm, war Pat. hernach sehr anämisch, erholte sich aber rasch.
Im weiteren Wundverlauf traten durch mehrere Tage
Temperatursteigerungen bis 38® auf, niemals machten sich Er¬
scheinungen von seiten der Hirnnerven bemerkbar. Am achten
Tage wurde der tamponierende Streifen entfernt ; die Wundhöhle
verkleinerte sich rasch durch reichlich wuchernde Granulationen,
so daß Pat. nach einmonatlichem Aufenthalt vollständig geheilt
entlassen werden konnte.
Durch einen gegen das Hinterhaupt mit großer Kraft
geführten Stich kam es also hier zu einer Verletzung der
Arteria occipitalis mit konsekutivem Hämatom unter der
Kopfschwarte. Weiters war durch das als Waffe gebrauchte
stark gebaute Messer (wie sich später feststellen ließ) ein
Stichbruch in der Schädelkapsel entstanden, wobei ein ein¬
gedrücktes Knochenstück den verletzten Sinus transversus
komprimierte und auf diese Weise den Blutaustritt ver¬
hinderte. Die Diagnose auf penetrierende, Schädelverletzung
war schon aus dem lokalen Befunde zu stellen, man sah ja
durch den Knochenspalt bis an die Dura mater. Eine Mit¬
verletzung des Sinus jedoch konnte nach der Lokalisation
der Wunde höchstens vermutet werden. Symptome dafür
waren keine vorhanden. Als Erklärung für die plötzlich
auftretenden epileptiformen Anfälle könnte man ein extra¬
durales Hämatom annehmen, das sich erst während der
Manipulation an der Weichteilwunde durch Lockerung des
den Sinusriß komprimierenden Knochenstückes entwickelte.
Daß in diesem Fall ein chirurgisches Eingreifen indiziert
war, kann wohl genügend begründet werden. Es handelte
sich ja um eine sicher penetrierende Kopfverletzung mit
Infektionsgefahr, weiters hatte die Untersuchung ein als
Fremdkörper anzusprechendes, deprimiertes Knochenstück
ergeben und dazu kamen noch Symptome von Hirnreizung.
Erst nach Entfernung des Knochenfragmentes zeigte sich
die Sinusverletzung, deren starke Blutung mittels Tampo¬
nade beherrscht wurde. '
Da die Aetiologie, die Gefahren und Therapie von Ver¬
letzungen des Sinus der harten Hirnhaut erst vor einigen
Jahren von Wharton®) und Luys®) auf Grund der in
der Literatur verzeichneten Fälle (WMiarton berichtet über
70, Luys über 58 derartige Verletzungen) in ausführlicher
Weise besprochen wurden, erachtete ich es für unnötig,
näher auf diese Punkte einzugehen. Allgemein will ich nur
bemerken, daß hei den bisher bekannten Sinusvsrletzungen
am häufigsten der Sinus longitudinalis betroffen wurde,
selten der Sinus transversus, wie bei unserem Patienten.
Die Prognose ist meist eine ungünstige.
Nach Wharton kamen nur 38-7Fo zur Heilung, dar¬
unter sind mehrere Patienten, bei denen kein operativer
Eingriff vorgenommen wurde. Daß Knochensplitter in der
Stichöffnung des verletzten Sinus stecken blieben und da¬
durch die gefahrbringende Blutung bis zu ihrer Extraktion
verhinderten, scheint nicht so selten vorzukommen (ich ver¬
weise auf die Fälle von Abel, Reid, Scholtz,'^) Rein¬
hold.®) Was die Therapie anbelangt, so kommt es vor
allem darauf an, der Blutung Herr zu werden. Zu diesem
Zweck wurden bisher Tamponade, Kompression durch
Fingerdruck, Einlegen von Catguthündeln, Klemmpinzetten,
die Ligatur des Sinus, seitliche Ligatur und randständige
Naht mit Seide oder Catgut (Schwartz®) angewandt. Letz-
*) Wharton, Annals of surgery 1901, July; Phil acad. of sur¬
gery 1901.
Luys, Zentralbl. f. Chir. 1901, S. 496 u. 842.
U Handbuch der praktischen Chirurgie, 1. Bd., S. 220.
*) R e i n h 0 1 d, Deutsche Zeitschr. f. Ghir., 19. Bd., S. 522.
®) Schwartz, Revue de Chirurgie, Nr. 11, 10. Nov. 1896.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
263
tere beide Verfahren sind wohl als die idealsten zu be¬
zeichnen, indem dabei eine Obliteration des Sinus vermieden
werden kann. Leider scheitert oft ihre Anwendung an der
technischen Undurchführbarkeit. Der Tamponade dagegen
gelingt die Blutstillung rasch, fast immer (nach Luys soll
sie bei Verletzungen des Längssiuus nicht stets wirksam
sein) und sie kann auch von ungeübter Hand vollzogen
werden. Ihre Schattenseite, hie und da durch Mitkom¬
pression des Gehirns lokale Drucksymptome hervorzu rufen,
wird bei ihrer momentan lebensrettenden Wirkung kaum
imstande sein, sie aus der Reihe der Behandlungsmethoden
zu verdrängen.
Was die Knochenverletzung bei Schädelstichen an¬
belangt, so ist dieselbe bekanntlich von der Form des ge¬
brauchten Werkzeuges abhängig. Nimmt das spitze Instru¬
ment bei tieferem Eindringen wenig an Umfang zu, wie
es bei den gewöhnlichen Taschenmessern der Fall ist, dann
erfolgt eine glatte Durchtrennung des Knochens ; wird es
aber rasch massiger, dann ist die Wirkung jener stumpfer
Körper ähnlich. Es kam daher bei unseren Verletzten zwei¬
mal zu einer Durchstechung des Knochens ohne jede Splitte¬
rung und einmal zu einem Stichbruch.
Bemerkungen zu dem Artikel: ,,Ein Beitrag
zur Wirkung der Wechselstrombäder bei
Arteriosklerotikern mittleren Grades^^ von
Dr. L Pöhlmann.
Von Dr. 0. v. Aufscliiiaiter, Wien-Rohitsch-Sauerbrunn.
tu Nummer 52 vom' 27. Dezember 1906 erschien obig
zitierter Aufsatz, in welchem betont wird, daß die Wechselstrom¬
bäder bei erhöhtem Blutdruck blutdruckerniedrigend wirken und
deren Gebrauch daher bei Arteriosklerosis mittleren Grades in¬
diziert erscheint. Ich habe diese Erscheinung bereits wiederholt
beobachtet und auch schriftlich niedergelegt*) und habe oft genug
Gelegenheit gehabt, Arteriosklerotiker gegen meine Ueberzeugung,
auf ausdrücklichen Wunsch des Hausarztes mit Wechselstrom¬
bädern zu behandeln.
Ich habe mich dabei nach wiederholten Versuchen unter
genauer Kontrolle der Herzarbeit darauf beschränkt, die Wechsel¬
strombäder möglichst schwach zu geben und dann, fast immer
gute subjektive Resultate bei Herabsetzung des Blutdruckes er¬
zielt. Ich habe mich bei der Erklärung dieser Tatsache nicht
von der Erwägung eines gefäßtonisierenden Einflusses leiten
lassen, sondern einfach angenommen, daß bei schwachen Strömen
nur die Körpermuskeln in Tätigkeit versetzt werden und das
Herz nicht direkt so stark beeinflußt wird.
Diese ,, passive Muskelarbeit“ bewirkt im Verein mit der
gefäßerweiternden Wirkung des warmen Bades Herabsetzung des
Blutdruckes. Wie bei der Massage werden die peripheren Wider¬
stände in der Haut (infolge der Hyperämie) und im Muskel (in¬
folge der stärkeren und leichteren Durchblutung des arbeitenden
Muskels) gemindert, das Herz kann unter günstigeren Bedingungen
arbeiten und paßt sich diesen Verhältnissen sofort in seiner
Arbeitsleistung an. Darüber hat F ranze in seiner zitierten
Arbeit ausführlich geschrieben und ist diese Wirkung des Bades
und der Massage schon bekannt.
Trotzdem halte ich dafür, daß Wechselstrombäder bei ge¬
steigertem Blutdruck zum mindestens überflüssig, eventuell sogar
gefährlich und daher zu meiden sind, sowie daß man bei diesen
Zuständen mit CO2 - Bädern viel günstigere Resultate erzielt und
bei Anwendung derselben keinerlei Gefahr zu schaden läuft.
Ausgenommen sind Arteriosklerotiker mit stark erniedrigtem
Blutdruck, wenn derselbe ein Sinken der Herztätigkeit anzeigt,
wobei Wechselstrombäder indiziert erscheinen.
Wenn aber Dr. Pöhlmann schreibt, daß ein Arterio¬
sklerotiker mit hohem Blutdruck sich beim Gebrauche von CO2-
Bädern nicht wohl fühlte, dürfte dies in äußeren Umständen,
vielleicht in der Anwendungsart liegen und müßte erst unter¬
sucht werden, ob da kein Fehler geschehen ist (eventuell zu
starke, zu lang dauernde Bäder oder Mangel von absoluter Ruhe
nach dem Bade.)
*) lieber physikalische Behandlung der Herzkrankheiten. Wiener
klin. Rundschau 1906, Nr. 31/32.
Muß ich aus irgendwelchen Gründen Wechselstrombäder
bei höherem Blutdruck anwenden, so kontrolliere icb bei jedem
Bade vor und nach demselben den Blutdruck und bleibe bei einer
Intensität des Stromes, die so gering ist, daß der Patient den
Strom kaum spürt und wobei keinesfalls der Blutdruck erhöht
wird (eventuell kann man den Strom auch in Form der drei oder
vier Zellenbäder anwenden.)
Derartige Bäder sind aber sicher von den gewöhnlichen
Wechselstrombädern different und ich möchte die Wirkung der¬
selben mit der der COg-Bäder vergleichen (welch letztere jedoch
vorzuziehen sind). Ueber die günstige Wirkung derartiger schwacher
Bäder hat Dr. Till is in der Deutschen medizinischen Wochen¬
schrift 1906, Nr. 41, geschrieben. Praktisch hat er dabei die
Erfahrung gemacht, daß so behandelte Patienten nach dem Bad
längere Zeit liegen müssen, was ja auch bei dem Gebrauch der
COg-Bäder notwendig ist.
t^eferate.
Experimentelle und klinische Untersuchungen über die
Histogenese der myeloiden Leukämie.
Von Dr. Kurt Ziegler.
Jena 1906, Gustav Fischer.
Verf. bericldet zunächst über den Ausfall von Tierversuchen,
durch welche die Frage entschieden werden sollte, wie sich das
Knochenmark verhält, wenn die Funktion des Milzgewebes aus¬
fällt, ohne daß aber das Organ selbst aus dem Körper ausgeschaltet
wird. Zur Lösung dieser Frage wurden an Mäusen, Meer¬
schweinchen und Kaninchen Röntgenbestrahlungen der Milz, in
einem Teile der Mäuseversuche auch der Lymphdrüsen, bzw. des
Knochenmarkes ausgeführt. Alle diese Versuche ergaben im we¬
sentlichen übereinstimmende Resiiltate. Sie zeigten, daß die Be¬
strahlung der Milz je nach der Dauer zu partieller oder totaler
Zerstörung der Follikel führt, woran sich eine Verödung der
Pulpastränge und eines Teiles der Pulpagefäße schließt. Da gleich¬
zeitig eine starke Abnahme der Lymphozyten im strömenden Blul
nachweisbar ist, so schließt Verf., daß die Milz offenbar die
Hauptbildungsstätte der Lymphozyten darstellt. Mit der Abnahme
der Lymphozyten geht eine Verminderung der Gesamtzahl der
Leukozyten einher. Gleichzeitig kommt es infolge der Störung
in der Milz zu einer Hyperplasie des Knochenmarkes und als
Folge derselben zu einer Ausschwemmung myelogener Elemente
in das erhalten gebliebene Milzstroma, zu einer sekundären An¬
siedlung und Vermehrung dieser Zellen daselbst, also zu einer
myeloiden Umwandlung der Milz und in weiterer Folge zu einem
Uebertritt der Myelozyten in das Blut. An die iMitteilung dieser
Versuchsergebnisse schließt Verf. den Bericht über die ,, klinisch-
histologische Untersuchung dreier Fälle myeloider Leukämie“ an.
Der erste dieser Fälle zeigte akuten Verlauf, doch erscheint es
mehr als fraglich, oh dieser Fall als akute myeloide Leukämie
aufgefaßt werden darf; ebenso ist die Identität der in diesem
Falle im Blute nachgewiesenen Zellen mit den sogenannten großen
Lymphozyten Ehrlichs nichts weniger als erwiesen und sind
daher die auf Grund dieses einen Falles ausgesprochenen An¬
sichten, sowie die kritischen Bemerkungen zu der vorliegenden
Literatur vollständig unberechtigt.
Indem Verf. seine experimentell an Mäusen, Meer¬
schweinchen und Kaninchen gewonnenen Erfahrungen mit den
Ergebnissen der Untersuchung der drei Fälle von Leukämie zu-
sannnenhält, glaubt er die Ansicht vertreten zu können, daß zur
Entstehung der myeloiden Leukämie eine Schädigung der
Milz notwendig ist, die zu einem Verlust oder funktionellen Ver¬
sagen des Follikelapparateis führt, ohne daß das Stroma und die Ge¬
fäßanordnung eine Veränderung erleiden. Infolge ,, eigenartiger, be¬
stimmter Korr<dationen“ zwischen Milz und Knochenmark kommt
es nun in letzterem zu einer vermehrten Produktion und Aus¬
schwemmung von Myelozyten, ferner zu einer Einlagerung dieser
Elemente in das verödete Milzgewebe und zu ungehemmtem Wachs¬
lum daselbst, zu einer Ueberschwemmung des Blutes mit myelo¬
iden Zellen aus Milz und Knochenmark und schließlich zu sekun¬
dären Organverändorungen. Verf. stellt weitere Untersuchungen
über das Wesen der lymphatischen Leukämie in Aussicht, indem
er einstweilen amiimmi, daß es sich bei dieser Erkrankung in
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 9
analoger Weise mn eine primäre Schädigung des Mark¬
gewebes und als Folge derselben um hyperplastische Veränderun¬
gen des lymphatischen Apparates der Milz handelt. Allerdings mu&
schon hzgl. der Ausführungen über die myeloide Leukämie gesagt
werden, daß sie mit den anatomischen Erfahrungen nicht in Ein¬
klang zu bringen sind, da die vorausgesetzte schwere Veränderung
der Milzfollikel gewiß nicht den regelmäßigen Befund, viel eher
nur eine Ausnahme bei der myeloiden Leukämie des Menschen
darstellt und daher die durch Röntgenbestrahlung bei Tieren
erzeugten Veränderungen eben der menschlichen Leukämie nicht
gleichgestellt werden dürfen.
Auf Grund der im vorstehenden referierten Anschauungen
empfiehlt der Verfasser als Therapie der myeloiden Leukämie
die Exstirpation der Milz und glaubt, daß dieselbe in manchen
Fällen nahezu vollständige Heilung zur Folge haben dürfte. Im
Gegensatz hiezu kann nach Ansicht des Verfassers bei der lym¬
phatischen Leukämie weder die Exstirpation der Milz noch die
Röntgenbestrahlung eine sichere Besserung oder Heilung bringen.
*
Karl Weigert und seine Bedeutung für die medizinische
Wissenschaft unserer Zeit.
Eine biographische Skizze von Prof. Dr. Robert Rieder.
Berlin 1906, Julius Springer.
Die Broschüre Rieders ist mehr als eine biographische
Skizze, sie beschränkt sich nicht auf eine trockene Schilderung
des Lebenslaufes und Werdeganges, Forschens und Wirkens eines
der Meister der pathologischen Anatomie, sie zeigt vielmehr, wie
die zahlreichen Arbeiten Weigerts entstanden sind und nament¬
lich, in welchem Verhältnis sie zueinander und zu den damals herr¬
schenden Anschauungen und Lehren der patliologischen Anatomie
standen, wie sie läuternd und befruchtend auf dieselben wirkten.
Dementsprechend zerfällt die anregend geschriebene Schrift in
mehrere Kapitel, die sich mit der pathologischen Histologie, <ler
allgemeinen Pathologie und Biologie, der Bakteriologie, der Neuro¬
logie und Älikrotechnik und der pathologischen Anatomie beschäf-
ligen. Im letzten Kapitel: ,,Weigert als Forscher, Lehrer und
Mensch“, widerlegt Verf. in überzeugender Weise jene Vorwürfe,
die gegen die Arbeits- und Lehrmethode Weigerts ungerecht er¬
hoben wurden und schildert mit Wärme und mit der treuen Liebe
des dankbaren Schülers den Menschen W e i g e r t, wie er gelebt und
gearbeitet und — gelitten, indem er 20 Jahre hindurch aus äußeren,
mit seinem Beruf und seinem Wirken als Forscher und Lehrer in
keinerlei Zusammenhang stehenden Gründen systematisch ül)er-
gangen wurde, indem er, obwohl einer der größten in seinem
Fache, doch niemals das angestrebte Ziel, eine Lehrkanzel für
pathologische Anatomie an einer deutschen Hochschule erreichen
konnte.
An diese ergreifende Schilderung schließt sich ein Ver¬
zeichnis von Weigerts Arbeiten (97 an Zahl) und der unter
seiner Leitung von seinen Schülern angefertigten Publikationen,
wie ein Artikel von E dinger: „Karl Weigerts Verdienste um
die Neurologie“ und ein Aufsatz von Ehrlich: „Weigerts
Verdienste um die lustologische Wissenschaft.
*
Methodik der klinischen Blutuntersuchungen.
Von Prof. Dr. Ernst Grawitz.
Dritte, vollständig neu bearbeitete und vermehrte Auflage.
Leipzig 1906, Georg T h i e m e.
Das bereits in dritter Auflage erschienene Büchlein von
Grawitz gibt eine kurz gefaßte, dabei aber ziemlich vollständige
Darstellung der Methoden, die bei der Ausführung von Blut¬
untersuchungen am Krankenbette Verwendung finden. Neben der
Art der Blutentnahme, der Untersuchung im nativen und gefärbten
Präparat Mnd einigen kurzen Angaben über die bakteriologische
Blutuntersuchung) werden auch die physikalisch-chemischen IJnter-
suchungsmethoden des Blutes dargestellt. Am Schlüsse sind die
der neuesten Auflage des Lehrbuches des Verfassers entnommenen
sechs farbigen Tafeln angefügt, die in zahlreichen, zum Teil sehr
gelungenen Abbildungen die verschiedenen Formen von roten
und weißen Rlutkör]>erchen wiedergeben. Carl Sternberg.
Aus versehiedenen Zeitsehnften.
101. (Aus der experimentell -pathologischen Abteilung des
Pathologischen Institutes der Universität in Berlin.) Ueber die
Aenderung des Magenchemis-mus nach der Gastro¬
enterostomie und den E i n f 1 u ßi dieser 0 p e r a t i o n auf
d a s U 1 k u s u n d C a r c i n o m a v e n t r i c u 1 i. Von Dr. M. Katze n-
stein, Chirurg in Berlin. An sieben Hunden wurde eine Gastro¬
enterostomie ausgeführt und sodann zahlreiche Beobachtungen
gemacht und Vereuche angestellt. Bei zwei Tieren wurde experi¬
mentell ein Ulcus jejuni erzeugt und die Salzsäurewirkung auf
diese Geschwüre studiert. Die Ergebnisse seiner Studien und
Beobachtungen faßt Verf. in folgenden Grundsätzen zusammen:
1. Bei jeder Form der Gastroenterostomie fließt Galle und Pan¬
kreassaft in den Magen ein. In der ersten Zeit nach der Operation
dauernd, später periodisch u. zw. sind bei fettloser Nahrung
Galle und Pankreassaft IV2 Stunden nach der Nahrungsaufnahme
im Magen nachweisbar; bei fettreicher NMu’ung infolge reflek¬
torischer Erregung der Absonderung dieser Säfte (wahrscheinlich
vom Magen aus) schon nach einer halben Stunde. 2. Folgen
dieses Einfließens alkalischen Darmsaftes in den sauren Mageii-
iiihali sind : Herabsetzung der Azidität infolge einer chemischen
Reaktion und außerdem einer reflektorischen Herabsetzung der
Salzsäureproduktion. Pepsin wird durch eine, wenn auch vor¬
übergehende alkalische Reaktion wirkungslos, während das Trypsin
durch eine vorübergehende saure Reaktion nur in geringer Weise
geschwächt wird. Salzsäurepepsinverdauung scheidet demnach
nach der Gastroenterostomie in höherem Grade aus. 3. Einfluß
der Gastroenterostomie auf das Ulcus ventriculi. Zur Entstehung
des Ulkus ist unter anderen Bedingungen die Salzsär;re erforder¬
lich ; sie ist der Hauptfaktor für das Bestehenbleiben des Ge¬
schwürs. Wir sind imstande, durch eine bestimmte Diät nach
der Gastroenterostomie die Salzsäure ganz auszuschalten (fett¬
reiche Kost, häufige Nahrungsaufnahme, Wasser verursachen re¬
flektorisch eine stärkere Sekretion der Galle und des Pankreas¬
saftes und einen vermehrten Zufluß dieser Säfte zum Magen)
und sind daher in der Lage, das Ulkus zur Heilung zu bringen
und die Entwicklung des auf gleicher Grundlage entstehenden
Ulcus jejuni zu verhüten. Wenn auch der Chirarg mit der Gastro¬
enterostomie kausale Therapie treibt, so sollen trotzdem nur
solche Fälle der Operation unterworfen werden, die nach langer,
sorgfältiger innerer Behandlung nicht zur Heilung gelangen. 4. Der
Einfluß der Gastroenterostomie auf das Carcinoma ventriculi ist
in erster Linie auf die Bessemng der Motilität zurückzuführen.
Die oft mehrere Jahre anhaltenden Besserungen inoperabler Kar¬
zinome sind vielleicht auf die Wirkung des in den Magen eiii-
fließenden Trypsins zurückzuführen, das vielleicht die Innen¬
oberfläche des Karzinoms verdaut und ein Stehenbleihen im
Wachstum auf einige Zeit verursacht. Versuchsweise soll daher
die Gastroenterostomie, außer beim Pyloruskarzinom, auch bei
jedem nicht melir resezierbaren Karzinom ausgeführt werden.
— (Deutsche medizin. Wochenschrift 1907, Nr. 3 und 4.) E. F.
102. Ein Fall von tödlichem Milzbrand. Patho¬
logisch-anatomische und experimentelle Untersu¬
chungen über die Pustula maligna. Von Menetrier
und Clunet. Der Patient, ein 36jähriger Kupferdreher, wurde
in der Nähe des Schlachthauses von einem fliegenartigen Insekt,
vielleicht Stomoxys calcitrans, gestochen. Es trat an der Stich¬
stelle in der rechten mittleren Halsgegend zunächst ein schmerz¬
hafter, furunkelartiger Knoten auf, am folgenden Tage entwickelte
sich ein schmerzhafles Oedem in der Umgebung des Knotens.
Bei der Aufnahme fand sich an der Stelle des Stiches eine ty¬
pische Milzbrandpustel mit schwärzlich-violettem Zentrum, von
mehreren erbsengroßen, unregelmäßig geformten Blasen umgeben.
Die Pustel bildete den Mittelpunkt eines harten, schmerzhaften,
vom Unterkiefer zum rechten Schlüsselbein reichenden Oedems.
Der Patient zeigte große Aengstlichkeit und Unrulie, der Puls
war sehr schwach und enorm beschleunigt, die Mastdarmtem¬
peralu r betrug 38“. Unter Fortschreiten des Oedems entwickelte
sich hochgradige Dyspnoe und Oligurie, der Exitus erfolgte unter
suhnormaler Temperatur im Kollaps. Die Behandlung bestand
in tiefen Kauterisationen in der Umgebung der Pustel, subkutanen
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
Injektionen von Jodtinktur, wiederholte Injektionen von künst¬
lichem Serum und einer einmaligen Injektion von 20 cm® Milz¬
brandserum. Die Züchtung von Milzbrandbazillen gelang nur
aus den um die Milzbrandpustel sitzenden Blasen und aus der
mediastinalen Oedemflüssigkeit. Die Milz war nicht vergrößert
und zeigte den bei kardialer Stauungsmilz beobachteten Reichtum
an Blut. Die Untersuchung der Milzbrandpustel ergab eine unter
der Epidermis und eine unter der Kutis sitzende Hämorrhagie,
welche sich sonst bei Milzbrandpusteln nicht erwähnt findet.
Tatsächlich scheint jedoch die Blutung infolge der enormen Ge¬
fäßerweiterung die hauptsächliche Läsion darzustellen, an welche
sich erst später Nekrose und Oedem anschließen. Auch sonst
bilden Oedeme und Hämorrhagien der inneren Organe den wicb-
tigsten Befund bei generalisierter Milzbrandinfektion. Es gelang
experimentell, eine lokale Infektion bei Meerschweineben und
Mäusen, welche an der Rückenhaut epiliert wurden, hervorzu¬
rufen, wenn ein Stückchen der Gelatinekultur auf eine der durch
einen roten Punkt gekennzeichneten Hautstellen appliziert wurde.
In einigen Fällen entwickelte sich peripheres Oedem und die
Tiere gingen nach fünf bis sieben Tagen an Septikämie zugrunde,
während nach der gewöhnlichen Methode subkutan geimpfte Tiere
innerhalb 48 Stunden zugrunde gehen. Die histologische Unter¬
suchung der experimentellen Pusteln ergab hinsichtlich des Sitzes
der Hämorrhagien, der Verteilung der Bakterien und Leukozyten,
sowie der parzellenweise auftretenden Nekrose den gleichen
Befund wie die Pustula maligna beim Menschen. — (Bull, et
Mein, de la Soc. med. des hop. de Paris 1907, Nr. 1.) a. e.
*
103. Zur Kenntnis der Psychosen der Morphium¬
abstinenz. Zugleich ein Beitrag zur Aetiologie der
A m e 11 1 i a. V on Dr. E. C h o t z e n. Die beiden von C b o t z e n
geschilderten Fälle haben das gemeinsame, daß der akute Beginn
bei körperlichem Verfall und der Verlauf, wohl auch die Dauer
der Psychose und der Ausgang in Heilung alle Charakteristika
jener Psychosen bieten, die Kraepelin als Erseböpfungspsy-
chosen bezeichnet u. zw. fielen die beiden vorliegend geschil¬
derten Fälle, bei zwei chronischen Morphinisten beobachtet, unter
die spezielle Bezeichnung Amentia. Diese Beobachtung scheint
darauf zu verweisen, daß die Analogie für die Psychosen der
Morphiumabstinenz \delfacb weniger beim Delirium tremens der
Alkoholisten, als vielmehr bei der Gruppe der Erschöpfungs¬
und der verwandten Psychosen zu suchen wäre. Wenn ange¬
nommen wurde, daß die Amentia besonders durch ilie indirekte
Wirkung der organisierten Gifte bedingt sei, so sind die hier
mitgeteilten Fälle ein Beweis dafür, daß die chemischen Gifte
dieselbe Wirkung haben. — (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
und psychisch - gerichtliche Medizin, Bd. 63, H. 6.) S.
*
104. Aus der chirurgischen Abteilung des Altonaer städti¬
schen Krankenhauses (Oberarzt Prof. Dr. F. König). Beiträge
zur pathologischen Anatomie der Appendizitis. Von
Dr. E. Franke, gewes. Assistenten. Verf. legte von zwanzig
per Operationen! und sechs per sectionem gewonnenen Wurm¬
fortsätzen (letztere stammen von Leichen, die im Leben niemals
Symptome von Appendizitis gehabt haben) Serienschnitte an,
um ein genaues pathologisch-anatomisches Bild zu erhalten über
die Entstehung, die ersten Anfänge, den Verlauf und das Ver¬
halten der Wandschichten bei WMrmfortsatzentzündung. An¬
schließend an die detaillierten Schilderungen der pathologisch-
anatomischen Befunde faßt Verf. seine Ergebnisse in ein paar
kurze, bemerkenswerte Leitsätze zusammen : Die von vielen
Autoren vorgeschlagenen komplizierten Einteilungen der Appen¬
dizitis scheinen nicht zweckmäßig zu sein. Pathologisch-anato¬
misch ist die Appendizitis in eine solche, die nur mit Erkran¬
kung der Mukosa einhergeht und in eine solche, bei der die
Wandungen mitergriffen sind, einzuteilen. Erstere Fornr ist meist
die Folge der Mitbeteiligung der Appendix an Darmkatarrhen,
wobei es infolge der für die Appendix obwaltenden Besonder¬
heiten zu einem chronischen Katarrh der Appendixmukosa kommt,
der entweder zur völligen Atrophie der Schleimhaut und zur
Obliteration oder anderseits durch Sekretretention oder Fremd¬
körper zur Usur und Geschwürsbildung führen kann. Unter¬
bleibt die glatte Ausheilung des Geschwüres, so kann es zu
Verengerungen oder zum Verschluß des Lumens an der be¬
treffenden Stelle kommen, mit langsam weiterschreitender Atrophie
der distal gelegenen Schleimhaut im Gefolge, oder es entwickelt
sich bei fortbestehender Drüsenfunktion ein Hydrops proc. vermi¬
formis. Das Geschwür kann aber auch — begünstigt wird dies
durch Fi'emdkörper, insbesondere durch Kotsteine — zur Ein¬
trittspforte der Bakterien werden und so zur Erkrankung der
Submukosa und der angrenzenden Gewebschichten führen; diese
Wendung führt dann zu der klinisch schweren Attacke, die uns
in der Regel als appendizitischer Anfall imponie.rt; man findet
aber bei jeder Appendizitis, auch bei dem im ersten Anfall,
am ersten Tage exslirpierten Wurmfortsatz, ältere, auf chroni¬
scher Erkrankung der Mukosa beruhende Veränderungen. Wichtig
erscheint ferner die wiederholt gemachte Beobachtung, daß Eite¬
rungen gerne, den submukosen Gefäßen folgend, ins Mesenterio-
lum durchbrechen und daselbst relativ häufig zur Bildung kleiner
Abszesse führen; es empfiehlt sich daher, stets möglichst
das ganze Mesen teriolum zu entfernen, um die Mög¬
lichkeit einer postoperativen Peritonitis auszuschalten, deren Ent-
• stehen aus dem infektiöses Material enthaltenden Stumpf nicht
von der Hand zu weisen ist. Die auch bei akuter Appendizitis
vorkommende Endarteriitis obliterans, die ebenso wie bei chro¬
nischer Appendizitis auch bei im ersten Anfall exslirpierten
Wurmfortsätzen wiederholt beobachtet wurde, hat ätiologisch für
die Appendizitis keine Bedeutung. — (Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie 1906, Bd. 84, H. 4 bis 6.) F. H.
*
105. Aus dem medizinisch-poliklinischen Institut der Uni¬
versität Berlin (Direktor: Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Senator).
Wirken weiße Blutkörperchen heterolytisch? Von
M. Mo;sse. Zur Beantwortung der Frage, ob Leukozyten und
Lymp'hozyten bei der Eiweißispaltung der Organe sich gleich oder
verschieden verhalten, hat Verf. Versuche in Anlehnung an die
Jakobyische Anordnung so angestellt, daß einerseits die Wir¬
kung von Knochenmarksaft, anderseits die von Lymphdrüsen-
saft auf die Spaltung von Lungengewebe untersucht wurde. Für
jeden Versuch wurden jedesmal zwei junge Hunde verwandt, die
in Morphiumcbloroformnarko'se durch Aderlaß getötet wurden.
Das Knochenmark der langen Röhrenknochen, soAvie die Lymph-
drüsen wurden mit 0-9%iger Kochsalzlösung verrieben, das Filtrat
zu einer bestimmten Menge auf gefüllt, bestimmte Teile dieser
Knochenmark- und Lymphdrüsensäfte wurden dann zum ].,ungen-
brei hinzugefügt und nach Zusatz von Chloroform und Toluol
der Heterolyse im Brutschrank bei 38° überlassen. Außerdem
wurden die gleichen Mengen Lungenbrei, sowie der Knochen¬
mark- und Lymphdrüsensäfte getrennt autolysiert. Nach 40 bis
42 Stunden wurde der Prozeß unterbrochen, die vorher ge¬
trennten Mengen von Knochenmarksaft und Lungenbrei, sowie
von Lymphdrüsensaft und Lungenbrei vereinigt, diese, soAvie die
vor der Autolyse vereinigten Mengen mit Mononatriumphosphat
enteiweißt und die Menge des nicht koagulablen Stickstoffes be¬
stimmt. Aus diesen vom Verf. genau und detailliert geschilderten
Versuchen folgt, daß Aveder Knochenmarks-, noch Lymphdrüsen¬
saft, d. h. also weder Leukozyten- noch Lymphozytensaft den
bei der Autolyse der Lunge entstehenden, nicht koagulablen Stick¬
stoff vermehrt. Weder Leukozyten noch Lymphozyten des ge¬
sunden Hundes AAurken heterolytisch. In pathologischen Fällen
mögen die Verhältnisse anders liegen. Zum Schlüsse erklärt der
Verfasser, daß seine Versuche nicht gegen die Ehrlichsche
Scheidung der Aveißen Blutkörperchen sprechen. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 5.) G.
*
106. Chirurgische Behandlung der chronischen
Kolitis. Von Ingersoll Olmsted. Verf. beschreibt AÜer Fälle
von chronischem Dickdarmkatandi verschiedener Aetiologie,
Avelche sämtlich durch Operation geheilt, bzAv. erheblich gebessert
Avurden. Beim ersten Falle wurde der Erfolg durch Exzision Amn
hohen Hämorrhoidalknoten und Behandlung einer Fissur herbei¬
geführt. Im zweiten Falle Avurde durch Kolostomie und wieder¬
holte Darmausspülungen erhebliche Besserung erzielt. Im dritten
Falle führten Kolostomie und Darmirrigationen mit Salzlösungen,
266
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 9
sowie schwachen Borax- und Lapislöisungon nur teilweise Besse¬
rung insofern herbei, als Eiter, Blut und Schleimhautfetzen aus
dem Stuhle verschwanden, die Absonderung von Schleim da¬
gegen beharrlich persistierte. Erst die Entfernung des entzün¬
deten Wurmfortsatzes führte die völlige Heilung herbei, indem
danach die starke Schleimabsonderung des Dickd;u’mes fast mit
einem Schlage auf hörte. Auch der vierte Fall kam durch Appendek¬
tomie zur völligen Heilung. Verf. gedenkt in Zukunft bei chroni¬
schen Dickdarmkatarrhen immer den Wunnfortsatz und seine
eventuelle operative Entfernung in den Kreis seiner Erwägungen
zu ziehen. — (British medical Journal, 10. November 1906.)
J. Sch.
*
107. Aus der Chirurg. Klinik der Charite Berlin (Prof. Hilde¬
brand). Heber die trau m a t i s c h e Ruptur (1 e s D' u c t ii s
hepaticus. Von Dr. Hildebrandt, Assistenzarzt tier Klinik.
Verf. berichtet über ein fünfjähriges Mädchen, welches von einem
Karren überfahren worden war. Auftreten von Erbrechen, Flatus
und Stuhlgang vorhanden, Anschwellen des Leibes. In die Klinik
gebracht, konnte anfänglich keine genaue topische Diagnose ge¬
stellt werden. Nach mehrtägiger Beobachtung wurde, nachdem
der Bauchumfang bei vorhandenem Stuhlgang und ohne daß
peritonitische Symptome bestanden, rascli immer größer wurde,
das Kind dabei rapid abmagerte und die Anwesenheit
von Gallenfarbstoff im Urin festgestellt wurde, eine
Ruptur eines größeren Gallenganges oder der Gallenblase
angenommen (Puls 140, Temperatur 38°, kein Ikterus) und fünf¬
zehn Tage post trauma zur Laparotomie geschritten. Man fand
klare Galle im Abdomen, sämtliche Darmschlingen mit gelb¬
lichen Fibrinbeschlägen bedeckt, keine Ruptur der Leber, am
Duct u s h e p a t i c u s jedoch einen 1 cm langen Ri ß. Da
dessen Naht nicht gelang, wurde ein Gummirohr in den Ductus
hepaticus eingeführt (Drainage nach Poppert), die Bauchdecken
größtenteils durch Naht geschlossen. Vier Wochen nach der Ope¬
ration wurde das Kind geheilt entlassen. Aus dieser Beobach¬
tung und den spärlichen diesbezüglichen kasuistischen Mitteilun¬
gen (fünf Zerreißungen des Hepatikus von Sewerrenz 1903,
elf Verletzungen des Ductus choledochus von Stierli)i 1904
gesammelt) versucht Verf. ein genaues Krankheitsbild dieser
seltenen Verletzung zusammenzustellen. Sie kommen in der
Regel bei jugendlichen Individuen durch Ueberdehnungen der
Gallenwege vor, indem deren zarte Wände, während die Leber
durch eine breite Gewalt nach oben, die Därme nach unten
gepreßt werden, an Stellen, wo die Gänge fester fixiert sind
und nicht ausweichen können, quer platzen. Das Symptomen-
bild, anfangs dunkel, klärt sich bald, wenn der Shock geschwundeji
ist. Die langsame Anschwellung des Leibes, durch Ausfluß der
Galle in die freie Bauchhöhle bedingt — Acholie der Stühle bei
vollständigem Querriß — häufig, jedoch nicht immer, Ikterus,
Auftreten von Gallenfarbstoff im Urin und das baldige Einsetzen
einer starken Abmagerung des Verletzten sichern bei in der
Regel fehlenden, akut peritonitischen Symptomen die Diagnose
einer Gallenwegverletzung. Die starke Abmagerung scheint durch
den beständigen Verlust der Galle, noch mehr aber durch die
Resorption der gallensauren Salze bedingt zu sein; die allzu
rasche Resorption der toxischen Substanzen wird zwar, aber
nicht in ausreichender Weise, durch das frühzeitige Auftreten
einer fibrinösen Peritonitis erschwert; ob letztere nur durch
chemische Reize bedingt ist oder dabei auch die Invasion von
Bakterien eine Rolle spielt, isl nicht sicher zu entscheiden.
Septische Peritonitis durch Anwesenheit von Galle ist bisher
eine große Seltenheit. Die Prognose gilt trotzdem als sehr ernst.
Außer dem niitgeteilten geheilten Fall starben alle mit Hepalikus-
rupturen (danmler zwei operierte). Von den elf Choledochus-
verletzungen Stier lins (zehn operierte) starben acht. Die Ur¬
sache dieser schlechten Resultate sieht Verf. in dem zu späten
operativen Eingreifen ; und ohne Operation gehen die Verletzten
an Inanition zugrunde. Verf. tritt daher nach gesicherter Dia¬
gnose für eine frühzeitige Operation ein. Durch das lauge Zu¬
warten werden einerseits die Patienten immer schwächer, ander¬
seits die Verhältnisse im Bauche immer unklarer, die Oiauaition
dadurch schwieliger, dadurch auch die Aussicht, ilie Bißstelle
zu finden, eine unsichere und die Prognose imjiier schlechter.
Mit dei’ Punktion, die vielfach geübt wurde, ist keiner gerettet
worden. Da die Naht selten gelingt, erscheint die Hepatikus-
drainage oder die Einpflanzung des zentralen Stumpfes in eine
Dünndarmschlinge als das Rationellste. — (Langenbecks Archiv
für klinische Chirurgie 1906, Bd. 81, I. Teil, Festschrift für
V. Bergmann.) F. H.
*
108. Weitere Untersuchungen zur Anatomie der
menschlichen Gehirnoberfläche. Von Dr. Richard Wein¬
berg in Dorpat. Weinberg versuchte im Anschluß an frühere
Mitteilungen über den gleichen Gegenstand und in weiterer Be¬
ziehung zu Darstellungen anderer Autoren an 50 Gehirnhemi¬
sphären polnischer Herkunft — wobei darauf geachtet wurde,
den etwaigen Einfluß pathologischer und degenerativer Faktoren
auf die Gehirnform möglichst auszuschließen . — die Windungs¬
verhältnisse zu studieren. An jedem einzelnen Objekt wurden
die allgemeine Gestaltsentwicklung, die Ausbildung der größeren
Regionen und Lagen der Rinde und ihr Verhältnis zu einander,
der allgemeine Typus der Rindenfaltungen und die Variationen der
Furchen und Windungen unmittelbar am Präparat studiert und
mittels geometrischer und photographischer Aufnahmen zur An¬
schauung gebracht. Weinberg befürwortet für vergleichende Unter¬
suchungen der Gehirnoberfläche jeder Furche und Windung ein
besonderes Beobachlungsblatt zu widmen. — (Archiv für Psy¬
chiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 42, H. 1.) S.
109. lieber digestiven Magensaftzufluß. Von
Dr. J. Boas in Berlin. Abnorme Magensaftmengen finden sich,
wie allgemein anerkannt wird, in Verbindung mit Ulcus ventriculi,
bei Störungen am motorischen Apparat (Pylorüsstenose und -spas¬
mus) und man spricht dann von einem kontinuierlichen oder per¬
manenten Magensaftzu f hiß. Sodann gibt es eine zweite Form,
die bei gewissen Neurosen des Magens (Erkrankungen des Rücken¬
marks, in erster Linie Tabes dorsalis) anfallsweise Auftritt,
wobei die Magenfunktion in der Zwischenzeit sich völlig normal
verhält. Hiezu kommt eine dritte Form, die sogenannte alimentäre,
welche Verf. als digestive bezeichnen möchte, weil die ver¬
mehrte IMagensaftausscheidung hier ausschließilich an den
Digestionsakt geknüpft ist. Verf. berichtet über die bisherigen
Untersuchungsresultate anderer Forscher (Straus, Zweig und
Calvo, Hans Elsner u. a.), erwähnt, daß die digestive Hyper¬
sekretion fast ausschließlich bei Männern vorkomme (seine zwölf
Fälle betrafen nur Männer) und bespricht sodann die Symptomato¬
logie dieses Leidens. Ein höchst auffallendes Symptom ist die
sehr erhebliche Abmagerung des Kranken, Gewichtsab¬
nahmen von 10 bis 15 kg sind nichts Seltenes. Da der Appetit
und die Nahrungsaufnahme der Kranken normal sein können
(ab und zu sind beide gestört), so ist an dem Gewichtsverluste
der große Verlust von Magensaft, die Magensaftvergeudung, schuld.
Nach einem Probefrühstücke fand Verf. eine reine Magensaftmenge
von 200 bis 300 g, bei vier bis fünf Mahlzeiten tagsüber beträgt
die unnütz vergeudete Magensaftmenge sicherlich mehr als zwei
Liter und der Verlust einer so großen Menge eines eiweißhaltigen
Sekretes schädigt den Organismus. Hiezu kommt, daß beim dige¬
stiven Magensaftzufluß die Amylolyse nachweislich geschädigt wird.
Dann besteht erhebliche Obstipation, die Kranken klagen über
Druck, Völle, Aufstoßen, bisweilen über heftige Schmerzen im
Magen, wodurch das Symptomenbild dem der nervösen Dyspepsie
sehr ähnlich wird. Objektiv nachweisbar ist fast immer das
Plätschern in mehr oder weniger großem Umfange, sodann Druck¬
empfindlichkeit und zuweilen ein leichter Meteorismus. Der Urin
zeigt zuweilen Verminderung der Chloride, vielfach auch eine
Steigerung des Indikangehaltes. Da das Krankheitsbild dem bei
der nervösen Dyspepsie und der sog. Magenatonie sehr ähn¬
lich ist, so muß behufs Differentialdiagnose die sekretorische
und motorische Funktion des IMagens geprüft werden. Verfasser
schlägt vor, den Kranken ein trockenes Probefrühstück
in Form \mn5Alber t-Kakes zu verabreichen. Unter normalen
Verhältnissen wird man, wenn mau diese Kakes mit oder ohne
Wasser reicht, eine Stunde post coenam entweder gar keine
oder nur kleinere oder größere Residuen erhalten, bei denen
aber Wasser und Kakes zu innig vermischtem Brei verliunden
sind. In ausgesprocheneren Fällen digestivem Magonsaftflusses
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
findet man nach Üaiieiclmng von fünf Kakes dnrcli Expression
oder Aspiration 100 bis 200 eines Gemisches, das eine kleine
(iruiulschicht und eine diese um das Drei- bis Fünffache über¬
steigende, klare oder leicht gelrühle, üherslehende Flüssigkeils¬
schicht zeigt, die im Avesentlichen als überschüssiger Magensafl
betrachtet werden lüuß. Bei dieser Vermehrung der Sekretmengen
braucht nicht immer eine Vermehrung der Aziditätswerle zu (U'folgen.
in mehreren Fällen wurde eine Gesamtaziditäl von 40 bis 50
und eine Salzsäureazidität von 35 bis 45 konstatiert. Das spe¬
zifische Gewicht des abgeschiedenen Magensaftes betrug im Durch¬
schnitte 1012. Das Filtrat des. Magensaftes ergab eine mehr
oder minder starke Biuret- und Zuckerreaktion, kein durch Kochen
fällbares Eiweiß, mit Jod eine verschieden starke Erythroftexlrin-,
in vielen Fällen eine deutliche Amiludinreaktion ; in allen Fällen
färbte sich das fein verteilte Sediment auf Jod blau, ein Beweis
für die stark behinderte xAmylumverdauung. Zur Erprobung der
motorischen Funktion des Magens wurde in allen Fällen einmal
oder mehrere Male die Leubesche Probeniahlzeit angewendet,
schließlich wurde in allen Fällen auch eine Untersuchung des
nüchternen IMagens vorgenommen. Die motorisclie Funktion des
Magens erwies sich hiebei entweder als völlig normal, der Magen
war auch morgens nüchtern stets frei von Magensaft (die reine
Form des digestiven Magensaftflusses), oder der Magen enthielt
schon morgens nüchtern salzsäurehaltiges Sekret (permanenter
Magensaftzufluß), oder die motorische Funktion des Magens war
ebenfalls gestört. Der Verfasser hält dafür, daß eine chronische
Hypersekretion rein primär als Sekretionsanomalie bestehen könne.
Mit Zweig und Calvo neigt er der Ansicht zu, daß dieser
digestive Magensaftzufluß' als eine Abart der nervösen Dyspepsie
anzusehen sei, ohne jedoch ein abschließendes Urteil zu fällen.
Auch ohne Funktionsprüfung wird man an digestive Hyper¬
sekretion denken müssen, wenn man chronisch-dyspeptische Zu¬
stände von dem Charakter der nervösen Dyspepsie, verbunden
mit starker Abmagerung und gleichzeitigem Plätschergeräusch,
namentlich auch längere Zeit nach kleineren Mahlzeiten, vor sich
hat. Sicherheit verschafft erst die kombinierte, von Zeit zu Zeit
wiederholte Untersuchung des Mageninhaltes u. zw. : einmal bei
leerem Magen, sodann nach trockenem Probefrühstück,; endlich
nach einer Pi’obemahlzeit. Die therapeutischen Indikationen
seien dahin gerichtet, das gesunkene Körpergewicht zu heben,
alle sekretionserregenden Substanzen zu vermeiden, die iVinylinn-
verdauung besser zu gestalten, eventuell auch die Obstipation
zu beseitigen. Verf. empfiehlt eine Eiweißi-Fett-Z uckerdiät.
Statt Zucker auch Dextrin in Form verschiedener Kindermehle.
Als Brot die Weißbrotrinde (pain sans mie). Man entziehe solchen
Kranken nicht die Flüssigkeiten, vielmehr ist der Genuß alka¬
lischer Getränke zu den Mahlzeiten auf das wärmste zu empfehlen.
Ferner sollen diese Kranken viermal täglich einen Teelöffel des
Natrium citricum nehmen, das entweder allein oder in Ver¬
bindung mit Magn. ust. gereicht werden möge. Von dieser fort¬
gesetzten Alkalidarreichung hat Verf. zwar nur einmal einen
eklatanten Erfolg, aber auch niemals eineiL Schaden, vor allmn
keine Steigerung der Salzsäurewerte konstatieren können.
(Deutsche medizin. Wochenschr. 1907, Nr. 4.) E. F.
*
110. Aus der kgl. Universitätsohrenklinik zu Halle a. S.
(Direktor: Geh. Medizinalrat Prof. Dr. H. Schwartze). Zwei
Fälle von Ohr sch windel, durch Operation geheilt.
Von Stabsarzt Dr. 1 seiner, Assistent der Klinik. Verf. teilt
zwei Fälle von hochgradigem Schwindel bei chronischer Mittel¬
ohreiterung mit, die in der Hallenser Ohrenklinik operieit und
ganz von dem Schwindel geheilt wurden. In beiden Fällen hatte
nur das Schwindelgefühl die Kranken veranlaßt, die Klinik auf¬
zusuchen. Im ersten Falle, einer 18jährigen Fabriksaibeiteiin,
war erst wenige Tage vor der Aufnahme das Schwindelgefühl auf¬
getreten u. zw. ganz plötzlich, in apoplexieähnlichen iVnfällen,
später anhaltend und bis zur Unerträglichkeit sich steigernd.
Im zweiten Falle, einer 36jährigen Krankenwärterin, klagte die
Patientin schon seit Wochen über leichtes Schwindelgefühl, konnte
jedoch ihre Arbeit weiter verrichten. Plötzlich trat auch bei
ihr während der Arbeit so hochgradiger Drehschwindel auf, daß
sie sich zu Bett legen mußte und nach der ihr vorgeschlagenen
Operation yjerlangte. Bei der Operation (Totalaufmeißelung) wurde
in beiden Fällen neben ausgedehnter Karies in allen Mittelohr¬
räumen dickes Granulalionspolster um den kariösen Amboß ge¬
funden, das bis nach der Steigbügelgegend hinüberzog. Im zweiten
Falle war auch bereits die Schleimhaut um die Steigbügelgegend
miterkrankt und zeigte granuläres Aussehen. Eine Zerstörung'
der Labyrinthwand, namentlich der Flalbzirkelkanäle, war nicht
nachzuweisen. Der Erfolg der Operation war in beiden Fällen ein
äußerst günstiger; schon am nächsten Tage war der lästige Dreh-
schwindel bei Bettlage geschwunden. Der weitere Heilungsverlauf
war ein normaler. Verf. hebt hervor, daß es durchaus nicht so
selten ist, daß Fälle von Schwindel bei Mittelohreiterungen durch
Operation geheilt werden. Das Ungewöhnliche hier jedoch waren
das plötzliche apoplexieälmliche Eintreten des Schwindels, die
rapide Zunahme desselben und der prompte Heilerfolg unmittel¬
bar nach der Operation. Die Ursache des Schwindels kann nur
Drucksteigerung gewesen sein. Beide Patienten können jetzt ohne
Beschwerden die schwersten Arbeiten verrichten. — (Münchener
mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 1.) G.
*
111. U e b e r einen Fall von L i 1 h o t o m i a s u p r a-
pubica mit Enukleation der Prostata bei einem hoch¬
betagten Patienten mit Ausgang in Genesung. Von
H. Little wood, Leeds. Es handelte sich um einen 90jährigen
Patienten mit hochgradiger Prostatahypertrophie und einem mäch¬
tigen Blasenstein. Der Urin war seit einiger Zeit in stark zer¬
setztem Zustand entleert worden. Pat. bestand auf der Operation,
obgleich Little wood ihm die Chancen derselben auf 5‘yo an¬
gab. Die Operation wurde in typischer Weise vollzogen und der
Patient erholte sich vollkommen. Er starb zwei Jahre darauf
nach einer Periode völliger körperlicher und geistiger Gesund¬
heit, Avährend welcher er sich intensiv mit der Uebersetzung
klassischer iVutoren beschäftigte, innerhalb weniger Tage an urämi¬
schem Koma. — (British medical Journal, 17. November 1906.)
J. Sch.
*
112. lieber a b ge s c h w äc h t e Pyämien. Von F. Le jars.
Bei einem 25jährigen anämischen Manne trat im Anschluß an
eine kleine Veiletzung am Rücken des Zeigefingers, unter
schweren septischen Symptomen, speziell Schüttelfrösten, eine
sehr harte, druckempfindliche Schwellung der Schultergegend,
ohne Lymphangoitis und Achseldrüsenschwellung auf, bei deren
Spaltung sich reichlich Eiter entleerte. Das Schultergelenk erwies
sich als vollkommen intakt. Das Allgemeinbefinden besserte sich
allmählich und der Abszeß verheilte. Nach einigen Wochen ver¬
schlimmerte das Allgemeinbefinden sicli wieder, es trat ein links¬
seitiges Pleuraempyem auf, welches zur Heilung durch Operation
gelangte. Sowohl im Abszeß, als im Empyemeiter wurde aus¬
schließlich der Staphylococcus aureus nachgewiesen. Im wei¬
teren Verlauf entwickelte sich eine akute Appendizitis, welche
gleichfalls mit Erfolg operiert wurde. Der Patient hatte im Ver¬
laufe von fünf Monaten drei schwere lokale Eiterungsprozesse
im Gefolge der von der unbedeutenden Verletzung am Zeigefinger
ausgegangenen Staphylokokkeninfektion durchgemacht. Solche ab-
geschwächte Formen der Pyämie im Anschluß an ganz unbe¬
deutende Verletzungen, werden sowohl bei Staphylokokken- als
auch bei Streptokokkeninfektion beobachtet. Aehnliche Krank¬
heitsformen können sich auch im xVnschluß an Furunkulose ent¬
wickeln. Es gibt auch Fälle, wo nur allgemeine Symptome der
septischen Infektion auftreten und unter progressiver Verschlim¬
merung der Exitus erfolgt, ohne daß es zum Auftreten von lokalen
Eiterungen kommt. iManchmal treten in voller Gesundheit
Schüttelfröste, Fieber, Schweiße und Adynamie auf, ohne daß
die Untersuchung einen positiven Anhaltspunkt ergibt und es
entwickelt sich erst während des Krankheitsverlaufes eine an
sich nicht bedeutende lokale Eiterung. In anderen Fällen beob¬
achtet man Entwicklung multipler Abszesse in kurzen Inter¬
vallen, bis schließlich die pyämische Infektion zum Stillstand
kommt. Es gibt auch Fälle mit mehr schleppendem Verlauf,
wo die verschiedenen lokalen Eiterungen in größeren Inter¬
vallen auftreten und jedesmal von einer Exazerbation der pyä¬
mischen Allgemeinsymptome begleitet sind. Die abgeschwächten
Pyämien sind zwar heilbar, doch muß die Prognose immer mit
Vorsicht gestellt werden, weil man nicht Voraussagen kann, wann
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 9
(lie Entwicklung der inetastatischen EiLerungen zum endgültigen
Abschluß kommt. Es können auch ganz kleine Abszesse durch
die Lokalisation gefährlich werden, wie in einem Fall, wo sich
im xAnschluß an ein Panaritium ein mandelgroßer metastatischer
Abszeß im verlängerten Mark entwickelte, der den tödlichen
xAusgang herheiführte. Auch kann eine große Anzahl gewöhn-
lichei', nicht durch ihre Lokalisation gefährlicher Abszesse all¬
mählich vollständige Erschöpfung herbeiführen. Die ahge-
schwächte Pyämie ist dadurch charakterisiert, daß meist multiple
disseminierte Abszesse ohne anatomischen Zusammenhang mit
dem primären Infektionsherd auftreten. Es wäre gerade für diese
Fälle das Vorhandensein eines wirksamen Serums erwünscht,
doch gelingt es auch durch frühzeitige Inzision der einzelnen
x4bszesse, öfter Heilung herbeizuführen. — (Sem. med. 1907,
Nr. 2.) a. e.
113. Zur Kritik der aszendierenden Tuberkulose
im weiblichen Genitaltrakt. Von Prof. Dr. P. v. Baum¬
garten in Tübingen. Vom Verfasser und seinen Mitarbeitern
(Kraemer, Basso, M. Käppis) wurde früher experimentell der
Nachweis erbracht, daß die Tuberkulose sich innerhalb des Uro¬
genitaltraktes in der Richtung der normalen Sekretströme, also
deszendierend, ausbreite, es sei denn, daß der Sekretabfluß
gehemmt sei, in welchem Falle eine aszendierende Ausbreitung
erfolgen könne. Nun haben kürzlich Jung und Ben necke auf
Grund von ,, experimentellen Untersuchungen über den Infekiions-
weg bei der weiblichen Genitaltuberkulose“ behauptet, da-ß, ihre
Versuchsergebnisse sich in einem ,, diametralen Gegensatz“ zu
des Verfassers Versuchsresultaten ständen. Dem ist nicht so,
wie Baum gar ten in vorstehender Arbeit eingehend erörtert.
Der fast konstanten Deszension des Infektionsprozesses stehen
bei Jung und Ben necke unter 82 Experimenten nur 12, also
nur ca. V? der Gesamtzahl, in welchen es neben der Deszension
auch noch, nach ihrer Auffassung, zu einer Aszension des Pro¬
zesses gekommen war, gegenüber und auch bei diesen 12 Fällen
von wirklicher oder vermeintlicher Aszension wurde in der Hälfte
der Fälle ein vozi Basso und Baumgarten absichtlich ver¬
miedener Infektionsmodus angewendet, welcher mit einer Hem¬
mung des normalen Sekretahflusses verbunden ist. Dann kann ja,
wie Verf. schon früher betont hat, ausnahmsweise der tuber¬
kulöse Prozeß auch aszendieren. Die Versuclisergebnisse, von
Jung und Ben necke bestätigen nach den Ausführungen
Baum gar tens die von ihm und seinen Mitarbeitern erbrachten
Nachweise der aszendierenden Richtung in der Ausbreitung einer
Genital tuberkulöse und er kann den behaupteten ,, diametralen
Gegensatz“ absolut nicht zugestehen. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1907, Nr. 3.) E. F.
114. Ueher die Heredität heim Ulcus ventriculi
nebst eiziigen kritischen Bemerkungen zu dessen
Pathogenese. Von Dr. Armin Huber, Privatdozenten in Zürich.
Der Verfasser hat in den letzten zwei Jahren unter den ätiolo¬
gischen Momenten des Magengeschwürs seine besondere Aufmerk¬
samkeit der Heredität zugewendet, einem xMoment, das er in der
Literatur bisher nicht envähnt findet. Zur Illustrierung dieser
Beobachtung publiziert Verf. elf eigene Fälle und aus dem ihm
zur Verfügung gestellten iMaterial des Dr. Bernhard Samadeii-
St. Moriz 19 Fälle, worunter sich ganz manifeste ,, Ulkusfamilien“
befinden. Nun kritisiert Verf. die bisherige Auffassung über die
Pathogenese: Nekrose der Magenschleimhaut infolge von Zirku¬
lationsstörungen, Selbstverdauung des Magens und langsame Hei¬
lung infolge von Uebersäuerung des Ulkusmageiis. Schon die
Zirkulationsstörungen sind in relativ wenigen Fällen auffindbar.
Verf. beruft sich auf die Statistik Rütimeyers, der in 176 Sek¬
tionsprotokollen von Basel und Bern in 16% der Fälle in Basel
und in 37% der Fälle in Bern solche angibt. Auch Robin gibt
an, daß nur in einzelnen Ausnahmsfällen die Theorie der Zir¬
kulationsstörungen stimme, während gerade mehrere .Autoren
Thrombose und Embolie bei Abwesenheit von Geschwür fest¬
gestellt haben. Auch der Umstand, daß die Magenarterien keine
Endarterien seien, spreche nicht für die Wahrscheinliclikeit der
Theorie. Aehnlich steht es mit der Theorie der venösen Stase.
Erstens verringert die venöse Stase die Magensekretion und
macht die freie Salzsäure verschwinden und zweitens sieht man,
daß die aus Stauung entstehenden Magenerosionen der Herz-,
Leber- und Lungenkranken sich nicht in Geschwüre umbilden.
Die Theorie des Salzsäureexzesses wirkt auf den Verfasser eben¬
falls nicht überzeugend, denn es werden auch Viagengeschwüre
konstatiert bei hypo- und achlorhydrischen Magensäften und dies
nach vielen Autoren in derselben Häufigkeit wie bei Hyper-
chlorhydrie. Verf. betrachtet die Hyperchlorhydrie als eine Folge¬
erscheinung, als eine Reizwirkung des Ulkus. Daher kann er
auch nicht dem von Rohin verlangten saueren Magenkatarrh
zustimmen. Eine weitere ätiologische Bedeutung soll der Anämie
und den Motilitätsstörungen zukommen. Aber bei einer großen
Zahl von Ulkuskranken findet man weder Anämie, noch Chlorose,
noch Vlotilitätsstörungen. Dann erwähnt Verf. die toxisch-infek¬
tiöse Theorie. Deutsche und französische Autoren haben Avohl
bewiesen, daß Infektionskrankheiten, wie Typhus, Puerperal¬
fieber etc. Viagengeschwüre erzeugen ; diese Ulzerationen scheinen
aber nicht dem klassischen Ulcus ventriculi zu entsprechen. In
der letzten Zeit erschien auch eine ,, nervöse“ Theorie, v. Yzeren
hat experimentell bei Kaninchen durch Vagotomie unterhalb des
Zwerchfelles ein Ulcus ventriculi erzeugt. Er schreibt wohl dem
Auftreten eines Viagenkrampfes die Hauptbedeutung für das Ent¬
stehen des Magengeschwürs zu, meint aber, daß dasselbe auch
durch einen trophischen Einfluß des Nervus’ vagus auf die Mukosa
der Pars pyloricä entstehen könnte. Endlich hat Dalla Vedova
gezeigt, daß man infolge von Reizung und Durchschneidung des
Plexus coeliacus Viagengeschwüre erzeugen kann, welche alle
Zeichen des Ulcus ventriculi rotundum aufweisen. Der Autor
möchte das Viagengeschwür gleichsam als ein Pendant zum Vlal
perforant du pied — als eine Trophoneurose aufgefaßt Avissen.
Die „nervöse“ Theorie Avürde sich nach Ansicht des Verfassers
mit der Tatsache der V^ererbung sehr leicht abfinden. Es handelt
sich um eine Vererbung der Anlage zu einer bestimmten Inner¬
vationsstörung des Viagens, welche speziell die trophischen Bahnen
befällt und bei dieser oder jener Gelegenheitsursache das Ge-
schAvür erzeugt. Vielleicht gehört hieher das äußere Trauma oder
innere mechanische oder chemische und tberinische Reize, psy¬
chische Erregungen, akute Dyspepsien etc., Adelleicht sind aber
die Gelegenheitsursachen noch ganz unbekannt. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 5.) G.
*
115. (Aus der psychiatrischen und Nervenklinik zu Kiel
(Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Siemerling). Eine seltene Er¬
krankung der Pyramiden bahn mit spastischer Spi¬
nalparalyse und Bulbärsymptomen. Von Dr. Kinicki
Naka. Die von Erb und Charcot zuerst beschriebene spastische
Spinalparalyse besteht in einer langsam eintretenden spasti¬
schen Lähmung der unteren und später auch der oberen Extremi¬
täten ohne Atrophie der Vluskeln und ohne Aenderung der elektri¬
schen Erregbarkeit. Dieses klinische Bild entspricht, wie sich
gezeigt hat, verschiedenen anatomischen Befunden, so daß es
fraglich ist, ob die spastische Spinalparalyse als eine eigene
Erkrankung oder als ein Symptomenkomplex anzusehen ist. Im
vorliegenden Falle handelte es sich um eine 68jährige Frau,
die nach einem Falle auf das linke Knie an Schmerzen in diesem,
dann auch in den anderen Extremitäten erkrankte; gleichzeitig ent-
Avickelte sich eine fortschreitende Lähmung in den Beinen, wozu
sich später Parese der Arme gesellte. Endlich traten Sprach¬
störung und Schluckbeschwerden auf. Die Lähmung hatte spasti¬
schen Charakter. Atrophie, Sensibilitätsstörung, Veränderungen
der elektrischen Erregbarkeit, fibrilläre Zuckungen fehlten, ebenso
Störungen der Blasen- und Vlastdarmfunktionen. Im weiteren
Verlaufe unmotiviertes Lachen und Weinen. Einige Tage vor
dem Tode zeitAveilige Dyspnoeanfälle. Plötzlicher Tod nach
C h e y 11 e - S t o ke s schein Atmen. Die anatomische Untersuchung
ließ eine Degeneration des kortikospinalen Neurons der motori¬
schen Bahn nacliAA’eisen. Das Besondere des Falles liegt in dem
Auftreten von Bulbärsymptomen bei der spastischen Spinalpara¬
lyse. Auch sind die Fälle selten, Avelche die reinen klinischen
Symptome der spastischen Spinalparalyse zeigen und in wel¬
chen anatomisch alleinige Veränderung der Pyramidenbahn nach¬
gewiesen wurde. — (Archiv für Psychiati’ie und Nenmnkrank-
heiten, Bd. 42, H. 1.) ^ S.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
269
Vermisehte ISiaehriehten.
Ernannt; Priv.-Doz. Dr. J.oopokl Rütiineyer in Basel
zum außerordenlliclien Professor.
Verliehen: Dem Stadlarzte Dr. Johann Benkendorf
in Serelh der Titel eines kaiserlichen Rates. — Dem Privatdozenten
für Physiologie in Berlin, Dr. Karl Schaefer, der Professortitel.
Habililiert: Der Priv.-Doz. Dr. Hermanti Schridde in
^larbnrg für pathologische Anatomie in Freiburg i. B. — Privat¬
dozent \V. Specht in Tübingen für Psychiatrie in München.
— Dr. Alfred Sommer für Histologie und Embryologie in
Würzhurg.
*
G e 'S t o r b e n : Regie rungsra t Dr . Adalbert T i 1 k o w s k y ,
Direktor der niederösterreichischen Landesirrenanstalt in Wien.
Ein erfahrener, auf der Höhe seiner Aufgabe stehender, um das
heimische Irrenwesen hochverdienter Arzt, mit hervorragenden
administrativen Fähigkeiten, festen und lautersten Charakters,
humanster Gesinnung, gerechter Denkungsart, fein gelhldet, nicht
gewöhnlich künstlerisch, zumal musikalisch veranlagt, betrauert
die Aerzteschaft in Tilkowsky den Verlust eines allseits ver¬
ehrten und beliebten Kollegen, eineis würdigen Vertreters
des Standes und bewahrt ihm dauernd ein ehrenvolles Andenken.
*
In der am 16. Februar d. J. abgehaltenen Sitzung des
Obersten Sanitätsrates wurde die Wahl von Delegierten
zu den im Laufe des Jahres stattfindenden Kongressen vorge¬
nommen und zwar wurden als Delegierte für den in Berlin
tagenden Internationalen Kongreß für Hygiene und Demographie
Prof. Dr. Hue pp e, für den Kongreß für Kinderschutz Obersani¬
tätsrat Direktor Dr. Dvorak nominiert. Als Vertreter des Obersten
Sanitätsrates im k. k. Ärbeitsstatis tischen Amte des Handelsmini-
sterimns wurde Obersanitätsrat Ministerialrat Dr. Ferdinand
Illing gewählt. Hierauf wurde zur Tagesordnung geschritten
und gelangten nachstehende Referate zur Beratung und Schlu߬
fassung; 1. Gutachten über die Ableitung der Abwässer aus einer
Pergamentfabrik in offene Gewässer. (Referent: Holrat Ludwig.)
2. Gutachten über ein Gesuch um Bewilligung zur Vornahme
mikroskopischer Untersuchungen von Ex- und Sekreten in einer
Privatuntersuchungsanstalt. (Referent : Hofrat W e i c h s e 1 b au m.)
3. Gutachtliche Aeußerung über die sanitäre Zulässigkeit der
Verwendung von Fornialdehyd als Konservierungsmittel von
Fruchtsäften und Nahrungsmitteln. (Referent: Prof. Hueppc.)
4. Gutachten über einen Formalindesinfektionsapparat. (Referent;
Derselbe.) 5. Vorschläge zur Besetzung mehrerer im öffentlichen
Sanitätsdienste erledigter Stellen (zwei Landessanitätsreferenten-,
zwei Landessanitätsinspektoren- und mehi’ere Oberbezirksarztes¬
stellen). (Referent: Ministerialrat Daijnei>) 6. Gutachten über
Maßnahmen zum Zwecke der Verhütung von Unglücksfällen durch
den elektrischen Strom bei elektrischen Anlagen. (Referent: Hofrat
Exner.) 7. Gutachten über einen im Handel vorkommenden
Gehörapparat zur Heilung der Schwerhörigkeit. (Referent: Der¬
selbe.) Zum Schlüsse der Sitzung wurde ein Initiativantrag des
Hofrates Weichselbaum, dahin gehend, daß von seiten des
Ministeriums des Innern über das örtliche Vorkommen und die
Art der Ausbreitung der Skleromkrankheit Erhebungen unter Mit¬
wirkung der Amtsärzte veranlaßt werden mögen, einstimmig an¬
genommen. Ueber Iniativantrag des Obersanitälsrates Professoi
V. Jak sch, betreffend die Regelung der Standesverhältnisse der
Aerzte, wurde ein Spezialkomitee zum Studium dieser btage
und seinerzeitigen Berichterstattung eingesetzt.
♦
Der Minister des Innern hat von Medizinern den General¬
stabsarzt in Wien Dr. Florian Kratsch'iner, Hofrat v. Vogl,
Hofrat Ernst Ludwig, die Vorstände der allgemeinen Lebens¬
mitteluntersuchungsanstalten und Universitätsprofessoren Doktor
Ferdinand Hueppe und Dr. Gustav Kabrhel in Prag, Doktor
Wilhelm Prausnitz in Graz, Odon Bu,iwid in Krakau, Doktor
Artur Schattenfroh in Wien, Dr. Cäsar Po me ranz in Czer-
nowitz, zu ordentlichen Mitgliedern des ständigen Bei¬
rates für Angelegenheiten des Verkehres m i t L e b e n s-
mitteln und Gebrauchsgegenständen, mit der Funktions¬
dauer für das Triennium 1907 bis 1909 ernannt.
*
Die Münchener medizinische Wochenschrift schreibt in ihrem
letzten Heft; Wem gehört ein durch Operation gewon¬
nener Blasen stein, dem Arzt oder dem Patienten? Diese
Frage wird im Briefkasten des Sächs. Korr.-Bl. aufgeworfen, an¬
läßlich des Vorkommnisses, daß ein wogen Blasenstein Operierter
erklärte, die ihm übersandte Liquidation nur unter der Bedin¬
gung zahlen zu wollen, daß ihm ,,sein“ Stein ausgeliefert werde.
Der um eine abgebrochene Katheterspitze gebildete Stein ist aber
von dem iVrzt zu wissenschaftlichen Zwecken bereits verarbeitet
worden. Vielleicht winl der Fall zu einei' gerichtlichen Ent¬
scheidung der Frage führen. Jedenfalls scheint es ratsam zu
sein, daß Aerzte ihren Anspruch auf Operationstrophäen vor¬
der Operation geltend machen. Der Patient wird, so lange er ihn
noch besitzt, weit eher geneigt sein, sich von „seinem Stein“
zu trermen, als nachher.
*
Wir erhalten folgende Mitteilung: Im -Kaiserin-
Friedrich-Hause wird fortan eine ärztliche Auskunftei
ins Leben treten. Die Einrichtung ist dazu bestimmt,' insbesondere
den fremden Aerzten behilflich zu sein,' die zu Studienzwecken
nach Berlin kornnren. Es soll hier Auskunft erteilt werden über
sämtliche unentgeltliche und honorierte Kurse, die jeweilig in
Berlin stattfinden; ferner über alle ärztlichen Einrichtungen,
Krankenhäuser, Sammlungen usw. hinsichtlich der Zeit und der
Voraussetzungen ihrer Besichtigung; endlich über die Möglichkeit
der Teilnahme an klinischen Vorlesungen,' Vortragsabenden der
ärztlichen Gesellschaften, sowie an Operationen in Kliniken und
Krankenhäusern. Alle Auskünfte werden unentgeltlich erteilt.
Die Auskunftei beginnt ihre Tätigkeit am 25. Februar.
Aus dem S a n i t ä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 6. Jahreswoche (vom 3. bis
9. Februar 1907). Lebendgeboren, ehelich 601, unehelich 241, zusammen 842.
Totgeboren, ehelich 60, unehelich 39, zusammen 99. Gesamtzahl dei
Todesfälle 726 (i. e. auf 1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden
19-3 Todesfälle), an Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 10,
Scharlach 5, Keuchhusten 3, Diphtherie und Krupp 7, Influenza 0,
Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 5, Lungentuberkulose 125, bösartige Neu¬
bildungen 44, Wochenbettfieber 7. Angezeigte Infektionskrankheiten:
An Rotlauf 37 (d- 3), Wochenbettfieber 6 (-(- 1), Blattern 0 (0), Vari¬
zellen 114 (-f 42), Masern 386 (-F 54), Scharlach 92 (-f 10), Fleck¬
typhus 0 (0), Bauchtyphus 1 ( — 6), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie
und Krupp 96 (-f- 11), Keuchhusten 46 (-f 11), Trachom 0 (— 1),
Influenza 1 (=).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Schön-
wald-Böhm.-Liebau, politischer Bezirk Liltau, mit dem Wohnsitz
in Böhm.-Liebau (Mähren). Der Distrikt umfaßt fünf Gemeinden mit einem
Gesamtflächeninhalt von 39-90 km'' und 4248 Einwohnern. Mit dieser
Stelle ist der Bezug eines jährlichen Gehalts von 629 K und eines Fahr¬
pauschales von 299 K 50 h nebst des Wohnungsbeitrages der Gemeinde
Böhm.-Liebau per 100 K, im ganzen 1028 K 50 h (bievon 300 K jährlich
außerordentliche Landessubvention) verbunden. Außerdem gewähren die
bestehenden Krankenkassen ein namhaftes Nebeneinkommen. Kennteis
der deutschen und böhmischen Sprache unbedingt erforderlich. Der
Distriktsarzt ist verpflichtet, eine Hausapotheke zu führen. Die Stelle wird
eventuell zuerst provisorisch auf ein Jahr besetzt. Die im Sinne des
§ 11 des Gesetzes vom 10. Februar 1884, L.-G.-Bl. Nr. 28, gehörig doku¬
mentierten Gesuche sind bis 28. Februar 1. J. an den Obmann der
Sanitätsdelegierten Gemeinderat Josef Schenk in Böhm.-Liebau, Post
Deutsch-Liebau, einzusenden.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Maria-
Neustift (Bezirkshauptmannschaft Pettau, Steiermark) mit dem Sitze
in Maria-Neustift (Wallfahrtsort). Der Distrikt umfaßt die Gemeinden
Dolona, St. Lorenzen und Draunfeld, St. Wolfgang, Monsberg, Maria-
Neustift, Stoperzen und Zirkovitz mit 8652 Einwohnern und 148 km
Flächeninhalt. Fixe Bezüge; vom steiermärkischen Landesausschusse
eine Subvention von 1000 K, von seiten des Bezirkes Pettau eine Sub¬
vention von 400 K, wofür der zu bestellende Arzt die unentgeltliche
Armenbehandlung zu besorgen hat, wobei ihm jedoch die von ihm ver¬
abreichten Medikamente aus der Bezirkskasse vergütet werden; von den
Gemeinden der gesetzliche Beitrag (etwa 500 K). Bewerber um diese
Stelle haben nach § 15 des Gesetzes vom 23. Juni 1892, L.-G, u. V.-B .
Nr. 35, außer der physischen Eignung 1. die österreichische Staatsbürger¬
schaft, 2. die Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis in Oester¬
reich, 3. die moralische Unbescholtenheit und 4. die Kenntnis beider
Landessprachen nachzuweisen. Gesuche sind bis 31. März 1. J. an die
k. k. Bezirkshauptmannschaft in Pettau zu richten.
Eingesendet.
Aufruf! Der medizinische Unterstützungs v e rein
an der k. k. U n i v e r s i t ä t W i e n verfolgt den Zweck, Not und
Elend in den Kreisen jener zu bannen, die sich das Ziel gesteckt, einst
selbst im Dienste der Humanität menschliches Elend zu lindern.
Leider ist die Zahl der Bedürftigen unter den Studierenden im
Verhältnis zu den Spenden, die dem Vereine aus mildtätigen Hän en
zufließen, zu groß und die geringen, dem Vereine zur Verfügung
stehenden Mittel erweisen sich als unzureichend, so daß vielen selbst
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 9
die allernötigste Unterstützung, wie freier Mittagstisch, Lehrbücher etc.,
verweigert werden muß.
Wiewohl von unseren hochverehrten Lehrern aufs tatkräftigste
unterstützt, sehen wir uns dennoch genötigt, an die Mildherzigkeit des
großen Publikums zu appellieren und dasselbe zu bitten, der dem Elend
preisgegebenen Studenten zu gedenken und durch edle Spenden zur
Linderung ihrer Not, zur Besserung ihrer traurigen Lage ein Scherflein
beizutragen.
Jede, auch die geringste Gabe ist willkommen und wird vom Aus¬
schuß in seinem Vereinslokale (IX., Währingerstraße 13, Physiologisches
Institut) sowie von der Redaktion dieses Blattes dankend entgegen¬
genommen.
Wien, im Februar 1907.
Im Namen des medizinischen Unterstützungsvereines:
Dr. Ernst Ludwig, Dr. Friedrich S c h a u t a,
k. k. o. ö. Professor, k. k. Hofrat, k. k. o. ö. Professor, k. k. Hofrat.
Herrenhausmitglied etc.
Als Protektoren:
med. F. Schweinburg, med. Wolfg. Frh. v. Wies er,
Dr. M. Loewenstein,
dz. Präses.
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 17. Jänner 1907
(siehe Nr. 3 der Wiener klinischen Wochenschrift 1907)
für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
in Empfang genommen. Nr. 5.
A. Verschiedene Geschenke.
Buiu Anton, Handbuch der Massage und Heilgymnastik. Vierte ver¬
mehrte Auflage. Berlin und Wien 1907. 8®. Vom Autor.
Clubbe Ch. P. B., The Diagnose and Treatment of Intussusception.
Edinburgh und London 1907. 8®. Vom Autor.
Federn Karl, Die Wahrheit über den Prozeß gegen die Gräfin Linda
Bonmartini-Murri. München und Leipzig 1907. 8®. Von Herrn
Prof. Pal.
Hecke W., Die Sterblichkeit an Tuberkulose und Krebs in Wien im
Jahre 1904. 8®. Von der statistischen Abteilung des Wiener
Magistrates.
Karplus J. P., Zur Kenntnis der Variabilität und Vererbung am Zentral¬
nervensystem des Menschen und einiger Säugetiere. Leipzig und
Wien 1907. 8®. Vom Autor.
Pauli W., Physical chemistry. New-York und London 1907. 8®. Vom Autor.
Schürer v. Waldheim F., Ignatz Philipp Semmelweis. Sein Leben und
Wirken. Wien und Leipzig 1905. 8®. Vom Autor.
Ziegler K., Experimentelle und klinische Untersuchungen über die
Histogenese der myeloiden Leukämie. Jena 1906. 8®. Von Herrn
Doz. Dr. C. Sternberg.
Zweig W., Die Therapie der Magen- und Darmkrankheiten. Berlin und
Wien 1907. 8®. Vom Autor.
Arbeiten aus dem Neurologischen Institute an der Wiener Univer¬
sität. Herausgegeben von Prof. H. Obersteiner. Bd. XIL, XIII.
Leipzig und Wien 1905 — 1906. Vom Herausgeber.
Ännales de Medicine et Chirurgie infantiles. Paris 1906. Von Herrn
Dr. G a 1 a 1 1 i.
Aerztliche Zentral-Zeitung. Wien 1906. Von der Redaktion. (Doktor
Lederer.)
Allgemeine Wiener medizinische Zeitung, Wien 1906. Von der Re¬
daktion. (Dr. Ed. Kraus.)
Bellevue and Allied Hospitals. City of New-York. Fourth Annual-
Report 1905. New-York 1906. 8®. Von Herrn Dr. Armstrong.
Bidrag tili Sveriges offizieller Statistik, a) Befolkningsstatistik.
N. F. XLH/3. Vom königlichen Zentralbureau.
Compte-Rendu du Congres international poiir l’enfance tenu ä
Budapest 1899. Budapest 1901. 8®. Von Herrn Dr. G a 1 a 1 1 i.
Comptes rendus hebdomadaires des seances de l’Academie des
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Das österreichische Sanitätswesen. Wien 1906. 8®. Von Herrn
Dr. A. L 0 e w.
Jahrbuch der k. k. geologischen Reichsanstalt. Wien 1906. Bd. 56/1—4.
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Medlco-technologisches Journal. Wien 1906. Vom Herausgeber
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Mitteiluugen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Wien 1906.
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Mitteilungen der Gesellschaft für innere Medizin und Kinder¬
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Mitteilungen desWiener medizinischen Doktorenkollegiums.Wien 1906.
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Mitteilungen der statistischen Abteilung des Wiener Magistrates.
Wien 1906. Monatsberichte. Wochenberichte. Von der statistischen
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Norges offizielle Statistik V. 28. Sindssygeasylernes Virksomhed 1905.
(Statistique des hospices d’ali^nös pour l’annöe 1905.) Kristiania 1907.
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Wien 1906. Von Herrn J. Weiß.
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AViener medizinische Presse. Wien 1906. Von der Redaktion. (Dozent
Dr. A B u m.)
Wiener medizinische Wochenschrift. Wien 1906. Von der Redaktion.
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Zeitschrift des Allgem. österr. Apotheker-Vereioes. Wien 1906.
Vom Allgem. österr. Apotheker-Verein.
Zeitschrift für Heilkunde. Wien und Leipzig 1906. Von der Verlags¬
handlung Wilhelm Braumüller.
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Herrn Hans Becker.
Zeutralblatt für die gesamte Therapie. Wien 1906. Von der Ver¬
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Telegraphischer Wetterbericht der k. k. Zentral anstalt für
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■ i' *
B. Von der Redaktion der Wiener klinischen
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Allgemeine Medizinische Zentral-Zeitung. Berlin 1906. 4®.
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Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie. Leipzig 1906. 8®.
Die Heilkunde. Wien 1906. 4®.
Die Medizinische Woche. Leipzig 1906. 4®.
Deutsche Aerzte-Zeitung. Berlin 1906. 4”.
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Virchow Rudolf. Briefe an seine Eltern 1839—1864. Leipzig 1907. 8®.
Klinisches Jahrbuch. Im Aufträge des königl. preuß. Ministers d. geistl.
Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten . . . herausgegeben.
Jena 1906— ff (Bd. XVI-ff 1.)
Verhandlungen der Deutschen dermatologischen Gesellschaft.
IX Kongreß Bern 1906. Berlin 1907. 8®.
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
271
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Oesellscliaft der Aerzte in Wien. Verliandlungen der Wiener dermatologischen Gesellscliaft. Sitzung
Sitzung vom 22. Februar 1907. vom 23. Januar 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien. _
Sitzung vom 7. Februar 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 22. Februar 1907.
Vorsitzender: Prof. H. H. Meyer.
Schriftführer: Dr. Fritz Hitschmann.
Der Vorsitzende begrüßt das anwesende Ehrenmitglied Ge¬
heimen Med.-Rat Prof. Dr. B. Naunyn.
Dr. C. v. Pirquet: Eine Theorie des Blatternexan-
thcms. Bei der vakzinalen Frühreaktion entstehen innerhalb
24 Stunden die Symptome der Entzündung durch das Zusam¬
mentreffen der Lymphe mit Antikörpern bakteriolytischer Natur,
die im vorgeimpften Organismus vorhanden sind. Die Entzün¬
dungssymptome bei der ersten Vakzination, die nach acht bis
zehn Tagen in Erscheinung treten, Areola und Fieber, sind eben¬
falls durch toxische Produkte zu erklären, welche durch die
Einwirkung neugebildeter Antikörper auf die Mikroorganismen
sich bilden.
Bei der Variola inoculata läßt es sich berechnen, daß zur
selben Zeit, wo die Antikörperreaktion auftritt, auch die Aus¬
saat des Exanthems erfolgt. Ein Zusammenhang zwischen Exan¬
thembildung und Antikörpereintritt ist als sicher anzunehmen.
Die Antikörper, welche zur Bildung des Exanthems führen,
könnten Agglutinine sein, vermöge welcher die in der Blutbabn
kreisenden Blatternerreger in den Kapillaren aneinander hängen
bleiben und Haufen bilden. Diese können die Kapillaren nicbt
mehr passieren; sie enthalten noch lebensfähige Erreger, welche
an jenen Orten, wo die Bedingungen zu ihrer Weiterentwicklung
gegeben sind, also im Epithel, zu neuen Kolonien anwacbsen,
während sie im Innern des Körpers zugrunde gehen. Dafür
sprechen die histologischen Befunde Weigerts, der in Blut¬
gefäßen unterhalb frischen Hauteffloreszenzen und in inneren
Organen schlaucbförmig angeordnete ,,Zoogloeamassen“ be¬
schrieben hat.
Zu anderen Exanthemen, speziell den IMasern, führt von der
Variola eine Brücke in Form abgeschwäcliter Varioloiden und des
Kuhpockenexanthems nach Vakzination ; hier kommt es zu keiner
Weiterentwicklung der agglutinierten Bakterien, sondern zu toxi¬
schen Frähreaktionen von makulo-papulösem Charakter. Die
jMasern haben neben Inkubationszeit, prodromalem Fieber und
Leukozytenkurve noch die Aehnlichkeit mit dem Blatternprozeß!,
die für die Antikörperexantheme charakteristisch sein dürfte, daß
das Exanthem hei kacbektischen Individuen abgeschwächt ist
und um so stärker auftritt, je kräftiger und gesünder der Or¬
ganismus ist.
(Die ausführliche Publikation erfolgt in einer Arbeit: Kli¬
nische Studien über Vakzination und vakzinale Allergie, Wien,
Deutike, 1907.)
Diskussion: Prof. R. Kraus: Kollege v. Pirquet hat es
versucht, für die Erscheinung der Frühreaktion bei der Re-
vakzination, speziell für die von ihm nachgewiesene Frühreaktion
nach einigen Stunden (die allerflings nicht konstant zu finden
ist und auch experimentell an Affen nicht nachweisbar) und
für das Auftreten des Variolaexanthems nacb einem bestimmten
Inkubationsstadium Erklärungen zu geben, ohne dafür irgend¬
welche Beweise erbracht zu haben. Ich will in Kürze zeigen,
daß uns diese sogenannte Theorie v. Pirquets nicbt ^ be¬
friedigen kann und auch mit den gegenwärtigen Kenntnissen
über Immunität bei Variolavakzine nicht in Einklang gebracht
werden dürfte.
Zunächst beginne ich mit dem schwächsten Teile seiner
Theorie, mit der Eiklärung des Inkubationsstadiums bei der
Variola.
V. Pirquet hat die Vorstellung, daß- das Variolaexantbem
abhängig sei von der Bildung spezifischer Agglutinine. Diese
sollen vor der Allgemeininfektion vielleicht am 13. und 14. Tage
entstehen, zur Agglutination des in den Hautgefäßen vorhan¬
denen Virus führen und das Exanthem bedingen. Für diese Be¬
hauptung hat V. Pirquet meiner Meinung nach nicht den min¬
desten Anhaltspunkt. Das Exanthem erklären wir aus der Ge¬
neralisation des Virus. So wie bei allen anderen Infektions¬
krankheiten bei natürlicher Infektion das eingedrungene Virus
sich vermehren muß. um durch seine Gifte Krankheitserschei¬
nungen auszulösen, so ist es auch hier. Das Variolavirus ist
zur Zeit des Exanthems in allen Organen generalisiert, so auch
in der Haut, wo es vermöge der supponierten spezifischen Gifte
nekrotisierend und entzündlich wirkt. Das zeitliche Moment häng!
mit der Vermehrung und Generalisation zusammen. Die Bildung
des Exanthems in der Haut gehört zur Spezifität des Variola¬
virus, die wir als gegeben betrachten, so wie die anderer patho¬
gener Mikroorganismen. Ich glaube nicbt,i daß es v. Pirquet
gelingen dürfte, einen tatsächlichen Nachweis des agglutinierten
Variolavirus in den Hautkapillaren zu erbringen. Außerdem muß
aber entgegengehalten werden, daßi wir bei anderen Infektions¬
krankheiten die Exantheme durch die kapillare Ansiedlung des
Virus beweisen können, so beim Typhus und bei Syphilis. Es
genügt eben die Lokalisation des Virus in der Haut allein, die
Erscheinungen zu erklären. Prinzipiell ist aber noch einzuwen¬
den, daß im Organismus, wie experimentelle Versuche verschie¬
dener Autoren und auch eigene (Kraus und S tern b erg) ge¬
zeigt haben, bei Vorhandensein von Agglutininen eine Ausflockung
überhaupt nicbt zustande kommen kann, nur extra vaskulär in
vitro. Dazu kommt noch, daß Agglutinine und Präzipitine bei
der Variola nicht gekannt sind, so daß die Theorie v. Pirquets
ohne jede Begründung dasteht.
Auch die Erkläiaing der Frühreaktion scheint mir verfrüht
zu sein.
Im vorigen Jahre habe ich hier an dieser Stelle die
nach einigen Stunden auftretende Pustel (Frübreaktion) bei der
Revakzination nicht als Vakzinepustel,' als was sie von v. Pir¬
quet aufgefaßt wurde, gelten lassen. Ich habe gemeint, daß die
Infektiösität und der Nachweis der Guarnierischen Körperchen ent¬
scheiden läßt, ob wir es liier mit einer Vakzinepustel zu tun
haben. Wie wir beute gehört haben und auch das Experiment,
welches ich mit v. Pirc[uet am Makakus angestellt habe, zeigt,
ist der Inhalt der Pustel nicht infektiös. W’^ir können also diese
nach einigen Stunden nacb der Revakzination auftretenden Blasen
nicht mit der Vakzinepustel analogisieren. Das sieht jetzt v. Pir¬
quet auch ein und bringt für die Nicbtinfektiö-sität eine Er¬
klärung, die ihm auch die Frühreaktion klar zu machen scheint.
V. Pirquet stellt sich vor, daß das eingebrachte Virus von
lytischen Antikörpern aufgelöst wird, sogenannte Endotoxine sollen
dabei frei werden und die Blasenbildung hervorrufen. Ich finde,
daß wiederum für diese Auffassung weder der Versuch einer
experimentellen Begründung vorliegt, noch irgendwelche iVnhalts-
punkte gegeben sind. Pie Analogie, die Herr Koll. v. Pirquet her¬
anzieht, daß bakteriolytrsche Antikörper Choleravibrionen auflösen,
kann ich nicht gelten lassen. Erstens müßte der Beweis vorliegen,
daß- bei den vakzinierten Menschen lytische Antikörper nach¬
gewiesen worden sind, was bis jetzt nicht bekannt ist. Zweitens
müßte V. Pirquet nachweisen, daß ein derartiger Antikörper,
mit Virus zusammengebracht, bei ungeimpften die toxische brüh-
reaktion auslöst. Müßte nicht nach der Annahme v. Pirquets
der Inhalt von Vakzinepusteln und Variolapusteln steril sein,
da ja die lytischen Antikörper vorhanden sein müssen ? Ich be¬
streite nicht, daß Antikörper irgendwelcher Art nach IJeberstehen
der Variola oder bei vakzinierten Individuen vorhanden sind.
Die Versuche, welche darauf hinausgingen, solche Antikörper nacb-
zuweisen, sind meiner Meinung nach nicht so ausgefallen, daß
man sagen, könnte, im Serum Vakzinierter zirkulieren Antikörper.
Ich erinnere nur daran, daß' trotz längerer Immunisierung von
Tieren das Serum nur in sehr großen Mengen wirksam war, so
daß ich mich bei Durchsicht der älteren Literatur nicht des
WlEiN'ER KLINISCHE WUCIIENSClIllIFT. 1907.
Nr. 9
Eiiichuckes yiwehreii kaiiu, als ob es sich uiii Wirkungen iior-
inalen S<‘nnn liandeln würde. Dali der über allen Zweifel vor¬
handenen Ininuinität iiach Vakzination irgendwelche Antikörper
zugrunde liegen, isl sicher anzunehinen ; Avelcher Natur diese
aber sind, das hülle v. Pirciuet früher, ehe er an die Lösung
des sich gestellten Problems gegangen ist, lösen müssen. Erst
w(mn es ihm gelungen ist, solche Antikörper, lösende und aggluti¬
nierende, bei vakzineinnnunisierten ürganismen nachzmveisen,
itanii ei'sl können Avir über die Theorie v. Pirquets diskutieren.
llofr. Es eher ich: Die EinAvendungen des geehrten Vor¬
redners sind nicht imstande, mir die Freude an den geistreichen
Ausführungen des Vortragenden zu verderben. Es ist ja richtig, daß
soAvohl das Virus Avie die Antikörper der Variola unbekannt sind.
Das schließt aber, Avie das Beispiel des Antitoxins zeigt, nicht
aus, daß wir mit denselben experimentieren und ihre Wirkungen
erforschen. Allerdings sind nicht alle Thesen v. P i r q u e t s in
gleichem Maße überzeugend. Der schAvächste Punkt ist — und
darin stimme ich mit Prof. Kraus überein — seine Theorie des
Blatternexanthems. Wenn man auch zugibt, daß dasselbe als
Metastase in der Haut zu betrachten sei, so kann man sich doch
schAver vorstellen, daß gerade in der Zeit vor dem Ausbruch
desselben eine solche UeberschAvernmung des Blutes mit Bakterien
statthat, daß durch die Agglutination derselben die Thrombo¬
sierung der Gefäße herbeigeführt wird. Auch sind die Befunde
von W^ e i g e r t nicht ohne Aveiteres mit dem noch unbekannten
und mit keiner der bekannten Färbmethoden darstellbaren Virus
zu identifizieren.
Der Kern der Ausführungen v. Pirquets ist aber nicht
dies, sondern seine Theorie, daß der Eintritt der Krankheits¬
erscheinungen durch das Auftreten der Antikörper hervorgerufen
Avird. Es ist dies gewiß eine auf den ersten Blick überraschende
Vorstellung. Sie ist Avohl auch nicht aus dem Studium der
Variola entstanden, sondern es sind hier Analogien und Schlüsse
verAvertet aus dem Bilde der von v. Pirquet und Schick
studierten Serumkrankheit. Man kann Avohl sagen, daß, dank
dieser Studien, die Serumkrankheit, d. h. die mannigfaltigen durch
die parkuterale Einverleibung artfremden Eiweißes entstandenen
Störungen heute einer der in bezug auf die Pathogenese best¬
gekannten Krankheitsprozesse sind. Freilich handelt es sich hier
um ein nicht organisiertes Virus; allein abgesehen von diesem
Unterschiede fanden Avir bei derselben alles dasjenige, Avas man
bei echten infektiösen Prozessen ei’Avartet: Fieber, Ausschlag,
Gelenksschmerzen, Störungen des Allgemeinbefindens und schlie߬
lich sogar eine Avohl charakterisierte Inkubationsperiode.
Gerade für das Verständnis der letzteren liefert die Anti¬
körpertheorie eine ansprechende Erklärung. Ich habe stets in
meinen Vorlesungen hervorgehoben, daß, Avenn auch alle Infek¬
tionskrankheiten eine Inkubationsperiode haben, dieselbe doch nur
bei einigen Avenigen eine absolute und unabänderliche Größe dar¬
stellt. Legen Avir die landläufige Vorstellung zugrunde, daß die
Inkubationsperiode der Vermehrung der eingeführten Keime bis
zur Erreichung der Reizsclnvelle entspricht, so gilt dies gewiß
für die Mehrzahl der Infekten. Damit stimmt auch der Um¬
stand überein, daß diese Inkubationszeit bei sehr massiger In¬
fektion und bei Gelegenheit zu rascher Vermehrung eine kürzere,
bei spärlicher Infektion und ungünstigem Vegetationsverhältnis
eine längere ist, Avie dies bezüglich des Scharlachs, der Diphtherie,
des Typhus u. a. m. genugsam bekannt ist. In scharfem Gegensatz
dazu steht die Inkubationszeit der vom Vortragenden berührten
Infektionskrankheiten: der Masern und der Variola. Hier ist es
ganz gleichgültig, ob die Ansteckung eine intensive oder eine
spärliche ist; die Patienten Averden, Avenn sie empfänglich sind,
am 11. oder 12. Tage nach der Infektion die ersten Krankheits¬
erscheinungen aufweisen. AbAveichungen von dieser Regel
kommen nur in ganz geringem Ausmaße vor. Diese Krankheiten
stehen somit in scharfem Gegensatz zu den anderen Infektionen
und ich hatte mir deshalb von jeher die Vorstellung gebildet, daß
hier ein von dem Gewöhnlichen abAveichender Vorgang vorliegen
muß. Zu einer befriedigenden Erklärung war ich aber nicht
gelangt. Dieselbe bietet sich in der v. Pirquet sehen Hypothese.
Nehmen Avir an, daß die Dauer der Inkubation, resp. der
Beginn der Krankheitserscheinungen nicht nur durch die Menge
des eingeführten und sich vermehrenden Infektionsstoffes, son¬
dern durch das Erscheinen der vom Organismus gebildeten Anti¬
körper bedingt ist, so erklärt sich die gleichmäßige von der
Stärke des Primäraffektes unabhängige Dauer der Inkubation von
selbst. Der Organismus bedarf eben einer geAvissen Zeit zum
Ablaufen dieser Reaktion und Avir sehen auch bei anderen In¬
fekten die .Vntikörperbildung um diese Zeit in die Erscheinung
treten ; am besten studiert ist dies bei der Serumkrankheit. Auf
Grund dieser Betrachtung kann dieses unter den verschiedensten
Umständen Aviederkehrende Intervall von zAvölf Tagen auf ein
allgemeines biologisches Gesetz zurückgeführt werden.
Eine Bestätigung findet dieser Gedanke durch das ebenfalls
von V. Pirquet aufgedeckte Gesetz von der beschleunigten Re¬
aktion der Immunisierten, WHe bei Aviederholten Seruminjektionen,
so sehen Avir auch mutatis mutandis bei der Vakzination mit dem
AnAvachsen der Immunität die Reaktionszeit sich mehr und mehr
verkürzen. Es ist dies von v. Pirquet durch so zahlreiche und
mannigfach variierte Versuche gestützt, daß man hier Avohl von
einem Gesetz und nicht von einer einfachen Konstatierung von
Tatsachen sprechen kann. Das eleganteste BeAveisstück für seine
Theorie erbringt er in der Tafel über den Erfolg der sukzessiv
Aviederholten Impfungen. Man sieht hier in klassischer Weise,
wie die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten
gesetzten Impfungen alle an demselben Tage, an Avelchem eben
das erste Auftreten der Antikörper anzunehmen ist, gleichsam
in Brand geraten. Man kann kaum einen schlagenderen BeAveis
liefern dafür, daß die örtliche Reaktion nicht von der Menge
und der Entwicklung des örtlichen Krankheitsherdes, sondern
von einer allgemeinen, im ganzen Körper vorhandenen Ursache
erregt wird.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß die theoreti¬
schen Ausführungen v. Pirquets uns das Verständnis eröffnen
für manche im Volke verbreiteten und auch ärztlich angenom¬
menen Vorstellungen. Von jeher hat man angenommen, daß
kräftige Personen ein besonders intensives Masernexanthem auf-
Aveisen und in dem Zurücktreten eines Exanthemes oder der un¬
vollständigen Entwicklung desselben ein signum mali ominis
erblickt. Wenn wir mit v. P i r q u e t annehmen, daß das Exanthem
einen Maßstab liefert für die Produktion der Antikörper, also die
Widerstandsfähigkeit des Organismus, ist dies ohneAveiters ver¬
ständlich. Freilich sind diese Antikörper noch nicht nachgeAviesen,
sie sind vorläufig ebenso Avie die E h r 1 i c h’schen Seitenketten
eine Arbeitshypothese. Es wird die nächste Aufgabe des Vor¬
tragenden sein, objektive Beweise beizubringen. Zu diesem ZAvecke
empfehle ich ihm das Studium der Varizellen, »die dem von ihm
gewählten Krankheitstypus angehören und ein bequemes Studium
der örtlichen Effloreszenzen gestatten.
Prim. Dr. Knöpf eimache r: Ob die Annahme v. Pir¬
quets, daß das Exanthem mit Agglulinincn Zusammenhänge,
berechtigt ist, darauf will ich nicht eingehen; daß aber der Aus¬
bruch eines Exanthems bei Immunen und Nichtinnnunen sich
verschieden verhält, das läßt sich auch durch Injektionsversuche
am Meuschen zeigen. Wenn man einem noch nicht A^akzinierten
Menschen eine subkulane Injektion von verdünnter Kuhpocken¬
vakzine macht, dann bekommt der Injizierte nach ZAVÖIf Tagen
eine lokale Reaktion, Avelche aus Rötung und Infiltrat j)osteht;
Avenn man aber einem vorher vakzinierten IMenschen eine solche
Injektion mit verdünnter Lymphe macht, dann tritt die lokale
Reaktion schon in den ersten 24 Stunden ein und selbst dann,
Avenn die Lymphe vorher durch Erhitzen abgetötet ist.
V. Pirquet (SchlußAvort) : Prof. Kraus spricht meiner
Theorie, kurz gesagt, jede wissenschaftliche Berechtigung ab.
Ich freue mich eigentlich über diesen energischen Widerspruch,
Aveil er beweist, wie verschieden meine Auffassung von der bisher
geltenden ist und er mich vor der Gefahr schützt, daß man
mir später, Avenn meine Ideen durchgedrungen sind, sagen
Averde : das haben Avir längst geAvußt.
Wenn mir Kraus das Recht abspricht, überhaupt über
die Genese eines Exanthems Gedanken zu äußern, Aveil jedes
Exanthem seine Eigentümlichkeiten habe, die Avir nicht erklären
könnten, so negiert er damit die Berechtigung jeder Theorie : ich
stelle doch meine Ueberlegungen nicht als Fakta hin, sondern
betone ausdrücklich den hypothetischen Charakter.
In bezug auf die Tatsachen hat Kraus schon zugeben
müssen, daß die Frühreaktionen bei der Serumkrankheit und
Impfung tatsächlich existierten, was er früher angezAveifelt hat.
In der Frage der Ueberimpfbarkeit der Frühreaktion hat er mich
anscheinend im vorigen Jahre falsch verstanden : ich erAvartete,
daß die Blase meiner Frühreaktion nicht überimpfbar sein Averde,
Avie es auch tatsächlich der Fall Avar. Daß die kleinen vakzinalen
Reaktionen nicht überimpfbar sind, ist eine Tatsache, die allen
Impfärzten AVohl bekannt ist und zur Zeit der animalischen Impfung
hundertfältig erprobt Avurde. Daß die Frühreaktion auch bei der
Variola vorkommt, dafür fand ich einen interessanten Beleg bei
Reiter, der erzählt, daß einer der alten Inokulatoren vor
100 Jahren den Blatternimpfstoff an seiner Hand zu erproben
pflegte. Zeigte sich daselbst eine Finne (also eine Quaddel oder
Papel), so AAmr der Stoff Avirksam und konnte verAvendet Averden.
Kraus irrt, Avenn er behauptet, daß im variolo-vakzinalen
Prozeß noch gar keine Antikörperreaktionen nachgeAviesen Avurden :
Nr. 9
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
die Befunde von B e c 1 i r e, C h a m b o n und Menard sind
in ganz tadelloser Weise erhoben und zeigen, daß eine anti¬
virulente, wahrscheinlich bakterizide Substanz im Serum der
Vakzinierten zu derselben Zeit auftritt, wo die Virulenz des Pustel-
inbaltes erlischt. Der Eintritt der Hüllenantikörper, den ich
supponiere, liegt um einige Tage früher und ich erkläre mir die
Differenz durch quantitative Absättigungsverhältnisse.
Ob man berechtigt ist, aus vitalen Vorgängen auf Anti¬
körperreaktionen zu schließen, diese Frage muß ich auf Grund
der Frühreaktion hei der Serumkrankheit und der Impfung
prinzipiell bejahen. Hier haben wir ebenso spezifische Vorgänge,
wie die bisherigen Antikörperreaktionen in vitro. Die Pathologen,
die uns auf diesen Weg geführt haben und dahin gehört ja
Prof. Kraus als Entdecker der Präzipitation in erster Linie,
wollen diesen Schritt von der theoretischen zur praktischen Er¬
kenntnis noch nicht machen ; ich bin aber überzeugt, daß der
klinische Ausbau der Antikörperlehre seine Stellung behaupten wird.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 7. Februar 1907.
K. V. Slejskal stellt einen Fall von offenem Onctiis
Bo tall i vor. Die jetzt 32jährige Patientin hatte seit der Kind¬
heit Anfälle von Herzklopfen, in der letzten Zeit auch Schwindel-
anfällc und zeitweise das Gefühl, daß ihr Herz stillstehe. Seil
elf Jahren Husten, dreimal Hämoptoe. Die Untersuchung ergibt:
Geringe Zyanose, leichte Dystopie beider Pupillen, Infiltration
der rechten Lungenspitze, epigastrische Pulsation, Schwirren über
dem Herzen, am stärksten in der Gegend der dritten Rippe,
Verbreiterung der Herzdämpfung, an der Spitze ein rauhes systo¬
lisches Geräusch, ebenso an der Puhnonalis, Akzentuation des
zweiten Puhnonaltonsi Bei maximalem Inspirium verschwindet
das systolische Geräusch. Der Herzdäinpfung ist am linken Sternal-
rand eine schmale, bandförmige Dämpfung aufgesetzt. Die
Röntgenuntei'suchung ergibt in der Gegend des Ductus Botalli
eine kindsfaustgroße, pulsierende Vorwölbung. Die Radialis und
Karotis zeigen rechts eine geringere Pulsation als links, die Gefäße
an den unteren Extremitäten pulsieren stärker als an ilen oberen.
Vortr. nimmt das Bestehen eines offenen Ductus Botalli mit
Stenose der absteigenden Aorta an, Avobei durch Kollateralen eine
bessere Füllung der Arterien der unteren Körperhälfte bewirkt
wird; vielleicht liegt auch eine abnorme Differenz in der Weite
der Gefäße der unteren und oberen Extremitäten voi'.
L. V. Schrötter bemerkt, daß der erwähnte Unterschied
in der Pulsstärke an den oberoTi und unteren Extremitäen, durch
Unterschiede in der Gefäßweite bedingt sein dürfte.
J. G r ü b e 1 führt einen iMann mit angeborenem 11 erz¬
fehler vor. Pat. hatte schon im sechsten Lebensjahre Herz¬
beschwerden, im Jahre 1905 erkrankte er an einer Infiltration
der linken Lungenspitze mit Hämoptoe und klagt seither über
Kurzatmigkeit, hat aber nur hei angestrengter Arbeit Herzklopfen.
Die Untersuchung ergibt: geringe Zyanose, Dämpfung uiul Rassel¬
geräusche über der linken Lungenspitze, Vorwölhung der ganzen
Herzgegend und sichtbare Pulsation daselbst, Spitzenstoß hebend,
im vierten Interkostalraum in der iVIamillarlinie, geringe Ver¬
größerung der Herzdämpfung, eine der Herzdätnpfung aufgesetzte,
kappenförmige Dämpfung bis zur ersten Rippe, daselbst Schwirren
zu fühlen. Bei der Auskultation hört man an der Herzbasis ein
Geräusch, Avelches sich in beide Karotiden fortpflanzt. Vor¬
tragender möchte hier einen offenen Ductus Botalli und geringe
Hyiiertrophie beider Ventrikel, vielleicht infolge einer geringen
Stenose der Aorta, annehmen. Der Röntgenbefund gil)t keinen
Aufschluß, da. die ganze linke Lungenspitze infolge den- Ver¬
dichtung einen Schatten zeigt. Merkwürdig ist ein haudfönniger
Schatten, welcher vom Herzschatten aus in die laingeiispitze zieht.
K. V. Stejskal bemerkt, daßi diesem Schatten vielleicht
eine sklerotische Lungenaiderie zugrunde liegen dürfte.
R . K r e t z : U e b e r p o s t a n g i n ö s e Ly ni p h d r ii sen e ti U
Zündungen. Anläßlich dei' Kontrolle der Befunde über die
Beziehungen zwischen Angina und A])pendizitis ergab sich, daß
die Häufigkeit und Wichtigkeit der Rolle der Angina in der
Aeliologie der inlernen pyogenen Affektionen, trotz einer Reihe
guter Arbeiten in diesem Kapitel noch immer nicht hinreichend
geAvürdigt Avird. Zum Teile liegt di('s daran, daß viele Fälle
erst nach Ablauf der klinischen Symptome dm- Jlalsentzündung,
soweit sie durch Inspektion des Rachens zu erkennen ist, zur
ärztlichen Beobachtung kommen; in solchen Fällen bietet nun
die länger dauernde Lymphadenitis am Halse ein Avichtiges und
nach den anatomischen Erfahrungen auch verläßliches diagnosti¬
sches Merkmal. Sie ist histologisch bedingt durch eine Lymph-
angoitis der Markhahnen und enlzündliche Schwellung der Fol¬
likel; am leichtesten sind diese Veränderungen durch die
Weigertsche Fihrinfärhung der Schnitte von den niakrosko-
])isch hyper])lastischen, blassen, feuchten und saftreichen Lymph-
(h'üsen des Halses zu erkennen. Solche Drüsen findet man typisch
hei rezenten Endokarditiden, hei den nicht tuberkulösen Empy-
(Muen, hei frisclum Nephritiden, hei Osteomyelitis, l'hlegmone
des Wurmfortsatzes, heim sogenaunten ,, rheumatischen Erysipel“.
Vortr. demonstriert solche Drüsen von Fällen mit einer frisclien
Endokarditis, von einm- eitrigen Cholezystitis, von einer iVppen-
dizitis uiul von einem ganz rezenten Morbus Brighti. Diese
Fälle heAveisen durch die manifeste Lokalisation der pyogenen
Kokken in einem inneren Organ, daß' diese Formen der Lymph¬
adenitis am Halse eine Bakteriämie, einen Uehertritt der Mikroben
in das Blut vermitteln. Dieselbe se])t.ische Bakteiiämie kann aber
geAviß auch ohne metastalische x\nsiedlung der .Mikroben :ds
Folgezustand einer postanginösen Lyniphadenitis colli Vorkommen.
Prof. Or Ln er hat Vortr. darauf aufmerksam gemacht, daß Avahr-
scheinlich das „Drüsenfieber“ von FilatoAv und von Pfeiffer
der klinische Ausdruck solcher abortiver septischer Bakteriämien
sei. Es scheint in der Tat in jenen Fällen ein derartiger Prozeß
Vorgelegen zu sein und auch die Mitleilungen ^späterer Autoren
stimmen mit dieser Auffassung; unter ihnen möchte Vortr. C oni by
und Korsakoff speziell hier hervorheben, da sie in den Drüsen
solcher Kinder Streptokokken fanden; Korsakoff hebt auch
ganz i'ichtig hervor, daß Drüsenschwellung und Fieber sowohl
anscheinend selbständige, familiäre Hausgenossenkrankheit, Avie
auch als Nachkrankheit zu den akuten Exanthemen auftreten
können; Avie Vortr. glaubt, kann die Mitteilung Schicks über
postska]latinöse Drüsenaffektionen in der Amrletzten Sitzung dieser
Gesellschaft als Beispiel für alle Fälle der letzteren Kategorie
gelten. Die von Pfeiffer betonte, aber nicht Amn allen Autoren
gleichmäßig gefundene SchAvelhmg der präaurikulären und zer¬
vikalen Lymphdrüsen hängt Avohl Aveniger von der Nalur des
Prozesses, als von der indiAnduellen Verteilung des lymphatischen
GeAvebes (stärkere EntAvicklung der sogenannten Pharynxtonsille)
ab. Aetiologisch kommen am häufigsten Streptokokken, seltener
Diplo- und Staphylokokken in Betracht; hei Staphylomy kosen
scheint verhältnismäßig am leichtesten Vereiterung des GeAvebes
der Drüsen einzutreten. Da die anatomischen Befunde ein recht
häufiges Voikommen der postangiösen LymphdrüsenschAvellungen
bcAveisen und klinisch die sehr große Häufigkeit der Halsaffek¬
tionen durch die pyogenen Kokken außer Frage steht, stellen die
bakteriämischen Invasionen derselben und ihr klinischer Aus¬
druck, die Drüsenfieher, offenbar ein häufiges Ereignis dar. W^ahr-
scheinlich sind die ephemeren Fieber der Kinder nicht selten so
aufzufassen und Averden bei Beachtung der Drüsen am Halse
sicher diagnostizieihar werden.
K. Hoch singer ist auf Grund seiner Beobachtungen zu
dei- Ansicht gekommen, daß das ,,, Drüsenfieber“ Pfeiffers auf
einer pyogenen Infektion der Halsdrüsen beruht, welche Amm
Wurzelgebiete der Drüsen im Rachen ausgeht. Dieses „Drüsen-
fieber“ zeigt zAvei Formen, indem die Drüsen entweder im An¬
schlüsse an eine Angina anschwellen und nach einiger Zeit zurück¬
gehen, oder indem zAAÜschen der Angina und der DrüsenscluA-ellung
ein längerer ZAA'ischenraum liegt. Diese ZAveite Form AAUirde Amu
Pfeiffer für eine selbständige Krankheit angesehen. Die
SchAvellung der Drüsen hat dabei die Eigentümlichkeit, daß' sie
schmerzhaft isl, aber niemals zur Vereiterung führt. iManchmal
schAvellen auch zuerst die oberflächlichen Halsdrüsen an und
erst läJigere Zeit nach dem Zurückgehen derselben die tiefem
Drüsen. Der Ausdruck ,, Drüsenfieber“ Aväre zu \wrlassen.
Fri sch a uer Aveist dai'auf hin, daßl ein deutscher Autor
angibt, es sei ihm gelungen; das Wiederauftreten des Gelenks-
rheumalismus durch Heilung der cln-onischen Erkrankung der
Tonsillen zu verhüten.
K. \'. Stejskal beinej'kt zu dem von Grübel vorgeslelllen
Falle, Avelchen er unterdessen unlcu-sucht hat/ daß er der An-
nah'ine eines offenen Ductus Botalli nicht zuslimmen könne. Es
finden sich nur eine geringe Hyi)erti'Oi)hie des rechten Ventrikels
und ein schAvaches Schwirren, die Herzdämpfung .geht unmittel¬
bar in di(‘ Lungendämpfung über. .Man könnte an (Une Pulmonal¬
stenose denken, Avelche vi(dleichl durch SchrUinpfung der Lungen¬
spitze hervorgerufen ist.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 9
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
Sitzung am 23. Januar 1907. (Schluß.)
Vorsitzender : Finger.
Schriftführer : B r a n d w e i n e r.
Ullmanii; Ich hatte mir vorgenommen, im Anschlüsse an
den Vortrag des Herrn Kollegen Oppenheim, meine ziemlich weil
zurückgehenden Aufzeichnungen und Erfahmngen in hezug auf
die Phosphalurie heute zusammenzufassen, doch beschränke ich
mich mit Rücksicht auf die Zeit nur auf einige vom Herrn A’or-
redner behandelte Gesichtspunkte.
Zunächst glaube ich nicht, daß die Phosphalurie für
uns mehr sein kann als ein Symptom des gestörten Stoff¬
wechsels, natürlich abgesehen von der künstlichen Plios-
phalurie durch reichliche Zufuhr von Alkalien. Es ist
mir scdir unwahrscheinlich, daß die Phosphalurie bei
Tripper etwas anderes ist als die Phosphalurie bei Neur¬
asthenikern und Nervenkranken, die ja auch ohne Tripper oft
u. zw. noch häufiger vorkommt. Ich glaube, daß die Phosphaturie
beim Tripper erst im Wege einer erworbenen Neurasthenie in
Erscheinung tritt und nicht durch eine chemische Beimengung
von alkalischem Eiter oder Prostatasekret in der Blase erst aus¬
gelöst wird. Denn wir sehen oft die Phosphaturie dort noch lange
bleiben, wo kaum mehr Eiter, höchstens einige Filamente produ¬
ziert wei'den und umgekehrt sehr oft wieder auch dort nicht, wo
dem Urin sehr viel alkalischer Eiter beigemengt wird, wie bei
Cystitis gonorrhoica. Immerhin sind die von Oppenheim er-
bi'achten Tatsachen neu und könnten eine besondere Entstehungs¬
weise latenter Phosphaturie repräsentieren, die man übersehen
liat. Das aber hat mit der Gesamtfrage der Phosphaturie
bei Gonorrhoikern nichts zu tun. Zunächst glaube ich
nicht, daß akute Gonorrhoe eine Phosphaturie hervorruft, wenn
dieselbe nicht schon früher vorhanden war — ich meine hier
die ersten akuten Phasen der Gonorrhoe, die Urethritis anterior
und Urethritis ac. post. Dort sah ich Phosphaturie keineswegs
besondei’s häufig. Erst die Störung in der nervösen Sphäre der
Geschlechtsdi'üsen, durch Abstinenz und Pollution bedingt, und
deren Reflex auf die Nierensekretion, vielleicht auf den ganzen
Stoffwechsel bewirken bei dazu Disponierten die Phosphaturie.
Die Dis])Osilion ist unbedingt nötig, sonst würden wir die Phos¬
phaturie noch häufiger sehen. Ich habe mich gerade vor zwanzig
Jahren an Kranken der Klinik Nfeumann zuerst syste¬
matisch mit der Frage beschäftigt und nicht nur das
häufige Vorkommen bei chronischer Gonorrhoe, Prostatitis
und so weiter der hinteren Harnröhrenpartie, sondern auch die
Tatsache zu finden geglaubt, daß schwere, d. i. bleibende Fälle
solcher Art hei ausgesprochen nervendefekten Individuen Vor¬
kommen. Meh7’fache Harnanalysen mit Bestimmung der Gesaint-
phosphorsäure im Verhältnis zum Gesamtstickstoff schienen mir
damals im Sinne Zülzers bei solchen Individuen eine
wenigstens temporäre Vermehrung der Phosphorsäureaus¬
scheidung wahrscheinlich zu machen. Die Bestimmungen wurden
zu keinem Abschluß geführt; ja, ich glaubte im Sinne der Che¬
miker, bei denen ich arbeitete, daß liier eher fehlerhafte Analysen
oder Zufälligkeiten schuld Avären, da auch diesen Chemikern
eine Vermehrung der Phosphorsäureausscheidung damals nicht
plausibel war und sie den Zustand nur als qualitative Sekretions¬
anomalie des Urins ansahen. Als ich später als Seknndararzt
in Schrötters Abteilung den Urin vieler interner Kranken
systenialisch untersuchte, wai' der Befund der Phosphaturie relativ
sehr selten. Erst als ich Avieder an Hofrat IMeynerts Abteilung
kam, sah ich sehr viele Phosphaturien Und dabei ein ganz anderes
Harnbild in bezug auf Phosphatausscheidung. Dort fand ich oft
auffallend vermehrte Phosiihatausscheidung, wenigstens temporär,
z. B. nach manischen Anfällen, Krampfformen und auch bei
schweren vasomotorischen Neurosen. Der mir von den Erfah¬
rungen an der Nervenklinik zurückgebliebene Eindruck, daß es
sich um \'ermelirung der Phosphorsäure handle, wurde mir später
dui'cli zaldreiche Untersuchungen von französischen Aerzten, Avie
Gilles de la To7i rette, Gau tier, Yoon, IMairet u. a. ver-
stäi'kt, die in solchen Fällen von essentieller Phosphaturie ge¬
radezu von einem Phosi)hordiabetes sprechen. Möglich, daß es
sich auch hier nur Aun Vennehiung des Kalkes, bedingt durcdi
Auftreten von Milchsäure in den GeAveben, handelt, Avohei aber
immer der Kalk und die Magnesia an Phosphorsäure gebunden
ist oder auch, daß es je nach der .Vrt der Stoffwecdiselanomalie
verschiedene Fornum von Pliosphaluri(' gibt, die nur bis jetzt
chemisch und klinis(di schwer zu trennen siml und daß demnach,
Avie der Vortragende meint, die Phosphaturie bei sehr verein¬
zelten Fällen von Tripper auch eine selbständige, erst in der
Blase oder im Uringlas entstehende sei. Mir scheint aber, Avie
gesagt, diese Beimengungshypothese als Ursache der phosphati-
schen Trübung keinesfalls ausreichend, um die große Zahl der
Phosphaturien zu erklären.
Salomon: Der Begriff der Phosphaturie ist jedenfalls kein
einheitlicher. Der Ausfall der phosphorsauren Salze im Urin
Avird an sich schon durch die verschiedensten Faktoren bedingt.
Er kann abhängen von Konzentration des Urins, von seinem
Kohlen Säuregehalt, von seiner Azidität und Avohl noch von anderen
Faktoren. Daher genügt bei manchen Leuten schon eine staxke
Fleischmaidzeit, bei der reichlich Salzsäure in den Magen abge¬
schieden Avird oder der Genuß alkalischer Wässer, um die Alka-
leszenz der Körpersäfte und damit des Urins soAveit zu steigern,
daß Phosphaturie auftritt. Diese Verhältnisse spielen natürlich
auch bei Nervösen mit. Und die Hypazidität des Magens ist
Avohl meist das Bindeglied. Die einzige greifbare Störung
des StoffAvechsels, die in einem der Fälle hat nachgewiesen
AAmrden können, ist die Amn Soetbeer zuerst beobachtete Älehr-
ausscheidung von Kalk im Urin. Man Avird nach diesen Erfah¬
rungen bei neuen Studien über Phosphaturie an der Berücksich¬
tigung der Kalkbilanz nicht vorbei können. Hinsichtlich der inter¬
essanten Ausführungen des Vortragenden erlaubt er sich die
Frage, ob wirklich eine so große Menge Prostatasekret bei der
Harnentleerung ejakuliert werden kann.
R. Grünfeld bemerkt in Erinnerung an drei selbstbeob¬
achtete Fälle, daß persistierende Phosphaturie oft ein Symptom
von Phospliatkonkrementen in Urethra oder Blase sein könne,
was durch Urethi-oskopie oder Zystoskopie leicht nachgewiesen
Averden kann. Die Konkremente stecken meist in Divertikeln;
die betreffenden Fälle manifestieren sich vorzüglich durch Ab¬
gehen eines milchigen Sekretes am Beginne und Ende der Miktion,
oft auch in Unterbrechung des Harnstrahles' durch ein derartiges
Sekret. Jedenfalls sollte bei permanenter Phosphaturie an diese
Möglichkeit gedacht Averden.
Ehrmann: Bei gewissen Prostatitisformen Averden krüme¬
lige, kreidige Massen entleert, Sekret und Flüssigkeit. Es be¬
stehen kleine KaAmrnen in der Prostata, dieselben sezernieren nicht
in den Harn, sondern in die Prostataalveolen. In keinem dieser
Fälle Avar eine Avirkliche Phosphaturie, die man hätte erwarten
müssen, Avenn dies Phosphaturie machen soll. Wie stellt sich
Oppenheim die Fälle von Karbonaturie vor?
Oppenheim betont, nur von Phosphaturie bei Gonorrhoe
gesprochen zu haben. Für die Differenz in der Trübung beider
Portionen Avisse er keine andere Erklärung, als daß alkalisch
reagierender Eiter und Prostatasekret bei einem: in der Azidität
herabgesetzten Urin diesen Ausschlag geben.
Programm
der am
Freitag: den x. März 1907, 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Chrobak stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
A. Administrative Vorversammluiig.
1. Aufstellung der Wahlliste.
2. Wahl zweier Skrutatoren.
B. Wissenschaftliche Sitzung.
1. Prof. Dr. E. Redlich; Mitteilung über Epilepsie und Links¬
händigkeit.
2. Demonstrationen. Bergmeister, Paltauf.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 4. März 1907, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn Hofrat
Prof. Obersteiner stattfindenden wissenschaftlichen Versammlung.
Dr. S. Grosz ; Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
(Laryngologische Klinik.)
Nächste Sitzung .ilittwoch am 6. März 1907, Anfang 7 Uhr.
Programm:
1. Demonstrationen angemeldet: Doz. Dr. Hajek, Doz. Dr. Fein,
Dr. 0. Hirsch. — 2. Diskussion über den vorgestellten Fall von Dr. Glas. :
Koordinationsstörungen im Kehlkopf bei Tabes. Zur Diskussion ge¬
meldet: Doz. Dr. L. Rethi.
7^/^ Uhr: Gemeinschaftliche Sitzung der laryngologischen und
oplithnlmologischeu Gesellschaft.
(Klinik Hofrat Prof. F u c h s.)
Doz. Dr. M. Hajek: Ueber die Railikaloperationen bei den ent¬
zündlichen Stirnhöhlenaffektionen.
Vtrantwortlichtr R*d»kt«ur: Adalbert Karl Trupp. V#rl»g ron WUhelm Braumflller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien, XVIII. . Theresiengasse 3.
^ - - --
Die
,, Wiener kliulsclie
Woclieiisclirift“
erscheint jeden Donnerstag
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Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
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unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0- Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Sohrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
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land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
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lung nicht erfolgt ist, gelten
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zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebereinkommen.
Redaktion:
Telephon Nr. 16.282.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 17 .618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 7. März 1907. _ Nr. 10.
INHALT:
I. Original artikel : Aus dem hygienischen Institut der deutschen
Universität in Prag. (Vorstand; Prof. Hueppe.) Giftvvirkungen
des Typhysbazillus. Von Prof. Dr. Oskar Bail, Assistenten
des Institutes.
2. Zur Epidemiologie des Abdominaltyphys. Von k. u. k. Re¬
gimentsarzt Dr. Gustav Pollak.
3. Aus der II. medizinischen Universitätsklinik in Wien (Vor¬
stand: Hofrat Prof. Dr. E. v. Neusser.) Ueber die Tryptophan¬
reaktion besonders im Stuhl und in Bakterienkulturen. Von
Dr. Guiscardu Germonig, Aspiranten der Klinik.
4. Färbung der Zellen des Liquor cerebrospinalis mit und ohne
Zusatz von Eiweiß. Von Dr. M. Pappenheim, Assistenten
der deutschen psychiatrischen Klinik (Prof. A. Pick) in Prag.
II. Referate: Die Infektionskrankheiten rücksichtlich ihrer Ver¬
breitung, Verhütung und Bekämpfung. Von Oberstabsarzt
Dr. Ludwig Kamen. Das Spiel des Zwerchfells über den
Pleurasinus und seine Verwertung in der Praxis. Von Doktor
Erich Zabel. Ueber Ursache und Bedeutung der Herzaffektion
Nierenkranker. Von H. Päßler Physikalische Therapie in
Einzeldarstellungen. Von J. Marcuse und A. Strasse r.
Ref.: M. Sternberg-Wien. — Ueber ein sehr junges
menschliches Ei in situ. Von Leopld. Ref.: S t o 1 p e r- Wien.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kougreßbericlite.
Aus dem hygienischen Institut der deutschen Uni¬
versität in Prag. (Vorstand: Prof. Hueppe.)
Giftwirkungen des Typhusbazillus.
Von Professor Dr. Oskar Bail, Assistenten des Institutes.
Die Versuche, über welche hier berichtet werden soll,
wurden hei Gelegenheit des Studiums der Bakterienaggressi¬
vität angeslellt. Mit diesem Ausdrucke wird eine bei der
Infektion wirksame Bakterieueigeiischaft bezeichnet, deren
Bedeutung in der Ueberwindung,..der natürlichen, insbeson¬
dere zelligen Schutzkräfte des Organismus besteht. Gegen
diese Annahme der Aggressivität, als einer bisher bei der
Infektion nicht genügend beachteten Bakterienwirkung, sind
von verschiedenen Seiten Einwände erhoben, deren Re¬
sümee meist dahin geht, daß Bakterien durchaus keine
eigenen Stoffe, die Aggressine bilden. Dieser Punkt muß zu
allererst berichtigt werden. IMit aller nur möglichen Deutlich¬
keit ist bei Aufstellung der sog. Aggressintheorie darauf hin¬
gewiesen worden, daß die Aggressivität eine Eigenschaft
sei, die gewissen Bakterienprodukten anhafte und vom Bak¬
terienleben herrühren müsse. Die Materialisierung der Eigen¬
schaft zu einem Stoffe, dem Aggressin, wurde der Kürze
halber und der herrschenden Mode entsprechend gewählt,
aber ,,ob das wirkliche Stoffe sind“ wurde stets nur als
hypothetisch hingestellt. Gleichwohl richtet sich die Polemik
hauptsächlich gegen die Stoffnatur der Bakterienaggressi¬
vität, deren Neuheit bestritten wird.
Zwei Gruppen von Widersachern kann man unter¬
scheiden. Die erste wird vorwiegend durch Wassermann
und Citron repräsentiert. Sie leugnen das Bestehen der
Aggressivität nicht, und ihre Versuche stimmen mit denen,
die für die Aggressinlehre angestellt wurden, in allen wesent¬
lichen Punkten überein. Aber die Aggressivität wurde
nicht als neue Eigenschaft anerkannt, sondern auf gelöste
Bakteriensubstanz zurückgeführt und durch Bindung natür¬
licher, zunächst wohl als bakterizid betrachteter Schutz¬
kräfte erklärt. Die Diskussion darüber hat einen ziemlichen
Umfang angenommen; ein näheres Eingehen darauf ist an
dieser Stelle um so weniger notwendig, als Wassermann
und Citron neuestens die Diskussion ihrerseits als be¬
endet erklärt haben. Mit Recht: denn nachdem in ihrem
Verlaufe beiderseits anerkannt war, daß der Streitpunkt
nach der Natur der Aggressivität (als Schlagwort für die
materialisierten Aggressine dienten die Ausdrücke : Sekre¬
tionsprodukt und Bakteriensubstanz) bedeutungslos, weil zum
Teil unlösbar sei, blieb nur noch die Frage nach der Art
und Weise ihrer Wirkung übrig (als Schlagworte dienten :
Abhaltung zelliger Schutzvorrichtungen und Bindung bak¬
terizider Säftewirkungen). Indem Wassermann und
Citron die , Gleichberechtigung beider Schutzvorrichtungen
jetzt als etwas gewissermaßen Selbstverständliches hin¬
stellen, entfällt auch hier jede weitere Auseinandersetzung.
Hätten. Wassermann und Citron diesen Standpunkt
früher eingenommen oder deutlich erkennen lassen, so wäre
schon zeitiger erkannt worden, daß hier ein imentscheid¬
barer Streitpunkt vorliegt, der nur durch die Lösung des
Problems der natürlichen Schutzkräfte vielleicht beendet
Zenlralblatt für Batt., Bd. 53, Heft 4.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 10
j (j
werden kann. Daß wir Uel' in dieses Droblein Jiaeli ver¬
schiedenen ilicJilnngen Jiin eindringen niußlen, isl ein J'ir-
gebiiis der Diskussion mit Wassermann, das wir dank¬
bar anerkennen und da aneli unsere Ciegner in diesem
Streite Judolge zu verzeiciinen batten,“) so isl die Dis¬
kussion nicht ergebnislos verlaulen. Unsere Kesuliate sollen
jiumnelir olme polemisclicn jXebenzweck in rascher Uolge
veröllentlicliL werden.
\’on anderen Seilen wurde das Destelien der Aggres¬
sivität, als einer Ijesondercm, bei der' Infektion auftretendeii
DakterieneigeiiscbafL, übeibaupl verneint. Danach ist im
wesentlichen die Aggressivjläl der bei der Infektion ge¬
bildeten Körpertlüssigkeilen mil ihrer Toxizität ideidiscli,
die Aggressinwirkung ist nichts anderes als eine \’ergif-
tung, nicht stark genug, um den Tod lierbeizufüliren, aber
binreicliend, um die WTderstandsfähigkeit des Körpers lier-
abzusetzen und dadurch die Infektion zu erleiclitern. i\a-
mentlicb Doerr vertritt in mehreren Arbeiten^) diese Auf¬
fassung. Ung damit zusammen bängt die Krage nach der
Spezifität aggressiver Wirkungen, ivelche Doerr folgerich¬
tig leugnet. Die Immunisierung mittels aggressiver Ex¬
sudate wird ähnlich wie von Wasserjuann und Udtron
durch aufgelöste liaklerienteilchen erklärt.
Ein näheres Eingehen auf diese Anschauungsweise
mußte bisher unterbleiben, da man nur schwer nacli zwei
Uichtungen hin Eroid machen kann. Jetzt kann die Dis¬
kussion hierüber aufgenouimen werden. Soll sie, so wie
die frühere, zu wertvolleji Resultaten in dieser oder jener
Hinsicht führen, so ist es vor allem notwendig, die strittigen
Punkte genau feslzuslellen und die Möglichkeit ihrer Ver¬
folgung durch den \'ersuch zu untersuchen.
Vorher nur einige, mehr nebensächliche Demerkungen
gegen die Arbeiten Doerrs. Er vermutet, daß ein Teil
der Aggressinversuche deshalb positiv ausfällt, weil dabei
die wechselnde Empfänglichkeit der Versuchstiere gegen
die Cintraperiloneale) Infektion mit Halbparasilen nicht be¬
rücksichtigt wurde. Diese sei aber so groß, daß manch('
Tiere das Jlundmdfacbe der Raklerienmengo überstellen,
welche andere lötet. Wir bemerken dazu, .daß wir von dieser
wechselnden Emiifänglichkeit bei Meersclnveinchen weder
frühen', noch bei vergleichenden \'ersuchen später etwas
Ixnnerkt haben. Es soll ohne weilei'es zugestanden werden,
daß von einem Cholerastaimn, dessen tödliche Dosis an
einem J’iere z. B. mit t)ese fesigeslelll wmrde, gelegent¬
lich schon Vio oder V12 Dese löten kann, wälirend andere
Tiere \ (3 Oese vertragen. Ja, es möge sogar, da. Doerr
darauf WenJ zu legen scheint, zugi'geben sein, daß Schwan¬
kungen um das Sechsfache der tödlichen Dosis, wie bei
Toxinen, Vorkommen. Innerhalb solcher, ziemlich enger
Orenzen kann man aber mit Bakterien ebenso gut arbeiten
wie mit Toxinen. Jedenfalls können positive Aggressinver¬
suche, wie andere Autoren und wir selbst sie zu verzeichnen
batleii, nicht auf diese WAuse erklärt werden.
Doch berührt, wie gesagt, dieser Punkt den Kern der
Krage nicht, welche zu lauten hätte: Ist die Aggressivität
von Exsudaten, Oedenien etc. infizierter Tiere durch Ciift-
wirkung derselben zu erklären? Schreibt man der Aggres¬
sivität eiiK' Bedeutung für den Erfolg und Verlauf einer
Infektion zu, so wäre sie zu formulieren: Ermöglicht sich
der Bazillus seine Verbreitung und V'erniehrung im Tier¬
körper nur dadurch, daß er das Tier vergiftet?
Schon diese einfache, aber klare Kragestellung lehrt
dem in solche Versuche Eingeweihten, daß ein absoluter,
prinzipieller Gegensatz zwischen aggressiver und toxischer
WTrkung nicht notwendig bestehen muß und daß es auf
die Alethode ankomml, mit der man der Beantwortung jiäher
zu treten sucht. Dies zeigen die zu diesem Zwecke unter¬
nommenen Versuche sofort klar. VVAnn es, wie uns und
In bezug auf Hühnercholeraimmunisierung mit Baklerien-
extrakten können wir allerdings diese Erfolge nicht anerkennen, wie
noch weiter ausgeführt werden muß. Sonst ist auch unsererseits die
Diskussion beendet und was darüber noch gedruckt wird, ist vor Ab¬
fassung dieses Artikels fertig gewesen.
Ausführlich in Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 51.
auch Wassermann und Citron, vorwiegend auf das
Studium der aggressiven Wirkung ankomml, der vvdrd ver¬
suchen, mit möglichst kleinen Mengen der Körperflüssig-
keiteii infizierter Tiere zum Ziele zu kommen, z. B. Infek¬
tionserleichterung zu bewirken, um damit von vornherein
jede, etwa giftige Nebenwirkung nach Alöglichkeit auszu¬
schließen. Wer aber Aggressivität durch Vergiftung erklären
will, wird zunächst festzustellen trachten, daß man mit
der betreffeiidcn Klüssigkeit bei großen Mengen derselben
ein Tier krank machen oder töten kann und dann scliließen,
daß auch bei Anwendung geringerer Quantitäten die Ver¬
giftung schon da ist und das Tier widerstandslos macht.
An sich betrachtet, haben zweifellos beide Methoden ihre
Berechtigung; wenn man aber das zugibt, so'vörliert die
ganze Streitfrage sofort einen großen Teil ihrer Bedeutung,
weil sie unlösbar wird. Denn während der eine sagt, daß
er mit 1 cm^ Klüssigkeit aggressive Wirkung, aber keinerlei
Vergiftung sehen könne, weist der andere darauf hin, daß
8 oder 10 ciiK Tiere sogar töten können, 1 cm^ also doch
eine Einverleibung von Gift bedeuten müsse. Diesem Ein¬
wand gegenüber aber ist der erste wehrlos, da er bestehen
bleibt, selbst wenn er mit Vioo aggressive Wirkung
erzielen, aber erst mit 50 cnK töten könnte.
Eine direkte Entscheidung ist nur in besonderen
Källen, die noch erwähnt werden sollen, möglich. Eine in¬
direkte ist z. B. von Doerr versucht worden, der zeigte,
daß man Infektionsbeförderung auch durch untertödliche
jVIengen von fremden Toxinen herbeiführen könne. Der Ver¬
such ist zweifellos richtig, aber Beweiskraft hat er nicht.
Die Infektionserleichterung ist, wie wir uns durch sehr ge¬
naue Studien überzeugt haben, eine sehr vieldeutige Er¬
scheinung und kann ebenso gut durch Abkühlung oder Er¬
müdung u. dgl. herbeigeführt werden, wie ältere Versuche
von Lode und neuere von Tromms d or f zeigen. Kann
aber die dabei erfolgende Körperschädigung noch mit der
durch Vergiftung verglichen werden, so wird eine solche
Annahme fast unmöglich, wenn man die Infektion durch
gleichzeitige Einspritzung von 0-05 enr^ präzipitierendem
Serum und 0 01 euK des Antigens i.z. B. Menschenserum)
erleichtert, eine von Pfeiffer und Kriedberger ange¬
gebene Methode, die ausgezeichnete Dienste leistet.
Und doch, wenn man es gerade will, kann man auch
hier von Vergiftung reden. Wenn wirklich durch die Pfeif¬
fersche Methode Komplement gebunden wird und dieses,
wie man wohl annehmen darf, eine wichtige Kunktion im
Körper zu erfüllen hat, so bedeutet seine Bindung oder
Ablenkung eben eineji Kunktionsausfall und wo will man
da die Grenze für eine Vergiftung ziehen? Bringt aber ein
aggressives Exsudat nur eine Verzögerung des Leukozyten¬
zuflusses hervor, so ist dies auch ein Ausbleiben einer
normalen Körperreaktion, in letzter Linie auch eine unter-
tödliche Körperschädigung.
Es wird bei dieser tiefer gehenden Betrachtung so¬
fort klar, daß die erwähnte Streitfrage leicht zu einem
bloßen Streite um Wortdefinitionen führen und damit wert¬
los werden kann. Eine andere indirekte Entscheidungs¬
möglichkeit ist von Doerr und neuestens auch von Sauer¬
beck versucht worden, die Spezifität der Aggressinwirkung.
Aber auch hier entscheidet die Methodik über den Erfolg
und wie vorsichtig man mit der Spezifität umgehen muß,
das haben die jahrelangen Versuche mit Immunseren deut¬
lich genug bewiesen. Wer ein gutes, agglutinierendes
Typhusserum nur bis zur Verdünnung 1 : 100 mit Typhus
und Koli prüft, wird die Spezifität leugnen, die ein anderer
bei der Konzentration 1:1000 findet. Ahcht anders liegt
es bei der Aggressivität. Sucht man, wie wir es stets getan
haben, mit den kleinsten Aleiigen aggressive Wirkungen
zu erzielen, so tritt sie, wo überhaupt möglich, hervor,
vermehrt man die Menge, sO' erfolgt, wie Sauerbeck‘S)
*) Die Versuche von Sauerbeck (Zeitschrift für Hygiene, Bd. 56,
Nr. 1) enthalten viele und grobe Fehler, die dem Geübten gar nicht
entgehen können. Gleichwohl bringt die fleißige Arbeit, die olTenbar unter
schwierigen äußeren Umständen durchgeführt wurde, mehrere Fortschritte.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. 27
zeigte, eine? uiclil spezitisclie Aggressiiiwirkuiig. Dabei aber
darf man nicht vergessen, daß der in Detraclit konimende
Effekt,, der InfektionseiieicliterLing wieder vieldeutig ist.
Es ist ein, alter Laboratoriumskniff, eine sonst schwierige
Infektion dadurch zu sichern, daß man gleichzeitig mit den
Bakterien viel Flüssigkeit intrapleural oder intraperitoneai
einführt. Dazu kann schon gewöhnliche Bouillon dienen,
noch sicherer aber viel inaktives Serum und als solches
kann man ja ein sterilisiertes Aggressin hetrachten.
Unter solchen Umständen bleibt nur übrig, konkrete
Fälle in möglichster Ausdehnung zu untersuchen und bereits
jetzt liegt einiges Material vor. Eines darf man aber bei
der Beurteilung der Aggressivität nie außer Augen lassen:
Das, was von uns als Aggressine beschrieben wurde, ist
eine Körperflüssigkeit, die während der Infektion im Tiere
sich bildet und dabei ihre aggressiven Eigenschaften an-
nimnit. Nichts ist natürlicher, als zu schließen, daß diese
Eigentümlichkeiten, die auch nach der Gewinnung aus dem
toten Tiere nachzuweisen sind, während der Infektion des
lebenden Tieres eine Rolle gespielt haben. Üb das völlig
ungiftiges Aggressin oder nicht aggressives Toxin ist, es
muß gewirkt haben, so wie niemand zweifelt, daß das
Diphtheriegift, das sich im Pleuratransudat auffinden läßt,
dasselbe ist, welches das Tier getötet hat. Eine solche
aggressive oder toxische Flüssigkeit muß eine ungleich
höhere Bedeutung haben als künstlich im Glase hergestellte
Flüssigkeiten von ähnlicher Wirkung. Wemi man das im
Auge behält, so- ist ein wertvoller Erfolg der Untersuchung
gewährleistet, selbst wenn die Frage, ob Toxin und Ag¬
gressin im gegebenen Falle sich trennen läßt, unlösbar wäre.
Prüft man verschiedene Exsudate auf ihre aggressive
und toxische Wirkung, so findet man zunächst zwei Ex¬
treme. Körperflüssigkeiten von milzbrandigen und hühner¬
cholerakranken Tieren (ihre richtige Gewinnung, die manch¬
mal nicht ganz einfach ist, als selhstverständlich voraus¬
gesetzt) sind SO' gut wie absolut ungiftig. Weil hat Kanin¬
chen bis 40 und 60 cm^ homologes Kaiiinchenaggressin,
ich selbst Schafen l)is 250 cnP homologes und heterologes
Milzbrandaggressin auf einmal injiziert, ohne andere Er¬
scheinungen zu beobachten, als die mit der erschwerten
Resorption solcher Flüssigkeitsmengen notwendig verbun¬
denen Infiltrationen. Das andere Extrem bildet der Diph¬
theriebazillus, welcher nach den umfänglichen Untersuchun¬
gen von Salus Exsudate bildet, die zwar toxisch, aber
nicht imstande sind, ein Wachstum des Bazillus im Tiere,
also eine wirkliche Infektion herbeizuführen.
Diesen reinen Fällen, welche zeigen, daß toxische und
aggressive Wirkung unabhängig nebeneinander bestehen
können, stehen viele andere gegenüber, bei denen aggres¬
sive Exsudate unter besonderen Bedingungen unzweifel¬
haft giftig sind. Ein solches Beispiel, den Dysenteriebazillus
betreffend, hat Kikuchi bereits in den allerersten Ag-
gressinarbeiten^) genauer untersucht. Bei Meerschweinchen
kann man mit Mengen eines Exsudates, die an sich ohne
Schaden vertragen werden, aggressive Wirkungen erzielen,
während das gleiche Exsudat in kleinen Bruchteilen eines
Kubikzentimeters Kaninchen unter Erscheinungen vergifte! ,
welche Kikuchi genau beschrieben hat, eine Beobach¬
tung, welche Doerr bei seiner Zusammenfassung der Ar¬
beiten über Dysenterietoxin merkwürdigerweise gar nicht
erwähnt. Aehnliches gilt für den Staphylokokkus, der von
Bail und Weil in dieser Hinsicht genauer, wenn auch
noch nicht abschließend, studiert wurde. Unter solchen Um¬
ständen haben wir erklärt, daß Kaninchen für das Studium
der Aggressivität solcher Bazillen ungeeignete, Tiere seien,
während man bei Verwendung von Meerschweinchen die
Giftigkeit der Exsudate ausschalten kann. Die Gegenseite
kann darauf antworten, daß eine solche Flüssigkeit für ver¬
schiedene Tiere nur quantitative Giftigkeitsunterschiede auf¬
weisen könne und daß daher auch die aggressive Wirkung
bei Meerschweinchen auf Schädigung durch das an sich
Archiv für Hygiene, Bd. 52.
freilich nicht tödliche Gift zurückzuführeii sei. Da indirekte
Beweise, wie oben gezeigt wurde, ebenfalls keine einwand¬
freie Versuchsanordnung zidassen können, so ist der SU’eil
mit den gegenwärtigen Behelfen überhaupt Itaum zu ent¬
scheiden und es ist besser, solche Fälle zunächst allseitig
zu untersuchen.
Dabei stellt sich nun heraus, daß das von Kikuchi
beim Dysenteriebazillus entdeckte Verhalten der Exsudate
infizierter Tiere weiter verhreitet ist und vermutlich allen
Halbparasiten ziikonmil. Das Objekt, von dem hier die Rede
sein soll, ist der Typhusbazillus. Dieser ist in bt'zug auf
seine Aggressivität eingehend am Aleerschweinchen studiert
worden und es hat sich herausgestellt, daß er mit großer
Regelmäßigkeit, wie sie bei Cholera oder Dysenterie nicht
entfernt zu finden ist, Exsudate liefert, die schon in relativ
sehr kleinen Mengen (l cm^ und selbst etwas darunter)
ausgesprochen infektionsbefördernd wirken. Solche und
noch viel größere Mengen (bis 6 cm^) wurden an sich von
Meerschweinchen intraperitoneal, selbst bei wiederholter
Einspritzung, schadlos verl ragen. Erst bei Einspritzung noch
größerer Mengen (8 cm^) traten deutliche Krankheitserschei-
nimgen mit folgender Abmagerung auf, doch ist bisher noch
kein Tier an Typhusaggressin allein gestorben. Wie solche
Exsudate von geringster Toxizität und größter Aggressivität
gewonnen werden, kann hier noch nicht auseinanderge¬
setzt werden, weil es andere AiT)eitsthemen herülirt, doch
dürfte es schließlich wohl gelingen, hei einer Steigerung
der Injektion des recht kostbaren Materiales auf 10 oder
.12 cm'^ auch jV'Ieerschweinchen zu löten. Jedenfalls aber
ist das Meerschweinchen ein für das betreffende Gift sehr
widerstandsfähiges, für Aggressinwirkung sehr zugängliches
Tier und die Giftigkeit der natüiTichen Aggre^ssiue ist mit
der der künstlichen Wasserextrakte, die Wassermann
und Citron auwendeten, gar ni(dit zu vergleichen.
' Es schien nun von großem Interesse, die Bildung und
Wirkungsweise der Typhusaggressivilät bei einem Tiere zu
untersuchen, das gegen Typhusinfektion sehr widerstands¬
fähig ist, in der, wie sich zeigte, ganz uiib(U‘-echtigten lloff-
nimg, eine noch größere Giftunempfiudlichkeit zu finden.
Di(i. erhaltenen Resultate haben über die erwähnte Streit¬
frage hinaus eine große Bedeutung.
Zur Verwendung gelangte bisher nur ein iiii Instil uL viel¬
gebrauchter Typbusstainin ,,Dobscban“ von einer zur Zeit diesen'
Versuche Ijeträchtlichen Meer.schweinchenpathogeniiät (zirka
Vi5-Üese). l.)ie Kaninchenhnpfung erfolgte serienweise niit dein
Exsudat von Tier zu Tier. Wieden-gegeben sind Beispiele von
Serien mit den dazu gehörigen Giftversuchen.
Kaninchen 51, 500 g, erhält am 6. Mai 1906, 1 Agarkultur
Typhus (aus dem Herzen des vorangehenden Kaninchens 50 ge¬
züchtet) intrapleural. Zeigt keine besonderen Krankheitserschei¬
nungen, namentlich keine Oiarrhoe und stirbt nach 9 Stunden, ln
der rechten Pleura 4, in der linken 2-5 cm^ trübes, nicht blutiges
Exsudat mit mäßigem Zellgehalt (Phagozytose) und zahllosen Ba¬
zillen. Milz nichl auffällig vergrößert, im Darme nichts Be¬
sonderes.
Kaninchen 52, 500 g, erhält am 7. Mai früh eine xMisctiung
von V2 cm^ rechten Exsudates von Nr. 51 und 3 cnP Spiilwassei
der gleichen Pleura, zu gleichen Teilen beiderseits intrapleural.
Nach IV2 Stunden wird eine profuse Entleerung hellgelber Stuhl¬
massen bemerkt, die bis zum Tode des sehr rasch entkräfteten
Tieres nach 6V2 Stunden anhält, ln der rechten und linken
Brusthöhle zusammen 1-5 enp trübes, zellarmes, enorm bazillen¬
reiches Exsudat. Bauchhöhle frei. Vlesenteriuni stark injizieil,
ebenso Duodenum, Jejunum und Anfang des Ileums rot und
intensiv injiziert, vielfache kleine Schleimhautblutungen. I ankreas
Aselli wahrscheinlich, Milz deutlich geschwollen.
Kaninchen 53, 1160 g, erhält am 7. Vlai 1906 abends die
vereinte Spülflüssigkeit der rechten und linken Pleura von Ni. 52
intrapleural. Der Tod erfolgt in der Nacht, ln beiden 1 leinen
zusammen höchstens 1-5 cm^ trübes, ziemlich zelheiches Ex¬
sudat mit starker Phagozytose. Bazillen in enormen Mengen,
oft mit schwacher Häufchenbildung. Milz und IMukreas Aselli
vergrößert, mit sehr zahlreichen Bazillen. Starke Injektion des
Darmes, besonders im Jejunum.
Kaninchen 54, 700 g, erhält am 8. Mai 1906 fnili lectds-
seitiges Spidwasser von Nr. 53 intraperitoneai. Sehi staike Diai-
«78
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 10
riioe und Entkräflung, Tod nach drei bis vier Stunden. In der
Bauchhöhle ca. 0 cm^ trübe, dünne Flüssigkeit, ohne Zellen,
mit zahlreichen Bazillen. Milz nicht vergrößert, Leber und Niere
außerordentlich zerreißlich. Darni überall gerötet und injiziert,
Plaques auffallend groß. Pankreas Aselli stark öderaatös.
Kaninchen 55, 800 g, erhält am 8. Mai 1906 mittags 4 cm®
der Spülflüssigkeit des Peritoneums von Nr. 54 und stirbt nach
11 bis 17 Stunden. In der Bauchhöhle finden sich ca. 6 cm®
sehr trüber, zellreicher Flüssigkeit mit starker Phagozytose. Ba¬
zillen in großer Menge, meist in kleinen Häufchen liegend. Darm
gerötet und injiziert, aber ohne Blutungen. Mehrere solcher finden
sich in den geschwollenen Nieren. Leber mit starker parenchy¬
matöser Degeneration. Milz vergrößert. Ueberall im Körper
Bazillen.
Kaninchen 56, 920 g, erhält am 9. Mai 1906 früh Spülwasser
des Peritoneums von Nr. 55 beiderseits intrapleural und stirbt
nach acht Stunden, ohne daß Diarrhöe beobachtet worden wäre,
ln der rechten Pleura 5 cm® trübes, blutiges, in der linken eben¬
soviel nichtblutiges Exsudat, das sich in der Menge von 3 cm®
auch in der Bauchhöhle findet. Alle Exsudate fast zellfrei, mit
Massen von Bazillen, die meist in Häufchen liegen. Darm injiziert,
Duodenum besonders stark gerötet, Blutungen im Mesenterium
und Netz, Pankreas Aselli stark ödematös.
Das nächste Kaninchen 57 stirbt schon nach einer halhen
Stunde nach der intrapleuralen Injektion an innerer Verblu¬
tung, womit die Serie abbricht.
Kaninchen IV-A, 425 g, erhält am 8. Mai 1906 1-5 cm® des
völlig klar (durch iy2 Tage) zentrifugierten Exsudates von
Nr. 51 intravenös. Nach zirka einer halben Stunde zeigt
sich Mattigkeit des Tieres, es bleibt mit angedrücktem Bauche
auf der Erde sitzen und dreht sich nach Umlegen auf die Seite
lange nicht freiwillig um. Bald folgen gehäufte normal aussehend e
Stuhlentleerungen (1. Stadium), dann werden die Kotbröckelchen
feucht und schleimig (11. StadiuniJ und nach einer Stunde be¬
steht als 111. Stadium profuse, übelriechende Diarrhoe. Dabei
hochgradige Prostration, das Tier ist kühl. Nach zwei Stunden
bessert sich die Mattigkeit etwas, die Diarrhoe dauert an. Nach
fünf Stunden weitere Besserung, doch tritt der Tod nach 11^2
Stunden ein. ln der Bauchhöhle kein Exsudat, alle Serosa- mid
Mesenterialgefäße stark injiziert, aber ohne Blutungen. Darm
überall, besonders in den oberen Partien, gerötet, Schleim¬
haut rot, ohne Blutungen. Pankreas Aselli ödematös und
geschwollen. Niere stark geschwollen, bluHeich. Milz und
Nebennieren jedenfalls nicht auffallend verändert, Leber sehr
zerreißlich, eigentümlich hellfarbig. BrusLorgane frei. Mikro¬
skopisch sind nirgends Bazillen zu finden. Ausstriche von Herz,
Niere, Drüsen und Leber bleiben steril.
Meerschweinchen IV-A, 160 g, erhält die gleiche Injektion
wie Kaninchen IV^-A intraperitoneal. Es zeigte sich weder Diar¬
rhoe, noch sonst etwas Ahnormes. Das Tier starb nach zirka
18 Stunden mit viel Typhusbazillen in der Bauchhöhle und dem
Befunde einer relativ leichten Infektion.
Kaninchen IV-B, 400 g, erhält am 9. Mai 1906 1-5 cm®
des vereinigten, klar zentrifugierten Exsudates von Nr. 52 und 53
intravenös. Eine halbe Stunde nach der Injektion setzt der¬
selbe Symptonienkomplex wie bei IV-A ein, verläuft aber milder
und am Nachmittage erfolgt anscheinend völlige Erholung, die
zwei Tage anhält. Am 13. Mai erscheint das Tier wieder matt
und stirbt am 14. Mai, stark abgemagert.
Im ganzen Tiere ist nichts Abnormes zu finden; der Dick¬
darm ist mit ganz dünnen, gelben, übelriechenden Massen ge¬
füllt, einige Mesenterialdrüsen scheinen frisch geschwollen zu
sein. Steril.
Kaninchen IV-C, 330 g, erhält am 10. Mai 1906 1-5 cm®
klar zentrifugierten Exsudates von Nr. 55 intravenös. Die
Prostration ist wenig entwickelt, enorme Diarrhoe, die aber nach
sechs Stunden aufhört. Das Tier erholt sich vollständig und
wächst heran.
Kaninchen IV-D, 395 g, erhält am 10. Mai 1906 1-5 cm®
klar zentrifugierten Exsudates von Nr. 56 intravenös. Nach
einer halben Stunde tritt schwerste Prostration ein, so daß sich
das Tier freiwillig auf die Seite legt. Dabei geht die Diarrhoe
aber nicht über das H. Stadium hinaus. Nach ein bis zwei
Stunden geht die Prostration vorüber, während weiche Diarrhoe
einsetzt. Das Tier bleibt strappig und krank, bei fortdauernder,
aber mäßiger werdender Diarrhoe. Der Tod erfolgt in der Nacht.
Bauchhöhle ohne Exsudat. Das Mesenterium und der ganze Darm
ist intensiv injiziert, diffus rot ist ein ca. 8 cm langes Ileumstück,
in dem zahlreiche dichte Schleimhautblutungen sind; ferner finden
sich mehrere, stark geschwollene, hervorragende, blutie
destruierte Plaques. Blutungen im Netz, Drüsen und Nieren
ödematös. Milz wenig vergrößert, Leber stark parenchymatös
degeneriert. Die mikroskopische Untersuchung zeigt keine Ba¬
zillen. Auf Platten gehen aus der Milz 150, dem Pankreas Aselli
22, der Leber 29, dem Herzen 8 Typhuskolonien auf.
Kaninchen 125, 380 g, erhält am 7. Juli 1906 eine Agar¬
kultur Typhus beiderseits intrapleural. Nach etwa vier Stunden
wird Prostration und eine nicht übermäßige Diarrhoe beobachtet.
Tod nach sieben Stunden. In der rechten Pleura 1-5, in der
linken 1, im Peritoneum 2-5 cm® trüben Exsudates, mit massen¬
haften, regellos liegenden Bazillen, fast ohne Zellen. Pankreas
Aselli gmiz von Blutungen durchsetzt, wie die Milz stark ge-,
schwollen. Blutungen im Netz, sehr starke Injektion des Mesen¬
teriums. Oberer Teil des Rektums ganz blutig infiltriert, im
Dünndarm zerstreute Blutungen und von außen sichtbare, sehr
stark geschwollene, von Blutpunkten ganz durchsetzte Plaques,
Leber und Nieren eigentümlich blaß und trübe.
Kaninchen 126, 400 g, erhält am 7. Juli 1906 abends 1-2 cm®
des rechten Exsudates von Nr. 125 beiderseits intrapleural
und stirbt in der Nacht. Rechts 3, links 2 cm® trüben Exsudates
mit einer mäßigen Anzahl meist polynukle,ärer Zellen und sein-
schwacher Phagozytose. Bazillen sehr zahlreich, regellos ge¬
lagert. Im Peritoneum einige Tropfen sehr bazillenreicher Flüssig¬
keit. Milz und Pankreas Aselli geschwollen, letzteres mit kleinen
Blutungen. Sehr viele kleine Blutungen im Netz und Mesen¬
terium. Sehr vereinzelte Blutpunkte in der lleumschleimhaut,
daselbst auch zwei geschwollene, 'aber nicht blutige Plaques.
Kaninchen 127, 830 g, erhält am 8. Juli 1906 0-75 cm® rechtes
Exsudat von Nr. 126 intrapleural. Das Tier zeigt nach sechs
Stunden hochgradige Prostration und Diarrhoe des H. Stadiums.
Tod nach 7V2 Stunden. In der rechten Pleura 2 cm®, in der
linken ebensoviel Exsudat mit wenig Zellen und schwacher
Phagozytose, massenhaft Bazillen. In der Bauchhöhle kein Ex¬
sudat. Milz und Pankreas Aselli stark geschwollen, letz¬
teres blutig infiltriert, im Darm von außen sichtbare, ganz blutige
Plaques, neben zahlreichen, zerstreuten, punktförmigen Schleim¬
hautblutungen, die sich im unteren Teile des Dünndarmes häufen
und meist streifenförmig die Höhe der Falten infiltrieren. Im
Blinddarm zerstreute Blutungen. Der Inhalt des Dünndarmes be¬
steht aus einem glasigen, fast farblosen Schleim, im Dickdarm
dünnbreiige, gelbe Massen. Die sonst blassen, zerreißlichen Nieren
und die Leber zeigen Blutungen.
Das folgende Tier der Serie erweckt Verdacht auf eine \^er-
unreinigung des Exsudates, weshalb die Serie abgebrochen wird.
Kaninchen 125-A, 440 g, erhält am 8. Juli 1906 1-5 cm®
klar zentrifugiertes Exsudat von Nr. 125 intravenös. Nach drei¬
viertelstündiger Inkubation tritt Prostration und Diarrhoe aller
Stadien ein, die aber nicht auffällig hochgradig wird. Nach drei
Stunden legt sich das Tier freiwillig auf die Seite und stirbt
bald darauf. Kein auffällig abnormaler Befund ; der Darm bei
starker Injektion der Mesenterialgefäße sehr blaß. Milz, Drüsen,
Niere und Herz erweisen sich als steril, die Leber liefert neun¬
zehn Kolonien.
Kaninchen 126-A, 410 g, erhält am 8. Juli 1-5 cm® zentri¬
fugierten Exsudates von Nr. 126 inti’avenös. Nach einer halben
Stunde tritt schwere Prostration ein, das Tier legt sich auf die
Seite und stirbt nach einigen Zuckungen etwa eine Stunde nach
der lujeklion. Außer starker Injektion der Darmserosa nichts
Auffälliges. Da dieses Tier Symptome von Seuche zeigt (Aus¬
fluß aus der Nase) wird die gleiche Injektion bei
Kaninchen 126-B, 500 g, wiederholt. Nach einer halben
Stunde Mattigkeit und plötzlich ausbrechende schwerste Diarrhoe,
bei der unglaubliche Mengen erhsengelher, weicher Massen he
ständig abfließen. Nach drei Stunden läßt das nach, das Tier
bleibt aber matt und stirbt nach etwas mehr als fünf Stunden.
Im Bauchraum wenige Tropfen ganz klarer Flüssigkeit ohne Be¬
fund. Milz deutlich vergrößert, Leber und Nieren blaß und trübe.
Pankreas Aselli stark ödematös. Mesenterium injiziert. Im Darm
von außen sichtbar drei typische, geschwellte Plaques, diffus
gerötet, mit vereinzelten winzigen Blutpunkten. Sowohl im Dünn-
wie Dickdarm nur Schleim, in ersteren fast farblos, im Dickdarm
gelb gefärbt. Drüse, Niere und Milz ergeben keine, die Leber
16 Kolonien..
Kaninchen 127-A, 430 g, erhält am 9. Juli 1906 1-4 cm®
klar zentrifugiertes Exsudat von Nr. 127 intravenös. Die Inku¬
bation dauert drei Viertelstunden. Danach Prostration und nasch
aufeinanderfolgend die Stadien der Diarrhoe, bei der diesmal
ganz dunkle, übelriechende Massen entleert werden. Nach vier
Stunden hört die Diarrhoe auf und es erfolgt Erholung. Abends
tritt neuerliche Ermattung mit schwacher Diarrhoe auf. In der
Nacht stirbt das Tier. In der Bauchhöhle 1-5 cm® schwach trüher
Flüssigkeit, die nur abgestoßene Endothelien enthält. Pankreas
}
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Aselli sehr stark ödematös, aber ohne Blutungen. Darm im ganzen
blaßi, mitÖan der starken Injektion von außen erkennbaren Plaques,
die aber keine Blutungen zeigen. Im Dünndarm glasig schleimiger,
im Dickdarm gelber, dünnbreiiger Inhalt. Milz etwas geschwollen,
Leber und Nieren blaß und trübe. Nirgends Bazillen.
Kaninchen 131, 660 g, erhält am 11. Juli 1906 eine Agar¬
kultur beiderseits intrapleural. Stirbt in der Nacht, ln der
rechten Brusthälfte 3, links 2 cm^ blutig trübes Exsudat, mit
massenhaften Bazillen und einer mäßigen Zahl polynukleärer
Leukozyten. Blutungen im Netz, starke Injektion der Mesenterial¬
gefäße. Dai’m ohne Blutungen, al)er mit drei deutlichen, von
außen sichtbaren, geschwollenen und roten Plaques. Milz und
Pankreas Aselli geschwollen.
Kaninchen 132, 680 g, erhält am 12. Juli 1906 l o cm®
Exsudat von Nr. 131 beiderseits intrapleural. Schon nach
einer Stunde tritt starke Prostration ein, doch wtirde eine stärkere
Diarrhoe nicht beobachtet. Der Tod tritt nach sechs bis sieben
Stunden ein. Rechts 3, links 1-5, im Peritoneum 4 cm® stark
trüben Exs{idates, das fast zellfrei ist und enorme Bazillenmengen
enthält. Im ganzen Dünndarm zerstreut, besonders im unteren
Teile desselben gehäuft, zahlreiche Scbleimbautblutungen. Viel¬
fach große, geschwollene Plaques ganz von Blutungen durchsetzt.
Pankreas Aselli geschwollen und blutig, Milz groß.
Kaninchen 133, 1000 g, erhält am 12. Juli 1906 t-2 cm®
Exsudat von Nr. 132 beiderseits intrapleural und stirbt in
der Nacht. Rechts und links zusammen wenig über 2 cm®, im
Peritoneum 1 cm® trüben, etwas blutigen Exsudates, mit massen¬
haften Bazille]]. DaianVeränderungen fast nur im Jejunum und
oberen Ileum, bestehend aus zahlreichen, subserösen und sub-
]nukösen Blutungen. Zahlreiche Plaques, z. T. nur geschwollen,
z. T. mit Blutpunkten. Pankreas Aselli hochgradig ödematös, mit
kleinen Blutungen. Solche auch in beiden Nieren. Milz vergrößert.
Das folgende Kaninchen 134, intrapleural injiziert mit
1 cm® Exsudat vo]i Nr. 133, stir])t ]iach 6V2 Stunden mit schwerer
Diarrhoe und Darmveränderungen, liefert aber kein reines Exsu¬
dat. (Verunreinigung durch plumpe Stäbchen.)
Kaninchen 131-A, 420 g, erhält am 12. Juli 1906 T5 cm®
Exsudat von Nr. 131 intravenös. Nach einer Inkubation von
einer Stunde tritt Prostration und rasch folgend die Stadien der
Diarrhoe auf, die aber nicht übermäßig stark wird. Am Nach¬
mittage erholt sich das Tier etwas, stirbt aber in der Nacht.
Milz geschwollen, Leber und Niere sehr zerreißlich. Pankreas
Aselli sehr stark ödematös. Darm im oberen Teile diffus rot,
aber ohne Blutungen, Plaques geschwollen, rot, ohne Blutungen.
Külturen aus Leber und Niere bleiben steril, die Milz liefert 19,
das Herzblut 3 Kolonien.
Das klar zentrifugierte Exsudat von Nr. 131 wurde gleich¬
zeitig mit einem Extrakte, der aus den abzentrifugierten Bazillen
dieses Exsudates mit soviel Wasser alsi Exsudat vorhanden war,
durch eine Stunde Erhitzen bei 60® hergestellt war, auf seinen
Gehalt an präzipitabler Bakterieiisubstanz untersucht. Als Kon¬
trolle diente ein Extrakt aus einer Agarkultur in 3 cm® Wasser,
eine Stunde 60®.
1) 0‘25 Exsudat 131 + 0‘75 NaCJ-Lösung'^
2) 0-1 „ + 0-9
3) 0-25 Extrakt 131 + 075
4) 0-1 „ +0-9
5) 0-25 Kontrollextr.d- O'Tö ,,
6) O’l „ + 0-9
Nach drei Stunden Aufenthalt bei 37® ist Nr. 1 deutlich,
Nr. 2 schwach trüb, ohne Flocken, die Trübung besteht zum
großen Teil jedenfalls aus Bakterien in kleinen Häufchen, Nr. 3
bis 6 starke, zum große]] Teil abgesetzte Präzipitalflocken.
Nach 24 Stunden überall Sätze, die aber bei Nr. 1 und 2.
]iach dem ]nikroskopiscben Bilde, größtenteils jedenfalls aus agglu-
tinierten Typhusbazillen bestehen.
Kani]]chen 132-A, 600 g, erhält am 13. Juli 1906 1-6 cm®
zentrifugiertes Exsudat von Nr. 132 intravenös. Nach einer Inku¬
bation vo]i drei Viertelstunden tritt große Prostration ein, mit
I. und H., nach fü]]f Viertelstunden IH. Stadium der Diarrhoe.
Dann folgt etwas Erholung bei beständiger Diarrhoe leichten
Grades. Diese hält am 14. Juli an, das Tier macht am 15. Juli
einen ganz elenden Ei]idruck, erholt sich aber schließlich doch.
Kaninchen 132-B, 610 g, erhält am 13. Juli 2-2 cm® zentri¬
fugierten Exsudates von Nr. 132, das eine halbe Stunde auf
56® erhitzt war. Das Tier zeigte weder Prostration ]iocb Diar¬
rhoe und blieb münter.
Präzipitationsversuch mit Exsudat vo]] Nr. 132 mid einem
Wasserextrakt, der aus den Bazillen dieses Exsudates in der oben
angegebenen Weise hergestellt war.
+ 0-2 Typhusimmun¬
serum
+ je 0‘1 Typhus¬
immunserum
1) 0-25 Exsudat 132 + 0'75 NaCl-Lösung
2) 0-1 „ +0-9
3) 0-25 Extrakt 132 + 0-75
4) 0-1 „ + 0-9
Schon nach einer halben Stunde bei 37® ist Nr. 3 voll
grober, Nr. 4 voll feiner Flocken, Nr. 1 und 2 sind klar. Nach
zwei Stunden ist in Nr. 3 und 4 die Präzipitation beendet, die
Proben Nr. 1 und 2 sind geronnen. Durch Zerschütteln scheiden
sich Fibrinfäden ab, die in der klaren Flüssigkeit zu Boden si])k('n.
Nach acht Stunaen Aufenthalt bei 37® sind Nr. 1 und 2 völlig
klar, am Boden der Röhrchen liegen Fibrinfäden, die auch beim
stärksten Schütteln nicht auseinandergehen und keine Trübung
veranlassen. |
Kaninchen 133-A, 310 g, erhält am 13. Juli 1906 1-2 cm®
zentrifugiertes Exsudat von Nr. 133 intravenös. Nach einer halben
Stunde tritt Prostration und Diarrhoe 1. und H. Stadiums auf,
die erst nach zwei Stunden in eine solche des IH. Stadiums
übergeht, aber keine hohen Grade erreicht. Am nächsten Tage
ist das Tier munter.
Die Versuche, von denen hier einige charakteristisclie
Serien mitgeteilt sind, umfassen zurzeit über 150 Kanin¬
chen. Es ist heabsichtigt, sie ausführlich mitzuteilen,®) so¬
bald Zeit und Tiermaterial zu Gebote stehen, um sie, was
dringend notwendig ist, auch auf andere Typhusstämme
auszudehnen. Aber bereits in ihrem gegenwärtigen Zustand
sind sie geeignet, Interesse zu erwecken, wobei allerdings
die größte Kritik geboten ist. Das auffälligste ist, daß das
Kaninchen, ein gegen den Typhushazillus sehr widerstands¬
fähiges Tier, unter Umständen, besonders bei Verwendung
vo]i Serienimpfungen, ein Krankheitshild aufweisen kann,
das zum menschlichen Typhus zweifellose Analogien dar-
hietet. Der Hauptsitz der Veränderungen ist der Darm und
auch die Krankheitserscheinungen weisen auf diesen hin.
Entzündungen der Schleimhaut, Injektion der Gefäße, Blu¬
tungen, Schwellungen des Drüsenapparates wurden über¬
aus häufig beobachtet. Namentlich die Vergrößerung der
Plaques ist wichtig. Diese sind schon im normalen Kanin¬
chendarm groß und sichtbar, weshalb Vorsicht hei der Be¬
obachtung einer einfachen Schwellung nötig ist. In vielen
Fällen ließ aber das starke Hervortreten derselben in das
Darmlumen, die Rötung und insbesondere die Blutungen
keinen Zweifel über ihr starkes Befallensein. Vorsicht ist
auch hei Beurteilung der Drüsenschwellungen, namentlich
der des Pankreas Aselli, geboten : stark ödematöse Be¬
schaffenheit, Rötung und namentlich wieder Blutungen
stellen erst schwere Veränderungen sicher.
Nicht minder wichtig ist die Beobachtung, daß es bei
Injektion des klar zentrifugierten Exsudates zu Krankheits¬
erscheinungen wieder von seiten des Darmes mit großer,
wenn auch nicht absoluter Regelmäßigkeit kommt, die oben
beschrieben sind. Eine Menge von 1-5 cm® Exsudat reicht
dazu aus, weniger wirkte nur in einzelnen Fällen sicher,
über dieses Maß hinauszngehen, verhinderte meist die
geringfügige Ausbeute. Die krankhaften Darmerscheinungen
waren dabei fast immer, nicht immer Tod oder längere
Krankheit zu beobachten. Nur in etwa lV2®/o bis 2% der
bisher untersuchten Exsudate war keine Giftwirkung zu
beobachten; oft erfolgte noch am Tage der Injektion nach
Vorübergang der Prostration und der Diarrhoe Erholung,
manchmal waren die Tiere tagelang krank. Wenn Tod ein¬
trat, so geschah dies meist nach zehn bis zwölf Stunden,
selten früher, manchmal später, und dann meist mit ein¬
fachem Marasmus. Der Sektionsbefund wies in den akuten
Fällen unleugbar eine gewisse Aelmlichkeit mit dem auf,
der bei Anwendung bazillenhaltigen Exsudates eintrat, er¬
reichte aber nie dessen starke Ausbildung und insbesondere
Blutungen, die erst das Gefühl der Sicherheit in der Be¬
urteilung der Befunde geben, waren recht spärlich. Da diese
im Gegensätze dazu, nach Anwendung des hazillenhaltigen,
wenn auch verdünnten Exsudates auftraten, so^ ergibt sich,
daß die Darm Veränderungen durch von den Bakterien aus¬
gehende Gifte vorbereitet, in ihrer ganzen Schwere aber erst
®) Unter genauerem Eingehen auf die Literatur, als es hier mög¬
lich ist.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 10
durch .\iisicdhmg der Bazillen an den betreffenden Stellen
veranlaßt werden. Daher keniint es, daß gerade bei Serien-
inipfnngen, wo also Gift und Bazillen übertragen werden,
die typischesten Darmveränderungen^) aiiftreten; doch
wurden sie auch bei großer Bazilleninjektion mehrfach ge¬
funden.
Die auf ihre Giftwirkung geprüften Exsudate waren
in der Mehrzahl der Fälle zwar auf das sorgfältigste zentri¬
fugiert und dadurch außerordentlich bakterienarm, aber nicht
durch Sterilisation hakterienfrei gemacht worden, was durch
die geringe, zur Verfügung stehende IMenge der wirksamen
Flüssigkeiten und durch deren Labilität bedingt war. Wie
der Sektionshefund zeigte, hatten die mit eingespritzten
Bazillen sich während des Ablaufes der Vergiftung in der
Begel nur halten können und ergaben nur aus einzelnen Or¬
ganen noch wenige Kolonien in der Kultur, so daß die Er¬
gebnisse sicher auf Giftwirkung bezogen werden können.
Die wichtigste Frage ist aber die nach der Spezifität
der gefundenen Verändenmgen. Bekanntlich war gerade
das Kaninchen das Hauptversuchsohjekt für jene älteren
Versuche von E. Fraenkel und Simmons und von
A. Fränkel, welche ganz ähnliche Ergebnisse hatten, Avie
di(‘ oben angeführten, aber von Beumer und Peiper mit
dem Hinweis auf die Nichtspezifität derselben bekämpft
wurden. Um diesen Punkt genauer studieren zu können,
wurde die Veröffentlichung der eigenen Resultate aufge-
schohen. Denn es genügt offejibar nicht mehr, ein einzelnes
'Pier mit einem Bazillus zu injizieren, sondern es müssen
Serienübeiiragungen durchgeführt werden. Solche stehen
jetzt, aus Anlaß anderer Versuche angesteltl, für Milzbrand,
Staphylokokkus und den Bazillus Friedländer zur Ver¬
fügung und es muß gesagt werden, daß tatsächlich nach
intrapleuraler Injektion dieser Bazillen gelegentlich Darm¬
veränderungen zu beobachten sind, selbst Schwellungen der
Plaques, namentlich bei Friedländer, daß sie aber niemals
die Regelmäßigkeit und insbesondere die ScliAvere der
Typhusbefunde aufwiesen. Was die Wirkung intravenös
gegebener zentrifugierter Exsudate betrifft,®) so wirken diese
bei Staphylokokken ganz anders, bei Vlilzbrand gar nicht,
bei Friedlärnh'r kann eine solche Untersuchung wegen der
dicken Beschaffenheit der Flüssigkeit nicht gut durchgeführt
werden. Es fehlen noch Versuche mit näheren Verwandten
des Typhushazillus, deren Resultate natürlich andei’!^ be¬
urteilt werden müßten. Bis auf Aveiteres kann daher die
Wirkung von Typhusbazillen und Kaninchenexsndat, besser
die A^ereinte Wirkung beider, als sehr bezeichnend, Avenn
auch noch nicht als spezifisch angesehen werden. Sie be¬
deutet jedenfalls einen Fortschritt gegenüber der Feststellung
der Bakterien Pathogenität in der MeerschAveinchenbauch-
höhle, AAm die entstandene Peritonitis, ob durch Vibrionen
oder Kokken oder Stäbchen erzeugt, absolut nichts Charak¬
teristisches hat.
Was die Beständigkeit der Giftwirkung des Exsudat('s .
betrifft, so ist dieselbe jedenfalls nicht groß. Erliitzung auf
htU bis ßO® genügt bereits, um die verderbliche AVirkung
für den Tierkörper bedeutend zu A^ermindern; ganz aufge¬
hoben scheint sie (hei AnAvendung größerer Mengen) nicht
zu sein.
MeerscliAveinchen zeigen bei Injektion Amn "Mengen,
Avelche Kaninchen töten, keinerlei Krankheiiserscheinungen ;
hingegen tritt die aggressive Wirkung ausnahmslos so stark
herA’or, daß die ladativ sehr Avenigen, im zentrifugierten Ex¬
sudate enthaltenen Bakterien, dereji Zahl auch nicht ent¬
fernt an die tödliche Dosis heranreicht, erfolgreich in¬
fizieren können. Sterilisiertes Exsudat A^ertragen sie bis
zur Alenge Amu 8 enU ohne jeden Schaden, soAvohl sub¬
kutan, als intraptn'iloneal. ATehr stand für diese Versuche
ni(dit ZU]- A'erfügnng. .Auch Aläuse scheinen sich nach A'^er-
einzelteii Experimenten Avie MeerscliAveinchen zu verhalten.
T Dieselben wurden in der Juni-Sitzung der biologischen Sektion
des Vereines »Lotos« in Prag demonstriert.
®) Es handelt sich nur um relativ kleine Dosen bis höchstens?
B cm®, Einspritzung größerer Flüßigkeitsmengen gibt vieldeutige Resultate.
Es erschien von einigem Interesse zu untersuchen,
ob sich auch sonst die eigentümliche GiftAvirkung, z. B, bei
Kultur des Typhusbazillus, auffinden lasse. Die Resultate
Avaren bisher äußerst scliAvaiikend, da größere Mengen nicht
injiziert Averden können. Immerhin sind qinige unzAveifel-
haft positive Resultate zu verzeichnen, die besonders dann
eintraten, Avenn die angelegten Kulturen mit größeren Mengen
von frischem Kaninchenexsudat beimpft Avurden.
Am 13. Mai 1906 Avurden 15 cm® Bouillon und ebensoviel
eines ganz frischen (vier Stunden), etwas blutkörperchenhaltigen
Kaninchenserums mit je 0-5 cm® des Exsudates eines eben der
intrapleuralen Typhusinfektion erlegenen , typischen Serien¬
tieres (Kaninchen Nr. 65) geimpft und gleichzeitig mit einer
Probe des steril belassenen Serums und Bouillon in den’ Brut¬
schrank gestellt. Am 17. Mai und 18. Mai 1906 Avurden je 2 cm®
dieser Kultur sorgfältig zentrifugiert (a und b), am 23. Mai der
Rest verarbeitet (c). Er enllii'dl nur TypliUshazillen in Rein¬
kultur. 1 , '
Kaninchen F-V, 210 g, erhält 1-5 cm® Bouillongift a intra¬
venös. Nach drei Viertelstunden tritt Diarrhoe auf, aber keine
besonders auffällige Prosti-ation. Die Diarrhoe Avird nach zwei
Stunden besser, hört dann ganz auf, um am nächsten Tage,
Avo das Tier schon elend ist, wdederzukehren. Die Sektion er¬
gibt schwere Dannstörungen mit viel Blutungen in der Schleim¬
haut. Die Nieren sind geschwollen und sehen ganz fleckig, mit
roten und grauen Stellen aus. Die Pyramiden sind auf dem Durch¬
schnitt teilweise ganz blutig destmiert.®) Ueherall fanden sich
zahlreiche Typhusbazillen.
Kaninche]] G-V, 230 g, erhält 1-5 cm® Serumgift a intra¬
venös. Nach drei Viertelstunden tritt hochgradige Prostration ein.
Dahei hochgradige Diarrhoe, deren dunkelflüssige Entleerungen
unAvillküiiich beständig abfließen. Nacli 2V2 Stunden tritt Er¬
holung ein, die Diarrhoe hört auf, doch bleibt das Tier Avährend
seines übrigen Lebens matt und stirbt in der Nacht vom 20.
bis 21. Mai, nach ca. 3V4 Tagen. Im Peritoneum fand sich etwas
klare Flüssigkeit ohne Befund. Die Milz Avar nicht vergrößert,
das Pankreas Aselli schien ödematös zu sein. Im Darm außer
Gefäßinjektion nichts Auffälliges. Kulturen aus der Peritoneal¬
flüssigkeit, der Leber und dem Herzblut blieben steril.
Kaninchen H-V, 250 g, erhält 1-5 cm® Bouillongift b intra¬
venös. Es trat Diarrhoe, aber keine besondere Prostration auf.
Erholung folgte bald, das Tier schien mUnter, starb aber nach
ca. 3V2 Tagen. Der Befund Avar wie bei G-V. Kulturen ergaben
aus Pankreas Aselli 19, Leber 7, Herz 22 Kolonien. Die Peri-
tonealflüssigkeit Avar steril.
Kaninchen I-V, 255 g, erhält 1-5 cm® Serumgift b intra¬
venös. Sehr staj'ke Prostration und Diarrhoe, viel stärker als
bei H-V. Es tiitt Erhohmg ein, doch stirbt auch dieses Tier
am vie)-t(m Tage mit dem gleichen Befunde Avie H-V. Nur das
Duodenum schien diffus gerötet. Kultur aus allen Organen steril.
Kanineben K-V, 380 g, erhält 1-5 cm® Bouillongift c intra¬
venös. Zeigt keine Krankheit und bleibt munter.
Kaninchen L-V, 420 g, erhält 1-5 cm® Serum vift c intra¬
venös. Zeigt keim' Krankheit und bleibt munter.
Den scliließliclien Tod der Tiere F-V bis 1-V darf man
(außer bei F-V) nicht allzu hodi beAverten; denn so kleine
Kaninchen sterben oft genug auch ohne besonderen Anlaß.
Die Krankheitserscheinungen stürmischer Art scheinen aber
doch für das Auftreten einer GiftAvirkung, nach Art der des
Exsudates zu sprechen, die in den Kulturen nach' einigen
Tagen verscliAvindet. Allerdings darf man dabei nicht ver¬
gessen, daß die Kulturen Amn vornherein giftiges Exsudat
enthielten und namentlich, daß das Resultat dieses Versuches
in späteren siMi nicht als konstant envies. Immerhin wäre
das Ergebnis einer eingetienden Verfolgung Avert, Avoran
Tiermangel bisher immer hinderte.
Aus dem gleichen Grunde mußten Versuche unAmll-
ständig bleiben, das fragliche Gift in den Exsudateii typhus-
infizierter VleerscliAveinchen nach'zuAveisen. Auch hier ver¬
liefen die Versuche zunächst inkonstant. Drei in geAvöhn-
licher Weise intraperitoneal vielfach tödlich infizierte Meer-
scliAA-einchen vermochten mit 1-5 his 2 cm® ihres Exsudates
Kaninchen nicht krank zu maclu'n. Ebenso verhielten sich
®) Diese eigentümliche Form von Nierenveränderungen, eine Art
Nephrotyphus, fand sich auch bei den Serientieren mehrfach vor.
Schwellungen der Nieren, abnorme Brüchigkeit waren ganz gewöhnlich,
Blutungen nicht selten.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
281
die Exsudate einer Meerschweincheiiserie (c, e, f und g,
li nnd i, k und 1), wo das Exsudat, des ersten Tieres c
auf e, dann auf die Tiere f und g, dieses auf die' Tiere
li und i usf. übertragen wurde. Alle Aleerschweinclien
waren unter dein Bilde schwerer Tnfektion, die neben¬
einander mit demselben Exsudate geimpften, fast auf die
Stunde zu gleicher Zeit gestorben. Hingegen hatte eine
andere Meerschweinchenserie zum Teil ein unzweifelhaft
positives Resultat.
Die zum Versuche verwendeten klar zentrifugierten Exsu¬
date stammen von den Meerschweinchen I bis IV, von dem
Nr. 1 eine Agarkultur intrapleural erhalten hatte, Avährend die
folgenden mit 0-7,5, 0-5 und 0-4 cnE des Exsudates des vorher¬
gehenden Tieres intraperitoneal infiziert waren.
Kaninchen 310 g, erhält am 2. .Tuli 1906 1-5 cm^ Ex¬
sudat von Vreerschweinchen I intravenös. Zeigt nichts von Pro-
sl ration, aber nach einer halben Stunde einsetzende Diarrhoe, die
vier Stunden andauert. Daun erfolgt vollständige Erholung. Ein
anderes Kaninchen, 120-A, 310 g, das zur Kontrolle mit 1-4 cm^
Exsudat des Serienkaninchens Nr. 120 intravenös geimpft war,
starb unter typischen Symptomen nach ö'A Stunden, mit kleinen
Blutungen im Blinddarm und sterilem Befund.
Kaninchen i\I-Il, 430 g, erhält am 3. Juli 1906 1-5 enr’’ Exsu¬
dat von IMeerschweincheu Nr. II intravenös. Prostration zeigte
sich nicht, Diarrhoe aber trat nach einer Stunde typisch ein
und dauert 2V2 Stunden an. Nach drei Stunden wird das Tier
malt, legt sich auf die Seite, jeder Husten löst heftiges Zittern
aus. Das Tier stirbt nach zirka vier Stunden mit vergrößerte!'
Milz. Nur diese lieferte vier Kolonien auf Agar.
Bei Kaninchen M-lll, 425 g, das 1-5 cuE Exsudat von ^lecr
schweinchen Nr. Ill erhalten hatte, war Verlauf und Befund
analog. Di'üse und Herz Avaren steril, die Milz ergab 62 Typhus¬
kolonien. Ebenso \mrlief der Versuch mit dem MeerscliAA’eiuchen-
exsudate Amu Nr. IV, au Kaniucheu M-IV, das 776 g Avog.
Worauf es zurückzuführen ist, daß' dieser Versuch positiv
im Vergleiche zu den negativen anderen Avar, ist nicht zu ent¬
scheiden.
Die Mitteilung der Versuche dürfte auch in ihrem
gegenwärtigen Zustande von Interesse sein. Denn trotz der
Berechtigung, ja NotAvendigkeit strenger Kritik kann auch
der ärgste Skeptizismus nicht übersehen, daß in denselben
eine Annäherung des experimentell erzeugten Krankheits¬
bildes an das des Menschen erzielt worden ist und daß
dieselbe durch Bildung eines Giftes mindestens unterstützt
wird. Weitere Untersuchungen mit anderen Stämmen sind
freilich not.Avendig, ehe Inndende Schlüsse abgeleitet Averden
können, die dann z. B. für die Immunisierung bedeutungs-
Amll Avären. Gerade gegenwärtig, wo ein anscheinend ätiolo¬
gisch fest begründeter Verwandter des Typhushazillus, der
Schweinepestbazillus, in seiner Bedeutung scliAver erschüt¬
tert ist, erscheint es iiotAvendig, die Aetiologie möglichst
einwandfrei zu begründen, was natürlich durch die Erzeu¬
gung eines, dem menschlichen analogen Krankheitsbildes
beim Tiere durch Reinkultureu am sichersten erfolgen kann.
Vermögen nun die erwähnten Versuche über die eingangs
aufgeworfene Frap, ob Aggressivität und Toxizität ^ im
wesentlichen identisch oder Amneinander unabhängig seien,
Aufschluß zu geben ? Zunächst gibt die festgestellte, wenn
auch gewiß nicht notwendige Inkonstanz mancher Befunde'
einen Grund für die leichte Möglichkeit verschiedener Re¬
sultate verschiedener Autoren: die Untersuchung ist keines-
Avegs eine leichte und einfache. Dennoch steht fest, daß
auch für den Typhushazillus ähnliche Verhältnisse bestehen,
wie sie Kikuchi beim Dysenteriebazillus entdeckt hal :
hohe Giftigkeit Amn Exsudaten, die Avährend der Infektion
gebildet sind, für Kaninchen, fehlende, in den gleichen
und auch größeren Mengen für Meerschweinchen. Bei letz¬
teren tritt eine Begünstigung der Infektion durch Aggressi¬
vität sehr deutlich, hei ersteren fast gar nicht hervor: denn
nur ganz selten kam es vor, daß die nur zentrifugierten und
dadurch bakterienarmen, aber nicht sterilisierten Flüssig¬
keiten eine irgend erhehliche Vermehrung der Bazillen im
Kaninchen ])ewirkten. Das scheint his auf weiteres sehr
für eine Unabhängigkeit der aggressiven und toxischen Wir¬
kung zu sprechen; doch darf man dahei nicht vergessen,
daß die Injektion bei Kaninchen eine intravenöse, bei IMeer-
schAveinchen eine intraperitoneale Avar, was niöglicbei’Avc'ise
einen Unterschied auch in der Wirkung bedingt. Jedenfalls
ist damit die Richtung für weitere Versuche \mrgezeichnet.
Es kann aber nicht unbeachtet bleil)en, daß di('
schwersten und am meisten charakteristischen Organ- und
Darm Veränderungen, verbunden mit einer Verbreitung der
Bazillen über den ganzen Körper, bei Kaninchen dann ein¬
traten, Avenn Exsudat und Bazillen gleichzeitig injiziert
wurden. Die Unmöglichkeit, diese Verhältnisse bei dem
großen dazu erforderlichen Tierverbrauch eingehend zu stu¬
dieren, macht sich hier besonders unangenehm fühll)ar.
Denn da Darmerscheinungen durch bloße Giftwirkung min¬
destens \mrbereitet werch'n, könnte diese Vmrbereitung not¬
wendig sein, damit die sich später ansiedelnden Bazillen
die oft sehr hochgradigen Darmveränderungen bcAvirken.
Sichergestellt ist, daß Muerschweinchen durch Kaninchen¬
exsudate nicht merkbar krank Averden; eine Steigerung der
injizierten Menge ist schon durch die Herkunft der Versuchs¬
flüssigkeit über ein geAvisses Maß hinaus unzulässig, min¬
destens bedenklich. Stellt nun auch für diese Tiere das
Kaninchenexsudat ein Gift dar, Avelches, obAAmhl untertödlich,
dadurch die Infektion erleichtert und Aggressivität vor¬
täuscht? Wäre dies der Fall, so müßte man auch vermuten,
daß der Tod an Typhusinfektion bei diesen Tieren ein Gift¬
tod sei und man müßte die Wirkungen des Giftes auffinden
können. Nach Analogie mit den Kaninchenbefunden Avären
die GiftAvirkungen am ehesten in Darmveränderungen zu er¬
kennen und tatsächlich Aviirde bei Serienversuchen eine
enorme ScliAA^ellung und v'ollständige blutige Destruktion Amn
Plaques häufig beobachtet, ein Befund übrigens, der schon
in der älteren Literatur mehrfach (z. B. bei Beumer und
Peiper) verzeichnet ist.
Es dürfte somit Avohl auch bei der MeerscliAveinchen-
infektion Vergiftung eine Rolle spielen, aber es sei noch¬
mals auf den trotz der Verschiedenheit der Versuchsbedin¬
gungen auffallenden Gegensatz hin gewiesen: hohe Gift- und
geringe AggressiiiAAurkung A'on Typlnisexsudaten beim Kanin¬
chen, das gegenteilige Verhalten beim Meerschweinchen.
Ganz offenbar muß hier die Forschung tiefer ein dringen und
erst ermitteln, AAmrauf die leichtere Vermehrungsfähigkeit
des Typhushazillus im Meerschvveinchen als im Kaninchen
beruht.
Was nun die Natur der GiltAAurkung (tes Tyi)husbazitlus
betrifft, so pflegt man heute zu fragen, ob Toxin oder Endo¬
toxin Amrliegt, d. b. ob es sich um Sekretionsprodukte oder
aufgelöste Leibesteilchen der Bakterien handle. Der \ er¬
fasse)’ hat mehrfach darauf liingeAviesen, daß das eine ziem¬
lich unnütze ErscliAverung der Untersuchung sei, solatige es
sich um Wirkung lebender Bakterien handelt. IaIii Sekret
und ein Leibesanteil, der ohne Schaden der \italit;U abge¬
geben Averden kann, sind nur zAvei Ausdriieke für eine im
Avesentlichen gleiche Sache. Und Avenn etAvas, Avas im leben¬
den Bazillus als giftig zur Abgabe bereit liegt, nach dem
Tode des Bakteriums noch als Gift wirkt, so ist das auch
nichts Auffallendes. Der Gehalt der Exsudate an durch
Immunserum fällharen Bakteriensubstanzen ist, AAue einige
oben angeführte Versuche zeigen, jedenfalls gering und iiicht
entfernt so groß, Avie der, den man in Extrakten der Bazillen
des Exsudates mit leichter Mühe erhalten kann. Das (Tleiche
gilt auch für entsprechend geAA’onnene VleerschAveinchen-
exsudate.
Zur Epidemiologie des Abdominaltyphus.*)
Von k. und k. Regimentsarzt Dr. GustaA' Pollal».
Es ist bisher nicht ;illzu häufig gelungen, die Ent¬
stehung A"on Typhusepidemien durch den NacliAveis Amn
Typhusbazillen am Orte der Infektio)), iltiologisch sichei
und unzAveifelbaft aufzukläreu. Hingegen o'inöglicht in
*) Nach einem]lim Avissenschaftlichen Verein der Militärärzte der
Garnison Wien gehaltenen Vor trage.
J82
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 10
1
vielen Fällen die genaue Zusammenstellung und Erwägung
aller auf das Auftreten einer Epidemie bezughabenden Mo¬
mente unter Heranziehung der Grundsätze der modernen
Typliusepidemiologie das Auf finden des Herdes und der
Verbreitungsart der Infektion.
Wenn auch über derartige Beobachtungen in der Lite¬
ratur bereits ein überreiches Material vorhanden ist, dürfte
die Schilderung zweier, im Bereiche des 2. (Wiener) Korps
vorgekommener Typhusepidemien schon mit Rücksicht auf
die liesonderen, die Ermittlung des Ursprunges erschweren¬
den, militärischen Verhältnisse einiges Interesse zu bean-
sprachen geeignet sein.
Die erste Epidemie betrifft ein Pionierbataillon, welches
für die Zeit vom 26. Juli bis Anfang September 1905 aus
seiner in Ungarn gelegenen Garnison zu Uebungszwecken
nach H. an der Donau verlegt und dort in einer sonst
leerstehenden Kaserne untergebracht wurde. In der Zeit
daß der erwähnte, in das Zivilspital in H. abgegebene Mann
tatsächlich an Typhus erkrankt war und als Rekonvaleszent
mit dem Stuhl und Urin reichlich Bazillen ausschied, mit
welchen sich die anderen Leute der Kompagnie infizierten.
Eine Uehertragung vom Abort aus war bei der Bauart des¬
selben leicht möglich.
In diesem Falle hätte die serodiagnostische Unter¬
suchung des ManneSj bzw. der Nachweis von Typhusbazillen
in seinen Ausscheidungen die Richtigkeit der geschilderten
Art der Uehertragung sicherlich bewiesen; doch wurde der
Beweis auch dadurch erbracht, daß die auf Grund dieser
Annahme gegen die Ausbreitung der Epidemie eingeleiteten
Maßregeln von vollem Erfolge begleitet waren.
Die Ermittlung der Ursache der zweiten Epidemie war,
abgesehen von dem größeren Umfange derselben und von
der Beteiligung zahlreicher Truppenkörper, auch aus dem
Grunde viel schwieriger, weil es sich um eine Manöver-
Fig. 1,
vom 20. August bis zum 6. September erkrankten 20 Mann
an Typhus abdominalis u. zw. sämtliche von der ersten
Kompagnie, während die übrigen vier Kompagnien frei
bliel)en. Schon durch diesen Umstand konnte zunächst die
Entstehung durch das Trinkwasser, an welches ja immer
zuerst gedacht wird, ausgeschlossen werden, weil die ganze
Kaserne von der städtischen Leitung mit Wasser versorgt
wird und in der Stadt, weder zur gleichen Zeit, noch vorher
Typhusfälle vorgekommen waren. Ferner diente die Kaserne
kurz vorher durch drei xMonate einer Ahteilung von Militär¬
akademikern als Unterkunft, ohne daJ3 jemand erkrankt wäre.
Auch für eine andere Art der Infektion, z. B. durch
Milch oder andere Nahrungsjnittel, durch das Baden in der
Donau u. dgl., fehlte jeder Anhaltspunkt.
Hingegen ergab es sich, daß beim Bataillon l)ereits
trüber einige Fälle von Typhus vorgekommen waren; zwei
Mann, darunter einer der ersten Kompagnie, erkrankten
unmittelbar vor dem Abgehen nach H. ; als Ursache wurde
der Genuß von Flußwasser angenommen. In H. wurde ein
.Mann der ersten Kompagnie am 26. Juli in Spitalsbehand¬
lung abgegehen und rückte am 7. August mit der Diagnose
.Magenkatarrh als genesen zur Kompagnie ein. Später wurde
lestgestellt, daß nach den Symptomen ein leichter Fall von
'ryphus nicht auszuschließen war. Da nun die erste Koni-
liaguie in der Kaserne einen Abort für sich allein benützte,
der von der Mannschaft der übrigen Kompagnien wegen
der Entfernung sicher niebt betreten wurde, so kann die
Entstehung der Epidemie nur auf die Weise erklärt werden.
epidemie handelte, bei welcher die Erkrankungen nicht am
Orte der Infektion zum Ausbruch kamen. Bemerkenswert
ist, daß die eingeleiteten Erhebungen erst längere Zeit nach
dem Erlöschen der Epidemie abgeschlossen wurden und daß
es in einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt noch' immer
möglich war, durch Zusammenfassung aller iMomente, die
Infektionsquelle u. zw. eine einzige für alle Fälle, mit der
größten Wahrscheinlichkeit zu ermitteln.
Das 2. Korps nahm an den Kaisermanövern in
Schlesien im Spätsommer 1906 in der Stärke von
drei Infanterie- und einer Kavallerietruppendivision teil.
Die Truppen hatten ihre Garnisonen in der Zeit zwischen
Mitte Juli und Anfang August verlassen. Die Divdsionen he-
wegten sich auf gänzlich verschiedenen Marschlinien in
dem Raum um Teschen iii Ostschlesien, in welchem sich
die Manöver in der Zeit vom 30. August bis zum 4. Sep¬
tember abspielten. Am 4. und 5. September wurden die
Fußtruppen mittels Eisenbahntransportes in ihre Garnisonen
befördert, während die Kavallerie und Artillerie unmittel¬
bar nach dem Abschlüsse der Manöver den Rückmarsch
antraten und Mitte September in den Friedensgariiisonen
eintrafen.
Die Gesundheitsverhältuisse bei den Truppen waren
während der ganzen Zeit der Uebungen im allgemeinen
günstig. \on Infektionskrankheiten kamen nebst drei Mumps¬
fällen zwei Erkrankungen au Typhus al)dominalis vor, von
welchen ein Mann eines Infanterieregimentes am 14. August
aus einer Kantonierungsstation ini südlichen Mähren und ein
Nr. 10
283
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Mann eines Kavalleriereginienies am 1. September aus einer
Station an der mähriscti-schlesisclien Grenze zur Spitals¬
abgabe gelangten.
Auch nach dem Einrücken der Truppen in ihre
Garnisonen blieben die Gesundheitsverhältnisse günstig.
Am 19. September kamen die ersten Anzeigen über typbus¬
verdächtige Erkrankungen, welchen bald die Bestätigung der
Diagnose und zahlreiche weitere Fälle fast aus allen Garni¬
sonen des Korpsbereiches (Niederösterreich und Schlesien)
folgten. Lokale Infektionsherde in den Garnisonen anzu-
nehmen, war von vornherein nebst anderen Gründen des¬
wegen unwahrscheinlich, weil die Erkrankten — • im ganzen
153 — nur solchen Truppenkörpern angehörten, welche an
den Manövern teilgenommen hatten. Enter den Truppen,
welche, wie z. B. die aus Ungarn sich ergänzenden Regi¬
menter, die Garnisonen nicht verlassen hatten, kam, obwohl
sie vielfach mit von Typhus betroffenen Abteilungen in
denselben Kasernen, unter ganz gleichen Verhältnissen
untergebracht waren, kein einziger Fall von Typhus vor.
Die einzige während dieser Zeit im Korpsbereiche sonst noch
zugegangene Typhuserkrankung betraf einen Mann, der in
einer dienstlichen Verwendung außerhalb der Garnisonen
gestanden war.
Es wurde festgestellt, daß sämtliche 153 Erkrankte bei
den Manövern gewesen waren ; auch unter der nach Schluß
der Manöver, nach beendeter Waffenübung und Präsenz¬
dienstzeit beurlaubten Mannschaft kamen, wie später be¬
kannt wurde, viele Typhuserkrankungen vor.
Die in den Sanitätsatistalten des 2. Korps Ijehandelten
Fälle sind in der oberen Hälfte der Tabelle (Fig. l) in
der Weise dargestellt, daß der mit Hilfe der Anamnese und
Temperaturkurve ermittelte erste Krankheitstag als Zugangs¬
tag angenommen ist. Die Zugänge der einzelnen auf der
Abszisse verzeichneten Tage sind als Ordinalen aufgetragen.
Selbstverständlich ist diese graphische Darstellung zum Teil
ein künstliches und willkürliches Gebilde, weil der Beginn
der Krankheit auf Grund subjektiver Angaben bestimmt
wurde und auch die Temperaturkurven keinen sicheren
Aufschluß geben. Es sind fast alle Kranken mit erhöhter
Temperatur in die Spitalsbehandlnng gekommen, einzelne
wurden bei den systematischen Temperaturniessungen der
ganzen Mannschaft nur auf Grund der erhöhten Temperatur
in das Spital abgegeben, wo später Typtius festgestellt
wurde, so z. B. bei einem Infanterieregiment in Wien allein
in sieben Fällen. Immerhin ist diese Art der Darstellung
zur Bestimmung der Inkubationsdauer besser zu verwerten
als etwa die Zugrundelegung des Tages der Krankmeldung
oder der Spitalsabgabe. Wenn die graphische Darstellung
nicht das Bild des ,, explosiven“ Auftretens der Erkran¬
kungen bietet, so ist zu bemerken, daß ein solches mehr in
den Konstatierungen und Anzeigen zum Ausdruck kommt.
Die Verteilung der Fälle auf die einzelnen Truppen¬
körper ist in Fig. 2 dargestellt; jedes Quadrat bedeutet
einen Truppenkörper, die Zahl in demselben die dort vor¬
gekommenen Typhusfälle. Bezüglich des Zuganges verteilen
sich die Fälle in den einzelnen Truppenktiriiern gleichmäßig
auf den ganzen Zeitraum.
Wie schon erwähnt, sind die Divisionen auf verschie¬
denen, weit auseinander liegenden Marschlinien in den
Manöverraum gelangt. Daß sich die Truppen auf dem Marsch
durch Gegenden, wo . gewiß Typhus endemisch vorkommt,
infizieren konnten, beweisen die zwei oben angeführten
Fälle, welche jedoch mit den späteren Erkrankungen in
keinen Zusammenhang gebracht werden können, der eine
wegen des frühen Zeitpunktes, der andere, weil er nicht
nur im Regimente, sondern auch in der ganzen Kavallerie¬
truppendivision vereinzelt geblieben ist. Dagegen spricht
der Umstand, daß die Erkrankungen erst nach den Manövern
auftraten, daß drei Divisionen betroffen sind und die Fälle
sich in den Truppenkörpern gleichmäßig verteilen, dafür,
daß die Infektion dort erfolgte, wo die Truppen räumlich
vereint waren, also im Manövergebiete. Auch die Inkuba¬
tionsdauer spricht nicht dagegen. Nach unseren heutigen
Kenntnissen über dieselbe kann sowohl der erste, als auch
der letzte Fall auf eine Ende August oder anfangs Sep¬
tember erfolgte Infektion zurückgeführt werden. Es läßt
nichts darauf schließen, daß etwa die letzten Fälle durch
Kontaktinfektion zustande gekommen sind. Die Epidemie
fand mit dem am 7. Oktober 1906 zugegangenen Fall ibreii
Abscbluß, im Bereiche des zweiten Korps kam bis Mitte
Januar 1907 kein weiterer Typhusfall vor.
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Fig. 2.
Was die Typhusverhältnisse der Manövergegend an¬
belangt, so kommen dort stets zeitlich und örtlich spora¬
dische Falle und ab und zu Epidemien vor. Im Jahre 1906
kamen bis Ende August im politischen Bezirke Teschen
(ca. 91.000 Einwohner) 59 Fälle zur amtlicJien Anzeige, von
welchen 24 auf eine Epidemie während der 'Monate ]\Iai
und Juni in einem Häuserkomplex in einem Orte bei Teschen
entfallen. Die übrigen 35 Fälle verteilen sich auf zehn
verschiedene, zum Teil weit auseinander gelegene Ort¬
schaften. Im Juli und August herrschte Typhus nur in einem
einzigen Orte K., welcher allerdings in der Nähe der Marsch¬
linie einer Division gelegeii war, jedoch auf Grund der
Anzeige der politischen Behörde von den Truppen nicht
betreten wurde.
Wenn es nun auch sicher ist, daß besonders am Lande
die Zahl der wirklichen Typhusfälle höher ist als die der
gemeldeten, so ist zu bemerken, daß der politischen Behörde
schon im Frühjahre von 'len bevorstehenden Manövern Mit¬
teilung gemacht und daß seitens des ärztlichen Organes
derselben den Infektionskrankheiten durch Nachforschung
nach allen verdächtigen Krankheits- und Todesfällen ein
besonderes Augenmerk ziigewendet wurde, so daß zum min¬
desten ein gehäuftes Vorkommen von Typhus der Behörde
kaum entgangen wäre.
Aus diesem Grunde wurde dort die Ansicht, daß die
Infektion aus der Umgebung von Tescben stamme, anfangs
zurückgewiesen. Der Beweis hiefür w'äre wohl mit Rücksicht
auf die große Zahl der Truppen, die zahlreichen, täglich
wechselnden Kantonierungsstationeii und Rastplätze kaum
zu führen gewesen.
Dieser Beweis wurde nun erl)racht durch das gleich¬
zeitige Auftreten einer Typhusepidemie im Manövergebiete
selbst. In dem Industrierorte T. und einigen benachbarten
Ortschaften kamen 31 Fälle von Typhus vor, welche in der
unteren Hälfte der Fig. 1 in gleicher Weise wie jene der
Truppen dargestellt sind. Die zeitliche Uebereinstimmung
ist augenfällig.
Die Herkunft dieser Fälle war anfangs unklar, da
im Orte jahrelang kein Typhus vorgekommen war, obwohl
in den dortigen Werken ca. 3000 Ar])eiter beschäftigt sind.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 10
von denen tüe Hälfte auswäids wolinl. Die Triiikwasserver-
sorgiing ist gut. Nähere ErJiebnngen lenkten den Verdacht
auf einen ßrunnen, als in einem unmittelbar benachbarten
Hause von neun Insassen zwei, ferner einige in der Nähe
beschäftigt gewesene Arbeiter erkrankten. Weitere Nach-
forschimgen ergaben, daß beinahe alle Erkrankten in den
ersten Eeptembertagen aus dem Brunnen getrunken batten
oder diese Möglichkeit wenigstens nicht in Abrede stellten.
Die bei den Truppen des 2. Korps in dieser Biebtung
gepflogenen Erhebungen batten nun das überrasebende Re¬
sultat, daß alle Abteibmgen, bei welchen Typbuserkran¬
kungen vorgekommen waren, zwischen dem 1. und 4. Sep¬
tember in der Nähe des Brunnens kantoniert oder gerastet
batten oder wenigstens dort vorbeirnarsebiert waren. Das
Wetter war beiß, die ausgiebige Inanspruchnahme einer
knapp an der Straße gelegenen Wasserspende seitens der
Mannschaft brauclit wohl nicht betont zu werden. Sowohl
der Ort mit seinen ausgedehnten Fabriksanlagen, als auch
die Lage des Brunnens an einer mehrfachen Straßenkreu¬
zung, in der Nähe markanter Gebäude, war so gut in der
Erinnerung geblieben, daß die meisten Angaben ganz dezi¬
diert lauteten.
Es würde zu weit führen, alle Angaben einzeln anzu-
fübren, es sei nur erwähnt, daß bei vielen Truppen nur
kleinere Teile derselben Gelegenheit hatten, Wasser aus
dem Brunnen zu trinken, und nur bei diesen Typhusfälle
vorkamen. Als interessante Einzelheit sei hervorgeboben,
daß ein Offizier ganz bestimmt aussagte, er hätte seit dem
19. August bis zum Ende der Manöver nur einmal und gerade
aus diesem Brunnen Wasser getrunken; er erkrankte ebenso
wie der Soldat, der ihm das Wasser brachte und den im
Gefäß zurückgebliebenen Rest austrank.
Der ßrunnen, welcher stets gutes Trinkwasser lieferte,
liegt am Fuße eines mit Bäumen bepflanzten Abhanges.
Er bestellt aus einem mit Zement hergestellten Schacht,
in welchen sich das Wasser aus einem horizontal in den
Bergabhang , geführten Stollen ergießt und sodann mittels
einer Pumpe berausbefördert wird. Der Schacht ist
mit einem Bretterhäuseben überdeckt, aus welchem der
Pumphebel und das Ausflußrohr herausragt. Obwohl die
ganze Anlage und Oertlichkeit auf den ersten Blick ein¬
wandfrei erscheint, hat die nähere Besichtigung dennoch
die Möglichkeit einer Verunreinigung des Wassers ergeben.
Der nur mit Steinen ausgelegte Stollen hegt dort, wo er in
den Schacht einmündet, ganz nahe unter der Oberfläche.
An der Rückseite des Bretterhäuschens konnte sowohl durch
die dünne Erdschichte hindurch in den Stollen, als auch
auf der abschüssigen Fläche unter dem Rand der Bretter
vorbei in den Schadit Flüssigkeit hineingelangen. In diesem
Winkel hinter dem Häuschen wurden bei der Besichtigung
des Brunnens menschliche Fäzes gefunden.
Da nun aus Anlaß der jManöver wie in allen Orten, wO'
Truppen bequartiert waren oder durchmarschierten, auch in
T. eine Menge von Leuten aus der Umgebung zusammen¬
strömte, ist es möglich, daß ein Typhusrekonvaleszent oder
Bazillenträger — vielleicht aus dem früher erwähnten, nur
einige Kilometer entfernten Orte K. — darunter war, der
hinter dem Brunnen seine Notdurft verrichtete, wobei der
bazillenhältige Harn in das Wasser gelangen konnte. Es
wäre da besonders an Kinder zu denken, welche, die Rück¬
sichten Erwachsener auf die Oertlichkeit ohnehin nicht be¬
achtend, hinter dem Brunnenhänschen auch ein willkom¬
menes Versteck fanden.
Wenn es sich hier auch nur um einen Wahrschein-
lichkeitsheweis handelt, so sprechen doch zahlreiche posi¬
tive ^Momente zugunsten der Annahme, daß die Infektion
auf die geschilderte Art zustande gekommen ist. Nun ist
noch ein negatives IMoment von großem Gewicht anzuführen.
Die Truppen des gegnerischen 1. (Krakauer) Korps hatten
schon im August im Bereiche der späteren Marschlinien
einzelner Divisionen des 2. Korps Uebungen abgehalten;
während der ^Manöver selbst bezogen dieselben bei der
wechselnden (Jefechtslage der einzelnen Tage vielfach die
gleichen Kantoiiierungen und rasteten auf denselben Plätzen,
wie an anderen Tagen die des 2. Korps — in die Gegend
von T. war Jedoch keine Truppe des 1. Korps gekommen.
Nun ist im ganzen 1. Korps innerhall) der möglichen In-
kuhationsdauer nur ein einziger Fall von Typhus abdo¬
minalis vorgekommen, was gewiß nicht der Fall gewesen
wäre, wenn auch andere Infektionsherde im Manövergebiet
oder im Bereiche der Anmarschlinien die Erkrankungen im
2. Korps verursacht hätten.
Die bakteriologische und chemische Untersuchung des
Wassers wurde erst anfangs Oktober vorgenommen. Das
negative Ergebnis derselben schließt nach so langer Zeit
eine früher stattgefundene Verunreinigung keineswegs aus;
die mikroskopische Untersuchung, welche vielleicht noch
Anhaltspunkte dafür hätte liefern können, wurde nicht
durchgeführt.
Zum Schlüsse erlaube ich mir Herrn k. u. k. Ober¬
stabsarzt ]. Kl. Dr. PT’anz Jäggle, Sanitätschef des H. Korps,
für die Anregung zu dieser Arbeit und Zuweisung des
Materiales, sowie Herrn k. k. Bezirksarzt Dr. Johann
Pustöwka in Teschen für die Ueberlassung der amtlichen
Daten den ergebensten Dank auszusprechen.
Aus der II. medizinischen Universitätsklinik in Wien
(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. E. v. Neusser).
Ueber die T ryptophanreaktion besonders im Stuhl
und in Bakterienkulturen.
Von Dr. Guiscardo Gerinonig-, Aspiranten der Klinik.
Das Tryptophan, auch Proteinochromogen oder Pro¬
teinochrom genannt, ein Spaltungsprodukt des Eiweißes,
das sowohl bei der Pankreasverdauung, als auch bei der
Eiweißfäulnis entsteht, ist schon seit längerer Zeit bekannt,
wie aus den zahlreichen Arbeiten von Gmelin, Nencki,
N e u m e i s t e r, S t a d e 1 m a n n und anderen Autoren ersicht¬
lich ist. Von Cole und Hopkins wurde das Tryptophan mit
der Skatolaniidoessigsäure identifiziert und ihm folgende
Formel gegeben :
C— CH3
C,H^<^^G . GH . NH, . GOOH
NH
Es scheint aber, daß diese Formel nicht richtig ist
und in neuerer Zeit wurde folgende angenommen:
CH, -NH,
I
G-GH.COOH
NE
Die Tryptophanreaktion beruht bekanntlich auf dem
Auftreten einer rosa- bis rotvioletten Farbe nach Zusatz von
frisch bereitetem Chlorwasser oder Bromwasser.
Obwohl über die Tryptophanreaktion, wie gesagt, von
mehreren Autoren chemische Untersuchungen gemacht
wurden, haben erst im Jahre 1903 Erdmann und Winter¬
nitz die erste Arbeit über die praktische Anwendung der
Tryptophanreaktion veröffentlicht.^)
Die genannten Autoren fanden im Mageninhalt von
Patienten mit Magenkarzinom, besonders beim Sitze des¬
selben am Pylorus, mehrmals die Tryptophanreaklion ; diese
wurde aber auch bei gutartiger Pylorusstenose mit hoch¬
gradiger Stauung gefunden ; im normalen Magensaft war
die Reaktion immer negativ.
Gläßner^) fand ebenfalls bei Gesunden keine Re¬
aktion im JMagensaft, wohl aber einmal bei Karzinom und
9 J. Ph. St aal, Zeitschr. für physiol. Chemie 1905. XLVI, Heft 3.
9 München, med. Wochenschr. 1903, Nr. 23. Ueber das Proteinochrom,
eine klinisch und bakteriologisch bisher nicht verwertete Farbenreaktion.
9 Berliner kliii. Wochenschr. 1903, Nr. 26.
Nr. 10
285
WIENER KLINISCHE _ WOCHENSCHRIFT. 1907.
zweimal bei Ulkus. JJerseJbe i\utor ratid eine posilive Trypto-
pliaiireaktioii im iMageiisalt eines normalen Individuums, zu
welchem ein Stück Krebsgewebes Jiinzugefügt wurde und
zwar nachdem der Magensai't einige SUinden bei Brutteni-
peratur gestanden war, dagegen trat die Reaktion niemals
ein, wenn zum Vergleich normale Magendarmschleimhaui
oder Lebergewebe mit normalem Magensalt digeriert, wurde.
Volhard,“^) der Magensäfte mit Pepton digerieren ließ,
fand die Tryptophanreaktion bei normalem Magensaft,
ebenso bei gutartigen Achylien und bei Magenkarzinom,
bei welchem die Reaktion inan chniaf stark ausfie!, manchmal
aber auch fehlte. Nach demselben Autor rufen auch Milz und
Milzextrakt, sogar ein Stück Tonsille mit Pepton in salz¬
saurer Lösung die Reaktion hervor.
Sigel,^) der bei 15 Magenkarzinoinfällen nur zweimal
und unter 20 UTkusfällen nur einmal eine positive Trypto-
phanreaktion fand, sagt: „Es ergibt sich daraus, daß der
Tryptophanreaktion eine charakteristische Bedeutung nicht
zuzusclireiben ist.“
Ich schließe mich vollkommen der Meinung Sigels
an, indem ich in den Magensäften, die ich zu untersuchen
Gelegenheit hatte, nur einmal das Glück hatte, eine ange-
deutete Reaktion bei einem Magenkarzinom zu finden, bei
anderen sicheren Karzinomfällen und bei anderen Erkran¬
kungen war die Reaktion vollkommen negativ.
Die Behauptung, daß die Tryptophafireaktion ein wert¬
volles diagnostisches Mittel zur Erkennung des Magenkarzi¬
noms sei, ist, wie man sieht, leider nicht mehr haltbar.
Von Erdmann und VVinternitz wurde die Trypto-
idianreaktion auch iji diarrhoischen Stühlen bei Tuberkulose,
Typhus und Dünndarmkatarrh gefunden, im normalen Stuhl
wurde das Tryptophair immer vermißt.^)
Im Speichel fiel mir die Reaktion immer negativ aus.
Das Tryptophan wurde auch als Produkt verschiedener
Bakterien gefunden. E r d m a n n und W i n t e r n i t z wiesen
die Reaktion in zahlreichen Bakterienkuituren nach, wie
bei Cholera asiatica, Typhus, Paratyphus (Straß bürg und
Schottmüller), Diphtherie, Staphylococcus pyogenes
aureus, Streptococcus pyogenes, Bacillus pyocyaneus,
Bacillus prodigiosus, Heubazillus und anderen Bakterien.
Die Reaktion fehlte dagegen bei : Bacterium coli, Bacillus
pneumoniae F r i e d 1 ä n d e r, Bacillu s acidi lactici e tc. ;
die Reaktion wurde als negativ betrachtet, wenn sie inner¬
halb zwölf Tagen nicht aufgetreten war. Die genannten
Autoren geben an, daß die Tryptophanreaktion ein sehr
zuverlässiges und praktisch leicht durchführbares, differen¬
zialdiagnostisches Mittel sei, um Typhusbazillen vom Bacte¬
rium coli zu unterscheiden, indem die ersteren eine schöne
Reaktion schon am zweiten Tage geben, während bei letz¬
teren das Tryptophan erst nach 15 Tagen in Spuren nach¬
weisbar ist. Soweit ich weiß, wurde die Arbeit von Erd¬
mann und Winternitz nicht nachgeprüft, so daß ich
mich entschloß, die Untersuchungen zu wiederholen.
Mich interessierte hauptsächlich die Tryptophanreak¬
tion in Kulturen von Typhus und Bacterium coli, nur bei
diesen ist die Reaktion praktisch wichtig, während sie bei
den andere.!! Kulturen nur theoretisches Interesse hat.
Meine Versuche wurden an zahlreichen und verschie¬
denen Stämmen beider Bakterienarien angestellt. Als Nähr¬
boden bediente ich mich sowohl der einfachen Bouillon
als auch der Bouillon, die 5*^/0 Pepton enthält. Ich kam
zu folgenden Resultaten: Bei Typhusbazillen in Nähr¬
bouillon mit 50/0 Pepton bekam ich schon nach 24 Stunden
eine sehr schöne, intensive Tryptophanreaktion, während
beim Bacterium coli dieselbe nach derselben Zeit absolut
negativ ausfiel ; auch in den nächsten Tagen wurde sie
vermißt und erst nach zwei Wochen fand ich eine ange¬
deutete Reaktion und nach einem Monat endlich wurde
das Tryptophan deutlich nachgewiesen.
Es ist nicht ratsam, die einfache Bouillon zu gebrau¬
chen, weil mit dieser die Reaktion bei Typhuskulturen wohl
*) München, med. Wochenschr. 1903, Nr. 49.
Berliner klin. Wochenschr. 1904, Nr. 12.
schon nach 24 "Stunden positiv und lieini Bacterium coli
immer negativ, aber stets schwacli und nicht so schön
wie bei Bouillon mit Peploii ausfiel.
Die Behauptung von Erdmann und Winternitz,
(laß die Tryptophanreaktion ein differeiizialdiagiiostisches
Mittel zur Unterscheidung der Typhusbazillen vom Bac¬
terium coli sei, scheint somit bestätigt zu sein.
Ich möchte noch raten, bevmr das Chlorwasser zur
Kultur hinzugegeben Avird, diese mit etwas fissigsäure zu
versetzen; in saurer Lösung tritt die charakteristische Fär-
Ining deutlicher hervor.
Endlich wurde die Tryptophanreaktion von mir auch
im Stuhle geprüft und darauf möchte ich etwas ausführ¬
licher eingehen, weil darüber noch keine Arbeit bis jetzt
erschienen ist, wenn man von den wenigen Zeilen absieht,
die darüber von Erdmann und Winternitz geschrie-
Ijen wurden, wie ich schon früher erwähnt habe.
Die TTyptophanreaktion im Stuhle wurde von mir in
folgender Weise angestellt: Eine kleine Portion Stuhl wurde
mit einem bestimmten Quantum Wasser innig gemischt (es
wurde immer ein Teil Fäzes auf fünf Teile Wasser ge¬
nommen; es ist besser, eine dünnere Lösung für die Fil¬
trierung zu nehmen), das Filtrat mit einigen Tropfen Essig¬
säure versetzt (ohne Essigsäure ist die Reaktion nicht so
schön) und dann wurde tropfenweise Chlorwasser bis zum
Eintreten der Reaktion hinzugesetzt.
Ich füllte zwei Eprouvelten mit gleichen Teilen vom
Filtrat und stellte die Reaktion nur in einer Ejn'orivette
an, um beim Vergleichen eine Veränderung der Farbe, wenn
auch gering, sofort zu erkennen. Nach dem Eintreten der
Reaktion fügte ich tropfenweise das Chlorwasser noch so¬
lange hinzu, bis die Intensität der Farbe nicht mehr zunahm.
Man muß darauf achten, nicht zu viel Chlorwasser
hinzuzufügen, weil beim Ueberschuß desselben die rosa¬
rote Farbe verschwindet, um einem weißlichen Nieder¬
schlag Platz zu machen. Da aber das FilRat der Fäzes
immer eine ziemlich starke Eigenfarbe besitzt und so die
Farbe des Tryptophans teilweise gedeckt wird, so extra¬
hierte ich das Tryptophan mit etwas Chloroform, das den
Tryptophankörper aufnimmt und beim Absetzen sich rosa
färbt.
Eine Extraktion mit Alkohol oder Aether ist nicht
ratsam, teils wegen der starken Eigenfarbe der Extrakte, die
die des Tryptophans zum größten Teil deckt, teils wegen
der mangelhaften Aufnahme des Tryptophans durch die
obengenannten Körper.
.Je nach der Intensität der vom Chloroform aufge-
nommenen Farbe kann man eine starke, kirschrote, eine
schwache, rosagefärbte und eine angedeutete Tryptophan¬
reaktion unterscheiden; die letzte hat nur einen Stich in
das Rosa.
Von mir wurden folgende Fälle untersucht (s. Täb.C
Wie aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich 'ist, fand
ich bei den meisten Stühlen, die von den verschiedensten
Krankheiten stammten, eine schwach positive oder nur an¬
gedeutete Tryptophanreaktion; nur bei zwei Stühlen, die
acholisch waren, fiel die Reaktion negativ aus und fünf¬
mal w^ar sie stark positiv. Die Konsistenz des Stuhles hatte
keinen wesentlichen Einfluß auf den Ausfall der Reaktion.
Von den fünf Stühlen, bei welchen die Reaktion sehr
intensiv war, stannnten vier von Typhuspatienten, die sich
auf der Höhe der Erkrankung befanden.
Bei zwei von diesen Fällen hatte ich Gelegenheit,
die Fäzes auch in der Rekonvaleszenz zu untersuchen,
wobei die Reaktion schwach gefunden wurde. • ,
Ein Typhusfall im Anfangsstadium der Krankheit bot
nur eine schwache positive Tryptophanreaklion, die später
sehr intensiv wurde. Zwei andere Typhusfälle, die leider
auf der Höhe der Krankheit nicht untersucht wurden, hatten
in der Rekonvaleszenz nur eine schwache Reaktion und
einer von diesen bot eine immer schwächere Reaktion mit
der Besserung seines Zustandes. Der fünfte Fall, bei wel¬
chem die Tryptophanreaktion stark ausfiel, war ein Abszeß
Nr. 10
286 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
)
Zahl
der Fälle !
1
stark i
positive j
Reaktion
1
schwach
pos.od. an¬
gedeutete
Reaktion
negative
Reaktion
t
Abdominaltyphus auf der
Höhe der Erkrankung .
4
4
•
'
_
Abdominaltyphus nach Ab¬
lauf des Fiebers . . .
2
_
2
Lungentuberkulose . . .
6
—
6
—
Pneumonia caseosa . . .
2
—
2
—
Tuberculosis serosarum .
2
—
2
—
Tuberkulose der Lungen
und des Darmes . . .
5
• _ _
5
Pulmonalstenose mit Lun¬
gentuberkulose ....
1
—
1
Ulcus ventriculi ....
5
—
5
■ -
Magenkarzinom ....
6
—
6
—
Achylia gastrica ....
1
—
1
—
Appendicitis acuta . . .
2
—
2
—
Appendicitis chronica . .
1
—
1
—
Abszeß der Ileocökalgend
1
1
—
—
Chronischer Dickdarm¬
katarrh .
2
_
2
_ j
Karzinom der Flexura
sigmoidea .
2
—
2
Habituelle Obstipation . .
1
—
1
—
Darmneurose .
1
—
1
Neubildung des Bauchfelles
1
—
1
Icterus catarrhalis . . .
2
—
1
1
Biliäre Zirrhose ....
1
—
1
—
Cholelithiasis .
7
—
6
1
Lues hepatis .
1
—
1
Nephritis chronica . . .
4
—
4
Angeborene Zystenniere .
1
—
1
—
Nierentumor .
1
—
1
~ i'HA
Pyelitis .
2
—
2
Perniziöse Anämie . . .
1
—
1
—
Akut.Gelenksrheumatismus
1
—
1
—
Arthritis deformans . . .
1
—
1
—
Osteomalazie .
2
—
2
—
Bleiintoxikation ....
1
—
1
—
Morbus Basedowii . . .
1
—
1
Syringomyelie .
1
—
1
—
Gehirnblutung .
1
—
1
-
Summe
73
5
66
2
ill der lleocökalgegend ; die Patientin wurde operiert, aber
trotzdem konnte man den Ausgangspunkt des Abszesses
nicht eruieren.
Wie kann man sich das Auftreten von einer starken
Tryptophanreaktion in Stühlen von Typhösen erklären?
Wie ich früher erörtert habe, spielen die Bakterien
bei der Bildung des Tryptophans eine große Rolle.
Es liegt der Gedanke nahe, daß die Typhusbazillen,
die in Kulturen eine sehr intensive und prompte Trypto¬
phanreaktion geben, auch in den Stühlen aus dem Eiweiß
das Tryptophan bilden können. Daß in anderen Stühlen
die Reaktion nur schwach ausgefallen ist, dürfte davon
abhängig sein, daß die Bakterienflora meistens aus Bac¬
terium coli oder anderen Gattungen besteht, die auch in
Kulturen das Tryptophan entweder in geringer Menge oder
sehr spät zu bilden imstande sind.
Es wäre noch der Grund zu erldären, warum beim
Falle von Abszeß der lleocökalgegend die Tryptophanreak¬
tion so stark gefunden wurde. In diesem Falle bestand
eine sehr starke Obstipation, die mehrere Tage dauerte,
der Stuhl erfolgte auf Glyzerinklysma; so ist es vielleicht
möglich, daß das Tryptophan nach längerer Einwirkung
vom Bacterium coli oder von Kokken, die ziemlich ver¬
mehrt gefunden wurden, gehildet wurde.
Die Fälle sind leider nicht so zahlreich, daß man
daraus absolute Schlüsse- ziehen kömite ; es ist aber immer¬
hin auffallend, daß von 73 Stühlen fast nur die Typhus¬
stühle auf der Höhe der Erkrankung eine starke Tryptophan-
reaklion zeigten. Ich hoffe, daß weitere Untersuchungen
von Typhuställen dies bestätigen werden und daß dieTYypto-
phanreaktion einen kleinen Fortschritt in der Diagnose des
Typhus bringen wird.
Es scheint also jedenfalls, daß der starke Ausfall der
Tryptophanreaktion zur Diagnose des Typhus beitragen
kann. Da wir jedoch gesehen haben, daß die Tryptophan¬
reaktion auch bei anderen Erkrankungen Vorkommen kann,
so wird man mindestens aus dem negativen oder schwachen
Ausfall der Beaktion einen Typhus ausschließen können.
Färbung der Zellen des Liquor cerebrospinalis
mit und ohne Zusatz von Eiweiß.
Von Dr. M, Pappeulieim, Assistenten der deutschen psychiatrischen Klinik
(Prof. A. Pick) in Prag.
Daß sich die Zellen des Liquor in ihrem färberischen
Verhalten von den entsprechenden Zellen im Blute unter¬
scheiden, ist wohl jedermami aufgefallen, der sich mit Unter¬
suchungen der Zerebrospinalflüssigkeit beschäftigt hat.
Plasma, ebenso wie die Kerne nehmen Farbstoffe viel inten¬
siver auf, so daß man bei Anwendung von Färbemethoden
für das Blut genötigt ist, die Farblösungen zu verdünnen
oder die Färbezeit abzukürzen.
So hat sich -mir für die Hämatoxylin-Eosinfärbung
folgendes Vorgehen am praktischsten erwiesen: Nach
Formolzusatz vor dem Zentiifugieren (0. Fischer^) werden
die dünn verstrichenen und lufttrockenen Präparate mit
Methylalkohol durch einige Minuten fixiert. (Dieses Fixie-
rungsmittel, auf welches, glaube ich, Türk“) aufmerksam
gemacht hat, hat sich mir bei allen Färbungen, mit Aus¬
nahme der Triazidfärbung, als sehr bequem und gut er¬
wiesen.) Danach Färben durch drei bis vier Minuten mit
einer V4%igen alkoholischen Lösung von Eosin rein, fran¬
zösisch, gut abtrocknen und Färben durch drei bis vier
Minuten mit einer etwa zur Hälfte verdünnten Delafield-
schen Hämatoxylinlösung.
Diese Affinität zu Farbstoffen ändert sich aber im
Liquor für verschiedene Farben in verschiedener Weise, so
daß man bei Farbmischungen das Verhältnis der einzelnen
Farben gegenüber den für Blutfärbungen üblichen variieren
muß. So muß man bei Anwendung der von A. Pappen-
heim^) angegebenen Methylgrün -Pyroninmethode das
übliche Verhältnis von 2:1 zugunsten des Pyronin in 3:2
(in diesem Verhältnisse mischte ich 004o/oi,ge Lösungen
der beiden Farbstoffe und färbte drei bis fünf Minuten)
ändern, um entsprechende Resultate zu erzielen.
Möglich wäre es, daß es durch derartige Variationen
auch gelänge, Liquorpräparate der Triazidfärbung zugäng¬
lich zu machen. Jedenfalls aber ist mit der ursprünglichen
Ehrlich sehen Lösung eine Darstellung der neutrophilen
Granula der Liquorleukozyten unmöglich, eine Tatsache, die
ich immer sehr unangenehm empfunden habe.
leb habe mich daher bemüht,^) der Ursache dieser
Aenderung im färberischen Verhalten nachzugehen, und
kam zu folgenden Resultaten: Setzte ich dem Liquor
vor dem Trocknen etwas Ochsenserum oder eine Spur
einer Hühnereiweißlösung zu, so bekam ich nach
Fixierung durch Hitze charakteristische Triazid-
körnelung der Leukozyten und auch bei allen anderen
Färbungen ganz ähnliche Resultate, wie an Blutpräparaten.
Anderseits fand ich, daß in mit Hayemscher Flüssig¬
keit stark verdünntem Blute, in dem also das Plasma
größtenteils entfernt war, sich die Zellen ähnlich
färbten wie im Liquor, während sich nach Zusatz von
Hühnereiweiß das verdünnte Blut ganz ähnlich dem unver¬
dünnten verhielt.
b Jahrb. für Psych, und Neurol., Bd. 27.
Vorlesungen über klin. Hämatologie.
b Virchows Archiv, Bd. 166.
b lieber diese Versuche, sowie über die Ergebnisse meiner Zell-
studien auf Grund der erörterten Methoden werde ich an anderem
Orte berichten.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
287
Es ist also die geänderte Färbbarkeit der
Zellen des Liquor bedingt durch einen relativen
Mangel von Substanzen, die dem Blutplasma, dem
üchsenseram, der Hühnereiweißlösung (und auch dem Eiter,
da die Zellen desselben Triazidfärbung geben) gemeinsam,
wahrscheinlich wohl irgendwelche Eiweißkörper
sind, und man kann, was für das Studium der Liquor¬
zellen von Bedeutung ist, durch Zusatz von Hühner-
eiweißlösung die Färbbarkeit der Zellen viel
günstiger gestalten.
Auch theoretisch erscheint diese Tatsache von In¬
teresse im Sinne der von Alfred Fischer^) gemachten
Versuche, durch Zusatz verschiedener Stoffe das Färbe¬
vermögen von Eiweißkörpern umzustimmen.
Es müßte auch versucht werden, ob dieser Einfluß
von Eiweiß auf die Färbung von Blutzellen nicht auch in
Schnittpräparaten — für das Studium der Entzündung wäre
das sehr wichtig — verwertet werden könnte.
Zum Schluß einige Worte über die Zellzählung im
Liquor. Rosenthal®) hat bereits 1904 auf die Mängel
der französischen Zentrifugiermethode aufmerksam gemacht
und eine sehr verwendbare Methode zur Zählung in der
Zählkammer angegeben. (Ich würde statt Methylviolett Gen-
tianaviolett empfehlen, etwa in einer Lösung von: Gentiana-
violett 0-01, Aqu. dest. 10, Ac. acet. glac. l). Nur möchte
ich es nicht unterlassen, auf eine gemeinsame Fehlerquelle
aller Methoden aufmerksam zu machen. Ich habe nämlich
wiederholt, auch in nicht sehr zellreichen Zerebrospinal¬
flüssigkeiten, Gerinnsel gefunden, die manchmal größere
Mengen von Zellen enthielten, ein Umstand, der natürlich
eine genaue Zählung unmöglich macht.
Es wäre daher notwendig, diese Gerinnselbildung zu
verhindern. Meine eigenen Versuche in dieser Richtung
haben mich allerdings bis nun zu keinem befriedigenden
Ergebnisse geführt. Man kann zwar durch Schütteln mit
Porzellankugeln die Gerinnung verhindern, doch kann dann
durch ein ungleichmäßiges Haftenbleiben von Flüssigkeit
und Zellen das Resultat verfälscht werden. Auch durch
Zusatz von Natrium oxalicum konnte ich die Gerinnsel¬
bildung wenigstens zum größt en Teile verhüten, doch stör¬
ten die hiebei auftretenden Niederschläge die Uebersicht-
lichkeit des Zählpräparates. Jedenfalls wären weitere Unter¬
suchungen in dieser Richtung erwünscht.
t^eferate.
Militärärztliche Pnblikation Nr. 83.
Die Infektionskrankheiten rücksichtlich ihrer Ver¬
breitung, Verhütung und Bekämpfung.
Von Oberstabsarzt Dr. Ludwig Kamen.
8®. 380 Seiten.
Wien 19(i6, Josef Ö a f ä f.
Der Verf. des vorliegenden Buches ist während des Erscheinens
desselben gestorhen. Regimentsarzt R. Doerr hat nach dem
letzten Willen des Verblichenen das Buch vollendet. Es ist ein
kurzgefaßtes Lehrbuch der Seuchenprophylaxe und Desinfektions¬
technik, wie es für den im praktischen Leben stehenden Militär¬
arzt und Sanitätsbeamten erforderlich ist. Ueberall ist die neueste
Literatur berücksichtigt und der jetzige Stand unseres Wissens
dargestellt. Der allgemeine Teil enthält zahlreiche instruktive Ab¬
bildungen. Das Buch wird gewiß einen großen Leserkreis finden.
♦
Das Spiel des Zwerchfells über den Pleurasinus und
seine Verwertung in der Praxis.
Von Dr. Erich Zabel, Berlin.
8“. 178 Seiten.
Berlin und Wien 1906, Urban & Schwarzenberg.
Verf. hat an der Universitätspolikliniik in Rostock, in Lungen¬
heilstätten, in WTener Ambulatorien und iim hiesigen Röntgen¬
institute Freunds Studien über das sogenannte Littensche
Zwerchfellphänomen angestellt und teilt seine Resultate in vor-
Fixierung, Färbung und Bau des Protoplasmas (Jena 1899).
*’’) 76. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Breslau.
liegender Monogjuphie ausfübrlich mit. Bei richtiger Lagerung
und Beleuchtung der zu untersuchenden Person ist das Schatten¬
spiel in den Interkostalräumen bei Gesunden deutlich zu sehen.
Veränderungen der Ablaufs-, der Verlaufsrichtung, hoher oder
tiefer Stand desselben, Einschränkung seiner Exkursionsbreile,
endlich Fehlen desselben, haben eine große Bedeutung für die
Diagnose der Erkrankungen der Atmungsorgane und die Differenlial-
diagnose derselben von denen der benachbarten Bauchorgane
(Pneumothorax und Zwercbfellshernie, Hydronephrose und pbui-
ritische Exsudate u. a.). Auch für die Beurteilung abgelaufener
Erkrankungen (Adhäsionen der Pleura), die Begutachtung
Unfallverletzter, die Kontrolle von Atemübungen bei Phthisikern
und bei Stotterern erweist sich das Studium dieser Erscheinung
als wertvoll. Zahlreiche Abbildungen unterstützen das Verständ¬
nis der Darstellung.
♦
Volkinaiiiis Sammlung klinischer Vorträge, Nr. 408.
Ueber Ursache und Bedeutung der Herzaffektion Nieren¬
kranker.
Von H. Päßler, Dresden.
Leipzig 1906, Breitkopf & Härtel.
Die Herzhypertropbie Nierenkranker beruht wahrscheinlich
auf gesteigerter Erregbarkeit des gefäßverengernden Apparates,
die zu Arterienkra:mpf, zur Erhöhung der Widerstände im großen
Kreislauf und damit zu Herzhypertropbie führt. Die Polyurie be¬
ruht nicht auf erhöhtem FiltralioUsdruck, wir müssen vielmehr
annehmen, daß der erhöhte Blutdruck in den Nierenkapillaren
nicht mehr zur Geltung kommt, weil er schon in den kleinen
Arterien zurUeherwindung des erhöhten Widerstandes aufgebraucht
wird. Die therapeutischen Maßregeln haben die Herabsetzung der
Widerstände (Nitroglyzerin, Jod, Bewegungstherapie) und die
Kräftigung des Herzmuskels zu berücksichtigen. Die Flüssigkeits¬
beschränkung empfiehlt Verf. nur mit großer Vorsicht, unter Be¬
achtung des spezifischen Gewichts und der Gefrierpunktserniedri¬
gung, durchzuführen.
*
Physikalische Therapie in Einzeldarstellungen.
Herausgegeben von J. Marcuse und A. Slrasser.
Stuttgart 1906, F. E n k e.
Heft 1.
Physiologische Grundlage der Hydro- und Thermotherapie.
Von W. Winternitz.
Heft 2.
Physiologie und Technik der Massage.
Von A. Bnm.
Heft 12.
Physikalische Therapie der Erkrankungen der Verdauuiigsorgaue
Von B. Buxbanm.
Heft 13.
Physikalische und diätetische Therapie der Gicht.
Von S. Munter.
Von dem auf 25 Lieferungen berechneten W'^erke sind die
oben verzeichneten Hefte erschienen. Der Altmeister W'^inter-
nitz revidiert kritisch die Grundlagen der Hydrotherapie und
rechnet dabei mit der Kritik ab, die Math es an seinem Lehr¬
gebäude geübt hat. Bum schildert mit gewohnter Meisterschaft
der sprachlichen Darstellung die physiologischen Grundlagen und
die allgemeine Technik der Massage. Munter gibt eine eingehende
Darstellung der Chemie der Purinderivate, erörtert dann an¬
schließend die Theorie der Gicht und bespricht Ernährung, Wärme¬
therapie (wobei er namentlicih Solbäder empfiehlt), Hydrotherapie,
Mineralwässer nsw. mit vielen Zitaten aus den Arbeiten von
Voit, Pflüger, Zuntz, Rubner und anderer Stoffwechsel¬
physiologen. Eine vorzügliche, sehr belehrende Darstellung, mit
vielen praktischen Ratschlägen, ist die von Buxbanm; besonders
lesenswert sind die Abschnitte über nervöse Dyspepsie, Obsti¬
pation und Diarrhoe. IH- S t e r n b er g - W ien.
*
Ueber ein sehr junges menschliches Ei in situ.
Von Leopold.
IV. Band der Arbeiten aus der königlichen Frauenklinik in Dresden.
Leipzig 1906, S. Hirzel.
Man hätte envarten sollen, daß nach der Publikation von
Peters über die Einbettung des menschlichen Eies bei gestei-
1
i
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 10
gerter Aufmerksamkeit sich würden Objekte finden lassen, die
geeignet wären, unsere Kenntnis von der Eieinbettung und Plazen¬
ta lion beim Alenscben zu vervollständigen. Diese Erwartung bat
sieb, trotzdem nun mebrere Jahre seitdem verflossen sind, nicht
erfüllt; ein Beweis, wie schwer das zu solchen Studien not¬
wendige Jlaterial zu beschaffen ist.
iMan sab daher in den beteiligten Kreisen mit Spannung der
Arbeit Leopolds, der sein junges Eichen schon beim Kongreß
in Kiel demonstriert hat, entgegen.
Die uns vorliegende Aibeit gibt uns durch den ausführ¬
lichen Text und gute bildliche Darstellung eine klare Vorstel¬
lung von dem Objekte und bringt entschieden eine Bereicherung
unsere!' Kenntnisse, vor allem aber eine Festigung unserer An¬
sichten auf diesem in vielen Punkten noch hypothetisciien Gebiete.
Das Objekt stammt, wie das Peter sehe, von einer Selbstmör¬
derin, die durch Phosphorvergiftung zugrunde gegangen ist und
wenn auch nicht auszuschließen ist, daß die Giftwirkung auf
das Genitale von Einfluß war, so scheinen die Gewebe doch so
gut erhalten zu sein, daß die Veränderungen das wesentliche
im Bible kaum gestört haben ; zumindest dürfte dies für die
Eikapsel gelten. Im Falle von Peters liegen die Verhältnissb
insofern etwas günstiger, als es sich um eine Vergiftung mit
Cali causticuni handelte, das doch mehr lokale Wirkung aus-
ül)t. Das Eichen saß makroskopisich nicht wahrnehmbar, wie
durch Lupenbesichtigung festgestellt wurde, unterhalb der Vlitte
der liinteren Korpuswand in einer Erhebung dicht oberhalb einer
tiefen Furche und wurde in 160 Schnitte in lückenloser Beihen-
folge zerlegt. Die Durchmesser betragen 14: 0-9: 0-8 mm. Anamne¬
stische Angaben über die letzte Menstruation fehlen.
Nachdem der Verfasser in einer kurzen Einleitung im wesent¬
lichen die erwähnten Daten mitgeteilt, gibt er in einer übersicht¬
lichen, ausführlichen Tabelle einen Ueherblick über den Aufbau
des Eichens von Schnitt 1 bis 160, wobei er den Schleimhaut¬
hügel, in dem das Ei sich befindet, das Verhalten der Blutgefäße
und Drüsen und die Eianlage kurz skizziert, mit jedesmaligem
Hinweis auf die heigegehenen Zeichnungen. Es folgen dann fünf
Kapitel, in denen: 1. die Decidua vera, 2. die Einbettung des
Eies, 3. die Eianlage und die Eikammer, 4. der Trophoblast und
die umgebenden Bluträume und 5. das Synzytium besprochen
werden. Es ist nur natüj'lich, daß Leopold in erster Linie
das Peter sehe Objekt zum Vergleich heranzieht und den Ver¬
gleich in allen Punkten durchführt. Es stellt sich dabei eine
weitgehende Aelmlichkcit heraus.
Dies gilt gleich für die Dezidua, die schon gebildet ist,
doch fehlt wie hei Peters noch die Scheidung in Kompakta
und Spongiosa. Die Dezidua umgibt das Eichen allenthalben.
Im Gegensatz zmn Peters sehen Objekt, das an der Kuppe
durch den sogenannten Gewehspitz geschlossen, ist, zieht über
die Eikuppe eine schmale Lage von Dezidua, oberhalb welcher
sich aber auch hier eine Fihrindecke befindet. Die Entstehung
der Deziduazelle aus der Bindegewebszelle findet durch das Ob¬
jekt eine neuerliche Bestätigung. In der Umgebung der Eikammer
ist die Schleimhaut ödematös durchlränkt, zeigt zahlreiche Hämor-
rhagien, die Drüsen sind verdrängt und charakteristisch ver¬
ändert, die Gefäße, vorwdegend die Kapillaren, mächtig erweitert
und oft zu großen konfluierenden Bluträumen vereinigt. Gefäße
und Bluträunu' stehen auch mit der Eikanmier in Verbindung,
bo daß die ganze Peripherie des Eies von mütterlichem Blut
mnspült wird. Wählend aber im Petersschen Falle der Tropho¬
blast der Innenwand dei' Eikammer ringsum anliegt, ist dies
hier nur teilweise der Fall, so daß die Eianlage an den meisten
Stellen weit entfernt von dei' Innenwand mir durch zarte Tropho¬
blastfäden mit dieser zusainmenhängt. Aus diesem Befunde und
aus dem Fehlen jeglicher Emhryonalanlage zieht Leopold den
Schluß, daß sein Objekt um einige Stunden jünger sei als das
Pcterssche. Allerdings macht er selbst (hm Einwand, oh diese
Differenz nicht auf {'iiiem pathologischen Bluteinbruch zwischen
Ektoldast und Mesodei'in beruhe. Dieser Einwand ist nur zu
berechtigt. Denn wenn man auch zugeben kann, daß die Eianlage,
die nach Leopold nach dem Eintritt in die üterusschleimhaut
in einem Bluterguß liegt, erst hei einer bestiimmten Größe die
Innenwand erreicht, so erregt das Fehlen einer Enihryonalanlage
einiges Bedenken, oh das Objekt ganz intakt ist. Selbst in einem
so jungen Stadium, wie Leopold es annimnit, müßte dieselbe
durch einige Zellen markiert sein, zumal hier, wo schon eine
Mesodermanlage vorhanden ist. Die Erfahrung lehrt uns, daß
die Zellen, welche die Embryonalanlage zusammensetzen, außer¬
ordentlich vulnerabel sind, daß sie bei Läsion der Eianlage zuerst
zugrunde gehen und so müssen wir auch beim Objekt Leopolds
annehmen, daß — vielleicht unter dem Einflüsse der Phosphor¬
vergiftung — die Embryonalanlage untergegangen ist. Es wäre
auch die weitgehende Differenz gegenüber dem Eichen von
Peters, wo die Embryonalanlage schon so weit ausgehildet
ist, unerklärlich. Ein Schluß auf das Alter des Eichens ist also
sclion aus diesem Grunde nicht möglich, auch kann eine Ent¬
scheidung, ob es jünger sei als das Peter sehe nicht ge¬
troffen werden. Die Differenz von 0-2 min in dem einen Durch¬
messer kann hier auch nicht maßgebend sein.
Was die Einbettung des Eichens anlangt, so liegt dasselbe,
wie schon erwähnt, tief in der Schleimhaut gegen die Uterus¬
höhle überdies durch eine „Fihrindecke“, wie Leopold statt
,,Gewebspilz“ sagt, eingeschlossen. Dieser Befund bestätigt neuer¬
dings die Lehre von der suhepithelialen Einbettung.
Bemerkenswert ist ein mit Epithel ausgekleideter Trichter
unterhalb der Mitte der Fihrindecke, welchen Leopold als Ein¬
trittsstelle des Eichens betrachtet. Derselbe enthält stellenweise
rote Blutkörperchen, welche sich bis zur Fihrindecke hinziehen,
so daß es naheliegt, anzunelünen, es habe die Fibrindecke von
hier ihren Ursprung genommen. Diese xVnnalune Leopolds hat
viel für sich und erklärt vielleicht auch, warum das Eichen,
das aus dem Grunde der epithelialen Einsenkung in die Schleim¬
haut eingedrungen sein dürfte, schon in diesem Stadium allseitig
von Dezidua umschlossen ist. Den eigentlichen Verschluß der
Eikanimer bildet auch hier die Fihrindecke, doch kommt ihr in
diesem Falle eine geringere Bedeutung zu, weil der Verschluß
durch die Implantation in einer Furche von vornherein in größerem
Umfange durch die Dezidua erreicht wird. Die Eianlage liegt nach
der Eikuppo mit breitei' Fläche der Innenwand der Kammer an,
das Eichen hat sich ,, gleichsam wie ein Blutegel mit seinem
Kopf an der Innenseite festgesaugt“. Es ist allseitig von mächtigen
in den Trophoblast erfolgten Blutergüssen umgeben und stellt
ein durch diese zentralwärts komprimiertes, unregelmäßiges Ge¬
bilde dar, welches aus einem Ektoblastmantel und einer xVlesoderm-
schicht besteht. Der Ektohlast läßt eine doppelte Zellenreihe
erkennen, eine innere, dem Mesodenn anliegende, als Langhans-
sche Zellschicht 'zu bezeichnende und eine äußere Schicht, die
dem Synzytium entspricht. Längere Trophohlastfäden ziehen zur
Eikammerwand und zwischen diesen findet man kurze Knospen.
Das mesodermale Gewebe ist in diese noch nicht eingedrungen, so
daß noch jede Zottenhildung fehlt. In der Eianlage sieht man außer
einer fein geronnenen JMasse rote Blutkörperchen, ebenso an
einer Stelle zwischen Meso- und Ektoderm. Auf das Pathologische
dieses Befundes wurde schon hingewiesen.
Die Zwischenräume zwischen den Trophoblastfäden sind,
wie erwähnt, abnorm stark vlon Blut erfüllt und bilden eia Lakunen-
system, das untereinander, anderseits aber auch mit den um¬
gehenden mült(M'lichen Bluträumen in Kommunikation steht. Wir
sehen in dieser Bildung die erste Anlage der intervillösen Räume.
Bimierkenswert ist, daß die Lakimen fast allenthalben mit Syn-
zytium austapeziert sind und daß auch die erwähnten kurzen
Trophohlastknospen mit Synzytium bekleidet sind zu einer Zeit,
wo sie noch lange nicht mit mütterlichem Gewebe in Berührung
gekommen sind. Daraus folgt wohl ohne weiters der fötale Ur¬
sprung des Synzytium, ganz abgesehen davon, daß Leopold
ebenso wie lUrters ,,von den einfachen kubischen Zellen der
zentralen Schiclil des Tropholdast gegen die Oberfläche rlesselben
fortschreitend, alle Uehergänge von diesen bis zu den riesigen
Synzytialgebilden verfolgen konnte“.
Wenn es eines Beweises für die fötale Genese dos Synzytium
noch bedarf, so ist er durch dieses Objekt wieder ('rbracht.
Leopold zeigt auch, ,,wie die Synzytiumzellen die Kammerwand¬
gefäße anfressen, auffasern und einschmelzen“ und er sieht darin,
wenn ihm auch leider aus seinem Objekte keine so überzeugenden
Bilder zur Verfügung standen, wie solche Peters ahbildete und
neuerlich wieder in Kiel demonstrieren ließ, eine weitere Stütze
für die Auffassung, daß diese Gebilde vom Fötus herstammen.
Nr. lü
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
28!)
Somit erfährt auch die Annahme vom endothelialen Ursprung
des Synzytiums eine Widerlegnng. Ein so strikter Beweis für
die fötale Synzytiogenese, wie ihn Herrmann und Stolper
durch ihre Untersuchungen am Meerschweinchen erbracht haben,
wo sie die Entstehung der ersten Synzyllumknospe aus der
Eianlage zeigen konnten, wird beim Menschen erst erbracht werden
können, wenn ein noch jüngeres Ei gefunden werden wird, als
das von Peters und Leopold.
Dies in Kürze der Inhalt des Leopoldschen Buches. Es
kann als eine glänzende Bestätigung der von Peters begründeten
Lehre über die Einbettung des Eies und seiner Verbindung mit
dem Mutterboden, über die Synzytiogenese und den primären,
intervillösen Baum gelten.
Der Verfasser hat sich durch die Bearbeitung seines Ob¬
jektes ein großes Verdienst erworben und kann des Dankes all’
derer, die dieses Forschungsgebiet betreten, oder schon betreten
haben, sicher sein. Wie er in mancher Hinsicht auf Grund seiner
Befunde seine Ansichten modifiziert hat, so werden nun auch
andere Autoren sicli vielleicht bekehren lassen, so daß' wir einer
Einigung in den wesentlichen Punkten entgegensehen können.
Stolpe r- Wien.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
116. (Mitteilungen aus dem Kantonspital Baselland.) Be¬
obachtungen über tuberkulöse Peritonitis an der
Hand von 64 teils operativ, t e i 1 s i n t e r n behandelten
Fällen. Von Oberarzt Dr. Gelpke, Liestal (Baselland). Nach
einem kurzen Rückblick über Geschichte, Klinik und patholo¬
gische Anatomie der tuberkulösen Peritonitis befaßt sich Ver¬
fasser in eingehender Weise mit der von König 1884 einge¬
führten chirurgischen Therapie, deren Berechtigung und Indikation.
Für die Beantwortung der Frage, ob das Exsudat ein über¬
flüssiges Gebilde des Zufalles und als solches immer zu ent¬
fernen sei, führt Verf. neben den eigenen Erfahrungen und ex¬
perimentellen Studien sorgfältig verwertete, statistische Zusam¬
menstellungen aus der Literatur an, welche ergeben, daß das
Exsudat bei tuberkulöser Peritonitis nicht ohne weiteres als
schädlich betrachtet und demgemäß ä tout prix chirurgisch ent¬
fernt werden müsse. Hiefür spricht, daßi die trockenen Formen
der tuberkulösen Peritonitis einstimmig von allen iVutoren als
prognostisch schlecht bezeichnet werden, daß hingegen die Aus¬
sicht auf Dauerheilung um so größer ist, je mehr Aszites
vorhanden ist; dafür spreche auch die in der Regel vorüber¬
gehende, für die Heilung nützliche Neubildung des Exsudates
nach der rechtzeitig gemachten Laparotomie (Punktion). Auch
bei kalten Abszessen u. a. treten Dauerheilungen meist erst, nach
einer, auf gründliche Entleerung folgenden vorübergehenden Neu¬
bildung des Ergusses ein; der Heilungsvorgang wäre so zu ver¬
stehen: Das Exsudat ist ursprünglich ein nützliches und enthält
ein Tuberkelantitoxin (Antimdkrobine) ; in leichteren Fällen genügt
dieses Agens ohne Kunsthilfe den Prozeß rückgängig zu machen
(spontane Heilung der leichteren Fälle). In schwereren
Fällen reicht das erste Exsudat nicht aus, wird 'aber auch nicht
resorbiert, teils wegen Ueherschwemmung der Gewebe mit den
im Exsudat enthaltenen Stoffen (Isotonie), teils weil die in enl-
zündlichem Zustande sich befindlichen Gefäße nur zur Exsu¬
dation, nicht aber zur Resorption neigen. Nach Ablassung des
verbrauchten Exsudates füllen sich die Gefäße und es bildet
sich ein neues wirksames Exsudat, das den Prozeß bewältigt.
Die Laparotomie wirkt nur indirekt und mechanisch durch Ent¬
fernung einer verbrauchten Ausschwitzung, welche die Entfallung
der natürlichen Heilkräfte des Organismus (Antimikrobine) be¬
hinderte. Es erklärt sich dadurch auch leicht, warum hei Tierver¬
suchen die Laparotomie im frischen Stadium, d. h. die Entfernung
des frischen, noch aktiven Exsudates schädlich wirkt (diese Hunde
starben früher als die nichtoperierten) und warum auch beim
Menschen die Frühoperation, d. i. die Entfernung des As¬
zites in den ersten (sechs bis sieben) Wochen schädlicn zu
wirken scheint. Als Belege hiefür sprechen die in der Literatur
niedergelegten Resultate: Nach Lindner sind unter seinen Ge¬
heilten 91T°/o Spätoperationen; von 14 letal verlaufenden lallen
sind vier ausgesprochene Frühoperationen, vier sind in der mitt¬
leren Zeit (von zwei bis drei IMonat) operiert. Unter zehn Heilungen
der Berner Klinik (Kocher) ist nur eine Frühoperation. Unter
acht Todesfällen der Göttinger Klinik (Runge) sind sieben
Frühoperationen. Unter zehn Heilungen der Tübinger Frauen¬
klinik befindet sich eine relative Frühoperation; hingegen sind
unter 15 Todesfällen 12 = 80% Frühoperationen (bis ‘und mit
dem zweiten Monat seit dem Bestehen des Aszites); in der Zu¬
sammenstellung der Göttinger chirur giseben Klinik be¬
treffen sämtliche Todesfälle und Rezidive Frühoperationen, sämt¬
liche Dauerheilungen Spätoperationen. Trotzdem bestehen unter
den Autoren Meinungsverschiedenheiten, ob das Exsudat als ein
nützliches oder giftiges Produkt zu behandeln sei, ebenso ob die
chirurgische oder interne Behandlung am Platze sei. Verf. führt
aus der Literatur nach zwölf Autoren 33 bis 85% Heilungen bei
chirurgischer und 17 bis 41 To Heilungen bei interner Behandlung
(nach fünf Autoren) an. Verf. faßt zum Schlüsse seine Beob¬
achtungen folgendermaßen zusammen : Das Exsudat bei der tuber¬
kulösen Peritonitis ist nicht ein giftiges, schädliches Produkt,
welches der Arzt je eher, je besser entfernen muß, sondern es
ist ein nützliches Mittel des Organismus im Dienste der Selbst¬
heilung; daher ist die sofortige operative Entfernung jedes
Exsudates nicht ohne weiteres angezeigt, sondern man soll
warten, bis dasselbe seinen Dienst getan und nach wochenlanger
Beobachtung stationär geblieben ist. In sehr vielen Fällen ver¬
schwindet das Exsudat spontan ohne chirurgisches Zutun. Bleibt
das Exsudat aber nach einer gewissen Dauer — etwa drei bis
vier Monaten — stationär, so kann man annehmen, daß cs
wirkungslos, verbraucht ist; dann soll es abgelassen werden, uni
einem neuen, wirkungisvollen Platz zu machen. Betreffs der Technik
hält Verf. die Drainage post laparotionem für nicht angezeigt;
ebenso sind Kochsalzspülungen, sowie Jodoformstäubungen in die
Bauchhöhle als überflüssig, wenn nicht schädlich, zu unterlassen.
Die Frage der Behandlung der tuberkulös erkrankten Tuben steht
noch offen, sie dürfen jedenfalls nur dann entfernt werden, wenn
sie leicht zugänglich und hochgradig erkrankt sind. Die trockenen
Formen sind mit Vorsicht, d. h. in der Regel exspektativ zu
behandeln. Bezüglich des Keimgehaltes des tuberkulösen Aszites
scheinen die in der Literatur verzeiclmeten exakten diesbezüglichen
Daten zu bestätigen, daß die frische Ausschwitzung keimfrei
ist — (Deutsche Zeitschrift für Chir. 1906, Bd. 84, H. 4 bis 6.)
F. H.
117. Ueher die IVirkung der Entziehung der
Chloride auf die permanente Bradykardie und deren
Erklärung auf Grund der myogenen Theorie. Von
E. Enriquez und L. Ambard. Die länger fortgesetzte Koch¬
salzentziehung ist in bestimmten Fällen von andauernder Puls¬
verlangsamung imstande, eine normale Pulsfrequenz herbeizu¬
führen, doch wird dieses Verfahren vorläufig nur selten an¬
gewendet, weil die dem Symptomenkomplex meist zugrunde
liegende chronische Nephritis oft keine Symptome macht, welche
Anlaß zur Durchführung des kochsalzarmen Regimes geben und
die auf Störung der Herzinnervation oder auf Myokarditis zurück¬
geführten Formen gleichfalls in anderer Weise behandelt werden.
Die Verfasser berichten über einen Fall von permanenter Brady¬
kardie durch bloßes kochsalzarmes Regime, wo die ursprünglich
32 bis 39 betragende Pulsfrecjuenz im Verlaufe von sieben Wochen
auf 72 Schläge in der Minute gesteigert wurde, während gleich¬
zeitig eine beträchtliche Körpergewichtszunahme erfolgte. Es fragt
sich, ob die Beeinflussung der permanenten Bradykardie durch
kochsalzarmes Regime für die neurogene oder myogene Theorie
der Bradykardie spricht. Die neurogene Theorie erklärt die per¬
manente Bradykardie durch eine Störung der Herzinnervation.
Gegen diese Theorie spricht aber der Umstand, daß bei dei
Bradykardie nur die Kontraktionen der Ventrikel spärlicher sind,
während die Vorhofskontraktionen eine normale Frequenz auf¬
weisen. Es besteht demnach eine Dissoziation zwischen Vorhofs¬
und Venlrikelrhylhmus und man beobachtet nach Atropininjek-
tion oder Muskelanstrengung nur eine Beschleunigung der Vor-
hofskonlraklionen. Die myogene Theorie besteht in der An¬
wendung der myogenen Auffassung der physiologischen Herz¬
kontraktion auf pathologische Verhältnisse. Diese Iheorie nimmt
an, daß' die Ilerzmuskelfaser imstande ist, den motorischen Impuls
WIENER KLINISCHE WüCHENSClllUET. 1907.
Nt 10
auf dus ganze Organ ohne VerinitUung intrakardialer Nerven
zu übertragen. Von Wichtigkeit ist der von His erbrachte Nach¬
weis eines IMuskelbündels, welches vom rechten Vorhof aus¬
gehend, durch das Septum in die Papillarniuskeln der Ventrikel
übergeht und die von der myogenen Tlieorie postulierte Ver¬
bindung 'zwischen Vorhof und Ventrikel herstellt. Experimentelle
Durchschneidung dieses Bündels führt am Tierherzen sofort zn
einer Störung des Synchronismus zwisclien Vorhof- und Ven-
Irikelkontraktion. ln acht Fällen von permanenter Bradykardie
wurde eine Erkrankung — Sklerose, Fettdegeneration, gummöse
Infiltration — des Bisschen Bündels konstatiert, so daß die
myogene Theorie dei' Bradykardie von verschiedenen Seiten ge¬
stützt erscheint. Auch die Wirkung des kochsalzarmeu Regimes
auf die Bradykardie läßt sich mit der myogenen Theorie ver-
(unbaren. Man muß zur Erklärung die schädliche Wirkung stärker
konzentrierter Kochsalzlösung auf die Muskulatur heranziehen.
Bei der chronischen Nephritis, der häufigsten Ursache der Brady¬
kardie, besteht öfter Kochsalzretention, so daß das erkrankte
Myokard von einer hypertonischen Kochsalzlösung umspült wird.
Daraus erklärt sich die günstige Wirkung des kochsalzarmen
Regimes, welche allerdings erst nach einiger Zeit zutage tritt.
Es scheint, daß die hypertonischen Kochsalzlösungen ihre schäd¬
liche Wirkung auf die Gewebe nicht nur durch Osmose, sondern
auch durch toxische Aktion ausühen. — (Sem. med. 1907, Nr. 4.)
a. e.
*
118. Ueber Hi I zepsychosen. Von Priv.-Doz. Doktor
.1. Finkh, erster Assistenzarzt an der psychiatrischen Klinik
in Tübingen (FTof. Dr. Wollen borg). Unter Berücksichtigung
des in der Literatur gesammelten kasuistischen Materiales, sowie
eigener Beobachtungen konnte Finkh den Nachweis erbringen,
daß unter dem Einfluß intensiver und akuter Wärmewirkungen,
zumal bei durch erbliche Belastung, Alkoholgenuß, körperliche
l'eberanstrengung, Schwäche, gemütliche Erschütterungen prädis¬
ponierten Persönlichkeiten akute, nach Art der Fieberdelirieii
verlaufende Psychosen beobachtet werden, ln unseren gemäßigten
Klimaten sind solche Psychosen selten, nehmen aber zu mit
Steigerung der natüidichen oder künstlichen Wärme. Spezifische
Hitzepsychosen von längerer Dauer ließen sich nicht nachweisen.
Wohl aber kann Hitze eine Psychose auslösen oder zu einer
solchen die Prädisposition schaffen, endlich einer durch andere
Ursachen ausgelöslen T’sycho.-e charakteristisclie Züge aufprägen:
Neigung zu schweren Erregungen und impulsiven Gewaltakten,
ferner vasomotorische Störungen. Nach Einwirkung hoher künst¬
licher oder natürlicher äVärmegrade wurden allerlei Lähmungs¬
erscheinungen und Defektzuslände beobachtet: Herabsetzung der
Widerstandskraft l)ei körperlicher Arbeit und Krankheit und gegen
gemütliche Einflüsse, Intoleranz gegen Alkohol, Abnahme der
geistigen Leistungsfähigkeit, der Gedäcbtniskraft und des sitt¬
lichen Niveaus, Reizbarkeit und Willensschwäche, ln vereinzelten
Fällen beobachtete man Epilepsie als direkte Folge der Hitze¬
wirkung. Häufiger sind Fälle, in welchen die Wärmestrahlung
den ersten epileptischen Kra.tnpfanfall auslöst. — (Allgemeine
Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch- gerichtlicdie Medizin,
Bd. 63, H. 6.) S.
*
119. Die Beeinflussung der Herztätigkeit und
des B 1 li t d r u c k e s von s c h merz h a f t e n D r u c k p u n k t e n
aus. Von Prof. Dr. Rumpf in Bonn. Mannkopff konsta-
lierle 1885 bei Unfallverletzten, daß bei langdauernden Schmerzen
der rechten Bauchseite (nach Trauma) ein Druck auf die schmerz¬
hafte Stelle eine Steigerung der Pulsfrequenz von 84 bis 92
auf 120 Schläge hervorrief, welche mit dem Aufhören des Druckes
wiedei' schwand. Daraufhin prüfte der Verfasser damals die
Beeinflussung der Herztätigkeit von schmerzhaften Druckpunkten
aus bei vielen Fälleji von Neuralgie und schmerzhaften Druck¬
punkten überhaupt. Die positiven Resultate wurden 1890 ver-
öffentlichl. Aus späteren Mitteilungen über das ,,Mannkopff-
.Rumpfsche Symptom“ und aus den darüber laut gewordenen
Zweifeln schließt der Verfasser, daß die Prüfung nicht mit allen
notwendigen Kautelen erfolgt ist. So scheinen einzelne Autoren
das Symptom in der Sprechstunde geprüft zu haben. Verf. hält
es daher für erwünscht, diese Versuchsanordnung eingehend zu
schildern und darauf aufmerksam zu machen, daß es Fälle gibt,
welche für die Prüfung völlig ungeeignet sind. Die Bedingungen
der Versuchsanordnung sind folgende : 1. Der Versuch muß im
Krankenhause vorgenommen werden. Der Kranke liegt im Bett
und soll von der Bedeutung des Versuches keine Ahnung haben.
2. Die Herztätigkeit muß eine gleichmäßig ruhige sein und darf
durch die Untersuchung an und für sich nicht wesentlich be¬
schleunigt werden. 3. Der Patient muß während fler Untersuchung
ruhig und gleichmäßig atmen. Er darf nicht exspiratorisch pressen
oder sich umherwerfen. 4. Außer der angeblich schmerzhaften
Stelle muß auch der Einfluß geprüft werden, welchen Druck
oder Reiben entsprechender Punkte der anderen Körperseite auf
die Herztätigkeit ausübt. 5. Der Befund einer Beeinflussung der
Herztätigkeit oder des Pulses von einem Punkt oder einer um¬
schriebenen Stelle aus erlaubt nur den Schluß einer größeren
Empfindlichkeit dieser Stelle und einer leichten Erregbarkeit des
Herzens, ein Schluß auf die traumatische Entstehung kann nur
auf Grund anderweitiger Untersuchungsergebnisse gezogen
werden. G. Es ist dringend erwünscht, sich mit einem einmaligen
Untersuchungsergebnis nicht zu begnügen, damit unübersehbare
Zufälligkeiten ausgeschaltet werden. Der Verfasser bringt nun
mehrere Beispiele, in welchen diese Untersuchungsmethode von
großer Bedeutung sich erwies und resümiert zum Schlüsse seine
Ergebnisse wie folgt: ln manchen Fällen allgemeiner Neurose,
welche mit Neuralgien oder schmerzhaften Druckpunkten oin-
hergehen, läßt sich durch stärkere Reizung und während dieser
eine Veränderung der Herztätigkeit und der Zirkulation hervor-
rufen, welche sich charakterisiert: 1. als einfache Beschleunigung
der Herztätigkeit; 2. als anfängliche kurzdauernde Verlangsamung
mit nachfolgender Beschleunigung; 3. als Abnahme der Puls¬
größe; 4. vereinzelt als Irregularität des Pulses, resp. Ausfallen
einzelner Wellen in der Arteria radialis; 5. als deutliche Zyanose
des Gesiclites ; 6. als Senkring des Blutdruckes ; 7. als Erhöhung
des Blutdruckes. Alle diese Veränderungen der Herz- und Gefä߬
tätigkeit haben das gemeinsame, daß mit dem Aufhören des
schmerzhaften Reizes die Aenderung innerhalb kurzer Zeit
schwindet. Am schnellsten erfolgt die Rückkehr bezüglich der
Pulsfrequenz, während die Veränderungen des Blutdruckes meist
langsamer zur Norm zurückkehrt. Zu dem sicheren Nachweis
dieser Erscheinungen sind jedoch die vom Verfasser geschilderten
Vorsichtsmaßregeln unbedingt notwendig. — (Münchener mcdiz.
Wochenscbrifl 1907, Nr. 4.) G.
♦
120. Ueljer die neuesten Heilmittel gegen Ery¬
sipel. Von Dr. A. Hecht in Beuthen (Oberschlesien). Der Ver¬
fasser empfiehlt : 1. Den absoluten Alkohol. Der Okklusivverband
soll vom Arzte möglichst exakt angelegt werden. Bei Erysipel der
Kopfhaut verdient der Alkohol, wmil er letztere am leichtesten
erreicht, vor allen anderen Mitteln den Vorzug. 2. Salokreol,
von Gnezda auf der 1. mediz. Klinik zu Berlin erprobt und
Mesotan, von Pautz auf Grund von sechs nacheinander beol)-
achteten, günstig veidaufenen Fällen sehr gerühmt. 3. Den Phenol¬
kampfer, von Dr. Chlumsky in Krakau warm empfohlen. Er
besteht aus: Acidi carbolici liquefacti 300, Camphorae tritae 60-0,
Spirit, vini 10-0. Eine wasserklare, nicht ätzende Flüssigkeit, bei
frischen Fällen mehrmals täglich auf die Haut aufzupinselh, in
älteren Fällen damit getränkte Watte aufzulegen und mit Bill-
roth- Battist zu bedecken. Verf. selbst hat einen Fall von doppel¬
seitigem Gesichtserysipel, das schon vier Tage bestand, nach
24stündiger Applikation des Mittels abheilen gesehen. 4. Eine
Mischung von Ichthyol und Guajakol nach der Vorschrift: Ichthy-
oli, Guajakoli, Ol. Terebiuthinae ana 100, Spir. vini 200. Diese
Mixtur wirkt nicht nur antiphlogistisch und antipyretisch, sondern
auch in hohem Grade schmerzstillend. Auch bei begin nendeji
Panaritien und Phlegmonen,' bei Lymphadenitis, Lymphangitis,
Furunkeln etc., dann — nach Verf. — gegen akuten Gelenks¬
rheumatismus, sowie gichtigen Anschwellungen, zu empfehlen.
5. Prof. Grawitz rühmt bei Erysipel die (diininbehandlung und
nach ihm haben sie .Josef und Cr oner empfohlen. — (Thera¬
peutische Monatshefte 1907, H. 1.'' E. F
♦
121. Aus der Münchener chirurgischeu Klinik (Geh. Rat
V. An ger er). Ueber Nierenchirurgie. Von Priv.-Doz. Doktor
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
29
H. Geb eie. Verf. läßt einem Bericht über 50 von 1896 bis
1906 ausgeführte Nephrektomien und Nephrotomien eine Dar¬
stellung der heute bestehenden ^Meinungsverschiedenheiten über
den Wert des Ureterenkatheterismus und der funktionellen Nieren-
diagnostik vorangehen. Allgemein gültig sind die alten Methoden,
wie Adspektion, Palpation der Nierengegend, namentlich in Seiten¬
lage, eventuell in Narkose, die Perkussion nach Gerhardt,
die Feststellung des Verhältnisses der Niere zum Kolon durch
Aufblähung des Dickdarnies, die cliemische, mikroskopische und
bakteriologische Untei’suclumg des Nierensekretes, nngeteilt sind
auch die jMeimingen über die große Bedeutung der Rötitgen-
strahlen, vor allem bei Steinnieren und Nierenlumorett. Die
Untersuchungsmetlioden mit dem Zystoskop teingeführt
von Max Nitze 1876) und dem U r e t e r e n z y s t o s k o p
(von Brenner 1887 erfunden) sind das Allgemeingut fast
aller geworden, die sich überhaupt mit chirurgischen Nieren¬
krankheiten beschäftigen. Nur Israel hält den Katheteris-
iiius für entbehrlich: Der Ureterenkatheterismus habe nur
in beschränktem Maße den Fortschritt in der Nierenchirin'-
gie gefördert, denn eine Herabsetzung der Mortalität finde
sich auch bei denen, die den Ureterenkatheterismus bei der Tuber¬
kulose überhaupt nicht anwenden, lieber die besonders in Frank¬
reich (L u y s, C a t h e 1 i n) geübten S e p a r a t i o n s in e t h o d e n der
Harnblase sind die Ansichten sehr geteilt. K ü m m e 1, R o v s i n g,
Kaps a mm er u. a. verwerfen sie, weil die exakte Scheidung der
Blase durch die Instrumente oft nicht möglich, ungenau ist und
weil der Nierenurin die Blase berühren müsse. Kocher, Frank
und andere verteidigen die Methode als leichter (für den Unter¬
sucher) und angenehmer (für den Patienten) und halten sie für
hinreichend in Fällen mit posilivem Resultat. Bei ihrer An¬
wendung werde auch die Nierenarbeit durch Erregung der Nerven-
zenlren viel weniger im Sinne der Anurie und Polyurie beein¬
flußt wie beim Kathelerisinus. Ueber die Kryoskopie ( Messung
der molekularen, Konzentration des Harnes und Blutes durch dieBe-
slimnmng des Gefrierpunktes), nach Dresers Untersuchungen
über die osmotische Nierenarbei I von Korany (Ende der Neun¬
zigerjahre) in die Praxis eingeführt, wogt ein heftiger Meinungs¬
kampf. Nach Kümmel betrage bei normaler oder genügender
Nierenfunktion der Gefrierpunkt des Blutes (b) konstant — 56”,
eine Erniedrigung von b von — 0-6” und darüber deute auf un¬
genügende Nierenfunktion hin und schließe eine erfolgreiche
Nephreklomie aus. Rovsing, der in zwölf Fällen ein ganz
irreleitendes Resultat mit der Blutkryoskopie bekommen haben
will, hält die Methode für wertlos. Aehnlich urteilt Israel, der
zweimal bei Gefrierpunkten von — 0-60” und — ^0-69” erfolgreich
Nieren exstirpierte. Ebenso verhält sich Casper ablehnend,
weil Gefrierpunktserniedrigungen bei vielen anderen Zuständen
(Kachexie, Abdominaltumoren, inkompensierte Vitien, Eklampsie,
Diabetes, akute Gicht) Vorkommen. Kapsammer verwirft sie,
weil er mehrfach normalen Gefrierpunkt bei schwerer Funktions¬
störung beobachtete. Cohn ist wegen noch mangelhafter Technik
der Gefrierpunktsbestiinmung Gegner der Methode. Kümmel und
Rumpel, die sich bei ihren Schlußfolgerungen auf tausend
ausgeführte Kryoskopien stützen konnten, wenden ein, der nor¬
male Gefrierpunkt gebe uns nur an, oI) genügend funktionsfähiges
Nierengewebe vorhanden sei, um alle stickstoffhaltigen Moleküle
aus dem Blute zu eliminieren, und zeigt uns nicht an, ob beide
Nieren gesund sind oder nur eine. Die Nierenerkrankung müsse
der Ureterenkatheterismus feststellen. Sei bei Gefrierpunktsernie¬
drigung bis — 0-6” und darüber eine Operation nötig, so sei die
Nephrektomie, aber nicht die Nephrotomie kontraindiziert. Erstere
könne hei Erhöliung von b sekundär ausgeführt werden. Nach
Kümmel lägen die unrichtigen Resultate vielfach in der un¬
richtigen Ausführung dei'Methode. Für die H a r n k r y o s k o pie (Be
Stimmung des Gefiierpunktes des Urins) treten Casper, Richter,
Kümmel ein. Nach Casper bleiben die Ausscheidungswerte
der kranken Niere gegen die der gesunden zurück und nehmen
die Werte proportional der gestörten Funktion ab. .ledoch haben
nur die Vergleichswerte, nicht die absoluten Zahlen eine Be¬
deutung. Nach Israel und Rovsing bedeute der Uringefrier¬
punkt ohne Kennlnisse der Harnniengen nichts; erst die Produkte
aus Menge und Gefrierpunkt bringen das Verhältnis der Arbeits¬
größen zum Ausdiuck. C as p e r verwechselt Nierenarbeitsleistung
während einer kurzen Tätigkeitspause mit der Funktionsfähigkeit.
Israel, K a p s a m m e r und Alba r r a n betonen ferner, daß die
Zusammensetzung des zu gleicher Zeit aufgefangenen Urins aus
gesunden Nieren schon nicht gleich sei; ferner bleibe in ein und
demselben Falle das Verhältnis der Stoffinengen, kurz nach¬
einander gemessen, nicht gleich; daher könne A kein genauer
Maßstab für die Nierenarbeit sein. Nach Kapsammer leistet
im großen und ganzen die Bestimmung des spezifischen Gewichtes
ebensoviel wie die Harnkryoskopie. Casper hinwieder belont,
daß nur beträchtliche Unterschiede, nicht geringe Differenzen,
der funktionellen Werte von Belang seien; es ist nur notwendig,
daß unter gleichen äußeren Bedingungen A (gesunde* Seite) immer
größer sei wie A, (kranke Seite) und die Kurven von A zu
A| zu verschiedenen Zeiten nach derselben Richtung gehen. Das
spezifische Gewicht gehe nicht immer mit dem Gefrierpunkt
parallel. Casper ist auch der Hauptvorkämpfer der ebensoviel
umstrittenen P h 1 o r i d zi n p r o b e, nach welcher jede gesunde
Niere nach Phloridzininjektion (0-01 pro dos.) Zucker ausscheidet,
die kranke weniger als die gesunde. Albarran Ijoobachtete
jedoch auch das umgekehrte Verhalten, Israel und Rovsing
sahen wiederholt, trotz gesunder Nieren, die Zuckerreaktion aus-
bleiben. Auch scheitere die Probe manchmal an dem Vorbei¬
fließen unkonlrollierbarer Harnmengen neben dem Ureteren-
katheter. Casper weist diesen Einwänden gegenüber darauf
hin, daß das Phloridzin als Diuretikum bisweilen eine Viertel-
bis eine halbe Stunde nach der Injektion bei schon bestehender
reflektorischer Polyurie zu einer Harnflut und Herabsetzung der
Zuckerausscheidung in dem verdünnten Harn führe. Ueber den
Wert der Harnstof fbestimmung nach Tuffier (1889) be¬
stehen ebenfalls Differenzen. Casper hält sie für zwecklos.
Rovsing empfiehlt sie; nach ihm ist die Niere bei normaler
Harnsloffmenge funktionsfähig, jedoch läßt umgekehrt herab¬
gesetzte Harnstoffmenge nicht immer auf funktionsunfähige Niere
schließen. Von den Farbstof fprüf ungen (Chromozystoskopie)
ist die von Ae hard eingeführte Me t hy 1 e n b 1 a u p r o b e heute
so ziemlich verlassen. Die I n d i g o k a r m i n p r o b e nach V ö 1-
ker und Joseph läßt eher ein Urteil gewinnen, ob die Niere
eine gewisse Arbeit leisten kann. Kapsainm.er empfiehlt sie
im Vereine mit dem Uretei'enkatheterismus als sehr wertvoll.
Nach Rovsing und Casper leistet die Chromozystoskopie
nichts. Zur Klärung der Frage berichtet Verf. aus der Mün¬
chener chirurgischen Klinik, wo seit 1899 der Ureterenkatheteris¬
mus und seit 1902 die fuidvtionellen Methoden geübt werden,
über die Resultate von 50 seif 1896 bis 1906 ausgeführte Nephro¬
tomien (11) und Nephrektomien (39). Sieben Patienten kamen
post operationem ad exitum. Die Mortalität stellt sich auf 16”/0
auf die Periode vor Einführung der funktionellen Methode und
12Co auf die zweite Periode. Die Operalionsstatistik hat sich
im Laufe der Jahre etwas gebessert. Nach den Erfahrungen des
Verfassers ist der Ureterenkatheterismus mit der exakten Unter¬
suchung des gelrennt anfgefangenen Urins das wertvollste und
souveräne diagnostische Hilfsmittel. Die Separation kann ersteren
gewiß nicht ersetzen, kann aber des öfteren gute Aufschlüsse
ergeben. Die Blutkryoskopie hat vor allem einen ergänzenden,
keinen selbständigen Wert ; sie erscheint rationeller als die Harn¬
kryoskopie, Phloridzinprobe und Harnstoffljestimmung und ge¬
winnt vor allem an Bedeutung, wenn der Ureterenkathelerisnms
nicht ausführbar ist. Bezüglich der Blutgefrierpunktsbestinmnmg
ergab sich, daß derselbe keine Konstante sei, wie Küm¬
mel sagt; er schwankt zwischen — 0-52 bis — 0-58”. \er-
fasser empfiehlt ferner mit Casper den Vorschlag Goebels,
bei allen Untersuchungen chirurgischer Nierenkrankheiten die vor¬
ausgehende Nahrungszufuhr zu herücksichtigen und das viele
Trinken vor der Untersuchung zu vermeiden. Die gänzliche Ver¬
werfung der funktionellen Vlethoden durch Rovsing und
Israel ist nicht gerechtfertigt, so wenig, als es gerechtfertigt
wäre, die funktionelle Magendiagnostik zu verwerfen, wiewohl
sie uns oft im Stiche läßt. — (Langenbecks Archiv für klinische
Chirurgie 1906, Bd. 81, Teil 1, Festschrift v. Bergmann.) F. H.
*
122. U e 1) e r (1 e n G (' b r a n c h von V e r o n a 1 hei V' o m i t u s
gravidarum. Von F. M. Rowland (Lichfield). Es handelte
sich um eine 22jährige Primipara, deren Herz und Nieren völlig
WIEWEll KLINISCHE WOCIIENSCIIllIET. 1907.
Nr. 10
gesund waren. Am Ende des zweiten Monats trat bei ihr ein
derart heftiges, unstillbares Erbrechen auf, daß, sie kaum einige
Älinuten Schlaf finden konnte. Die therapeutischen Maßnahmen,
wie eingekühlter Champagner, Brausemixturen, Vinum Ipecacu-
anhae, Ceriumoxalat, absolute Ruhelage, subkutane Morphinin¬
jektionen, Nährklysmen mit und ohne Bromzusatz, blieben ohne
Erfolg. Endlich wurde am Ende des dritten Tages eine große Dosis
Veronal, ca. f -5 g einer Nährinjektion zugefügt. Pat. verfiel eine
halbe Stunde darauf in einen liy2stündigen Schlaf und erwachte
aus demselben frisch und neugestärkt. Das Erbrechen sistierte
für 25 Stunden und kehrte dann in schwächerer Form wieder.
Nach einiger Zeit wurde die Injektion wiederholt. Pat. schlief
wieder IOV2 Stunden ohne nachteilige Wirkung, mit Ausnahme
eines Exanthems der Arme, welches nach 24 Stunden abblaßte.
Die Frau erholte sich dann allmählich, die Intervalle zwischen
den einzelnen Anfällen von Erbrechen verlängerten sich und
einen Monat nach Beginn der Krankheit konnte sie wieder die
gewöhnliche Nahrung nehmen und täglich ausgehen. — (British
medical Journal 1906, 24. November.) J. Sch.
♦
123. lieber die Behandlung der Pr äs kl er ose. Von
II. Hue hard. Die arterielle Flypertension geht der Arterio¬
sklerose voraus, bereitet sie vor und erzeugt die Veränderungen
der Gefäßwand. Für die Bedeutung der Blutdrucksteigerung spricht
auch die experimentelle Erzeugung von Arteriosklerose durch
Adrenalininjektionen. Die Behandlung der Blirtdrucksteigerung,
welche der Arteriosklerose vorangeht, besteht in Verordnung
einer bestimmten Diät, Massage des Abdomens und der Herz¬
gegend, Kohlensäurebädern, Anwendung der Hochfrequenzströme,
Darreichung von Medikamenten, welche den Blutdruck herab¬
setzen, vor allem von Nitriten und Theobromin. Das Vor¬
stadium der xArteriosklerose ist nicht nur durch Steigerung des
Blutdruckes, sondern auch durch relative Niereninsuffizienz ge¬
kennzeichnet. Die gegen die Hypertension angewendeten medi¬
kamentösen und physikalischen Agenzien setzen den Blutdruck
wohl zeitweilig herab, doch ist es für die Erzielung einer
dauernden Herahsetzung des Blutdruckes notwendig, eine be¬
stimmte Diät einzuhalten und die Eliminationsfunktion der
Nieren zu fördern. Eine an Ptomainen und Extraktivstoffen reiche
Nahrung begünstigt das Auftreten von Gefäßspasmen mit kon¬
sekutiver Blutdrucksteigerung, auch sind die Nieren nicht im¬
stande, die gebildeten Toxine vollständig auszuscheiden. Durch
eine kochsalzarme, vorwiegend aus klilch und Vegetabilien be¬
stehende Diät wird die Bildung von Toxinen wesentlich redu¬
ziert, durch gleichzeitige Anregung der Diurese wird die Eli¬
mination der Toxine gefördert. Die gleichzeitige Darreichung
vasodilatorisch und hypotensiv wirkender Aledikamente ergänzt
den Heilplan. Die Jodpräparate, deren Wert bei Arteriosklerose
gewöhnlich überschätzt wird, sind im Stadium der Präsklerose
direkt kontraindiziert. Von Wichtigkeit ist die frühzeitige Diagnose
der Hypertension. Die Ergebnisse der sphygmomanometrischen
Untersuchungen sind an Fehlerquellen reich, man muß daher
auch auf die Verstärkung des zweiten Aortentones, auf das
stabile Verhalten des Pulses und das Auftreten lokaler Gefä߬
spasmen achten. — ■ (Bull, de l’Acad. de Med. 1907, Nr. 3.)
'a. e.
*
124. Heilung narbiger Pylorusstenosen durch
subkutane Thiosinamininj ektionen. Von Dr. Ernst
Sachs, Assistenzarzt des städtischen Krankenhauses Moabit in
Berlin. In Fällen von Pleuraschwarten, chronischer Perigastritis,
ürethralstrikturen, würden vom Verfasser mit diesen Injektionen
schöne Erfolge beobachtet. Er berichtet sodann eingehend über
einen von ihm behandelten Fall von narbiger Pylorusstriktur,
dessen Heilung durch Thiosinamininjektionen nicht bezweifelt
werden kann. Die mechanische Dehnung des Narbengewebes
wird, nach seiner Ansicht, in solchen Fällen durch die Bewegung
des Mageninhaltes veranlaßt, welcher durch die rhythmischen Kon¬
traktionen der hypertrophischen Muskulatur immer wieder durch
den Pylorus gepreßt wird. Bei der 38jährigen Kranken, die seit
dem Jahre 1903 über Magenschmerzen, Brechneigung etc. klagte,
wurde rechts vom Nabel in der Tiefe eine etwa walnußgroße, auf
Druck sehr empfindliche Resistenz, erhöhte Vorwölbung der
Magengegend, starke Peristaltik über dem Magen und Dilatation
desselben konstatiert. Die funktionelle Prüfung führte zur sicheren
Diagnose einer motorischen Insuffizienz des Magens durch narbige
Verschließung des Pylorus aus altem Magengeschwür. Bei Bett¬
ruhe, Darreichung kleiner, gemischter Mahlzeiten in kurzen Zwi¬
schenräumen, heißen Umschlägen, regelmäßigen Magenwaschun¬
gen am späten Abend fühlte sich die Kranke wohl erleichtert,
das geringe Körpergewicht von 90 Pfund hob sich jedoch nicht.
Es folgten subkutane Injektionen von je 10 cm^ sterilen Oeles
und von Fibrolysin (salizylsaures Thiosimunin, in sterilisierten
Tuben), je 1 euU täglich, sodann seltener. Das Körpergewicht
stieg an, betrug am Schlüsse 110 Pfund, keine Schmerzen, die
früher fühlbare Härte des stenosierten Pylorus war iiicht melu’,
zu tasten, Pat. war geheilt. Der Verfasser teilt einen zweiten
Fall von narbiger Pylorusstriktur mit, der in gleicher Weise
von Prof. Klemperer durch 20 Injektionen von je 1 enU einer
lOhoigen glyzerinwässerigen Lösung vön Thiosinarain, in 48stün-
digen Zwischenräumen subkutan verabreicht, vollkommen geheilt
wurde. — (Die Therapie der Gegenwart 1907, H. 1.) E. F.
125. Ueber die Spirillen des Zeckenfiebers. Von
Prof. Karl Fraenkel. Als Ursache des afrikanischen ,, Tick-
fever“, ,, Zeckenfiebers“, ist ein Spirillum gefunden worden, wel¬
ches nach dem der Krankheit erlegenen englischen Forscher
Dutton als Spirillum Duttoni bezeichnet wurde. Dem Verfasser
wurde aus dem Institut Pasteur in Paris' eine mit den Spirillen
des Zeckenfiebers infizierte Maus übersandt, wodurch er durch
vorgenommene weitere Impfungen eigene Untersuchungen anzu¬
stellen Gelegenheit hatte. Sein Bericht ergibt folgendes : Im
bängenden Blutstropfen erscheinen die Spirillen als Schrauben
von wechselnder Länge, meist fünf bis sechs, nicht selten zehn
bis zwölf einzelne Windungen aufweisend. Der ganze Leib zeigt
eine drehende, rotierende Bewegung, in den ersten Stunden nach
dem Auftreten der Infektion oft eine mit ziemlicher Schnellig¬
keit erfolgende Bewegung der ganzen Schraube. Den Vorgang
der Pbagozytose, d. h. die Aufnahme der Schrauben durch weiße
Blutscheibeii konnte Verf. nicht beobachten. Was die Färbung
anhelangt, liefert sowohl die Behandlung mit Fuchsin oder Gen-
tianaviolett, wie auch das Gi eins a sehe Verfahren gute Ergeb¬
nisse. Nach der Gram sehen Doppelfärbung können die Spi¬
rillen nicht nachgewiesen werden. Die Uebertragung gelingt ohne
Schwierigkeiten auf weiße Mäuse, Feldmäuse, auf Ratten, Hamster
und Affen. Bei Meerschweinchen und Kaninchen sieht man manch¬
mal 12 bis 16 Stunden nach der Impfung in die Bauchhöhle
wenige Spirillen auftauchen, die aber bald wieder verschwinden.
Bei Schafen, Ziegen, Hühnern und Tauben bleibt jede Reaktion
des Körpers aus. Einen tödlichen Ausgang pflegt die Ansteckung
sowohl bei den weißen Mäusen als auch bei den grauen Feld¬
mäusen zu nehmen. Von den vielen hundert geimpften Tieren
sind nur einige wenige am Leben geblieben. Weiße Ratten er¬
liegen nur ausnahmsweise der Ansteckung. Ebenso verhalten
sich Hamster. Affen (von der Art Macacus Rhesus) erkrankten
sämtlich am zweiten Tage nach der Impfung und zeigten dann
in ihrem Blute drei bis vier Tage hindurch die Spirillen. Kein
Tier erlag der Infektion, während nach den Berichten anderer
Untersucher regelmäßig mehr oder weniger geimpfte Affen zu¬
grunde gingen. Nach den Berichten der Autoren, die in Afrika
selbst ihre Forschungen angestellt haben, wird die Krankheit in
der Regel durch den Biß: von Zecken auf den Alenschen über¬
tragen. Diejenigen Tiere, die den ersten Angriff der Spirillen
überstanden hatten, die von den verschiedenen Anfällen geheilt
waren, waren immun. Dies konnte man im Blute nachweisen.
Brachte man in ein Tröpfchen Blut von einem so immunisierten
Geschöpf unter dem Alikroskop frische Spirillen, so wurden die
letzteren bald Unbeweglich, ballten sich zu großen Klumpen und
Haufen zusammen und gingen nach kurzer Zeit zugrunde. An
den immun gewordenen Affen, Ratten, Hamstern und Mäusen
ließ sich, wie Verf. weiter berichtet, ohne jede Schwierigkeit
zeigen, daß die Spirillen des Zeckenfiebers sicherlich von denen
des Bekurrens durchaus verschieden sind. Demnächst wird sich
der Verfasser mit Untersuchungen über die noch ungelöste Frage
der Züchtung der Spirillen beschäftigen. — (Müncheuer medi¬
zinische Wochenschrift 1907, Nr. 5.) G.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOClIENSCimiFT. 1907.
12(5. Behandlung der Rön l genderniatitis. V^on
II. (1 über t-Nich olson (Victoria-Park). Verf. sah in einem
Falle von schwerster Röntgendermatitis Heilung durch den Ge¬
brauch von Jodolpulver. Dieses ist ein Derivat des .todoforms imd
in der Phannakopöe der Vereinigten Staaten offizinell. Es stellt
ein geschinack- und geruchloses, mehr oder minder kristallinisches
Pulver dar, ist in Wasser unlöslich, dagegen in öligen SubstanzeU
löslich. — (British medical Journal 1906, 3. November.)
J. Sch.
*
127. Bericht über die Tcätigkeit der deutschen
Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit.
Von Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Koch. Dem ersten Bericht (siehe
auch Nr. 3, 1907, dieser Wochenschrift) läßf. Koch einen wei¬
teren aus Britisch-Ostafrika folgen. Nahezu 1000 an Trypano¬
somiasis, resp. Schlafkrankheit Leidende wurden von der Ex¬
pedition mit Atoxyl behandelt. Die Drüsenpunktionen wurden
fortgesetzt, bei 356 Punktionen würden 347mal Trypanosomen
gefunden; die Drüsenschwellung ist also als konstantes Sym¬
ptom der Krankheit anzusehen. Die L e i c h t k r a n k e n klagen
über eine gewisse Schwäche bei Bewegungen, namentlich der
unteren Extremitäten und über Kopf-, Brust- und Gliederschmer¬
zen; ob.iektiv ist Schwellung der Lymphdrüsen und in diesen
der Befund von Trypanosomen zu konstatieren. Die Krankheit
dauert gewöhnlich einige Monate, aber auch schon ein bis zwei
Jahre lang. Bei den Schwerkranken zeigen sich sichtbare
Störungen der Muskeltätigkeit: Zittern der Glieder, schleppender
oder taumelnder Gang, die Kranken werden geführt, gestützt,
schließlich können sie nicht mehr sitzen, sie liegen hilflos da.
Auch deren psychische Funktionen sind gestört: Aufregung mil
Bewegungstrieb, Schreckhaftigkeit, bis zu Tobsuchtsanfälien ;
anderseits wieder Schwächezustände, Apatliie, Schläfrigkeit, in
höheren Graden Stumpfsinn und Somnolenz, Störung oder Er¬
löschen des Bewußtseins, mit Enuresis (ein regelmäßiges Sym¬
ptom) und auch unwillkürlicher Abfluß des Speichels. Eine Kom¬
bination der motorischen und psychischen Störungen stellt das
typische Bild der Trypanosomiasis bei Schwerkranken vor. Kocli
beschreibt eingehend, unter Zitierung kurzer Krankengeschichten,,
das Schwinden der Symptome nach Atoxylinjektionen, selbst bei
Schwerkranken. Die Trypanosomen schwinden aus den Drüsen
auf mindestens 30 Tage (in zwölf Fällen nach einer einzigen
Dosis von Atoxyl, in 140 Fällen iiach 'einer Doppelinjektion in
zwei Tagen). Einzelne Schwerkranke wurden nicht gebesserl.
Vielleicht stellt sich die Besserung noch später ein oder es ist
deren Zentralnervensystem schon so sehr geschädigt, daßi die
Restitution nicht mehr eintreten kann. Wenn nach der Behand¬
lung in den punktierten Drüsen in einzelnen Fällen Trypanosomen
gefunden werden, so sind es stets nur vereinzelte Exemplare, die
auch ein defektes Aussehen haben, als ob sie abgestorben wären.
Diese so wirksame Atoxylbehandlung hat noch das gute, daß
sie sich ohne Schwierigkeit für große Massen von Menschen
eignet. — (Dimtsche medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 2.)
E. F.
*
128. lieber die elektrolytische Peritomie. Von
:\.v. Lint. Beim lymphatischen und trachoma töseir Pannus werden
durch die Peritomie sehr günstige Resultate erzielt. Nach dem
Verschwinden der Blutgefäße hellt sich die Kornea auf und das
Sehvermögen bessert sich. Die mit der Schere vorgenommene
Peritomie gibt bei Beschränkung auf die der Kornea unmittelbar
benachbarte Bindehaut unvollständige Resultate, auch dann, wenn
ein Bindehautstreifen entfernt wird. Es ist auch notwendig, juit
dem Bistouri die episkleralen Blutgefäße zu durchschneiden, wo
l)ei unvorsichtigerem Vorgehen die Gefahr einer Perforation der
Sklera gegeben ist. Auch die mit dem Thermokauter oder Galvano¬
kauter vorgenommene Peritomie erfordert sehr große Vorsicht.
Die Erfahrungen des Verfassers mit der elektrolytischen Peritomie
haben günstige Besultate ergeben. Das Verfahren ist einfach
und gefahrlos, es werden auch die kleinsten Gefäße zum Schwin¬
den gebracht und die Kornea hellt sich rasch auf. Zur eleklro-
lytischen Peritomie verwendet man eine Elektrode, welche keine
Verletzung des Auges erzeugen kann ; sie l)esteht aus einer Kugel
von zwei Millimeter Durchmesser, welclie auf einem leicht ge¬
krümmten Stiel sitzt. Das Auge wird mit Kokain anästhesiert,
eine Fixation des Bulbus mit der Pinzette ist nicht erforderlich.
Bei <ier Peritomie an der oberen Hornhautfläclie läßt man den
Kranken nach abwärts blicken. Man führt die kugelförmige Elek¬
trode über die Hornhaut, dem Sitze des Pannus enlsprecheud,
sowie über die Bindehaut, namentlich in der Region des Limhus
der Hornhaut. Man verbindet die Elektrode mit dem negativen
Pol, die positive Elektrode wird auf die Wange derselben Seite
appliziert. Die Stromstärke beträgt 2 Millicunpere. Der Strom
wird nach Aufsetzen der Elektrode auf den Bulbus allmäldich
eingeleitet. Ebenso empfiehlt es sich, den Strom langsam auszu¬
schalten. Die Elektrode wird auf dem Bulbus hin und her geführt,
ohne den Kontakt zu unterbrechen. Die Operation erfordert je
nach der Größe des Pannus 10 bis 15 Minuten. Durch die Elek¬
trolyse werden die Gefäße eröffnet und es ergießt sich das Blut
über die Kornea, sowie in die Maschen des Gewebes der Binde¬
haut und in das episklerale Bindegewebe. Die Aidegung eines
Verbandes nach der Operation ist nicht notwendig. Beim Pannus
lymphaticus führt die elektrolytische Peritomie zur vollständigen
Heilung, bei trachomatösen Pannus wird wesentliche Besserung
erreicht. Mit einer kugelförmigen Elektrode von 1 mm Durch¬
messer und unter Anwendung einer Stromstärke von 1 bis
2 IMilliampere lassen sich Geschwüre und Flecke der Hornhaut
erfolgreich behandeln. Die Elektrode wird hier gleichfalls mil.
dem negativen Pol veißunden. — (Journ. med. de Bruxelles
1907, Nr. 3.) a. e.
**
129. Transitorische Aphasie bei A 1 k o h o 1 d e 1 i r i e n.
Von Dr. C. F. v. Vleuten, Assistenzarzt der städtischen Anstalt
zu Dalldorf. Im Verlaufe gewisser atypischer Alkoholdelirien,
die mehr chronisch verlaufen, mit geringerer Heftigkeit und Ver¬
worrenheit der Sinnestäuschungen, ohne kritischen Abschluß, be¬
sonders aber mit verhältnismäßig geringen motorischen Erschei¬
nungen einhergeheu, fand v. Vleuten Sprachstörungen, die mit
dem Abschluß des Deliriums wieder schwanden und die sich
als unvollständige transkortikale motorische Aphasie Wernickes
(amnestische Aphasie Kußmauls, Sprachbildvergessenheit
Ballets) erwiesen: Spontansprechen gestörp indem Worte
fehlen, während die Kranken genau wissen, was sie sagen
wollen und die Bedeutung eines Gegenstandes durch Gesten
deutlich machen können, Schrift paragraphisch. Nachsprechen,
Nachschreiben intakt, Lesen, von gelegentlichem Versprechen ab¬
gesehen, gut, ebenso das Verständnis für Gelesenes, v. Vleuten
hält dafür, daß diese Delirien als epileptisch - alkoholische Delirien
aufzufassen sind. — (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und
psychisch - gerichtliche Medizin, Bd. 63, H. 6.) S.
\/ermiseht0 flaehriehten.
E r n a n n ( : Dr. V a n d e r s t r a e t e n zum Professor der
Augenheilkunde in Löwen.
♦
Verliehen: Dem Privatdozenten für Chirurgie Doktor
de Quervain in Bern der Professortitel.
*
Hahilitiert: Dr. Rossi in Genua für interne Patho¬
logie. — Dr. Fr at tin in Padua für externe Pathologie.
Gestorheu: Hofrat Dr. Friedrich Gauster, Obersanitäls-
rat a. 1). im Eiseubahnministerium in Wien.
*
In der Sil zung des n i e d e r ö s t e i' r e i c h i s c h e n L a n d e s-
sanitätsrates vom 25. Februar 1907 hielt der Vorsitzende
dem verstorbenen Mitgliede und Vorsitzendenstellvertreter des
niederösterreichischen Landessanitätsrates, Regierungsrat Doktor
Adalbert Tilkowsky einen Nachruf. Sodann wurden folgende
Referate erstattet : 1. Heber die b('i der Errichtung von Milch¬
sammelstellen (Milchhäusern) einzuhaltenden sanitären Forde¬
rungen. 2. Heber das Vorgehen einer privaten Desinfektions¬
firma in Wien. 3. Heber Maßnahmen zur Hintauhaltung der
Verhreitiing übertragbarer, nicht anzeigepflichtiger Krankheiten im
W^ege der Schule. Schließlich wurile ein Initiativantrag hetreffend
einige in der letzten Zeit in. \Vien vorgekomniene Milzbrand¬
erkrankungen unter IMenschen eingebracht mul einem Komitee
zu gewiesen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 10
-'4
Bezüglich der Hundertjahrfeier des Operate u r
institutes erhalten wir folgende Zuschrift: Die Vorstände der
beiden clhnirgischen Universitätskliniken werden am 15. IMärz
dieses Jahres das hundertjährige Bestehen des Operateurinstitutes
feieiTi. Am Vormittage finden an den Kliniken, u. zw. an der
I. chirurgischen Klinik (v. Eiseisberg) von V2IO bis 11 Uhr
und an der 11. chii'urgischen Klinik (Hochenegg) von 11 bis
V2I Uhr, Krankendemonslrationen und Besichtigung der klinischen
Einrichtungen slatl. — Am Abend l)egeht die k. k. Gesellschaft
der Aerzte in ihrer diesjährigen Jahresversammlung die Feier
des 80. Geburtstages Lord Listers, des Begründers der
modernen Chirurgie, zu welcher die ehemaligen Zöglinge des
( Ipeiateurinstitutes eingeladen sind. Prof. Alexander Fraenkel
wird die Festrede halten. Nachher findet eine gesellige Zu¬
sammenkunft statt. Teilnehmer wollen sich bei einem der Vor¬
stände der chirurgischen Kliniken melden.
*
G {' setz über die Kegel u n g de r B e z ü g e der Hoc h-
s c h u 1 p r 0 f e s s o r en vom 24. Februar 1907.*) I. Univer¬
sitäten und denselben g 1 e i c h g e li a 1 1 e n e Hochschulen
u n d L e h r a n stallen. § 1. Die ordentlichen P r o f e s s 0 r e n
an allen Fakultäten der Universitäten, an den Technischen Hoch¬
schulen, dann an der Hochschule für Bodenkultur und der evan¬
gelisch-theologischen Fakultät in Wien stehen in der VI. Raugs-
klasse der Staatsbeamten und beziehen nebst der systemmäßigen
Aktivitätszulage einen Gehalt von 6400 Kronen, welcher sich
nach dem 5. und 10. Jahre um je 800 Kronen, nach dem 15.
und 20. Jahre um je 1000 Kronen und nach dem 25. Jahre um
1200 Kronen (Quincjuennalzidagen) erhöht. Sämtliche ordent¬
lichen Professoren beziehen in Wien außerdem eine in die Pension
nicht einrechenbare Zulage von 800 Kronen jährlich. § 2. Der
Gehalt der außerordentlichen Professoren an den ihn
§ 1 bezeichneten Hochschulen wird nach dem 5. und 10. Jahre
um je 800 Kronen, sodann nach dem 15. und 20. Jahre um je
600 Kronen (Quinciuennalzulagen) erhöht. § 6. Die Bestimmungen
des Gesetzes vom 15. April 1896, R.-G.-Bl. Nr. 63, betreffs der
Bezüge der Professoren an den vom Staate erhaltenen Hebammen¬
lehranstalten werden in folgender Weise abgeändert: Die Pro¬
fessoren an den vom Staate erhaltenen Hebammenlehranstaltien
stehen in der VH. Rangsklasse der Staatsbeamten und beziehen
jiebst der systemmäßigen Aktivilätszulage einen Gehalt von
3600 Kronen jährlich, welcher sich nach dem 5. und 10. Jahre
um je 800 Kronen, sodann nach dem 15. und 20. Jahre um je
600 Kronen (Oninquennalzulagen) erhöht. Die vor der Rechts¬
wirksamkeit dieses Gesetzes in der Eigenschaft als Professor
einer staatlichen Hehammenlehranstalt zurückgelegten Dienstjahre
sind hiebei in Anrechnung zu bringen. VI. Schl u hbestimi-
mungen. § 21. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden auch
auf jene Lehrpersonen Anwendung, deren Ernennung vor Beginn
der Wirksamkeit dieses Gesetzes erfolgt ist. Personalzulagen,
welche einzelnen Lehrpersonen bewilligt wurden, sind nach Ma߬
gabe der Erlangung höherer Bezüge einzuziehen. § 22. Dieses
Gesetz tritt mit dem 1. April 1907 in Kraft. § 23. Mit der Durch¬
führung dieses Gesetzes ist Mein Minister für Kultus und Unter¬
richt betraut. Wien, am 24. Februar 1907. Franz Joseph m. p.
Beck m. p. IMarchet m. p.
*
Am 26. Februar 1907 fand in der Wiener Aerzte-
kammor eine Kammerhauptversammlung statt, die folgenden
Verlauf nahm: Nach Verlesung der Einläufe erinnert der Kammer¬
präsident Dr. Ewald an den bereits gefaßten Beschluß hin¬
sichtlich der Bemühungen zur Erlangung einer entsprechenden
Vertretung im neu zu wählenden Reichsrat. Ferner berichtet
er, daß die Eingabe der Aerztekammer an das Handelsministerium
um Herabsetzung der T e 1 e p h 0 n a b o n n e m e n t s g e b ü h r e n in¬
sofern Berücksichtigung fand, als die Telephone der Aerzte in
die Kategorie der Wohnungstelephone eingereiht werden mit der
Begünstigung, daß sie 3000 Gespräche im Jahre haben dürfen.
In einem Bericht wird unter anderem hervorgehoben, daß die
Kammer in Avichtigen Fragen mir deshalb keinen vollen Erfolg
erzielen konnte, weil ihr hei Erfüllung ihri'r gesetzlichen Pflich¬
ten die Thiterstützung der Behörden nicht zuteil wurde. Nach einem
Referat des Dr. (irün wird beschlossen, in Anbetracht der all¬
gemeinen Teuerung den Aerzten eine öO^/idge Erhöhung der
bisherigen Honorare zu empfehlen und nach einem Referat
des Dr. Keller, auch die gleiche Honorarerhöhung rlen Pro¬
fessoren und Privatdozenten zu empfehlen, da eine solche I\Iaß-
'*) Soweit abgedruckt, als das Gesetz für die Bezüge der Professoren
an den med. Fakultäten in Anwendung kommt.
regel für die ührigen Aerzte praktisch nicht durchzuführen wäre.
Anschließend wird auch die Erhöhung des Honorars für Abend-
und Nachtvisiten, sowie für Besuche heschlossen, die „sofort“
bei Berufung und für solche, die für eine bestimmte Stunde
gewünscht werden. Abendbesuche sind jene, die zwischen 7 Uhr
und 10 Uhr abends mid Nachtbesuche solche, die zwischen 10 Uhr
abends und 7 Uhr früh gemacht werden. Dr. Grün beantrag!!,
von nun ab statt der üblichen Jahresrechnungen Quartals¬
rechnungen auszuschicken. Dieser Vorgang, der sich in
Deutschland bewährt hat, wird den Aerzten von der Kammer
beschlossen. Das Publikum wird auf diese Aenderung von der
Kammer aufmerksam gemacht cverden und die Aerzte können
Abdrücke dieses Beschlusses von der Kammer erhalten, um diese
Abdrücke auf den Quartalshonorarnoten aufzukleben.
*
Die Gesellschaft Deutscher Nervenärzte wird
ihre erste Jahresversannnlung im September d. .1. in Dresden
abhalten. Die Eröffnungssitzung fällt voraussichtlich auf den
14. September. Die Referate (Kr aus -Berlin, Bruns-Han¬
nover, Ne is se r- Stettin, L. R. Müller- Augsburg) beziehen sich
in erster Linie auf die chirurgische Therapie der Nervenkrank¬
heiten. Vorträge haben übernommen: A. Pick -Prag, Nonne-
Hamburg, A. S c h ü 1 1 e r- Wien u. a. Weitere Vorträge sijid recht¬
zeitig anzumelden bei Prof. H. Oppenheim-Berlin.
*
Den Tagesnachrichten zufolge hat Bankier Osiris in Paris
das dortige Institut Pasteur zum Universalerben seines
30 Millionen Franken betragenden Vermögens eingesetzt.
*
Die im Sinne des Gesetzes vom 16. Januar 1896, R.-G.-Bl.
N r. 89 ex 1897 zunächst für A s p i r a n ten auf M a r k t k o m-
m i s s ä r s t e 1 1 e n jährlich abzuhaltenden Kurse: a) Ueber mikro¬
skopische Fleischbeschau ; b) über vegetabilische Nahrungs- und
Genußmittel und c) über chemische Technologie der Nahrungs¬
und Genußmittel Averden 11. zw. der erste im k. u. k. Alilitär-
tierarzneiinstitut in Wien in der Zeit vom 22. April bis 4. Mai
laufenden Jahres an Wochentagen vormittags, der zAveite und
dritte Kurs vom 15. April bis 21. Juni Montag, MittAvoch und
Freitag von 3 bis 5 Uhr nachmittags im Hörsaal des hygieni¬
schen Institutes in Wien stattfindeii. Die Prüfungen Averden nach
Schluß der Kurse abgehalten. Aerzte, Tierärzte und Aspiranten
auf Vieh- und Fleischbeschauer-, soAvie auf Marklkommissär-
stellen u. a., AAmlche an diesen unentgeltlich abzuhaltenden Kursen
teilnehmen Avollen, haben sich Amr Beginn derselben im Rektorat
der k. u. k. tierärztlichen Hochschule in Wien, bzw. in der
k. k. allgemeinen Untersuchungsanstalt für Lebensmittel in
IVien IX., SchAvarzspanierstraße Nr. 17, zu melden. Wien, am
23. Februar 1907. Von der k. k. niederösterr. Statthalterei.
*
Aus dem S a n i t ä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 7. Jahreswoche (vom 10. bis
16. Februar 1907). Lebend geboren, ehelich 637, unehelich 303, zu¬
sammen 940. Tot geboren ehelich 55, unehelich 34, zusammen 89.
Gesamtzahl der Todesfälle 797 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 21'2 Todesfälle), an Bauchtyphus 0,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 15, Scharlach 4, Keuchhusten 2,
Diphtherie und Krupp 10, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 1, Rotlauf 4,
Lungentuberkulose 137, bösartige Neubildungen 52, Wochenbett¬
fieber 5. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 38 (H- 1), Wochen¬
bettfieber 6 (=), Blattern 0 (0), Varizellen 88 ( — 26), Masern 330
( — • 56), Scharlach 107 (-f- 15), Flecktyphus 0 (0), Bauch typhus 2 (4- 1),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 77 ( — 19), Keuch¬
husten 56 (4- 10), Trachom 1 (-f 1), Influenza 3 (4- 2).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle in St. Stefan im Gailtal (Kärnten).
Mit dieser Stelle ist eine Jahresremuneration von K 1400, u. zw. K 600
aus dem Landesfonds und K 800 von den betreffenden Gemeinden, ver¬
bunden. Außerdem stellt die Gemeinde St. Stefan eine passende freie
Wohnung bei und hat der Distriktsarzt für Dienstreisen, Durchführung
der öffentlichen Impfung und Vornahme der Totenbeschau Anspruch auf
die normierten Gebühren. Die gegenseitige Kündigungsfrist beträgt zwei
Monate. Der Distriktsarzt ist verpflichtet, eine Hausapotheke zu führen
und Gemeindearme im Wohnort und bis zu inklusive 1 km Entfernung
unentgeltlich zu behandeln. Die Bewerber umi diese Stelle wollen ihre
vorschriftsmäßig belegten und gestempelten (K 1) Gesuche entweder direkt
oder im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde bis längstens 31. März d. J.
an die Bezirkshauptmannschaft He rmagor einsenden.
An der Gebäranstalt des Kaiserin-Elisabeth-Wöchnerinnenheims
»Lucina« in Wien ist die Stelle eines Sekundär arztes sofort zu
besetzen. Bewerbungen sind zu richten an den dirig. Primararzt
Dr. Bosse, Wien IX., Günthergasse 3.
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
295
Verhandlungen ärztlicher d^esellschaften und Eongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. Sitzung vom 1. März 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 1. März 1907.
Vorsitzender: Hofrat Prof. R. Chrobak.
Schriftführer: Prof. R. Paltauf.
A. Administrative Sitzung.
Der Vorsitzende macht Mitteilung von dem Verluste, den
die Gesellschaft durch den Tod ihres Mitgliedes Herrn Regierungs¬
rat Dr. A. Tilkowsky, Direktor der niederösterreichischen
Landesirrenanstalt in Wien, erlitten hat, wobei sich die Mitglieder
zum Zeichen der Trauer von den Sitzen erheben.
Der Präsident bringt zur Kenntnis, daß die diesjährige
feierliche Jahressitzung Lord Lister gewidmet sein wird, welcher
am 5. April seinen 80. Geburtstag begeht. Mit dieser Feier,
welche einen Rückblick auf die Entwicklung der modernen
Chirurgie gestattet, wird sich gleichzeitig die Erinnerung an die
vor 100 Jahren erfolgte Gründung des Operateurinstituts an der
Wiener Fakultät verknüpfen; aus diesem Anlasse hat das Prä¬
sidium auch jene ehemaligen Operateure und Assistenten, welche
nicht Mitglieder der k. k. Gesellschaft sind, durch die Herren
Vorstände der chirurgischen Kliniken Hofräte v. Eiseisberg
und Hochenegg zu dieser Versammlung geladen. Die Festrede
auf Lister wird Herr Prof. A. Fraenkel halten.
Um nun der feierlichen Jahressitzung einen größeren Zeit¬
raum zu ermöglichen, wurde die Erstattung des Ribliotheksberichtes
in die heutige Vorversammlung verlegt, was nach den Statuten
zulässig ist.
Bibliotheksbericht.
Herr Prof. Unger: Hochgeehrte Herren! Der Zuwachs, den
die Bibliothek im abgelaufenen Jahre erfahren hat, war ein
besonders reicher. Geschenke und Spenden sind uns in großer
Anzahl zugekommen und auch die neuen Erwerbungen durch
Ankauf haben in weiteren Grenzen stattgefunden, als dies in
früheren Jahren geschehen ist. Und dabei ist, wie Ihnen der Herr
Vermögensverwalter zu Beginn dieses Jahres auseinandergesetzt
hat, das ordentliche Bibliotheksbudget nicht nur nicht über¬
schritten, sondern auch nicht einmal vollständig erschöpft worden.
Indem ich Ihnen nun den Jahresbericht über die Bibliotheks¬
verwaltung erstatte, will ich zunächst der zahlreichen Spenden
gedenken, von den einzelnen Geschenken jedoch — um Ihre Zeit
nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen — bloß die wichtigeren
namentlich anführen.
An größeren und wertvollen Spenden hat die Bibliothek
erhalten :
1. Von unserem Präsidenten Hofrat Chrobak: Die Ver¬
handlungen der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. XL Ver¬
sammlung in Kiel 1905. Leipzig 1906. — Die Verhandlungen der
Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte; 77. Versammlung
zu Meran 1905. Leipzig 1906. — Da Costa A., L’orientation
foetale et la loi de pajot. Lisboa 1906. 4“. — D a C o s t a A.,
Quelques renseignements statistiques sur la maternite provisoire
de Lisbonne. Lisboa 1906. 4'^.
2. Von unseren ordentlichen Mitgliedern: Prof. P as c hk i s :
6 Einzelwerke und das The Pharmaceutical Journal 1906. Real¬
enzyklopädie der gesamten Pharmazie. Bd. VH. Dr. Galatti:
L’ Anjou medical. Angers. Annee X, XI, XH. Lavori dei Congress!
di medicina interna 1890, 1892. XHI. Congres internet, de
medecine. Paris 1900. Section Medecine de l’enfance. Revue
rnensuelle des maladies de l’enfance. Tome VH (Ergänzung).
Annales de medecine et de Chirurgie infantiles. Paris 1906.
Comptes rendus du Congres internet, pour Tenfance tenu ä
Budapest 1899. Budapest 1901. — Prof. Kassowitz: Trans¬
actions of the internet. Medical Congress, VH. Session. London
1881. Vol. I — IV. — Dr. Oskar Frankl: 3 Einzelwerke.
Dr. R. P a s c h k i s : 1 Einzelwerk, 6 Dissertationen. — Doktor
K. U 1 1 m a n n : Vierteljahresschrift für Dermatologie und Syphilis
1886 (Ergänzung). Mitteilungen der k. k. geographischen Gesell¬
schaft, 35 Hefte (Ergänzung). — Dr. Albert Spie gier: La
Semaine medicale 1890 (Ergänzung). — Dr. Winkler: Annales
d’electrobiologie et de Radiologie. Lille 1905. — Dr. Joan n o-
vicz: Medizinalbericht von Württemberg für da& Jahr 19 J4.
Stuttgart 1906. Thompson Yates & Johnston Laboratoris Report.
Vol. VI, 2. Liverpool 1904. — Doz. Dr. K u n n : Jahrbücher für
folkloristische Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungs¬
geschichte der geschlechtlichen Moral. Herausgegeben von Doktor
F. S. K r a u s. Bd. HI. — Dr. A. L o e w : Das österreichische
Sanitätswesen 1906. - Priv.-Doz. W. Pauli: 1 Einzelwerk und die
Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft (Jahrgänge 1904,
1905 und 1906). — Priv.-Doz. C. Sternberg: 1 Einzelwerk. —
Priv.-Doz. Rothberger: 2 Einzelwerke. — Prof. Pal: 1 Einzel¬
werk. — Dr. Glaessner: Zeitschrift für experimentelle Patho¬
logie und Therapie. Bd. II, Heft 1 (Ergänzung). — Prof. Lang:
Clinica dermosifilopatica della R. Universitä di Roma. Anno
XXIV, 1, 2 ; XXV, 1.
3. Von unseren Ehren- und korrespondierenden Mitgliedern
haben gespendet : Herr Prof. Dr. Paul v. B a u m g a r t e n in
Tübingen seinen Jahresbericht über die pathogenen Mikro¬
organismen. Jahrgang XX, 1904. Leipzig 1906. Die Arbeiten auf
dem Gebiete der pathologischen Anatomie und Bakteriologie.
Leipzig 1905. 1906, Bd. V, Heft 2 und 3. — Herr Geh. Medizinal¬
rat Prof. Dr. Johann Orth: Arbeiten aus dem pathologischen
Institut zu Berlin. Zur Feier der Vollendung der Institutsneubauten
herausgegeben von J. Ort h. Berlin 1906. 8“. Herr Geheimer
Medizinalrat Prof. Dr. 0. Heubner sein Lehrbuch der Kinder¬
heilkunde. Zweite Auflage 1906. - - Herr Geh. xMedizinalrat Pro¬
fessor Dr. H. He If rieh: Atlas und Grundriß der traumatischen
Frakturen und Luxationen. München 1906. 8”. — Herr Professor
Dr. L. Aschoff: Aschoff und Taw a r a. Die heutige Lehre
von den pathologisch-anatomischen Grundlagen der Herzschwäche.
Jena 1906. Tawara, Das Reizleitungssystem, des Säugetier¬
herzens, Jena 1906, und einige andere kleinere Arbeiten. Herr
Prof. E. Steinach (aus dem Nachlasse des Herrn Doktor
S. Steinach): 28 Einzelwerke, 1 Sammelwerk (und Ergänzungen),
zusammen 43 Bände. — Herr Dr. A. Pollatschek sein Jahr¬
buch : Die therapeutischen Leistungen. Jahrgang 1905. Wies¬
baden 1906. Herr Prof. Dr. G. Pommer: Ein anatomischer
Beitrag zur Kenntnis des Wachstums im Bereiche angeborener
Defekte. Leipzig 1906.
4. Ihre eigenen Werke und Zeitschriften haben gespendet
die Herren ordentlichen Mitglieder: F. Kornfeld (Lepin, Die
Zuckerkrankheit, Deutsch von F. Kornfeld); A. Bum (l. Phy¬
siologie und Technik der Massage, 2. Handbuch der Massage und
Heilgymnastik, vierte Auflage); Bär any und Kraft (La Symp¬
tomatologie de la Narcose par le melange de Billroth) ; Frankl-
Hoch w a r t und 0. Zuckerkandl (Die nervösen Erkrankungen
der Harnblase, zweite Auflage); 0. Frankl (l. Die physikali¬
schen Heilmethoden in der Gynäkologie, 2. Gynäkologische Rund¬
schau, Wien und Berlin 1906 ff.) ; A. F o g e s und 0. Fellner
(Physikalische Therapie der Erkrankungen der weiblichen Sexual¬
organe) ; V. Gschmeidler (Der ärztliche Versuch am lebenden
Menschen, Vortrag) ; J. Hochenegg (Lehrbuch der speziellen
Chirurgie, auf Grundlage E. Alberts Lehrbuch der Chirurgie,
neubearbeitet von dessen Schülern, herausgegeben von H o c h e li¬
eg g, Wien 1906); J. P. Kar plus (Variabilität und Vererbung
am Zentralnervensystem des Menschen etc.) ; M. N e u b u r g e r
(Geschichte der Medizin, Bd. I); H. Ob er st einer (Arbeiten
aus dem Neurologischen Institute, Bd. XH, XHI) ; W. Pauli
physikal Chemistry) ; A. Schüller (Die Schädelbasis im Röntgen¬
bilde) ; L. T e 1 e k y (1. Die Sterblichkeit an Tuberkulose in Oester¬
reich 1873—1904, 2. Der erste internationale Kongreß für Ge¬
werbekrankheiten, 3. Literatur von 1905 über öffentliche Gesund¬
heitspflege) ; L. Unger (Untersuchungen über die Morphologie
und Faserung des Reptiliengehirns, I. Das Vorderhirn des Gecko) ;
W. W i nte r n i tz (Blätter für klinische Hydrotherapie); J. Zapp er t
(Die physikalische Therapie im Kindesalter); W. Zweig (Thera¬
pie der Magen- und Darmkrankheiten).
5. Eine dankenswerte Spende erhielt die Bibliothek auch
in diesem Jahre von den Redaktionen der in Wien er¬
sehe i n e n d e n m e d i z i n i s c h e n W o c h e n s c hr i f t e n, die
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 10
296
je ein Freiexemplar für das Lesezimmer spendeten, n. zw. ; Die
Wiener medizinische Wochenschrift (Redakteur Dr. H. Adler);
Wiener medizinische Presse (Redakteur Dr. A. Rum); Wiener
klinische Rundschau (Redakteur Dr. K. K u n n und Prof. Obe r-
m e y e r) ; Wiener klinisch-therapeutische Wochenschrift (Redakteur
Dr. M. T. S c h n i r e r) ; Wiener allgemeine medizinische Leitung (Re¬
dakteur Dr. E. Kraus); Aerztliche Zentral-Zeitung (Redakteur
Dr. Ledere r).
Eine weitere Spende hat die Bibliothek erhalten von der
Redaktion der Wiener klinischen Wochenschrift
(Prof. Dr. A. F r a e n k e 1), u. zw. : 24 Einzelwerke, 28 französische
und portugiesische Inauguraldissertationen und 38 verschiedene
(komplette) .Tahrgänge von medizinischen Zeitschriften und ebenso
haben die Verlagshandlungen Wilhelm Rraumüller & Sohn
in Wien (Zeitschrift für Heilkunde und das Oesterreichische
Aerzte-Kammer-Blatt, Stricker S., Studien über Sprachvor-
stellungen, Wien 1880, 8“) ; Moritz P e r 1 e s in Wien (Zentralblatt
für die gesamte Therapie) ; U r b a n & S c h w a r z e n b e r g, Berlin
und Wien (Medizinische Klinik); Zitter in Wien, Manz in
Wien, Carlo Clausen in Turin, H i r z e 1 in Leipzig, B e r g-
rn a n n in Wiesbaden u. a. der Bibliothek namhafte Spenden
zugeführt.
6. Eine größere Anzahl von Spenden hat die Bibliothek
ferner erhalten von den hohen staatlichen und Landesbehörden,
den kommunalen Verwaltungen, den wissenschaftlichen Instituten
und Vereinen des In- und Auslandes, u. zw.: Vom k. k. arbeits¬
statistischen Amt im Handelsministerium (Bleivergiftungen
in hüttenmännischen und gewerblichen Betrieben, Ursachen und
Bekämpfung, Teil HI, IV. Wien 1906. 4'’) ; von der k. k. s t a t i-
stischen Zentralkommission (Statistik des Sanitäts¬
wesens in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern
für das Jahr 1902, Wien 1906); von der kais. Akademie
der Wissenschaften in Wien (Anzeiger, Jahrgang XVHI
bis XXI, XXXVH, XXXVHI und XL, zusammen 17 Jahrgänge als
Ergänzung) ; von der statistischen Abteilung des Wiener M a-
gistrats (Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr
1904, Wien 1906, Mitteilungen der statistischen Abteilung des
Wiener Magistrats, Monatsberichte, Wochenberichte, AVien 1906,
Hecke W., Die Sterblichkeit an Tuberkulose und Krebs in Wien
im Jahre 1904, Wien 1906); von der k. k. geologischen
R e i c h s a n s t a 1 1 in Wien (Jahrbuch, Bd. LVI, Verhandlungen
1906) ; von der Universite Libre de Bruxelles (An-
nuaire pour l’annee academique 1905/06) ; von der deutschen
Karl F e r d i n a n d s - U n i V e r s i t ä t in Prag (Die feierliche
Inauguration des Rektors für das Studienjahr 1906/07) ; von der
American otological Society (Thirtyninth annual
Meeting New-York 1906, New-Bedford 1906) ; von der A s s o-
ciazione medica Triestina (Bollettino annala VHI) ; vom
34. schlesischen Bädertag in Reinerz (Verhandlungen
1906); vom Zentralverband der Balneologen Oesterreichs
(Veröffentlichungen, AVien 1906) ; vom Wiener medizini¬
schen Doktoren kollegium (Mitteilungen 1906) ; von der
Anthropologischen Gesellschaft in AVien (Mitteilungen
Bd. XXVI, AATen 1906); vom kön igl. schwedischen sta¬
tistischen Zentralbureau (Sveriges officiella Statistik,
A. Bevolkningsstatistik N. F. XLH/3) ; von der Norwegischen
M e d i z i n a 1 d i r e k t i o n (Norges officiella Statistik, V/28 [Sta-
tistique des hospices des alienes pour l’annee 1905]); von der
Academie des sciences, Paris (Comptes rendus 1906) ;
von der Gesellschaft für innere Medizin und
Kinderheilkunde in AVien (Mitteilungen 1906); vom All¬
gemeinen österreichischen Apotheker-Verein
(Zeitschrift, 1906) ; von der British medical Association
(The British medical Journal 1906); von der k. k. Zentral¬
anstalt für Ptleteorologie (telegraphische AVetterberichte
1906) ; vom Rockefeller Institut for Medical Re-
s ear che (Studies, A'^ol. 11, HI, New-York 1904 — 1905).
Endlich haben noch gespendet eine Anzahl größerer und
kleinerer Einzelwerke und Zeitschriften die Herren : Bürgermeister
Dr. L u e g e r (die Gemeindeverwaltung der k. k. Reichshaupt-
und Residenzstadt Wien im Jahre 1904, AATen 1906); Ingenieur
H e 1 1 m a n n (Mediko-technologisches Journal 1906) ; Dr. Heger
und Dr. Ed. S t i a s s n y (Oesterr. Chemiker-Zeitung) ; Doktor
Ed. Kraus (The Post Graduate, New-York, 1906) ; Dr. Schürer
V. AA' a 1 d h e i m (Ignaz Philipp Semmelweis, Leipzig 1905) ;
Prof. S. Stern (Allgemeine analytisch-synthetische Psychognosie,
AAfien 1906) ; Ch. B. C 1 u b b e in London (The Diagnose and
Treatment of Intussusception. Edinburgh and London 1907) ; Doktor
Armstrong in] New-York (Bellevue and Allied Hospitals,
Annual Report, New-York, 1905, Transactions of the Association
of Hospital Superintendents VH. Annual Conference, Boston M.,
1905); Dr. AATll. J. Gies in New-York (Proceedings of the Society
for experimental Biology and Medicine, Vol. I HI, IV/ 1, New-
York 1905—1906); Dr. Jul. AV e i ß (Oesterr.-ung. Vierteljahrs¬
schrift für Zahnheilkunde 1906); Dr. John Z ah or sky in
St. Louis (St. Louis Courier of Medicine 1906) ; Doz. Dr. L. Török
in Budapest (Pester med. -Chirurg. Presse 1906) ; H. Becker
(Zeitschrift für Eisenbahnhygiene 1906).
Es ist mir eine angenehme Pflicht, allen den genannten
Korporationen, Vereinen, wissenschaftlichen Instituten und Per¬
sonen für die wertvolle Bereicherung und wohlwollende Förderung
der Bibliothek auch an dieser Stelle den ergebensten Dank aus¬
zusprechen.
AALas die neuen Erwerbungen durch Ankauf anbelangt, so
sind dieselben infolge der dankenswerten Spende der AATener
dermatologischen Gesellschaft im Betrage von K 500, sowie infolge
der Einnahmen, die wir durch die Ausgabe von Gastkarten an
Nichtinitglieder für die Benützung der Bibliothek erzielt haben
und auf die ich gleich zu sprechen kommen werde, im abgelaufenen
Vereinsjahre viel reichlicher wie sonst ausgefallen. AVir konnten
nicht allein eine Anzahl neuer Zeitschriften, neuer Handbücher
und Einzelwerke ankaufen, sondern auch manche fühlbare Lücke
in unserer Zeitschriftensammlung ausfüllen.
Es wurden an gekauft: a) an Zeitschriften:
I. Annales de dermatologie et de syphilographie. Paris, Masson
& Cie. Tom. 1—6. 1869—1876. (Ergänzung.) — 2. Archiv für
Protistenkunde. Herausgegeben von F. S c h a u d i n n. (Bd. VH ff.)
Jena 1906. 8^ — 3. Third international Congress of Dermato¬
logy 1896. London 1898. 8''? — 4. IVe Congres international
de Dermatologie et de Syphilographie. Publies par Dr. M. G.
T h i b i e r g e. Paris 1900. 8®. — 5. V. internationaler Dermato¬
logenkongreß Berlin 1904. Berlin 1905. 8'. — 6. Verhandlungen
der Deutschen dermatologischen Gesellschaft. Kongreß IV, VI,
VII und VHI. AVien und Leipzig 1894—1904. 8® und 4®. —
7. Biochemische Zeitschrift. Herausgegeben von C. Buchner,
J. Ehrlich, C. v. N o o r d e n, M. E. Salkowski etc. Berlin
1906 ff.- 8®. — 8. Zentralblatt für praktische Augenheilkunde.
Herausgegeben von Dr. J. H i r s c h b e r g. Leipzig 1877 — 1898.
8®. Bd. I — XXI und alle Supplemente (Ergänzung). — 9. Malys
Jahresbericht für Tierchemie. Autoren- und Sachregister zu den
Bänden I— X, XI— XX. AViesbaden 1881—1892 (Ergänzung).
— 10. Klinisches Jahrbuch. Herausgegeben von Prof. Doktor
Freiherr v. Eiseisberg, Professor Dr. Flügge, Prof. Doktor
Kraus, Prof. Dr. Freiherr v. Mering und Prof. Dr. AVerth.
Jena 1906 ff. 8®. (Bd. XVI.) — 9. Verhandlungen der Deutschen
dermatologischen Gesellschaft. IX. Kongreß Berlin 1906. Berlin
1907 ff.
b) an E i n z e 1 w e r k e n : 1. E. Besnier, L. Brocq &
L. J a c q u e t : La pratique dermatologique Paris. Masson & Co.,
1900 — 1904. 4® Tome I — IV. — 2. Ergänzunghefte (Derma¬
tologische Studien) zu Monatshefte für praktische Dermatologie.
Hamburg und Leipzig 1885 — 1906. 8®. 21 Hefte (Ergänzung). —
3. Lay et A., Tratte pratique de la Vaccination animale. Paris,
1889. 8®. — 4. Nonne M., Syphilis und Nervensystem. Berlin
1902. 8®. — 5. C r o o k s h a n k E. M., Hystory and Pathology of
Vaccination. London 1889. 8®. 2 Vol. — 6. Mackenzie J., Die
Lehre vom Puls. Aus dem Englischen von Dr. A. Deutsch.
Frankfurt a. M. 1904. 8°. — 7. B ar t h e 1 e m y T., Syphilis et
sante publique. Paris 1890. 8®. — 8- Prinz ing Friedrich, Hand¬
buch der medizinischen Statistik. Jena 1906. 8®. — Berger Emil
und Robert Loe wy. Ueber Augenerkrankungen sexuellen Ursprunges
bei Frauen. Deutsche zum Teile neubearbeitete Ausgabe übersetzt
von Dr. Beatrice Roßbach. AViesbaden 1906. 8®. — 10. A b d e r-
halden, Lehrbuch der physiologischen Chemie. Berlin und
Wien 1906. 8”. — 11. Beiträge zur wissenschaftlichen
Medizin und Chemie. Festschrift zu Ehren des 60. Geburts¬
tages von Ernst Salkowski. Berlin 1904. 8®. — 12. Ha n d-
buch der Physiologie des Menschen in vier Bänden.
Bearbeitet von Chr. B o h r, R. du B o i s - R ey m o n d, B o r u 1 1 a u,
Cohn he im etc., herausgegeben von AV. Nagel. Braunschweig
1905 ff. — 13. H u c h a r d H., Traite clinique des maladies du
coeur et de Taorte. Troisieme edition. Paris 1899 — 1905. 8®.
Tome I — HI. — 14. Romberg, Lehrbuch der Herzkrankheiten.
Stuttgart 1906. 8®. — 15. Bier A., Hyperämie als Heilmittel.
Vierte Auflage. Leipzig 1906. 8®. — 16. Festschrift, gewidmet
Herrn Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Emil Ponfick zum 25jährigem
Jubiläum als Professor - Ordinarius von seinen Schülern.
Breslau 1899. 8®. — 17. Bors t. Die Lehre von den Geschwülsten.
2 Bde. Wiesbaden 1902. — 18. Virchow Rudolf, Briefe an seine
Eltern 1839—1864. Herausg. v. Marie Rabl, geb. AM r c h o w,
Leipzig 1907. 8®.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Im ganzen wurden in der abgelaufenen dreijährigen Funktions¬
periode 18 neue Zeitschriften und 28 größere Werke, Handbücher,
Monographien, Festschriften etc. angekauft.
Ich gehe nunmehr über zur Besprechung des gegen¬
wärtigen Standes der Bibliothek, wie sich derselbe am
Schlüsse des abgelaufenen Vereinsjahres gestaltet und berichte
die folgenden Daten :
Der vorjährige Stand an E i n z e 1 w e r k e n betrug
14.999 Nummern, der gegenwärtige Stand beträgt 15.261 Nummern;
Vermehrung ; 262 Nummern.
Der vorjährige Stand an Zeitschriften betrug
727 Nummern, der gegenwärtige Stand beträgt 746 Nummern ;
Vermehrung: 19 Nummern.
Unter den Zeitschriften befinden sich 392 abgeschlossene
Nummern und 354 fortlaufende Nummern. Diese 354 fortlaufenden
Zeitschriften bilden unseren gegenwärtigen, resp. diesjährigen
Einlauf und dieser Einlauf selbst besteht aus 36 Tausch¬
exemplaren, aus 129 gespendeten und aus 189 abonnierten Zeit¬
schriften.
Gebunden wurden im abgelaufenen Jahre 1059 Einzelbände.
In unserer Duplikatensammlung hat sich seit der
Entlastung derselben durch Abgabe zahlreicher Werke und in¬
kompletter Journale an ärztliche Vereine und für gemeinnützige
Zwecke im abgelaufenen Vereinsjahre fast gar nichts geändert.
Einige Worte will ich noch dem kleinen Bibliotheksfonds
und dessen Gebarung widmen, über welchen ich Ihnen nunmehr
zum dritten Male berichte und der aus den Einnahmen für aus¬
gegebene Gastkarten an Nichtmitglieder zur Benützung der
Bibliothek entstanden ist. Wie Ihnen unser Herr Vermögens¬
verwalter in seinem Expose ausgeführt hat, sind seit dem Jahre
1903 — in welchem Jahre zum erstenmal mit der Ausgabe solcher
Gastkarten begonnen wurde — bis zum Ende des Jahres 1906
rund K 1800 eingenommen worden. Von dieser Summe sind nicht
allein sämtliche Kanzleiauslagen und Drucksorten der Gesellschaft
bestritten, kleine und größere Zeitschriftenlücken ausgefüllt,
Abonnements, Bücher und Werke angekauft worden, ohne das
Bibliotheksbudget in Anspruch zu nehmen, sondern es wurde
auch ein Barbetrag von K 650 an die Vermögensverwaltung ab¬
geführt und in einem Einlagebuch der Postsparkassa frucht¬
bringend angelegt und überdies noch etwa K 80 bis K 100 er¬
übrigt und in das neue Vereinsjahr mit hinüber genommen. Ich
bin gerne bereit, denjenigen Herren Mitgliedern unserer Gesell¬
schaft, welche Einsicht nehmen wollen in die Manipulation dieser
kleinen Bibliothekshandkassa, die ich im eigenen AVirkungskreise
verwalte, die Belege und Rechnungen vorzulegen und jede ge¬
wünschte Aufklärung zu geben. Im Jahre 1906 sind 65 Monats¬
und Halbjahrskarten ausgegeben worden und im Jahre 1907 bis
heute schon 10 und voraussichtlich wird die Anzahl der Bibliotheks¬
gäste im Laufe des Jahres weiter anwachsen und unserem kleinen
Fonds neue Zuschüsse zuführen.
Ich bin hiemit, meine Herren, am Ende meines Berichtes,
danke nochmals allen, welche die Bibliothek im abgelaufenen
Jahre wohlwollend gefördert und unterstützt haben und bitte Sie,
meinen Bericht zur Kenntnis nehmen zu wollen.
*
Der Präsident dankt Prof. Unger für den erstatteten ein¬
gehenden Bericht und spricht ihm, sowie Herrn Prof. P as ch k i s
den Dank der k. k. Gesellschaft für ihre ersprießliche und auf¬
opfernde Tätigkeit in der Bibliotheksverwaltung aus.
Rieh. Pal tauf trägt die vom Verwaltungsrat angenommene
Liste der für die Wahl vorgeschlagenen Ehrenmitglieder (2), kor¬
respondierenden Mitglieder (4) und ordentlichen Mitglieder (37) vor.
Es wird keine Einwendung erhoben.
Ferner teilt der Herr Präsident mit, daß der Verwaltungs¬
rat die Herren Prof. C h i a r i, Prof. P a s c h k i s und Dr. K h a u t z
V. E u 1 e n t h a 1 zu Skrutatoren nominiert hat und dem Plenum
die Herren Dr. Teleky sen. und Hofrat Zuckerkandl als
solche vorschlägt. Wird zugestimmt.
Eingelangt ist eine Einladung des Vereines für Wohnungs¬
reform zum Beitritte.
B. Wisseiiscliartliche Sitzung.
Dr. Artur Goldreich: Ich gestatte mir, aus dem I. öffent¬
lichen Kinderkrankeninstitut (Abteilung des Priv.-Doz. Dr. Hoch¬
singer) den interessanten und seltenen Fall einer multiplen
fnngösen Zerstörung mehrerer Gelenke, bei einem
siebenwöchentlichen Säugling zu demonstrieren.
Das Kind ist hereditär schwer belastet. Der Großvater väter¬
licherseits ist angeblich an einem Lnngenleiden gestorben, die
Großmulter vähulichcrseils lebt und ist gesund. Der Großvater
mütterlicherseits ist angeblich an einer Hämoptoe zngrunde-
gegangen, die Großmutter mütterlicherseits lebt.
Die Eltern des Säuglings wurden von mir untersucht. Der
Vater des Kindes ist sehr blaß und mager, bustet seit längerer
Zeit; die Unterstichung ergibt in der linken P’ossa supraspinala
eine Dämpfung, entsprechend der Dämpfung sind zeitweilig ver¬
einzelte, konsonierende Rasselgeräusche hörbar. Die Mutter des
Kindes ist derzeit vollkommen gesund. Die Wohnungsverhältnisse
sind außerordenilich ungünstig, die Wohnung ist dunkel und
feucht. Die Geschwulst am Rücken des Kindes besteht nach
Angabe der Mutter seit 14 Tagen, die Fistel am Fußrücken
schon seit vier Wochen.
Das Kind wird künstlich genährt. Die Haut ist- trocken, der
Panniculus adiposus außerordentlich dürftig; das Körpergewicht
beträgt 3200 g.
Der Lungenbefund ergibt die Zeichen eines diffusen Katarrhs,
der Herzbefund ist normal. Der abdominelle Befund zeigt nichts
B eme r ken s we r t e s .
An der Wirbelsäule konstatiert man entsprechend den unteren
Brustwirbeln eine livid verfärbte, ungefähr fünfkronenstückgroße,
deutlich fluktuierende Geschwulst.
Der rechte Unterschenkel ist ödematös, der rechte Fu߬
rücken zeigt eine teigige Schwellung und eine Fistel, aus der
man serösen Eiter entleeren kann. Entsprechend dem rechten
Malleolus medialis sieht man eine ungefähr walnußgroße, livid
verfärbte, deutlich fluktuierende Geschwulst. Auch die dritte linke
Zehe ist livid verfärbt und zeigt deutliche Fluktuation.
Es besteht also klinisch ein kalter Abszeß an der Wirbel¬
säule, eine fungöse Erkrankung des rechten Fußes und der dritten
linken Zehe.
Herr Priv.-Doz. Dr. Kienböck hatte die Freundlichkeit,
die Röntgenaufnahmen zu besorgen. Er konnte an den Knochen
nichts Pathologisches wmhrnehmen, worüber man sieb mit Rück¬
sicht auf die Kleinheit der Knochenkerne in diesem Alter nicht
wumdern darf. Bekanntlich gehört die sicher nachgewüesene Tuber¬
kulose der ersten drei Lebensmonate zu den größten Seltenheiten.
Wenn man so vorgeschrittene tuberkulöse Prozesse bei einem
zur Zeit der ersten Beobachtung erst sechswmchentlichen Säug¬
ling sieht, drängt sich umvillkürlich die Vermutung auf, ob hier
nicht ein Fall von angeborener Tuberkulose vorliegt.
Baum gar ten kann das große Verdienst für sich in An¬
spruch nehmen, als erster auf die Häufigkeit der angeborenen
Tuberkulose, d. h. der intrauterinen bazillären Infektion, hinge-
wüesen zu haben. Die Lehre von der angeborenen Tuberkulose
ist heutzutage sowmhl durch einwandfreie uutopsische Befunde,
als auch durch experimentelle Ergebnisse eine feststehende Tat¬
sache. Dem berechtigten Einwande, daß die Fälle von ange-
horener Tuberkulose außerordentlich selten sind, begegnet Baum¬
garten mit der Annahme des Latenzstadiums der Tuberkulose.
Auch diese Annahme wurde von ihm und anderen genügend
gestützt. Ich will mich heute in diese interessante F'rage nicht
weiter einlassen. Es wird sich ja Gelegenheit finden, den hier
demonstrierten Fall zur Autopsie zu bringen und später über
ihn ausführlich zu berichten.
Auf Anregung des Herrn Kollegen Dr. Bartel habe ich mich
bezüglich dieses Falles auch an den, um die Erforschung der
Tuberkulose so hochverdienten Herrn Prof. Baumgarten in
Tübingen gewundet. Herr Prof. Baum garten schreibt: ,, Indem
ich Ihnen freundlichst für Ihre mich, sehr interessierende Mitteilung
danke, beeile ich mich, diesem Danke hinzuzufügen, daß ich
mich durchaus Ihrer, vom Herrn Kollegen Bartel unterstützten
Auffassung anschließe. Daß derartige chronisch -ulzeröse Prozesse
sich nicht in der kurzen Zeitspanne von sechs Wochen aushilden
können, halte ich für sicher. Hiezu kommt noch der Sitz der
Veränderungen in den Knochen, Organen, die weit abseits von
den Pforten der äußeren (extrauterinen) Infektion gelegen sind,
während sie der intrauterinen Infektion mittels des bazillär be¬
lasteten kindlichen Blutes leicht zugänglich sind.“
Dr. Oskar Rie: Das Kind, welches ich Ihnen heute hier
vorzustellen die Ehre habe, ein neunjähriges Mädchen, wurde
vor etwa vier W^ochen wegen Chorea in meine Ambulatoriums-
ahteilung am I. öffentlichen Kinderkrankeninstitut gebracht. Im
Verlaufe der Chorea trat Vitiligo auf; die ungewöhnlich starke
und ausgebreitete Pigmentation ist wmhl auf Arsenmelanose mit
zurückzuführen.
Ich stelle das Kind wegen der auffallenden Gesichtsasym¬
metrie vor, die bei oberflächlicher Beohachtung an Hemiatrophia
facialis progressiva denken läßt. Indes fehlt das wichtigste und
charakteristische Symptom dieser Krankheit, die Hautatrophie.
Es handelt sich hier um die sehr seltene Form der kon¬
genitalen Atrophie, um das Kleinerh leiben, nicht Kleiner-
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werden einer Cxesichlsliälfle. De in nie, der einen ganz analogen
Fall beschreib!, erklärt (iin Jahre 1884), keinen weiteren in der
Literatur gefunden zu haben; seither sind zwei oder drei Fälle
publiziert worden.
Es besteht eine Gesichtsasynnnetrie in der Weise, dah die
das Gesicht teilende iMedianlinie nach rechts konvex ist. Diese
Konvexität spricht sich in der rechten Wange, in der Jochbein¬
gegend, sowie in der rechten Ohrinuschel aus. Leichte Atrophie
der Lippen und der Zunge auf der linken Seite ; Zahnstellungi.
Die Asynunetrie betrifft auch den Hirnschädel. Sensibilität und
Beweglichkeit anscheinend ungestört.
Der sehr interessante Augenbefund wurde von Herrn Frivat-
dozenten Sachs aufgenonnnen. Es besteht; 1. ein Tieferstehen
der kleineren, linken Lidspalte; 2. ein nicht ganz entwickelter
Lpikanthus; 3. Strabisnius divergens; 4. beiderseits Hornhaut-
astigniatisnius, Luxation der Linse nach oben, rechts ülierdies
Irisschlotlern. Die Extremitäten sind in keiner Weise an der
Atrophie beteiligt.
Bezüglich der Aetiologie derartiger Fälle wurde von einer
Seite primäre Hirnagenesie herangezogen, von anderer intrauterine
mechanische Einwirkung durch Amnionstränge angenommen. Die
letztere Ansicht wird unter anderem auch dadurch gestützt, daß
wir ganz analoge, wenn auch weniger hochgradige Schädel- und
Gesichtsskoliosen unter dem Einfluß des Caput obstipum ent¬
stehen sehen, also ein exquisit mechanisches Moment.
Schließlich sei noch ei’wmhnt, daß die Eltern des hier vor¬
gestellten Kindes den Zustand auf „Versehen in der Schwanger¬
schaft“ zurückführen. (Begegnen einer Frau mit Gesichtsschief¬
heit und Erschrecken dabei.)
Diskussion; Dr. R. Neurath: Es ist eigentlich keine
Atrophie, keine Entwicklungsstörung normal angelegter Gewebe,
die nach der Auffassung des Kollegen Dr. Rie der Differenz der
Gesichtshälften im vorgestellten Falle zugrunde läge, sondern
eine abnorme Anlage, eine Dysplasie. Was die hervorgehobene
Differenz beider Seiten anbelangt, so fragt es sich, ob wir nicht
ebenso gut, wie vom Vortragenden die kleinere Gesichtshälfte als
pathologisch und die größere als normal angenommen wird, die
größere Seite als die pathologische auffassen könnten, wofür das
Irisschlottern auf dieser spräche. Wir hätten es dann mit einer
liartiellen Hypertrophie, einem partiellen, halbseitigen Riesen¬
wachstum zu tun, wie wir es an den Extremitäten oder auch
streng halbseitig öfters in der Literatur finden.
Dr. Oskar Rie: Ad 1. Ich habe den Namen ,, kongenitale
Hemiatrophie des Gesichts“ nicht gewählt, sondern in der Litera¬
tur für diese Fälle bereits vorgefunden.
Ad. 2. Eine Hypertrophie der rechten Kopfseite liegt gewiß
nicht vor.
1. ist die linke Wange und die linke Zungenhälfte auffallend
mager — nicht die rechte Seite auffallend dick ; die Schneidezähne
der linken Unterkieferhälfte im rechten Winkel gegen die Back¬
zähne statt im stumpfen, wie normal und wie rechterseits.
2. entspricht kein einziger der (gesammelten) Hypertrophie¬
fälle aus der Literatur dem hier vorgestellten, während die beiden
in der Detailbeschreibung mir zugänglichen Hemiatrophiefälle in
der Schädel- und Gesichtsformation völlig mit dem meinen
übereinstimmen.
Für diese ist aber eine Hypertrophie um so weniger anzu¬
nehmen, als bei ihnen apiastische Erscheinungen an den gleich¬
seitigen Extremitäten mitvorhanden sind.
Dr. Siegfried Weiß stellt einen dreijährigen Knaben mit
angeborener Dilatation des Kolon (Hirschsprung
sehe Krankheit) vor. Schon die Anamnese war charakteristisch.
Unmittelbar nach der Geburt litt das Kind an Stuhlverstopfung,
beträchtlicher Vergrößerung des Bauches und unstillbarem Er¬
brechen. Trotz Ammennährung kam das Kind herunter und
damals wurde die Diagnose angeborene Rachitis gestellt. Nach
einem Ammenwechsel und einer Periode guten Gedeihens vom
zweiten bis siebenten Monate, in welcher Zeit die Beschwerden
geringer waren, erreichte das Körpergewicht des Kindes 7000 g.
Von da an traten die oben erwähnten Erscheinungen in ver¬
stärktem Grade wieder auf. Es stellte sich ein Zustand von hoch¬
gradiger Verstopfung mit Blähung und Ausdehnung des Bauches
bis zu solchen Dimensionen ein, daß die Haut gespannt und
glänzend war. Erst auf Anwendung zahlreicher Klysmen und
Abführmitteln erfolgten Entleerungen stinkender Kotmassen,
welche mit Kotsteinen und beträchtlichen Mengen von Gasen
vermengt waren. Der vorher ballonartig aufgetriebene Bauch fiel
dann zusammen und hatte eine nur mehr wenig auffällige Größe.
Das Körpergewicht des Kindes nahm ab und blieb bis zum
20. IMonate auf 6000 g. Erst zu Beginn des dritten Lebensjahres
begann das Kind sich besser zu entwickeln, obwohl die be¬
schriebenen Zustände nicht verschwanden. In einem solchem An¬
falle von viertägiger Verstopfung nach vergeblichen Versuchen
dieselbe zu beseitigen, bot das dem Obgenanntem zum ersten-
male vorgestellte Kind folgenden Befund. Das Abdomen war
gleichmäßig und stark aufgetrieben, meteoristisch. Umfang in der
Nabelhöhle 59 cm, sichtbare Peristaltik des gesamten Kolon. Die
peristaltische Welle lief entsprechend dem Colon ascendens und
transversum, erfuhr an der Uebergangsstelle in das Colon
descendens eine Unterbrechung und setzte sich dann dem Ver¬
laufe des letzteren folgend beckenwärts fort, so daß eine schräg
von links oben nach rechts unten verlaufende Furche entstand.
Der Umfang des geblähten Kolon könnte auf 20 cm geschätzt
werden. lieber dem ganzen Bauche waren plätschernde und
gurrende Geräusche zu hören. Die dünnen und zugleich fett¬
armen Bauchdecken gestatteten die genaue Beobachtung dieser
Erscheinungen. Die rektale Untersuchung ergab ein Fehlen
jeglicher Verengerung oder eines sonstigen Hindernisses, im
Gegenteile eine derartige Erweiterung des vollkommen leeren
Mastdarmes und der Flexur, daß deren Umrandungen gar nicht
ausgetastet werden konnten. Hoch oben war ein zirka hühnerei¬
großer Kotstein als zufälliger Befund tastbar, welcher bei dem
bimanuell unternommenen Versuche ihn zu entfernen in die
höheren geblähten Darmabschnitte entschlüpfte. Bei der prokto-
skopischen Untersuchung (Dr. F o g e s) zeigte sich die Schleim¬
haut der Ampulle von katarrhalischen Geschwüren dicht besetzt.
Der mit der Kornzange vorher zerkleinerte Stein wurde entfernt
und nun erfolgte ein Kollabieren des Bauches unter Ausströmen
der stinkenden Gase. Der .Bauchumfang verkleinerte sich um
2 cm. Die Behandlung in diesem Falle wäre nach der Indikation
des Herrn Primarius Schnitzler die Resektion des dilatierten
Kolon.
Dr. 0. V. Frisch stellt einen Fall von angeborener Sko¬
liose vor, bedingt durch einen Schaltwirbel. (Erscheint aus¬
führlich in dieser Wochenschrift.)
Primarius Dr. Bakes: Die Patientin, welche ich die Ehre
habe, heute vorzustellen, wurde mir aus der inneren Abteilung
der Brünner Landeski-ankenanstalt behufs operativer Therapie zu¬
geschickt. Die Kranken, geschichte ist kurz folgende :
Anamnese: Pat. will nie ernstlich krank gewesen sein.
Vor zirka drei Monaten trat anscheinend ohne besondere Veran¬
lassung und ohne bestimmte Beschwerden Ikterus ein, welcher
trotz aller angewandten Mittel derart an Intensität zunahm',
daß die Haut der Kranken tief braungelb wurde (Melanikterus).
Die gleichzeitig durch diesen Zustand hervorgerufene Appetit¬
losigkeit und Obstipation, das lästige Hautjucken konsumierten
rasch die Kräfte der Kranken, so daß sich selbe zu einem
operativen Eingriff entschloß.
Status praesens: Bei der Untersuchung fand man außer
einer diffusen Schmerzhaftigkeit unter dem rechten Rippenbogen
nichts Pathologisches vor. Den Leberrand fühlte man nur beim
Eindrücken der Bauchdecken unter die Rippen. Stuhl gänzlich
acholisch, weiß, Harn viel Gallenfarbstoffe enthaltend. Gar keine
Anhaltspunkte für Gallensteine. Der Kranken wurden einige Tage
vor der Operation täglich mehrere Gramm Calcium chloratum
per OS verabreicht, den Abend und früh vor der Operation je
eine Tube Merck'scher Gelatine subkutan injiziert.
Operation: Nach schräger Inzision in Aethernarkose prä¬
sentiert sich zAvischen Magen und Leber eine runde, glatte, kinds¬
kopfgroße, zystische Geschwulst, an deren oberem Pole die voll¬
ständig leere, gefaltete Gallenblase emporragte, über deren untere
Peripherie das nacli vorne dislozierte Duodenum zog. Im ersten
Momente dachte ich an eine vom Pankreaskopfe ausgehende
Zyste, dann an eine Mesenterialzyste, später an eine Retentions¬
geschwulst der Niere, jedoch bald konnte ich mich überzeugen,
daß keine von diesen Annahinen richtig war. Der Pankreaskopf
war zart und absolut normal, das Mesenterium des Duodenums
bot gar keine Anhaltspunkte, welche die Existenz eines Alesenterial-
tumors rechtfertigen könnten und die Niere habe ich mit einem
Griff unter die Geschwulst wohl abgetastet. Nach Spaltung der
bedeckenden Serosa ließ sich der Tumor teilweise umgreifen ;
an seiner medialen Seite wurden die Gebilde des Ligament, hepat.
duod., Vena portae und Arteria hepat. vorgefuuden. Mithin er¬
kannten wir, daß diese zystische Geschwulst nichts anderes sein
kann, als der kolossal dilatierte Ductus choledochus. Nun lag
es am nächsten, sich über die Beschaffenheit der Papille zu
orientieren. In der Erwartung, ein eingekeiltes Konkrement oder
irgendeinen obstruierenden Tumor vorzufiuden, mobilisierte ich
das Duodenum nach Lorenz, konnte aber zu meiner größten
Ueberraschung konstatieren, daß sich die Papille ganz normal
anfühlt. Die Probepunktion der Zyste, welche dünne, blaßgelbe
Galle ergab, bestätigte uns abermals, daß wir es mit dem Ductus
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choledochus zu tun haben. Um den Inhalt der Zyste zu entleeren,
wurde eine dorsale Inzision gemacht und der Sack gründlicli
ausgetupft. Sein Inneres war durch eine schwarz pigmentierte
Mukosa ausgekleidet und das abermalige Absuchen der Zysten¬
wände und der Papille ergab gar keine Anhaltspunkte, welche uns
das Entstehen dieser merkwürdigen Geschwulst erklärt hätten.
Die versuchte Sondierung der Papille vom Zysteninnern gelang
nicht. Wie die Papille, so auch der Zystikus — nach der Be¬
schaffenheit der Gallenblase zu schließien — schienen durch Vor¬
gänge obliteriert zu sein, die wir uns vorläufig nicht erklären
konnten. Entzündliche Erscheinungen fehlten nahezu vollständig.
Die Leber erschien zwar nicht vergrößert, hatte jedoch eine fein
granulierte Oberfläche, gezackten Rand und derbe Konsistenz,
ihre Farbe war schwarzbraun. Die Inzision der Zyste wurde bis
auf eine ganz kleine Oeffnung in unmittelbarer Nähe des Duo¬
denum vernäht und diese Oeffnung benützten wir zur Etablierung
einer Choledochoduodenostomie mit dreietagiger Naht nach
Wölfl er. Darüber wurden die Serosablätter vereinigt, die Bauch¬
höhle mit heißer physiologischer Kochsalzlösung ausgespült und
mittels dreietagiger Naht geschlossen. Die Patientin hat den Ein¬
griff ohne jede Reaktion überstanden, bereits am zweiten Tagte
fand man Gallenfarbstoff im Stuhl, welcher von Tag zu Tag
sich dunkler färbte. Auch der Ikterus verlor sich so rasch, daß
man heute nur noch seine Spuren an den Skleren nachweisen
kann und der Zustand der Patientin ist ein denkbarst günstiger.
Z u r E r w e i t e r u n g des C h o 1 e d o c h u s. Die Erweiterung
des Choledochus ist im allgemeinen eine bei den Gallenstein¬
operationen recht häufige Erscheinung. Sobald sich ein Kon¬
krement im gemeinschaftlichen Gallengange befindet, erweitert
sich derselbe sehr rasch, so daß die Galle an dem Konkremente
vorbeifließen kann. Wenn die Konkremente im Gange sich ver¬
größern, oder ihre Zahl wächst, dann nimmt das Kaliber desselben
stetig zu und nicht selten stößt der Gallensteinoperateur auf
('holedochi vom Volumen eines gefüllten Darmes und darüber.
Mit dieser Erweiterung geht auch eine Verdickung seiner Wände
Band in Hand und ein IMächtigwerden seines sonst dünnen
Venennetzes. Auch die ampullenartige Erweiterung des Ganges
ist von mehreren Gallensteinoperateuren erwähnt worden. Sie
befällt am häufigsten den retroduodenalen Teil u. zw. dann,
wenn die Papille durch ein eingekeiltes Konkrement oder durch
stark zusammengepreßten Gallenschlamm verlegt ist. Ich habe
zweimal Gelegenheit gehabt, eine solche Retentionszyste des
Choledochus zu beobachten. Auch vor Strikturen — einem sehr
seltenen Befunde am Choledochus, wurden zystische Erweiterungen
desselben beschrieben.
So hat Moynihau einen Fall operiert, wo oberhalb einer
harten, narbigen Choledochusstriklur der Gan'g zystisch erweitert
war. Auch Erweiterungen des Hepatikus finden sich in der
Literatur verzeichnet.
Guenu operierte einen Fall von Choledochusstenose an
der Mündung des Zystikus, wo ein Hepatikus als zystisches Ge¬
bilde an der Leberpforte sich hervorwölbte. Eine Anastomose der
Zyste mit dem Magen war vom letalen Ausgang begleitet.
Dela geniere berichtet über einen Fall, wo er den He¬
patikus hoch oben an der Leber verstopft und nierenbeckenartig
enveitert fand. Durch Inzision extrahierte er zwei Steine.
Alle diese erwähnten Erweiterungen des Choledochus, welche
im Gefolge von Strikturen und Cholelithen zustande kommen,
haben mit unserem Krankheitsbilde nichts Gemeinschaftliches.
Vielmehr handelte es sich um eine sehr seltene, höchstwahr¬
scheinlich auf kongenitalen Ursprung zurückzuführende Anomalie,
welche in einer abnormen Klappenbildung an der Papille und
der Zystikusmündung zu wurzeln scheint. Bei der Operation
dachte ich, einen bisher unbeobachteten pathologischen Prozeß
vor mir' zu haben, jedoch nach genauer Durchsicht der Literatur
fand ich fünf ähnliche Fälle publiziert, welche sämtlich mit
letalem Ausgang operiert wurden und zur Autopsie kamen.
Die Sektionshefunde stimmen vollkommen mit dem Befunde
bei dieser Patientin überein. Nirgends fand man ein Konkrement,
nirgends ein greifbares Hindernis, welches die enorme Erweiterung
des Ganges gerechtfertigt hätte; deshalh sind alle fünf Autoren
der Meinung, daß es sich um eine kongenitale Anomalie, etwa
ähnlich dem Befunde hei kongenitaler Hydronephrose handeln
müsse.
Die näheren Details dieser sehr seltenen Krankheit will
ich nicht weiter hier erörtern und behalte mir die genaue Be¬
sprechung derselben für eine ausführliche Puhlikation vor.
Resümee: Es handelt sich in diesem Falle um eine
idiopathische Retentionszys te des Choledochus,
wahrscheinlich infolge von kongenitalen Anomalien der Klappen¬
bildung in den Gallengängen. Dieser Fall ist insoferne ein Unikum,
als er der erste ist, bei dem es gelang, durch operative Therapie
Heilung zu erzielen.
Die Therapie besteht in einer exakt angelegten Chole¬
dochoduodenostomie mit möglichst, engem Lumen.
Primarius Dr. Bakes : Die S e 1 b s t z e r t r ü m m e r u n g der
Gallensteine. Gestatten Sie mir, folgende vorläufige Mit¬
teilung zu machen : Ich habe des öfteren auf frisch durch
Operation gewonnenen Gallensteinen Gelegenheit gehabt, einen
Vorgang zu beobachten, den ich als Selbstzertrümmerung der
Gallensteine, analog der Selbstzertrümmerung der Harnblasen¬
steine bezeichnen möchte. Auch in dem gestern operierten Falle
läßt sich etwas Aehnliches beobachten. Man sieht einen in die
Hälfte geteilten Stein, dessen Bruchflächen sich mit einer frischen
Deckschichte bereits überzogen haben. Die Hälften passen gut
aneinander. Die übrigen Gallensteine in dieser, exstirpierten Gallen¬
blase zeigen eine abnorme Brüchigkeit, da bei der zart ans¬
geführten Exstirpation die Blase kaum gedrückt und trotzdem
viele Steine beim Aufschneiden derselben zertrümmert vorgefunden
wurden. In einem anderen Falle beobachtete ich außer den schon
zerteilten, andere polyedrische Konkremente, welche deutlich einen
Sprung aufwiesen, in welchem die spätere Teilung sich höchst¬
wahrscheinlich vollzogen hätte. Bei einem Stoppelstein im Chole¬
dochus, welcher gewöhnlich als Solitär auftritt, fand ich nach
seiner Extraktion sieben ganz kleine, flache Steinchen, Avelche
als Tochtersteine des großen Cholelithen anzusprechen wären. Es
haben sich nämlich vom plumpen Rande des weichen Konkre¬
mentes bei seinem Hin- und Henvandern im Gange kleine Partien
abgelöst, welche vor der Papille liegen geblieben sind. Die nahe¬
zu gleiche Größe und gleiche Form dieser Steinchen, sprach
für ihren gemeinschaftlichen Ursprung. Ob und welche chemische
oder mechanische Vorgänge bei der Selbstzertrümmerung der
Cholelithen sich ereignen, läßt sich vor der Hand nicht bestimmen.
Echtes Gallensteinrezidiv. Unter meinen zirka
70 Gallensteinoperationen habe ich diese Woche das erstemal
Gelegenheit gehabt, ein Gallensteinrezidiv zu operieren, welches
ich als ein echtes ansprechen möchte.
Es handelt sich um eine 38jährige Frau, welche am
25. Januar 1906 wegen kalkulöser, hämorrhagischer Cholezystitis
ektomiert wurde. Der Choledochus war bei der Operation von
normalem Kaliber, wurde eingeschnitten und sehr exakt sondiert
und abgetastet, da viele kleine Konkremente in der Gallenblase
sich befanden und leicht durch den etwas erweiterten Zystikus
ein Gallenstein in den Choledochus hineingelangen konnte.
Die Hepatikusdrainage wurde, um die infizierte Galle ab¬
zuleiten, hinzugefügt. Pat. genas vollständig und hatte ein
volles Jahr Rulie. Im Jänner d. J. erkrankte sie unter typischen
Symptomen einer Choledocholithiasis und ihre unausgesetzten
Schmerzen bestimmten sie zur neuerlichen Operation, welche
vorgestern in Aethernarkose ausgeführt wurde.
Nach schräger Inzision, Bloßlegung des daumendicken Chole¬
dochus, supraduodenale Choledochotomie und Ausräumung dos
Ganges. Wir extrahierten zuerst einen weichen, bröckeligen, etwa
haselnußgroßen Stoppelstein, dann mit den Löffeln noch vier
Konkremente aus dem retroduodenalen Abschnitt des Ganges.
Drainage des Hepatikus und Choledochus, Tamponade, Naht.
Ich bezeichne diesen Fall deshalb als ein sogenanntes echtes
Rezidiv, weil ich mit größter Wahrscheinlichkeit loehaupten kann,
daß der Choledochus bei der ersten Operation sicher keine Kon¬
kremente enthielt.
Dr. Jehle : Ueber Desinfektionsversuche des
Nasenrachenraumes mit P y o z y a n a s e bei Meningitis
cerebrospinalis.
Meine Herren! Ich erlaube mir, in Kürze über die Resultate
neuerlicher Desinfektionsversüche mit Pyozyanase zu berichten.
Ich habe vor einiger Zeit über ähnliche Versuche, welche ich
auf Anregung meines hochverehrten Chefs, des Herrn Hofrates
E scher ich, vorgenounnen habe, bereits berichtet. Es handelte
sich damals um eine Grippeepidemie, bei welcher der Micrococcus
catarrhalis mit Sicherheit als Erreger nachgewiesen werden konnte.
Nach kurzer Behandlung des Nasenrachenraumes schwanden
die genannten Bakterien aus der Nase und zur selben Zeit sistierten
die Erkrankungen, von welchen die Kinder bisher durch mehrere
Monate immer wieder befallen wurden.
Es war naheliegend, ähnliche Versuche bei den so nahe
verwandten Meningokokken vorzunehmen. Dazu bot sich mir
j'eichlich Gelegenheit sowohl an der Klinik als auch während
meines Aufenthaltes in den Epidemiegebieten in Oesterreichisch-
Schlesien, sowie im Rheinland.
Ich habe bisher in etwa 55 Fällen u. zw. teils bei kranken,
teils bei gesunden Kokkenträgern die Desinfektionsversuche des
Nasenrachenraumes mit Pyozyanase vornehmen können. Fast
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koiinic icli ein rasches Seilwinden der .Meningokokken
konstatieren, so daß' dieselben sowohl inikroskopisch als auch
durch die Kultur nicht mein' luudiweishar waren. Auch über
di(‘se Versuche habe ich hereits in Kürze berichtet .
Ich will nunmehr über neuerliche Versiudie in zwei Fällen
berichten und die entsiirechcnden Präparate vorzeigen. VnW I
betrifft ein fünfjähriges .Mädchen, das am !(!. Februar mit Ohreii-
stechen, Erbrechen und Fieber erkrankte. Es wurde am 18. Fidiruar
auf die Klinik aufgenommen und bot außerordeiiLlich scinvere
.Mlgemeiiierscheimmgen. Die Lumbalpunktion, sowie die Kultur
ans derselben, welche am 19. Fehruar voi’genonnnen wurden,
Iiid.km die Diagnose auf .Meningitis cerebrospinalis mit Sicherheit
stellen.
Der zweite Fall betrifft ein achtjähriges .M.ädchen, das am
1(). Februar unter Ej'brechen, hohem Fieber und Delirien plötz¬
lich erkrankte. .4uch in diesem Falle konnten wir am 19. Februar
di(! Diagnose durch Lumbalpunktion und die Kultur feststellen.
Die Lhitersuchungen des Nasenrachenraumes Avurden bei
beiden Kindern am 20. Februar zuerst vorgenommen. Es fanden
si(di schon 'mikroskopisch ganz ausnehmend zahlreiche Meningo¬
kokken im Sekret vor, wie Sie dies auf dem Diapositiv ersehen
können. Durch die Kultur wurden dieselhen in außerordentlichen
.Mengen und fast in Reinkidtur nachgewiesen. Am selben Tage
wurde beiden Kindern je 1 cnF Pyozyanase eingeträufelt. Die
mikrosko])ische und kulturelle Untersuchung ergal) am nächsten
Tage- noch unvei'ändert zahlreiche iMeningokokkeii. Am 21. Februar
neuerdings Einträufeln \mn Pyozyanase. Bakterioskopischer ße-
fuiul fast unverändert.
.\m 22. Februar Tamponade und Pyozyanase. Auch dies¬
mal (du Erfolg nicht nachAveisbar.
.\m 28. Februar Avurde beiden Kindern Pyozyanase
mittels Spray appliziert. Die Untersuchung des Nasenrachen¬
raumes Aviirde erst 48 Stunden später vorgenommen. Diesmal
waren in einem Falle nur mehr Staphylokokken nachweisbar;
dic^ ^Meningokokken Avaren vollständig geschAvunden. ln dem
zAveiten Falle Avaren ZAvar noch iMeningokokken, aber in weitaus
geringerer Menge nacliAveisbar. DesAvegen wurde bei diesem Kinde
neuerdings Pyozyanase mittels Spray angewendet. Schon am
.Abend desselben Tages Avar der Nasenrachenraum fast vollständig
steril. Die vorgezeigten Plattenkulturen demonstrieren Ihnen dies
auf das deutlichste. Täglich ein- bis ZAveimal Amrgenommene Unter¬
suchungen zeigen seither regelmäßig denselben Befund. Pyo¬
zyanase Avurde seit dem 24., resp. 25. Februar nicht mehr an-
gcAvendet. Im Sekret des zweiten Kindes fand ich zwar mikro¬
skopisch gestern ziemlich reichlich Meningokokken, jedoch Avar
die Kultur vollständig negativ.
Es zeigte sich demnach neuerdings, daß das Schwinden der
.Meningokokken auf AiiAvendung Amn Pyozyanase rasch eiutritt,
selbst in Fällen, in denen sie in so kolossalen Mengen Vorkommen
wi(' in den eben besprochenen. Ich glaube, daßi diese Tatsache
bei eventuellen Maßregeln zur Bekänihfung der Genickstarre¬
epidemien eine Rolle spielen kann. Sie Avissen, meine Herren,
daß die AAu*schleppung dieser Erkrankung zum größfi.m Teile
durch ZAvischenträger geschieht, d. h. Personen, die selbst gesund
bhdben, aber den Erreger in ihrem Nasenrachenraum hergen.
■Auf diese Avichtige Tatsache haben zuerst Hofrat AA^eichsol-
bauni und Prof. Ghon aufmerksam gemacht. Neuerliche Unter-
smdmngen bestätigen immer mehr diese Annahme und dieAAhchtig-
keit dieser Beobachtung.
AATr müssen demnach den Kampf hauptsächlich in dieser
Bi( htung führen und da ist zweifellos ein rasch Avirksames und
vollständig ungefährliches IMittel von großem AAmrte.
Die besprochenen Fälle und daran anschließend Aveitere
bjikteriologische Untersuchungen bestätigen aber auch meine
wiederholt geäußerte Meinung, daß die genickstarrekranken Kinder
bei dei' AVeiterverbreitung dei' Erkrankungen fast gar keine Rolle
spiiden. Die bakteriologische Thitersuchung bei einer großen An¬
zahl von Kindern ergab diesmal ebenso Avie bei früheren Gelegen¬
heiten (‘in vollständig negatives Resultat, d. h. es kam nicht
nur zu keiner Neuerkrankung im Siütal, sondern auch zu keiner
nacliAveisharen Infektion, trotzdem die kranken Kimhu- nicht ge-
tnmnt von (h'ii anderen lagen. Die eminente Gefahr der A'cr-
schleppung liegt fast ausschließlicdi in den gesumh'n, eiAvachseuen
Zwischenträgern. ■ ' ' ! [
Diskussion: Prof. Escherich: Die Aleningitis cereliro-
spinalis ist soAvohl nach der Zahl der Todesfälle als nach der ScliAvere
der Folgezustände (Hydrocephalus, Taubheit etc.) eine der gefähr¬
lichsten Erkrankungen und tritt in den letzten Jahren in zunehmender
Häufigkeit und eiiidemischer .Ausbreitung auf. Auch in Wien
Avächst die Zahl der Fälle, so daß derzeit drei Meningitiskranke
auf unserer Abteilung liegen. Die seitens der SanitätsverAvaltung
dagegen ergriffenen Maßnahmen lassen keine durchgreifende
Wirkung erkennen. Sie bestehen darin, daß durch Untersuchung
der eingesendeten Lumbalpunktionsflüssigkeiten die Diagnose
sichergestellt, daß die Erkrankten womöglich in Isolierspitäler
überführt, die GeschAvister vom Schulbesuch ferngehalten und
die Wohnungen desinfiziert Averden.
Diese Maßnahmen entsprechen nicht den Vorstellungen,
die Avir durch die bakteriologischen Untersuchungen der letzten
Jahre über die A'^erbreitungSAveise der Krankheit geAvonnen haben.
Demzufolge kann es Avohl als feststehende Tatsache bezeichnet
Averden, daß die primäre Lokalisation der Meningokokken nicht
in den Meningen, sondern auf den Schleimhäuten des Respirations¬
traktes, insbesondere im Nasenrachenraum stattfindet, daß also
dem Ausbruch der Meningitis ein durch die Aleningokokken hervor¬
gerufener Schleimhautkatarrh vorausgeht. Dieser Katarrh kann
durch längere Zeit bestehen und braucht insbesondere bei Er-
Avachsenen keinerlei. Aveitere Krankheitserscheinungen hervor¬
zurufen. Die mit demselben behafteten, anscheinend gesunden
ZAvischenträger sind es, die durch Ausstreuung ihres meningo¬
kokkenhaltigen Rachensekretes — somit als echte Schmier¬
infektion — die Krankheit verbreiten ; nur ausnahmsweise kommt,
wie dies Je hie für die Kohlengruben nachgewiesen, eine be¬
stimmte Oertlichkeit als Infektionsherd in Betracht. Der Kranke
selbst, der durch die Schwere des Zustandes ans Bett gefesselt
ist, spielt bei der Ausbreitung der Epidemie nur eine untergeord¬
nete Rolle. Eine wirksame Prophylaxe der Krankheit muß sich dem¬
nach in erster Linie gegen die Zwischenträger richten. Die Auf¬
findung derselben in exakter AVeise ist nur durch bakteriologische
Untersuchung möglich. AVir können aber ohne weiteres annehmen,
daß da, avo ein Fall von Meningitis cerebrospinalis zur Beobachtung
kommt, auch die in demselben Hausstand lebenden Personen
gleichfalls der Infektion ausgesetzt Avaren. Auch dies geht aus
den Untersuchungen Jehles in überzeugender Weise hervor.
Es ist also schon vom Standpunkt der individuellen Prophy¬
laxe aus angezeigt, daß bei diesen Personen durch die von mir
empfohlene Desinfektion des Nasenrachenraumes mittels Pyozyanase
die im Nasenrachenraum befindlichen Meningokokken getötet und
dadurch die Gefahr eines weiteren Vordringens derselben nach
den Meningen beseitigt Averde. Insbesondere gilt dies für Kinder,
die, je jünger sie sind, um so mehr zur Erkrankung an Meningitis
disponieren. Die Durchführung dieser Desinfektion des Nasen¬
rachenraumes ist aber in noch höherem Maße angezeigt vom
epidemiologischen Standpunkte aus, insofern man darin jeden¬
falls das Avirksamste Mittel zur Verhinderung einer Ausstreuung
des Ansteckungsstoffes erblickt werden muß. Es Aväre dringend
zu Avünschen, daß unsere Sanitätsbehörden neben den bisherigen
unzureichenden, zum Teil allerdings noch zu Aveit gehenden
Maßnahmen dieses einfache und leicht durchführbare A^er fahren
in Verwendung ziehen würden.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. C. S t e r n b e r g bemerkt, daß nach
seinen Erfahrungen in Mähren man nicht von einem epidemischen
Auftreten der Zerebrospinalmeningitis sprechen kann, trotzdem
vielleicht ein häufigeres Vorkommen besteht; Sternberg hat
einigen geAvissen Einblick, da ihm amtlich von allen in Mähren
zur Kenntnis gebrachten Fällen Punktionsllüssigkeit, resp. Leichen¬
material zugeschickt Avird. A^on den Kohlenbezirken abgesehen,
kommen nun in den verschiedensten Bezirken Fälle vor, aber
immer isoliert, niemals gehäuft; selbst in Orten, Dörfern, avo
kaum von günstigen oder irgendwie guten hygienischen Verhält¬
nissen gesprochen Averden kann, sind es immer nur Einzelfälle
die keine Beziehung zu einander haben.
Prof. Dr. Emil Redlich: Epilepsie und Linkshändig¬
keit. A^örlr. bespricht an der Hand seiner Untersuchungen die
Häufigkeit der Linkshändigkeit bei Epilepsie, ln der Literatur
finden sich, speziell bei den Italienern, ausführliche Angaben
darüber, zuerst bei liombroso, der gleichwie bei A'erbrechern
auch bei Epileptikern die Linkshändigkeit ungemein häufig fand,
dann bei Tonnini; die von diesen Autoren geAvonnemm Zahlen
— 28 bis 80’’, 1» und darüber — sind auffällig hoch, \ielleicht
zum Teile desAvegeii, AV(‘il sie vor allem das Ueber\A’iegen gewisser
Maße auf der linken S(fil(', nicht die eigentliche Linkshändigkeil;
in Betracht zogen. Das häufige ATirkommen von Linkshändigkeil
bei Epilejisie sehen diese Autoren in erster Linie als Degeneralions-
zeichenan. .AuchFerf' und in allerletzterZadt B e s t a beschäfligleu
sich eingehender mit der Linkshändigkeit Ix'i Epilepsie, sonst
aber finden sich nur in der Kasuistik einzelne .Angaben.
Die Avirkliche funktionelle Linkshändigkeit gibt sich vor allem
in größerer GeschickFadd'Ceit der linken Hand bei geAvissen nicht
Nr. 10
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
301
crlenileii oder berufsmäßig ausgeüblen Tätigkeiten kund. Meist
ist auch der Dynainonieterdruck links grölfer, auch die Maße
der linken oberen Extreinität sind größer, auch am anatomischen
Präparate, z. P. am Knoclien, findet sich beim Rechtshänder
ein IJeberwiegen der Maße rechts, heim Linkshänder links. Diese
anatoniische Linkshändigkeit ist häufiger als die wirkliche,
es gibt Zahlangahen bis zu 12‘’/o. Zweifelhaft sind die Vei'hältnisse
für das Bein. Lomhroso, Fe re, vor allem aber Bieroliet
konnten zeigen, daß auch die Sensibilität, die Schärfe der Sinnes¬
organe, wie überhaupt alle FUnklionen beim Linkshämler links
besser ausgebildet sind, als rechts, beim Rechtshänder leclds.
Ks gibt also gleichsam zwei Variationen des Menschengeschlechtes,
(dnen lionimc droit und homme gauclie.
Die Angaben über die Häufigkeit der Linkshändigkeit beim'
norjualen Menschen schwanken zwischen 1 bis 4*^/«, durch¬
schnittlich weiMen 2o,'o angegehen, bei Frauen soll die Links¬
händigkeit häufiger sein. Vortr. hat außerdem als Vergleichs¬
material Nerven- und Geisteskranke herangezogen und bei diesen
8®/o Linkshändigkeit konstatiert, Männer und Frauen im gleichen
Maße. Dazu kommen noch drei Fälle, die seihst nicht Links¬
händer sind, in deren Familie aber Linkshändigkeit vorkommt.
Bei 125 Epileptikern, meist juveniler Art, aber auch Alkohol-
ejnlepsie, fi'auniatischer Epilepsie ohne grobe Hirnerkrankung,
fanden sich dagegen 22 Linkshänder = 17-5'Vo, 81 Männer mit
14 Fällen — 17-2°/o und 44 Frauen mit 8 Fällen = IS^/o.
Dazu kommen noch vier Fälle (zwei Männer, zwei Frauen), die
selbst nicht Linkshänder sind, in deren Familie aber ].,inks-
liändigkeit besteht, ein Ambidexter zweifelhafter Art und zwei
Fälle mit Linkshändigkeit, die nicht gerechnet sind, weil bei
einem Falle vielleicht eine große Hirnläsion vorliegt, bei dem
anderen die Epilepsie nicht über jeden Zweifel erhaben ist.
Man kann die Linkshändigkeit sondern in eine familiäre
und eine singuläre. Bei den Geisteskranken sind abzüglich
vier Fälle, bei denen es unhekannt blieb, ob familiär oder singulär,
elf familiäre Fälle, d. i. S-ß^'o und neun singulär = 3®/o. Bei
den Epileptikern blieben wieder drei Fälle unbestimmt, vier Fälle
sind familiär — 3-2o/o und 15 singulär = 120/0. Der Prozentsatz
der familiären Linkshändigkeit ist also in beiden Fällen nahezu
der gleiche. Vortr. erörtert kurz die verschiedenen Theorien zur
Erklärung der normalen Rechts-, resp. Linkshändigkeit, von denen
keine ganz befriedigt. Die familiäre Linkshändigkeit hei der
Epilepsie hat keine pathologische Bedeutung, sie kann vielleicht
im Sinne der italienischen Autoren als Degenerationszeichen ge¬
nommen werden.
Das Llehenviegen der Linkshändigkeit kommt hei der
Epilepsie beinahe ausschließlich auf Rechnung der singulären
länkshändigkeit, 120,0 gegen 30,0. Dies weist schon darauf hin,
daß diese Steigerung der Häufigkeit der Linkshändigkeit bei Epi¬
lepsie nicht allein einer gesteigerten Degeneration entspricht,
sondern andere Ursachen haben muß. Eine Zahl von Fällen, die
Vortragender imtersüchte, boten klinisch eine Reihe von Merk¬
malen, Kleinersein der linken Schädel- und der rechten Gesichts¬
hälfte, deutliche rechtsseitige Halhseitenerscheinungen, die es nahe¬
legen, diese Linkshändigkeit im Gegensätze zur oben envähnten,
normalen, als pathologische Linkshändigkeit aufzufassen, das
heißt, als dureb pathologische Veränderungen der linken Hemi¬
sphäre bedingt, als Ausdruck einer leichtesten rechtsseitigen zere¬
bralen Lähmung aufzufassen.
Als sekundäre' Linkshändigkeit wäre die durch Ver¬
letzungen der rechten oberen Extremität ausgelöste zu bezeichnen.
Schon Freud und Rie haben auf eine solche Genese der Links¬
händigkeit hingewiesen. Es lassen sich in der Tat, wie Vor¬
tragender an Fällen von Rosenberg, Bischoff, Infeld und
anderer, soAvie eigenen dartut, fließende ITehergänge von der
durch eAudenle rechtsseitige zerebrale Kinderlähmung bedingten
Linkshändigkeit, zu dei' A'om Vortragenden ins Auge gefaßten
Linkshändigkeit hersteilen. Diese Läsionen der linken Hemi¬
sphäre müssen sehr früh einsetzen, in der Fötalzeit oder Avdihrend,
respektive bald nach der Geburt und, so geringfügiger Art sein,
daß sie niemals Avirkliche Lähmungen setzen. Aetiologisch Aväre
an die ziikumskripte Form (h'r V i rc h o av sehen fötalen Enze¬
phalitis, an Meningitis usw. zu detdeeu. Aetiologisch kommen
in Betracht : septisclie Erkiankungeu des Fötus, Gehurlstraumen,
Infektionskrankheiten, aber auch Avahrscheinlich hereditäre Lues.
Dieser linksseitigen Hiridäsion mußi aber auch eiiu', Avahrscheiu-
lich kleinere' Zahl von Fällen mit rechtsseitigen Läsionen enl-
sprecheji, die' aber dem klinischen Naclnveise meist entgehen
Aveu'den, da solche' Individuen eo ipso Rechtshänd('r Averden,
es sei elenn, daß ausgesprochene linksseitige Erscheinungen
ve)rhaude'it siiiel. .\uf elie'se' Weise ist für eine Zahl von Fällen
von gemeiner Epilepsie elie Prädisteosition zur Fjeilepsie in eiju'
andere Beleuchtung gerückt, sie hat eine anatomische Form ge¬
wonnen. Auf der Basis dieser Prädisposition, deren Stellung zur
hereditären Disposition noch klarzustellen Aväre, lösen dann
andere Schädlichkeiten die Ei)ilepsie aus.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Pauli: Zu den interessanleu
Ausführungen des Vortragenden möchte ich bemerken, daß es fraglich
sein dürfte, ob die Rechts- oder Linkshändigkeit eine in der Tierreihe
erst beim Menschen auftretende Eigentümlichkeit ist. Ich erinnere
nur an die schönen und sorgfältigen Beobachtungen eines nordischen
Forschers bei Menschen und Tieren, Avelche tagelang ohne Orien¬
tierung herumirrten. Solche Wesen bewegen sich, wie die Regi¬
strierung ihrer Spuren im Schnee zeigt, stets in großen Kreisen,
die annähernd wieder zum Ausgangspunkte zurückführen. Diese
gesetzmäßige Erscheinung wird mit Recht auf die asymmetrische
Tätigkeit der Gliedmaßen bezogen. Ueberhaupt gibt es in keiner
Hinsicht strenge Symmetrie in der Tierreihe. Ein bekanntes Bei¬
spiel dieser Art findet sich bei Schnecken, von denen manche
Arten vorAviegend rechtsgewundene, andere linksgeAvundene Ge¬
häuse produzieren. Namhafte Forscher haben die Ursache dieser
Differenzen in stereochemischen Verschiedenheiten gewisser Sub¬
stanzen dieser Schnecken vermutet und Avenn man die Unvoll¬
kommenheit der Symmetrie als eine allgemeine Erscheinung bei den
LebeAvesen betrachtet, dann liegt es auch nicht allzufern, an die
asymmetrische Struktur der Eirveißkörper, diese elementaren Bau¬
steine der lebenden Substanz, zu denken.
Priv.-Doz. Dr. H i r s c h 1 bringt die Auffassung M e y n e r t s
über die Linkshändigkeit in Erinnerung, die er in seinen Vor¬
lesungen aussprach. Nach M e y n e r t bestünde heim Kinde noch
keine Differenzierung nach rechts und links ; die Rechtshändigkeit
werde erst anerzogen, namentlich durch den Schulmeister. Da¬
durch erkläre sich die große Zahl von Linkshändern unter den
Verbrechern Lombrosos, Aveil unter denselben die Zahl der An¬
alphabeten sehr beträchtlich ist.
Prof. Redlich (SchlußAA'ort) : Priv.-Doz. Dr. Pauli möclik'
ich antAvorten, daß mir die Angaben Goldbergs Avohl bekannt
sind; ich Aveiß, daß auch speziell für die Affen behauptet Avurde,
daß bei ihnen eine Andeutung von Rechtshändigkeit voikonunt.
Aber von genauen Kemierii der Tiere ist eine ständige Be\mr-
zugung der einen Körperseito in Abrede gestellt Avorden. Asym¬
metrien im Baue der Tiere Aviederum lassen sich mit der Rechts¬
oder Linkshändigkeit des Menschen nicht in Parallele stellen.
Die Ansicht Meynerts, die Kollege Hirschl envähnt hat.
ist mir nicht bekannt; auch Weber hat die Häufigkeit der
Linkshändigkeit bei Verbrechern mit der mangelnden Erziehung
in Zusammenhang bringen Avollen. Obwohl mir eigene Erfah¬
rungen in dieser Richtung fehlen, glaube ich nicht, daß* durch
die Erziehung die Linkshändigkeit so regelmäßig unterdrückt
Averden kann. Diese zeigt sich gerade bei den ßetätigungen,
die nicht erlernt Averden. GeAviß sind die Zahlen von Lotnbroso
zu hoch; er hat eben meist nicht die Avirkliche Linkshändigkeit
gezählt. '
Priv.-Doz. Dr. Leopold Freund macht Mitteilung über
einige therapeutische Versuche ni it flüssige r L u f t und
über einige Arbeiten aus Alem Gebiete der Phototherapie. Die
Bestrebungen, die Fi n sen sehe Lichtheluuidlung' größe'ren Kreisen
zugänglich zu machen, verfolgen zwei Wege: 1. Die Konstruktion
von lichtstarken elektrischen Lampen, Avelche, ohne besondere
kostspielige Transformatoren in Anspruch zu nehmen, mit jenen
Strömen betrieben AA'erden, die ohne Umstände den Elektrizitäts¬
netzen der Städte entnommen Averden können. 2. Strebt man durch
geeignete Mittel die Reaktionsfähigkeit der GeAvebe gegenüber
der Belichtung zu erhöhen. Gelingt dies, so bedarf man selbst¬
verständlich nicht so intensiAmr Lichtstrahlung, um mit ihr das¬
selbe zu ei'reicheu, Avas mit den großen Einsen sehen Apparaten
erreicht Avird.
Freund hat bei der Firma L. Sebuhneister in MTen
eine Lampe konstruieren lassen, AV('lche infolge besserer Aus¬
nutzung der Lichtstrahlung in kleineren Dimensionen ausgeführt
und mit scliAvächeren Strömen (18 bis 20 Ampere) Ix'triehen
werih'ii kann, als die Original - F in s (' n sehen A})|)arate. Der Appa¬
rat steht seit mehr als drei .lahren an der Klinik des Herrn
Prof. FingA'i' in VerAvendung. An dieser Klinik Avurden auch
die später mitgeteilten Versuche von mir kurz dui'chgetübrt. Die
Kohlen dei' Lampen sind im rechten Winkel zueinander angeordnet
und Avei'd('n durch Handbetrieb oder automatisch reguliert. Um
die Stellung des durch die erwärmte Luft nach aufwärts ge¬
zogenen Lichtbogens dem beabsichtigten ZAVt'cke ('iitsprechend
genau fixieren zu können, ist ein kleiner Elektromagnet A’or
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 10
gesehen, welcher auf den Lichtbogen (als einen beweglichen Strom¬
leiter) ablenkend einwirkt. Der magnetisierende Strom kann durch
einen am Boden des Lampengehäuses angebrachten Schieber-
rheostaten leicht variiert werden und man kann so den Licht¬
bogen leicht mehr oder weniger ablenken. Durch einen para¬
bolischen Reflektor aus eanailliertem Kupferblech, in dessen Brenn¬
punkt der Lichtbogen eingestellt wird, wird auch ein großer Teil
der sonst nach rückwärts gerichteten unbenutzten Strahlung nach
vorn reflektiert und so nutzbar verwertet; ein Vorgesetzter email¬
lierter Kegelstutz vereinigt alle Strahlen auf eine kleinere Fläche
und durch eine kolbenförmige Küvette aus Quarz, welche mit
destilliertem Wasser gefüllt ist, werden alle Strahlen in einem
Brennpunkt vereinigt. Das ganze Gehäuse ist auf einem beweg¬
lichen Stativ angebracht und kann durch entsprechende Trieb-
vorrichlungen gehoben und gesenkt und nach jeder Richtung
gedreht werden. Als Kondensor wurde der Quarzkolben gewählt,
weil Quarz die stärker brechbaren Strahlen gut durchläßt und
überdies der Quarzkolhen in bedeutend größeren Dimensionen
herstellbar ist als eine Quarzlinse und somit mehr Lichtstrahlen
konzentrieren kann. Das Kompressorium von Finsen vervoll¬
ständigt das Instrumentarium.
Als Kohlen kommen in Betracht : a) .gewöhnliche Kohlen,
h) sogenannte Effektkohlen, das sind Kohlen, die mit Ca-, Ba-,
Sr- und Al - Salzen, insbesondere mit deren Fluoriden ver¬
setzt sind. t
Untersuchen wir an der Hand der Spektrumphotographie
die Qualität des Lichtes der Effektkohlen und halten wir an
der von mir festgesetzten Tatsache fest, daß für therapeutische
Zwecke nur Licht bis ungefähr X <C 3260 in Betracht kommt,
so ergibt sich, daß die Spektren des weißen (Ba-) u n d
1j laue n ( A1-) E f f e k 1 1 i c h t e s 1 i n i e n r e i c h e r sind als das
Spektrum des gelben Effektlichtes (Ca). Bei diesem
sind die Linien weniger zahlreich, aber intensiver,
n a ni entlieh in der Gegend von X = 3360, 3644 — 24 u n d
3933 und 3968. Als optische Helligkeit der verschiedenen Licht¬
sorten ergeben photometrische Messungen an meinem Apparate
für gelbe Kohlen über 7300 Normalkerzen, für blaue ca. 6000 Nor¬
malkerzen und für gewöhnliche Kohlen ca. 6400 Normalkerzen.
Zur Beurteilung der Tiefenwirkung der von diesen ver¬
schiedenen Kohlen ausgesandten Strahlungen wurde geprüft, nach
welchen Zeiträumen die mittels des Kondensors konzentrierten
Strahlen, nachdem sie ein bis vier Kaninchenohren passiert hatten,
zuerst auf einem hinter das letzte Ohr gelegten photographischen
Papiere Spuren von Schwärzung hervorriefen. Das Licht der
gelben (Ca-) Kohle zeigte hiebei unter sonst gleichen Umständen
die intensivste Tiefenwirkung. Auch in der phototherapeutischen
Praxis schien das Licht der Ca -Kohle bezüglich der Intensität
der Wirkung, als auch, was die Schnelligkeit, mit welcher die
Reaktion ein trat, dem Lichte der blauen, etwas weniger dem
Lichte der weißen Effektkolile überlegen zu sein.
Diese Beobachtungen, z u s a m m e n g e h a 1 1 e n m i t
der spektralen Zusammensetzung des emittierten
Lichtes lassen a n n e h m e n, daß es n i c h t so sehr a u f
zahlreiche Linien im wirksameren ultraviolette n
Teile ankommt, sondern auf die große Intensität
einige r, w e n n auch in geringer Anzahl vorhandener
Linien des in Betracht kommenden Spektrums. (Hin¬
weis auf Quecksilberdampflampe.)
Bei dem von mir als besonders wirksam g e f u n-
denen Lichte der Ca-Effektkohlen dürfte den er¬
wähnten sehr intensiven L i n i e n g r u p p e n, n e b e n d e m
stets vorhandenen kräftigen Lichte der ultraviolet¬
ten (tyanhande X— 3883, der hauptsächlichste Anteil
an der physiologischen Lichtwirkung zakommen.
.\uch die reinen Kohlen der Firma Siemens, bei denen die Licht¬
intensität des Lichtes kürzerer Wellenlänge schon von der Wellen¬
länge X << ungefähr 3450 eine sehr geringe ist, eignen sich recht
gut zur Lichttherapie.
Die Annahme von dem erwähnten wirksamen Strahlungs¬
bereich wird durch Filterversuche, die ich mit gelben, blauen
und violetten Gläsern machte, gleichfalls gerechtfertigt.
Als Mittel, die Reaktionsfähigkeit der bestrahlten Gewebe
zu erhöhen, Amrwendete ich die flüssige Luft. Das Material
zu diesem Versuche wurde von der Firma Lenoir & Forster
bezogen und hiebei fand ich von Herrn Kommissionsrat Hla-
vacek die liebenswürdigste Unterstützung. Die Anwendung der
flüssigen Luft zur Sensibilisierung der GeAvebe erfolgte aus dem
Grunde, weil organische Körper bei starker Abkühlung fluores¬
zenzfähig Averden und diese Abkühlung durch flüssige Luft in
energischester XVeise erreicht Avird. Hiebei entsteht vollkommene
Anästhesie (Avichtig für Operationen!), dann eine mehrere
Minuten anhaltende Anämie, Avelcher später eine (vielleicht auch
therapeutisch wirksanie) Hyperämie folgt. Freund weist auf
die Eignung der flüssigen Luft zur Herstellung von
mikroskopischen G e f r i e r s c h n i 1 1 e n hin. Um die flüssige
Luft mit der Haut in innigere Berührung zu bringen, presse ich
auf letztere ein dickes Brettchen, in welches ein der Größe der
kranken Stelle entsprechendes Loch gebohrt ist; in dieses Avird
die flüssige Luft gegossen. Infolge der enormen Abkühlung erfolgt
eine Erfrierung und eine bis zu sechs Minuten andauernde Anämie,
Avährend welcher Zeit das konzentrierte Licht einwirken gelassen
Avird. Der Vorgang Avird nun wiederholt. Durch dieses kombinierte
Verfahren Avird die Reaktion viel rascher und intensiver herbei¬
geführt. Je nach der Dauer der notAvendigen EinAvirkung der
flüssigen Luft kannrfnan Avillkürlich Erytheme, Exkoriationen und
selbst Ulzerationen, Avelche aber glatt verheilen, erzeugen. Kon-
trollversuche zeigten, daß das kombinierte Licht- Luftverfahren
bedeutend energischer Avirkt als einer dieser beiden Faktoren für
sich allein.
Eine mehr als dreijährige Erfahrung an der Klinik des
Herrn Prof. Finger an mehreren Patienten zeigt, daß der
von mir heute demonstrierte Apparat brauchbar ist und dem
gewöbnlichen klinischen Bedürfnisse genügt. Weitere Versuche,
Avelche die VerAvendung der flüssigen Luft als Sensibilisierungs¬
mittel für Röntgenstrahlen zum Gegenstände haben, sind im
Gange. Priv.-Doz. Dr. Oppenheim und ich werden demnächst
über unsere Versuche, die Röntgenstrahlenwirkung durch Amr-
schiedene physikalische und chemische Agenzien zu beeinflussen,
berichten.
Zum Schlüsse sei noch bemerkt, daß in absehbarer Zeit
das jetzt noch umständliche und kostspielige Arbeiten mit flüssiger
Luft bedeutend vereinfaebt Averden dürfte, Aveil eine Fabrik zur
Erzeugung flüssiger Luft auf österreichischem Boden in Errichtung
begriffen ist.
Programm
der am
FreltasT den 8. März 1907^ 7 Flir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Professor Dr. A. Kolisko stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. Dr. Ed. Lang: Krankenvorstellung.
2. Dr. Emil Heim (Budweis): I. Zwei Fälle von Pseudoherm¬
aphroditismus (Demonstration). II. Maligner Oberkiefertumor und Morbus
Basedowii (Demonstration).
3. Doz. Dr. Job. Fein : Demonstration.
Bergmeister, Paltauf.
Um die reclitzeitige A^eröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer iiocli am SitzuuKsatoeud zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Noordeu Donnerstag
den 7. März 1907, um 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz: Professor v. Noordeu.
Programm:
I. Demonstrationen.
H. Dr. Wiesel: Renale Herzhypertrophie und chromaffines System.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 11. März 1907, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Dr. Heinrich Adler slattfindenden
wissenschaftlichen Versammlung.
Prim. Doz. Dr. W. Knöpfelmacher : Nabelinfektionen beim
Neugeborenen.
V*rinlworlIich*r Rfdakteur: Adalbert Karl Trupp.
Druck von Bruno Bartelt, Wien, XVIII., ThereaiengasBe 3.
Verlag ron Wilhelm Rraumäller in Wien.
rr
Die
„Wiener kllulscbe
Wochensclirlft“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
^ * ;•
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/(, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
Redaktion;
Telephon Nr. 16.282
.'tr T ><
V^--i
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G,,Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbaut'a, J. Schnabel, C. Toldt,
i ; ^ vA. V. Vogl, J. v. Wagner, Emil Zuckerkandl.
\ Begründet von weil. Hofrat Prof. H. t. Bamberger,
. " Herausgegeben von '
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuch8,.^ Julius^fl,
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Sohrötter und '|j^
Anton Weichselbaum. " ^
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
'tr
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hot- und Univorsitäts-Buohhändler, VIII/i, Wiokenburggaseo 13.
XX. Jahrgang.
Wien, 14. März 1907.
Nr. 11
Zentenarfeier des k. k. Operateur- Institutes in Wien.
Der Begründer des Institutes: Prof. Vincenz v. Kern.
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Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
INHALT:
1. Origiualartikel: 1. Begrüßung.
2. Da.s k. k. chirurgische Operations-Institut in Wien. (Ein
Beitrag zu seiner Geschichte.) Von den derzeitigen Vorständen
der Wiener chirurgischen Universitätsklinik Freiherr v. E i s e 1 s-
berg und Hochenegg.
3. Vor sechsunddreißig Jahren. Erinnerungen von Professor
A. V. Winiwarter, Lüttich.
4. Aus der 1. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. (Vorstand:
Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg.) Ueber den Wurmfortsatz und
die Harnblase als Bruchinhalt. Von Dr. Paul Clairmont; ‘
Assistenten der Klinik.
5. Aus der H. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. (Vorstand:
Hofrat Prof Dr. Julius Hochenegg.) Ein Fall von Stieltorsion
eines sarkomatös degenerierten Bauchhodens. Von Doktor
Julius Boese, Operationszögling.
6. Aus der chirurgischen Abteilung des Spitals der Wiener
Allgemeinen Poliklinik. (Vorstand: Professor Dr. Alexander
Fraenkel.) Beiträge zur Behandlung der Laugenverätzungen
der Speiseröhre. Von Dr. Alfred B aß, Assistenten der Abteilung.*
II. Referate: Studie über die rituale Beschneidung, vornehmlich im
osmanischen Reiche. Von R i s a. Akute infektiöse Osteomyelitis
des Unterkiefers. Von Th. Dependorf. Die Lehre von den
ischämischen Muskellähmungen und Kontrakturen. Von^.
0. Hildebrand. Die Operation der Nasenrachentumoreri
mittels peroraler Intubation. Von Dr. Franz K u h n. Erfahrungen
über Cholezystektomie und Cholezystenterostomie nach 286
Gallenstein- Laparotomien. Von Dr. A. v. B a r d e 1 eb e n.
Stereoskopbilder zur Lehre von den Hernien. Von Professor
E. Enderlen und Prof. E. Glaser. Akute infektiöse
Osteomyelitis des Oberkiefers. Von Th. D e p e n d o r f. Die
Technik der Extensionsverbände bei der Behandlung der
Frakturen und Luxationen der Extremitäten. Von Geh. Medi¬
zinalrat Dr. B. Bardenheuer und Stabsarzt Dr, G. Graeßner.
Beitrag zum Studium der Behandlung der Hüftgelenkstuber¬
kulose im Kindesalter. Von Chr. M. F. S i n d i n g - L ar s e n.
Nierenchirurgie, ein Handbuch für Praktiker. Von Prof. Doktor
C, Garre und Dr. 0. Ehrhardt. Die allgemeine Lehre von
den Frakturen und Luxationen mit besonderer Berücksichtigung
des Extensionsverfahrens. Von Geh. Medizinalrat Doktor
B. B a r d e n h e u e r. Die Chirurgie des praktischen Arztes
mit Einschluß der Augen-, Ohren- und Zahnkrankheiten.
Ref. : P u p o V a c.
III. Aus verscliiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongrefiberichte.
Liebe Kollegen !
100 Jahre sind vergangen, seit auf Anregung vor Vinzenz v. Kern das Operateur-Institut an der Wiener Uni¬
versität gegründet wurde. Es ist merkwürdig genug, daß darnals in der kriegsbewegten Zeit, welche dem Vaterlande schwere
Prüfung brachte, diese Schöpfung auf weitere Kreise keinen ^Eindruck gemacht hat. Im Laufe der Jahre aber hat sich diese
Institution mächtig entwickelt und Früchte gezeitigt, so daß sie vielfach an anderen Orten Nachahmung gefunden, bisher aber
in ihren Erfolgen nirgends annähernd erreicht wurde. Unser Vaterland Oesterreich hat alle Ursache, auf die Kern sehe
Schöpfung stolz zu sein und wir gedenken dankbar am heutigen Tage dieses Mannes, des Begründers und ersten Vorstandes
des Operateur-Institutes.
Seit 100 Jahren versorgt das Operateur-Institut nicht nur Oesterreichs Hochschulen und manche Lehrkanzel des
Auslandes mit Professoren der Chirurgie und versieht die , chirurgischen Primararztesstellen mit tüchtigen Fachmännern;
Jahr für Jahr ziehen aus demselben in kleine Städte und ins Land hinaus trefflich geschulte Chirurgen, welche oft
unter den schwierigsten Verhältnissen, ohne Spitalseinrichtungen, ihres verantwortlichen Amtes zum Heile ihrer erkrankten
Mitmenschen walten. Und ist da draußen die Behandlung oft eine ganz andere, als sie der junge Arzt in der Klinik gelernt
hat, die Prinzipien sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen und sind für ihn die Fahne, zu der er im Kampfe mit äußeren
Schwierigkeiten aufblickt.
Leisteten die aus dem Operateur-Institute hervorgegangenen Aerzte seit dessen Gründung Vortreffliches für
die kranke Menschheit, so verzehnfachten sich. Dank der unvergänglichen Beform Josef Listers, die Erfolge im Laufe der
letzten 20 Jahre. Wüpde all das, was von den ehemaligen Zöglingen des Operateur-Institutes für die Wissenschaft, für die
praktische Chirurgie gewonnen und dauernd in deren Besitzstand übergegangen ist, aufgezählt werden, selbst eine lange
Abhandlung würde hiezu nicht genügen. Ein Blick auf das Namensverzeichnis der ehemaligen Operateure, bringt uns in
Erinnerung, was an wissenschaftlichen Leistungen vollbracht wurde.
Aber nicht nur die leidende Menscheit und die Wissenschaft hat von dem Institute viel gewonnen. Nichts
schließt die Menschen schneller und fester aneinander als gemeinsame, ernste Arbeit und das Gefühl einer großen Ver¬
antwortlichkeit. Sowie der Soldat im Felde seiner Waffenbrüder nicht vergißt, so vereint die klinische Arbeit und läßt
Freundschaft schließen fürs Leben. Ist nicht die Schulung, die heutzutage ein junger Chirurg als Zögling des Operateur-
Institutes durchzumachen hat, mit all den oft kleinlich erscheinenden Details der Asepsis dazu angetan, die für die Praxis
so unerläßliche Gewissenhaftigkeit fürs Leben einzuprägen? Und an der Genauigkeit, diese kleinen Details treu zu befolgen,
hängt oft nicht weniger als ein Menschenleben ab!
Ihnen allen, verehrte Kollegen, wird es am heutigen Tage so ergehen wie uns, die wir voll dankbarer Erinnerung
an die Zeit zurückdenken, als wir noch selbst . als Operateure und Assistenten bei unseren unvergeßlichen Meistern tätig
waren. Freuen wir uns des Wiedersehens mit so manchem Freund und Kollegen, dem wir seit Jahr und Tag nicht die
Hand gedrückt! Allen denen, die zum heutigen Tage aus weiter Ferne herbeigeeilt, wie nicht weniger jenen, die die Pflicht
abhält unser Einladung Folge zu leisten, gilt unser herzlicher Gruß. Sie betreten die allen bekannten, altehrwürdigen Bäume
— ist auch manches verbessert, so ist es immer noch das nur zu alte Spital, in dem wir Sie begrüßen. Hoffen wir, daß
es uns vergönnt sein möge, in wenigen Jahren Sie zu einem Besuche der neuen Wiener Kliniken einzuladen. In diese
wollen wir dann die Tradition des alten Hauses mitnehmen und immer der alten, aber ewig jungen Lehren unserer Meister
eingedenk bleiben, vor allem der über dem Tore des Allgemeinen Krankenhauses prangenden Devise:
SALUTI ET SOLATIO AEGROBUM.
Herzlichen akademischen Gruß den Fachgenossen!
Die Vorstände der chirurgischen Kliniken:
V. Eiseisberg. Hochenegg.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Das k. k. chirurgische Operations - Institut
in Wien.
Ein Beitrag zu seiner Geschichte.
Von den derzeitigen Vorständen der Wiener chirurgischen Universitäts¬
kliniken Freiherr v. Eiseisberg und Hoclienegg.
Lieber Graf U garte!
Ich habe mich bewogen gefunden, einige junge Wund¬
ärzte, die mittellos, fleißig und von guter Aufführung sind,
durch Privatunterricht des hiesigen Prof. Kern zu guten
Operateuren ausbilden zu lassen und für jeden derselben,
die der Direktor des medizinischen Studiums, Hofrat Stifft,
auswählen und der Kanzlei namhaft machen wird, für
die Dauer des Unterrichtes zum Unterhalte einen jährlichen
Betrag von 300 Gulden in den gewöhnlichen vierteljährigen
Raten gegen vidimierte Quittungen des Prof. Kern gnädigst
ex Camerali gegen dem zu verwilligen, daß sie sich an¬
heischig machen, für die auf Unkosten des Staats erhaltene
Ausbildung in Hinkunft Meinen Erbstaaten zu verbleiben
und daselbst ihre Kunst auszuüben. Die Kanzellei wird
diese Meine Entschließung der Hofkammer zur Nachachtung
mitteilen.
Wien, den 9. Hornung 1807.
Franz.
Mit diesem Allerhöchsten Kabinettsclireiben wurde das
k. k. Operateurzöglingsinstitut, dessen lOOjähriger Bestand
heute festlich begangen wird, geschaffen und dasselbe
krönte die unermüdlichen Bestrebungen und Anregungen
Vinzenz Ritter v. Kerns, des damaligen Professors der
Chirurgie an der Wiener Universität.
Um diese Tat Vinzenz v. Kerns richtig würdigen
zu können, bedarf es nur eines Hinweises auf die ungemein
traurigen Verhältnisse, die damals, also vor Kern und in
der ersten Zeit seines Wirkens, die Chirurgie in Oester¬
reich bot.
Nicht nur, um sich tüchtige Mitarbeiter zu sichern,
sondern auch die Sorge um die Zukunft der Chirurgie in
Oesterreich mußte Kern dazu bringen, bestrebt zu sein,
Einrichtungen zu schaffen, die ihm , ermöglichten, einen
engeren Schülerkreis heranzubilden und im innigen Verkehr
durch Lehre und Beispiel diese zu tüchtigen Chirurgen
heranzubilden. Der Mangel an Chirurgen machte sich in
jenen kriegsreichen Tagen besonders empfindlich geltend
und hatte schon 20 Jahre früher zur Schaffung der Josef-
Akademie geführt, an der auch ein ähnliches Institut für
Militärärzte bestand, das wohl für Vinzenz v. Kern in
vielen Punkten vorbildlich gewesen sein mag.
So ist es zu begreifen, daß die Anregungen und Vor¬
schläge Vinzenz v. Kerns solche Bereitwilligkeit bei dem
,,das Ruder sämtlicher Medizinalangelegenheiten des Kaiser¬
staates führenden Freiherrn v. Stifft“ fanden und daß
dieser bei seinem Kaiser für die Durchführung der Kern-
schen Idee, eintrat und nicht nur die Kreierung durch das
oben wiedergegebene Allerhöchste Kabinettschreiben er¬
wirkte, sondern auch fortan und weiter bestrebt war, dem
jungen Institute die kaiserliche Gnade und Förderung zu
erhalten, die im weiteren Verlaufe der Jahre den Zöglingen
des Institutes weitgehendste Privilegien vor allen ander¬
wärts ausgebildeten Aerzten fürs Leben sicherte.
Kein Wunder, daß sich um den mit Begeisterung sein
Lehramt ausübenden Meister fortan eine Reihe von streb¬
samen Schülern sammelte, so daß schon der Erfolg des ersten
Kurses hinlänglich bewies, daß das neukreierte Operations¬
institut einem dringenden Bedürfnis entsprach, daß seine
Organisation eine zweckentsprechende war und daß durch
dieses der Chirurgie in Oesterreich fortan tüchtige Ver¬
treter gesichert wurden. Ein Blick auf das Verzeichnis der
h Aloys Graf U g a r t e bekleidete damals die Stelle des ersten
Kanzlers der vereinigten k. k. Hofkanzlei und später die eines Präses
der k. k. Studienkommission.
Frequentanten der ersten Kurse, erbrachte den Beweis für
die vorzügliche Organisation des Institutes.
Die ursprüngliche Organisation des Institutes war eine
sehr strenge. Schon das kaiserliche Handschreiben be¬
sagt, daß nur Wundärzte, die jung, mittellos, fleißig und
von guter Auffübrung sind, aufgenommen werden dürfen,
dieselben hatten sich außerdem einer strengen Konkurs¬
prüfung in der topographischen Anatomie vor einer großen,
aus den für die Medizinalangelegenheit gewaltigsten Per¬
sönlichkeiten zusammengesetzten Kommission, zu unter¬
ziehen. Dabei war es unter den damaligen Verhältnissen
klar, daß nicht nur Doktoren der Chirurgie, sondern auch
Doktoren der Medizin und geprüfte Wundärzte, Patrone der
Chirurgie, sich um die Aufnahme in das Zöglingsinstitut
bewerben konnten und Aufnahme fanden, wenn ßie den
strengen Anforderungen voll entsprachen. Die Doktoren der
Medizin hatten am Schlüsse des Lehrkurses die strengen
chirurgischen Prüfungen abzulegen und das Doktorat der
Chirurgie zu erwerben, die Patroni der Chirurgie rückten
nach einer öffentlichen strengen Prüfung zu Magistern der
Chirurgie vor und und absolvierten als solche den Kurs,
um am Schlüsse desselben wie die anderen das Operateurs¬
diplom zu erreichen.
Als Tag des Eintrittes in das Institut war bis zum
Jahre 1849 der Gründungstag, der 8. Febraar, festgesetzt
und wurde meist festlich begangen, an demselben Unter¬
zeichneten die Zöglinge den Revers, durch welchen sie sich
verpflichteten, nach dem beendeten Lehrkurse in den öster¬
reichischen Staaten zu verbleiben und treu der empfangenen
Lehre ihre Kunst zum Heile ihrer Mitbürger auszuüben.
Jeder Lehrkurs dauerte zwei Jahre. Während dieser
Zeit hatten die Zöglinge im Krankeuhause zu wohnen, damit
sie ,,zu jeder Zeit des Tages und der Nacht an der Klinik
gegenwärtig seyn können“. Jeder Zögling, bis zum Jahre
1850 wurden nur Stipendisten aufgenommen, bezog
300 Gulden Unterhaltsbeitrag.
Den unter diesen Bedingungen aufgenommenen Zög¬
lingen erteilte der jeweilige Professor der Chirurgie, der
zugleich Direktor des Institutes war, einen vollkommen syste¬
matischen und praktischen Unterricht in der Chirurgie und
zwar zunächst, indem er namentlich am Leichnam die ver¬
schiedenen Operationen demonstrierte, ihre Anzeigen be¬
sprach, Winke für die Nachbehandlung gab und dann mit
jedem Zögling einzeln die Ausführung dieser Operationen
einübte. Es ist begreiflich, daß auf diese Weise ein inniger
Kontakt zwischen Lehrer und Lernendem sich herausbildete
und daß gerade dieser Umstand einen fürs Leben anhalten¬
den Freundschafts bund der Zöglinge für ihren Lehrer
zeitigte, der uns mit begeisterten Worten von den damaligen
Zöglingen geschildert wird.
Nach diesem ersten Jahre des Operationslehrkurses
hatten die Zöglinge eine zweite öffentliche Prüfung ab¬
zulegen, bei welcher jeder Zögling eine an ihn gerichtete
theoretische Frage zu beantworten und dann eine auf ge¬
gebene Operation umständlich zu erörtern, sowie schlie߬
lich am Leichnam zu vollziehen hatte. Durch diese Prüfung
bewiesen die Zöglinge ihre Tüchtigkeit, fortan auch am
Lebenden operieren zu können, was ihnen nach gelungener
Prüfung in genauer Reihenfolge auch gestattet wurde.
Jeder Operation mußte der Zögling vorerst einen
Vortrag über Anamnese der Krankheit, die Begriffsbestim¬
mung und der Zweck und das Geschichtliche der Operation,
die Anzeigen dafür und deren Beschränkung, den Instru¬
mentenapparat, die Vorbereitung und Lagerung des Kranken
vorausschicken und durfte erst dann unter der Assistenz
seiner Kollegen und überwacht vom leitenden Auge des
Professors, dieselbe ausführen.
Es ist klar, daß sO' eine gründliche, auch theoretische
Schulung der Zöglinge in der Chirurgie erreicht wurde und
so Frequentanten des Institutes tatsächlich von schüch¬
ternen Anfängern im Operieren, durch das ruhige, Mut ein¬
flößende Benehmen des Lehrers, allmählich zu ge¬
wandten Operateuren ausgebildet wurden, denen mit vollem
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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oUG
Recht in dem am Ende des Kurses verabfolgten Diploni die
Befähigung zum Operateur zugesprochen werden durfte.^)
Am Schlüsse des zweiten Jahres wurde den Zöglingen
in feierlicher Ansprache ihr Operateursdiplom überreicht
und sie hatten fortan das Recht, sich Operateure zu nennen.
Den Text und die Ausstattung eines solchen Diplomes
geben wir in genauer Kopie wieder:^)
Wunsch und Bitte der Kronländer von Sr. Majestät die
Erlaubnis erteilt wurde, die Anzahl der Zöglinge zu ver¬
mehren und auch Stellen für Aerzte der Kronländer zu
schaffen. So wurden im Jahre 1815 vom Herzogtum Steier¬
mark ein steirisches, im Jahre 1821 vier italienische, im Jahre
1833 ein siebenbürgisches, im Jahre 1839 ein tiroler, im Jahre
1848 ein Öberösterreichisches Stipendium kreiert und um
a
, SlNCiLl^ARl MLINI nCFNTlA
^ auoullissimi liiiperdloris ac Roitis llwiiasci r sex luvembiis , qui, quo
um^crc' c/irmjuK m ((/upcrJilalc, amli^ju^ötrmju. ac a fJa Tuna 1 umletw^ o^jftum nma^ictü ^^di/ijcräia' er^ULonc , ac maram/ aifUcra'
uilcr rclc^uad rtntmunfi^ . , pctimuX' annwlf^ cd nala.- cot ul. iutmil' dpalicy ar orifula i'ilru'tytac' liraclucty arcac ca^^ ^uct c/ururr^
t, ccnW^fil^ci/cn' /iLaifid hau/rtrcnl^^octrinam ac^^ctrlen/alcfny^eJila/m Ji.SC camljara-rcnl- . cOdrum num&ro ~^i3crifilU'nh'
<,r^uad t^Hapuitrumy' ^ ccimyuc-' in/ ctidLäulo cfimce cfuncr^M' vccricuS at^J^i^ici/cd m. it^rid
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Die großen Vorteile, die das Institut brachte, die durch
gediegenen Unterricht erzielte gründliche Ausbildung in der
Chirurgie wurde bald allgemein anerkannt und es ist so
erklärlich, daß schon im Laufe der nächsten Jalire über
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß den altern Zöglingen auch
praktischer Unterricht in der Augenheilkunde erteilt, und sie in augen¬
ärztliche Operationen auch praktisch eingeübt wurden.
3) Beifolgend abgedrucktes Operateur-Diplom verdanken wir der
Freundlichkeit des Herrn Prim. Dr. K a t h o 1 i c k y; da auf demselben
Kern und Stifft eigenhändig unterschrieben sind, dürfte dessen Publi¬
kation in der heutigen Nummer von Interesse sein.
diesem Andrange gerecht werden zu köimen, die Anzahl
der Zöglinge auf 8 vermehrt, so daß, da seit dem Jahre 1841
auch an der II. chirurgischen Klinik Zögliirge ausgebildet
mirden, nun im ganzen 16 Zöglinge Unterricht erhielten.
Die Huld des Kaisers, der mit wohlwollendem
Blicke die weitere Entwicklung und die erzielten Re¬
sultate des von ihm’ geschaffenen Institutes verfolgte,
blieb dem Institute erhalten und äußerte sich vor
allem auch darin, daß über ausdrücklichen Befehl des
hohen Gründers gewisse Stellen den absolvierten Fre-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
quentaiiteii des Institutes Vorbehalten blieben, so 'die Kreis¬
wund a r z te s s t e 1 1 e n (Allerhöchstes Kabine! tschreiben
vom 23. Dezember 1810: „Audi will ich, daß in jedem
solchen Falle [einer erledigten Kreiswimdarztesstelle] ein
solch gebildeter Operateur allen Andern vorgezogen werde“),
Sekundarwund arztess teilen (Hofkanzleidekret vom
3. Dezember 1812, Z. 18.088: „Se. Majestät haben zu be¬
fehlen geruht, daß bei Besetzung der erledigten Sekundar-
wundarztesstellen den Zöglingen des chirurg. Operations-
Institutes immer der Vorzug .vor Andern gegeben werden
solle“), Kameralwundarztesstellen (durch das Hof¬
kammerdekret vom 21. Jänner 1813) und die Stadt Wund¬
arztes st eilen (Hofkanzleidekret vom 23. Februar 1815)
endlich, was besonders wichtig und für die hohe An¬
erkennung, die die Operateure genossen, besonders be¬
zeichnend ist, ordnet in einem aus Paris, den 3. Sep¬
tember 1815, eigenhändigen Brief der Kaiser an, ^,daß, wenn
chirurgisohe Operateure, welche in dem Institute der Wiener
Universität ausgebildet wurden, aerztliche Militärdienste
nehmen, dieselben durch 3 Älonate als Oberärzte, damit
sie den Dienst sich eigen machen, angestellt, nach deren
Verlauf aber zu Regimentsaerzten befördert werden“.
Es konnte mit vollem Recht gesagt werden, daß mit
dem Eintritt in das Operateurzöglingsinstitut die Karriere
eines jungen Mannes begann, aber auch gemacht war,
und wir ersehen aus den Listen der ersten vierzehn
Lehrkurse, die wir einer Zusammenstellung Sigmunds
verdanken, daß sämtliche Frequentanten zu ansehn¬
lichen Stellen gelangten und in diesen dem , Institute
Ehre machten. Mit Stolz kann dieser Bericht auf seiner
letzten Seite betonen, daß aus den Frequentanten der bis¬
herigen Kurse 29 Universitätsprofessoren, 19 Primarärzte,
44 Kreiswundärzte und 35 angesehene praktische Aerzte
ohne öffentliche Anstellung hervorgegangen sind, und daß
auf diese und alle anderen das Institut stolz sein dürfe.
Der Lauf der Zeiten änderte natürlich auch viel an
diesem Institute. Der ungemein intensive theoretische Unter¬
richt, den die Zöglinge damals genossen, war nur möglich,
solange das Krankenmaterial der Klinik ein spärliches war;
es ist klar, daß nur dann zum Beispiel jeder Opera¬
tion eine mehrstündige öffentliche Besprechung voraus-
geschickt werden konnte, wenn selten operiert wurde ;
daß der Vorstand der Klinik sich nur seinen Zög¬
lingen widmen konnte, solange e-r nicht durch andere
Berufspflichten anderwärts zu stark in Anspruch genommen
war. Es ist ferner klar, daß die Frequentanten des Wiener
Operationsinstitutes die dominierende Stellung, die ihnen
mit Recht durch kaiserliche Gnade und allgemeines Ansehen
zugesprochen war, nur insolange beherrschten, als das
Operationsinstitut die einzige Stätte war, wo wahrhaft reelle
chirurgische Ausbildung erlangt werden konnte, daß man
nur operative Chirurgie an den Kliniken allein erlernen
konnte, solange nur an diesen operiert wurde und andere
chirurgische Stationen entweder nicht bestanden oder sich
nur auf unblutige Behandlung ihres Krankenmateriales
beschränkten und dasselbe, sobald eine Operation überhaupt
indiziert erschien, an die Klinik abzugeben hatten.
Allmählich nahm das operativ zu behandelnde Kranken¬
material an den Kliniken dermaßen zu, daß es opportun
erschien, größeres Gewicht auf die Operationen und Nach¬
behandlung am Lebenden zu legen, wodurch der Unter¬
richt der Frequentanten auf Kosten der früher üblichen
strengen theoretischen Ausbildung am Kadaver allmählich
mehr ein kliniscJier wurde.
Die Aufnahmsprüfungen wurden nun zusammen¬
gezogen, der eintretende Zögling hatte vor seiner Aufnahme
eine Prüfung zu bestehen, die gewissermaßen die bisher
üblichen zwei Prüfungen (die topographisch anatomische
imd die rein chirargische am Schlüsse des ersten Jahres)
in eine vereinigte, wofür aber der Zögling schon im ersten
Jahre die Berechtigung erhielt, auch am Lebenden zu
operieren.
Auch an der Organisalion des Institutes erwiesen sich
Aenderungen als erAvünscht. So wurde mit einem Erlasse
des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 23. Januar
1849, Z. 663, der Beginn des Kurses vom 8. Februar auf
den Anfang des Schuljahres verlegt; weiters wurde in
einem Erlasse des Ministeriums für Kultus und Unterricht
vom 11. Juni 1850, Z. 4697, angeordnet, daß auch außer¬
ordentliche Operateurzöglinge, das sind solche die keine
Stipendien beziehen, autgenommen werden dürfen. Wegen
Raummangel im Allgemeinen Krankenhause wird mit
Erlaß vom 27. Juni 1850 angeordnet, daß die Zög¬
linge außerhalb des Krankenhauses wohnen dürfen, wofür
jeder Zögling einen Beitrag von fl. 24-35 als Quartiergeld
zu erhalten hat, nur wird gewünscht, daß diese Wohnungen
in der Nähe des Allgemeinen Krankenhauses gelegen sein
sollen. Der Erlaß des Ministeriums fürj^ultus und Unterricht
vom 29. Dezember 1853 ordnet ferner an, daß fortan nur
mehr Doktoren der Medizin in das Institut aufgenommen
werden sollen. Eine Allerhöchste Entschließung vom
31. März 1856 erteilt die Nachsicht des verehelichten Standes
bei der Aufnahme von Zöglingen in das Wiener chirur¬
gische Operationsinstitut.
Die weitgehendsten Veränderungen an der Organisa¬
tion unseres Institutes, die einer vollkommenen Neuorganisa¬
tion gleichkommen, wurden über Antrag Billroths im
Jahre 1870 durchgeführt.
Der in der Sitzung des Wiener Professorenkollegiums
vom 13. März 1869, also schon zwei Jahre nach dem
Amtsantritte Billroths, eingebrachte diesbezügliche Vor¬
schlag ersclieint uns für das organisatorische Bestreben
Billroths so charakteristisch und für die geschichtliche
Entwicklung des Institutes dermaßen wichtig, daß wir aus
dem uns vorliegenden, von Billroth eigenhändig geschrie¬
benen Motivenberichte einige Stellen in extenso wiederzu¬
geben für notwendig finden :
„Die Unterzeichneten Vorstände (Billroth, v. D um¬
reich er) der mit den beiden k. k. chirurgischen Uni¬
versitätskliniken verbundenen Operationsinstitute haben
nach vorausgegangener Besprechung gefunden, daß dieses
Institut einer Reorganisation bedarf, welche den
veränderten Zeitumständen entspricht, und daß
Verhältnisse, welche bisher nur durch den Usus
begründet sind, eine festere Regelung erfahren
sollten.
Da der Vorschlag des Professorenkollegiums zu einer
neuen Rigorosenordnung in erster Linie dahin geht, daß
fortan alle Separatdiplome entfallen sollen und nur ein
Diplom für einen Doctor medicinae universalis erteilt werden
soll, so wird konsequenterweise auch das Operationsdiplom
und der Operateurtitel fortan aufhören müssen. Die Praxis
hat gelehrt, daß diese Titel für seine Träger jetzt, wo jeder
Arzt zugleich Chirurg sein muß, von keinem besonderen
Nutzen ist. Die früher mit diesem Diplom verbundenen
Rechtsansprüclie der nur Chirurgie Studierenden können,
weil sie antiquierte Privilegien sind, fernerhin nicht mehr
aufrecht erhalten werden. Es liegt außerdem nach unseren
modernen Begriffen von Gleichheit der die ärztliche Kunst
ausübenden Kollegen eine Ungerechtigkeit darin, daß Aerzte
mit einem besonderen Diplom vom Staate ausgestattet
werden, weil sie unter Tausenden das Glück hatten, sich
praktisch an einer chirurgischen Klinik auszubilden. Die
Konkurrenz kann in diesem Falle den Umständen nach
eine äußerst geringe sein: die zufällig Begünstigten von
Staats wegen vor vielen, vielleicht ebenso talentvollen Mit¬
studierenden durch ein besonderes Diplom auszuzeichnen,
scheint in der Tat unbillig gegen diejenigen, welche sich
in anderen Stellungen an Krankenhäusern oder sonst wo
vielleicht dieselbe, möglicherweise einen höheren Grad von
chirurgisclier Ausbildung und Fertigkeit erworben haben.
Es geht also der erste Antrag der Unterzeichneten dahin,
den Operateurzöglingen von den nächsten Anstellungen an
kein besonderes Diplom und keinen besonderen
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
Titel von Staats wegen zu verleihen. Dagegen halten
sich die Vorstände der Institute für verpflichtet, ihren Zög¬
lingen auf geäußerten Wunsch ein privates schriftliches
Zeugnis zu geben.
Die große Anzahl von Zuhörern in den chirurgischen
Kliniken in Wien macht es oft schwer, die sich zum Ein¬
tritt in ein üperationsinstitut meldenden Kandidaten vorher
genau genug kennen zu lernen, um mit Sicherheit voraus-
bestimmen zu können, oh sie für operative Chirargie eine
besondere Begabung haben. Manch junge Leute erfassen
die Sache auch wohl mit enthusiastischem Eifer und zeigen
sich energielos, wenn es sich darum handelt, Schwierig¬
keiten und Unbequemlichkeiten zu überwinden. Es ist in
solchen Fällen für Lehrer und Schüler peinlich, ein Ver¬
hältnis durch zwei Jahre zu Ende führen zu müssen, welches
vielleicht schon nach einigen Monaten als ein resultatJoses
von beiden Seiten erkannt ist, ja es erscheint geradezu
als ein Unrecht gegen die jungen Leute, sie durch Bei¬
behaltung in der Stellung als Operateurzögling zur Ver¬
folgung einer Laufbahn zu verhalten, zu der sie nach ge¬
nauerer Einsicht doch keine dauernde Neigung haben, oder
in ihnen die Hoffnung auf die erfolgreiche Ausübung einer
Kunst zu nähren, zu welcher sie vielleicht kein genügendes
Talent haben.
Ein zweiter Antrag der Unterzeichneten lautet hienäch
dahin, daß die Operateurzöglinge in der Folge nur
auf ein Jahr für ilire Stellung verpflichtet
werden und ihnen auch nur je auf ein Jahr die
Stipendien verliehen werden sollen, daß es den
Vorständen der 0 p e ra ti o n s i ns t i t u te aber frei¬
steht, diese Zeit auf zwei bis drei Jahre im ganzen
bei denjenigen zu verlängern, welche ein beson¬
der s h e r vo r r a g e n d e s T a 1 e n t f ü r C h i r u r g i e zeigen.
Dies steht in keinem Widerspruch mit der Absicht
des Allerhöchsten Stifters dieses Institutes, der operativen
Technik kundige und gewandte Chirurgen für die verschie¬
denen Landesteile des Kaiserstaates zu bilden, denn, was
vor Dezennien von Chirurgen ohne alle Schulbildung in
zwei Jahren geleistet wurde, wird ohne Zweifel bedeutend
übertroffen von demjenigen, was von den jetzigen jungen
gebildeten Doktoren bei den erweiterten Kliniken und bei
dem vergrößerten Material in einem .fahre erlernt werden
kann. Die kürzere Anstellungsdauer hat endlich noch den
V^orteil, daß mehr junge Aerzte den Vorteil dieser Stellung
genießen können, als dies bei zweijähriger Anstellung der
Fall ist.“
Auf Grund dieses Motivenberichtes wurde das von
Billroth ausgearbeitete, jetzt noch gültige neue Reglement
mit Erlaß des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom
23. August 1870, Z. 7844, genehmigt. Dasselbe lautet:
Erlaß des Ministeriums für Kultus und Unterricht
vom 23. August 1870, Z. 7844, an das Wiener medizi¬
nische Professorenkollegium, betreffend den Erlaß
eines neuen Regle in e n t s für den c h i r u r g i s c Ii e n
0 p e r a t i o 11 s k u r s in Wie n.
Seine k. u. k. Apostolische Majestät haben mit Allerhöchstem
Erlaß vom 7. x4ugust 1. J. für die an den beiden chirurgischen
Kliniken der medizinischen Fakultät in Wien bestehenden, von
den beiden Professoren der Chirurgie als Vorständen geleiteten
Operationsinstitut das im Anschluß mitfolgende Reglement aller¬
gnädigst zu genehmigen geruht. Hievon wird das Professoren¬
kollegium mit dem Bemerken in Kenntnis gesetzt, daß die hiedurch
getroffenen Bestimmungen, insofern die gegenwärtig mit Stipendien
heteilten Zöglinge nicht in ihren hei Verleihung derselben zu¬
gesicherten Rechten beeinträchtigt werden, sofort in das Leben
zu treten haben.
R e g 1 e m e n t.
§ 1. Jeder Angehörige eines der im Reiclisrat vertretenen
Länder, welcher sich mit dem an einer Universität erlangten
Diplom eines Doctors Medicinae et Chirurgiae und die bei den
beiden chirurgischen Rigorosen erhaltenen Kalküli ,,gut“, „sehr
gut“ oder „ausgezeichnet“ ausweisen kann, ist berechtigt, sich
für die Stelle eines Operateurzöglings zu melden.
§ 2. Diese Meldung hat bei dem Dekanat des medizinischen
Professorenkollegiums in der Zeit vom 1. bis 15. Juni schrift¬
lich unter Beilegung des Diploms und der Zeugnisse über die
obengedachten Kalkuli zu geschehen. Diejenigen, welche auf eines
der kaiserlichen Stipendien reflektieren, haben dies in ihrem
Gesuche ausdrücklich auszusprechen. Diejenigen, welche eines
der Landesstipendisten erhalten wollen, haben sich nach deji
in den betreffenden Kronländern diesfalls bestehenden Ver¬
ordnungen bei den Landesausschüssen zu melden, welche alle
belegten Gesuche dem Dekanat des medizinischen Professoren¬
kollegiums in der Zeit vom 1. bis 15. Juni übermitteln werden.
§ 3. Alle Kandidaten haben in Gegenwart der beiden Vor¬
stände innerhalb der Zeit vom 15. Juni bis 1. Juli ein Examen
aus der topographischen Anatomie abzulegen und eine Operation
an der Leiche auszuführen. Das Resultat dieser Prüfung hat
einen bestimmenden Einfluß auf den Vorschlag der Vorstände.
Haben sich diese darüber geeinigt, welche von den Kandidaten
mit Stipendien beteilt werden sollen und welche zum Eintritt in
den Kursus ans eigenen Mitteln geeignet sind, so erstatten sie
den Vorschlag an das Professorenkollegium. Dieses verleiht die
Stellen und legt die Verhandlung durch seinen Dekan dem
Ministerium des Unterrichtes und bezüglich der Landesstipendier-
ten den Landesausschüssen zur Bestätigung vor.
§ 4. Die Stellen werden auf ein Jahr verliehen, sie können
aber und mit ihnen der Genuß des Stipendiums auf ein zweites
und seihst auf ein drittes Jahr auf den Antrag des Vorstandes
verlängert werden. Dieser Antrag ist für Stipendisten zwei
Monate vor Ablauf des Jahreskursus heim Professorenkollegium
einzubringen, damit der Dekan in den Stand gesetzt werde, die
Anzeige hievon rechtzeitig der Statthalterei und den Landes¬
ausschüssen behufs der Anweisung der Kasse zu erstatten.
§ 5. Der Antrag auf die Verlängerung auf ein drittes Jahr
ist dem Ministerium des Unterrichtes und bezüglich der Landes-
stipendierten den Landesausschüssen zur Genehmigung vorzulegen.
§ 6. Ist der Vorstand nicht in der Lage, in das Ansuchen
um eine Verlängerung einzugehen, so hat er beim Professoren¬
kollegium den Antrag auf Abweisung zu stellen, welches hier¬
über entscheidet und seine Entscheidung durch den Dekan dem
Ministerium des Unterrichtes oder bei Landesstipendierten dem
Landesausschuß zur Bestätigung vorlegt.
§ 7. Die Zöglinge haben mit dem 1. Oktober ihre Funk¬
tionen anzutreten und sich dem Direktor des Allgemeinen Kranken¬
hauses vorzustellen.
§ 8. Dieselben haben allen Anordnungen des Vorstandes
Folge zu leisten und können wegen wiederholter Nachlässigkeit
in ihrem Dienste, sowie wegen Widersetzlichkeit und ungebühr¬
lichen Betragens auf Antrag des Vorstandes vom Professoren¬
kollegium sofort aus ihrer Stellung entfernt werden. Hievon ist,
falls es Stipendisten betrifft, den bezüglichen Behörden unter
Angabe der Motive die Anzeige zu machen.
§ 9. Dieselben sind den Assistenzärzten der Klinik, an
welcher sie funktionieren, in dienstlichen Angelegenheiten unter¬
geordnet.
§ 10. Um es den Vorständen der Institute zu ermöglichen,
ihrer VeiiDflichtung gemäß die Zöglinge zu tüchtigen Chirurgen
heranzubilden und namentlich, um die Stipendisten nicht durch
eine zu große Anzahl von Zöglingen ex propriis am Operations-
niaterial zu beeinträchtigen, soll die Zahl der zu gleicher Zeit
auf einem der Institute fungierenden Operateure und Zöglinge
die Zahl acht in der Regel nicht überschreiten.
§ 11. Die stipendierten Zöglinge sind ohne Rücksicht auf
die Ferien zu ihrem Dienste verpflichtet und sind angewiesen,
um einen Urlaub bei ihrem Vorstand anzusuchen.
§ 12. Die kaiserlichen Stipendien werden in monatlichen
Raten gegen eine von einem der Vorstände der Institute kontra¬
signierte Quittung ausbezahlt.
§13. Die bisher übliclie Diplomierung der Opera¬
teurszöglinge hat zu unterlileihen, es ist jedoch den Vorständen
der Institute nicht benommen, ihren Zöglingen auf deren Wunsch
ein privates schriftliches Zeugnis über ihre Verwendung am In¬
stitut auszustellen.
Die von Billroth angeregte Neuorganisation des alt¬
bewährten Institutes fand anfangs eine sehr geteilte Auf¬
nahme : die Zöglinge des Institutes beklagten es, daß ihnen
der so guten Klang und solch Ansehen führende Titel
■‘i Solche Landesstipendien bestanden zur Zeit der Veröffentlichung
dieses Reglements zwei aus Steiermark und je eines aus Oberösterreich
und Tirol. Sie beliefen sich auf 315 fl. ö. W, p. a., mit Ausnahme des
oberösterreichischen, welches 378 fl. betrug. Vergl. Ministerialerlaß vom
10. Januar 1871, Z. 12.517 ex 1870.
f
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
30!
eines „Operateurs“ fortan genommen sei, es wurde auch
Billroth, der damals noch nicht festen Boden in Wien
gefaßt hatte, .verübelt, daß er nach so kurzer Zeit seiner
Amtstätigkeit mit dem übernommenen Usus brach und nadi
seinem Ermessen sich das Operationsinstitut zumodelte. Da
er der erste Professor der Cdiirurgie in Wien war, der nicht
aus dem Institute hervorgegangen war, so wurden seine
Bestrebungen auch vielfach so gedeutet, daß er überhaupt
dem Institute nicht wohl gesinnt sei.
Wie in so vielem gab die Zukunft auch in diesem
Schritte Billroth vollkommen recht und wenn nicht schon
Billroth im Jahre 1869 die Umgestaltung . des Institutes
durchgesetzt hätte, so hätte die Reform in den allernächsten
Jahren eintreten müssen, um das Institut wieder lebens¬
fähig zu machen und zu verjüngen.
Der rege, bis heute anhaltende Zufluß von Aerzten,
welche sich in der Chirurgie ausbilden wollen, die
große Zahl vortrefflicher Chirurgen, deren Namen für
ewige Zeiten mit der Geschichte unserer Kunst ver¬
bunden bleiben werden, gibt wohl dafür das beste
Zeugnis, daß auch in seiner neuen Form das Institut seinen
Aufgaben gewachsen erscheint. Wenn es eines weiteren
Beweises hiefür überhaupt noch bedarf, so kann auch der
Umstand angeführt werden, daß' auf sämtlichen öster¬
reichischen Universitäten die chirurgischen Kliniken nach
dem Muster der Wiener Operationsinstitute ähnliche In¬
stitute gründeten. Hieraus ist zu erklären, daß die von den
Erblanden gegründeten Stipendien allmählich dem Wiener
Institute wieder entzogen und den eigenen Kliniken zu¬
geschrieben wurden. Schon im Jahre 1871 wurde die Ueber-
tragung des für die Landesangehörigen aus Steiermark be¬
stimmten Stipendiums an die Grazer Hochschule angeordnet,
diesem Beispiele folgten die anderen Kronländer, so daß
derzeit nur mehr das oberösterreichische Stipendium an das
Wiener Zöglingsinstitut gebunden erscheint. Daß auch seit
dem Jahre 1886 von den Leitern des Kriegsministeriums
Militärärzte zu ihrer weiteren chirurgischen Ausbildung an
die Kliniken kommandiert werden, beweist, daß auch von
dieser Behörde die Vorzüge des Institutes anerkannt und
geschätzt werden.
Mit Freude und Genugtuung kann es begrüßt werden,
daß auch derzeit noch das altbewährte Operationsinstitut
sich der Förderung der Behörden erfreut. Ueber Ansuchen
der Vorstände werden den Zöglingen allmählich wieder
Wohnungen im Krankenhaiise zugewiesen und es hat die
bloße Anregung durch uns genügt, um das k. k. Unterrichts¬
ministerium zur Bewilligung eines Reisestipendiums für jede
der beiden Kliniken anläßlich des Jubiläums zu veranlassen
(Erlaß des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom
7. Februar 1907, Z. 1668).
So können wir beruhigt in die Zukunft schauen und
mit dem Wunsche schließen, daß es dem Institute gelingen
möge, weiter zu gedeihen und zu blühen und Früchte zu
tragen.
Quellen:
Dr. Carl v. Sigmund: Das chirurgische Operationsinstitut in
Wien. Wien 1841, Braumüller und Seidel. — Geschichte der Wiener
Universität von 1848 bis 1898. In Kommission bei Alfred Holder, S. 223.
— Friedrich Freiherr v. Schweickhardl, Sammlung der Universitäts¬
gesetze. — Puschmann, Die Medizin in Wien während der letzten
100 Jahre.
Vor sechsunddreißig Jahren.
Erinnerungen von Prof. A. v. Winiwarter, Lüttich.
Im Oktober 1871 wurde ich zum Operationszögliug
au der H. chirurgischen Klinik der Wiener Universität, der
Klinik Billroth, ernannt und blieb in dieser Stellung
drei .lahre lang, bis zum Oktober 1874. Meine Lehrlings¬
zeit bei Billroth fällt in die erste Periode seines Wirkens
in Wien ; er war im Jahre 1868 als Nachfolger Finanz Schuh s
berufen worden und begann seine Vorlesungen in dem¬
selben Semester, welches für mich den Eintritt in das dritte
Jahr der medizinischen Studien bezeichnete. So kam ich,
ausgerüstet mit der ganzen Unwissenheit in allen praktischen
Fächern, welche den Mediziner nach zwei Jahren theo¬
retischen Unterrichts charakterisiert, aber gleichzeitig als
vollkommen unbefangener Neuling dazu, durch Billroth
in die Chirurgie eingeführt zu werden. Und zwar geschah
dies dadurch, daß ich der ersten Operation beiwohnte, die
er überhaüpt an seiner Klinik ausführte. Die Einzelheiten
dieses Ereignisses sind mir unvergeßlich geblieben, um so
mehr, als ich mir eigentlich per nefas Zutritt zu dem
Schauspiel verschafft hatte. Es war zu Beginn des Schul¬
jahres, die Umgestaltung der klinischen Räume war nicht
beendet, der Hörsaal unbenützbar, sogar ein jOperations-
tisch fehlte noch. Die Kranke, eine Frau mit Mamma¬
karzinom, mußte daher in einem der Krankenzimmer und
zwar in ihrem Bette öperieft werden. Nur die Assistenten,
die Wärterinnen und ein paar auserwählte Gäste waren zu¬
gegen und warteten auf Billroths Erscheinen. Raschen
Schrittes trat er ein und schien einigermaßien erstaunt, als
er die Patientin, statt auf dem Operationstische, in einem
feett ausgestreckt fand ; offenbar war er an diese, unter
seinen Vorgängern übliche Weise des Operierens nicht ge¬
wöhnt. Ich hörte nur die Worte : ,, Beginnen Sie indessen
I zu narkotisieren“, dann sah ich, wie Billroth ein langes
' Amputationsmesser ergriff, wie er die voluminöse IMamma
mit der linken Hand faßte, sie Umschnitt und mit raschen
Messerzügen vom Thorax abtrennte. Während der Assistent
die blutende Wundfläche zu komprimieren suchte, hatte
Billroth bereits die Schieber in den Händen und legte
sie an die spritzenden Arterien mit einer eigentümlich
■präzisen Bewegung, wie ein Maler, der seinem Gemälde
die höchsten Lichter mittels eines Pinselstriches aufsetzt.
Ich will nicht beschwören, alle diese Beobachtungen wirk¬
lich im Momente selbst gemacht zu haben. Soviel ist sicher :
der Eindruck, den ich von dieser gewissermaßen jedes
^äußeren Pompes entbehrenden Operation empfing, war ein
überwältigender. Seit meiner frühesten Jugend, soweit meine
Erinnerungen zurückreichen, hatte ich gewünscht, Chirurg
zu werden, obschon ich so gut wie nichts von Chirurgie
wußte und gar keine Vorstellung von dem hatte, was man
Operieren heißt. Nun hatte ich das erstemal wirklich eine
Operation mit angesehen, die Idealgestalt Billroths war
mir entgegengetreten, in der ich hinfort das Prototyp des
Chirurgen und Operateurs bewunderte. Der geniale, künst¬
lerische Zug seines Wesens war es offenbar, der in mir,
einem vollkommen Unkundigen, mir selbst unbewußt, die
Ueberzeugung hervorrief, daß ein unvergleichlicher Meister
seines Faches vor mir arbeite.
An diesem Tage, wo ich Billroth zum ersten Male
gesehen hatte, faßte ich den Entschluß, alles aufzubieten,
um seinerzeit unter seine engeren Schüler aufgenommen zu
werden. Dazu wollte ich mich vorbereiten, indem ich mich
sofort an seiner Klinik inskribieren ließ, obschon die Stu¬
denten in der Regel nach der Tradition während des dritten
Jahres die chirurgische Klinik v. Dumreichers besuchten,
deren Unterricht mehr für Anfänger eingerichtet war. Ich
hoffte, dadurch schon jetzt in ein gewisses persönliches
Verhältnis zur Billrothschen Klinik zu gelangen und mich
als besonders eifriger Hörer zeigen zu können.
Freilich blieb meine Begeisterung für die Chirurgie
und für Billroth vorderhand eine ziemlich platonische.
Als Student, verloren in der Masse, welche das riesige
Auditorium bis zum Erdrücken füllte, mußte ich froh sein,
Billroths Worte zu hören — von den Operationen
etwas zu sehen, war nur wenigen möglich und von einem
wirklichen praktischen Unterricht in Chirurgie konnte, trotz
aller Bemühungen Billroths, keine Bede sein, weil die
Zahl der Hörer zur damaligen Zeit eine zu kolossale war.
Soviel Billroth auch demonstrierte, an Patienten, Prä¬
paraten, Zeichnungen, usw., das Lernen blieb trotz alledem
ein theoretisches, weil der körperliche Kontakt zwischen
dem Schüler und dem Kranken unmöglich war ■ — mit
anderen Worten, weil der Schüler den Kranken nicht selbst
untersuchen konnte.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 11
Unter diesen Umständen erlosch allmählich mein Lern¬
eifer, so daß ich als Mediziner weit mehr Zeit auf Histo¬
logie und pathologische Anatomie verwendet habe, als auf
Chirurgie. Bei Brücke mikroskopierte ich jahrelang und
im pathologischen Institute wohnte ich den Sektionen bei,
assistierte Rokitansky als Volontär bei den saiiitätspoli-
zeilichen und den gerichtlichen Obduktionen und habe mit
seiner Erlaubnis selbst so manche klinische Sektion aus¬
geführt, was damals als ein außerordentliches Privilegium
galt und worauf ich noch heute stolz bin. Allerdings war
eine derartige willkürliche Verwendung der Zeit, bei welcher
die systematisch^obligaten Vorlesungen zu kurz kamen, nur
möglich unter der alten Studienordnung, Die Rigorosen
durften nämlich zu meiner Zeit erst nach Beendigung der
zehn Semester Medizin abgelegt werden, so daß der Student
Muße hatte, sich irgendeinem Spezialstudium hinzugeben.
Ich will nicht behaupten, daß das moderne Regime nicht
zweckmäßiger ist : jedenfalls studieren die Mediziner heut¬
zutage vor allem für die nächste Prüfung und haben weder
Lust noch Zeit, andere Dinge zu betreiben. Was meine
Beschäftigung mit normaler und pathologischer Histologie
und mit pathologischer Anatomie betrifft, so abseits von
meinem erhofften Ziele diese selbstgewählte Tätigkeit zu
liegen schien, ich habe sie nicht bereut und bin heute,
nach so langer Zeit, der festen Ueberzeugung, daß sie die
beste Vorbereitung für meine spätere Laufbahn war, die
ich hätte wählen können. Ich hatte in der strengen Schule
Brückes und Rokitanskys gelernt, selbständig zu ar¬
beiten und vorurteilslose Selbstkritik an meiner Arbeit zu
üben. Uebrigens legte Billroth großen Wert darauf, daß
seine Assistenten mit dem Mikroskope vertraut waren und
diesem Umstande hatte ich, der ihm persönlich unbekannt
war, es offenbar zu verdanken, als Operationszögling an
seiner Klinik aufgenommen zu werden.
Jede der beiden chirurgischen Kliniken hatte damals
zwei Assistenten und acht Operationszöglinge. Ein Assistent
hatte die Männer-, der zweite die Frauenabteilung zu be¬
sorgen. Die Operationszöglinge waren nach Bedarf auf die
einzelnen Krankensäle verteilt und jedem eine bestimmte
Reihe von Betten zugewiesen. Ihre Stellung war ungefähr
die von Unterassistenten, ihr Dienst insofern auf die Tages¬
stunden beschränkt, als sie nicht im Spitale wohnten, mit
.\usnahme eines einzigen, welcher denn auch regelmäßig
den Nachtdienst (etwa von 8 Uhr abends bis 8 Uhr morgens)
versah. Unsere offizielle Tätigkeit als Operationszöglinge
möge hier in Kürze geschildert werden. Zunächst besorgten
wir den ärztlichen Dienst in den uns zugeteilten Sälen,
unter der Kontrolle des Assistenten ; mit ihm zusammen
absolvierten wir die Morgenvisite, untersuchten die Neu-
aufgenommenen, machten die Verbände usw. Unsere wich¬
tigste Aufgabe bestand in dem Verfassen und Führen der
Krankengeschichten, welche ausschließlich dem wissen¬
schaftlichen Interesse zu dienen hatten. Wir wetteiferten
in dem Bestreben, uns in dieser Hinsicht als vollkommen
verläßlich zu erweisen und namentlich die Anamnese und
den Status praesens sorgfältig aufzunehmen und präzis
wiederzugeben, denn dieser Teil der Krankengeschichten
wurde bei der klinischen Vorstellung des betreffenden Falles
im Auditorium von dem Verfasser laut vorgelesen und so
der öffentlichen Kritik zugeführt. Jeder von uns setzte einen
gewissen Stolz darein, möglichst genaue und statistisch
brauclibare Darstellungen zu geben und sie durch Zeich¬
nungen, mitunter sogar durch Pastellskizzen, oder Aquarelle
zu illustrieren. Die Photographie war damals noch nicht
so allgemein in Amateurkreisen verbreitet, daß sie uns zu
diesem Zwecke hätte dienen können. Zu den Kranken¬
geschichten beigefügt wurden die Temperaturkim^en, die
Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchung von Tumoren
eventuell die Kopie des Sektionsprotokolles usw. In diesen
Dokumenten ist das Material aufgespeichert für jene um¬
fangreichen, eine Fülle Amn Belehrung enthaltenden und
durch ihre unerbittliche Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit
ausgezeichneten klinischen Jahresberichte, welche Billroth
von Zeit zu Zeit veröffentlichte. Außerdem enthalten sie
die Belege für eine ganze Reihe von chirurgischen Mono¬
graphien, deren Bearbeitung er seinen Schülern überlassen
hatte.
Neben der fast literarisch zu nennenden Tätigkeit,
welche die Verfassung der Krankengeschichten erforderte,
üblag uns Operationszöglingen noch eine andere, viel be¬
scheidenere, aber ebenso' notAvendige Redaktionsarbeit : wir
mußten täglich die administrativen Schreibereien erledigen :
Krankenstandtabelle, Speisebogen, Medikamentenliste, Auf-
nahms- und Entlassungszettel, Anweisungen aller Art, Parere
über Verletzungen usw. — kurz eine Unsumme von For¬
mularen war auszufüllen, um rechtzeitig an die Direktions¬
kanzlei abgeliefert zu werden. Ich weiß nicht, Avie heutzu¬
tage diese Dinge organisiert sind — zu meiner Zeit hätte
jeder Registratursbeamte an der Komplikation der schrift¬
lichen Agenden seine Freude gehabt.
Die Dienstleistungen der Operationszöglinge im Hör¬
saale, während der klinischen Stunden, waren so verteilt,
daß jeder von uns abwechselnd einen Monat lang dieselben
Funktionen zu erfüllen hatte u. zw. Avurden für Narkose und
Puls, Instrumente und Verband, Ambulanz je zwei, für
Nähte und Schwämme je ein Operationszögling verwendet.
Während die beiden klinischen Assistenzärzte dem
Operateur direkt assistierten, befaßten sich die Operations¬
zöglinge mit jenen Handreichungen, welche man sonst wohl
den Krankenschwestern oder dem Wartepersonal überlassen
hätte. Um uns als Hilfskräfte bei den Operationen wirklich
nützlich zu machen, suchten wir, ein jeder in seiner
speziellen Funktion, so rasch und so exakt zu arbeiten,
daß der Operateur unser Eingreifen gar nicht zu bemerken
brauchte.
Billroth Avar geAVohnt, Avährend er operierte, zu
seinen Hörern zu sprechen und auf diese Weise ihre Auf¬
merksamkeit fortwährend rege zu erhalten. Die sämtlichen
Assistenten verrichteten ihre Aufgaben schweigend und
trachteten, jeden Wunsch des Operateurs im vorhinein zu
erraten, so daß er ihn nicht einmal durch Zeichen anzu¬
deuten brauchte. Wir hatten es in dieser Beziehung wirklich
zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht, die weiter nicht
auffiel, weil es schien, als müsse alles von selbst gehen.
Erst wenn aus irgendeinem Grande einmal die Sache ver¬
sagte, Avurde man aufmerksam auf den Schuldigen, der
seinen Fehler für so wichtig ansah, als ob die ganze
Operation seinetwegen mißlungen Aväre. Der Narkotiseur
empfand es als eine peinliche Beschämung, wenn der
Patient, statt ruhig zu schlafen, auf den ersten Schnitt
mit Stöhnen oder Umsichschlagen reagierte, so daß Bill¬
roth mit einem leichten Achselzucken das Messer wieder
absetzen mußte. Nicht minder deprimiert war der Instra-
mentarius, Avenn er unglücklicherweise einen Gegenstand
dargereicht, den Billroth allerdings gefordert, wobei er
sich jedoch im Wort versprochen hatte. Sagte Billroth in
humoristischem Tone daraufhin etwa: ,,Das sollten Sie doch
Avissen, daß ich eine Pinzette haben will, wenn ich ein
Messer Amrlange“ — dann Avar es für diesen Tag mit der
guten Laune des ge\Adssenhaften Instramentarius Awbei und
er mußte sich von seinen Kollegen einige mehr oder minder
schlechte Witze gefallen lassen.
Niemals hörte man an der Billroth sehen Klinik die
im schreienden Töne gegebenen Befehle und hie nicht immer
schmeichelhaften Bemerkungen des Operateurs über das
Ungeschick seiner Assistenten, die gegenseitigen Vorwürfe
der letzteren, die Schimpfworte an das Wartepersonal, die
hrutalen Aufforderangen an den Kranken, sich rahig zu
verhalten, kurz den ganzen wüsten Lärm, welcher in
vergangenen Zeiten so manchem Chirurgen der alten
Scliule als absolut notwendiges Erfordernis bei jeder
größeren Operation zu gelten pflegte. Grobsein war eben
jene Qualität, die am leichtesten anerkannt Avurde, weil
ein jeder sie verstand.
Den mühsamsten und gleichzeitig uninteressantesten
Dienst hatten die beiden Operationszöglinge, welche die
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Ambulanz — wie man heute sagen würde, die Poliklinik
vorbereiteten. Sie mußten vnr der klinischen Vorlesung die
zahlreichen, in einem gänzlich unzureichenden Raume zu-
sannneiigepterchten Patienten — die Klinik besaß damals
kein eigenes Lokal für die Ambulanz — in Evidenz halten
und untersuchen, um .diejenigen Fälle auszuwählen, die für
die Vorlesung Interesse boten. Dabei gab es allerlei Schwierig¬
keiten. Viele Patienten verstanden kein Wort deutsch, da¬
gegen konnte man gelegentlich alle Idiome der österreichi-
sclien Monarchie und Sprachen ans aller Herren J^änder
vertreten finden, sO' daß diejenigen von uns, die keine Poly
glotten waren, sich mittels einer Art Neger-Esperanto aus
der Affäre ziehen mußten. Dann hieß es, die vorzustellenden
Patienten, inmitten des Gedränges ihrer oft von Schmutz
starrenden Kleider und Verbände entledigen, sie in den
Hörsaal führen, Billroth über den Fall Bericht er¬
statten, seine Fragen verdolmetschen usw. Schließlich
war man noch gezwungen, durch gute Worte jene armen
Teufel zu trösten, die nach stundenlangem Warten, ohne
Billroth gesehen zu haben, abziehen sollten. Daß es dabei
unangenehme Auseinandersetzungen gab, ist begreiflich.
Man mußte eben auch diese Dinge lernen. Whr lernteji
sie, wie wir die Manipulationen bei den Operationen, die
Instandhaltung der Instrumente, die Präparation der
Schwämme und so vieles lernten : einer vom andern, durch
die Tradition. Vermöge der guten Tradition an der Klinik
waren wir damals abgerichtet auf unseren Chef und auf
einander eingespielt, wie die Clowns in einer Pantomime
mid das höchste Lob wurde uns eines Tages von einem
französischen Chirurgen — ich glaube es war Le Fort
— gespendet, welcher sich Billroth gegenüber äußerte,
er habe bei den Operationen den Eindruck gehabt, als ob
er die Vorstellung eines Taschenspielers mit ansehe. AVir
Operationszöglinge wenigstens faßten diese Bemerkung als
eine schmeiclielhafte Anerkennung unserer Schnelligkeit und
Präzision auf.
Nebst den laufenden ärztlichen Obliegenheiten hatten
die Operationszöglinge abwechselnd während 24 Stunden
Inspektionsdienst an der Klinik. Der diensthabende Arzt
mußte sich während dieser Zeit in nächster Nähe der Klinik
aufhalten, um jeden Augenblick durch das Wartepersonal
gerufen werden zu können, wenn seine Gegenwart in einem
Krankensaale notwendig war. Nun gal) es aber kein eigenes
Wachzimmer, wo- der Inspektionsarzt hätte bleiben können,
wenn er nicht gerade an der Klinik beschäftigt war. Er
war daher gezwungen, seine Zeit entweder im Lesezimmer
oder in irgendeinem anderen ihm zugänglichen Lokale des
Krankenhauses zuzubringen und mußte jedesmal, so oft
er diesen Platz wechselte, den Wärterinnen in den Kranken¬
sälen angeben, wo , er zu finden sei. Das Telephon kannte
man damals noch nicht und infolge der großen räumlichen
Ausdehnung des Allgemeinen Krankenhauses verging nicht
selten längere Zeit, bevor eine Botschaft von der Klinik
dem diensttuenden Arzte übermittelt werden und derselbe
sich dorthin begeben konnte, wo man ihn brauchte. Wie
schon erwähnt, wurde der Nachtdienst ein für allemal von
dem einzigen im Krankenhause wohnenden Operations¬
zögling versehen. Doch durfte der Inspektionsarzt des
Abends sich nicht früher aus dem Spitale entfernen, ehe
er nicht durch seinen Kollegen oder durch einen der stets
bereitwilligen Assistenten ersetzt worden war.
Dem diensthabenden Operationszögling oblag übrigens
noch eine sehr wichtige Aufgabe : er hatte dafür zu sorgen,
daß aus der großen Zahl der Aufnahme suchenden Patienten
die für den Unterricht geeigneten direkt in die Klinik kamen.
Durch seinen Eifer und seine Findigkeit konnte er ihr
besonders interessante Fälle zuführen. Das Krankenmaterial
der beiden chirurgischen Kliniken rekrutierte sich nämlich
nur zum Teil aus dem klinischen Ambulatorium, d. h. aus
dem Kreise jener Patienten, welche aus eigenem Antrieb
sich einstellten, um zu konsultieren, und die man eveii-
tuell sofort da behielt. Außerdem hatten die beiden Klini¬
ken das Recht, abwechselnd jeden zweiten Tag Kranke
auszu wählen, welche von außerhalb ins Spital kamen, um
Aufnahme zu finden. Diese Auswahl mußte in der Auf¬
nahmskanzlei vollzogen werden u. zw. von einem Opera¬
tionszögling der l)etreffenden Klinik, der nach Dntersuchung
des Kranken erklärte, daß er ihn für seine Klinik in An¬
spruch nehme. War der Ctoerationszögling bei der Aiif-
nahnic nicht zugegen, so wurden die Kranken überhaupt
nicht an dift Kliniken gewiesen, sondern sofort, den ciii rur¬
gischen Abteilungen zugeteill. Unter solchen Umständen wur
es für die Kliniken sehr wdehtig, daß ihre Veifreter wo¬
möglich den ganzen Tag über orler wenigstens wilhreiid der
Stunden des stärksten Andranges der Patienten in der xVuf-
nahmskanzlei, dem ,,.lournal“, verweilten, um ihre Rechte
zur Geltung zu bringeii. Der diensthabende Operations-
zügling hatte oft einen schweren Stand, um diese Aufgabe
richtig zu lösen. Es handelte sich für ihn darum, unter den
zahlreichen Patienten aller xVrt, wmlche vor dem Journal¬
arzte defilierten, um nach kurzer Prüfung in die verschie¬
denen Abteilungen des Krankenhauses aufgenommen zu
werden, die für die Klinik geeigneten Fälle rasch zu er¬
kennen und in bezug auf ihre Prognose und auf die mögliche
Therapie entsprechend zu beurteilen, denn zu einer einiger¬
maßen genauen Untersuchung fehlte die Zeit. Bei dieser
Auswahl der Kranken kam es trotz aller unserer Bemühungen
häufig genug vor, daß gerade akute Fälle, namentlich Ver¬
letzungen, den Kliniken entgingen, weil sie außerhalb der
gewöhnlichen Aufnahmsstunden ins Krankenhaus trans¬
portiert wurden, und der Opei’ationszögling unmöglich Tag
und Nacht zur Stelle sein konnte, um sie in Empfang zu
nehmen. Diese Fälle kamen daher in der Regel auf die
chirurgischen Abteilungen. Anderseits umfaßte das Kranken¬
material des Ambulatoriums, aus welchem viele Patienten
direkt in die Klinik eintraten, hauptsächlich chronische oder
solche akute Affektionen, welche die Leute nicht am Oelien
hinderten. Daraus ergab sich das abnorme Faktum, daß
an den chirurgischen Kliniken trotz ihrer großen Kranken¬
bewegung Verletzungen und akute Erkrankungen, nament¬
lich der unteren Extremitäten und des Stammes, nur ver¬
einzelt zur Aufnahme gelangten. So waren z. B. komplizierte
Frakturen, Schußwunden, eingeklemmte Hernien, akute Harn¬
retentionen u. ä. zu meiner Zeit wahre Raritäten an der
Klinik. Dafür drängten sich an unserer Klinik die Leute mil
Geschwülsten, mit chronischen Knochen- und Gelenksleiden,
mit Mißbildungen aller Art, ferner alle außerordentlichen
sensationellen Fälle aus nah und fern und jene Unglück¬
lichen, die umsonst alle Aerzte konsultiert hatten und ihre
letzte Hoffnung auf Billroth setzten.
Das Ueberwiegen dieses besonderen Krankenmateriales
über das sog. ,, alltägliche Einerlei“ bildete eine Haupt¬
anziehungskraft der Billroth sehen Klinik für die fremden
Aerzte. Im Interesse des Unterrichtes war es jedoch zu be¬
dauern, daß Studenten und Operationszöglinge eine Reihe
der häufig in der Praxis vorkommenden Verletzungen und
Erkrankungen gar nicht oder nur ungenügend kennen lernten.
Zu meiner Zeit gab es noch weder Antisepsis, -noch
Asepsis. Billroth war ein überzeugter Anhänger der
offenen Wundbehandlung und blieb es, bis er sich durch
eigene Forschungen von dem Wert der Lister sehen Me¬
thode überzeugt hatte. Zweifellos erfordert die Antisepsis
und die Asepsis eine sorgfältige Schulung des Anfängers,
bis sie ihm in Fleisch und Blut übergehen, bis er, wie
König in Beziehung auf die Antisepsis zu sagen pflegte,
,,in der Wolle gefärbt ist“. Ist dieses Ziel aber einmal er¬
reicht, dann bietet die Durchführung der erlernten Prinzipien
keine allzu großen Schwierigkeiten. Die offene Wundbehand¬
lung hingegen, wie sie an der Billrothschen Klinik geübt
wurde, war durchaus nicht so einfach, als man heutzutage
glaubt; vor allem bestand sie nicht darin, daß die Wunden
überhaupt gar nicht verbunden wurden. Ich würde die
Grenzen meines Themas überschreiten, wenn ich die ver¬
schiedenen Applikationsweisen der offenen Wundbehandlung
beschreiben wollte, die ja doch nur mehr historisches In¬
teresse haben. Nur soviel sei betont, daß sowohl der erste
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
\ erbaiid, als die Xacdibehaiidlung große Sachkenntnis und
Uebung voraussetzten und weitaus mehr Zeit und Mühe er¬
forderten als die modernen Methoden. .Jedenfalls hingen-
die PrQgnose und der Verlauf in jener präantiseptischen
Zeit in höherem Maße vo)i der persönlichen Tüchtigkeit
des Chirurgen ab, als es gegenwärtig der Fall ist.
Das war vielleicht der Grund, warum die üperations-
zöglinge nicht häufig zu cliirurgischen Eingriffen heran¬
gezogen wurden. Wir hießen im gewöhnlichen Leben ,, Opera¬
teure“, nach dem Satze : Lucus a non lucendo, — weil
wir nicht operierten. Nicht ist übertrieben, aber wir ope¬
rierten w-enig und stets nur typische jVmputationen, Ten-o-
tomien, Hydrokelepunktionen, liöchstens eine Mammaexstir¬
pation ohne Achseldrüsen. Diese Operationen wurden
während der Klinik vor den Studenten unter ßillroths
Augen ausgeführt.
Da die Anzahl dieser typischen Eingriffe an und für
sich nicht sehr groß war und wir sie mit den Assistenz¬
ärzten teilen mußten, sO' kam die Reihe höchstens zwei-
his dreimal im Semester an einen. Während der Ferien
standen die Dinge etwas besser, ich hatte als Operations¬
zögling niemals die Gelegenheit, eine jener Operationen aus¬
zuführen, welche nur am Lebenden gelernt werden können
(wie die Tracheotomie oder die Herniotomie), die man doch
in der Praxis jeden Moment gezwungen sein kann, zu unter¬
nehmen, weil sie unvermeidlich und unaufschiebbar sind
(die sog. ,, Operations d’urgence“ der Franzosen). Eingriffe
dieser Art, welche in der Regel außer die klinischen Stunden
fielen, gehörten zu den Prärogativen der beiden Assi¬
stenzärzte.
Rillroths Einfluß auf seine engeren Schüler war es
zu danken, daß wir nehen unserer praktischen Tätigkeit als
Aerzte auch Lust und Liebe zu wissenschaftlicher Arbeit
empfanden. Wie er selbst eine staunenswerte Arbeitskraft
entwickelte, stellte er auch an seine Leute hohe Anforde¬
rungen. Er interessierte sie für gewisse Fragen aus der ex¬
perimentellen Pathologie, ließ sie Reobachtungen am ge¬
sunden und kranken Menschen machen, Temperaturmessun¬
gen, chemische Analysen ausführen, Tierexperimente an¬
stellen oder mikroskopische Untersuchungen von Tumoren
unternehmen usw. Einige von uns bearbeiteten selbst¬
gewählte Themata chirurgischen Inhaltes und Billroth ver¬
folgte mit aufmerksamer Teilnahme diese Tätigkeit, stets
bereit, uns durch Rat und durch materielle Beihilfe zu '
fördern. Es herrschte wdrklich ein reges wissenschaftliches
Leben an unserer Klinik; den besten Beweis dafür liefern
die zahlreichen Publikationen größtenteils im Archiv für
klinische Chirurgie, aber auch in anderen Zeitschriften, die
damals aus Billroths Schule hervorgingen. Auf diese
Arbeiten legte er selbst einen besonderen Wert : wenn es sich
darum handelte, aus seinen Operationszöglingen einen zum
klinischen Assistenten zu wählen, dann , gaben die wissen¬
schaftlichen Veröffentlichungen den Ausschlag. So' sorgte
er dafür, daß stets der Würdigste auf den von vielen er¬
sehnten Posten gestellt wurde und seine Entscheidung war
derartig, daß auch diejenigen sie als gerechtfertigt betrach¬
teten, deren Hoffnungen vielleicht getäuscht worden waren.
Eine solche neidlose Anerkennung der einem einzigen
zufallenden Belohnung von seiten seiner minder glücklichen
Rivalen war nur denkbar, bei der zu meiner Zeit unter den
Operationszöglingen herrschenden Einigkeit und Kollegia¬
lität. So heterogen nach Abstammung, Herkunft und Sprache,
so verschieden in ihrem Wesen und in ihren Fähigkeiten
die einzelnen waren, sie schlossen sich in gemeinsamer
Tätigkeit bald aneinander und während jener an der Bill¬
roth sehen Klinik zugebrachten Jahre knüpften sich Freund¬
schaften für das ganze Lehen. Während ich dies schreibe,
lenkt mein Blick sich auf eine vergilbte Photographie, welche
Billroth darstellt, in vollster Manneskraft und Gesundheit,
inmitten seiner Assistenzärzte und der Operationszöglinge
aus meiner Zeit; Menzel, Steiner, Gussenbauer, Ger-
suny, Barbieri, Kämmerer, Dos za, Weil, v. Frisch.
Von ihnen, die im Bilde unseren unvergeßlichen
Lehrer umgeben, sind die meisten bereits zur Ruhe gegangen.
Allein mit den Eindrücken aus längst vergangenen Tagen
sind auch ihre Gestalten wieder aufgetaucht vor mir und
die Erinnerungen, die ich heraufbeschworen, wollen mich
nicht mehr verlassen. So sei es denn! Mögen sie dem An¬
denken der Dahingeschiedenen geweiht sein. Den Freunden
aber, die, „noch im heiteren Leben weilend“, diese Zeilen
lesen, sende ich den herzlichen Gruß:
Ad multos annos !
Lüttich (Belgien), im März 1907.
Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand: Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg.)
lieber den Wurmfortsatz und die Harnblase
als Bruchinhalt.
Von Dr. Paul Clairmout, Assistenten der Klinik.
Die Ansicht älterer Chirurgen, daß Wurmfortsatz
und Harnblase nur ausnahmsweise als Bruchinhalt Vor¬
kommen, wurde durch die zahlreichen Bruchoperationen
widerlegt, welche nach modernen Methoden, vor allem
nach dem ausgezeichneten Verfahren Bassinis ausgeführt
wurden. Die an einem großen Material gesammelten Erfah¬
rungen zeigten auch bald, daß gerade diese beiden Organe,
wenn sie in Brüchen Vorkommen, dem Chirurgen besondere
Schwierigkeiten bereiten können. In diagnostischer Hinsicht,
weil nur ausnahmsweise der Bruchinhalt vor der Operation
richtig erkannt wird; therapeutisch, weil Komplikationen
— das gilt vor allem für die Blasenhernie — den post¬
operativen Verlauf gefährden können.
Für den Processus vermiformis hat die Frage, ob es
eine Entzündung oder Einklemmung desselben ist, welche
das akute Krankheitsbild bedingt und die sofortige Opera¬
tion indiziert, vor allem die Literatur beschäftigt. Von
manchen Autoren wurde die Möglichkeit der Inkarzeration
einer normalen Appendix nicht zugegeben, so namentlich
von Sonnen bürg. Heute aber dürfen wir das Vorkommen
der primären Inkarzeration als sicher bewiesen ansehen.
Vor vier Jahren hat Honsell bei Zusammenstellung von
79 Fällen ,, isolierter Wurmfortsatzinkarzeration“ aus der
Literatur nur 17 als echte Einklemmuiigen eines normalen
Proc. vermiformis angesprochen, während die übrigen Fälle
teils zu ungenau mitgeteilt waren, teils als primäre Appen¬
dizitiden gelten müßten. Hon sells Zahl steht also weit
hinter der Bajardis zurück, der schon im Jahre 1895
unter 98 beschriehenen Fällen von reinen Wurmfortsatz¬
brüchen 47 als inkarzerierte Brüche gefunden hatte. Wenn es
die Absicht Hon sells war, auf Grund eines möglichst genau
beschriehenen Krankheitsbildes die sicheren Fälle aus der
Literatur herauszuheben, so bleibt er wohl hinter der tat¬
sächlichen Zahl hieher gehöriger Beobachtungen zurück.
So möchte ich nicht zweifeln, daß es sich bei den von
Körte im Anschluß an die Demonstration von Wulff er¬
wähnten zwei Patienten um typische Inkarzerationen der
Appendix gehandelt hat. Vor die Arbeit Honseils fallen
auch die Mitteilungen von Tailhefer, Berger, Bougie
und Dartigues, Lindström und Rake, in denen
echte Einklemmungen besprochen werden. Seither
stammen weitere Publikationen oder gelegentliche Diskus¬
sionsbemerkungen von Quenu, Neuhaus, Ricon, Dui-
gon, Barb at, Ta pie, Sprengel, Levy^) und Staats¬
mann.
Die nunmehr schon zahlreichen Beobachtungen haben
gezeigt, daß die Inkarzeration des Processus vermiformis
mit keinem typischen Krankheitsbild einhergeht. Die Diffe¬
rentialdiagnose gegenüber der Appendizitis im Bruchsack
wird von den meisten Autoren als unmöglich angesehen,
*) Levy scheint, so weit einem Referat in Hildebrands Jahres¬
berichten zu entnehmen ist, keine scharfe Trennung zwischen Einklemmung
und Entzündung des Wurmfortsatzes zu machen. Das von ihm be¬
schriebene Krankheitsbild stimmt auch mit dem anderer Autoren und
dem unseres Falles nicht überein.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCIIRIET. 1907.
,313
(lie Differeiilialdiagii'Oise gegenüber der eingeklemmten Netz¬
oder Littrescdien Hernie kann große Schwierigkeiten be¬
reiten. In der 1. chiinrg. Klinik kam im Dezember v. .1.
ein Fall zur Operation, der zwar anch ante operationem
nicht erkannt wurde, aber keinem geläufigen Bild entspracli
und deshalb diagnostisch in suspenso gelassen wurde. Wie
wichtig es ist, in allen diesen Fällen zweifelhafter Inguinal¬
tumoren die Operation vorzuschlagen und möglichst bald
auszuführen, zeigte auch dieser Fall wieder.
Es handelte sich um eine 61jährige, früher gesunde Frau,
die am 6. Dezember 1906 mittags stechende Schmerzen in der
rechten Leistenbeuge verspürte. Dieselben steigerten sich bis zu
itirer Aufnahme am 10. Dezember kontinuierlich. Am 7. Dezember
hatte Pat. den letzten Stuhl, am 8. Dezember erbrach sie
schleimige Massen. An diesem Tage bemerkte sie zum ersten¬
mal eine ungefähr nußigroße Geschwulst in der rechten Leiste.
Seit 9. Dezember morgens sollen auch Winde nicht mehr abgehen.
Bei der Untersuchung' der Patientin fand sich in der rechten
Inguinalgegend eine zirka nußgroße bewegliche Vorwölbung, über
welcher die Haut leicht gerötet und etwas schmerzhaft war,
welche sich in den Kiuralkanal fortzusetzen schien. Der Tumor
zeigte Fluktuation, keinen Anprall bei Hustenstoß und ließ sich
auf Druck nicht verkleinern. Das Abdomen war nicht aufgetrieben,
zeigte keine Peristaltik, keine freie Flüssigkeit, keine Druck-
sclunerzhaftigkeit. Der Allglemeinzustand der Palientin war (iiii
guter, die Zunge feucht, der Puls nicht beschleunigt, normale Tem¬
peratur.
Bei der sofort vorgenommenen Operation in allgemeiner
Anästhesie wurde zunächst nur ein kleiner, probatorischer
Schnitt über der Kuppe der Geschwulst gemacht; nach Durch-
Irennung des ödematösen Unterhautzellgewebes wurde der Tumor
freigelegt, der bläulichschwarz durchschimmerte. Nunmehr wurde
der Schnitt verlängert, die Geschwulst, welche in den Canal is
cruralis hineinzog, gestielt und die erste, als Bruchsack anzu¬
sprechende Schichte durchtrennt. Es entleerte sich ein Kaffee¬
löffel voll blutig tingierter, übelriechender Flüssigkeit und als
Bruchinhalt fand sich der in der peripheren Hälfte rückläutig
abgeknickte, schwarzrot bis blauschwarz verfärbte und ge¬
schwollene Processus vermiformis, der sich nicht weiter vor¬
ziehen ließ. Auch nach Debridement des inkarzerierenden Bruch¬
ringes nach oben gelang dies nicht. Erst nach Verlängerung
des Hautschnittes nach außen oben und Durchtrennung der
Bauchdecken, sowie des Peiätoneuras konnte das Cökuni liervor-
gezogen werden. Ungefähr in der Mitte der Appendix, ent¬
sprechend dem Bruchring, fand sich nun eine ca. 2 mm breite,
grau verfärbte, zirkuläre Schnürfurche, das Mesenteriolum bis
nahe an die Appendix hämorrhagisch infarziert, das distale Stück
des Prozessus in der früher beschriebenen Weise verändert, der
proximale Anteil aber normal aussehend, d. h. nicht injiziert,
Idaß graurot, nicht verdickt; ebenso dessen Mesenteriolum normal.
Der Processus vermiformis wurde in der üblichen Weise ent¬
fernt, sein Stumpf versorgt ünd die Radikaloperation nach der
Methode von Billroth-Bassini (Naht des Ligamentum
Pouparti an den Musculus pectineus) angeschlossen. Der post¬
operative Verlauf bot keine Komplikation, die Darmtätigkeit stellte
sich am zweiten Tage nach der Operation wieder ein.
Es kann nicht bezweifelt werden, daß in diesem Falle
eine echte Inkarzeration des Wurmfortsatzes vorlag. Das
seröse, blutig fingierte, nicht eitrige Bruchwasser, die An¬
schwellung und Verfärbung der Appendix, die scharf an
einer gut ausgeprägten Schnürfurche abschnitten, die hämor¬
rhagische Infarzierung des Mesenteriolums, soweit es ein¬
geklemmt war, das normale Aussehen des cökalen, nicht im
Bruchsack gelegenen Abschnittes, anatomische Befunde, die
Hon seil als charakteristisch beschreibt und die sich in
den hieher gehörigen Fällen immer wiederholen, beweisen
dies zur Genüge.
Um zu zeigen, daß unserem Falle mehrere Symptome
anhafteten, die in ihrer Gesamtheit auffallen mußten und,
wie schon früher erwähnt, sich zu einem gewohnten Bild
nicht recht zusammenfassen ließen, möchte ich folgendes
aus der Krankengeschichte hervorheben.
Es bestanden hier subjektive Angaben über Undurch¬
gängigkeit des Darmes, für die objektive Beweise fehlten.
Trotz dreitägiger Stuhlverhaltung war das Abdomen weich,
nicht aufgetrieben, nicht druckschmerzhaft und zeigte keine
abnorme Peristaltik. Der Allgemeinzustand war ein guter,
der Puls nicht beschleunigt, Fieber fehlte. Lokal war eine
G(?schwulst zu finden, deren Spannung und Schmerzhaftig¬
keit für einen inkarzerierten Darmbruch zu gering war.
Der prall elastische Leistenlumor, über welchem die Haut
entzündliche Erscheinungen darbot, war aulfallend gut be¬
weglich, aber nicht gut begrenzbar und gab tympanitischeu
Schall.
Das klinische Bild entsprach bei unserer Patientin in
vielen Punkten dem einer inkarzerierten Netzhernie. Der
deutliche Tympanismus über der Geschwulst war jedoch da¬
mit nicht zu erklären. Für eine dreitägige Inkarzeration einer
Litt re sehen Hernie war das Allgemeinbefindeil ein zu
gutes. Mit einer Lymphadenitis acuta, die differentialdia¬
gnostisch in Betracht kam oder gar einem entzündeten
Varixknoten der Inguinalgegend waren die abdominalen Be¬
schwerden nicht vereinbar.
Mit Rücksicht auf die Therapie scheint es im prak¬
tischen Fall müssig, der klinischen Entscheidung, oh eine
Inkarzeration der Appendix oder eine Appendizitis im Bruch¬
sack vorliegt, zuviel Zeit zu widmen. Gefährlich kann aber
für den Patienten die Verwechslung mit dem irreponibleii
Netzhruch werden. Wie Ho ns eil gezeigt hat, geht nur ein
kleiner Teil der Fälle (^/s) mit dem vollen Symptomenhild
der schweren Inkarzeration einher; für die übrigen Vö der
Patienten ist der Typus, wie wir ihn bei unserer Patientin
gesehen haben, die Regel. Bei der genauen Untersuchung
wird der Widerspruch zwischen lokalem Befund, der an
und für sich mehr für Darm als Bruchinhalt spricht und dem
negativen Abdominalstatus bei subjektiven Klagen über
Darmlähmung nicht in das bekannte Bild des Darm-, Darni-
wand- oder Netzbruches passen und vielleicht so auf die
richtige Spur leiten. Dazu kommt, daß es sich in der Regel,
wie auch in unserem Falle, um länger dauernde Inkarzera¬
tionen von Schenkelbrüchen hei älteren Frauen handelt
(Honsell, Sprengel). Die Symptome von Köllicker —
Flexionsstellung der Hüfte — oder Sprengel — umschrie¬
benes Exsudat ober dem Poupartschen Band entsprechend
dem Kruralkanal — werden nur unter bestimmten Bedin¬
gungen zutreffen.
Ueber die Therapie ist eine Diskussion nicht zulässig.
Sie kann nur in der sofortigen Herniotomie und Amputa¬
tion des Processus vermiformis knapp am Cökum bestehen.
Dieser Krankengeschichte reihen sich zwei Fälle an,
welche die Harnblase als Bruchinhalt betreffen, die beide
seltene Beobachtungen sind. Das bis zum Jahre 1901 publi¬
zierte Material über Blasenhernien hat Alessandri in einer
vorzüglichen monographischen Arbeit behandelt. Aus der¬
selben geht hervor, daß die Blase in Inguinalbrüchen hei
Männern zwar keine chirurgische Rarität, aber doch nicht
allzu häufig ist. Hingegen konnte Alessandri aus der
Literatur nur 21 Schenkelblasenbrüche zusammenstellen, die
vorwiegend Frauen betrafen.
Die isolierte Inkarzeration der Blase kam nach Martin
(l.)is 1899) 17mal zur Beobachtung. Hiezu kommen seither
die Mitteilungen über je einen Fall von Tailhefer, Becker,
Lücke und Abadie, so daß im ganzen nunmehr 21 ein¬
schlägige Fälle vorliegen. Dieselben betreffen achtmal
rechts-, zweimal linksseitige Inguinalhernien,“) achtmal
rechts-, zweimal linksseitige Kruralhernien. Bei dem
Patienten von Lucas -Championniere handelte es
sich um einen linksseitigen Bruch; eine Angabe, ob
Inguinal- oder Kruralbruch, fehlt. Es zeigt sich also,
daß die eingeklemmten Blasenbrüche nur selten, in einem
Fünftel der Fälle, die linke Seite betreffen.
Wie bei der Appendixinkarzeration hat auch bei der
Blasenbrucheinklemmung die Frage nach spezifischen Ein¬
klemmungssymptomen die Literatur beschäftigt. Martin
geht auf Grund seiner Zusammenstellung besonders
auf dieses Kapitel ein und glaubt es dahin beant¬
worten zu können, im Gegensatz zu Brunner, Loth¬
eissen und anderen mehr, daß das Vorkommen von
9 Die Fälle vonMonod und Delagöniöre, Revue de Chirurgie 1889,
S. 701 und Monlegnacco, Atti della associazione medic, lombarda (zitiert
nach Brunner, S. 177) 1896, S. 90.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
Li
BlaseiisyiiiiRinneii bei der iiikarzerierleii ß'aseiiheriiio
durcliaiis iiicJiis Selieiies, wälirend das Yorkoniineii des
ausgesprueJieiieii JJildes der DariuiiikarzeraLioJi J)ei reiiiea
ßlaseiilieniieii zum miiidesteiL selir zweifelliafL isl. Denselben
Standpunkt iiinmil J^üeke ein.
Der in der I. cliirurgisclieii Klinik beobaebiete Fall ist der
folgende ;
Am 8. Feinaiar 11)07, 8 ülir abends, Avurde der G8jäbrige
F. (i. von seinem llausarzL mit foigemlen Angaben eingelieferl.
Am \'ormillag des 8. Febiaiai’ bemcrkle der Fatieid plötzlich beim
Cleben auf der SIraße, naebdem er Avälirend eines Ciesclulfts-
ganges Aviederlioll Tj’eppen auf und ab gegangen war, einen
sebneidenden Sclrmerz in der linken Leistengegend. Die Schmerzen
wurden immer stärker und l’al. fand an der bezeiebneten (legend
eine Clescliwulsl, die er friUier nie beobachtet hatte und die
er nicht zuiaickscbiel)en konnte. Der berbeige'holte Arzt kon¬
statierte einen irrcponiblen, linksseiligeji Leislenbrucli, der juicli
<10111 Erbrechen und der liestebenden Windverhaltung als in-
karzeriert anzusprechen Avar. Ein Kepositionsversuch gelang inso-
ferne, als sich der Bruch bei Druck alimälilicti verkleinerte, ohne
aller vollsländig zu veiscbwiridon. Hiebei Avar kein gurrendes (ie-
räusch zu hören. Die Verkleinerung gelang ohne wesentliche
Anstrengung und ohne Schmerzen. Pat. fühlte sich danach
leicliter. Der Arzt Avar jedoch durch ilas Resultat der Taxis nicht
befriedigt, Avenn auch typische Darmeinklemmungssym])tonie .nicht
mehr bestanden und brachte den Patienten in die Klinik. Nach-
niillags klagte Pat. darüber, daß er Besclnverden bei der Urin¬
entleerung und tagsüber nur spärliche Urimiiengen entleert
habe. Auch früher halte Pat., wie er jetzt auf Befragen angiab,
hin und Avieder an 'schneidenden Blasenschimerzen gelitten.
Bei der Untersuchung des l’atienten fand sich der rechte
Leistenkanal für das erste Fingerglied durchgängig, in der linken
Leistengegend ein hühnereigroßer Tumor, der Avenig schmerz¬
haft, aber iiTcponibel Avar und eine derbe, an Netz erinnermle
Konsistenz darbot. Das x\bdomen war nicht aufgetrieben und
zeigte keine Peristaltik, die Zunge Avar feuebt, die Pulsfrequenz
normal. In dem spontan e.ntleerten, hellgelben Urin Aveder Eiweiß,
noch Zucker.
ObAvobl beängstigende Syjnptome nicht beslanden, Avurde
vorsichtshalber die sofortige Herniotomje in lokader Anästhesie
ausgefülirl. Entsprechend deni Fanalis iiiguinalis fanden sich
ZAvei zwerchsackarlig nebeneinander liegende, haselnußigroße,
glatte Liiiome. Eine Ausstülpung des Peritoneums Avar hintei'
denselben nicht Amidianden. Nach Art einer direkten Hernie
stülpte sich aber von hinten ein hühnereigroßes Gebilde vor,
das von kleinlappigem Feltgewebe überzogen war. Hinter
diesem Avm'de ein Bruchsack vermutet. Bei der Durchfaserung
des FettgeAvebes fiel der Reichtum an Amnösen Gefäßen aut.
Danach kani man auf ein sackartiges Gebilde, das an der Kuppe
und an der lateralen Fläche von einer glatten, serosaähnlichen
Fläche überkleidet Avar und sich auffallend derb anlühlte, ohne
einen Inhalt erkennen zu lassen. Bei der Auffaserung- der ober¬
flächlichsten Schichten Avar deutlich ein trabekulärer Aufbau zu
erkennen. Die Reposition dieses Gebildes durch die Bruchpforte
in der Fascia transversa gelang nicht, erst nach Spaltung der
lelztereu nach oben. Das Gebilde, Avelches mit Rücksicht auf
die Ananmese und den anato.mischen Befund als Harnblase an-
gespi'üchen Avurde, komile nunmehr in der Richtung zur Sym-
])hyse hin eingestülpt werden. Darüber Avurde die Bassinische
Radikalo])eration mit sechs Nähten ausgeführt. Der postoperative
\Arlauf Avurde durch eine am sechsten Tage auftrotende Throm¬
bose der Vena femoralis (bei reaktionslos heilender 0])erations,-
Avunde) verzögert, der Patient Aviirde am 1). IMärz aus der Klinik
entlassen.
ln diesem Falle haiidelle es sich also um eine para-
peritoneale J31asenlieniie, Avelche als direkter linksseitiger
Leistenlnaicli eingeklemmt Aviirde. Schon Amr der Opera¬
tion Avnrde die AA'rmuiungsdiagnose auf Mitbeleiligung der
Blase gestellt, Aveil die Taxis in auffallender Weise zu einer
Verkleinerung des Bruches geführt hatte und der Patient
nachträglich über Harnbeschvverden klagte. Die sichere Dia¬
gnose auf isolierte Blaseninkarzeration Avar aber nicht zu
stellen, vielmehr ijnponierte auch hier Aviedej- das Bild als
das einer akut irreponihel gewordenen Netzhernie. Die Sym¬
ptome von seiten der Blase Avaren zuerst verdeckt geAvesen
durch Erscheinungen, Avie sie auch die Darminkarzeration
begleiten. Erst nachdem offenbar die Blase ausgedrückt
und dadurch die Strangulation lockerer geworden vyar,
ließen (liose Erscheinungen nach und Irat der spezifische
(’liarakter der BescliAA^erden her\x)i‘.
In der Lileratur konnte ich eine ähnliche Beobachtung
gelegeidlich der Taxis nicht finden, ln der jHehrzatd derFälle
ist vermerki, daß ein Repositionsversuch vergeblich Avar;
nur in zwei Fällen — in der Beobachtung ymn Brunner
und in dem A'on Zondek mitgeteilten Fall — ist eine spon¬
tane Verkleinerung der Bruchgeschwulst notierl. Unser Fall
zeigt, daß auf dieses Symptom zu achten ist, die allmäh¬
liche Verkleinerung der inkarzerierten Hernie durch Aus¬
drücken ohne Auftreten von Darmgeräuschen und ohne
eine Amllständige Reposition zu erzielen. Vielleicht kann
auch in anderen Fällen aus den danach zuhige tretenden
spezifischen Einklemmungssymptomen, Avelche mit Recht
für die Diagnose immer gefordert Averden müssen, die richtige
Annahme einer ßlaseninkarzeration gemacht Averden.
ln diesem Falle Avar das als direkte Hernie austretende
Gebilde leicht als Harnblase zu erkennen. Das prävesikale
Fettgewebe unterschied sich sehr deutlich von den daneben
im Leistenkaiial liegenden präperitonealen Lipomen. Ein
ßruchsack AAmr neben der ausgestülpten Blase nicht vor¬
handen, obwohl ^es sich um eine paraperitoneale Zystokele
handelte.
Leider ist es nicht immer so leicht, die Harnblase zu
erkennen. Es ist ja aus der Literatur bekannt, daß nur
in einer ganz geringen Minorität der beobachteten Fälle
die Blasenhernie aus den klinischen Zeichen allein als
solche diagnostiziert Avurde (0. Z uckerkandl). Während
der Operation Avurde die Amrlagerte Blase nach Alessandri
unter 218 Fällen 147mal richtig ,ei'^kannt. ln vielen Fällen
aber ließen alle Merkmale im Stich : die Blase Avurde ver¬
letzt, indem sie für den Bruchsack angesprochen und
inzidiert wurde oder indem sie der Beobachtung ganz ent¬
ging, in die Ligatur des Bruchsackes mitgefaßt, abgeschnürt
und mit der Schere gekappt wurde. Daß daraus lebens¬
gefährliche Komplikationen resultieren können, ist begreif¬
lich und zeigt sich deutlich in der Statistik von Hermes,
der für die mit Blasenveiietzung einhergehenden Bruch¬
operationen eine Mortalität von 2G-5To berechnet, Amn
Brunner, der bei 81 Fällen 21 Todesfälle findet.
Der dritte Fall, den ich mitteilen möchte, gehört hieher:
Die lljäbrige Frau A. B. Avurde am 15. Januar 1907 in
die 1. chinirgische Klinik niit dem typischen Befund einer Avaltinlh
großen, reponiblen, rechtsseitigen Herpia cruralis aufgenonnnen.
Die Patienlin gab an, vor zAvei Jahren eine Blinddarmontzündungi
durchgemaebt zu haben. Vor vier Jahren bemerkte sie iu der
rechten Leistengegend eine haselnußigroße GescliAAmlst, die beim
Liegen Amu selbst AmrscliAvand, seit neun Monaten rascher an
Größe zunalihi und außer ziehenden Sclnnerzen in tier Gegend
der GescliAvulst, namentlich bei raschem Gehen, nie ßeschAverden
verursacht hatte. Ein verordnetes Bruchhaiid konnte sie nicht
tragen. Als Rruchinhalt Avurde nach dem tympanitischen Schall
und dem gurrenden Geräusch bei der Reposition eine Darm¬
schlinge angenommen.
Bei der am 19. Januar vorgenommenen Radikaloperation
in reiner Chloroformnarkose (Avegen suspekter Lungenspitzen)
fand sich ein aus dem Kruralkanal tretendes, als präperitoneales
Lipom imponierendes FettgeAAmbe; dasselbe Avurde mit zwei anato¬
mischen Pinzetten durchfasert und liiehei ein ganz zartes, sack¬
förmiges Gebilde eröffnet, Avelches an der Innenfläche von Serosa
ausgekleidct zu sein seihen, das an seiner Basis derber Avar
und in Avelches eine Steinsonde ohne irgendein Hindernis schein¬
bar in die freie Bauchhöhle AAmit eingescholien Averden konnte.
Schon Avurde dieses als Bruchsack angesprochene Gebilde mit
Mikulicz scfien Klemmen hochgehohen und torquiert, als lateral-
und ahdonrinalAvärts in demselben ein Gebilde auffiel, Avelches
sich bei der Palpation derb anfühlte und zur nochmaligen Re¬
vision ZAvang. Es Avurde nunmehr an der xViißeriAvand des Amr-
meinllichen Bruchsackes ein Amn demselben getrenntes zAveites,
4 bis 5 cm langes, sackähnliches Gebilde auspräpariert, das derber
als das erste, aber noch immer zarlAvandig Avar und den Ein¬
druck eines zav eiten Bruchsackes machte. In dem ArgAvohn, daß
es sich A'ielleicht um eine Ausstülpung des (hkums oder der
Blase handeln könnte, Avurde dieses Gelhlde sehr vorsichtig in¬
zidiert. Die Wand Avar zart und schien ebenfalls an der Innen¬
fläche von Serosa bekleidet. Jedenfalls bestand kein Anhalts-
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
HL.
iniiikt fill’ ('itio Sclih'iiiihaul in dec Bekleidung und wariui in der
Wand keine Trabekeln, Muskelfasern oder Venen /.u erkennen.
Dieses Oehilde ^v’nrde koi’kzielierarlig zugedreht und an der Basis
ligierl. Din bei dem reiclilicdien Fettgewebe, das sieli aus der
Krui'alid'ui'le vordrängte, durch eine Massen ligatu r nicht ein in
der Tiefe liegendes und verborgenes Organ (Cökinn oder Blase)
zu ligieren, wurde dasselbe reponiert und sofort darüber die
Radikaloperalion nach Billi’oth-Ba'ssin i vorgenonnnen. Einige
subkulane Nähte und Haulnabl.
Am Abend nach der Opeialion klagte Bai. über Schmerzen
iin Bauche und ei'bracli gallige Massen. Da eine spontane Drin-
entleorung nicht erfolgte, wurde katheleiisiert. Es entleerle sich
wenig Haiai, dessen letzte Tropfen leicht rot gefärbt waren. Am
Jiächsten Tage (20. .Taniiar) dauerte das Erbrechen an. Auf
Blyzerinklys'ina erfolgte Stuhl. Urin wurde auch an diesem Tage
dundi Katheterismns entleert, doch nur in geringer Menge, ln
der Nacht vom 20. auf den 21. .Tanuar stellten sich i)lützlich
sehr heflige Sclnnerzen im Banche ein; das Erbrechen wurde
häufiger. Am IMorgeii des 21. .Tamiar Avar das Abdomen auf-
gel riehen, überall dnickempfindlich, namentlich aber rechts unten,
in beiden Flanken Dämpfung sicher nachweisbar mit Aufhellung
hei LageAvechsel. Zunge feucht. Puls 104, Temperatur 864°, Zahl
der Leukozyten 40.000. iVm Nachlnittag Avar das subjektive Be¬
finden besser, Pat. hatte geschlafen, der objektive Befund aber
wai’ unverändert, das Ahdo-men schien mehr aufgetriehen, Puls-
freiiuenz 132, das Erbrechen hielt an. Aus dem Magen Avurde
iniltels iMagenschlauches zirka ein halber Liier bräunlicher, aber
nicht fäkulent liechender Flüssigkeit entleert. In der lleocökal-
gegend bestand Druckeinpfindlichkeit.
Am Abend des 21. Januar AAUirde deshalb unler der An-
nalnne einer intraperitonealen Komplikation die Laparotomie
lateral Amm rechten iMusculus rectus ausgeführt. Nach Eröffnung
des Abdomens entströmte eine klare, Avie seröse Flüssigkeit in
reichlicher Menge. Die Darmschlingen Avaren allenthalben, ebenso
Avie das Peritoneum parietale, gerötet und injiziert, kontrahiert
und nicht paralytisch. Dei- Wurmfortsatz Avurcle auffallend kurz,
an der Spitze narbig geschrumpft, im übrigen normal gefunden,
ln der Gegend des Kruralkanales lag ein dunkel \mr-
färbtes Gebilde, das zunächst für den abgebundenen Bruchsack
gehalten Avurde. Da nirgends eine Ursache der frischen Peritonitis
zu finden Avar, Avuixle dieses Gebilde nochmals revidiert. Erst
jetzt zeigte sich, daß dasselbe einen rechts' Amm Blasenscheitel
gelegenen Blasenzipfel darstellte, dessen Ränder zunderäimlich
morsch waren. Durch ein hellergroßes Loch bestand eine freie
Kommunikation zAvischen Harnblase und Peritonealhöhle. An der
linken hinteren Zirkumferenz dieser Perforation war eine Seiden¬
ligatur zu sehen. Die Blasenperforation Avurde in zwei Etagen
durch CatgUtnähte ohne Mitfassen der Mukosa geschlossen und
nach gründlicher Ausspülung der Bauchhöhle in die Gegend dej'
Blasenperioration ein gj-oßer IMikulicztampon eingelegt. Lockere
Naht in Etagen.
Der Aveitere Verlauf bot nichts Besonderes mehr. Schon
eine Viertelstunde nach der Operation urinierte die Patientin
spontan. Am 24. Februar Amrließ sie geheilt die Klinik.
Hier kam ps alsO' im Anschluß an die Badikaloperation
einer freien Kniralhernie zu einer intraperitonealen Blasen-
perforatinn. Bei der Auslosung des Bruchsackes waren die
anatomischen Verhältnisse unklare, so daß an die Kompli¬
kation mit der paraperitonealen Ausstülpung eines henacdi-
harten Organes gedacht Avurde. Trotzdem aber war die Blase
als solche nicht zu erkennen.
Nachdem eine Ligatur am Rande der Perforations-
öffimng gefunden wurde, Avar die Blase wohl das zweit¬
gefundene sackartige Gebilde, Avelches tortxuiert und ligiert
AAmrden war. Besonders bemerkenswert war die Lage intra-
peritoneal und an der lateralen Fläche des Bruchsackes.
Unter den Zystokelen ist die iniraperitoneale Blasen¬
hernie Aveitaus die seltenste. Alessandri meint, aus der
Literatur nur sechs Fälle dieser Art zusamuuuistellen zu
können. Daß es sich in unserem Falle um eine intraperito-
neale Blasenhernie gehandell hat, geht wohl daraus heiwor,
daß die Perforationsöffnung in ganzer Ausdehnung intra-
peritoneal geleg(ui war.
Es muß wohl als sehr Avahrscheinlich bezeichnet
Averden, daß diese Blasenhernie und namentlich ihre Lage
an der lateralem Bruchsack vvand in Beziehung zu bringen
ist mit der vor zwei .rahren überslandenen Skolikoiditis,
Duredi den entzündlichen Prozeß scheint der Blasenzipfel
i an das parietale Peritoneum fixiert und mit deniselhen in
den Bruch hineingezogen worden zu sein. Durch die Ad-
häsi'on Avar die Blase verhindert, sicli Avituler zu retrahieren,
sondern Avurde immer mehr und mehr ausgezogen, wobei
es zu einem Amllsländigen Verlust der Blascmwandstruktur
kam. Hermes macht, im Gegenteil zu Güter bock,
darauf aufmerksam, daß die Bedeutung und der Einfluß
von VerAvachsungen der Harnblase mit dem Bauchfell füi-
die Blasenbruchbildung nicht unterschätzt Averden dürfe.
Das einzige Symptoiri, Avelches neben dei' doppelten
Sackbildung für das Vorhandensein einer Blasenhernie zu
verwerten geAvesen Aväre, war wieder der auffallende Fett-
reichtum.
Bei unserer Patientin scheinen (tie ersten Ersch(dnungen
durch die Abhindung der Blase bedingt worden zu sein. Zur
Perforation des abgelamdeneiL Blasenzipfels kam es an¬
scheinend 40 Stunden nach der lladikaloperation. Ganz
plötzlich setzte um diese Zeit ein viel schwereres Bild ein,
vor allem sehr heftige Schmerzen.
Bis kann niclit geleugnet werden, daß unter Bcaachtung
aller Symptome unserer Patientin die iniraperitoneale Blasen¬
perforation hätte erkannt werden können. Die nach der
Operati'on entleerten geringen Urijunengen, die Tatsache,
daß der Harn am ersten Tagn ein AAmnig blutig I ingiert war,
die rasch auftretende freie Flüssigkeit im Abdomen neben
deii lokalen peritonealen Beizerscheinungen, sind wohl
(diarakteristische Vlomente. Wenn auch an eine Komplikation
von seiten der Harnblase gedacht wurde, so schien dieselbe
nicht AAmhrscheinlich, Aveil Avir den Eindruck hatten, daß
eine Blasenverletzung gelegentlich der Bruchoperation nicht
erfolgt sei. Genaue Messungen über die entleerten Harn-
niengen fehlten außerdem. Für die peritonealen Erschei¬
nungen Avurde deshalb entsprechend der Anamnese, welche
von einer schweren Blinddarmentzündung erzählte, nach
der intensiven Druckschmerzhaftigkeit in der rechten unteren
Bauchseite ein akuter appendizitischer Anfall verant\A^ortlich
gemacht und die freie Blüssigkeit als begleitender seröser
Erguß angesprochen.
Eine Fehldiagnose wird dem, der einen analogen Fall
beobachtet hat, kaum Avieder Vorkommen ; aber auch der,
der diese Komplikation nie zu sehen Gelegenheit gehabt
hat, wird sie richtig vermuten, Avenn er folgendes beachtet:
unmittelbar nach der Bruchoperation, bei der sich vielleicht
schon Bedenken ergeben haben, ahnorm starke Schmerzen
und anhaltendes BA’hrechen, später plötzlich einsetzende Per¬
forationserscheinungen, Amr allem intensive Schmerzen, ohne
lleuserscheinungen, mit nur lokalen peritonitischen Sym¬
ptomen (aseptischen Harn Amrau sgesefzO, d. h. relatW Avenig
gestörtem Allgemeinbefinden, feuchter Zunge, ohne Fieber
mit reichlicher freier Flüssigkeit in der Bauchhöhle
bei erscliAverter Harnentleerung, geringen täglichen Harn¬
mengen und Blutbeimengung zur ersten Urinportion nach
dem Eingriff. Daß in vielen Fällen die Diagnose der Blasen¬
verletzung durch das Aufirelen einer Urinfistel eine ganz
leichte ist, braucht hier nicht erAvähnt zu Averden.
Der sekundäre Eingriff, 60 Stunden nach der Radikal¬
operation, 20 Stunden nach der Perforation in die freie
Bauchhöhle in Form der Lajiarotomie entfernt vom ersten
Schnitt hat sich in unserem I'kilb^ gut bewährt. Er ist unter
den AAmnigen analogen Beobachtungen der einzige, der ge¬
rettet wurde, hdi möchte Brunner nicht beistimmen, der
meint, daß unter allen Umständen die Wunde zu öffnen
sei. Sieht dieselbe nicht Amrdächlig aus und sind im übrigen
die Zeichen der intraperitonealen Verletzung Amrhanden, so
führt die Laparotomie zum Ziel, ohne daß die Radikalheilung
des Bruches gestört wird. Bei unserer Patientin kam es zur
vollständigen Heilung per primam an Ort und Stelle der
1 1 adikaloperation.
Der rechtzeitige Verschluß der inlraperitojiealen Blasen-
perforaiion gibt eiiu' gute Prognose, da Serosaflächen aum--
wendet werden köiimm. Hervorbeben möchten ich noch
die in unserem Falle beobachlete beträchtliche Blyperleuko-
zytose, die durch mehrfache Zählungen bestätigt Avurde.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
Literatur:
Bezüglich der Literatur über Brucheinklemmung des Pro¬
cessus vermiformis verweise ich auf die zusammenfassenden Arbeiten
von: Brieger, Die Hernien des Processus vermiformis. Archiv für klin.
Chirurgie, Bd. 45, S. 892. — Barth, Heber Brucheinklemmung des
Processus vermiformis. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 63,
S. 149. — Ho ns eil, Heber die isolierten Brucheinklemmungen des
Wurmfortsatzes. Bruns Beiträge, Bd. 37, S. 208. — Wassiljew, Heber
Appendizitis in Inguinalhernien bei Männern. Archiv für klin. Chirurgie,
Bd. 73, S. 179 — 0. Sprenge], Appendizitis. Deutsche Chirurgie,
Bd. 46 d, Enke 1906, S. 69 und 458. — Ferner auf die zitierten neueren Mit¬
teilungen von: Körte, Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. Sitzung
vom 11. März 1901. Deutsche med. Wochenschrift 1901, V.-B., Nr. 23, S. 176.
— Tailhefer, Elranglement de Pappendice dans le canal crurale. Congres
fran^. de chir. 1901. Rev. de chir. 1901, p, 567. — Berger, Bull, et
mem. de la soc. de chir. Paris. Sitzung vom 28. November 1900, p. 1066.
— Bougie et Dartigues, Hernie crurale droile 4tranglee renferment
Pappendice etc. Bull, et mem. de la soc. anat. Paris. Jänner 1900. —
E. Lindström, Hernia crur. gangr. proc. vermif. Hygiea, Bd. 42, p.l76;
ref. Hildebrands Jahresb. 1900, S. 677. Bake, Strangulation of veimiforme
appendix in right femoral ring. Annals of surg. 1902. — Quenu, Hernie
crurale de Pappendice ötranglöe. Exam, histologique. Bull, et mem. de lasoc. de
chir. Paris 1903. Sitzung vom 15. Juli, S. 801. — Neu haus. Zur
Kenntnis der Perityphlitis. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 69, S. 1.
— Ricon, Hernie crur. droite appendice etrangl^e. Bull, et möm. de
la soc. anat. 1905, p. 96. — Duigon, Etranglement de Pappendice etc.
Journ. de med. et de chir. prat. 1905, Nr. 23. — Bar bat, Strangulated
femoral hernie containing appendix. The journal of the Am. med. Ass.
27. Februar 1904. — T apie, De Pelranglement dans la hernie de Pappendice.
Arch. prov. de chir. 1904, Nr. 8; ref. Hildebrands Jahresb. 1904, S. 741.
— Sprengel, Zur Diagnose der Wurmfortsatz-Einklemmung. Deutsche
Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 72, Heft 1/2. — Levy, Complicalion des
hernies de Pappendice. Arch. prov. de chir. 1903, Nr. 7 — 9; ref.
Hildebrands Jahresb. 1903, S. 733. — Staatsmann, Drei Fälle von
primärer Einklemmung des Wurmfortsatzes. Münchener med. Wochen¬
schrift 1904, Nr. 14. Heber Einklemmung des Wurmfortsatzes. Diss.
Heidelberg, April 1904. — Eine erschöpfende Literaturangabe über Blasen¬
brüche bis 1901 findet sich bei: Alessandri, La hernie de la vessie.
Annales des mal des org. gen.-ur. 1901, p. 25. — Ferner: Tailhefer,
Cystocele. Congres fran^. de chir. 1901. Rev. de chir. 1901, Nr. 11. — Becker,
Heber inguinale Blasenbrüche. Bruns Beiträge, Bd. 23, S. 167. — Lücke,
Heber die extraperitoneale Blasenhernie. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie,
Bd. 80, S. 574. — Abadie, Cystocele crur. ötranglee. Bull, et mem.
de la soc. anat. de Paris. Sitzung vom 7. Juli 1905, S. 617. — 0. Zucker-
kandl. Die Hernien der Blase. In Handbuch der Hrologie, Bd. 2, S. 589.
Aus der II. chirurgischen Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand: Hof rat Professor Dr. Julius Hochenegg.)
Ein Fall von Stieltorsion eines sarkomatös
degenerierten Bauchhodens.
Von Dr. Jalius Boese, Operationszögling.
Der nachstcliend Ijeschriebeiie Fall bietet in mehrfacher
Hinsicht großes chirurgisches Interesse.
A. Z., 38jähriger Lehrer, Vater von sechs lebenden
Kindern, wurde am 22. FeJjruar d. J. auf die Klinik auf¬
genommen. Er war bis vor sieben Monaten vollständig ge¬
sund. Zu dieser Zeit traten spontan starke, kolikarlige
Schmerzen in der litdeen Unterbauchgegend auf, welche mit
wechselnder Intensität vier Tage anhielten und ihn ans
Bett fesselten. Die Schmerzen gingen auf symptomatische
Behandlung zurück. Irn Anschlüsse hieran bemerkte Patient
eine Uesclnvidst in der linken Unterbauchgegend, welche
bestehen blieb. Gleiche kolikartige Schmerzanfälle wieder¬
holten sich in der Folge noch zweimal, das letztemal vor
sieben Wochen und nach jedem derartigen Anfälle bemerkte
der Kranke eine Größenzunahme der beim ersten Anfall
konstatierten 'Geschwulst.
Beschwerden von seiten des Harnapparates sowie des
Darmtraktes bestanden auch während der Anfälle nicht.
A'ur das Bewußtsein, eine Geschwulst zu haben und die
Angst vor Wiederholung der geschilderten Schmerzanfälle
veranlaßten den Patienten, unsere Klinik aufzusuchen.
Bei der Aufnahme des kräftigen, den Eindiaick eines
gesunden Älannes machenden Kranken bot sich folgender
Befund :
Herz und Lunge normal. Bei der Inspektion des im
großen ganzen uider dem ''l’horaxniveaii liegenden Bauches
fiel im Unter bauch eine deutlich sichtbare, respiratorisch
sich nicht verschiebende Vorwölbung auf. Dieser ent¬
sprechend lastete man hinter den Bauchdecken einen gut
abgrenzbaren, kindskopfgrüßen, glatten, kugeligen Tumor
von derber Konsistenz, der nach rechts bis zwei Querfinger
über die Mittellinie, nach links bis an die Spina anterior
superior ossis ilei, nach oben bis knapp an die Nabelhori¬
zontale reichte. Der untere Pol der Geschwulst ragte ins
kleine Becken und war mit dem ins Rektum eingeführten
Finger hoch oben zu erreichen. Der Tumor ließ sich nach
allen Richtungen hin verschieben. Der Perkussionsschall
über der Geschwulst war gedämpft tympani tisch, so daß
angenommen werden konnte, daß der Tümor größtenteils
von lufthaltigen Darmschlingen überlagert sei.
Der klinische Befund entsprach also annähernd dem
eines Nierentumors, da aber die Untersuchung des Skrotums
ergab, daß dasselbe nur den rechten Testikel enthielt und
der linke nirgends sonst nachzuweisen war,^) so mußte
die vorhandene Geschwulst als maligner Tumor des im
Bauch retinierten Hodens angesprochen werden.
Die am 27. Februar durch Hofrat Hochenegg vor¬
genommene Operation bestätigte die Richtigkeit dieser An¬
nahme, lieferte aber überdies einen überraschenden Befund :
Nach Eröffnung der Bauchhöhle ließ sich der Tumor,
der mit keinem einzigen der Nachbarorgane verwachsen
war, ungemein leicht vorwälzen, da er nur rückwärts an
einem kurzen Stiel hing. Das S-Romanum war durch die
Geschwulst medialwärts verdrängt worden. Der Stiel der
Geschwulst entsprang an der hinteren Baucliwand in der
Höhe der Linea terminalis lateral vom Sigma und war um
180° entgegen dem Sinne des Uhrzeigers gedreht. Dieser
Stiel hatte einen Durchmesser von iVr cm und in detor-
quiertem Zustande eine Länge von 6 cm. Tumor und Stiel
waren allenthalben mit glatter Serosa bekleidet.
Nach Unterbindung des Stieles an seiner Basis in
mehreren Partien wurde die 1100 g schwere Geschwulst
abgetragen. Die Bauchdeckennaht beschloß den Eingriff,
der sich recht einfach gestaltet hatte und von einem
reaktionislosen AVundverlauf gefolgt war.
Die histologische Untersuchung des Tumors zeigt viele
kleine, unregelmäßig verteilte, nekrotische Partien, zwischen
welchen, sehr häufig um kleine Gefäße gruppiert, dieTümor-
zellen in rundlichen Flaufen liegen. Die Anordnung der¬
selben ist bald mehr, bald weniger alveolär, indem bald
dickere, bald dünnere ßindegewebsbalken die einzelnen
Tumorzellhaufen trennen. Die Zellen selbst sind meist von
rundlicher Form und haben einen den größten Teil der
Zelle ausfüllenden Kern. In vielen Zellen typische und
atypische Kernteilungsfiguren.
Allenthalben sieht man zwischen den Zellen feinste
Bindegewebsfasern hineinziehen. Normales Hoden- und
Nebenhodengewebe ist nirgends nachweisbar.
D i a g 11 o s e : Alveoläres Rundzellensarkom.
Im Stiele des Tumors zellarmes, teilweise von Feit
durchsetztes Bindegewebe, viele weite, zum Teil mit Blut
gefüllte, venöse und arterielle Räume.
Ein normales Vas deferens läßt sich nicht nachweisen,
dagegen sieht man glatte Muskulatur, die ihrer Anordnung
nach der Muskulatur des Samenstranges entspricht, mit
einem Lumen, das jedoch keine Epithelauskleidung zeigt.
Die histologische Untersuchung ergab also eine Be¬
stätigung der klinischen Diagnose, daß eine maligne De¬
generation eines Bauchhodens vorliege.
Insofern wäre an dem Fall nichts Besonderes, wissen
wir ja, daß der retinierte Hoden mit Vorliebe maligne ent¬
artet. Das, was den Fall bemerkenswert macht, ist die
Stielnng des aus dem Bauchtestikel hervorgegangenen
Tumors und die Slieltorsion desselben. Der Fall erleichtert
das Verständnis eines von Hofrat Hochenegg vor Jahren
beobachteten und mitgeteilten, damals angezweifellen Be¬
fundes.
Es hajidelle sich um einen 41jährigen Kaufmann, i'echts-
seitigen Kryptorchen, der am 25. Oktoher 1897 wegen Uarm-
verschlusses von Hochenegg operier! wurde. Nacli Er¬
öffnung der Bauchhöhle oherhalh des Leistenkanales fand sich
der atrophische Testikel im Winkel zwischen Ileum und Cökum
b Der Kranke wußte von frühester Jugend, daß nur der eine
Hode vorhanden war.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
31/
vorgelrcien. Er war, das Periioiiemn nach sich ziehend, nacli
abwärts gerückt, so daß ein Stiel, der drehninde Sanienslrang,
das Ileuin kreuzte und J'ünnlich abschnürte. Das höher gelegene
lleuni war mächtig gebläht, das unterste lleuin und Cökum hin¬
gegen leer. Hochenegg exstirpierte unter Abbinden und
Durchlrennung des Samenstranges den Testikel. Es lag aber ein
Kombinationsileus vor, bedingt durch ein Karzinom am Ende
des Querkolons, das eine Woche später zweizeitig reseziert wurde.
Der Kranke ist geheilt geblieben und befindet sich andauernd wohl.
Nicoladoni hat darauf hingewiesen, daß Leisten-
testikel, wie überhaupt Testikel, die in einem angeborenen
Bruchsack liegen, wie ,,eine Frucht am Stiele“ hängen
können.
Das gleiche Verhalten können aber auch, wie die
beiden Ho diene ggschen Fälle und ein Fäll von Holl
beweisen, im Bauchraum retinierte Hoden zeigen. Dieser
Autor fand nämlich an einer Leiche deu linken Hoden, topo¬
graphisch wie im Ovarium gelegen, auf einer Peritoneal¬
falte, welche vom Mesenterium der Flexura sigmoidea zur
hinteren Blasenwand zog, liegen. Den medialen freien
Blasenrand überragte er zur Hälfte, so daß diese Partie
frei in die Beckenhöhle hinabhing. Diese Stielung kann,
wie die drei Fälle zeigen, zu folgeschweren Ereignissen
führen, zur Strangulation des Darmes und zar Stiel¬
torsion.
Der Stiel kann, wie jeder intraabdominal gelegene
Strang, zur Strangulation des Darmes führen, die noch
leichter eintreten könnte, wenn vielleicht der Testikel sekun¬
där irgendwo anwächst und so zwischen ihm und der
hinteren Bauchwand ein mehr oder minder gespanntes Band
verläuft. Auch, daß sich aus dem Samenstrang, an dessen
Ende der Testikel frei pendelt, eine Schlinge bi’den kann,
erscheint gut denkbar, so wie man es analog bei frei pen¬
delnden Me ekel sehen Divertikeln beohachtet hat.
In unserem Falle war es zur Stieltorsion des aus
dem Bauchhoden entstandenen Tümors gekommen, ebenso¬
gut könnte auch ein frei im Bauchraiun pendelnder Testikel
eine Stieltorsion erleiden und ein ähnlich stürmisches Krank¬
heitsbild hervorrufen, wie die Stieltorsion eines außerhalb
der Bauchhöhle liegenden Hodens oder etwa einer Ovarial-
zyste, einer Wandermilz.
Die Torsion in unserem Falle mag — wie Payr dies
für Stieltorsionen überhaupt annimmt — durch Druck¬
differenzen in den Gefäßen des Stieles, stärkere Füllung
und dadurch bedingte Schlängelung der Venen eingeleitet,
durch Bewegungen des Kranken, Bewegungen der Nach¬
barorgane, Blase und Darm, gesteigert worden sein.
Die durch Stieltorsion eines Bauchbodens ausgelösten
Erscheinungen werden natürlich, je nach dem Grade der
Torsion, verschieden sein und bei plötzlicher und hoch¬
gradiger Torsion gewiß ungemein stürmisch verlaufen. In
unserem Falle betrug die Torsion nur 180°, deshalb blieben
sowohl besonders stürmische Erscheinungen als auch
schwere Ernährungsstörungen aus. Als Ausdruck der letz¬
teren fanden sich am Tumor bloß starke ötlematöse Durch¬
tränkung und Nekrosen vor.
Immerhin dürften die kolikaiiigen S(dimerzen, von
denen die Anamnese berichtet, und das danach beobachtete
Wachstum der Geschwulst als Symptome der eingelretenen
Stieltorsion aufzufassen sein.
Die Fälle, in denen ein ektopischer Hoden maligne
degeneriert, gehören nicht zu den Seltenheiten. Die Stie!-
iorsion eines sarkomatös degenerierten Bauchhodens ge¬
hört aber zu den größten Raritäten, in der Literatur ist
nur ein einziger derartiger Fall beschrieben und verdient
gewiß wegen der sich aus einem solchen Falle ergebenden
Komplikationen großes Interesse.
Literatur.
Gers t er, Sarcoma of retaired testicle with twisted pedicle
Ann. of surg. 1898. — Hochenegg, Wiener klin. Woclienschr. 1897,
Nr. 51. — H 0 1 1, Wiener med. Jahrbücher 1880. — Nicoladoni, Archiv
f. klin. Chir. B. 31. — P a y r, Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1906, B. 85
Aus der Chirurg. Abteilung des Spitals der Wiener
Allgem. Poliklinik. (Vorstand: Prof. Dr. Alex. Fraenkel.)
Beiträge zur Behandlung der Laugenver¬
ätzungen der Speiseröhre.
Von Dr. Alfred Baß, Assistenten der Abteilung.
Die Laugenverätzung der Speiseröhre gehört leider
zu den häufigsten Verletzungen dieses Organs und jedes
größere chirurgische Ambulatorium verfügt über eine mehr
oder minder stattliche Zahl beobachteter Fälle. Die Auf¬
stellung einer Statistik kann ich um so eher unterlassen,
als gerade aus unserer Abteilung eine ausführliche Publi¬
kation Ludwig Telekys hervorgegangen ist, in welcher
die wichtigsten statistischen Daten der Literatur verarbeitet
erscheinen.
Ich kann mich also hier begnügen, als Unterbau für
die späteren Ausführungen über die Therapie, das WTch-
tigste über Klinik und Anatomie dieser, in ihren Anfangs-,
wie in ihren Folgeerscheinungen gleich schrecklichen Ver¬
letzung, kurz zu rekapitulieren.
Aetzlauge — u. zw. vorwiegend N^atronlauge — ist
allgemein verkäuflich und wird insbesondere in den Haus¬
haltungen der ärmeren Klassen zum Scheuern der Dielen
und zur Wäschereiniguug benützt. Bei der großen Acht¬
losigkeit in der Hanlierung — Stehenlassen in offenen
Flaschen, selbst in Wassergläsern — bilden das Haupt¬
kontingent der Verätzungen die zufälligen und hier sind
es meist Kinder, welche der Fahrlässigkeit zum Opfer fallen.
Seltener sind schon Selbstmorde und vollends
Morde mit Lauge gehören zu den allergrößten Raritäten.
Kolisko und Hofmann wissen bei dem großen ge¬
richtlichen Obduktionsmaterial AViens nur von zwei Morden
dieser Art zu berichten. Die klinischen Erscheinungen sind
äußerst stürmische: heftiges Würgen, Erbrechen stark alka¬
lischer, erst später blutiger (braun bis schwarzbraun ge¬
färbter Massen), quälendster Durst bei vollkommener Un¬
möglichkeit des Schluckens, Anurie, blutige Stühle, Tod
im Kollaps, hei Kindern oft unter rapid einsetzenden pneu¬
monischen Erscheinungen. Bei der Obduktion rasch ab¬
gelaufener Fälle findet man das Epithel der Mundhöhle,
des Rachens und des Oesophagus grau verfärbt, getrübt,
gequollen, die oberen SchichteJi der Schleimhaut ebenfalls
mißfarbig und mehr oder weniger gequollen. Die Intensität
der Veränderungen nach Ausdehnung und Tiefe variiert je
nach der Konzentration der Lauge, der Dauer der Anwen¬
dung, der Art der Einverleibung und — bis zu einem ge¬
wissen Grad — nach der individuellen Eanpfindlichkeit. Die
schwersten Veränderunge]i findet man beim Selbstmord;
hier ist auch der Magen am stärksten beteiligt, wälirend
bei zufälliger Einverleibung ausschließlich Mund, Pharynx,
Oesophaguseingang und die oberen Luftwege in Mitleiden¬
schaft gezogen werden. i
Uebersteht der Verletzte die ersten schweren Tage
und war die Verätzung keine allzu intensive, dann wird,
bei ganz oberflächlich gebliebener Verschorfung, die Epithel¬
decke in Fetzen- oder auch in Röhrenform abgestoßen, ohne
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
daß sonstige Folgen einträten (sehr selten). Gewöhnlich
aber geht die Aetzung an einzelnen umschriebenen Stellen,
oder auch ausgedehnt, durch die ganze Tiefe der Mukosa,
manchmal selbst durch die ]\fuskularis. An der Grenze des
Xekrotischcn tritt eitrige, demarkierende Entzündung auf,
welche seihst als korrodierende Ulzeration wiederum die
Grenze des Organs überschreiten, zu periösophagealer
Iviterung nach dem ]\Iediaslinum zu und mit oder ohne
Perforation zu Pleuritis, Perikarditis, oder zur Bildung öso-
phagolracdiealer oder ösophagobronchialer Fisteln führen
kann. In den leichtesten Fällen kommt es endlich nach
Abstoßung des A^ekrotischen zur Heilung durch Vernarbung
mit Bildung von Strikturen.
Die Prognose ist eine sehr traurige, v. Hacker be¬
rechnet, daß an den direkten Folgen der Laugenverätzung
ein Viertel der Kranken stirbt, von den überlebenden behält
die Hälfte schwere, die übrigen leichte, nur sehr wenige
gar keine Strikturen. Von den mit Striktur Ueberlebenden
aber erliegt noch mindestens der dritte Teil den Folgen
derselben.
Die Therapie besieht im Anfang, abgesehen von
der ziemlich illusorischen Darreichung schwacher Säuren
(Zitronensaft, Essig) in rein symptomatischen Hilfe¬
leistungen: Darreichung, bzw. Applikation von Eis, Nar-
kolizis, Ifxzitantien, Rektalernährung, später Darreichung
flüssiger Nahrung.
Erst nach dem Abklingen der stürmischen Erschei¬
nungen, wenn kein Blut, kein Eiter im Erbrochenen oder
im Sputum nachweisbar ist, also kaum vor Ablauf der dritten
bis vierten Woche nach der Verätzung, tritt an uns die
Sorge um die fernere Gestaltung des Schicksals des
Patienten heran.
In diesem Sinne hat Vlaydl angeraten, schon früher
aktiv einzugreifen und durch primäre Gastrostomie einerseits
den Oesophagus vollkommen ruhig zu stellen, anderseits eine
reichliche Ernährung des Kranken zu gewährleisten. Allein
dazu wird man sich bei den ganz schweren, von vorneherein
verloren scheinenden Fällen kaum entschließen und bei
den leichteren wird uns die Hoffnung auf einen auch ohne
Operation möglichen günstigen Ausgang zum Zuwarten ver¬
anlassen. So beschränkt denn auch v. Hacker die Anzeige
für primäre oder frühzeitige Gastrostomie auf Fälle von
beträchtliclier Abstoßung mortifizierter Teile des Oesophagus,
von komplettem, entzündlichen Verschluß desselben und
auf jene Fälle, wo man aus dem wiederholten Hervorwürgen
Idutigeitriger Massen den Durchbruch eines periösophage- '
alen Abszesses erschließen muß.
Welche Direktiven aber bestimmen unser therapeuti¬
sches Handeln, wenn wir nicht zur Frühgastrostomie ge¬
zwungen waren ?
Für die wichtigste Indikation halten wir die Ver¬
hütung der Strikturbildung.
Dem Vorschlag Gersunys, bald. nach der Verätzung
ein weiches Schlundrohr einzuführen, steht eine Reihe von
Bedenken entgegen. Erstlich müßte das Rohr ja viele Wochen
li(^gen bleiben. Damit aber ist vor allem jene Gefahr ver¬
bunden, welche jeder langandauernde,, elastische Druck mit
sich bringt: Dekubitus sowohl im Oesophagus als auch
insbesondere am Kehlkopfeingang, infolge des Dekuhitus
Blutungen, Verschwärungen, dahei die permanente Sekret-
retcMition mit all ihren Gefahren (periösophageale Phleg-
mune etc.) und der unausbleibliche Schmerz. So bleibt
denn nur die methodisch geül)l(‘ intermittierende Bou-
gi(U'ung.
Sowohl der Internist Kraus als auch der Chirurg
V. Hacker stiminen darin überein, daß man vorAblaufvon
dr(M bis vier AVochen Sondierungen unterlasscni soll. Freilich
gibt ('S auch leichtere Fälle — und einige* uns(‘ier Kranken-
gi*schichl(‘n werden dies erweisen — wo auch ohne Schaden
füi‘ den Kranken früher mit der Bougierung hegonnen
werden kann.
Das frühzeitige Einsetzen der Bougierungshehandlung
hat den großen Vorteil, daß man mit dicken, weichen
Sonden arheiten kann, mit denen kaum jemals ein Unheil
angerichtet zu werden vermag und daß man — genügend
lange Fortsetzung und konsequente Durchfühianig der
Sondenkur vorausgesetzt — nicht nur in der Lage ist, die
Spätstriktur mit allen ihren Gefahren zu vermeiden, sondern
auch den Patienten in sehr günstigen Ernährungs Verhält¬
nissen zu erhalten, da ja durch den gedehnten Oesophagus,
nach Abklingen des übrigens nicht immer argen Sondierungs¬
reizes, ausreichend Nahrung passieren kann.
Kommen also die Patienten — es sind fast durch¬
wegs Kinder — sehr früh nach geschehenem Unfall in
unsere Beobachtung, so beginnen wir oft schon zu Anfang
der dritten Woche mit der Sondierung, jedenfalls aber vor
Eintritt der Erecheinungen der Striktur. Wir bedienen uns
hiezu bei Kindern einer Art von Sonden, welche in einem
Mantel aus gefirnißtem Geweihe einen Kern von ineinander
verflochtenen Bleidrähten besitzen. Diese Sonden sind sehr
weich, vollkommen biegsam und wirken dabei durch ihr
hohes Gewicht stärker dilatierend, ähnlich wie die seinerzeit
von Billroth angewandten, quecksilbergefüllten Sonden.
Die Sondie^-ung wird anfangs täglich und für kürzere
Zeit, si)äter in zwei-, drei- bis siebentägigen Intervallen
und in der Dauer von einer halben Stunde und darüber
vorgenommen. Die Reizerscheinungen, namentlich aber die
Nachschnierzen scheinen hiebei äußerst geringe zu sein;
kaum daß jemals eine Klage geäußert wird, meistens aber
essen die kleinen Patienten kurz nach der Sondierung ohne
Klage. Unsere bisherigen Erfahrungen sprechen ganz ent¬
schieden für die von uns geübte Frühbehandlung, welche
jedoch regelmäßig und lange genug durchgeführt werden muß.
Fall 1. A. Sch., 3V2 Jahre alt, am 14. Oktober 1906 Ver¬
ätzung mit Lauge. 16. bis 21. Oktober Spitalsaufentlialt. Gewicht
12-3 kg. Am 2. November 1906 Bleibougie Nr. 6; am 3. November
1906 Bleibougie Nr. 10; am 7. November 1906 Bleibougie Nr. 20.
Die Bougies passieren ohne jeden Widerstand. Bougierung anfangs
dreimal, dann zweimal, seit Mitte Februgr nur einmal wöchentlich.
2. März, fßt ohne Wahl alles ohne die geringsten Schluck-
scluvierigkeiten. Gewicht 13-02 kg.
Fall 2. F. P., 2V2 Jahre alt, verätzt mit Lauge am 17. No¬
vember 1906. In Behandlung gekommen 4. Dezember 1906.
Schluckt nur Flüssigkeiten; hei großen Bissen äußert er Schmerzen,
welche in den Bauch verlegt werden, schluckt aber gut. Wiegt
12-27 kg. Bleibougie Nr. 20 passiert leicht.
Bis zum 28. Dezember ausgeblieben. Die erstgebrauchte
Bougie bleibt in der Höhe der Bifurkation stecken. Dünnere
Bougie (16) passiert leicht. 3. Januar 1907 : Nr. 23 passiert
leicht; zweimal wöchentlich bougiert.
2. März. Ißt alles ohne Anstand; wiegt 12-95 kg.
Fall 3. V. T., 3 Jahre alt, am 30. November 1906 Lauge
getrunken. ' ;
28. Dezember. Schluckt nur Suppe, Milch und in Milch
erweichte Semmel ; Bleibougie Nr. 20 passiert, zweimal wöchent¬
lich bougiert.
8. Februar. Ißt Semmel, Fleisch etc.
3. März. In letzter Zeit unregelmäßig erschienen. Nr. 20
nicht durchzubringen, Nr. 15 passiert.
In Fall 1 hatte also die Bougierung am 18., in Fäll 2
am 17. Tage nach der Verätzung eingesetzt, bei beiden
ohne jede Unzukömmlichkeit ; Fall 3, bei welchem die Bou¬
gierung erst in der vierten IVoche begonnen hatte, scheint
im allgemeinen weniger günstig zu Amrlaufen und stärkere
Neigung zur Narbensebrumpfung zu besitzen.
Nicht immer jedoch glückt es, die Fälle so zeitig in
Behandlung zu bekommen, dann stehen wir eben vor aus¬
gebildeten Strikturen aller Grade, bis zu Verengerangen,
welche kaum die alh'rfeinslen Sonden passieren lassen;
selhstverständlich, daß dann auch der Patient alle .Ab-
slufungen der Inanition aufweist.
Die Aetzstriktnren sind nicht immer ringförmig, mit-
unler nehmen sie nur einen Teil der Zirkumferenz ein,
förmliche Klappen hildend, auch sind sie in ihrer Längen-
ausdehnimg recht verschieden. Ueherdies Ireten sie — ent¬
sprechend den physiologisch(*n Engen (Bifurkalion, Kardia)
des Oesophagus meist nmltipel auf, was natürlich die
Verhältnisse für den Patienh'ii, wie für die Behandlung
noch ungünstiger geslaltel.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
319
Demi ill erster Reihe besieht die Gefahr häufigen
Steckenbleibens von Fremdkörpern, welche teils direkt, teils
durch die zu ihrer Entfernung nötigen Eingriffe, schwere
Schädigungen zu setzen vermögen. Sodann bildet die Bou¬
gierung eine hervorragende Gefahr für den Patienten, da
man ja in diesem Stadium oft gezwungen ist, mit den
feinsten und darum gefährlichsten Sonden zu beginnen. Da
fordern denn Perforationen, sei es direkt durch die Sonde,
sei es durch Fremdkörperulzerationen veranlaßt, falsche
Wege, infizierte Schleimhautrisse mit ihren Folgen, den
Periösophagealplilegmonen, reichliche Opfer. Die Per-
toratioiien führen je nach der Richtung, in welcher sie er¬
folgten, zu Pleuritis, Mediastinitis, Perikarditis, purulenter
Bronchitis, Lungengangrän. Aber selbst ohne Perforation
können schon oherflächliche, durch forcierte Dilatation er¬
zeugte Sclileimhautrisse und Epithelahschürfungen, zu töd¬
lichen Phlegmonen führen.
Und ist man all diesen Gefahren entronnen, hat man
den Patienten ohne Unfall, ohne Fieberbewegungen nach
langer mühsamer Behandlung so weit gebracht, daß eine
dicke Bougie die Kardia passiert und jede Sorte Nahrung
genommen werden kann, dann droht erst noch relativ häufig
nach Aussetzen der Behandlung die Gefahr eines Rezidives.
Relativ günstiger ist die Prognose der Behandlung hei
Kindern; erstens, weil ja doch nur die leichteren Fälle mit
dem Lehen davonkommen und zweitens, weil die Sonden¬
dilatation durch das natürlicJie Wachstum unterstützt wird.
So sehen wir uns denn oft genug gezwungen, sei es
wegen vorgeschrittener Aushungerung des Kranken, sei es
wegen der Unpassierbarkeit der Striktur die Gastrostomie
zu machen, um vorerst den Patienten aufzufüttern und dann
unter günstigeren Verhältnissen, ohne zu Eilfertigkeit ge¬
zwungen zu sein, die retrograde Bougierung ,,ohne Ende“,
sei es mit Drains, sei es mit dem Eiseis he rgschen koni¬
schen Schlauch, durchzuführen. Hier sind die Gefahren
geringer, die Resultate günstiger; die Magenfistel wird nicht
früher geschlossen, als bis der Oesophagus dauernd für die
dicksten Sonden durchgängig ist. Darüber kann aber auch
ein Jahr vergehen, wie einige auch unserer Fälle gelehrt
haben.
Angesichts dieser düsteren Perspektiven ist es nicht
zu verwundern, wenn man mit allen Mitteln danach trachtet,
der Spätbougierung mit dünnen Sonden auszuweichen.
Ein solches Mittel scheint nun tatsächlich für eine
Reihe von Fällen in dem von Hebra in die Therapie ein-
gefülirten, zuerst auf unserer Ahteilung. bei Oesophagus-
strikturen angewandten Thiosinaniin gefunden zu sein,
über dessen p]rfolge seinerzeit Teleky aus unserer Ab¬
teilung berichtete. Das Thiosinaniin, Allylsulfoharnstoff,
kristallisiert in farblosen Prismen, welche bei 74° C
schmelzen, in kaltem Wasser schwer, in heißem AVasser,
Alkohol und Aether leicht löslich sind, bitter schmecken und
einen schwach lauchartigen Geruch besitzen. Es wirkt
lymphagog, chemotaktisch und lokal jiyperämisierend. Da¬
durch wird es bei direkt lokaler Applikation befähigt, nar¬
biges Gewebe zu erweichen. Nun haben wir seinerzeit ver¬
sucht, O'h diese narbenerweichende Aktion nicht auch an
entfernten Stellen, speziell an den Oesophagusnarheu, durch
subkutane Einverleibung erzielt werden kann. Wir injizierten
(siehe Teleky, Literaturverzeichnis) von zwei bis drei Teil¬
strichen einer Pravazspritze ansteigend bis zu einer halben
bis ganzen Si)ritze (l cm'^) einer lö'^.^oigen alkoholischen
Lösung (Thiosinamin 1-5, Alcohol, dil. lO) unter die Haut
des Interskapularraumes u. zw. nie öfter, als zwei- bis
dreimal wöchentlich. Bei dieser Form der Darreichung sind
wir bis heute verblieben und hatt(m keinen Anlaß zu Ab¬
änderungen.
Die Publikation Teleky s hatte eine Reihe von Ver¬
suchen anderer Autoren zur Folg(‘, welche mit wechselndem
Krfnlgv d;is Verfahren anwandten. So bericht('l Hartz über
erfolgreiche Anwendung des Thiosinamins bei 4ächwer('r
Narbenstenose des Pylorus nnt konsekutiver Magenerweite¬
rung. Es wurden im ganzen 23 Injektionen gemacht, Patient
nahm an Gewicht zu, die Verdauung wurde vollkommen
normal. Allerdings wurden zwischendurch auch Magen¬
spülungen gemacht. Dagegen hatten Baumstark und
Strauß bei Pylorusstenosen keinen Erfolg.
Da uns jedoch eine Durchsicht der beträchtlich ange¬
schwollenen Thiosinaminliteratur allzu weit führen würde,
will ich im folgenden lediglich die Oesophagusstrikturen be¬
treffenden Publikationen berücksichtigen.
Kircz berichtet über einen 39jäbrigen Mann, wcdcher vor
nenn Jahren Lange getrunken hatte und seit zwei Jahren nicht
mehr hongiert worden war. Bei Beginn der Behandlnng hlieh
die Sonde Nr. 3 hei 39 cm, eine dickere schon hei 36 cm
stecken. Bat. bekam erst zwei Injektionen von je einer halben
Spritze 15°/oiger glyzerin-wässeriger Tmsnng, dann jeden dritten
bis vierten Tag eine ganze Spritze. Während der 26 Injektionen
umfassenden Kur wurde nicht hongierl ; nach derselben passierte
Nr. 6 und es konnten auch größere Stücke geschluckt
werden. Nach den Injektionen traten leicht hehehharc Kopf¬
schmerzen auf.
Schneider berichtet ans dem Baseler Kinderspilal : l)as
verletzte Kind war regelmäßig hougiert worden und hei seiner
Entlassung passierte Sonde Nh'. 24 den Oesophagus. Es hlieh
dann drei Monate ans der Behandlnng fort und als es wieder kam,
drang auch nicht die feinste Bougie in den Mageji. Injektion von
0-7 cm^ öToiger glyzei'in-wässeriger Lösung, nach drei Tagen
wiederholt. Am Tage nach dieser zweiten Injektion schluckt das
Kind vor dem Bougieren dicken Reisbrei, dann passiert Bougie
Nr. 9 ohne Forcieren. Von da ah jedesmal 10 enP. Nach der
siebenten Injektion passiert Nr. 28 (dVs mm) ohne Schwierig¬
keit. Gewöhnliche Kost. Am Endo der vierten Behandlungsvvoche
passiert Nr. 30 und das Kind hat 2V2 kg an Gewicht znge-
nommen. ’ ' ' L ' '
Weis sei borg hatte hei einer Langenstriklur, Avelche auch
nicht die feinste Sonde in den IMagen durchließ, ohne Erfolg
20 Thiosinamininjektionen gemacht und setzte dann die Behand¬
lung mit Fihrolysin (Doppelsalz aus Thiosinamin und salizyl-
saurem Natron allylsulfokarhamidorthoxyhenzöesaures Natron)
fort. Auch hier gelang erst nach der 39. Injektion die Durch¬
führung einer feinsten Sonde; nach der 50. Injektion konnte
Bat. alles essen. ;
Bevor ich nach dieser wohl bescheidenen Literatur¬
ausbeute daraiigehe, über unsere neuen Fälle zu berichten,
bekenne ich offen, daß wir die in jüngster Zeit von
L. P. Wolf in seiner kritischen. Würdigung der Thiosin-
amintherapie erhobenen theoretischen Bedenken auch
hatten und noch haben, daß aber jede neue günstige
Erfahrung dazu leiten muß, diese Bedenken ihrerseits
einer Revision zu unterziehen. Wir verhehlten ' uns selbst¬
verständlich ebensowenig wie Wolf, daß nicht abzu¬
sehen ist, warum das Thiosinamin gerade die Oesophagus-
narben lockern und andere (z. B. Herzschwielen, Bauch¬
narben etc.), deren Lockerung uns nicht gelegen käme, ver¬
schonen sollte, wir anerkennen auch, daß eventuell in einer
Narbe schon ein Karzinom sitzen könnte, welches so der
rechtzeitigen Operation entgehen und daß eine sonst dring¬
liche Operation eventuell über Gebühr lang zum Schaden
des Patienten hinausgeschoben werden könnte. Wir lassen
uns aber durch so naheliegende aprioristische und rein
theoretische Bedenken nicht davon abhalten, eine empirisch
bewährte Therapie in geeigneten Fällen auch weiterhin
mit aller Vorsicht in der Indikationsstelhmg anzuwenden und
mit aller Objektivität deren Wirkungen zu studieren. Selbst¬
verständlich erwarien wir wm der Thiosinamininjektion
keine aktive Plrweiterung einer bestehenden Striktur;
wohl aber wissen wir, daß das Thiosinamin imstande ist,
Narbengewebe vermöge der auch experimen (eil festgestellten
lym{)hagogen und hyperämisierenden Wirkung zu erweichen,
eine Wirkung, die es nicht nur Inn lokaler Applikation,
sondern, in den Kreislauf eingebracht, auch anf entferntes
Narbengewebe ausübt. Gelingt es uns aber durch Injektion
von Thiosinamiti eine Narbe in der Speiseröhre zu er¬
weichen, so ist damit die wichtigste anatomische Vor-
IxMlingung zur Dehnung einer bestehenden Strikt nr.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
sowohl auf physiologischem Wege durch den Diiick der
Nahrungsmittel, des geschluckten Bissens, als auf thera¬
peutischem Wege durch die Sonde gegeben. Der Zweck
der T h i 0 s i n a ni i n b e h a n d 1 u n g 1 i e g t a 1 s o i n d e r Vor¬
her e i t u n g des N a r b e n g e w e h e s für die physiolo¬
gische oder therapeutische Dehnung.
Und nun die Geschichten unserer letzten mit Thiosin-
amin behandelten Fälle.
Fall 4. K. R., fünf .Jahre alt, liat am 15. Februar 1906
Lauge getrunken; die ersten Stenosenerscheinungen tralen be¬
reits nach drei Wochen auf. Beginn der Behandlung am 12. No¬
vember 1906. Das Kind vermag nur flüssige oder breiige Nahrung
zu sich zu nehmen und hat Angst vor dem Schlucke]! von
Bissen. Bougie Nr. 16 trifft ca. 12 cm hinter der Zahnreihe auf
ein Hindernis und passiert dasselbe unter leichtem Druck, des¬
gleichen ein zweites an der Kardia.
Am Id., 16., 19. und 21. November je 0-2 cnr'^ Ih^/oigor
Alkoholthiosinaminlösung. Am 21. November hat Fat. Fleisch¬
stücke („Gulyas“) und Brot gegessen, die Angst vor dem
Schlingen ist verschwunden, so daß Pat. den ganzen Tag zu
essen verlangt.
Am 23., 26., 28. und 30. November je 2V2 Teilstr., am
2. und 5. Dezember je drei Teilstr. Es wurde während
der ganzen Zeit nicht hougiert.
12. Dezember. Revision. Sonde Nr. 17 bleibt schon an der
ej'stcn Stenose stecken, Nr. 16 passiert unter wesentlich ge¬
ringerem Widerstand. Zweite Serie von zehn Injektionen voin
14. Dezember 1906 bis 4. Januar 1907 je fünf Teilstr
Am 11. Januar 1907 passiert Nr. 18 mit einiger Schwierigkeit.
8. Februar. Nr. 18 passiert leicht.
22. Februar. Kein Anstand beim Schlucken.
Vom 13. November 1906 bis 22. Februar 1907 v/ar.
außer hei der Revision, nicht hougiert worden.
Fall 5. F. R., 5V2 Jahre alt, Verätzung (Lauge) im Juni
vorigen Jahres; drei Wochen später zum erstenmal mit Bleibougie
Nr. 5 oder Nr. 6, einige Tage später mit Nr. 10 hougiert. Seit
August englische Bougie Nr. 6 bis Nr. 10. In der Höhe von
ca. 15 cm Widerstand, der sich nach einiger Zeit hei Brech-
hewegungen löst, einige Zentimeter tiefer ein zweiter. Ißt Suppe,
Grieshrei und weiche Eier.
13., 16. und 19. November je zwei Teilstr. 15°/oiger Thiosin
aminlösung; am 19. November Strudel gegessen.
21., 23., 26., 28. und 30. November je 2V2 Teilstr. Schluckt
seit 21. November anstandslos feste Brocken; 3. und 5. Dezember
je drei Teilstr.
12. Dezember. Revision. Ißt von allen Speisen, schluckt
auch größere Bissen. Bougie Nr. 8 bleibt stecken, Nr. 6 passiert
ganz leicht. '
Zweite Serie (je fünf Teilstr.) vom 14. Dezember 1906
bis 4. Januar 1907. Am 19. Dezember war ein größeres Stück
Fleisch stecken geblieben, jerloch mit Bougie Nr. 6 leicht hinab-
gestoßen worden.
11. Januar 1907. Revision. Mit Ausnahme von Fleisch, vor
welchem Pat. seit dem letzten Unfall Angst hatte, wird alles,
auch in größeren Bissen, anstandslos gegessen.
Bougie Nr. 8 passiert mit einiger Schwierigkeit.
18. Januar 1907. Ißt alles anstandslos.
8. Februar. Kein Anstand; BoUgie Nr. 10 engagiert.
22. Februar. Ißt auch größere Stücke anstandslos.
23. Februar. Beginn einer dritten Serie von je sechs Teilstr.,
bis zum Bei'ichtstag fünf Injektionen. Köipcrge wicht ca. 1 kg
zugenommen.
Von 13. Dezember 1906 bis 4. IMärz 1907 nur ge-
1(‘ gen Hieb d (m- Revision hougiert.
Fall 6. F. W., 23 Monate alt. Zu Ostern 1905 Laugen-
verätznng, acht Wochen darauf Schlinghescdiwerden. Wurde ein
halbes Jabr hougiert. Pat. nimmt ausschließlich Milch. (Drei
Liter täglich.)
Status pi'aesons vom 19. November 1906: Körpergewicht
9600 g, Sonde Nr. 11 passiert eine Striktur in der Höhe der
Bifurkation, eine zweite an der Kardia. 21. November bis 23. No-
v('mher je zwei Teilstr., vom 26. November ab 2V2 Teilstr.
28. November. Würstel gegessen. 30. November. 5 . 7. Dezember.
Schluckt Bi’ot, Würstel. 10., 12. Dezember drei 'Feilstr. Ißt feste
Speise, schluckt Wurst ganz leicht. 14. Dezeniher. Pertussis. Wird
vorläufig entlassen.
.'\m 16. Januar 1907 passitud Nr. 11 leicht, Ni‘. 12 mit
(‘iniger Schwieiägkeit.
Zweite Serie je fünf Teilstr. 18. Januar, 5., 7., 15. und
17. Februar. Ißt Brot in größeren Stücken, desgleichen Hack¬
fleisch. 19., 21., 23., 26. Februar und 2. März. Körpergewicht
11.500 g. (Zunahme fast 2 kg.) Bougie Nr. 13 leicht. Voni
19. November 1906 bis 2. März 1907 nur bei den Revi¬
sionen hougiert.
Fall 7. E. H., 49 Jahre alt, trank vor 2V2 Jahren ver¬
sehentlich zirka einen Kaffeelöffel ,, Gichtfluid“. Gleich daraul
Bluthrechen. Innerhalb der nächsten zwei Monate entwickelten
sich Schluckheschwerden, die schließlich so weit sich steigerten,
daß Pat. sich im Januar 1904 — zweimal — bougieren ließ.
Dann nicht mehr bis Juli 1906. Am 19. November 1906 stößt
Sonde Nr. 12 knapp oberhalb der Kardia auf eine Stenose.
Erste Serie 2, 2V2, dann drei Teilstr. vom 21. November
bis 12. Dezember. Schluckt bedeutend besser, größere Bissen
bleiben jedoch noch hie und da stecken.
16. Januar 1907. Nr. 16 passiert unter geringer Schwierig¬
keit. Bougierungen nur zur Revision.
Betrachten wir mm die Geschichte dieser vier neuen
Fälle, so ergibt sich als gemeinsames Charakteristikon, daß
die Besserung des Sehlingens der objektiv durch die Sonde
nachweisbaren weit vorauseilt, eine Beobachtung, die auch
Schneider gemacht zu haben scheint.
Was aber unseren Fällen ihr ganz besonderes Gepräge
gibt, ist, daß trotzdem während der Thiosinaminbehandlung
jegliche Bougierung, mit Ausnahme der Revisionen, auf¬
gehört hatte, die Strikturen nicht nur nicht enger wurden,
sondern vielmehr — vielleicht durch die Speisebrocken etwas
gedehnt — sich bei den Revisionen für die letztverwendete
Bougie leicht, oft aber auch schon für eine stärkere Nummer
permeabel erwiesen. Wir fühlen uns demnach vollauf be¬
rechtigt, unter Festhaltnng aller Objektivität und bei fort¬
gesetzter Kontrolle unserer Patienten die Versuche mit
Thiosinaminbehandlung der Narbenstrikturen des Oeso¬
phagus fortzusetzen.
Resümieren wir unsere Ausführungen auf Grund des
Krankenmateriales kurz, so können wir für die Behandlimg
der Laugenverätzungen der Speiseröhre folgende Leitsätze
anfstellen :
1. Die Behandlung der frischen Verätzung soll mög¬
lichst bald nach Abklingen der akuten Erscheinungen —
in leichten Fällen also schon im Beginne der dritten Woche
— einsetzen. Zur Bougierung empfehlen sich die weichen,
mit Bleidraht gefüllten Bougien.
Die Behandlung ist möglichst lange fortzuseRen.
2. Die Behandlung in späten Stadien zur Beobachtung
kommender Strikturen, insbesondere solcher hohen Grades,
muß sich nach dem Ernährungszustand des Kranken richten.
Bei stark ausgehungerten Patienten oder bei Strikturen,
die nicht einmal mehr flüssige Nahiaing durchlassen, ist
einzig und allein die rasch auszuführende Gastrostomie zur
ehebaldigsten Hebung des Ernährungszustandes angezeigt. Ist
es gelungen, den Patienten aufzufüttern, dann beginnt von
der Gastrostomiefistel her die ,, Bougierung ohne Ende“. Die
Magenfistel darf erst dann zum Verschluß gebracht werden,
wenn die ungestörte Passierbarkeit des Oesophagus gesichert
erscheint.
HL Bei schwer sondierbaren, jedoch mindestens für
flüssige Nahrung durchgängigen Strikturen und wenigstens
relativ gutem Ernährungszustand ist nach unser?ui bisherigen
Erfahrungen eine Behandlung mit Thiosinamininjektioncn
(eine halbe bis eine ganze Spritze löToiger Lösung, zwei-
bis dreimal wöchentlich) zu versuchen; bleibt diese erfolg¬
los, dann ist die Anzeige für Gastrostomie und Bougierung
ohne Ende eingetreten.
IV. Nachdem durch die Thiosinaminbehandlung er¬
fahrungsgemäß nicht nur jüngere Narben erweicht, sondern
auch ältere Entzündungsherde wieder mohilisiert werden
können, so erscheint sie kontraindiziert bei Vorhandensein
frischer Operationsnarben, bei Tuberkulösen usw. Es hat
also der Ihnleitung einer Thiosinaminbehandlung stets eine
genaue Untersuchung des ganzen Körpers vorauszugehen.
Literatur;
R. Baumstark, Heber Thiosinaminwirkung bei Erkrankungen
der Verdauungsorgane. Berliner klin, Wochenschrift 1904, Nr. 24. —
Hartz, Deutsche med. Wochenschrift 1904, Nr. 8. — v. Hacker,
im Handbuch der praktischen Chirurgie, — Koenig, Deutsche Chirurgie,
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Bd. 35. — Kolisko-Hofmann, Gerichtliche Medizin. — F. Kr au s
Nothnagels Handhuch, I3d. 16, Nr. 1. — Kircz, Zoll an, Budapest!
orvosi ujsäg 1904, Nr. 24. — Karl Schneider, Thiosinamininjektionen
bei Narbenstriktur des Oesophagus. Korrespondenzblatt für Schweizer
Aerzte 1905, S. 356. — Strauß, Klinische Studien über den Magen-
saflfluß. Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 1904
Nr. 12. — Ludwig Teleky: 1. Sammelreferat im Zentralblatt für die
Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie 1901, Bd. 4, Heft 1. 2. Beiträge
zur mechanischen und medikamentösen (Thiosinamin) Behandlung der
narbigen Speiseröhrenverengungen. Wiener klin. Wochenschrift 1902,
Nr. 8. 3. Die Laugenverätzung der Speiseröhre. Zeitschrift für Heil¬
kunde 1904, Heft 3 und 6. (In vorgenannten drei Quellenangaben er¬
scheint die ältere Literatur aufgezählt.) — Weisseiberg, Münchener
med. Wochenschrift 1906, S. 1623. — L. P. W o 1 f. Das Thiosinamin
als Heilmittel. Archiv für klin. Chirurgie, Bd. 82, S. 93.
{Referate.
Studie über die rituale Beschneidung vornehmlich im
osmanischen Reiche.
Von Risa.
Aus: Sammlung klinischer Vorträge, begründet von Richard v. Yolk-
inaim. Nr. 438 (Serie XV, Heft 18, Chirurgie Nr. 123).
L e i p z i g 1906, Breitkopf und Härtel.
In der Einleitung dieser interessanten Studie bespricht der
Autor die Nachteile, die das Vorhandensein des Präputiums mit
sich bringt. Nach seinen Untersuchungen kam er zu dem Presultate,
daß bei Unheschnittenen in 82°/q die vom Präputium bedeckten
Teile Sitz des syphilitischen Schankers waren, während sich hei
Beschnittenen nur in 48*^/q die gleiche Lokalisation findet. Er
stimmt somit dem Ausspruche des französischen Chirurgen M a r t i n
hei, daß die Zirkumzision einen vorzüglichen Schutz gegen die
venerischen Krankheiten biete. Jedoch noch in anderer Hinsicht sei
die Zirkumzision von Bedeutung : durch den Mangel des Präputiums
sei die Glans weniger empfindlich und es sei deshalb beim Koitus
längere Dauer bis zur Ejakulation nötig, wodurch auch die Frau
um so eher befriedigt werde. Darum sei die Dauer des Koitus und
dadurch das Reizgefühl beim Weibe bei Beschnittenen erhöht, ein
Umstand, der nach Ansicht des Autors die Konzeption begünstigt.
Der einzige Nachteil, den die Zirkumzision bringe, sei der, daß sie
eben eine Operation ist. Hierauf folgt eine sehr interessante Dar¬
stellung der Geschichte dieser Operation, aus welcher hervorgehohen
werden möge, daß die Juden die Zirkumzision etwa uni 2000 v. Chr.
von den Aegyptern entlehnt haben u. zw. unter Abraham. Bei den
Aegyptern wurde sie mit einem Steinmesser ausgeführt. Später
haben die .Juden und dann die Mohammedaner die Zirkumzision
weiter verbreitet. Die einzelnen Völker, die die Zirkumzision üben,
werden ungeführt. Von den christlichen Völkern huldigen nur die
abessinischen Kopten der Zirkumzision.
Hierauf wird die Zirkumzision bei den Juden besprochen
nach ihrer Geschichte, der Art der Instrumente und der Zeit der
Operation. Einige mohammedanische Stämme üben die Zirkumzision
auch bei den Frauen. — Nun schildert der Autor die bei den
Türken übliche Art der Zirkumzision und gibt interessante Ab¬
bildungen von den hiezu verwendeten Instrumenten. Auch die
festlichen Gebräuche, die den Akt begleiten, werden besprochen.
Am Schlüsse schildert der Autor die Operation, wie sie nach den
heutzutage bestehenden Regeln der Kunst auszuführen ist.
*
Akute infektiöse Osteomyelitis des Unterkiefers.
Von Tli. Depeudorf, Jona.
Aus: Sammlung klinischer Vorträge, begründet von Ricli. v. Volkmnnu.
Nr. 400 (Seite 15, Heft 20, Chirurgie Nr. 125).
Der Autor stellt zunächst den Begriff der Osteomyelitis des
Unterkiefers fest und versteht unter dieser Bezeichnung die idiopathi¬
sche Osteomyelitis, die durch Infektion auf dem Wege der Blutbahn
hervorgerufen wird und die von jenen Osteomyelitiden, welche als
sekundäre Erkrankungen der Zähne auftreten, streng zu trennen ist.
Die diesbezüglichen Ansichten der Autoren werden einer Kritik
unterzogen. Seine eigenen Beohachtungen betreffen acht Fälle aus
der chirurgischen Klinik zu Jena, die in der Zeit von 1902 bis 1904
zur Behandlung kamen. Die größere Zahl der Erkrankungen fällt
in die Zeit nach dem 15. Lebensjahre. Sechs Fälle waren isolierte,
zwei metastatische Erkrankungen. Das Krankheitsbild und der
pathologisch-anatomische Befund, sowie die Folgeerscheinungen werden
32 i
eingehend besprochen, wobei noch zwei weitere Fälle eigener Be¬
obachtung von metastatischer Osteomyelitis bei bestehender ander¬
weitiger Osteomyelitis mitgcteilt werden. Die Frage nach den Er¬
regern der Krankheit wird diskutiert, doch sind in den einzelnen
Fällen bakteriologische Untersuchungen nicht mitgeteilt und so
basieren die Schlußfolgerungen D ep en d o r f s nur auf theoretischen
Erwägungen. — Die Disposition des Unterkiefers zur Erkrankung
durch Infektion auf dem Wege der Blutbahn wird auf Grund der
anatomischen und der Wachstumsverhältnisse desselben erklärt und
in Analogie mit der Osteomyelitis der Röhrenknochen gebracht. Die
Ursache, daß die Affektionen des Kiefermarkes im Kieferkörper so
selten umschrieben bleiben, liege in der Eigenart des anatomischen
Baues des Unterkiefers, der im Kieferkörper einen Röhrenknochen,
im Kieferwinkel und im aufsteigenden Aste einen spongiösen Knochen
darstellt. Bei der weiteren Verbreitung spielt der Canalis mandibularis
eine wesentliche Rolle. Die Prognose war in allen seinen Fällen
eine günstige. Die Therapie besteht in einem rechtzeitigen, aus¬
giebigen operativen Eingriff. Die Abstoßung des Sequesters ist ab¬
zuwarten. Im übrigen ist die Therapie die gleiche, wie bei der
Osteomyelitis der langen Röhrenknochen.
*
Die Lehre von den ischämischen Muskellähmungen und
Kontrakturen.
Von 0. Hildebrand, Berlin.
Aus: Sammlung klinischer Vorträge, begründet von Rieh. v. Volbmann.
Nr. 437 (Serie XV, Heft 17, Chirurgie 122).
Der Verfasser sucht seine im Jahre 1903 und 1905 geäußerte
Ueberzeugung, daß bei den sogenannten ischämischen Muskel¬
lähmungen und Kontrakturen die Nerven zweifellos auch beteiligt
seien und ein Teil des Krankheitsbildes durch deren Veränderungen
bedingt sei, durch folgende Ausführungen zu stützen. Zunächst
weist er nach, daß es sich vorwiegend um zwei Typen von Ver¬
letzungen handle, die einerseits in der Gegend des Ellbogengelenks,
anderseits im Bereiche des Vorderarmes liegen; meist seien es
Frakturen. Es folgt nun die Kasuistik aus der Literatur. Die bei
derlei Frakturen durch Verletzung der Gefäße oder durch Kom¬
pression derselben bedingte Zirkulationsstörung sei gewiß auch von
Einfluß auf die Nerven selbst. Ferner komme in Betracht, daß mit
der Arterienverletzung gleichzeitig eine Nervenverletzung stattfinde,
woraus sich auch die Tatsache erkläre, daß die Beugemuskeln viel
stärker beteiligt sind als die Streckmuskeln. Für jene Fälle, die
einfache Radiusfrakturen betreffen, sei als Ursache wohl der kom¬
primierende Verband heranzuziehen, doch sei neben der primären
Muskelveränderung auch die Drucklähmung der Nerven von Wichtig¬
keit. Die für die Klärung der Frage einschlägigen Experimente
werden mitgeteilt und über die Resultate eigener Versuche be¬
richtet, wobei jedoch keine der ischämischen Kontraktur ähnlichen
Zustände erzielt wurden. In Hinsicht auf die hochgradigen Ver¬
änderungen, die sich in den Nerven bei ischämischer Kontraktur
vorfinden, versuchte Autor durch Lösung der Nerven und Ver¬
lagerung derselben den Zustand zu bessern. Er hat im ganzen vier
Fälle so operativ behandelt, davon einen geheilt und zwei gebessert.
Von einem möglichst frühzeitigen Eingriff erhofft er sich ein viel
besseres Resultat.
*
Die Operation der Nasenrachentumoren mittels peroraler
Intubation.
Von Dr. Franz Kulm, dirigierendem Arzt.
Aus der Berliner Klinik, begründet von Dr. Richard Rosen.
18. Jahrgang, November 1906, Heft 221.
Die bei der Entfernung größerer Geschwülste des Nasenrachen¬
raumes geübten Methoden werden eingeteilt in nasale, faziale und
bukkale Methoden. Alle drei Gruppen werden in Kürze besprochen
und sodann nach der Zugänglichkeit, nach dem Grade der Ver¬
letzung und nach der Gefährlichkeit des Eingriffes kritisiert. Nach
den Erfahrungen des Autors gebühre den bukkalen Methoden vor
allen anderen der Vorzug, wobei die perorale Intubation in ausge¬
zeichneter Weise unterstütze. Die Vorzüge derselben werden nun
eingehend erörtert. Sodann folgt eine Beschreibung der Technik der
Intubation. Die Aufzählung einer Reihe von Fällen, die der Autor
teils allein, teils mit anderen Chirurgen operiert hat, geben einen
praktischen Beleg für die Vorteile seines Verfahrens.
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
Erfahrungen über Cholezystektomie und Cholezysten-
terostomie nach 286 Gallenstein-Laparotomien.
Zugleich ein Beitrag zur normalen und pathologischen Anatomie
der Gallenwege.
Mit einem vollständigen Verzeichnis der Literatur seit Langenbuch 1897.
Von Dr. A. von Bardeleben, Sanitätsrat, Chefarzt des Augusta-Hospitalcs
zu Bochum.
Mit einer Tafel.
.Ten a 1906. Verlag von Gustav Fischer.
ln der Einleitung stellt der Verlässer seine liKÜkaliojien zum
oper.diven Eingriff bei der Cholelithiasis fest. Er verfügt über
286 Fälle von Operationen mit 15 Todesfällen. Seiner Meinung nach
bedingt die Anwesenheit von Gallensteinen allein nicht deren
Entfernung.
Die Anatomie und Physiologie der Gallenblas(' und der großen
Gallenwege, die pathologische Anatomie und Entwicklungsgeschicble
wei’den in 38 Seiten besprochen. Ein ausführliches Literaturver¬
zeichnis von 4Y2 Seiten beschließt diesen Abschnitt.
Der nun folgende Teil (6V2 Seiten) beschäftigt sich mit der
Gholezystektomie, die der Autor in 166 Fällen u. zw. nur in
2 Fällen mit Hepatikusdrainage ausführte; 5 Fälle starben. Die
Technik der Operation wird genau beschrieben. Ein ganz kurzer,
historischer Rückblick beschließt dieses Kapitel. Der letzte Ab¬
schnitt handelt von Cholezystenteroslomie, die der Autor 25mal
ausführte u. zw. mit 3 Todesfällen ; in letzteren handelt es sich um
bösartige Hindernisse im Bereiche der abführenden Gallenwege.
Er gibt bei sein' schwierigen Fällen von Choledochusstein der
Cholezystenterostomie vor der schwieriger auszuführenden Chole-
dochotomie den Vorzug. Aach seiner Meinung bietet die Gallen-
blaseudarmßstel keine Gefahr für eine Infektion der Gallenwege oder
der Leber.
Den Schluß dieses Kapitels und zugleich der ganzen Arbeit
bildet ein ausführliches Litera lurvoj'zeichnis, worin die besonders
interessanten Abhandlungen kiu'z referiert sind.
*
Stereoskopbilder zur Lehre von den Hernien.
Von Prof. E. EiideiTeii (Basel) und Prof. E. Glaser (Marburg).
Jena 1906, Verlag von Gustav Fischer.
Die Autoren haben in dem vorliegenden Atlas den Versuch
unternommen, eine stereoskopische Darstellung der anatomischen
Verhältnisse der Hernien zu geben. Er enthält im ganzen 72 Stereo¬
skopbilder, die in einem Einschiebealbum derart untergebracht sind,
daß jedes einzelne Bild be(iuem entfernt und in einen stereoskopi¬
schen Handapparat bequem eingeschoben werden kann. Der Atlas
gliedert sich in folgende Kapitel ; 1. Descensus testiculorum. 2. Topo¬
graphie der Regio inguinalis. 3. Aeußere Leistenbrüche. 4. Innere
Leistenbrüche. 5. Topographie der Regio subinguinalis. 6. Schenkel¬
brüche. 7. Topographie der Regio obturatoria. 8. Obturatorenbrüche.
9. Topographie der Regio lumbalis mit Beziehung zum Lumbalbruch.
10. Topographie der Regio glutaea. II. Einige interessante Fälle
mehrfacher Hernien bei ein und demselben Individuum. 12. Die
peritonealen Recessus. 13. Einige Fälle innerer Brüche. — Die
einzelnen Bilder sind photographische Aufnahmen nach anatomischen
Präparaten und zum größten Teil im Photographieton mit Hoch¬
glanz gehalten. Nur bei jenen Bildern, bei welchen wichtige topo¬
graphische Beziehungen es erheischen, wurde eine farbige Darstellung
der Nerven und Gefäße in der in der Anatomie üblichen Weise
gewählt. Jedes Kapitel enthält eine die Bilder beschreibende Ein¬
leitung; außerdem ist jedem Bilde eine nebenstehende Skizze bei-
gefügl, die eine rasche Orientierung im Bilde ermöglicht. Was die
(Qualität der einzelnen Bilder anbelangt, so ist dieselbe als eine
ganz vorzügliche zu bezeichnen. Jedoch erst die stereoskopische
Betrachtung, welche die Bilder in getreue, plastische Kopien der
Natur umwandelt, läßt iliren ganzen Wert erkennen und macht den
Atlas zu einem hervoi-ragenden Studienmiltei für Lehrer und Schüler.
*
Akute infektiöse Osteomyelitis des Oberkiefers.
Von Tli. Bepeiidorf (Jena).
Aus: Sammlung klinischer Vorträge, begründet von Richard von Volk-
inaiui. (Nr. 442 Serie XV, Heft 22, Chirurgie Nr. 126).
Dieser Vortrag ist eine Fortsetzung der Darstellungen des
Autors über die akute Osteomyelitis des Unterkiefers. Er bespricht
zunächst die bei Kindern auftretende Form der Osteomyelitis des
Oberkiefers nach Exanthemen und trennt diese Formen strenge von
der idiopathischen Osteomyelitis; zwei einschlägige Fälle aus der
Literatur werden mitgeteilt und kritisch besprochen. Der Verfasser
hebt hervor, daß beim Oberkiefer die Gefahr der direkten Infektion
von zwei Seiten bestehe, nämlich vom Alveolarfortsatz und von der
Highmorshöhle ; damit werde die Frequenz der Diagnose der akuten
Osteomyelitis des Oberkiefers gegen die des Unterkiefers um die
Hälfte eingeschränkt. Beim Säuglinge sei jedoch noch ein dritter
Weg der Infektion durch die große Reihe der Epithelperlen gegeben.
Die Schwierigkeit der Differentialdiagnose zwischen idiopathischer
und fortgeleitetcr Osteomyelitis des Oberkiefers wird besprochen und
durch Beispiele aus der Jiteratur illustriert. Im Anschluß an die
anatomische Betrachtung des Baues des Oberkiefers werden zwei
Eälle eigener Beobachtung idiopathischer Osteomyelitis mitgeteilt,
deren einer ein zweijähriges Kind, der andere einen fünfzigjährigen
Mann betraf. Beide Fälle wurden in der chirurgischen Klinik in
Jena beobachtet.
*
Die Technik der Extensionsverbände bei der Behandlung
der Frakturen und Luxationen der Extremitäten.
Von Geh. Medizinalrat Dr. B. Bardculieuer, Professor der Chirurgie
und Stabsarzt Dr. G. Graeßner, Dozent der Chirurgie. Beide an der
Akademie für praktische Medizin in Köln.
Dritte, vollständig umgearbeitete Auflage.
Mit 1 Tafel und 70 Textabbildungen.
Stuttgart 1907. Verlag von Ferdinand Enke.
Der Umstand, daß bereits nach Jahresfrist eine neue Auflage
dieses Büchleins notwendig wurde, beweist, welchen Anklang es bei
den Aerzten gefunden. Die Autoren waren bestrebt, das Werk ent¬
sprechend ihren auf diesem Gebiete gemachten Erfahrungen wesent¬
lich zu verbessern. Die Zahl der Zeichnungen ist bedeutend ver¬
mehrt und viele Kapitel in umgearlieiteter Form erschienen.
*
Beitrag zum Studium der Behandlung der Hüftgelenks¬
tuberkulose im Kindesalter.
Von Clir. M. E. Siudiiig-Larseii, Oberarzt am Küslenhospital bei
Frederikväru.
Souderabdruck aus Nordiskt Medicinskt Arkiv.
Der Arbeit liegt das Material von 100 Koxitiskranken, die
der Verfasser im Küstenhospital bei Frederiksväru behandelte, zu¬
grunde. Das erste Kapitel bringt einen historischen Ueberblick Uber
die Koxitisbehandlung und bespricht den . gegenwärtigen Standpunkt
der Chirurgen gegenüber der operativen und der konservativen Be¬
handlung. Es zeigt, wie in dieser Frage noch lange keine Einigung
erzielt wurde und hebt hervor, daß namentlich auch das Röntgen¬
verfahren die Wandlungen in der Therapie wesentlich beeinflußt
habe. Das zweite Kapitel handelt von den Aufgaben und Aussichten
der Koxitistherapie, indem es zunächst die Störungen der Gelenks¬
funktion und dann den Einfluß der Krankheit auf den Allgemein¬
zustand des Kranken erwägt. Im dritten Kapitel werden die
pathologisch-anatomische Diagnose und speziell die Röntgenunter¬
suchung einer eingehenden Besprechung gewürdigt. Auf die Technik
der Aufnahme und auf die Deutung des Röntgenbefundes wird in
extenso eingegangen. Sein eigenes Material und dessen Therapie
bespricht der Autor im vierten und fünften Kapitel. Die Symptome
der Krankheit und die Behandlungsmethoden ' werden ausführlich
mitgeteilt. Die Behandlung des Autors war zum Teil eine konservative
(Gipsverband, nur das kranke Bein umfassend, mit Einbeziehung
des Kniegelenks von dessen Fixation Autor keinen Schaden sah).
Bei bestehenden Abszessen zieht er die Punktion und Injektion von
Jodoformglyzerin allen anderen Methoden vor. Er erzielte bei
22 Abszessen unter 44 durch dieses Verfahren Heilung. Die kon¬
servative Behandlung wurde auf 99 Fälle angewendet, von denen
später 29 reseziert wurden. Beckenresektionen hat der Verfasser
nicht aasgeführt. Bei der Resektion bediente er sich der gewöhn¬
lichen Resektionsschnitte, mit welchen er vollständig auslangte. Bei
der Resektion verfolgte er das Ziel, alles Kraidce zu entfernen und
alles übrige möglichst zu erhalten. In zwei Fällen führte er di(s
Exartikulation aus. Das sechste Kapitel teilt die Resultate der
Behandlung mit, im siebenten wird die Statistik des Autors mit
anderen Statistiken verglichen und kritisiert. Er erzielte 77'5Yo
Heilungen. Obwohl die Behandlung des Autors eine vorwiegend
konservative war, so spricht er sich doch in S(hi<Mi Konklusionen
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
32B
im SchluJikapitel vielfach günstig für die operative Behandlung aus,
und prophezeit ihr in der Zukunft allgemeinere Anwendung, allei-
dings mit der Einschränkung, daß man auch hier nicht wieder ins
Extreme geraten dürfe. Die Arbeit enthält außerdem mohrei-e
Köntgentafeln und Skizzen von Röntgenaufnalmien ; im Anhänge
werden die Krankengeschicliton gebracht. — Die Arbeit zeichnet
sich durch Gründlichkeit und gute Darstellung aus und entwickelt
in anschaulicher Weise ein Bild des gegenwärtigen Standes in der
Koxitisbehandlung.
*
Nierenchirurgie, ein Handbuch für Praktiker.
Von Prof. Dr. C. Gane, Geh. Medizinalrat, Direktor der chirurgischen
Klinik der .Universität in Breslau, und Dr. 0. Ehrhardt, Privatdozenl
für Chirurgie an der Universität in Königsberg in Preußen.
Mit 90 Abbildungen.
Berlin 1907, Verlag von S. Karger, Karlstraße 15.
Das hauptsächlich für Praktiker bestimmte Handbuch enthält
eine möglichst kurzgefaßte Darstellung der Nierenchirurgie. Bei der
Bearbeitung des Stoffes waren für die Autoren hauptsächlich
ihre eigenen Erfahrungen auf dem Gebiete der Nierenchirurgie ma߬
gebend, wodurch das Buch ein mehr subjektives Gepräge erhält.
Jedem einzelnen Kapitel ist ein Literaturverzeichnis angefügt, worin
die wichtigsten einschlägigen Arbeiten zitiert sind ; auf Vollständigkeit
der Angaben verzichten die Autoren seihst. , Der didaktische Wert
des Werkes wird durch in den Text eingeschaltete, sehr gut gewählte
Illustrationen erhöht, die sich durch prachtvolle Plastik und feine
Ausführung auszeichnen ; der geringe Umfang des Buches und seine
präzise Ausdrucksweise sind ein weiterer Grund, es dem Praktiker
bestens zu empfehlen.
*
Die allgemeine Lehre von den Frakturen und Luxationen
mit besonderer Berücksichtigung des Extensions¬
verfahrens.
Von Geh. Medizinalrat Dr. B. Bardeiiheuer, Professor der Chirurgie an
der Akademie für praktische Medizin in Köln.
Mit 11 Tafeln und 39 Textabbildungen.
Stuttgart 1907, Verlag von Ferdinand Enke.
Dieses, v. Bergmann zum 70. Geburtstage gewidmete Buch
basiert auf der 25jährigen Erfahrung des auf dem Gebiete der
Extensionsbehandlung der Frakturen und Luxationen äo verdienst¬
vollen Verfassers. Es gibt eine ausführliche Pathologie und Klinik
der genannten Verletzungen mit Rücksicht auf die Verletzungen
selbst und deren Folgezustände. Die gesamten Behandlungsmethoden
werden genau besprochen und ihre Resultate mit denen der
Extensionsbehandlung in Vergleich gezogen. 1 1 Röntgen tafeln
demonstrieren verschiedene Fälle von Frakturen und das durch die
Extensionsbehandlung erzielte Resultat quoad Stellung der Fragmente.
Das vortreffliche Buch wird bei der großen Bedeutung der Extensions¬
behandlung allen Fachgenossen eine erwünschte Erscheinung auf
diesem Gebiete sein und so auch das Bestreben des Autors erfüllen,
die Extensionsbehandlung zum Gemeingut der praktischen Aerzte zu
machen.
*
Die Chirurgie des praktischen Arztes mit Einschluß
der Augen-, Ohren- und Zahnkrankheiten
bearbeitet von Prof Dr. A. F r ae n k e 1 in Wien, Geh. Med. -Rat Professor
Dr. K. Garre in Breslau, Prof. Dr. H. H ä c k e 1 in Stettin, Professor
Dr. C. H e ß in Würzburg, Geh. Med. -Rat Prof. Dr. F. König (Berlin)
in Jena, Prof. Dr. W. K ü m m e 1 in Heidelberg, I. Oberarzt Doktor
H. Kümmel 1 in Hamburg-Eppendorf, Prof. Dr. G. Ledder hose in
Straßburg i. E. Prof. Dr. E. L e s e r in Halle a. S., Prof. Dr. W. Müller
in Rostock in Mecklenburg, Prof. Dr. J. Sc he ff in Wien, Prof. Doktor
0. Ti 11 mann in Köln.
I. und II. Hälfte. Mit 75 und 96 Abbildungen.
Bogen 1—24 und 25—59. Preis M. 8 und 12.
Stuttgart. Verlag von Ferdinand Enke.
Dieses als Ergänzuugsband zum Handbuch der prak¬
tischen Medizin gedachte Werk liegt nun in Gänze vor. Die
Namen der Bearbeiter der einzelnen Kapitel dürften genügen,
das Werk zu empfehlen. In möglichst gedrängter Kürze und da¬
bei doch umfassend ist alles, was für den praktischen Arzt zur
Beurteilung und Behandlung der chirurgischen Krankheiten er¬
forderlich ist, zusammenge tragen und in instruktiver und leicht
faßlicher Weise dargestellt. Vorzügliche Abbildungen beleben den
Inhalt des Buches und Literaturverzeichnisse arn Schlüsse eines
jeden Kapitels ermöglichen dem Leser in den einschlägigen Werken
rasche Orientierung. Füi' die Fachhibliof hek des praktischen Arztes
kann dieses Werk bestens empfohlen vveiihm.
Pupovac.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
130. (Aus der Innsbrucker chirurgischen Klinik.) l.iokaU',
subkutane und subduralc S e r um ap p 1 i ka ti o n h(.>i Te-
t a n u s, n e b s t Be m e r k u n g e n über T e t a n u s p r o p h y 1 a x e.
Von Suter. Verf. teilt drei Fälle von klinisch einwandfreiem
und bakteriologisch festgestelltem Tetanus mit, die durch Serum¬
therapie geheilt wurden. Das Tetanusserum kann man in drei
Formen anwenden; lokal, subkutan und subdural, ln der Inns¬
brucker Klinik wurden alle drei Anwendungsformen gleichzeitig
zur Behandlung der Kranken herangezogen u. zw. in folgeufler
Form: Die Kranken bekommen sofort 100 A.-E. subkutan und
durch Lumbalpunktion 20 A.-E. subdural injiziert, während in
die Wunde ein mit flüssigem Antitoxiii imhihiertor Tampon ge¬
legt wird. Damit das Serum möglichst in der Wunde bleibe, wird
über dem Tampon ein Stückchen Billroth-Battist gelegt. So¬
lange keine Besserung des Tetanus eintritt, werden die subkutanen
Injektionen täglich, die subduralen Injektionen jeden zweiten Tag
wiederholt, der Tampon täglich gewechselt. Tritt Besserung ein,
so werden zunächst die subduralen Injektionen sistiert, später
wird die Dosis der subkutanen Injektion auf 60 A.-E., dann auf
40 und 20 A.-E. herabgesetzt, schließlich auch diese jmr mehr
jeden zweiten oder dritten Tag gegeben. Die lokale Behandlung
wird täglich solange fortgesetzt, bis entweder die Wunde geheilt
ist oder sämtliche Tetanussymptome geschwunden sind. Mäßige
Dosen von Narkotika sind zur Unterstützung der Therapie an¬
gezeigt. Was speziell die lokale Applikation von Serum hei Te¬
tanus anbelangt, so scheint diese Suter in jedem Falle zur An¬
nahme berechtigt zu sein, damit dem in der Wunde vorhandenen
Antitoxin die Möglichkeit gegeben ist, auf demselben Wege in den
Organismus vorzudringen, welchen die Toxine eingeschlagen haben.
Der konstanten Inundalion kann bis zu einem gewissen Grade
wohl die Wirkung einer subkutanen und vielleicht auch einer
endoneuralen Injektion zugedacht Averden. Was die xAbtragung
von Extremitäten oder einzelnen Gliedern derselben anbelangt,
so ist der Stand])unkt Suters folgender: Sind es Finger oder
Zehen, deren Entfernung später keine wesentlichen Funktions¬
störungen macht, so wird sofort radikal vorgegangen und enu-
kleiert, sobald die ersten Zeichen von Tetanus auftreten. Han¬
delt es sich um ganze Extremitäten, so ist konservativ vorzu¬
gehen, wenn Aussicht vorhanden ist, daß sie wieder gebrauchs¬
fähig Averden. Von dem Vierte prophylaktischer Seruminjektionen
hält Suter auf (.Irund seiner eigenen und der in der Literatur
niedergelegten Erfahrung nicht viel. — (Beiträge zur klinischen
Chirurgie, Bd. 52, H. 3.) E. V.
*
131. Aus dem chirurg. Stadtlazarett zu Danzig. Ueber
Niereneiterungen in der Schwangerschaft. Von Pro¬
fessor Dr. Barth, Oberarzt des chirurgischen Stadllazaretls.
Verf. berichtet über drei Fälle von Niereneiterungen in der
Schwangerschaft. Der erste Fall ■ — der als Typus dieser Er¬
krankung gelten kann — betraf eine 24jährige Frau, die im
sechsten Monat gravid, im Juli 1901 mit akut hohem Fieber,
sowie Schmerzen in der rechten Nierengegend (vier Wochen
trotz interner Behandlung andauernd) zur Beobachtung kam. Die
zystoskopische Untersuchung ergab bei normaler Blase Enveiß,
Eiterzellen und stäbchenförmige Bakterien in dem sauren Harn.
Am 24. Juli wird durch die Nephrotomie das rechte Nieren¬
becken eröffnet und mehrere Löffel voll eitrig getrübten Harnes
entleert; NierengeAvehe normal. Tamponade. Die Schmerzen hör¬
ten sofort auf, die Temperatur fiel ab und Pat. konnte nach
drei Wochen mit einer Harnfiistel, ansonsten aber bescliAverde-
frei, entlassen Averden. Letztere schloß sich nach der rechtzeitig
im September erfolgten Entbindung eines gesunden Kindes von
selbst. Im Oktober 1902 erkrankte Pat., im fünften Monat schAAAan-
ger, unter ähnlichen Erscheinungen. Abermals Nephrotomie (in
der alten Narbe), wobei wieder eitriger Harn ans dem Nieren¬
becken entleert wurde. Nach drei Woclien Entlassung i.ii besten
WlEiXER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
Hefiiulen, wieder mit einer Harnfistel, die sich nach der im
.Tanuar 1903 normal erfolgten Geburt von selbst schloß. Dann
fortdauernd klarer Harn. Im Oktober 1903 wurde bei abermaliger
tiravidität und älmlicben Beschwerden von gynäkologischer Seite
künstlicher Abortus eingeleitet. Seitdem abortierte die Frau spon¬
tan noch dreimal,' ohne daß NierenbescliAverden aufget.reten waren.
Eine Nachuntersiicbung im Oktober 1905 ergab völlig klaren,
eiweißfreien und bakteriologisch sterilen Urin, ln einem zweiten
Falle wurde bei doppelseitiger Pyelonephritis bei einer 28jährigen
Frau, im sechsten Monat gravid, durch die künstliche Früh¬
geburt (4. September 1904) eine Besserung erzielt. Ein Jahr
später mußte Avegen ähnlicher Erscheinungen — der Harn¬
leiterkatheterismus hatte iin Harn beider Nieren Kokken und
Bacterium coli ergehen — die Nephrotomie ausgeführt Averden,
Avobei 100 enU Eiter aus dem rechten Nierenbecken entfernt
Avurden. Seitdem ist Pät. bis jetzt gesund. In einem dritten
Falle — 30jährige Frau (vorher zwei normale Graviditäten), im
fünften Monat schwanger — Avurde bei bestehender Pyurie,, Druck¬
empfindlichkeit in der rechten Niere,' Fieber und endokarditi-
schen Symptomen der Harnleiterkatheterismus ausgeführt, der
aus dem rechten Nierenbecken dickeitrigen Urin mit Bacterium
coli in Reinkultur ergab ; nachher setzten Wehen ein und in
zAvölf Stunden erfolgte die Frühgeburt. Abfall der Temperatur;
das Geräusch am Herzen sclnvand, der Urin wurde klarer und
Pat. Avurde nach vier AVochen geheilt entlassen. Es handelte sich
in allen Fällen — auch bei den meisten in der Literatur ge¬
sammelten (Opitz stellte 69 Fälle zusammen) — 'um die
rechte Niere. Ohne ZAveifel sind für diese Niereneiterungen
Abfluß hind ernisse in den Harnleitern hei Anwesenheit
von Bakterien als Ursache anzunehmen. Hiefür spricht; daß
meist die rechte Niere der Sitz der Erkrankung ist. Der rechte
Harnleiter bildet an der Kreuzungsstelle der Iliaka einen Winkel,
der angeblich Amm Avachsenden Uterus leichter gedrückt und
mehr seitlich verschoben AAÜrd, Avodurch der Knickungswinkel
vermehrt Averde. Verf. ist mit Opitz der Meinung, daß schon
die SchAvellung des Ureters Avährend der Schwangerschaft ge¬
nügt, um ein relatives Hindernis, besonders des rechten Ureters
am KreuzungsAvinkel herbeizuführen, da ja die Harnleiter an
der Hyperämie der Beckenorgane Amm Beginne der Gravidität
an teilnehmen; dies mache es auch verständlich, daß, obgleich
die Mehrzahl dieser Niereneiterungen in die Mitte der SchAvanger-
schaft fallen, auch zu Beginn, im zAveiten Monat die Erkrankung,
einsetzen könne. Für das Abflußhindernis im Ureter spricht auch
die übereinstinnnende Beobachtung, daß nach der Entleerung des
Uterus die Eiterretention im Nierenbecken schnell aufhört; be¬
sonders charakteristisch erscheint aber die zweimalige Beobach¬
tung (Verf.) einer Nierenfistel nach der Nephrotomie Avährend
der SchAvangerschaftsdauer, die sich nach der Entbindung so¬
fort von selbst schloß. Fast immer handelt es sich um eine
Bacterium coli -Infektion; das erklärt auch den relativ
gutartigen Verlauf. Das Bacterimn coli — bekanntlich ein häu¬
figer Befund bei Niereneiterungen — schmarotzt häufig, ohne
eine andere Erscheinung als das der Bakteriurie zu bieten, harm¬
los an der Oberfläche der Schleimhäute der HarnAvege; erst
Avenn es zur Stauung des infizierten Harnes kommt, Toxine sich
aufspeichern rmd zur Resorption gelangen, tritt die Infektion
klinisch in die Erscheinung. Für die Art und Weise der In¬
fektion bleibt A'orläufig die Annahme auf dem Wege der Blut¬
bahn die allein Amrständliche Erklärung. Da das Bacterium coli
— einmal in die oberen HarnAvege gelangt — nicht so bald ver¬
schwindet, ist das häufige Rezidiv bei Aviederholter Schwanger¬
schaft leicht hieraus zu erklären. Mschinfektionen von Bac¬
terium coli und Eiterkokken — Avie dies für den zAveiten mit¬
geteilten Fall nachgeAviesen Avurde — sind selten und zeichnen
sich gegen die reine Kolipyelitis durch einen protrahierten, viel
schAvereren Verlauf aus. In therapeutischer Hinsicht Averdc,
Avenn die interne Behandlung, einschließlich der Lagerung der
Kranken auf die gesunde Seite zur Entlastung des Harnleiters',
nicht zum Ziele führt., von den Gynäkologen die unblutigen
iMethoden, künstliche Frühgeburt, neuerdings der Harnleiter¬
katheterismus, empfohlen. Erstere beseitigt ZAvar die Gefahren
für das Leben der Mutter (in der Literatur ist unter elf künst¬
lichen Frühgeburten kein Todesfall verzeichnet), nimmt aber auf
das Leben des Kindes keine Rücksicht. Der Harnleiterkathe-
terismus hat nach Verf., da das relative Hindernis nicht im
Nierenbecken, sondern am KnickungsAvinkel sitzt, somit durch
die Sondierung nur vorübergehend beeinflußt Averden kann, ge¬
ringe Aussichten, eine Heilung herbeizuführen. Außerdem kajin,
Avie dies für den dntten mitgeteilten Fall anzunehmen ist, der
Ureterenkatheterismus in dem Sinne, daß krampfhafte Kontrak¬
tionen des Harnleiters reflektorische Kontraklionen de,s Uterus
auslösen, zur Frühgeburt führen, Avenn dies auch nicht immer
sein muß. Da Nierenoperationen Avährend der ScliAvangerschaft
ausgezeichnet vertragen und nur ausnabmsAveise zum Abortus
führen (in- der Literatur in 17 Fällen nur einmal u. zav. zwei
Monate nach der Nephrotomie), so tritt Verf. — selbstverständlich
nur in schAveren, Gesundheit und Leben bedrohenden Fällen —
in überzeugender Weise für die Nephrotomie bei ScliAvanger-
schaftspyelitis ein, die auch das kindliche Leben am meisten
von allen Verfahren berücksichtigt; sie ist bei der relativen
Ungefährlichkeit für die Mutter um so mehr indiziert,' als in
der Hälfte der Fälle von SchAvangerschaftspyelitis der Abortus
eintrat. Von 53 Fällen trugen nach Opitz nur 20 aus, 23 abor¬
tierten, bei 10 Avurde die künstliche Frühgeburt eingeleitet. —
(Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1906, Bd. 85. — Festschrift
für V. Bergmann.) F. H.
*
132. (Aus der Tübinger Klinik.) Ueber die Behand¬
lung der a p p e n d i z i ti s ch e n Abszesse. Von v. Brunn.
In einer sehr ausführlichen Arbeit legt ac Brunn den Stand¬
punkt klar, den die Tübiixger Klinik in Iler Behandlung appen-
dizitischer Abszesse einnimmt. Jede Appendizitisoperation, bei
Avelcher der Appendix nicht gefunden Avurde, bezeichnet v. Brunn
als unbefriedigend und uiwollkommen. Zunächst wird man nie
eher sicher sein können, keinen Abszeß übersehen zu haben,
bis man nicht die Ursache für die Eiterung, den Wurmfortsatz,
Amr sich hat; ferner ist man in allen Fällen mit appendizitischem
Abszeß, in Avelchem der Appendix nicht gefunden Avurde, ge¬
nötigt, später die Intervalloperation auszuführen und so seinen
Kranken allen Gefahren einer Narkose und des Eingriffes selbst
neuerlich auszusetzen. Je frischer die Veränderungen, je jünger
der Abszeß, um so eher Avird man Aussicht haben, den Wurm¬
fortsatz zu finden, denn um so leichter ist er zu entdecken.
Man scheue sich nicht, auch bei sicher diagnostiziertem Abszeß
durch die freie Bauchhöhle durchzugehen, die Adhäsionen zu
lösen, um mit Sicherheit den Appendix zu finden. Nach der
Operation schließt v. Brunn die Bauchwunde durch eine drei¬
schichtige Naht und führt auch bei großen Abszessen nur ein
kleines Drain ein. v. Brunn vergleicht dann 71 offen und 25
mit Naht behandelte Fälle von appendizitischem Abszeß), yvobei
dann der Vergleich in jeder Beziehung zugunsten der mit Naht
behandelten Fälle ausfällt. Die radikale Behandlungsmethode hat
sich der anscheinend schonenderen, Avelche sich auf Oeffnung
und Offenhalten der Abszeßhöhle beschränkt, nicht nur als eben¬
bürtig, sondern als erheblich überlegen gezeigt. Dies gilt erstens
für die Gefährlichkeit der Operation an sich, die ^Mortalität der
radikal behandelten appendizitischen Abszesse ist eine erheblich
geringere als bei bloßen Abszeßinzisionen ; der einzige Todes¬
fall bei der radikalen Behandlungsmethode betrifft eine retro-
peritoneale Phlegmone. Ferner hat sich die radikale Behandlungs¬
methode durch das seltenere Vorkommen Amn Störungen Avährend
der Nachbehandlung beAvährt; letztere bestanden lediglich in
einigen Fadeneiterungen und in der Minderheit der Fälle in dem
Offenbleiben des Drainkanales in Gestalt einer Avenig sezernie-
renden Fistel. Kotfisteln wurden bei der radikalen Behandlungs-
Aveise nie beobachtet, Avährend sie bei inzidierten und tampo¬
nierten Abszessen nicht selten auftreten. Der dritte wesentliche
Vorzug liegt in der viel größeren Sicherheit Amr einem Rezidiv
der Appendizitis. ,,Es gelingt auch im Abszeßstadium mit A^er-
schAvindenden Ausnahmen, den Wurmfortsatz ohne allzugroß.3
Schwierigkeit aufzufinden und zu entfernen. Die zu diesem
Zwecke erforderliche Lösung der Verklebungen und VerAvach-
sungen bedingt keine größere Gefahr für das Peritoneum als tlie
einfache Abszeßspaltung und Tamponade.“ — Beiträge zur klini¬
schen Chirurgie, Bd. 52, H. 3.) E, V.
*
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 1907.
325
133. T r a 11 sp 0 r i t o n e a 1 e Freilegung der Wirbel¬
säule bei tuberkulöser Spondylitis. Von Professor Dok¬
tor W. Müller, Direktor der chirurgischen Klinik in Rostock.
Bei einer 35jährigen Frau wurde u. a. hei hhnanueller Unter¬
suchung per vaginani und per rectum in der Gegend des Pro¬
montoriums ein deutlicher, flacher, rundlicher Tumor von Hand-
tellergröße, stark druckempfindlich, von elastischer Konsistenz,
dem oherslen Sakralwirbel aufsitzend, scheinbar unbeweglich,
gefunden. Unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Anamnese
(vorwiegend Zunehmen der Kreuzschmerzen, geringe Körperab¬
nahme) wurde ein Neoplasma oder eine Zyste (EcLinokokkus ?)
oder ein Abszeß- angenommen. Das Röntgenbild gab keinen Auf¬
schluß. Wegen zunehmender Schmerzen willigt Pal. in eine
Operation ein. Laparotomie in steiler Beckenhochlagerung, wo¬
durch die Intestina tief zui'ücksinken. Unter sorgfähigem Schutze
der Bauch- und Beckenhöhle mittels Gazekompressen wird das
durch die bestehende starke Lordosenlagerung leicht zugängliche
und im Bereiche des letzten Lenden- und ersten Sakral wirhels
vorgewölhte hintere Peritoneum rechts von der Mittellinie längs
inzidiert und nach beiden Seiten abgelöst. Die Punktion durch
die ziemlich derbe Faszienperiost schiebt in der Höhe des ersten
Lendenwirbels ergibt unverkennbar tuberkulösen Abszeßeiter.
Breite Längsinzision der dicken Abszeßwand nach vorherigem
Schutze der Beckenhöhle durch provisorische Vernähung der
Peritonealschnittränder mit dem Peritoneum parietale, der Linea
innominata entsprechend. Durch Auseinanderziehen der Absze߬
wand erhält man einen überraschend guten Ueberhlick über das
erkrankte Wirbelgehiet. In der Zwischenwirbelsäule, zwischen
dem ersten Lenden- und dem ersten Sakralwirbel, befinden sich
zwei nach oben perforierende Herde. Nach Entfernung alles
tuberkulös erkrankt Scheinenden mit Meißel und scharfem Löffel
wird die Knochenhöhle mit Jodoformpulver eingepudert,' die derbe,
periostale -fasziale, yordere Abszeßiwanid exakt mit Catgut ver¬
näht, darüber das hintere Peritonealhlatt mR doppelt einstülpen¬
der Catgutnaht geschlossen. In der Nachbehandlung fehlten
peritoneale Symptome vollkommen. Heilung der Laparotomie¬
wunde p. p.; Pat. konnte nach sechs Wochen mit einem Gips¬
korsett in häusliche Pflege entlassen werden. Drei Monate post
Operationen! ist Pat. bei einer Nachuntersuchung vollkommen
beschwerdefrei. Ein scharfes Röiitgenbild läßt erkennen, daß
zwischen dem fünften Lenden- und dem ersten Kreuzwirhel kein
Spalt besteht; beide Wirbel scheinen einen Knochen mit durch¬
gehender Spongiosastruktur darzustellen. Obwohl Verf., da es
sich um Tuberkulose handelt, aus der scheinbaren Ausheilung
ein Rezidiv nicht ausschließt, das ja auch bei viel zugänglicheren
Erkrankungsherden oft eintritt, glaubt er doch, in Anhetracht
des weit klareren Einblickes in das gesamte Erkrankungsgebiet
und bei der häufigen Unzulänglichkeit des seitlichen und retro-
peritonealen Operationsweges und der hazardierenden, kon¬
servativen Methoden das geschilderte Verfahren der Nachprüfung
in ähnlichen Fällen empfehlen zu können, insbesoiiiders im Früh¬
stadium (bei geringer Ausdehnung des Abszesses) und bei dem
Sitze der Erkrankung in der unteren Lendenwirhelsäule. Als
besonderen Vorteil bezeichnet Verf. bei der Operation die durch
die Beckenhochlagerung bei überstrecktem Hüftgelenk erzielte Lor¬
dosenlagerung der Lendenwirbelsäule. Die Befürchtung einer
tuberkulösen Peritonitis bei Wiederfüllung des tuberkulösen Ab¬
szesses hält Verf. bei exakter, einstülpender Naht des hinteren
Peritonealblattes für kaum gerechtfertigt. — (Deutsche Zeitschrift
für Chirurgie 1906, Bd. 85. — Festschrift für v. Bergmann.)
F. H.
*
134. (Aus der Grazer chirurgischen Klinik.) Ueber die
Verrenkung des Unterkiefers nach hinten; zugleich
ein Beitrag zur Behandlung der habituellen Kiefer¬
verrenkung. Von Hacker. Verf. berichtet über einen Fall
von habitueller Kiefergelenksluxation sowohl nach vorne als auch
nach hinten, den er vor 22 Jahren an der Klinik Billroth'
beobachtete und damals mit Alkoholinjektionen in und um die
Gelenkskapsel behandelte. Der Fall kam damals zur Heilung und
ist bis jetzt (22 Jahre später) rezidivfrei. Besonderes Interesse;
beansprucht nach Hacker der Fall aus folgenden Gründen:
1. Ist es der einzige Fall, in dem hei demselben Individuum
wechselnd eine Luxation des Unterkiefers nach vorne und eine
solche tiach hinten zustande kam; 2. trat infolge der gänzlichen
Zahnlosigkeit des Ober- und Unterkiefers mit dem Eintrilt der
Verrenkung nach hinten auch starke Zyanose des Gesichtes mid
Dyspnoe auf, welche Symptome in keinem der bisher mitgeteilten
Fälle beobachtet worden waren; 3. konnte Hacker die Luxation
nach hinten seihst erzeugen; 4. ist Hacker in der Lage, die
seinerzeit im Moment der von ihm erzeugten Luxation nach
hinten, sowie im normalen Zustand aufgenommenen Photogra,-
phien beizubringen ; 5. wurde durch die eingeschlagcne Therapie
eine Heilung der habituellen Luxation erzielt. Das Auftreten
der Zyanose des Gesichtes, sowie der Dyspnoe führt Hacker
darauf zurück, daß- infolge des völligen Zahnmangels (durch die
hintere Luxation die Zunge vollständig an den herabgedrückten
Gaumen angedrückt wurde und so den Mund verschloß, wäh¬
rend gleichzeitig die Nasenöffnung durch die von der Unter¬
lippe emporgedrängte Oberlippe verschlossen wmrde. Ferner er¬
zeugte die beiderseitige Luxation nach hinten eine noch nicht
hervorgehohene Formveränderung des Gesichtes, indem vor allem
die Gesichtshöhe abnahm, die Nasolahialfalte sich veränderte und
die seitlichen Wangengegenden sich vorwulsteten. Die hintere
Mandibularluxation ist nur unter bestimmten anatomischen V"er-
hältnissen des Kopfskelettes möglich, die zwar nicht ausschließ.-
lich, aber doch weitaus häufiger hei Frauen als bei Männern
Vorkommen. Diese anatomischen Verhältnisse werden von
Hacker sehr genau besprochen und auseinandergesetzt. Das
anatomisch -physiologische und daher auch zweckmäßigste und
schonendste Repositionsverfahren ist Zug nach vorne und ab¬
wärts an dem nahe dem Winkel gefaßten Unterkiefer mit folgender
Drehung um seine Achse, derart, daßi das Köpfchen nach vorne
und oben, das Kinn nach rückwärts und abwärts gedreht werden.
Von der Symptomatologie der beiderseitigen hinteren Mandibular¬
luxation sind am wichtigsten; der plötzliche Eintritt des Zu¬
standes beim Schließen des geöffneten Mundes, das gleichmäßige
Zurückstehen der Zähne oder des Alveolarbogens des Unter¬
kiefers gegenüber dem Oberkiefer, die Unmöglichkeit, den Mund
zu öffnen und der Nachweis der dicht vor dem Processus mastoi-
deus stehenden Kieferköpfchen. — (Beiträge zur klinischen
Chirurgie, Bd. 52, H. 3.) E. V.’
*
135. (Aus der Heidelberger chirurgischen Klinik des Geh.
Hofrat Prof. Dr. Narath.) Beitrag zur operativen 'riiera-
p i e bei lebensgefährlichen profusen M a g e n b 1 u-
tungen. Von Dr. med. Georg Hirschei, Assistenzarzt der
Klinik. Die absoluteste Indikation zum operativen Einschreiten
bieten nach dem Verfasser diejenigen offenen Magengeschwüre,
welche mit akuten foudroyanten Blutungen einhergehen, das
Leben direkt bedrohen und durch interne Behandlung nicht mehr
gerettet werden können. Solche mit Erfolg operierte Magen¬
geschwüre sind selten. Verf. teilt einen solchen im September
vorigen Jahres operierten Fall mit. Ein 29jähriger Zigarren-
macher war seit zwei Jahren magenleidend, er hatte öfters
Drücken in der Magengegend und saures Aufstoßen. Seit sechs
Wochen heftige stechende Schmerzen in der Magengegend, häu¬
figes Aufstoßen und angehaltener Stuhl. Am 26. September v. J.
zweimaliges heftiges Bluthrechen, das sich am nächsten Tage
zweimal in profuser Weise wiederholte. Gleichzeitig reichlicher
Abgang schwarzen Stuhles. Der herheigeholte Arzt ordnete den
sofortigen Transport nach der chirurgischen Klinik an. Der Patient
war völlig ausgeblutet und befand sich in halb bewußtlosem
Zustande, Puls war nicht, zu fühlen. Sofortige Operation unter
leichter Aethernarkose. Bei Eröffnung der Bauchhöhle blutete
es nicht. Die Ahdominalorgane waren völlig blutleer, der Magen
war groß und aufgebläht; Pylorus normal und nicht verdickt.
In der Annahme, daß bei dieser foudroyanten Blutung die Arrosion
eines größeren Gefäßes vorliegen müsse, sah Verf. von einer
Gastroenterostomie ab und exzidierte das an der kleinen Kurvatur
sitzende Geschwür. Auswaschen der Bauchhöhle mit einem Liter
warmer Kochsalzlösung, Versorgung der Wunde. Eine subku¬
tane Kochsalzinfusion war schon fiäiher gemacht worden. Patient
erholte sich von der Operation, zeigte am nächsten Tage einen
kleinen, undeutlich fühlbaren Puls. Von da an sichtliche Er¬
holung, Zunahme an Gewicht. Vier bis fünf \Vochen nach der
326
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 11
Uperalioii klagte l’al. über Drücken in der iMagengegend ; liie
uiitl da Erbrechen. Verf. vermutete eine narldge Stenosiernng
durch die Resektion in der Nälie des Pylorus und beschloß
die sekundäre (laslroenterostoinie nach Hacker. Rei der
Operation fand sich eine Einziehung des Magens an der Re-
sektionsstello nach dem kleinen Netze zu und eine feste Fixation
daselbst. Pat. erholte sich auch von dieser Opej'ation sehr j'asch.
Auf der Klinik waren bisher sieben Fälle von akuter Ma,geid)lutung
operiert worden. Dreimal wurde die Exzision des Plkus vorge¬
nommen; zwei Patienten starben an Nachblutung aus dem nicht
vollständig exstiri)ierten Geschwür, einer an Entkräftung. Hei
den vier anderen Fällen wurde )iur die Gastroenterostomie aus-
geführl. und Heilung erzielt. Seither wurde in der Klinik keine
Exzision bei akuter Rlutuiig mehr vorgenommen, jedoch durch
einfache Gastroenterostomie vielfach gute Erfolge erreicht. Nach
der Ueberzeugung des Verfassers bei seinen eigenen Erfolgen
und nach den Angaben anderer Autoren, dürfte die Gastro¬
enterostomie die dominierende Operation beim Ulcus ventriculi
bleiben und die Resektion bei chronischem kallösen Ulkus, das
schon karzinomverdächtig ist, sowie bei schweren akuten fou-
droyanten Blutungen, bei denen die einfache Gastroenterostomie
von vornherein eine Rettung ausschließt, wie in dem mitgeteilten
Falle, angewandt werden. — (Münchener mediz. Wochenschrift
1907, Nr. 4.) G.
♦
136. (Aus der Grazer chirurgischen Klinik.) Ein Beitrag
zu den Folgen des traumatischen Abortus. Vhn
K. Fischer. Nach einer näheren Besprechung der verschiedenen
Arten der Einleitung des kriminellen Abortus berichtet Fischer
über folgenden Fall; Bei einer 31jährigen Frau wurde von einer
Hebannne durch Einführung einer Metallsonde ohne Leitung des
Fingers oder Zuhilfenahme eines Spiegels der Abortus einzuleiten
versucht. Durch die Sonde wurde nach Passieren des äußeren
^Muttermundes eine Perforation der hinteren Uteruswandung ge¬
setzt, worauf die Sonde nach aufwärts glitt und, unter dem Pro¬
montorium auf Widerstand stoßend, ein Loch in dem parietalen
Peritoneum der hinteren Wand erzeugte. In dieses Loch wurden
dann wahrscheinlich sekundär durch die Peristaltik Dünndarmr
schlingen hineingetrieben, was eine Inkarzeration von ungefähr
3 cm Ileum zur Folge hatte. Laparotomie. Heilung. (Beiträge
zur klinischen Chirurgie, Bd. 52, H. 3.) E. V.
*
137. Winke für die Nachbehandlung der wegen
Rektumkarzinom sakral Operierten. Von Professor
.1. Ho dien egg. Verf., der über 257 Fälle von Rektumexstir-
])ationen verfügt, gewann aus seinen Erfahrungen den Eindruck,
daß das Schicksal der sakral Operierten mehr als bei anderen
Operationen in der Nacbbebandlungsperiode auf dem Spiele steht.
Auf Fehler in der Nachbehandlung bezieht er auch die so ungleiche
Statistik bei den verschiedenen Operateuren. Um die Vermeidung
besonders Avichtiger Felder in der Nachbehandlung zu fordern',
berichtet der Autor über eine Reihe bemerkensAverter Beob¬
achtungen aus seinem reichen Materiale. In einem Falle kam
(‘S, nachdem Pat. Avegen mäßiger Nachblutung post operalionem
zwei Tage in Rückenlage gelegen Avar, zu ausgebreitetem subku¬
tanen Hautempbysem, das sich Amm Skrotum, Avelcher kinds¬
kopfgroß angesclnvollen Avar, an der vorderen Bauchseite, nament¬
lich links bis über den Rippenbogen hinauf erstreckte. Bei dem
am dritten Tage Amrgenommenen VerbandAvechsel fand man Ruptur
der Darmnaht eidsprechend der hinteren Peripherie, Austriff von
Kot in die Höhle; außerdem müssen, da der jetzt eingefallene
Bauch tags zuvor geblälit Avar, massenhaft Gase abgegangen sein.
Wegen der Rückenlage und Avegen des festen Abschlusses der
Wunde durch die feuchten, blutdurchtränkten und angeklebten
Verbandstoffe konnten die Gase nicht nach außen entAveichen und
führten zu dem Emphysem. ObAVohl sich keine nachteiligen Folgen
einstellten, stellt H o c he n e g g den Salz auf: Sakral operierte
Patienten sind in S e i t e n 1 a g e,' nicht in Rückenlage,
nachzubehandeln. Bei einem anderen Falle mit anfangs
glattem Verlaufe AAmrde Avegen Fieber ;un achten Tage der Ver¬
band geAvechselt und derselbe, da sich Pat. kräftig genug fühlte,
in Knieellenbogenlage vorgenommen. Hiebei kollabiert der
Patient plötzlich und starb unter dem Bilde eimn- foudroyant I
verlaufenden Perforationsperitonitis nach 26 Stunden. Die Sektion
ergal), daß ein zwischen Darm und Blase gelegener großer Ab¬
szeß gegen die Bauchhöhle geplatzt Avar. Als Rehre ergibt sich
hieraus: Bei saki'al operierten Patienten muß stets
darauf geachtet Averden, daß das Becken tiefer stehe
als Bauch und Rumpf, ln einem anderen Falle, Ijei Avelchem
Avegen stark vejiöser Nachblutung am ZAveiten Tage in Knie¬
ellenbogenlage der Verband geAvechselt Averden mußte, führte eine
plötzlich eintretende Luftembolie zum sofortigen Tode. Eine
Erhölumg der Beckenlage (Schiefstellung des Bettes durch Er¬
höhung des Fußendes) kann aber notwendig und erlaubt sein
bei venösen Nachblutungen und bei Prolaps der Därme gegen
die Wundh()hlc durch, den rupturierten Peritonealschlitz. Urin¬
retention, eine häufige Folge nach Rektumoperationen, wird
leicht übersehen, Aveil sich die übervolle Blase nicht nach Amme
über die Symphyse, sondern nach rückAvärts und unten gegen
das operativ entleerte Cavum ischiorectale ausdehnt. Wird das,
Aveil die Patienten wegen Wmndschmerzen, Operations- und Nar¬
kosewirkung etc. über das ansonst lästige Spannungsgefühl der
übervollen Blase nicht klagen, nicht beachtet und der KaÜAeter
schließlich in die überdehnte Blase, die sich nun schAver kon¬
trahiert, eingeführt, so kommt es häufig zu schAveren Formen
von Zystitis, deren Entstehen insbesonders leicht durch direkte
Fortleitung der Entzündung von der Whmde auf die Blase, deren
hintere Wand einen Teil der Begrenzung des Wundkavums bildet,
erklärlich ist. Diesbezügliche, auf Veranlassung des Autors aus¬
geführte systematische bakteriologische Untersuchungen- des Harns
von sakral Operierten ergab, daß ein direktes DurchAvandern
von Bakterien von dem Whmdkavuin gegen die Blase sicher
vorkomme. Demgemäß findet man vesikale Sepsis oft als
Todesursache nach sakralen Operationen verzeichnet. Daher ist
in jedem Falle, avo die Urinentleerung in den ersten
zAvölf Stunden nicht erfolgt, zu katheterisier en. Die
größte Sorgfalt ist den S tu hl verbal Luissen zuzuwenden. Ver¬
fasser eröffnet, Aveim Stuhl ausgetreten ist, die Wandhöhle sofort
breit. Die Entleerung Avird durch Opium verzögert,' oder wenn
nach der Resektion die Nabt gemacht Avurde,' durch Klysmen
möglichst zu verdünnen gesucht; um die Sprengung der Naht
durch die harte Kotsäule zu verhindern. Im allgemeinen ist
flüssiger Kot infektiöser Avie geformter; daher verzichtet Hochen-
egg bei starker Stenosiernng von vornherein auf eine vorbe¬
reitende Entleerungskur. Ueberaus AAÜchtig erscheint eine gründ¬
liche D a r m e n 1 1 e e r u n g n a c h e r f o 1 g t e r H e i 1 u n g ; nur da¬
durch kann der meist vorlier schon bestehende Dickdarmkatarrh
zur Heilung gebracht und gleichzeitig der permanenten Beschmutz¬
ung Amrgebeugt werden; dann aber kommen die Operierten durch
eine gründliche Entleerungskur auch wieder zu Appetit und da¬
durch zu gutem Ernährungszustand, der die Patienten gegen ein
Rezidiv widerstandsfähiger macht. — (Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie 1906, Bd. 85. — Festschrift für a^ Bergmann.)
F. H.
*
138, Wann soll bei diabetischer Gangrän ope¬
riert Av e I- d e n ? Von Prof. G. K 1 e 'in p e r e r, Berlin. Nach ein¬
gehender Besprechung an der Hand der jüngsten Literatur beant-
Avortet der Verfasser die Frage in folgender Weise: Diabetiker
ohne Azidosis sind bei vorkommender Gangrän nicht chirur¬
gisch zu behandeln, sondern es ist unter strengster Diät die
Demarkation mit Geduld abzuwarten und der Prozeß durch
trockene Pulververbände und zeitweise Bi er sehe Stauung zu
beschleunigen. Bei Diabetikern ohne Azidosis, welche starke
Albuminurie haben oder Zeichen einer Granularatrophie darbieten,
ist im Falle einer beginnenden Gangrän möglichst schnell die
hohe Amputation vorzunehmen. Diabetiker mit Azidosis sind
ebenfalls rasch zu operieren, da sie ohne Operation oder bei
spät erfolgter Absetzung sicher verloren sind. Einerlei, ob diese
Azidosis schon bestanden oder erst nach Einleitung der kohle¬
hydratfreien Diät eintritt, ist die hohe Amputation vorzunehmen,
auch Avenn der lokale Herd nur geringfügig ist. Verf. beobachtete
15 Fälle Amn Diabetes mit Zehengangrän. Zehn Fälle ohne Azet-
essigsäure, fünf mit Azidose. In sieben Fällen ersterer Kategorie
li'at Zuckerfreiheit des Urins, spontane Demarkation und Heilung
ohne Operation ein. \’ou fünf Fällen diabetischer Gangrän mit
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
827
Azidosis wurden zwei durch die Operation gerettet, wälirend ilie
drei anderen trotz Operation erlagen. — (Die Therapie der Gegen¬
wart, Januar 1907.) E.
Vermisehte l'laehfiehfcen.
Es war beabsichtigt, in der heutigen, der Zentenarfeier des
k. k. Operateurinstitutes gewidmeten Nummer der Wiener kli¬
nischen Wochenschrift, im unmittelbaren Anschlußi an die Dar¬
stellung der geschichtlichen Entwicklung des Institutes, das Ver¬
zeichnis sämtlicher Zöglinge zu bringen, die geit der Begründung
dem Institute angehört haben. Im Aufträge der Herren Vorstände
der beiden chirurgischen Kliniken hatten sich die Herren Doktoren
V. Saar und Richter der Aufgabe unterzogen, diese Liste zu¬
sammenzustellen, waren aber wegen der Unvollständigkeit der
notwendigen Behelfe außerstande, jetzt schon einen lückenlosen'
Ausweis beizustellen. Die Fertigstellung und Publikation der Arbeit
mußte daher einem späteren Zeitpunkte Vorbehalten bleiben. Es
wäre im Interesse dieser Arbeit sehr erwünscht, wenn diejenigen
Herren, die bisher der Aufforderung, die nötigen persönlichen
Daten zu liefern nicht nachgekommen sind, sich hiezu noch nach¬
träglich entschließen würden.
*
Ernannt: Dr. Leon Asher zum a. o. Professor der
Physiologie in Bern.
*
Verliehen: Dem pens. Stadtphysikus kais. Rat Dr. Aron
Luzzatto in Görz das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens.
— Dem Universitätsprofessor Dr. Norbert Ortner in Wien das
Kommandeurkreuz des Ordens „Krone von Rumänien“. — Dem
Oberstabsarzt Dr. Franz Ha;as in Wiener -Neustadt das Ritter¬
kreuz des Franz- Joseph- Ordens. — Dem Privatdozenten für
Augenheilkunde Claude du Bois-Reymond in Berlin der
Profess'ortitel.
*
Habilitiert: Dr. Josef Latkowski und Dr. Erwin
Miesowicz für innere Medizin in Krakau. — In Straßburg:
Dr. Pfersdorff für Psychiatrie und Generaloberarzt Doktor
Sch um bürg für Hygiene. — Dr. Gavello für Nasen- und
Ohrenheilkunde in Turin.
*
Der Präsident der deutschen Sektion der mährischen Aerzte-
kammer, Sanitätsrat Primarius Dr. Franz Brenner, der seit
längerer Zeit erkrankt ist und daher seine umfangreichen Agenden
einstweilen seinem Stellvertreter übergeben mußte, hat sich zu
seiner Wiederherstellung am 9. d. M. nach Abbazia begeben.
Die deutschen Aerzte Mährens und mit ihnen wohl die gesamte
Aerzteschaft Oesterreichs, die Brenner als den unermüdlichen
und unersetzlichen Vorkämpfer für die ärztlichen Standesinter¬
essen größten Dank schulden, vereinigen sich in dem innigen
Wunsche, er möge recht bald die erhoffte Genesung finden und
mit der gewohnten Schaffenskraft und Schaffensfreude an die
Stätte seines erfolgreichen Wirkens, in den Kreis seiner ihn
verehrenden Kollegen zurückkehren.
*
Gestorben: Primararzt Dr. Alexander Ritter von
Weismayr, Privatdozent für innere Medizin in Wien. — Der
Professor der pathologischen Anatomie Dr. Oskai- Israel in
Berlin. — Geh. Hofr. Prof. Dr. Thomas, Direktor der Univer¬
sitätspoliklinik in Freiburg i. B. — Der Direktor der Kinder¬
klinik in Greifswald a. o. Prof. Dr. Krähler.
♦
Wir erhalten folgende Zuschrift: Der Beschluß des Kura¬
toriums, in der Heilanstalt A 11 and möglichst bald eine
Heilstätte für lungenkranke Kinder zu errichten, wird
bereits Mitte Mai zur Venvirklichung gelangen. Durch die Güte
edler Menschenfreunde und durch das dankenswerte Entgegen¬
kommen der österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuze,
welche dem Vereine drei Baracken leihweise überließ, ist. es
möglich geworden, die systematische Heilstättenbehandlung auch
an Kindern, was bisher in Oesterreich noch nicht geschehen
war, durchzuführen. Um die Segnungen einer solchen Behand¬
lung, welche besonders in Frankreich glänzende Erfolge erzielt,
recht bald den armen Kindern zugute kommen zu lassen, wird
diese Station bereits Mitte Mai dieses Jahres eröffnet werden.
Insolange nämlich die Mittel für den Bau eines stabilen Kinder¬
krankenpavillons nicht gesichert sind, werden die Kinder in vor¬
züglich eingerichteten Baracken mit Freiliegehallen, welche in
urmiittelbarster Waldesnähe auf einem besonders gut geeigneten
Terrain der Heilanstalt Alland aufgestellt sind, verpflegt werden
und ist deren Zahl vorderhand auf dreißig Kranke festgesetzt.
Die Vormerkungen werden unter den bisherigen Bedingungen
vom 2. Mai 1907 an im Aufnahmsbureau, Wien IX., Lazarett¬
gasse 13, entgegengenommen werden.
♦
Kongreß für physikalische Heilmethoden. Unter
Vorsitz Guido Baccellis findet in der Zeit vom 13. bis 16. Ok¬
tober d. J. der 11. Internationale Kongreß für Physiotherapie
in Rom statt. Ueber Anregung des Organisationsausschusses
hat sich das österreichische Landeskomitee dieses Kon¬
gresses konstituiert. Es besteht aus den Herren: Proff. v. Noor¬
den und Winternitz- Wien, R. v. Jaksch und Meixner-
Prag, H. Lorenz- Graz, Rokitansky- Innsbruck, Gluzinski-
Lemberg und Jaworski- Krakau als Ehrenpräsidenten, Re¬
gierungsrat Prof. A. Lorenz- Wien als Präsidenten, Privat¬
dozenten Dr. A. Bum -Wien als Sekretär und den Privatdozenten
Erben, Freund, Holzknecht, Kienböck, Marburg,
Strasser, ferner den DDr. Buchsbaum, Grünbauer, v. Ho-
vorka, M. Kahane, M. Weinberger- Wien, Priv.-Doz. G. Pick
und Mladejovsky, ferner den DDr. Slavik und Wohrizek-
Prag, Priv.-Doz. Spitzy und Wittek-Graz, endlich den Privat¬
dozenten V. W u n s c h h e i m - Innsbruck, Kowalski- Lemberg
und C h 1 u m s k y - Krakau .
*
Soeben ist in der Verlagsbuchhandlung von .1. .1. Weber
in Leipzig das Deutsche Bäderbuch erschienen, das unter
Mitwirkung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in Berlin von an¬
erkannten Fachautoritäten auf dem Gebiete der Balneo- imd
Klimatotherapie bearbeitet worden ist. CIV und 536 Seiten mil,
13 Tafeln graphischer Darstellungen von Quellenanalysen, einei
Uebersichtskarte und der He 11 mann sehen Regenkarte. In Ori¬
ginalleinenband Ml<. 15. Mit dem vorliegenden Werke soll
den deutschen Aerzten, Forschern und Laien in un¬
parteiischer, nur von wissenschaftlichen Gesichtspunkten ge¬
tragener Arbeit eine zuverlässige Nachschlagequelle über Deutsch¬
lands Heilquellen, Seebäder Und Luftkurorte erschlossen werden, ln
zuverlässiger Weise gibt das Werk Auskunft über Lage und
Klima, Heilquellen und sonstige Kunnittel, hygienische und öffent¬
liche Einrichtungen und über Verkehrsverhältnisse von etwa 490
deutschen Kurorten. Bei der Sammlung und der kritischen Prüfung
des ungemein umfangreichen Materials ist es infolge der Mit¬
arbeit des Kaiserlichen Gesundheitsamtes möglich gewesen, nicht
nur die Quellen- und Kurverwaltungen, sondern auch Behörden,
meteorologische Zentralinstitute und zahlreiche geologische Sach¬
verständige zu Rate zu ziehen, so daß der erreichbare Grad von
Zuverlässigkeit der Angaben gesichert erscheint. Insbesondere
liegt hier zum erstenmal ein rein wissenschaftliches Bäderbuch
vor, das von Empfehlungen und Anpreisungen gänzlich frei ist.
*
Vorlesungen über Balneologie, gehalten an der
Wiener Universität von Prof. Dr. Konrad Clar. Bearbeitet und
herausgegeben von Dr. E. Epstein. Verlag von Den ticke,
Wien und Leipzig. Clar selbst hatte die Absicht, die Vor¬
lesungen, welche er ab 1880 an der Wiener Universität gehalten,
im Druck erscheinen zu lassen. Der plötzliche Tod Clars am
13. Januar 1904 ließ diesen Plan nicht zur Ausführung kommen.
E. Epstein hat es nun unternommen, nach den im Stenograinni
vorhandenen Vorlesungen eine Sichtung und Ordnung des Stoffes
vorzunehmen, die Lücken auszufüllen, dabei aber den Haupt¬
gedanken des Vortragenden immer zum Ausdruck zu bringen.
*
Im Verlage von Fischers Med. -Buchhandlung H. Kornfeld
in Berlin ist das bekannte Kompendium der Arznei Ver¬
ordnung von 0. Liebreich und A. Langgaard in sechster,
vollständig umgearbeiteter Auflage erschienen. Preis Mk. 15—.
Im vorliegenden Werke ist außer der deutschen auch die neue
österreichische Pharmakopöe berücksichtigt worden.
♦
Die Behandlung der t u 1) e r k u 1 ö ,s e n Wirbelsäule n-
ent Zündung. (90 Seiten.) Von Dr. F. Calot. Uebersetzt von
Dr. Ewald in Heidelberg. Mit einem Vorwort von Prof. Vul-
pius. Verlag von F. Enke, Stuttgart. Bekanntlich hat Calot
vor etwa zehn Jahren durch seine Veröffentlichungen über die
von ihm eingeschlagene Spondylitisbehandlung ungeheures Auf¬
sehen erregt. Den Hoffnungen, die man auf diese Therapie setzte,
ist bald die Enttäuschung gefolgt. Nun tritt Calot wieder mit
einer Schrift, welche denselben Gegenstand behandelt, an die
Oeffentlichkeit u. zw. wendet sich der Verfasser direkt an die
praktischen Aerzte, denen vorgeführt wird, was von den seiner¬
zeitigen Prinzipien sich bewährt hat. Calot will die Behand¬
lung der Spondylitis allen Aerzten zugänglich machen, wobei
selbslverständlich die Benützung kostspieliger Apparate ausge¬
schlossen ist. Das Werk verdient jedenfalls das Interesse weitester
ärztlicher Kreise.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
Dieser Tage erschien in Broschürenform ein Bericht, wel¬
chen Dr. A. Hartmann über die Tätigkeit der Berliner.
Schulärzte im Jahre 1905/06 erstattet. (Verlag Loewmnthal,
Berlin.) Danach w'aren 36 Schulärzte in Tätigkeit, denen 225.237
Kinder unterstanden, d. i. jedem Schularzt 6257 Kinder. Von den
neu eiulretenden 32.902 Kindern wmren 3056 (9-3°/o vom Hundert)
wegen verschiedener Ursachen, wie Blutarmut, Tuberkulose, Herz¬
fehler, Nervenleiden, Hautkrankheiten, Brüchen usw^ zurückgestellt
worden. In Ueherwachung waren 29.622 Kinder w’egen Rachitis,
Skrofulöse, Herz- und Nierenleiden, Epilepsien etc. gestanden.
Sowohl bei Lehrern als bei den Eltern findet sich noch
vielfach eine falsche Auffassung über die Aufgaben des Schul¬
arztes, indem angenommen ward, daß der Schularzt auch die
Behandlung eines kranken Kimles übernehmen müsse. Die regel¬
mäßig wiederkehrende Durchmusterung sämtlicher
Kinder und die damit verbundene Listenführung ist äußerst ?.eit-
rauhend und wird nach den diesbezüglichen Erkundigungen von
den Aerzten als w'enig wertvoll empfunden, so daß auf dieselbe
verzichtet w’erden kann.
Hinsichtlich der Ventilation wird in den Berichten er¬
wähnt, daß in dem Bericlitsjahre in 66 Schulen keine Ober¬
fensteröffner angebracht, in 109 Schulen nur an einem Fenster
der Klasse, in 101 Schulen an mehreren Fenstern. Die ungünstige
Einwirkung, welche durch den Aufenthalt in schlechter Luft auf
den Köi'per ausgeüht ward, macht sich durch blasses Aussehen,
durch Blutarmut, durch verminderte Leistungsfähigkeit geltend.
In den Klassen mit ungenügender Luftzuführung muß, bis die
Mittel zur Ventilationsverbesserung beschafft werden können, dar¬
auf gehalten werden, daß wenigstens in den Pausen ilurch Oefbien
der Fenster Lufterneuerung stattfindet und daß nach jeder Unter¬
richtsstunde die Kinder die Klasse verlassen. Eine Verlängerung
der kurzen Pausen zu diesem Zwmcke würde für den Gesund¬
heitszustand und für die Leistungen der Schüler vorteilhaft sein.
Während des Jahres 1905 wurden die Brausebäder¬
anlagen von 334.706 Knaben und 208.928 Mädchen benutzt,
zusammen 543.634 gegen 514.268 im Vorjahre.
Ausgedehnte Erhebungen (über 6551 Kinder) werden von
dem Schularzt Dr. Bernhard bezüglich der Schlaf zeit
der Kinder gemacht und in einer Tabelle zusammengestellt. Aus
der Tabelle ergibt sich, daß die Schlaf zeit für alle Altersklassen'
ganz erheblich hinter der als notwendig festgestellten zurück¬
bleibt. Die Unterschiede betragen bis zu 1-40 Stunden. Die Ur¬
sache der zu kurzen Schlafzeit liegt einerseits in den sozialen
Verhältnissen (Wohnungsverhältriisse, spätes Nachhausekommen
der Eltern von der Arbeit etc.), anderseits in der leidigen Ge¬
wohnheit, die Kinder ohne Grund bis in die späte Nacht auf¬
bleiben zu lassen oder sie gar zu Vergnügungen mitzunehmen,
wmlche sich oft bis zum Morgen ausdehnen. Nach einem Berichte
gehen 10 v. H. der Schulkinder erst nach 10 Uhr abends zu Bett.
Dr. Bernhard beklagt, daß außerdem die Schlafverhäll-
nisse der Kinder recht traurige wmren. Der Prozentsatz der
Kinder, wmlche allein in einem Belte schlafen, sclnvankt zwischen
6 und 40 V. H. In 6Uo der Fälle schliefen mehr als zwei Per¬
sonen in einem Bett. In der ,8. Klasse der 84. -Gemeindeschule
schliefen von 55 Kindern 16 mit 2, 1 mit 3 Personen in dem¬
selben Bette. In der 8. Gemeindeschule gab ein Kind der Wahr¬
heit entsprechend an, daß es ein Bett mit drei Geschwistern
zu teilen hatte. Dr. Philippsohn berichtet, daß' von 200 Kindern
in einem Bett allein schlafen 80 = 40 v. H.
*
Einer von Ronald Ross gezeichneten Zuschrift der ,,In
corporated Liverpool school of tropical Medicine“ entnehmen
war hinsichtlich der Schaffung eines Den km ales für Doktor
Josef Everett Dutton, den Erforscher der Trypanosomenkrank¬
heit, folgendes: ,,Dr. Josef Everett Dutton war in Chester ge¬
boren und verbrachte seine medizinischen Studienjahre in Liver¬
pool und wmr später Assistent am Pathologischen Institut an der
Iniiversität Liverpool, ln der Folge beteiligte er sich an vier
Expeditionen, welche von der Liverpool school of tropical Me¬
dicine nach Nigeria, Gambia und dem Kongo-Freistaat gesendet
worden waren. Während seines Aufenthaltes in Afrika entdeckte
und beschrieb er das Trypanosoma gamhiense, das seit¬
her als die LTrsache der Schlafkrankheit erkannt wurde. Dr. Dut¬
ton starb in Kasongo, 29 Jahre alt, als Mitglied einer Expedition,
welche die Schlafkrankheit zu studieren hatte. Während seiner
Untersuchungen über das Zeckenfieber in Kasongo wurde er
selbst von der Krankheit befallen und starb an deren Folgen.
In Erinnerung an die Verdienste Duttons soll nun ein Denkmal
geschaffen werden, welches in der Schaffung einer Professur
für Tropenkrankheiten bestellen soll. Für die Dotierung dieser
Stelle soll eiji Kapital von 20Ü.ÜÜU Mark aufgebracht werden.
Daß diese Summe ihre Interessen für das Wohl der Menschheit
ahwerfen würde, beweisen die praktischen Resultate, welche
durch das Studium der Tropenkrankheiten in den letzten zehn
Jahren erreicht worden sind. Es wurde die Aetiologie der 'Ma¬
laria und des Gelbfiebers geklärt und wirksame Mittel zu deren
Bekämpfung angegeben. Welche Erfolge die Malariabekämpfung
hatte, zeigt das Beispiel von Ismailia. In Ismailia mit 6000
Einwohnern waren im Jahre 1900 noch 2250 Malariafälle, im
Jahre 1905 nur mehr 37 ; letztere waren lauter Rezidiven, ln
Havanna wurden die Vlaßnahmen gegen Stechfliegen im Jahre 1901
begonnen. Während hier 1895 noch 552 Gelbfieberfälle verzeichnet
sind, gal) es deren seit 1902 keine mehr. Die Folgen der Ent¬
deckung der Ursache des CTelhfiehers liegen auf der Hand. Kost¬
spielige und langwierige Räuchemng, von Post, Gepäck und Fracht
ist nicht länger 'mehr nötig, langweilige Quarantänen von Schiffen
und Isolierungen von infizierten Städten sind überflüssig ge¬
worden. Jedoch harren viele Fragen auf dem Gebiete der Tropen¬
medizin der Lösung; diese Lösung soll durch das eingangs er¬
wähnte Du tton- Denkmal beschleunigt werden.“
*
Wir erhalten folgende Zuschrift: Der VAudag von Doktor
Werner Kl ink hard t in Leipzig hat die Vorarbeiten zur ller-
ausgahe eines internationalen Archives abgeschlossen, das unter
dem Namen „Folia urologica“ erscheinen wird. Der Schrift¬
leitung gehören an James Israel- Berlin, A. K oll m a n n-Leipzig,
G. Kulisch-Halle, W. Tamms -Leipzig. Das Hauptgewicht soll
auf größere Originalaufsätze (mit Tafeln und Abbildungen) in
einer der vier Kongreßsprachen gelegt werden. Kurze Zusammen¬
fassungen des Inhaltes in den übrigen drei Sprachen schließen
sich jedesmal an und zwar in Thesenform. Fenier gelangen
zur Veröffentlichung: Ergebnisse der Urologie, in denen feste
Mitarbeiter unter kritischer Nachprüfung über die Fortschritte
periodisch berichten. Endlich dient das Organ als Sammelstätte
von Jahresherichten über die urologische Tätigkeit von Kranken¬
häusern, Kliniken usw. Um eine möglichst schnelle Veröffent¬
lichung aktueller Arbeiten zu gewährleisten, erscheinen die Archiv¬
hefte in zwangloser Folge.
*
DruckfehlerherichtigUng. In dem Protokoll der
k. k. Gesellschaft der Aerzte, Wiener klinische Wochenschrift
1907, Nr. 10, S. 302, soll es Zeile 29 von oben statt: „Licht
bis ungefähr k < 3260“ richtig heißen : „Licht bis ungefähr
k > 3260.“ — In Nr. 10, S. 283, linke Spalte, neunte Zeile von
oben soll es statt ,, . . des Korpsbereiches (Niederösterreich und
Schlesien) . .“ richtig heißen: ,, . . (Niederösterreich und
S ü d m ä h r e n) .
*
Aus dem S a n i t ä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 8. Jahreswoche (vom 17. bis
23. Februar 1907). Lebend geboren, ehelich 627, unehelich 313, zu¬
sammen 940. Tot geboren ehelich 66, unehelich 21, zusammen 87.
Gesamtzahl der Todesfälle 770 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 20‘4 Todesfälle), an Bauchtyphus 0,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 11, Scharlach 5, Keuchhusten 2,
Diphtherie und Krupp 5, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 1,
Lungentuberkulose 134, bösartige Neubildungen 38, Wochenbett¬
lieber 4. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 33 ( — 5), Wochen-
betlfieber 5 ( — 1), Blattern 0 (0), Varizellen 75 ( — 13), Masern 419
(-|- 89), Scharlach 91 ( — 16), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 8 (-f- 6),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 80 (-}- 3), Keuch¬
husten 43 ( — 13), Trachom 2 (-f 1), Influenza 2 ( — 1).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle fürWaldneukirchen-Altwang,
Bezirk Kirchdorf, Oberösterreich, mit dem Sitze in Waldneukirchen mit
15. Mai, eventuell mit 1. April 1. J. zu besetzen. Fixe Bezüge von Land
und Gemeinde K 1200, außerdem lohnende Privat- und Kassenpraxis.
Haltung einer Hausapotheke (welche abgelöst werden kann) notwendig.
Schöne Wohnung im Gemeindehause gegen billigen Zins steht zur Ver¬
fügung. Christliche Bewerber deutscher Nationalität wollen ihre mit
Curriculum vitae und Zeugnissen belegten Gesuche bis längstens
15. M ä r z d. J. an den Sanitätsausschuß in Waldneukirchen einsenden.
Gemeindearztesstelle in Söll, Bezirk Kufstein, Tirol.
Jährliches Wartgeld 1000 K, für Besorgung des Armenhauses 300 K, für
den ärztlichen Dienst in der Gemeinde Schiffau 300 K. Außerdem freie
Wohnung in einem eigenen Hause mit Gemüse- und Obstgarten. Haltung
einer Hausapotheke erforderlich. Gesuche sind ehetunlichst an die
Gemeindevorstehung Söll einzusenden.
Sekundararztesstelle an der medizinischen Abteilung des
St. Elisabeth-Spitals, Wien III., Hauptstraße 4. Diese Stelle
kommt mit 1. April d. J. zur Besetzung. K 1200 jährlich und freie
Wohnung. Bewerber mögen ihre Gesuche an die Spitalsleitung richten
oder sich zwischen 8 und 10 Uhr vormittags persönlich an den Primararzt
der genannten Abteilung Dr. R. Freiherr v. Sei Iler wenden.
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
329
Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INH
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 8. März 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung der pädiatrischen Sektion vom 14. Februar 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 8. März 1907.
Vorsitzender; Prof. Alexander Kolisko.
Schriftführer: Dr. Alfred Exner.
Der Vorsitzende übermittelt der Versammlung (üne Ein¬
ladung des Vereines zur Förderung der naturwissenschaftlichen
Erforschung der Adria zu einem Vortrag des Herrn Dr. R. Pöch
über Neu-Guinea und die Papuas.
Dr. Emil Haim demonstriert zwei Fälle von Pseudo-
h e r m a p h r o d i t i s m u s m a s c u 1 i n u s, welche dadurch aus¬
gezeichnet sind, daß sie Geschwister sind.
Die ältere der beiden Patientinnen suchte ärztliche Hilfe wegen
einer Lymphadenitis ex pediculosi. Dabei bemerkte sie auch,
daß. sie trotz ihres Alters von 20 Jahren noch keine Menstruation
habe. Bei näherer Untersuchung zeigte es sich, daß die Person
einen ausgesprochen männlichen Habitus aufwies, vor allem eine
männliche Kehlkopf bildung, ferner die Bräste wenig entwickelt
und eine starke Behaarung des ganzen Körpers; insbesontlere
sind Abdomen und Mons Veneris ganz nach männlichem Typus
behaart. Was die Genitalien selbst betrifft, so ist eine große
und Unperforierte Klitoris vorhanden mit großem Präputium, ferner
eine blind endigende, kaum für den Zeigefinger entrierbare Vagina,
Uterus oder Ovarien sind auch bei der Untersuchung per rectum
nicht nachzuweisen; auf der rechten Seite findet sich in der
großen Schamlippe ein haselnußigroßes, ovales Gebilde, welches
ich für einen Hoden halten möchte. Die Person ist weiblich
erzogen, hat sich jedoch nie zu Männern hingezogen gefühlt.
Die jüngere Schwester Anna, 13 Jahre alt, besitzt eben¬
falls ein mißbildetes Genitale ; es finden sich analoge Verhält¬
nisse, wie in dem erstbeschriebenen Falle ; nur finden sich
in beiden Schamlefzen diese Gebilde, welche ich als Hoden an¬
sprechen möchte.
Der Großvater väterlicherseits und der Urgroßvater mütter¬
licherseits waren Brüder.
Nun berichtet der Vater, daß die ältere Person in dem
hodenähnlichen Gebilde insbesondere bei Anstrengungen starke
Schmerzen habe; da es ja bekannt ist, wie u. a. auch von Neu¬
geb au er hervorgehoben wird, daß. solche retinierte Gebilde sehr
gerne maligne entarten, so entsteht die Frage, ob wir berechtigt
wären, dasselbe zu exstirpieren.
Der Vater wünscht die jüngere Iverson als Mädchen zu
erziehen und verlangt auch, daß man bei derselben die beiden
hodenartigen Gebilde entfernen solle. Nach der Meinung des
Vortragenden ist man dazu nicht berechtigt, doch möchte er
sich die Frage erlauben, ob hier vielleicht eine andere Meinung
darüber vorherrscht und ob man nicht durch Exstirpation der¬
selben den weiblichen Habitus erhalten könnte.
Schließlich noch eine soziale Frage. Der Vhater, der ob
dieser Enthüllung ganz verzweifelt ist, möchte hier anlTagen,
ob vielleicht die Anwesenden mit ihrer reichen Erfahrung einen
Rat geben könnten betreffs des Berufes, welchen seine beiden
Kinder ergreifen sollten.
Ferner demonstriert Dr. Haim einen Fall, bei dem ein
Oberkiefer Sarkom und Morbus Basedovrii gleichzeitig'
vorhanden waren.
Es handelt sich um einen 14 Jahre alten Burschen, bei
welchem am 16. Juli 1906 von Dr. Haim wegen eines von der
Pulpa des noch nicht durchgebrochenen Weisheitszahnes aus¬
gehenden Fibrosarkoms nach vorheriger Unterbindung der Carotis
externa mit Kocher schein Schnitte der rechte Oberkiefer total
reseziert wurde.
Der Knabe bemerkte den Tumor, welcher sehr rasch wuchs,
seit Oktober 1905; im März vorigen Jahres suchte derselbe eine
chirurgische Klinik auf, wo eine Probeexzision gemacht, die
Operation jedoch angeblich wegen eines Herzfehlers verweigert
wurde.
Der Grund der Vorstellung des Knaben ist der, daß der¬
selbe gleichzeitig an Morbus Basedowii titt. Die Erscheinungen
dieses sollen sich seit dem elften Lebensjahre entwickelt haben.
ALT:
Wissenscliaftllche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhiueii.
XVIII. Sitzung vom 27. November 1906.
Aerztliclier Verein in Brünn. Sitzung vom 6. Februar 1907.
Als der Vortragende den Knaben sab, waren alle Symptome deut¬
lich ausgesprochen, insbesondere starker Exophthalmus, eine
Struma vasculosa, sowie ausgeprägte Tachykardie (160 Pulse
in der Minute) ; es ist anzunehmen, daß wegen des letzteren
Symptoms auf der Klinik die Diagnose „Herzfehler“ gemacht
Avurde.
Interessant und bemerkenswert ist der Umstand, daß nach
der Operation die Symptome des Morbus Basedowii vollkommen
zurückginglen.
Die Herztätigkeit ist wieder ganz normal (80 Pulse in der
Minute), der Exophthalmus ging zurück, ebenso wurde der Hals
schmäler. Pat. trägt um 3 cm kleinere Halskrägen; er befindet
sich jetzt völlig wohl und trägt eine Prothese.
Es muß Unentschieden gelassen Averden, Avas die Ausheilung
des Morbus Basedowii bewirkt hat, ob die Resektion des Ober¬
kiefers oder die Unterbindung der Carotis externa, welche jedoch
schon nach dem Abgang der Thyreoideae unterbunden Avurde.
Schließlich demonstriert Dr. Haim noch das Bild einer
Gangrän der Bauchdecken bei einer 26jährigen Patientin; der¬
selben Avurde Avegen einer Parametritis suppurativa ein Eis¬
beutel auf den Bauch gelegt. Schon nach drei Tagen hatte sieb
die Gangrän entAAÜckelt.
Priv.-Doz. Dr. Hochsinger demonstriert ein vier Wochen
altes Kind mit multipler Epiphysenlösung: infolge
h e r e d i t ä r - s y p h i 1 i t i s c h e r Osteochondritis.
Meine Herren ! An diesem vier Wochen alten, ziemlich
gut genährten, aber auffallend blassen Säugling fällt zweierlei
auf, erstens eine eigentümliche Haltung der Gliedmaßen und
ZAveitens eine Auftreibung, weicbe sämtliche großen Extremi täten -
gelenke belrifft.
Die Mutter des Kindes macht die Angabe, daß das Kind
schon unmittelbar nach der Geburt durch die Regungslosigkeit
seiner Gliedmaßen auf fiel und daß es die Arme überhaupt nicht
beAAmgen konnte. Später erst sei allmählich eine Verdickung an
den Gelenkenden der Knochen aufgetreten.
Aus der Anamnese erfahren Avir des weiteren, daß das
Kind um 14 Tage zU früh zur Welt gekommen ist und gleich
bei der Geburt mit je AÜer Blasen an den Fußsohlen behaftet
war. Das Kind Avurde künstlich genährt.
Die Mutter des Kindes Avar zweimal verheiratet, hatte vom
ersten Manne zuerst zwei lebende Kinder, später folgten drei
Abortus hintereinander. Die beiden ersten lebendgeborenen Kinder
starben: das erste zwei Jahre alt an Diphtherie, das zAveite ebenso
alt an tuberkulöser Hirnhautentzündung. Der erste Mann starb
an Tuberkulose.
Aus der Verbindung mit dem zAveiten Manne, welcher vor
jetzt 13 Jahren syiihilitisch infiziert Avar, ging zunächst eine
sechs'monatige Totgeburt hervor und dann das hier demon¬
strierte Kind. An der Mutter finden sich nicht die leisesten
Zeichen ehemaliger Lues.
Sämtliche Gelenfcsenden der langen Röhrenknochen dieses
Kind eis sind aufgetrieben und druckempfindlich. Am meisten das
Schulterende des linken Olierarmes, dann beide Ellbogen- und
Kniegelenke. Aber auch die Hüftgelenksenden der Oberschenkel
sind verdickt und schmerzhaft. Die den Knochen anliegenden
Weichteile um die Gelenke herum sind in die Schwellung mit
einbezogen, nur die Haut über den Gelenken ist frei und ver¬
schieblich. Auffallend ist am linken Oberschenkel eine das obere
Drittel desselben okkupierende, zirkuläre, sehr druckempfindliche
Auftreibung.
Interessant ist tlie Haltung der Gliedmaßen. Die oberen
Extremitäten erschieiien anfäuglich vollständig gelähmt, trotzdem
konnten durch Nadelstiche reflektorisch BoAvegUngen mit den
Fingern ausgelöst Averden. Jetzt ist Avohl schon eine leichte Be¬
weglichkeit der oberen Extremitäten Amrhanden, allein die Unter¬
arme und Hände sind noch immer sehr scliAver beweglich, die
Hände selbst sind gebeugt, proniert und abduziert. PassiAm Re-
Avegimgsversucbe sind sebmerzhaft und Amn Weinen begleitet. Die
Oberarme erscheinen eng an die Seitenteile des Thorax ange-
scblossen. An den unteren Extremitäten besteht gleichfalls eine
BeAvegungsstörung. Dieselben Averden spontan kaum bewegt, je-
OO' '
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
doch bieten sie nicht, so wie die oberen, das Bild einer schlaffen
Lähmung, vielmehr das einer tonischen Beuge- mid Adduktions¬
kontraktur. Ganz unförmig sind die oberen und unteren Gelenks¬
enden der Kniegelenke aufgetriehen, auch die Sprunggelenke sind
verdickt. Das Kind zeigt im übrigen chronischen Schnupfen,
welcher seit der zweiten Lebenswoche besteht, an den Fersen
je eine diffus infiltrierte Hautstelle, an den Fußsohlen einige
kleine, schinkenfarbige Flecken, Reste der ehemaligen Pemphigus¬
blasen. Ein universelles Luesexanthem ist nicht zum Vorschein
gekommen.
Es handelt sich im vorliegenden Falle zweifellos um eine
durch angeborene Syphilis hervorgerufene, allgemeine Knochen¬
erkrankung, in deren Vordergrund die Wegner sehe Osteo¬
chondritis mit Epiphysenlösung steht.
Das seltene an dem Falle ist, daß) das Kind mit gelähmten
Gliedmaßen zur Welt kam (in der Regel entwickelt sich die
Bewegungsstörung erst später) und daßt so hochgradige Auf-
Ireibungen an den Knochenenden sich eingestellt haben.
Die Auftreibungen sind als Kallusbildungen zu be¬
trachten, welche Folge der Epiphysenlösung sind, die an allen
größeren Gelenksenden stattgefunden liat. Am distalen Ende des
Oberarmes läßt sich noch eine deutliche Verschiebbarkeit zwischen
Epiphyse und Diaphyse nachweisen. Der lähmungsartige Zustand
ist eine Folge der Knochenerkrankung und darauf zurückzuführen,
daß die Muskel- und Sebnenansätze, welche an der entzündeten
Bein- und Knorpelhaut entspringen, in den Erkrankungsprozeß
mit einhezogen sind und mit einer Einstellung ihrer Funktion
antworten.
Es sei noch bemerkt, daß auch an den kurzen Röhren¬
knochen Verdickungen bestehen und daß, wie das Röntgenbild
lehrt, eigentlich das ganze Knochensystem schwer erkrankt ist,
während die Haut nur relativ geringfügige Veränderungen zeigt.
Die Tatsache verdient Hervorhebung, daß hei der angelmrenen
Syphilis generelle Skeletterkrankungen viel häufiger sind als Exan¬
theme, daß sie jedoch häufig viel zu undeutlich ausgesprochen
sind, um hei der Palpation die Aufmerksamkeit des Untersuchers
zu erregen, ])ei radiologischer Untersuchung jedoch immer zum
Vorschein kommen. Von größtem Interesse erweist sich die
R ö n t g e n u n t e r s u c h ü n g des Knochensystems bei dem vor¬
gestellten Kinde.
Wäiirend normalei’weise der Diaphysenschatten eines langen
Röhrenknochens bei einem jungen Säuglinge mit einer haarscharfen
dunklen Linie endigt, welche der Ausdruck der Verkalkungszoiie
seines Epiphysenknorpels ist und die knoi’pelige Epiphyse selbst
vollständig unsichtbar bleild, fehlt hier die duidrle, scharte Be¬
grenzungslinie überall vollständig. An deren Stelle tritt eine
massive Verbreiterung, Auftreibung und Aufhellung der Diaphysen-
schattenenden, mit vemaschenen Grenzkonturen gegen die Epi¬
physe. Die dunklen Diaphysenschatten sind an ihren Epiphyseii-
ejiden allenthalben von einem pilzförmigen, helleren Schattenbild
umgeben, welches an Stelle der sonst unsichtbaren Epiphyse
hervortritt, zum Beweis dafür, daß die Kalkablagerung in un¬
regelmäßiger Form auch um die Epiphysenknorpel herum statt¬
gefunden hat. Dieses Bild ist besonders deutlich an beiden Enden
der Oberarmknochen, dann an den Knochenenden beider Knie¬
gelenke und an dem proximalen des linken Oberschenkels fest¬
zustellen. Ueberdies ist allenthalben Um die langen Röhrenknochen
herum eine neue Zone von periostaler Knochensubstanz in Form
eines hellen Schattens angelagert, ,so daß die alten Knochen sich
zu der periostalen Auflagerung im Röntgenbilde verhalten, wie
eine Zigarrenspitze zu ihrem Etui. Die unförmigen Auftreibungen
an den Epiphysenenden der Röhrenknochen sind in Verkalkung,
begriffener Kallus, welcher sich mit der syphilitischen Periostitis
zu einer besonders üppigen Wucherung kombiniert. Infolge der
hochgradigen syphilitischen Osteochondritis, welche mit Sub-
stitulion der Verknöcherungszone durch syphilitisches Granu-
latioiisgewehe zwischen Epiphyse und Diaphyse einhergeht, lockert
sich die Verbindung zwischen diesen beiden Knochenteilen.
Traumen, Muskelzug, ja der Gehurtsakt können imstande sein,
die Verbindung an einer oder der anderen Stelle zu lösen. Die
eigentliche Epiphysenlösung ist soanit im wesentlichen nichts als
eine Fraktur innerhalb der rarefizierlen oder gänzlich zu Granu-
lationsgewehe metamoi’phosierten subchondralen Gewebslage. So¬
wie aber Epiphyse und Diaphyse schlot tem, kommt es wie hei jeder
anderen Fraktur zur reaktiven Kallusbildung, welche im Röntgen-
bilde liier besondei’s schön zum .\usdruck gekommen ist.
Auf zweierlei Umslände soll noch hingewiesen werden.
Erstens: daß es keiner besonderen chirurgischen Behandlung be¬
darf, um diese Frakturen zur Heilung zu bringen, es genügt
die autisyphiiitische Behandlung, um in kürzester Zeit, die Knochen¬
schwellung und die Bew(‘gungsstörung zu lieseitigen. Zweitens
findet sich genau dasselbe Lähmungsbild auch bei solchen syphi¬
litischen Säuglingen, welche keine so bedeutenden Auftreibungen
an den Gelenksenden zeigen wie dieser Fall. Man ist deswegen
vielfach in dem Irrtum verfallen, solche Lähmungen als spinale
zu betiachten. Die Röntgenuntersuchung der Knochen bei solchen
Exlremitätenlähmimgen isyphilitischer Kinder lehrt jedoch, daß
immer periostale und perichondrale Wucherungen vorliegen, welche
von einem entzündlichen Prozeßi im Periost herrühren, der sich
auf die Muskeln und Seimen übeiiMlanzt und zur Lähmung der
Gliedmaßen führt.
Prof. Lang stellt 1. einen 30 Jahre alten Friseurgehilfen
vor, einen geistig aufgeweckten Mann aus Böhmen, der nach
Südafrika ausgezogen war, um Diamanten zu suchen. Daselbst
akquirierte er eine schwere Malaria und schiffte sich darum
wieder nach Europa ein, blieb in Genua liegen i — auf welcher
Krankenstation, konnte nicht eruiert werden — wo man ihn
in der Milzgegend mit Röntgens trahlen behandelte, um auf diese
Weise die Malaria zu bekämpfen. Die Bestrahlung fand im Früh¬
jahr l‘90ß statt. Am 4. August desselben Jahres kam er auf eine
interne Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses, noch mit
schwerer Malaria behaftet und einem ungemein schmerzhaften
Röntgengesebwür am Thorax links. Am 7. September 1906 wurde
er wegen seines Röntgenulkus auf die Abteilung des Vortragenden
transferiert. Die Schmerzen von seiten des Ulkus, unter denen
der Patient gelitten, waren so exzessiv, daß er wortwörtlich,
weder bei Tage noch bei Nacht ein Auge zu schließen imstande
war, trotz hoher Dosen Morphium. Der Vortragende entschloß
sich dämm, obwohl ihm die Nekrose noch nicht abgeschlossen
schien, am 12. September 1906 die Exstirpation des Ulkus im
großen Umfange (l0y2X7cm) auszuführen und dabei, soweit es
anging, auch in die Tiefe gegen das Gesunde vorzuschreiten; es
wurden Fasern des Pectoralis major, serratus und wohl auch
von den Musculi intercost. mitgenommen, die Wunde nach
Thiersch gedeckt. Nach der Operation waren wohl die
Sclmi erzen um einiges gemildert, insofern, als der Kranke doch
durch einige Stunden unter Zuhilfenahme von Narkotizis zu
schlafen imstande war. Beim nächsten Verbandwechsel mußte
man leider erfahren, daß die Nekrotisierung noch nicht abgegrenzt
war, sondern sogar weitorschritt. Begreiflicherweise war die
Thierschübeipflanzung vergeblich gewesen und bei dem durch
Monate noch fortdauernden, wenn auch langsamen Fortschreiten
der Neki'otisierung war auch die Besorgnis nahe, es könne dieselbe
auch die Pleura einbeziehen und so das Lehen des durch die
Malaria ohnehin Geschwächten bedrohen. Während dieser langen
Zeit stießen sich auch noch von der achten und neunten Rippe
zwei ca. 5 cm lange Stückchen ab und erst anfangs Februar
dieses Jahres konnte man erwarten, daß der Rest des noch
ungeheilten Geschwüres mit einer neuerlichen Thierschdeckung
zu rascher Heilung Averde gebracht werden können. Am 12. Fe¬
bruar d. J. wurde mm der Granulationsboden mit scharfem Löffel
geebnet und mit Thierschlamellen gedeckt. Es haftete der größte
Teil derselben, an einzelnen Stellen stießen sich Teile des Thiersch
ab; die Erklärung dafür erfuhren wir, als noch vor etlichen Tagen
etwa gerstenkorngroße Sequester der Rippe zum Vorschein kamen.
Indessen kann der Kranke jetzt als vollkommen geheilt bezeichnet
AVer den.
Die meisten bisher beobachteten Röutgenschäden sind nach
therapeutischer Bestrahlung zustande gekommen, Avie aus
Dutzenden hieher gehöriger Fälle hekannt ist. Seltener sind
Röntgenschäden nach diagnostischen Untersuchungen, doch
Avurden auch nach solchen schwere Ulzera bekannt. So wurde
dem Vortragenden mitgeteilt, daß außerhalb Oesterreichs, in einer
königlichen Residenzstadt, einem jungen Herrn eine Nadel unter
die Rückenhaut geraten ist; um den Sitz derselben zu eruieren,
Avurde der junge Mann mit Röntgen bestrahlt, darauf stellte
sich eine scliAvere Röntgenulzeration ein, die lange Zeit zu ihrer
Heilung brauchte. Hoff a berichtet über einen Fall, avo nach
Röntgenographie eines Hüftgelenkes eine schwere Ulzeration ent¬
stand; freilich hatte hier die Exposition 25 Minuten in Anspruch
genommen. Ein Röntge, nsebaden nach diagnostischer Untersuchung
bestand auch in dem hierauf demonstrieiien
2. Fall. Ein 24 Jahre alter, psychopathisch veranlagter
junger Mann Avurde zu Beginn des Jahres 1905 auf eine interne
Station aufgenommen, Aveil er etliche rostige Nägel Amrschluckt
hatte. Zunächst erschien es ja notwendig, bei der psycho-
pathiseben Veranlagung des Kranken festzustellen, ob er über-
liaupt Nägel Amrscbluckt habe. Dazu Avar die Durcbleuchtung
nolAvendig und vielleicht konnte es auch gelingen, die Fremd¬
körper per OS zu exlrabiecen. Zwölf Tage nach der Durchleuchtung
trat eine Reaktion an dei' Haut auf und nach AAmiteren 16 Tagen
liegann eine Ulzeration der Stelle. Als das sich nun Aveiter
Nr. 11
331
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
ausbilclendc Röiitgciigescliwüi- nicht zur vollstiiiidigeii ]{('ilung ge¬
bracht werden konnte, transferierte nian den Kranken — etwa
ein Jahr nach der Bestrahlung — auf die Abteilung des Vor¬
tragenden. Am 16. März 1906 wurde die etwa fünfkronenstiick-
große Ulzeralion am Rücken im weiten Umfange exzidiert, so
(laßt ein Defekt von fast 80 cm^ zustande kam, dabei wurden
auch Fasern des Muse, trapez. und Muse, latiss. dors, mitgenommen.
Nach Deckung der Wunde mit Thierschbändern wurde voll¬
ständige Vernarbung erzielt, der Kranke aber noch vorsichtshalber
bis 1. Mai 1906 auf der Abteilung zurückbehälten. Heute, nach
fast einem Jahre, hat sich die Narbe auf über 100 cm^ gedehnt,
sie , ist vollständig glatt, über den Muskeln überall sehr leicht
verschieblich, nirgends mit denselben verwachsen; inan ersieht
daraus, daß es nicht vorteilhaft ist, sich mit der Exstirpation
und plastischen Deckung eines Röntgenulkus zu übereilen und
daß man sehr schone Resultate gewinnt, wenn solche Ulzera
erst zu einer Zeit exzidiert und plastisch gedeckt werden, wenn
man vollständigen Abschluß der durch Röntgen gesetzten de-
generativen Vorgänge annehmen kann.
Prim. Dr. Schnitzler stellt einen Kranken vor, der drei
Monate, nachdem er eine Hernienradikaloperation durchgemacht
hat, einen epiploitischen Tumor aufweist. Man findet
unter dem rechten Rippenbogen einen doppeltfaustgroßen, ziemlich
derben, etwas unebenen, sehr druckempfindlichen Tumor,
der etwas respiratorische Beweglichkeit und ein wenig quere Ver¬
schieblichkeit zeigt. Die Deutung dieses Tumors wird (lurch die
Anamnese und die in der rechten Leiste ersichtliche Narbe
ermöglicht. Vor drei Monaten wurde an dem vorgestellten Kranken
wegen einer rechtsseitigen Inguinalhernie die Radikaloperation
nach Bas sin i ausgeführt und dabei Netz unter Anlegung
mehrerer Ligaturen reseziert. Heilung per primam.
Dann sechs Wochen vollkommenes Wohlbefinden. Vor vier Wochen
begannen Beschwerden : Schmerzen in der Oberbauchgegend und
langsames Entstehen eines Tumors unter dem rechten Rippen¬
bogen. Anamnese und Befund sichern die Diagnose : post¬
operative Epiploitis. Bei dieser Erkrankung handelt es
sich stets um von Netzligaturen ausgehende Entzündungen, deren
eitriger Kern ein minimaler sein kann. Zuerst sind Seiden¬
ligaturen, mitunter aber auch Catgutligaturen der Ausgangs¬
punkt solcher Entzündungen. Das Charakteristische für die post¬
operative Epiploitis ist das zwischen Operation und Auftreten
der Erscheinungen — Schmerz, Tumor, event, peritoneale Reiz¬
erscheinungen, selten Enterostenose — liegende Interwall voll¬
kommener Gesundheit. Dieses Latenzstadium dauert Wochen,
Monate oder Jahre; es wurde das Auftreten derartiger epiploi-
tischer Tumoren drei und selbst fünf Jahre nach der ursäch¬
lichen Operation beobachtet. Bis zum Jahre 1900 berichteten
nur französische Chirurgen über diese Erkrankung. In der
deutschen Literatur hat zuerst Schnitzler (Wiener klinische
Rundschau 1900, Nr. 1, 2, 3) über derartige Beobachtungen
berichtet, später hat Braun darüber geschrieben. Nur die
Kenntnis von dem Vorkommen derartiger postoperativer epiploi-
tischer Tumoren schützt vor folgenschweren diagnostischen Irr-
tümern und überflüssigen, durchaus nicht harmlosen Operationen.
Wurde doch schon ein epiploitischer Tumor, der vier Monate
nach einer Hernienoperation aufgetreten war, unter der An¬
nahme eines Sarkoms unter Resektion des Querkolons exstirpiert.
Der Kranke erlag der Operation. Die Untersuchung der Präparate
ergab den typischen Befund der Epiploitis: kleinste Abszesse
um Ligaturen, entzündliche Infiltration ringsherum. Die Mehrzahl
der epiploitischen Tumoren schwindet bei Ruhe und Anwendung
von Wärme. Kommt es zu größeren Eiteransammlungen, so muß
natürlich inzidiert werden. In den seltenen Fällen von Darm¬
stenose infolge von Epiploitis ist eventuell Enteroanatomose
erforderlich, wie in einem der von Schnitzler (1. c.) publi¬
zierten Fälle.
Diskussion: Dr. H. Teleky; Ich habe vor kurzem einen
Fall beobachtet, wo bei einer alten Frau Monate nach Operation
einer inkarzerierten Hernie eine Geschwulst von der Größe eines
Hühnereies an der Flexura hepatica zu fühlen war und die
Erscheinungen der Darmstenose zu wiederholten Malen in ge¬
fahrdrohender Weise sich einstellten: Erbrechen, heftige
Schmerzen, stürmische, peristaltische Bewegungen, Darmsteifigkeit,
Obstipation. Die Erscheinungen beruhigten sich für wenige Tage,
nachdem flüssige Stuhlentleerungen eingetreten waren, um aber
dann wieder einzusetzen. Zu einer Operation wollte die 80jährige
Patientin sich nicht entschließen und ich griff dann zu Injek¬
tionen von Fibrolysin. Ich spritzte subkutan im ganzen zehn
Phiolen ein. Seit der letzten Injektion sind nun über vier W ochen,
vergangen und es trat seither keine Erscheinung der Darm¬
stenose ein.
Ich habe mir das Wort erbeten, um in ähulichen Fällen
auf die \del leicht günstige Wirkung der subkutanen Fibrolysia-
injektioneii hinzuweisen.
Hofi’aL Freiherr v. Eisclsbei'g sah nach einer Heniien-
operation nur einen einzigen derartigen Fall, hingegen beobachtete
er mehrere ähnliche Fälle nach Appendixopei'alionen, die sich
alle ohne Operation besserten.
Hofrat Hochenegg sali ebenfalls einen derartigen Fall nach
einer Hernienoperation. Anfangs war er geneigt, den großen Tumor
für Aklinomykose zu halten, da hei der Beschäftigung dieses
Mannes der Verdacht dieser Erkrankung nahe lag. Eine Behand¬
lung mit Jod innerlich und graue Salbe lokal führte in 14 Tagen
zur Heilung.
Primarius Di'. Schnitzler bemerkt in bezug auf
den von Dr. Teleky envähnten Fall, daß es sich hier wohl
nicht um Epiploitis, sondern um Stenose infolge von Schleim-
hautveränderimgen in dem inkarzeriert gewesenen Darm gehandelt
haben dürfte. Mit Bezug auf die Bemerkung Hofrat v. Eiseis-
bergs erwähnt Schnitzler, daß seine Arbeit über Epiploitis
der Brauns vorausgegangen ist. Dem von Hofrat Hochenegg
geschilderten Fall stellt Schnitzler ein Gegenstück entgegeip
einen Fall, in welchem Schnitzler einen wenige Wochen nach
Operation eines appendizitischen Ahzesses aufgetretenen Tumor
für einen epiploitischen hielt, während es sich später heraus¬
stellte, daß(]^ein Lymphosarkom vorlag.
Hof rat Freiherr v. Eiseisberg stellt einen Fall vor, in
dem er ein 0 e s o p h a g u s d i v e r t i k e 1 mit Erfolg operiert hat.
36jähriger Schneidergehilfe, hat vor vier Jahren eine Pneumonie
überstanden, vor zwei Jahren stellten sich Schluckbeschwerden
ein, weswegen er im Juli 1904 eine chirurgische Abteilung auf¬
suchte. Daseihst wurde, auf 19 cm hinter der Zahnreihe, ein
impermeables Hindernis konstatiert. Die Oesophagoskopie ergab
einen von rechts hervorragenden, nicht exulzerierten Tumor, der
das Lumen obturierte. Die dem Patienten vorgeschlagene Gastro¬
stomie wurde verweigert. Da die Schluckbeschwerden Zunahmen,
Avurde im März 1905 Pat. neuerdings in dasselbe Spital auf¬
genommen, woselbst wieder auf 19 cm hinter der Zahnreihe ein
exulzerierter Tumor konstatiert werden konnte. Es wurde in
der Annahme, daß es sich um ein Karzinom handle, die Gastro¬
stomie ausgeführl. Nach 17 Tagen wurde der Patient in gutem
Zustande entlassen. Zu Hause soll das Drain herausgefallen sein,
worauf die Fistel spontan verheilte. Als Pat. im Jahre 1906 sich
wieder im selben Spitale vorstellte, war die Fistel vollkommen
geheilt; bei der Untersuchung: fand sich auf 32 cm ein inpermeables
Hindernis — einen abermaligen operativen Eingriff verweigerte
der Patient. Feste Speisen wurden damals noch leidlich gut
genommen, aber dann stellten sich Schluckbeschwerden ein, Aves-
halb Pat. Anfang Januar meine Klinik aufsuchte.
Status praesens: Schlecht aussehender Mann mit inten¬
siver Bronchitis. Am Halse ist nichts zu sehen, noch zu fühlen,
am Abdomen ist die Narbe nachziiAveisen, welche von der da¬
maligen Gastrostomie herrührt.
Die SondenimtersUchung ergab das Vorhandensein des
V. B e r g rn an n sehen Symptoms: Manchmal gelingt die Sondierung
auch mit dicken Sonden, andere Male bleibt jede Sonde bei 23 cm
hinter der Zahnreihe stecken.
Bei der Oesophagoskopie gelangt das Instrument in einen
Blindsack, der von geröteter Schleimhaut ausgekleidet ist, beim
Zurückziehen gelingt es nicht einAvandsfrei, die Lücke im Oeso¬
phagus zu sehen.
Bei Verabreichung von Wismuth - Kartoffelbrei Avird im
Röntgenbild, in der Höhe der ersten Rippe, ein fünfkronenstück¬
großer Schatten sichtbar. Bei einfacher Durchleuchtung ist der¬
selbe noch viel deutlicher sichtbar.
Nachdem sich der Patient von seiner Bronchitis etwas er¬
holt hatte, wurde am 22. Januar 1907 in Narkose durch einen
Schnitt am vorderen Rande des linken Sternokleideus auf den Oeso¬
phagus eingegangen (Zurückziehen der linken Schilddrüsenhälfte
und Ligatur der Arteria thyreoidea inferior). In der Höhe der
Gart, cricoidea an der linken Seite, AVurde ein AAvalnußgroßes
Säckchen, welches mit einem Stiel dem Oesophagus ansaß, ent¬
deckt. Nach vorheriger Abdichtung der Umgebung, Avurde der
Stiel durchtrennt, ein dünnes Drain von der Wunde aus in deii
Magen geführt und die Wunde im Oesophagus im übrigen Amr-
näht. Lose Tamponade der Wunde, Anlegen nur einzelner
Knopf nähte.
Zunächst Avieder Aufflackern der Bronchitis, dann langsame
Besserung und nach sechs Tagen vollkommene Entfernung des
Ernährungsschlauches. Der recht elende Patient A\mrde täglich
zweimal mittels der Sonde per os ernährt. Nach drei Wochen
gelang das spontane Schlucken, Rasche Verkleinerung der Fistel,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
b-62
die jetzt geheilt isl. Die inikroskopische Untersuchung des exstir-
pierten Sackes ergibt Plattenepitliel und eine gut entwickelte
^luskulatur.
Ich stelle ferner den \’or vier Jahren von mir operierten
Patienten vor, der an deniiselhen Leiden gelitten hatte und welchen
f)r. Laub vor der Operation hier in der Gesellschaft gezeigt hatte.
Lr ist dauernd vollkonunen geheilt. Von beiden Patienten sind
demonstrative Röntgenbilder vorhanden. (Demonstration.) Ferner
werden Röntgenbilder eines nicht operierten Falles von Oeso-
phagusdivertikel vorgestellt, welcher einen amerikanischen Kol¬
legen betraf.
IMeine Erfahrungen beziehen sich auf vier operierte Fälle,
Der erste Fall, noch von Billroth operiert, ist von Schwarzen¬
bach in der Wiener klinischen Wochenschrift beschrieben. Die
Exstirpation führte zur Heilung. Der zweite B^all, von jnir in
Königsberg operiert, führte an einer akuten Mediastinitis zumi
Exitus. Dazu kommen die zwei heute von mir vorgestellten
Fälle, Avelche durch die Operation heilten.
Die Exstirpation ist hei allen Grenzdivertikeln als das Nor¬
mal verfahren zu bezeichnen. Die stets vorhandenen, sich aber
vermehrende]! BeschAverden geben eine absolute Indikation dazu
ab. lieber die Art und Weise der Versorgung des Oesophagus-
loches, das nach der Operation zurückbleibt, wird noch ver¬
schieden geurteilt.
Das ideale Verfahren — die exakte Nalit — dürfte in
der Mehrzahl der Fälle — da hier das beste Klebemittel für das
Halten der Naht (das Peritoneum) fehlt — versagen. Sie wurde
in keinem der Fälle zur Anwendung gebracht. Nach dem guten
Resultate, welches unter anderem vor kurzem v. Bergmann
berichtet hat (primäre Naht und Heilung) ist dieselbe jedoch ent¬
schieden zu versuchen.
Priv.-Doz. Dr. Fein: Die Dame, welche ich hente hier
vorstellen wollte, mußte leider vorzeitig in ihre Heimat nach Un¬
garn verreisen, weshalb ich über den interessanten Fall nur
berichten kann. Am 2. IMärz d. J. war die Dame mit dem Be¬
festigen von Reißnägeln beschäftigt und hielt einen solchen zwischen
den Lippen. Bei Gelegenheit eines Versuches zu sprechen, geriet
ihr dieser in den Hals und blieb daselbst stecken. Der Fremd¬
körper machte ihr keine großen Beschwerden, keine Atemnot und
nur ein unangenehmes Gefühl beim Teeschlucken. Sie konnte
ohne die geringsten Schmerzen Speise und Getränke zu sich
nehmen. Der herbeigerufene Arzt stellte durch Eingehen mit dem
Finger und mit Instrumenten vergebliche Versuche zur Entfernung
des Nagels an. Am nächsten Tag kam die Patientin zu mir und
ich konnte bei der laryngoskopischen Untersuchung den Nagel
sofort entdecken. Er saß merkwürdigerweise in die hintere
(laryngeal e) Fläche der Epiglottis fest wie mit dem Daumen ein¬
gedrückt am Uebergang des vertikalen Teiles des Kehldeckels in
den horizontalen. Da der Stift offenbar im horizontalen Teil
steckte, konnte nur die horizontal stehende, hintere Hälfte der
Platte des Nagels gesehen werden. Unter vorsichtiger Kokain¬
einträufelung machte ich zunächst den Versuch, die Platte von
hinten her mit der Sehr öfter sehen Pinzette zu erfassen, was
aus dem Grunde nicht gelang, weil die Branchen derselben nicht
derart gekrümmt werden, daß sie die horizontal stehende Platte
von oben nach unten her erfassen konnten. Die Situation war inso-
ferne kritisch, als der Nagel gerade oberhalb der Kehlkopföffnung
saß und unvermeidlich in die Trachea gefallen wäre, wenn es
mir zwar gelungen wäre, ihn zu lockern, jedoch nicht zu er¬
greifen; bei der Stellung der Branchen und der Form des Fremd¬
körpers wäre ein Entgleiten sehr wahrscheinlich gewesen. Ich
unterließ daher jeden weiteren Eingriff mit der Pinzette und
führte einen Schlingenschnürer derart ein, daß ich die Platte von
vorne nach unten her mit der Drahtschlinge umging, dieselbe vor¬
sichtig zuzog und auf diese Weise den Stift zwischen Platte und
Kehldeckel sicher gefaßt hielt. Mit einer verhältnismäßig kräftigen
Bewegung nach hinten gelang nun die Extraktion des Nagels
leicht und sicher.
Das Interesse des Falles liegt auch in der sonderbaren
Lokalisation des Fremdkörpers. Das feste Eindringen des Nagels
in die hintere Fläche des Kehldeckels kann nur so erklärt werden,
daß der Nagel im Momente des Eindringens derarf in den Aditus
ad laryngem fiel, daß der Stift nach vorn, die Platte nach hinten
zu liegen kam. Nun erfolgte reflektorischer Verschluß des Aditus,
wobei der Stift in die Epiglottis eingetrieben wurde ; jede Schluck¬
bewegung drückte den Reißnagel noch fester in seine Unterlage.
Andererseits ist die Beobachtung des Falles aus dem Grunde
von großer praktischer Bedeutung, weil er zeigt, wie gefährlich
es ist, irgendwelche Manipulationen zur Feststellung oder Ex¬
traktion eines Fremdkörpers vorzunehmen, bevor nicht die Spiegel¬
untersuchung vorangeschickt wurde. Die Lage des Nagels macht
es in diesem Falle klar, daß er, wenn er nicht so fest im Kehl¬
deckel gesteckt hätte, bei jeder Manipulation in die Trachea
gefallen wäre, was begreiflicherweise unberechenbare Folgen nach
sich gezogen hätte. Endlich muß erwähnt werden, daß es hier,
wenn wir von der Röntgendurchleuchtung absehen, die nur hätte
zeigen können, daß der Nagel im Kehlkopf stecke, durch keine
andere Methode außer der laryngoskopischen gelungen wäre,
den Fremdkörper zu entdecken, bzw. zu entfernen.
Dr. H. Marcus demonstriert 1. einen aseptischen
T a s c h e n k a t h e t e r i s a t o r.
Der Apparat dient dazu, den weichen Katheter, ohne ihn
mit den Händen zu berühren, in die Harnröhre einzuführen und
gleichzeitig; um den steril gehaltenen Katheter bequem zu ver¬
wahren.
Er besteht aus einer in der Mitte auseinandernehmbaren,
flach gedrückten Blechkapsel, die in ihrem' vorderen Anteil in
einen kurzen Hals ausläuft, in den eine vorne trichterförmig auf¬
gebogene Halbrinne eingeschoben Avird, die als Oelreservoir dient.
Im Vorderen Kapselteil befinden sich mehrere kleinere
Löcher zum ZAvecke des raschen Abfließens der Auskochflüssig¬
keit; ferner sind vorne zAvei Branchen aufgelötet, durch deren
Zusammendiiicken der Schnabel des im Innern der Kapsel spiralig
aufgerollten Katheters fixiert und sukzessive, Avie sonst mit den
Fingern vorgeschoben AAÜrd. Eine im Innenraum gelagerte, hohle
Metall'spule, auf welche der Katheter auf gerollt ist, verhindert
ein Steckenbleiben des Katheters.
Ueber den vorderen Anteil wird nach dem Auskochen zum
Zwecke der Verhinderung irgendwelcher Berührung die Schutz¬
hülse gestülpt, Avelche erst vor der Benützung des Instrumentes
abgenommen Avird.
Beim Abbeben der Schutzhülse ist der Unterteil an dem
gerieften runden Plättchen mit Daumen und Zeigefinger fest-
zuhalten.
2. Einige Modifikationen und Hilfsinstrumente an
einem selbsthaltenden, zav eiblätterigen Vaginal¬
spekulum, die sich für die Ausführung kleinerer Operationen
ohne Assistenz, sowie für die Sprechstunde als recht zweckmäßig
bewährt haben.
Die untere Branche des Spekulums, an die ein Abfluß^-
trichter arigelötet ist, läßt sich nämlich durch Herausziehen eines
schuhlöffelähnlichen Einsatzes etAva im Sinne eines Martin-
scheu Spekulums verkürzen.
Die obere Branche läßt sich nicht nur radiär und parallel
gegen die untere verschieben, sondern auch an einer am unteren
Anteil befindliclien, horizontalen Zalmstange nach vorne diri¬
gieren, so daß dem eventuellen Vorziehen des Uterus kein Hinder¬
nis entgegensteht. Ein an der Unterseite angebrachtes Häkchen
gestattet die Befestigung von mit Ringelchen versehenen Kugel¬
zangen, bzAv. Harpunen am oberen Spiegelanteil. Auf diese Weise
ist es ermöglicht, ohne Assistenz sich' nur jede mögliche Be¬
quemlichkeit beim Arbeiten an der Portio oder Uterusinnenfläche
zu schaffen.
Um bequem und völlig aseptisch tamponieren zu können,
läßt sich ein viereckiges oder rundes Tamponadekästchen an
der horizontalen Zahnstange hinaufschieben.
Solche Kästchen werden auf meine Veranlassung auch zur
Befestigung an gewöhnliche Martinspekula von der Firma
H. Reiner, die die Herstellung meines Spiegels übernommen hat,
vorrätig gehalten und ermöglichen ein exaktes, aseptisches Tam¬
ponieren ohne Assistenz.
Endlich möchte ich noch hemerken, daß sich mein Spekulum
nach Zerlegung und Befestigung an entsprechende Handgriffe auch
Avie ein geAvöhnliches Spekulumpaar Amrwenden läßt, wobei der
untere hohle Handgriff ein reinliches Abfließen der Spülflüssig¬
keit u. dgl. ermöglicht.
Hof rat Hochenegg berichtet über einen Fall von während
der Gravidität entstandenem Rektumkarzinom und durch das¬
selbe bedingtes Geburtshindernis. Es Avar nötig, zunächst durch
Sectio caesarea, die Priv.-Doz. Dr. Hai ban ausführte, die am
Ende der Gravidität stehende Frau zu entbinden und dann in
zweiter Opei-ation, die 16 Tage später ausgeführt wurde, das
Rektalneoplasma durch Resektion sakral zu entfernen. (Demon¬
stration des Präparates.) Pat. befindet sich auf dem Wege fort¬
schreitender Heilung.
Anschließend an die Demonstration betont Hochenegg?
die relative Häufigkeit (Hochenegg verfügt liereits über sechs
derartige Beobachtungen) der Kombination von Schwangerschaft
und Rektumkarzinom und die Schwierigkeit für Indikationsstellungl
und Therapie, die hieraus erwächst, da hiebei das Leben des
Kindes und das der Alutter in Eiwägung zu ziehen sei. Es lassen
sich in dieser Beziehung folgende Gesichtspunkte aufstellen ; Bei
Nr. 11
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
33.'!
inoperablem Karzinom kommt mir das Leb'en des Kindes in
Betracht.
Bei operablem Rektumkarzinom ist in der ersten Zeit der
Gravidität die Sclnvangerscliaft zu untcrlircchen, das Puerperium
abzuwarten und die Exstirpation vorzunebmen. Am Ende ibu'
Gravidität wird es sieb empfehlen, so vorzugelien, wie in dem
geschilderten Falle, d. b., die Entbindung durch Sectio caesarea
und dann in. z-weiter Sitzung die Exstirpation des Rektu'm-
k a r z i noTOiS v o r zu ne hme n .
Dr. Boese (als Gast ) : Ein Fall von S t i e 1 1 o r s i o u ein e s
sarkomatös degenerierten B au c b li ode n s. (Siebe unter
den üriginalien dieser Woebensebrift.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung der pädiatrischen Sektion vom
14. Februar 1907.
J. P’lesch demonstriert ein durch Operation gewonnenes
Präparat von Darm in vagi nation. Ein Knabe erkrankte unter
den Symptomen von perforativer Appendizitis. Bei der Operation
fanden sich das Cökuni und der Appendix normal, dagegen war
ein lleumstück von Vr m Länge invaginiert und gangränös. Diese
Darmpartie wurde abgetragen und der Darm genäht. An der
Spitze des Intussiiszeptum saß ein haselnußgroßer Polyp. Das
Befinden des Knaben ist gut.
Th. Eschericb zeigt ein achtmonatliches Kind mit gal¬
vanischer Nervenübererre gbarkeit. Das künstlich ge¬
nährte Kind bekam vor zwei Alonaten Verdauungsstörungen, seit
einigen Tagen hat es einen geringgradigen Stimmritzenkrampf.
Es zeigt leichte Kraniotabes und Erscheinungen von latenter
Tetanie (Fazialisphänomen, mechanische und elektrische Eeber-
erregbarkeit), aber keine Krämpfe. Die galvanische Erregbarkeit
ist hochgradig gesteigert, die Kn. S. Z. tritt bei 005 Milliampere,
die An. S. Z. und An. Ö. Z. bei 0-2 Milliampere, die Kn. Ö. Z.
bei 0-3 Milliampere ein. Nach Aussetzen der Milchdiät stieg die
galvanische Erregbarkeit noch an, während sie bei anderen Fällen
und auch nach den Angaben Finkei steins durch einen solchen
Nahrungswechsel herabgesetzt wurde. Zur Klärung der Frage,
ob das Fazialisphänomen durch direkte und reflektorische Reizung
des Fazialis zustandekommt, wurde eine Stelle der Wange durch
Aufsetzen der Anode anästhetisch gemacht; trotzdem konnte durch
Beklopfen dieser Stelle das Fazialisphänomen ausgelöst werden.
Dies spricht dafür, daß* es durch direkte Reizung des Fazialis
entsteht. Bei den Untersuchungen über die elektrische Erreg¬
barkeit hei Säuglingen hat sich eine überraschende Häufigkeit
von leichter anodischer und kathodischer Uebererregbarkeit er¬
geben; höhere Grade von anodischer Uebererregbarkeit sind selten
und sie sind gewöhnlich mit Krampfzuständen, namentlich mit
Laryngospasmus, vergesellschaftet.
Fr. Spieler bemerkt, daß nach seinen Beobachtungen bei
Tetanie und galvanischer Uebererregbarkeit durch Aenderung der
Ernährung keine Besserung herbeigeführt wurde, nach Verab¬
reichung von Phosphorlebertran sank die Uebererregbarkeit all¬
mählich ab, während Lebertran und Parathyreoideatabletten keinen
Erfolg hatten. Bei Untersuchungen am Nervus medianus trat
die An. Ö. Z. früher auf als die An. S. Z.
V. Pirquet betont, daß sich die verschiedenen Nerven
in dieser Hinsicht abweichend verhalten, beim Peroneus zum
Beispiel tritt die Reaktion anders auf als beim Medianus. Als
Beweis für die Uebererregbarkeit soll nur das absolute Maß der
Stromstärke genommen werden, bei welcher die Zuckung auftritt.
R. Neurath frägt, ob das Fazialisphänomen einen Rück¬
schluß auf die Nervenübererregbarkeit gestattet. Es zeigt sich
eine saisonweise Uebererregbarkeit des Fazialis; so hat er es
in manchen Monaten bei 70% der untersuchten Kinder gefunden,
wobei sich keine Abhängigkeit von der Ernährungsweise zeigte.
V. Pirquet erwidert, daß das Fazialisphänomen fast
immer mit kathodischer Uebererregbarkeit einhergeht. Bei einer im
November an 500 Kindern durchgeführten Untersuchung fanden
sich ca. 20 mit Fazialisphänomen, 17 mit kathodischer und 200
mit anodischer Uebererregbarkeit.
Th. Esc he rieh bemerkt, die Ansicht von Tbiemich,
daß das Fazialisphänomen für Tetanie beweisend ist, sei nicdit
richtig, weil es auch bei anderen Erkrankungen vorkommt. Beim
Fazialisphänomen ist die galvanische Uebererregbarkeit des Fa¬
zialis im Vergleiche zu derjenigen der anderen Nerven nicht
sehr groß. Galvanische und mechanische Uebererregbarkeit gehen
nicht immer parallel.
Baumgarten erstattet eine vorläufige Mitteilung über
seine Untersuchungen betreffs des Vorkommens von Milch¬
säure i m L i q u o r c e r e I) r o spinalis. Der Liquor wurde durch
Lumbalpunktion gewonnen ; im ganzen wurden 30 Fälle untersucht
und zum Nachweis der Milchsäure die Uf fei maurische Reaktion
angewendet, ln 25 Fällen, welche Meningitis, chronischen Hydro¬
zephalus, Urämie, eklamptische und Letanische Zustände betrafen,
war der Nachweis der Milchsäure positiv,' in den übrigen Fällen
(Nabelsepsis, beginnende Meningitis) negativ. Als Muttersubstanz
der Milchsäure kommen Kohlehydrate und Eiweiß in Betracht.
c Dr. Bianca Bienenfeld: Die Leukozyten in der
Serumkrankheit. Die Symptomatologie der SerUmkrankheit
ist von V. Pirquet und Schick beschrieben worden. Nach
Injektion größerer Mengen artfremden Eiweißes entw'ickelt sich
am achten bis zwölften Tage das Krankheitsbild, das sich in
klassischen Fällen in einem Exanthem von flüchtigen Efflores-
zenzen, Fieber, Schwellung der Lymphdrüsen, Oedemen, Gelenks¬
schwellungen, Störungen des Allgemeinbefindens und manchmal
in Eiweißausscheidung als Zeichen der Nierenreizung äußert, ln
vier Fällen ergaben tägliche Leukozytenzählungen das Auftreten
einer Leukopenie zur Zeit der Serumerscheinungen. Zur Beant¬
wortung der Frage: Gibt es eine für die Serumkrankheit charak¬
teristische Leukozytenkurve und ist die Leukopenie, die im Blute
der niit Serum behandelten Individuen eintritt, auf eine gleich¬
mäßige Verminderung: sämtlicher Leukozytenarten zurückzuführen,
hat Vortr. an neun mit Injektion von 100 bis 200 cm® des Moser-
schen polyvalenten Scharlachserums behandelten scharlachkranken
Kindern und an einem an Tetanus erkrankten und mit Injektioni
voU' Behrings Tetanusantitoxin (Summe der Serummenge
135 cm®) behandelten Patienten der Abteilung Ortner täglich
durch drei bis vier Wochen fortgesetzte Leukozytenzählungen
vorgenommen. Es ergaben sich hiebei folgende Resultate : Die
Injektion großer Serummengen vermag zweierlei Wirkungen auf
die Leukozytenzahl auszuüben: Zu der unmittelbar nach der
Injektion eintretenden Leukopenie, der eine Leukozytose folgt,
eine Reaktion, die sich längstens innerhalb der ersten 24 Stunden
abspielt und mit Rücksicht auf den raschen Ablauf der Er¬
scheinung wohl auf die Wirkung negativer Chemotaxis auf die
Leukozyten zu beziehen ist, gesellt sich ein für die Serumkrankheit
charakteristisches Ansteigen der Leukozytenkurve während der
Prodromalerscheinungen der Serumkrankheit, der dann frühestens
am sechsten Tage nach der Injektion ein jähes Absinken der
Leukozyten folgt, das der Eruption der Serumersebeinungen vor¬
hergeht. Von da an sinkt die Leukozytenzahl erheblich ab und
zeigt sich in der Mehrzahl der Fälle eine alisolu e Leukopenie
— Werte unter 5000 Leukozyten — , die ein Pis vier Tage
anhält und mit der Höhe der Serumkrankheit zusammenfällt.
Nach dem Ablauf der Serumerscheinungen erhebt sich die Kurve
wieder zu normalen Werten. Die differentialdiagnostischen Zäh¬
lungen haben ergehen, daß der plötzliche Leukozytenabfall durch
ein intensives Ahsinken der absoluten Zahlen der neutrophil
granulierten Leukozyten bedingt ist, deren tief verminderte Werte
so lange anhalten, als die Leukopenie währt. Die eosinophil
granulierten Leukozyten zeigen während der Serumerscheinungen
kein von der Norm abweichendes Verhalten. Die Leukozyten
verhalten sich von den Lymphozyten insoferne verschieden, als
sie an der tiefen Remission der Leukozyten nicht entsprechend
teilnehmen; während die Verminderung der granulierten Zellen
gegenüber ihrer normalen Menge sehr beträchtlich ist, sinken
die ungranulierten nur w^eit weniger an Zahl ab. Auffallend
erschien das Auftreten von Uebergangsformen und großen mono¬
nukleären Leukozyten in vermehrter Älenge nach der Leukopenie.
Ausfuhr unreifer Knochenniarkseleniente, wie kernhaltiger Ery¬
throzyten und Myelozyten, konnte wälirend der Serumkrankheit
nicht beobachtet werden. Möglicherweise könnte die Hypothese,
daß die Antikörper direkt aus den neugehildeten Zellen des
Knochenmarkes gebildet würden, daher weniger Granulozyten zur
Zeit der Serunikrankheit dem zirkulierenden Blut zur Verfügung
stehen, die eintretende Leukopenie erklären. Vortr. weist ferner
auf den Zusammenhang zwischen Leukopenie und Schwellung
der Lymphdrüsen, sowie der Milz und der Präzipitinbildung hm.
Herrn. Schlesinger hat bei einem schweren Typhus mit
Leukopenie (3000 Leukozyten) nach Seruminjektion ein Ansteigen
der Leukozytenzahl bis 24.000 beobachtet, wobei das Maximum
derselben zu einer Zeit vorhanden war, wo noch Zeichen der
Serumkrankheit bestanden. Ob ein solches abweichendes \ er¬
halten mit der Art der Erkrankung oder vielleicht mit der Art
des Serums, zusammenhängt, müssen weitere Beobachtungen lehren.
Th. Es che rieh bemerkt, daß man die eintretende Leuko¬
penie auch durch die Bildung eines Toxins nach dei Serum¬
injektion erklären könnte, welches relativ die Granulozyten vei-
nichtet; eine solche elektive Wirkung haben z. B. die Rönlgen-
strahlen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 11
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in
Böhmen.
XV III. Sitzung vom 27. November 1906.
Bayer: Ueber die \'ereinfc'ichung der Tborako-
pla'siik;
Vortr. empfiehlt folgeiide Modifikalion der S c he d e sclien
Thoraxreüektion : Senkrechter Schnitt von der Mitte der Axilla
ahwärlh; er geht an den Vorderen Zacken des Musculus serratus
aiilicus major vorbei und trifft gleich alle Rippen von der zweiten
bis zur zehnten, ohne wichtigere Gebilde und größere Gefäße
zu Verletzen, ln dieseju Schnitt werden alle Rippen zunächst
auf ca. 2 cm Länge reseziert und, dann in der so entstandenen
rippenlosen Furche die weiche Thoraxwand von oben heruriter
mit dem Thermokauter gespalten. :
Nach Abfluß des Inhaltes orientiert man sich durch den
Spalt über die Ausdehnung der Höhle und sieht, wie viele und
wie weit die Rippen entfernt werden müssen. Die Ausschälung
der Rippen aus ihren Periostbülsen geht von dem seitlichen Spalt
nach vorne und hinten auffallend leicht und rasch vor sich.
Die Wunde wird bloß oben mit einigen Suturen verkleinert,
der übrige Spalt offen gelassen und die Weichteile nur angelegt.
Schrägschnitt unten entlang einer der Basalrippen zur Drai¬
nage nach hinten.
Rihl: Ueber atrioventrikuläre Tachykardie beim
Menschen. ,,
Bei einem Patienten, dessen Puls zeitweise rascher schlug,
ließ sich an der Hand der Arterien- und Venenpulskurven zeigen,
daß während der Zeit der rascheren Pulsfolge die Kammer vor
dem Vorhof schlug.
Die Umkehr der Sukzession war darauf zurückzuführen, daß
die Herzkontraktion auslösenden Reize während der raschei’en
Pulsfolge in der Atrioventrikulargegend näher der Kammer sich
bildeten.
L i p p i c h : Ueber Derivate von Aminosäuren.
Der Vortragende erörtert zunächst die Notwendigkeit ([uanti-
tativer Bestimmungen von Eiweißspaliungsprodukten, um zu einer
rationellen Einteilung der Eiweißkörper zu gelangen. Hiezu ist
die Auffindung analytisch brauchbarer, schwer löslicher Verbin¬
dungen der Aminosäuren notwendig; in diesem Sinne werden drei
Reihen verwandter Verbindungen besprochen, die, wie der Vor¬
tragende auseinandersetzt, auch noch von anderweitigem physio¬
logischen Interesse sind. Die genannten Verbindungen sind; Die
Karbaminosäuren (Siegfried, Zeitschr. f. physiol. Chemie 1905,
Bd; 44, 46; 1906, Bd. 39), die Hydantoiiisäuren (Lippich, Zeit¬
schrift f. physiol. Chemie 1906, Bd. 39) und die Diureide (Hu¬
go uneng und Morel, Compt. rend. 1905, Bd. 140; 1906, Bd. 143).
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 6. Februar 1907.
Vorsitzender’: Physikus Dr. Liehinann.
Schriftführer : Dr. S c h w e i n b u r g.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. C. Sternberg demonstriert eine
kindskopf große Geschwulst, die von Prim. Dr. Bittner aus
der Orbita .eines neunjährigen Knaben entfernt worden war. Die
Untersuchung des Tumors ergab, daß es sich um ein perivas^
kuläres Spindelzellensarkom handelt, das anscheinend vom
Knochen ausgeht. Die Geschwulst hatte den Bulbus bis auf die
Kornea allseits umwuchert und stark zusammengedrückt; der¬
selbe ist in den Tumor fast eingemauert, jedoch nirgends durch¬
wuchert. Der Nervus opticus ist ganz in der Geschwulst aufge¬
gangen und nirgends auffindbar.
Prim. Dr. Bittner demonstriert die photograp bischen Ab-,
bildungen dieses Falles, welche die ganz kolossale Größe des
Tumors vor Augen führen. Die Geschwulst soll seit sechs Mo¬
naten, anfangs langsamer, schließlich sehr schnell gewachsen sein,
war bei der Aufnahme des Kindes (am 7. Januar 1907) fast kinds¬
kopfgroß, von höckeriger Oberfläche, an den peripheren Teilen
gangränös zerfallend, so daß den armen Knaben eine aashafte
Atmosphäre . mngab. Häufige Blutungen und ständige Fieber¬
bewegungen brachten den Kranken sehr herab, so daß derselbe
bei der Aufnahme sehr anämisch, kachektisch und appetitlos war.
Die Basis des Tumors, dessen Wurzel in der rechten Orbita saßl,
war nahezu kreisrund in einer Linie, die von der Nasenwurzel
beginnend, über den Margo supraorbitalis, jenseits des äußeren
Augenhöhlenrandes, über das Os zygomatic'um herab zum Ober¬
kiefer und hier quer bogenförmig zur Nase verlief. In den vor¬
dersten Partien des Tumors war die trübe Kornea deutlich sichtbar,
der Tumor hatte also den Bulbus aus der Augenhöhle heraus¬
gehoben, mithin war sein Ursprung retrobulbär.
Nach kurzer Beobachtungszeit entschloß sich der Vor¬
tragende, die Enlfeiaiung ties ungemein Tasch wachsenden Tumors
zu versuchen. Am 14. Januar 1907 wurde Iderselbe in Narkose
mittels Paquelin zunächst an der Basis abgetragen, hierauf mittels
Raspatorium der Orbitalteil des Tumors samt dem Periost der
Orbitalknochen enukleiert. Dieser Akt war trotz der raschen
Ausführung sehr blutig; der ohnehin anämische Kranke wurde fast
pulslüs. Die Opei’ation wurde abgebrochen, nachdem der Grund
der Orbita, sowie der in die Länge gezogene Nervus opticus
mit Thermokauther verschorft wurden.
Da bei dieser Operation konsUitiert wurde, daß der Tumor
durch den Margo infraorbitalis in die Oberkieferhöhle gewuchert
war, das Os zygomaticum, die vordere Wand der Oberkieferhöhle
vollständig durchwuchernd, wurde nach zehn Tagen, nachdem
sich der Knabe etwas erholt hatte, am '24. Januar, abermals in
leichter Narkose, der Tumor aus dem Antrum Highmori, samt
dem zerstörten Os zygomaticum, weiters dem. vorderen und dem
größten Teil der medialen Wand der Oberkieferhöhle, dem Proces¬
sus nasalis des Oberkiefers, weiters dem Os lacrimale entfernt, so
daß eine kleine Kommunikation mit der Nasenhöhle entstand.
Hiebei gab es abermals eine vehemente Blutung, besonders aus
der Arteria maxillaris interna. Die große Wundhöhle wurde tam¬
poniert. Nach dieser zweiten Operation erholt sich der arme
Junge sichtlich, das Fieber ist verschwunden,' der Appetit gut,
das Auge frischer; die Höhle granuliert rein, ein Rezidiv ist noch
nicht sichtbar.
Wenn auch die Prognose dieser Tumoren eine schlechte ist,
so ist doch die rechtzeitige radikale Operation in jedem Falle
zu versuchen und es ist sonderbar, daß in diesem Falle ein Arzt
den Mut fand, den wohlhabenden Eltern von einer Operation
des Knaben von allem Anfang an abzuraten, mit der Moti¬
vierung, daß das Kind mit und ohne Operation unrettbar ver¬
loren sei. Dank diesem ärztlichen Rate erreichte der Tumor diese
kolossale Größe.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. C. Sternberg hält den zweiten
Vortrag über den heutigen Stand der Immunitätslehre
und bespricht die Ehrlichsche Seitenkettentheorie, die Agglu-
tinine, Präzipitine und Zytolysine; unter Anführung zahlreicher
Beispiele werden die sich aus diesen Erkenntnissen ergebenden
Schlußfolgerungen für die Praxis und die theoretischen Wissen¬
schaften erläutert.
Programm
der am
Freitag: den 15. März 1907, 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Chrobak stattfindenden
Hauptversammlung der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien.
1. Wahl der Funktionäre und neuen Mitglieder.*)
2. Bericht über das abgelaufene Vereinsjahr.
3. Prof. Dr. Alexander Fraenkel: Vinzenz v. Kern — Josef
Lister.
4. Verkündigung des Wahlresultates.
In dieser Sitzung finden nach § 12 der Geschäftsordnung keine
Demonstrationen statt.
*) Die Stimmzettel für die Wahl werden von 6 bis 8 Uhr im Verwaltungsrats¬
zimmer entgegengenommen.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der Pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale
der Klinik Escliericli Donnerstag den 14. März 1907, um 7 Uhr
abends, statt.
Vorsitz: Professor Dr. Unger.
Programm;
1. Demonstrationen (angemeldet : Dozent Dr. Moser : Diffuse Sklerose.)
2. Dr. Friedjung; Läßt sich ein Einfluß der Säuglingsernährung
auf die physische Leistungsfähigkeit des Erwachsenen erkennen?
DasPräsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 18. März 1907, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums, L, Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Prof. Englisch stattfindenden
wissenscliaftlichen Versammlung.
Kais. Rat Dr, H. Charas: Ueber erste ärztliche Hilfe.
V«r»ntwortUch#r R.daktBur: Adalbert Karl Trupp. V«rl»g von WUholm Branmfiller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien, XVIII., Tberesiengasse 8.
rr — -
Die
„Wleuer kllulsclte
WoclieMsclirlft“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
4 - . - . .
Redaktion:
Telephon Nr. 16.282.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0- Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Arthur Schattenfroh, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel. , vena^shandiung:
Telephon Nr. 17.618.
(r -
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Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
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lung nicht erfolgt ist, gelten
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werden mit GO h = 50 Pf. pro
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zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebereinkommen.
■ — 6
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 21. März 1907.
Nr. 12,
INH
1. Origiualartikel : 1. Vinzenz v. Kern — Josef Lister. Rede,
gehalten am 15. März in der Hauptversammlung der k. k. Gesell¬
schaft der Aerzte in Wien, von Prof. Dr. Alex. Fraenkel.
2. Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in Wien.
(Vorstand: Prof. R. Paltaiif.) lieber Toxine des Typhusbazillus.
Von Prof. R. Kraus und Dr. R. v. Stenitzer.
3. Erwiderung auf L. Zupniks Artikel (Berliner klinische Wochen¬
schrift Nr. 53, 1906). Von Prof. R. Kraus.
4. Aus dem hygienischen Institut der deutschen Universität in
Prag. (Vorstand: Obersanitätsrat Prof. Hueppe.) Ueher Bakterien-
präzipitalion durch normale Sera. Von Privatdozent Doktor
Edmund Hoke, I. Assistenten der medizinischen Klinik Ober¬
sanitätsrat Prof. R. V. Jaksch.
5. Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. (Vorstand:
Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg.) Ein Fall von Abrißfraktur
eines Dornfortsatzes. Von Dr. Otto v. Frisch, Assistenten der
Klinik.
II. Referate: Ueher Wesen und Ursachen der Geschwülste. Von
Prof. Dr. Max Borst. Jahresbericht über die Ergebnisse der
ALT:
Immunitätsforschung. Von Dr. Wolfgang W e i c h a r d t.
Erkältung und Erkältungskrankheiten. Von Dr. Karl
C h o d 0 u n s k f. Einführung in das Studium der Malaria¬
krankheiten mit besonderer Berücksichtigung der Technik.
Von Dr. Reinhold Rüge. Lehrbuch der allgemeinen Pathologie
und allgemeinen pathologischen Anatomie. Von Dr. Richard
Oestreich. Die hämatopoetischen Organe in ihren Be¬
ziehungen zur Pathologie des Blutes. Von Dr. Konrad Hel ly.
Archives de Tinstitut royal de bacteriologie Camara Pestana.
The Thompson Yates and Johnston Laboratories Report.
Liverpool School of tropical Medicine. Ai'chives de medecine
experimentale et d’anatomie pathologique. Archiv für experi¬
mentelle Pathologie und Pharmakologie. Ref. : Jo anno vies.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßherichte.
Vinzenz v. Kern — Josef Lister.
Rede
gehalten am 15, März in der Hauptversammlung der k. k. Gesellschaft
' ' der Aerzte in Wien
von Prof. Dr. Alex. Fraenkel.
H'ochansehnliche Versammlung! Eine bedeutsame Er¬
innerung einerseits und ein Ausblick voll Genugtuung in
die Gegenwart anderseits, das sind die Anlässe, welche
die heurige Jahresversammlung unserer Gesellschaft zu
einer feierlichen gestalten. Der Rückblick, die Erinnerung
gilt dem hundertjährigen Bestehen des Operateurinstitutes
der Wiener medizinischen Schule, zum feierlichen Erfassen
des Augenblickes bewegt uns die Tatsache, daß Josef
Lister, der große Reformator der Chirurgie, demnächst in
das neunte Jahrzehnt seines ruhmvollen Lebens tritt.
Auch die Zentenarfeier ist untrennbar mit der Er¬
innerung an eine Persönlichkeit verknüpft, an jene, der
die Regründung des Operateurinstitutes zu danken ist: Vin¬
zenz V. Kern.
Mit den Namen und dem Wirken dieser beiden Männer
sind zwei Epochen in der Entwicklung eines die Mensch¬
heit außerordentlich nahe berührenden Problems innig ver¬
bunden, dem Problem der Wundbehandlung, Für die Lösung
dieses Problems haben beide mit dem ganzen Einsatz ihrer
Persönlichkeit, jeder in seiner Weise, wie für eine heilige
Sache gekämpft; sie haben dafür gestritten und gelitten.
Kern war es nicht vergönnt, den Sieg seiner Ideen auf
der ganzen Linie zu erleben; erst nach und nach drangen
seine Lehren durch und als sie vollends anerkannt waren
und die von Kern propagierte Methode der Wundbehand¬
lung gleichsam durch Wiedergeburt Gemeingut der Chirurgie
wurde, da trat Lister auf den Plan. Au den großen Fort¬
schritt, den Kern mit seinem Verfahren begründete, reihte
sich der noch unvergleichlich größere an, der Lister zu
danken ist. Kern wurde von Lister abgelöst.
Dieser aber hat das Glück, die Saat, die er gestreut,
herrlich in die Halme schießen und sein hohes Alter ver¬
klärt zu sehen durch den Glanz eines in seiner Art einzig
dastehenden Erfolges uneutwegten Bestrebens nach Be¬
glückung der Menschheit. Wer rückschauend dem Problem
der Wimdbehandlimg in seiner allmähligen Entwicklung
nachgeht, muß achtungsvoll bei Vinzenz v. Kern Halt
machen. Gelöst hat er das Problem nicht; das ist Listers
unsterblicher Ruhm. Aber das hohe Verdienst müssen wir
ihm zuerkennen, einen Ausweg gefunden zu haben, der
für seine Zeit einen erheblichen Fortschritt bedeutet und
der leidenden Mensclilieit in hohem Grade zustatten kam.
Um den Gipfel zu erreichen, auf dem Lister angelaiigt ist,
mußten erst ganz neue Wege gehalmt und eingesclilageii
werden.
So sehr das unvergleichliche Verdienst Josef Listers
alles überstrahlt, was je in der praktischen Heilkunde ge¬
leistet wurde, so bleibt doch auch Vinzenz v. Kern un-
B36
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
vergessen. Der auch duicii die Zentenarfeier wieder auf-
gefrisclilen Erinnerung an Vinzenz v. Kern koinmt es zu¬
gute, daß die Stätte, in der sein Wirken sich vollzog,
noch erhalten ist. Wie durch ein Wunder hat es allem
Wandel der Zeiten standgehalten, dieses altehrwürdige
Wiener Allgemeine Krankenhaus, das Josef II. saluti et
solatio aegrorum vor nunmehr zwölf JaJirzehnten erbaute.
Wie vor hundert Jahren unter Kerns Führung, sitzt dort
auch die heutige Chirurgengeneration zu ihrer Meister
Füßen, die ilmen die Hand führen bei den ersten schüch¬
ternen Versuchen in der Kunst des Operierens. .
Wie sehr und wieviel hat sich seither in unserer
Kunst und Wissenschaft geändert, wie ganz neue Formen
hat seither unser ganzes Dasein, unsere ganze Lebens¬
führung angenommen! Nichts kann der Zeiten Wandel
besser veranschaulichen als ein Vergleich schon der äußeren
Verhältnisse, unter denen das Wiener Allgemeine Kranken¬
haus begründet wurde, mit jenen, die es in der Gegenwart
umrahmen. Grüne Au, fernab vom Getriebe des städtischen
Lebens, durch Feld und Wald mit den Abhängen des Wiener¬
waldes verbunden, das war einst der Grund, auf den das
Allgemeine Krankenhaus Ihngestellt wurde, eine Ansied¬
lung inmitten idyllischer Landschaft, den Kranken sO' recht
ein Ort der Ruhe und Erholung. Und heute steht es wie
ein vergessener Ueberrest längst vergangener Zeiten, ein¬
geschlossen und bedrängt von einem mächtigen Stadtteil,
der eine volkreiche Stadt für sich bildet und djarcli dessen
weitläufige Straßen ein lärmender Verkehr auf und ab wogt
bis hinaus an die das Weichbild der Stadt einrahmenden
Berge.
Gleichwie unter Ueberwindung der alten künstlichen
Grenzen das Weichbild der Stadt bis an die durch die
Natur gegebenen, hat sich auch seither die Chirurgie in
ihrem Wirkungsbereich bis zu den äußersten Möglichkeiten
geweitet. Erstünde Vinzenz v. Kern heute dem Grabe,
kaum ist es zweifelhaft, worüber er mehr staunen würde :
über das sö vom Grund aus umgestaltete Bild und all die
neuen Formen zeitgenössischen Daseins, das ihm entgegen-
träte, oder über den Stand der Chirurgie unserer Tage.
Nun erst würde er mit Genugtuung gewahr, wie er vor¬
ahnend der Zukunft vorgearbeitet, als er durch die Be¬
gründung des Operateurinstitutes für einen allzeit bereiten,
wohl ausgerüsteten Stab von Jüngern ,,des manuellen Teiles
der Heilkunde“, wie er sich ausdrückte, vorzusorgen bemüht
war, nun erst würde ihm der ganze und große Wert seiner
aus aufrichtiger Begeisterung für das von ihm so verdienst¬
voll geförderte Fach begründeten Schöpfung klar vor
Augen treten.
Daß Kern Begründer des Operateurinstitutes wurde,
beweist seinen felsenfesten Glauben in die Chirurgie seiner
Tage. Dieser Glaube aber wurde in ihm geweckt und ge¬
festigt vor allem durch die Reform der Wundbehandlung,
die seinen Namen verewigte. Das bildete das kostbare Ver¬
mächtnis, für welches er Apostel suchte. Sein geistiger Be¬
sitz, den er in seinem Werte für die Allgemeinheit wohl
einzuschätzen wmßte, sollte mit seinen Erdentagen nicht
verloren gehen. Nicht nur in seinem Fache die Schüler
zu unterweisen, hielt er seines Amtes, wie jeder berufene
Lehrer, hatte er zudem das höhere Ziel vor Augen, auch
eine Schule zu begründen, d. h. das Ureigene seines Geistes
auf nachfolgende Generationen zu vererben. Und diesen
Zweck seines Wirkens sollte er erfüllt sehen und darin
fand er aller gehässigen Anfeindung gegenüber, der er, wie
jeder Reformator, ausgesetzt war, seinen Trost und das war
sein Stolz. In höchst bezeichnender Art äußerte sich diese
Auffassung, die Kern von seiner Lehrtätigkeit und seiner
iMission liatte, schon darin, daß er sein im Jahre 1828 er¬
schienenes Buch: Beobachtungen und Bemerkungen aus
dem Gebiete der Chirurgie, wie es ausdrücklich heißt, seinen
„besonderen“ ehemaligen Zöglingen des k. k. chirurgischen
Operateurinstitutes widmete und nicht weniger als 72 seiner
Schüler mit Namen, Titeln und Würden auf dem Dedika-
tionshlall verzeichnet, „als Anerkennung ihrer Verdienste
um die Verbreitung einer einfacheren und schonenderen
Behandlung äußerer Krankheitsformen“.
Welche Bedeutung aber er seiner Wundbehandlungs¬
methode zuschrieb, erhellt auch aus den einleitenden Aus-
oinandersetzungen des Buches, wo er es ausspricht, daß
es sich in dieser Angelegenheit nicht mehr um Meinungen
handle, nicht mehr um die individuelle Ansicht und Würdi¬
gung eines einzelnen, er erklärt sie unumwunden für eine
Sache der Menschheit, deren Hintansetzung, wie er sich
ausdrückt, zum Nachteil des höchsten Zweckes des Arztes
geschieht. Mit ähnlichen Worten, welche der tiefinnersten
Ueberzeugung entspringen, eine neue Heilslehre zu ver¬
kündigen, hat vierzig Jahre später auch Josef Lister an
das ärztliche Pablikum appelliert. Am Schlüsse seines in
der British medical Association in Plymouth gehaltenen
Vortrages, bei dem er nochmals die Prinzipien, Erfolge und
wissenschaftlichen Grundlagen seines antiseptischen Ver¬
bandes mit der gewohnten, durchaus Wahrheit atmenden
Schlichtheit und Sachlichkeit darlegt, heißt es: ,, Nachdem
also über das, was heutzutage als die brennendste medizi¬
nische Frage betrachtet wird, Feststellungen so überzeu¬
gender Natur gemacht worden sind, so kann ich angesichts
der Gleichgültigkeit, mit welcher sie vielerorten aufgenom¬
men worden sind, nicht umhin, der Worte unseres großen
Dichters zu gedenken :
Kann solch Wesen
An uns vorübergeh’n wie Sommerwolken
Ohn’ unser mächtig Staunen? (Macbeth, Hl, 4.)“
Man sieht aus diesen Aeußerungen, wie sehr mit dem
Ausspruch des Franzosen, daß die großen Gedanken aus
dem Herzen stammen, das Richtige getroffen ist.
*
Der jeweilige Stand der Chirurgie ist immer von dem
jeweiligen Stand der Wundbehandlung abhängig gewesen.
Ist es nicht merkwürdig genug, daß es ungezählter Jahr¬
tausende bedurfte, ehe es dem menschlichen Geiste gelang,
ein das individuelle, wie das allgemeine Wohl so nahe be¬
rührendes Problem zu lösen, das so alt ist als die Mensch¬
heit selbst.
Lange vor aller Ueberlieferung und wahrscheinlich
noch ehe Krankheiten ihn heimsuchten, trat gerade dieses
Problem schon an den Menschen heran. Er löste es gewiß,
wie der Naturmensch es heute noch tut, in naiv-instinktirer
Weise und wußte sich in seinen wechselnden körperlichen
Zuständen mit jenen primitiven Mitteln zu helfen, die sich
ihm aus der ihn umgebenden Natur gleichsiam von selbst
darboten. Aus der Summe solch ursprünglich gewonnener
Erfahrungen bildete sich allmählich jene Tradition, die im
Laufe der Zeiten zur Grundlage einer empirisch gewon¬
nenen Heilkunde wurde. Die Heilkunde und besonders auch
die so einfache Art der Wundbehandlung, ,die uns die großen
griechischen Aerzte als kostbares Vermächtnis überliefert
haben, wurzelte noch größtenteils auf solchem ihr natur¬
gemäßen Boden. Dieses Vermächtnis der klassischen Zeit
verkümmerte aber im Laufe späterer Jahrhunderte, statt
sich zu mehren, weil die Aerzte glaubten, durch Befriedigung
ihres metaphysischen Bedürfnisses zur Förderung .der Heil¬
kunde mehr beitragen zu können als durch die Beibehaltung
der einfachen empirischen Methode der Alten. Statt die
Lebensvorgänge in ihrem Ablauf mit immer verfeinerten
Methoden zu beobachten und dai'aus die Indikationen für ihr
therapeutisches Handeln zu schöpfen, suchten sie für das
sinnlich Wahrnehmbare der Vorgänge ein unsichtbares
treibendes Prinzip und machten dieses zum Angriffspunkt
der Behandlung. Sie gaben ihren Abstraktionen Wesenheit
und knüpften daran nach rein logischen Gedankengängen
kluge Lehrsätze und schufen Theorien nicht aus der Ana¬
lyse der Erscheinungen, in ihrem Zusammenhang und der
Art ihrer gegenseitigen Einwirkung, sondern aus einer Ana¬
lyse der Begriffe.
All diese Theorien der Pathologie und Therapie blieben
selbstverständlich auch auf die Chinirgie und die Wund-
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
337
behandluiig nicht ohne Einfluß. Uni den. verschiedenen An¬
nahmen im wechselvollen Bilde des Wundverlaufes gerecht
zu werden, wurde eine geradezu unheimliche Polypragmasie
entivickelt — die chirurgische Pharmakopöe war von einer
Mannigfaltigkeit, die Qualitäten der Mittel bis auf die sub¬
tilsten Wirkungsarten differenziert, die Wundbehandlung im
höchsten Grade kompliziert. Da gab es allerlei Pflaster und
Salben, Pulver und Wundwässer, Balsame und Kräuter.
Aetzmittel, auflösende, austrocknende, erweichende, eiter¬
erregende, zusammenziehende, entzündungswidrige und ent¬
zündungserregende, fleischmachende und allerlei andere
Mittel. Die Wunden wurden ausgespritzt oder mit Digestiv¬
balsam ausgefüllt, mit Scharpie und Wieken ausgestopft.
Und zu all dem kamen noch, zumal bei Schußwunden,
die primär erweiternden Einschnitte und, solange sie noch
für vergiftete Wunden galten, das Ausbrennen mit dem
siedenden Oel und schließlich spielte in der Wundbehand¬
lung eine besonders hervorragende Rolle der ganze Apparat
der sog. Antiphlogose, mit Einschränkung der Diät, An¬
wendung von Laxantien, Aderlässen und lokaler Blutent¬
ziehung durch Blutegel und allerlei innere Mittel.
Das war die Wundbehandlung, wie sie die Chirurgen
übten, als Vinzenz v. Kern zum Lehrer der Wundarznei¬
kunst an der Wiener medizinischen Fakultät berufen wurde.
Man sieht: Von der einfachen Behandlung und der empiri¬
schen Methode, die uns die Alten überliefert, war auch
nicht mehr eine Spur vorhanden.
Mit allen spekulativ gewonnenen Theorien seiner
Zeit aufgeräumt, an die Stelle der komplizierten Viel¬
geschäftigkeit ein einfaclies Verfahren eingeführt zu haben,
welches ganz von jenen klinisch empirischen Gesichts¬
punkten ausging, wie dies bei den Alten der Fall war,
das war Kerns Verdienst und darin bestand seine denk¬
würdige Reform. „Laßt uns vereinfachen, was sich verein¬
fachen läßt! Laßt uns fruchtbarer an richtigen Grundsätzen
und weniger ergiebig an Rezepten sein!“ Das war das
Motto, das er seinem Büchlein : Lehrsätze aus dem manuellen
Teil der Heilkunde, voranstellte, ein Büchlein, das in seiner
ganzen Anlage und Tendenz lebhaft an die mit den
in gleicher Absicht herausgegebenen neueren Schriften
V. Esmarchs über kriegschirurgische Technik erinnert.
Die Ideen und Grundsätze, welche Kern in der Wund¬
behandlung vertrat, gingen darauf hinaus, die Verwundung
als einen rein mechanischen Prozeß zu betrachten, als eine
Aufhebung der Integrität des Gewebszusammenhanges, die
auch wieder nur von rein mechanischen Gesichtspunkten
aus behandelt werden müsse. Das Ziel der Wundbehandlung
liegt vor allem in der Wiederherstellung des gestörten Zu¬
sammenhanges. Dies gelingt durch Wiedervereinigung, durch
Heftpflaster oder Naht, in Fällen von reinen Wunden, von
Wunden, die in ihrer Entstehungsart und Beschaffenheit
nicht schon erkennen lassen — um mich seines Ausdruckes
zu bedienen — daß das ., Wirkungsvermögen“ der verletzten
Teile schon zu sehr gelitten hat. Wo die Verwundung des¬
organisiertes Gewebe erzeugt, das naturnotwendig der Hei¬
lung Widerstand leisten muß, hat der Wundarzt nur die
Indikation zu erfüllen, das Getrennte in möglichst innige Be¬
rührung zu bringen und in diesem Zustande zu, erhalten.
Diesem Heilplan entsprechend, darf auch der Verband nicht
ohne besondere Veranlassung gewechselt werden, dem ver¬
letzten Teile muß größtmöglichste Ruhe bei entsprechender
Lagerung gesichert werden. Großen Wert legt er auch auf
Abhaltung der atmosphärischen Luft, von deren schädigen¬
den Wirkungen auf die Wunde er überzeugt ist, und die ihn
zur Mahnung veranlaßten, etwa nötigen Verbandwechsel
immer so rasch als möglich durchzuführen. Die Blutung bei
der Verwundung stillt er entweder, wO' es sich um Gefäße
kleinen Kalibers handelt, durch Uebergießen mit kaltem
Wasser, für größere Gefäße ist die Unterbindung das einzig
entsprechende Mittel. Die Reinigung der Wunde besorgt er
durch Abspülen der Wundfläche mit lauem Wasser. Unter
diesem einfachen Verfahren sieht er die hiezu geeignete
Wunde oft unter einem bis zwei Verbänden ohne sichtbare
Eiterung heilen. Handelt es sich aber um gerissene, ge¬
quetschte, Schuß- und vergiftete Wunden, so sieht er in der
Eiterung einen bestimmten Zweck, das unumgängliche
Zwischenstadium der schließlichen Heilung durch Vereini¬
gung. Bei allen so gearteten Wunden sind in ihrem ganzen
Umfange Abnormitäten. Bei den einen hat die meclumischc
Gewalt, die in einem größeren Umfange wirkte, bei vergifteten
Wunden, der giftige Saft oder, wo es sich um Bißwunden
handelt, Speichel diese x\bnormität verursacht. Bei den
ersteren gründet sich die Abnormität auf eine physisch ver¬
änderte Lage der Grundteile, bei den letzteren auf eine
chemisch veränderte Beschaffenheit. Ueberall müssen
daher diese abnormen Teile hinweggeschafft, neue normale
erzeugt werden und die Behandlung geht darauf aus, bei den
in der Nähe der Wunde gelegenen Gebilden das ihnen zu¬
kommende Wirkungsvermögen in Tätigkeit zu setzen. Der
Verband, den Kern hiebei anwandte, bestand ursprünglich
in locker aufgelegter Scharpie, welche mit frischer Butter
bestrichen war, später blieb auch diese weg und wurde
nur ein Leinwandfleck mit Oel oder lauem Wasser be¬
feuchtet auf die Wunde aufgelegt. Zum Verbandwechsel
veranlaßt nur das Durchschlagen der Sekrete und übler Ge¬
ruch der Wunde. Der Verbandwechsel muß recht rasch
durchgeführt werden, um den schädlichen Einfluß der atmo¬
sphärischen Luft möglichst hintanzuhalten, der Eiter darf
von der Wunde nicht weggewischt werden, er wird höch¬
stens mit lauem Wasser abgespült, am besten ist es, dem
verwundeten Teile eine solche Lage zu geben, daß der Eiter
von selbst ausfließen könne. Die örtlichen Reizerscheinun¬
gen, auch wenn sie beträchtlich sind, machen — und das
war eine besonders kühne Neuerung — • das sog. antiphlogi¬
stische Verfahren nicht nötig, weder Aderlaß, noch An¬
setzen von Blutwürmern, Laxiermittel, noch eine schwä¬
chende Diät sind notwendig. Kern spricht vielmehr die
Ueberzeugung aus, daß, je mehr durch die mechanisch be¬
wirkte Schädlichkeit, das Wirkungsvermögen in den ver¬
wundeten Gebilden vermindert worden, desto größer auch
die Entzündung, Geschwulst u. dgl. sein muß; mithin um so
weniger einen schwächenden Heilplan fordern könne. Die An¬
wendung der sonst üblichen Eiterung befördernden, fleisch¬
machenden oder austrocknenden Mittel, sie heißen wie sie
immer wollen, ist schlechterdings zwecklos und schädlich.
So verwirft er die Anwendung all der verschiedenen dige¬
stiven Salben, Oxykrat, Wundwässer, Balsame, Pulver und
spirituösen Mittel. „Vlan lasse“, sagt er bezüglich der letz¬
teren, ,,den zu Ueberschlägen bestimmten Wein, Brandwein
lieber in verhältnismäßiger Menge den Verwundeten trinken,
besonders jenen, deren Wirkungsvermögen ohnedies zu un¬
tätig ist; der Nutzen hievon ist weit sicherer, als wenn der¬
selbe örtlich angewendet wird.“ In seinen in französischer
Sprache verfaßten Anweisungen zur Behandlung von Schu߬
wunden, die er im Kriegsjahre 1809 herausgab, schreibt er
den bedeutungsvollen Satz : ,,I1 n’y a point d’onguents, point
de baumes pour favoriser la guerison, que la bäume que la
nature eile meine administre et aucune Pharmacie ne peut
nous les dispenser, c’est la plaie eile meme qui se le
procure.“
Nahezu dieselben Worte gebrauchte zwei Jahr¬
hunderte vor Kern schon Paracelsus. Es spricht
aber um so mehr für die Macht der durch allerlei
Spekulation gewonnenen Vorurteile seiner Zeit, wenn
man sieht, daß diese so einleuchtenden und beson¬
nenen Anweisungen zur Wundbehandlung trotz der augen¬
scheinlich großen Erfolge, die sowohl bei der Behand¬
lung der Verletzungen, als bei seinen Operationen Kern
aufzuweisen hatte, nicht nur keinen Anklang und keine
Nachahmung fanden, sondern geradezu als revolutionäre
Ideen betrachtet und auf das heftigste bekämpft wurden.
Als Kern sich von seinem Lehramte 1828 zurückzog, er¬
schien eine von einem Dr. Kilian verfaßte Schmähschrift,
in welcher unter den ärgsten Beschimpfungen Kerns sein
Rücktritt als das erfreulichste Ereignis der neueren Zeit
für die Hochschule gepriesen und die Hoffnung ausge-
338
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 12
sproclieii wurde, daß es seinem Schüler und Nachfolger
Wattmann gelingen möge, das wieder gut zu machen,
was Kern an der Chirurgie gesündigt habe, der, wie es in
der Schmähschrift heißt, den größten Fleiß daran setzte,
„das Gebäude der Wundarzneikunst in seinen Grundpfeilern
zu untergraben“.
Es bliebe noch gar manches der Erwähnung wert, das
uns Kerns Bestrebungen und Anschauungen im Lichte
unseres heutigen Wissensstandes als eine für seine Zeit
wirklich fortschrittliche Tat erscheinen läßt und seine un¬
gewöhnlich schönen Erfolge auch seiner ausgedehnten opera¬
tiven Tätigkeit erklärt. So warnt er davor und stellt es
als ausgesprochene Schädlichkeit hin, frische Wunden mit
der Sonde zu untersuchen. Was als so besonders aner¬
kennenswert aber in allen seinen Lehren und Vorschriften
hervortritt, das ist der überall festgehaltene klinisch-empi¬
rische Standpunkt, der es ganz im Gegensatz zu der Vor¬
liebe und Gepflogenheit seiner Zeitgenossen grundsätzlich
unterläßt, aus abstrakten Annahmen Schlüsse für die Praxis
zu ziehen. Er hält sich streng an das durch die Sinnej
Beobachtete, an die grob wahrnehmbaren Vorgänge und
verzichtet lieber ganz auf die Erklärung, statt sie auf Hypo¬
thesen aufzuhauen und durch rein logische Schlüsse zu
stützen.
Es ist selbstverständlich, daß sein Wundbehand¬
lungsverfahren mit seiner so einleuchtenden Einfachheit,
das lediglich darauf ausgeht, den natürlichen Vorgängen
freien Lauf zu lassen und womöglich alles zu vermeiden,
was erfahrungsgemäß diese zu stören geeignet wäre, bei
allen Erfolgen, die es für sich hatte, doch nicht für alle
Eventualitäten vorhielt und ihm Mißerfolge nicht erspart
blieben. Er gibt sich darüber keiner Täuschung hin, daß
seine Methode nicht imstande ist, alle Fährlichkeiten von
den durch Operation oder V^erletzung entstandenen Wun¬
den fernzuhalten. Ohne zu präjudizieren, spricht er von
traumatischen Reaktionszuständen, sowohl örtlichen als
allgemeinen. Es entgeht ihm auch nicht, daß namentlich die
fieberhaften Allgemeinerscheinungen oft genug durch die
geringste Veranlassung, oft aber auch ohne jede bemerk¬
bare Ursache sich einzustellen pflegen. ,,Wir haben“, so
schreibt er, ,, dieses Fieber beobachtet, wenn auch die
Operation in jeder Beziehung als ein vollendeter Kunst¬
akt verübt wurde und alle im Operationsakt zu erreichen
gewesenen Zwecke vollkommen erreicht waren; wir haben
es öfters bei übrigens gesund scheinenden, mit einer herku¬
lischen Kraft ausgerüsteten Individuen auftreten sehen und
müssen leider gestehen, daß wir den Grund hievon, trotz
einer nicht unbedeutenden Erfahning, noch keineswegs
kennen und daher auch gestehen müssen, daß, eben dieser
Erfahrung zufolge, wir uns nur sehr weniger Operierter
erinnern, wo diese erschütternden, das Leben in seiner
tiefsten Tiefe ergreifenden Fieberanfälle nicht immer töd¬
lichen Ausgang gehabt haben.“ Wie in den lokalen Re¬
aktionserscheinungen, so sieht er auch in diesen allge¬
meinen Fiebererscheinungen die wenn auch oft vergeb¬
lichen, Anstrengungen der Naturkräfte, die durch die Ope¬
ration oder die zufällige Verwundung gleichsam an der
Wurzel des Lebens gesetzten Störungen wieder auszu¬
gleichen; er ist sich aber mit dieser Meinung wohl bewußt,
daß darin noch keine Erkenntnis des Wesens dieser Zu¬
fälle liegt und es bleibt ibm nur der Wunsch und die
Hoffnung, daß es den Nachkommen gelingen möge, nähere
Aufschlüsse über das Wesen dieser fürchterlichen und ge¬
fahrvollen Fieberkrankheit zu erhalten und daß diese eine
Behandlung ausfindig machen werden, durch welche seine
zerstörende und traurige Wirkung benommen werden könnte.
*
Mit voller Klarheit sah Kern auch die Grenzen der
Leistungsfähigkeit der Chirurgie seinerzeit und die Aufgaben,
die der wissenschaftlichen Forschung der Zukunft noch
zu lösen Vorbehalten waren. Das XIX. Jahrhundert hat
keinen größeren Kubmestitel aufzuweisen, als die Er¬
rungenschaften, welche aus dem Bestreben hervorgingen,
diese Ergänzung beizustellen und diese Lücke, die noch
zu Kerns Zeiten offen war, wenigstens nach ihrer prak¬
tischen Seite hin auszufüllen. Ihm blieb es Vorbehalten,
all das vorzuarbeiten, was schließlich nach dessen Mitte
einen IMann von der Energie und dem weiten Blicke Josef
Listers befähigte, in eine praktische Formel zu bringen,
welche nicht nur das Problem der Wundbehandlung zu
einem gewissen Abschluß brachte, sondern der ganzen
modernen Therapie und der medizinischen Forschung neue
Bahnen wies.
Uhl das, was Kern als wissenschaftliches Programm
der Zukunft hinstellte, durchzuführen, mußten noch gar
viele Fragen der Lösung zugeführt werden und es be¬
durfte des Zusammenwirkens aller Wissenszweige, sollte
dies mit Erfolg geschehen.
In ihrer Mannigfaltigkeit konnten all diese Fragen
nur dann heantwortet werden, weim alle mitwirkten, die
an der Lösung der Lebensrätsel sich zu beteiligen berufen
sind. Es war Naturwissenschaft im großen Stile, die ihren
Einzug in die Heilkunde halten mußte, wenn aus dem
Wirrsal ein Ausweg gefunden werden sollte.
Noch bis zu Listers Zeiten zweifelte kaum ein
Chirurg daran, daß bei einer bestimmten Beschaffenheit
der Wunde die Heilung nur unter Eiterung erfolgen könne.
Ob eine Wunde mit oder ohne Eiterung ausheile, war, wie
nach Kerns Meinung, lediglich eine Frage . der anatomi¬
schen Folgen der Verwundung — ein notwendiges Zwischen¬
stadium der Heilung. Noch Stromeyer spöttelte über
die Versuche Simons, welcher unter bestimmten Verhält¬
nissen bei Schußwunden die Möglichkeit eines eiterungs¬
losen Verlaufes annahm. „Mir kommen die Versuche, den
Ruf der Schußwunden zu verbessern, ungefähr sO' vor“,
schrieb Stromeyer in seinen Maximen der Kriegsheil¬
kunde, ,,wie die Bemühungen gewisser Berliner Kunst¬
richter, aus der Lady Macbeth einen edlen Charakter zu
machen.“ Für ihn gehörten sie zu den .unreinen Wunden
und er selbst hat nie eine Schußwunde durch erste In¬
tention heilen sehen. So gehörte die Eiterung gleiclisam
zu den naturgemäßen Folgezuständen; als pathologischer
Prozeß wurde sie erst dann betrachtet, jvenn sie exzessiv
wurde oder in Zersetzung überging. Letztere Erscheinung
wurde aber seit altersher namentlich den atmosphärischen
Einflüssen, daneben aber diätetischen und konstitutionellen
Einflüssen gleichfalls eine große Rolle ^ugeschrieben. Schon
Ambroise Pare schrieb im Jahre 1564 unter dem traurigen
Eindruck der in den Kriegslazaretten gemachten Erfah¬
rungen: „Demzufolge ist es mehr als wahrscheinlich, daß
die Weichteile des Körpers krankhaft ergriffen waren und
der ganze Körper kakochymisch war, da dessen Nahrung,
das Blut, faulig war, wie die Luft. . . . Man soll nur ja
nicht glauben, daß dies von Unreinlichkeit, zu seltenen Ver¬
bänden oder Mangel an Erforderlichem gekommen sei, die
üble Beschaffenheit kam ebenso gut bei Prinzen und großen
Herren wie bei gemeinen Soldaten vor. . . . Nach dem
Ausspruche des alten göttlichen Hippokrates, daß ge¬
quetschte Wunden auf dem Wege der Eiterung geheilt wer¬
den müssen, haben wir gehandelt, aber es hat uns nichts
geholfen, wegen der üblen Zufälle, die eine verdorbene
Luft verursachte.“
Die Einflüsse der Atmosphäre auf den Verlauf der
Wunden, wie überhaupt als Quelle epidemischer Erkran¬
kungen haben namentlich die englischen Aerzte immer be¬
sonders hervorgehoben. Von hervorragender historischer
Bedeutung ist in dieser Beziehung das Buch von John
Pringle: Beohachtungen über die Krankheiten einer
Armee sowohl im Felde als in der Garnison, das aus dem
Jahre 1754 stammt und von J. E. Greding ins Deutsche
übersetzt wurde; eines der vorzüglichsten Dokumente der
Militärhygiene. Pringle lenkt hiebei die Aufmerksamkeit
auf die Gefahren, die von eingeschlossener und fauler Luft
in den Gefängnissen, Schiffen, See- mid Feldlazaretten aus-
goht ; er weiß bereits den großen Wert der Ventilation hoch
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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eilizuscliätzen und gibt, was vor allein bemerkt zu werden
verdient, einen auslührlichen Bericht über systematisch
angestellte Desinfektionsversuclie mit Substanzen, die auch
heute noch als zweckdienlich anerkannt und verwendet
werden. Diese Arbeiten Pringles legten mit den Grund
für die gerade von England ausgegangene Reform des
Spitalbaues.
Wenn so auf der einen Seite fauler und schlechter
Luft als Vermittlerin der Zersetzungsvorgänge an den Wun¬
den und als ätiologischem Moment eine wichtige Rolle zu¬
geschrieben und die allgemeine Aufmerksamkeit auf die
Wichtigkeit der Luftreinigung in den Spitalsräumen hin¬
gelenkt wurde, so hat dies doch anderseits immer mehr
dazu beigetragen, die ungünstigen Zufälte an den Wunden
als unvermeidliche Konsequenz der eingeatmeten Effluvien
und Miasmen zu betrachten und über der Sorge nach frischer
Luft die direkten Schädigungen des Wundverlaufes zu über¬
sehen. Jedem Lazarett, ja jedem Krankenzimmer wurde
seine eigene hygienische Konstitution zugeschrieben und
man ging in dieser Annahme so weit, daß man beispiels¬
weise in London das St. George -Hospital, aus dem die
Hospitalgangrän nicht auszurotten war, einfach dem Erd¬
boden gleichmachte. Auch die Erfahrung, daß im Neubau
wieder die Hospitalgangrän wütete, schien zunächst die An¬
nahme eines fatalen Genius loci nur zu bestätigen. Die
von bedeutenden Kriegschiriirgen, wie Piro go ff, gemachte
Erfahrung, daß die Offiziere, die nicht in den Lazaretten
lagen, sondern in Privatquartieren untergebracht waren, oft
einen auffallend günstigeren Wundverlauf zeigten, wurden nur
im Sinne der in der Hospitalisierung gelegenen Schädlich¬
keit gedeutet. Auch daß die subkutanen Operationen nicht
selten eiterten, wurde als weiterer Beweis dafür herange¬
zogen, daß die inspirierten Effluvien die Eiterung be¬
dingen.
Und doch war durch die epochalen Arbeiten Hun¬
ters die Aufmerksamkeit der Aerzte schon auf die Vorgänge
in der Wunde selbst gelenkt worden. Hunter war es ja,
der die Eiterung als Produkt der Entzündung der Blut¬
gefäße proklamierte, wobei er eine glanduläre Beschaffen¬
heit der so veränderten Gefäße annahm, die sie befähigte,
den Eiter zu sezernieren; und wieder war es Hunter,
der, die Phlebitis als wesentliche -Veränderung an den
eiternden Wunden beobachtend, die Pyämie dadurch er¬
klärte, daß die Phlebitis bis zum Herzen sich erstrecke
oder bei der glandulären Gsschaffenheit, welche die Venen
durch die Entzündung annehmen, die sezernierte Materie
bis in das Herz dringen lasse.
So wäre der direkte Weg gegeben gewesen, der von
der Wunde in die Zirkulation und nicht, wie man bisher
annahm, durch die Zirkulation auf die Wunde führte und
somit jene Anschauung zu stützen geeignet war, welche
seit der Entdeckung des Blutkreislaufes immer wieder hervor-
trat und der Auffassung .der Pyämie als eine Blutvergiftung
durch direkte Aufnahme von Eiter in das Blut vorarbeitete.
Die Forschungen Morgagnis und Cruveilhiers brachten
anatomische und experimentelle Belege hiefür und bilden
die ersten Grundlagen der später von Virchow ausgearbei¬
teten embolischen Theorie der Pyämie.
Trotz alledem hlieh die miasmatische Hypothese in
unbedingter Vorherrschaft, um so mehr, als die Annahme
unter den Klinikern noch sehr verbreitet war, daß die
Miasmen zur Erzeugung der Pyämie nicht notwendig erst
auf die Wunde und die Eiterherde übertragen werden
müssen, sondern zunächst auf die Blutmasse einwirken
könnten, so daß man vielfach von spontaner Pyämie sprach,
die man als von jedem Lokalprozeß unabhängig hielt.
Von hoher Bedeutung wurden zur Förderung der
Lösung dieser Fragen die experimentellen Versuche, durch
Injektion von faulenden organischen Substanzen das Sym-
ptomenbild der septischen Infektion hervorzurufen, zu¬
nächst durch Gaspard, später durch Panum und Berg¬
mann. Aus den Ergebnissen dieser Versuche wurde man
darauf aufmerksam, daß die mit Geruch einhergehendeii
I Veränderungen des Wimdsekrcles, die in ihrem Verlauf
! den Fäulnis- und Gärungsvorgängen an die Seite gestellt
I wurden, jene giftige Substanzen enthalten, welche ein dem
septischen Symptomenkomplex ähnliches Krankheitsbild zu
erzeugen imstande sind.
Inzwischen kamen die grundlegenden experimen¬
tellen Untersuchungen von Schwann und Cagnard-La-
tour, Helmholtz, Schroeder und Dusch über Gärung
und Fäulnis und die dabei entdeckte Rolle, die den in
den gärenden und faulenden organischen Substanzen sich
vorfindenden, schon vorher von Le uwenhook ‘gesehenen
Pilzen zugeschrieben wurde.
Während aber all diese Untersuchungen mit ihren
so außerordentlich wichtigen Resultaten und namentlich
jene, welche darauf hindeuteten, daß die Zersetzung orga¬
nischer Substanzen durch belebte Keime bewirkt wird, auf
die Denkweise der Aerzte der Dreißiger- und Vierzigerjahre
ihren Eindruck nicht verfehlten und die schon von den
Alten intuitiv angenommene Lehre von dem Contagium
animatum für die epidemischen Krankheiten zahlreiche Ver¬
treter fand, unter denen namentlich He nie durch die
Schärfe der Argumente, die er für diese Theorie vorbrachte,
besonders hervorragte, hlieh sie zunächst für die Chirurgie
nahezu ganz ohne Einfluß.
Nicht SO' für das ihr so verwandte Gebiet der Ge¬
burtshilfe. Hier verzeichnen wir die historisch bedeut¬
samste Episode, die vor dem vollen Anbruch der neuen
Zeit sich abspielte. Aber ach! eine Episode nur, die sich
an den unsterblichen Namen Semmel weis knüpft.
Wie es im Leben der Individuen nur allzu oft sich
ereignet, daß mancher Augenblick ungenützt vorüberzieht,
der, in seiner ganzen Bedeutung rechtzeitig und richtig
erfaßt, zum Ausgangspunkt eines glücklichen Schicksals
hätte werden können, so lehrt auch ein Rückblick auf die Ent¬
wicklungsgeschichte der Menschheit, um wieviel früher sie
von alledem, was sie jetzt zu ihren kostbarsten, höchsten Er¬
rungenschaften zählt, hätte Besitz ergreifen können, wenn
sie sich nur die geistige Freiheit gewahrt hätte, die ver¬
schiedenen Erscheinungen des Kulturlebens auch immer
richtig einzuschätzen. Wieviel hohe und höchste Gedanken,
die Jahrhunderte, ja Jahrtausende vor uns gedacht wur¬
den und für das menschliche Glücksproblem von unschätz¬
barem Werte wären, mußten und müssen ohne Einfluß
bleiben und ihre Wiedergeburt erst abwarten, bis sie den
Geist der Zeiten vorbereitet treffen I Wie manch bedeu¬
tender Denker hat nach Goethes Worten ,, emsig, ohne
Kenner und 'ohne Schüler sich gequält!“
So blieb auch das, was Semmel weis für die Ge¬
burtshilfe seinerzeit leistete, zunächst, wie erwähnt, nur
eine Episode, deren ganze unermeßliche Bedeutung für die
gesamte Chirurgie erst der Nachwelt voll zu würdigen Vor¬
behalten blieb. Auch hier stehen wir wieder vor einem
Gedenktag. Denn fast auf den Tag jährt es sich zum fünf¬
zigsten Male, daß Semmelweis unter dem Eindruck der
tödlichen Infektion, die sein Freund, Professor der gericht¬
lichen Medizin K'oletschka, sich bei einer Sektion zu¬
zog, die entscheidende Anregung empfing, daß in der Kon-
taktinfekti’on, die durch die Aerzte an den Gebärenden ver¬
mittelt werde, die eigentliche Ursache der Puerperalfieber¬
epidemien der Wiener Gebärkliniken liege und daß er in
konsequenter Verfolgung dieser Idee u. a. die Händedes-
infekti'on vor jeder Exploration systematisch durchzuführen
gedachte. In der Zeitschrift unserer Gesellschaft war es,
wo Hebra, der mit kongenialem Verständnis die ganze
Tragweite der Ideen von Semmel weis erfaßte, um die¬
selbe Zeit die erste Mitteilung darüber machte.
Semmel weis stand auf dem Standpunkt, daß die
Wundinfektion durch direkte mechanische Uebertragung
eines Giftes von Wunde zu Wunde , zustande käme, ^yar
mithin ein Gegner der damaligen Miasmentheorie und ging
j von den Ideen aus, die durch die Ergebnisse der Gas par d-
j sehen Injektionsversuche mit dem putriden Gifte begründet
wurden. Der große Fortschritt aber, den er inaugurierte
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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lO
oder hätte inaugurieren können, hätte man seinen Bestre¬
bungen freien Lauf gelassen, besteht vor allem darin, daß
er klaren Blickes die septische Infektion direkt von der
Wunde ableitete und auch eine darauf gerichtete Prophy¬
laxe aufbaute.
Es ist weit über den Kreis der Aerzteschaft l)ekannt,
daß Semmel weis zum Märlyrer seiner Ideen wurde; sein
Schicksal war tragisch genug, um in der Gegenwart Federn
zu inspirieren, die sonst nur im Dienste der schöngeistigen
Literatur stehen. Nur Geister, wie Hebra, Skoda und
Rokitansky, die selbst Reformatoren waren, wußten es
zu würdigen, was für einen humanitären Segen das Durch¬
dringen der Semmel weis scheu Ideen schon für die da¬
malige Zeit bedeutet hätte. Die Patronanz selbst solcher
Männer erwies sich nicht stark genug; der Zunftgeist war
mächtiger und der Acker noch nicht genügend gepflügt,
um die Saat aufzunehmen.
Es mußte tiefer gegraben, weiter geforscht werden.
Denn noch immer war der exakte Beweis ausständig, daß
die Erscheinungen der Wundinfektion und die konseku¬
tiven Allgemeinerscheinungen durch Selbstinfektion von
der Wunde aus entstehen und daß es die Vorgänge an
den Wunden und nicht die eingeatmeten Effluvien sind,
welche die schweren Krankheitszustände der Verwundeten
und Operierten hervorriefen. Hierüber das aufklärende Licht
zu verbreiten und hiemit einen W^'endepunkt von entschei¬
dender Bedeutung herbeigeführt zu haben, ist vor allem
das Verdienst Tb. Billroths und Otto Webers. Bill¬
roth konnte den nicht nur für die chirurgische Pathologie
grundlegenden Nachweis führen, daß das Wundfieber nicht
nach der damals geltenden Schönlein -Tr au he sehen Auf¬
fassung ein „Reizfieber“ sei, daß es sich vielmehr um ein
Resorptionsfieber handle, für welches das maßgebende Mo¬
ment die Selbstinfektion von der Wunde aus bildet. Die
Pyämie stellte sich als ein höherer Grad des Wundfiebers
dar, durch mancherlei von der WAinde ausgehende Ent¬
zündungsprozesse kompliziert. Die pathologischen, meist
entzündlichen Veränderungen an der verletzten Stelle waren
es, die von jetzt ah als der Ausgangspunkt der fieberhaften
Prozesse, der Allgemeinerkrankung, eventuell des Todes
sichergestellt wurden. Der normale Vorgang der Wund¬
heilung aber, wenngleich histologisch nicht wohl von der
Entzündung trennbar, erzeugt an sich kein Fieber.
Das war wohl das für tjie praktische Chirurgie be¬
deutendste Forsebungsergebnis vor Lister; denn jetzt war
erst die richtige Grundlage gewonnen, auf der die weitere
Arbeit aufgebaut werden konnte. Erst durch den von Bill¬
roth erbrachten Nachweis, daß die lokalen Entzündungs¬
prozesse — die akzidentellen Wundkranklieiten, wie er sie
nannte — wie das Fieber in der WAinde selbst ihren Ursprung
haben und erst durch Billroths Entdeckung der Bedeutung
der pyrogenen und phlogogenen Substanzen der Wund¬
sekrete, wurde die Wunde sell)st als die eigentliche Porta
malorum endgültig anerkannt.
Nun galt es aber erst recht, den exogenen Bedingun¬
gen und Ursachen der Wundinfektion nachzuforschen. Der
Fäulnisgeruch der infizierten Wunden, die unter Gasbil¬
dung fortschreitenden entzündlichen Prozesse forderten
mehr als je die Analogie mit den Fäulnis- und Gärungs¬
prozessen heraus.
Die Mehrzahl der Chirurgen vertrat trotz Schwanns
und C a g n a r d - L a t o u r s V ersuchen die namentlich
auch durch Liehigs Autorität gestützte Anschauung, daß
cs die Luft, bzw. der Sauerstoff der Luft sei, der den Vor¬
gang der Zersetzung einleitet; niebt minder erhielt sich
daneben trotz Spallanzanis schon im Beginn des acht¬
zehnten .lahrhunderts so überzeugenden Experimenten die
Anschauung von der Urzeugung, von dem Uebergang der
sogenannten toten IMasse in die lebensfähige und der Ueber¬
gang dieser in die lebendige. So konnte man sich ja die
unendliche Kette des Seins als geschlossen vorstellen.
Erst Pasteurs erneuerte Inangriffnahme des ex¬
perimentellen Studiums dieses Problems sollte die Theorie
der Urzeugung sowohl als die rein chemisebe Theorie der
Gärung und Fäulnis endgültig zu Fälle bringen. Durch seine
Lehre vom Panspermismus, durch unwiderlegliche Versuche
über Fäulnis und Gärung gestützt, erkämpfte er im Streite
mit Liebig und Po u dipt die AnerkOnnung .der Bedeu¬
tung der Mikroorganismen für Gärung und Fäulnis. Es ist
sein Rubm, mehr als dies durch die Lösung dieser Fragen
geleistet zu haben, denn man wird kaum auf Widerspruch
stoßen, wenn man in ihm den Begründer der Mikrobiologie
sieht, mit der zugleich auch eine neue Epoche der Pathologie
und Therapie inauguriert wurde.
Hier sind wir aber gleichzeitig bei dem in der Kultur¬
geschichte der Menschheit ewig denkwürdigen Moment an¬
gelangt, wo Josef Lister in den Gang der Ereignisse
eingreift.
' Die mikroskopische Forschung und speziell das
Gärungsproblem lagen für Josef Lister förmlich als väter¬
liches Erbteil vor. Denn lAsters Vater war ein Wein¬
händler, der zugleich sich mit Arbeiten über das achroma¬
tische Mikroskop beschäftigte, die viel Anklang fanden. Josef
Listers erste Arbeiten galten histologischen Fragen. Dann
widmete er sich der Keimlehre, prüfte die Experimente
Pasteurs über die Fäulnis organischer Suhstanzen in modi¬
fizierter Anlage nach und kam zur vollen Uebereinstimmung
mit den Feststellungen Pasteurs. Hiemit war aber auch
für ihn der weitere Schritt gegeben, der in der Ueberlragung
der Lehre vom Panspermismus auf die akzidentellen Wund¬
krankheiten bestand und ihn zum Schöpfer einer auf dieser
Theorie aufgebauten Methode der Wundbehandlung werden
ließ, die nicht nur für die Chirurgie eine vollständig neue
Aera begründete.
Trister ging in seiner ersten, vor nunmehr gerade
40 Jahren veröffentlichten Mitteilung : ,,Ueber ein neues Ver¬
fahren, offene Knochenbrüche und Abszesse zu behandeln,
mit Beobachtung über Eiterung“, von dem Gegensatz aus,
der in der fast unbedingten Gefahrlosigkeit einfacher
Knochenbrüche liegt, gegenüber den traurigen Ausgängen,
die nach offenen zu beobachten Gelegenheit war, und deren
häufiges Vorkommen eine der auffallendsten, aber auch
betrübendsten Erscheinungen in der chirurgischen Praxis
seiner Zeit bildete. Als nächste Ursache, durch welche eine
mit der Bruchstelle in Verbindung stehende äußere Wunde
so verhängnisvoll werden kann, sah Lister die durch den
Luftzutritt angeregte Zersetzung des Blutes an, welches in
größerer oder geringerer Menge rings um die Bruchenden
und in die Gewebszwischenräume hinein ergossen ist, seinen
milden Charakter durch Fäulnis verliert, die Eigenschaft
eines scharfen Reizes annimmt und örtliche und allgemeine
Störungen zu veranlassen imstande ist. Er knüpft direkt
an die Forschungen Pasteurs an, aus denen hervorgehe,
daß es nicht der Sauerstoff der Luft oder irgendein anderer
gasiger Bestandteil derselben ist, der die Zersetzung orga¬
nischer Massen bewirkt, sondern daß man als die Anreger
dieses Vorganges jene unendlich kleinen, in der Luft schwe¬
benden Teilchen anzusehen habe, die schon lange durch
das Mikroskop hekannt, als kleinere niedere Lebensformen
bisher mehr als Begleiter der Fäulnis betrachtet wurden,
während sie doch die wesentlichen Veranlasser sind, zu¬
sammengesetztere, organische Massen in solche von einer
einfacheren chemischen Anordnung aufzulösen, genau wie
Hefepilze Zucker in Alkohol und Kohlensäure zu zersetzen
vermögen.
Keinem Beobachter vor Lister ist trotz des schon
seit Alters angeschuldigten schlechten Einflusses der Imft
auf Wunden, der Gegensatz im Verlaufe der subkutanen
Frakturen gegenüber den offenen so aufgefallen und von
niemandem vor lAster ist er so nachdrücJrlich betont und
und zum Ausgangspunkt eines neuen Wundbehandlungs-
prinzipes gewählt worden. Auch diejenigen Chirurgen, die
die subkutanen Operationen in die Chirurgie eingeführt und
sie besonders ausgebildet haben, wie Delpech, Dieffen-
bach und Stromeyer, sind nicht von dieser so funda¬
mentalen und so naheliegenden Beobachtung ausgegangen.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Bi I
sondern haben, mehr einer traditionell gegebenen Annahme
folgend, um die Luft als sohdie von der Wunde ahzuhalten,
innerhalb eines beschränkten Indikationsgehieles Operatio¬
nen unterhäutig ausgeführt. Mit der bestimmten Absicht,
die Luft von den Wunden fernzuhalten, u. zw. deren
korpuskuläre Schädlichkeiten, rechnete allerdings der
Guerin sehe Watteverband, ferner die Methoden der per¬
manenten Irrigation der Wunden und die Behandlung der
Wunden im Wasserhad. Aber keine von diesen Methoden
vermochte irgendwie nennenswerte Erfolge zu erzielen oder
gar die akzidentellen Erkrankungen im Wundverlaufe zu
bannen.
Lister sah also in der direkten Einwirkung der Luft¬
mikroben auf die Wunden die eigentliche Ursache der
akzidentellen Zufälle an den Wunden und der von diesen
ausgehenden Allgemeininfektion, er befestigte ferner die
schon von Hunter für Trennungen des Zusammenhanges
ohne äußere Verletzung bewiesene Möglichkeit, daß auf dem
Wege der Granulation heilende Wunden ohne Eiterung ver¬
laufen und dehnte diese Beobachtung auch auf offene, mit
Substanzverlust einhergehende Wunden aus und stellte
schließlich fest, daß die Eiterung als splche als eine patholo¬
gische Erscheinung im Wundverlaufe anzusehen sei.
Nun hatten Billroths pyrogene und phlogogene Sub¬
stanzen eine neue und greifbare Gestalt angenommen in der
Form der die Zersetzungsprozesse an den Wunden hervor¬
rufenden Mikroben. Diese unschädlich zu machen, galt als
die erste Aufgabe des Lister sehen Wundbehandlungsver¬
fahrens. Hiezu schien ihm die Karbolsäure ein besonders
geeignetes Mittel, dessen antiseptische Eigenschaften
namentlich durch L e m a i r e bekannt geworden waren und
auf die Lister durch Beobachtungen aufmerksam wurde,
die man auf den Berieselungsfeldern der Stadt Carlisle ge¬
macht hatte. Sein erster Verband stand unter dem Einfluß
der Hu nt er sehen Lehre von der Heilung unter dem Schorf
und ging auf einen Karholsäureätzschorf hinaus, der die
Wunde nach außen hin abschließen sollte. Sein Verband er¬
fuhr aber durch ihn in weiterer Ausbildung des antisepti¬
schen Prinzipes immer wieder Modifikationen nach der Dich¬
tung der immer konsequenteren Durchfühmng des Grund¬
satzes der Okklusion der Wunde und der Zerstörung der in die
Wunde mit der Luft, aber auch mit den Instrumenten, Ver¬
bandstoffen und jeder Berührung eindringenden Keime. Das
wichtigste Desinfektionsmittel bleibt die Karbolsäure, die
mit zunehmender Erfahrung von Lister in Lösungen von
immer geringerer Konzenlration zur Ausspülung der Wunde
verwendet wird oder als Sprühnebel die in der Luft der
Wundumgebung suspendierten Keime zerstören und alles
mit der Wunde in Berührung Kommende keimfrei machen
soll. Sein Verband bestand zunächst aus in Karbolsäure
getränkten Schutzlappen aus Lint und darüber angebrachter
Metallplättchen, später aus Pflastern mit Zusatz von Karbol¬
säure, oder Kitt aus Leinöl, Schlemmkreide und Karbolsäure,
zuletzt aus mehrfachen Lagen einer eigens präparierten
Gaze. Der ersten blutigen Absonderung wegen sollte der
Verband innerhalb der ersten 24 Stunden gewechselt werden,
später hielt er den Verbandwechsel nur beim Durchschlagen
der Sekrete für geboten, damit aber diese nicht in der Nähe
der Wunde sich zersetzen, mußten die Verbände diese weit
überragen, um die Wundflüssigkeiten abzuleiten und um sie
erst in weiter Entfernung von der Wunde mit der Luft in
Berührung zu bringen. Die Wunde selbst wurde vor der
reizenden und, wie Lister wohl wußte, selbst Eiteiung
erzeugenden Wirkung der Karbolsäure des Verbandes durch
Protective silk geschützt. Um für den Abfluß der durch die
Karbolsäure bewirkten stärkeren Absonderung der Wund¬
flüssigkeit, namentlich in den ersten Tagen nach Opera¬
tionen und Verwundungen, zu sorgen, führte er bei buch-
tigen Wunden Gummiröhren ein, die die Stagnierung des
Sekretes in derlei beschaffenen Wunden verhindern und den
Abfluß der Sekrete erleichtern sollten. An die Spitze aber
seines ganzen Wundbebandlungsverfahrens stellte er das
Gesetz auf, die in dieser Weise versorgten Wunden soviel
als möglich sich seihst zu überlassen, ,,da sie zu ihrer
Heilung keiner besonderen Anregung und keiner geheimnis¬
vollen Eigenmittel bedürfen“ — ein Grundsatz, der uns
Vinzenz v. Kern wieder in Erinnerung bringt.
Nur so weit es für das Verständnis unbedingt nol-
wendig war, entwickelte Lister in seinen Arbeiten, durch
welche er sein neues Wundbehandlnngsverfahren hekannl
machte, die diesen zugrunde liegenden, aus experimenteller
Nachprüfung gewonnenen Theorien; einen um so breiteren
Raum nimmt der Bericht über die nach seinen Prinzipien
behandelten Krankheitsfälle ein und die genaue Schilderung
der in jedem Falle angewandten Verhandmethode. Je
schlichter und sachlicher sie dargestellt wurden, um so
größer, sollte man meinen, müßte der Eindruck gewesen
sein, den er damit erzielte.
Listers Bestrebungen galten zunächst den offenen
Frakturen und den kalten Abszessen. Welch ein vernich¬
tendes Gefühl muß ein gewissenhafter Chirurg vor Lister
mit sich herumgelragen haben, wenn er selbst einer
solch elementaren Aufgabe gegenüber, wie die Behandlung
eines offenen Knochenbruches, die ja zunächst und natur¬
gemäß den einfachsten Prüfstein an die Leistungsfähigkeit
seiner Kunst abgab, sich die Ohnmacht eingestehen mußte,
eine auch nur halbwegs sichere Prognose zu stellen. Eine
Fülle von Eventualitäten, die ganz außerhalb seiner Macht
und Berechnung zu liegen schienen, gestalteten sein ganzes
Wirken mehr weniger zum Glücksspiel. Mancher glaubte mit
aussichtsvollerem Einsatz das Spiel gewinnen zu können,
wenn er von vornherein die verletzte Gliedmaße opferte,
um nur das nackte Leben des Verletzten zu retten. Aber
auch dann noch hatte der ehrliche Amhroise Pare recht,
wenn er mit frommer Resignation darauf rechnete, daß Gott
die Heilung besorgen würde. Und nun kam Lister und
wies an der Hand der von ihm erzielten Erfolge nach, daß
von nun ab das Schicksal dieser Verletzten ganz dem
Chirurgen in die Hand gegeben und die Heilung des offenen
Knochenbruches eine Leistung geworden war, die man unter
bestimmten Umständen vom Arzte nicht nur erwarten, son¬
dern geradezu fordern konnte.
Eine ähnliche Kraftprobe seines Wundhehandlungs-
verfahrens bildeten die kalten Abszesse. Wenn in einem
Punkte die Wundärzte der vorantiseptischen Aera einig
waren, so war es die Ueberzeugung, daß die kalten Abszesse
ein Noli me tangere Rir das chirurgische Messer war. So oft
sie sich daran versuchten, iinmer wieder hatten sie es zu
bereuen, die septische Infektion stellte sich ein und früher
oder später kam das traurige Ende unter den Erscheinungen
konsumptiver Hektik. Lister aber konnte den Nachweis
führen, daß unter seinen Händen und bei Einhaltung der
Grundsätze seines antiseptischen Verfahrens die einschlä¬
gigen Operationen nicht nur unschädlich durchgeRihrt
werden konnten, sondern auch in einer ganzen Anzahl von
Fällen Heilung herbei führten.
Einen Erfolg und Fortschritt von allergrößter Bedeu¬
tung konnte Lister ferner bei seinen Wundbehandlungs¬
verfahren durch die aseptische Ligatur der Gefäße erzielen.
Von nun an, wo die Unterbindung der Gefäße mit resorbier¬
baren und aseptisch einheilenden Fäden durch geführt vmrde„
die nicht mehr, wie es bis dahin Brauch war, aus der
eiternden Wunde herausgeleitet wurden, konnte man die
kurz ahgeschnittenen Fäden ruhig ihrem Schicksal über¬
lassen. Was das für einen Gewinn hedeutete, wenn von
jetzt an vom Arzt und Patienten der Schrecken der Nach¬
blutung genommen war, wer diese Errungenschaft in ihrem
ganzen Werte ermessen will, der schlage Th. Billroths
kriegschirurgische Briefe aus den Kriegslazaretten von
Weißenhurg und Mannheim nach. Mit der ihm eigenen, un¬
vergleichlichen Kunst der Darstellung hat Billroth in
diesen Berichten in geradezu erschütternder \Veise und mit
I dramatischer Wirkung die ganze Tragik der Situationen ge-
j schildert, welche durch diese unheilvollen Nachblutungen,
I die mit unheimlicher Vorliebe gerade zur Nachtzeit sich
' einstellten, über Arzt und Patient heraufbeschworen wurden ;
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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geschildert, wie da oft die übermenschlichsten Anstrengun¬
gen vergeblich waren; wie tief dann der Chirurg die Ohn¬
macht seiner Kunst zu fühlen hatte, wenn er mit dem un¬
aufhaltsam aus dem eitrig zerfallenen, morschen Gewebe
strömenden Blute zugleich ein .Menschenleben unter seinen
Händen erlöschen sehen mußte.
Und all diese Erfolge, dieses ganze erhebende Schau¬
spiel einer auf ganz neuen Grundlagen aufgebauten
Chirurgie,, diese ganze ans Wunderbare grenzende Meta¬
morphose spielte sich in denselben Räumen ab, in denen bis
dahin die Pyämie und die Hospitalgangrän dauernd und
unerbittlich ihre Opfer forderte. Die verrufenen Kranken¬
säle des Glasgower und Edinburger Krankenhauses wurden
nun mit einem Male segensreiche Heilstätten.
Und dieselbe wunderbare Wandlung hätte sich überall
vollziehen können, wo der Geist Listers die Chirurgen
erleuchtet hätte.
Hiezu aber bedurfte es noch geraume Zeit. Auch
Lister blieb von dem Schicksal aller großen Reformatoren,
von der Anfeindung, nicht verschont. Harveys Blutkreis¬
lauflehre stand auf dem Index der Pariser Fakultät, mit
Worten der Entrüstung erzählt Astley Cooper, wie
Hunter bei Lebzeiten verspottet, verhöhnt und ver¬
lacht wurde. Betrübend ist es, unter den eifrigsten
Gegnern Listers, seine eigenen Landsleute zu sehen und
unter diesen auch jenen Mann, mit dessen Namen die Nach¬
welt dieEinführung der Chloroformnarkose in unvergeßlicher
Anerkennung verbindet. Ihn müssen wir zu unserem Be¬
dauern eifrigst bemüht sehen, den durchaus neuen Ideen
Listers gegenüber all das Zusammentragen, was dessen
Priorität schädigen, zweifelhaft ersdieinen lassen und den
Wert seiner Reform herahsetzen konnte.
Er findet, daß Listers Behandlung frischer Amputa¬
tionswunden und anderer mit Karbolsäure, sei es in Form
einer flüssigen Salbe oder in Verbindung mit Oet, an die
alte tadelnswerte Verband weise erinnere, frische Wund¬
flächen mit gewissen fremden Stoffen in Berührung zu
bringen, ein vor zwei oder drei Jahrhunderten geübtes Ver¬
fahren, das von der wissenschaftlichen Chirurgie für immer
verlassen sei. Die Wundljohandlang mit Karbolsäure und
ihr Einfluß auf die Mikroorganismen sei schon Lemaire,
Deel at, Küchenmeister bekannt gewesen, ebenso wie
schon vorher Corne und Demeaux die Karbolsäure in
Form eines Pulvers aus Kreide und Steinkohlenteer ver¬
wendet hatten.
Wer diese und ähnliche Einwürfe gegen Lister
vorbrachte, der wollte Lister nicht verstehen; wollte
es nicht verstehen, daß seine Reform durchaus nicht
darin bestand, zu den vielen Wundheilmitteln ein neues hin¬
zuzufügen und es so anzuwenden, wie vor Jahrhunderten
schon antiseptische Mittel lokal verwendet wurden. In diesem
Sinne müßte man auch Agnostakis zustimmen, wenn dieser
in einer historischen Studie zu dem Ergebnis gelangt, die alten
Griechen hätten schon die ganze Antisepsis gehabt bis aufs
Mikroskop. IMan wollte nicht verstehen, daß hier ein durch¬
aus neues Prinzip in die Wundbehandlung, in die Heilkunde
eingeführt wurde, bei dem die Anwendung der Karbolsäure
nur eine relativ untergeordnete Rolle spielte, denn Lister
selbst hat ihre nachteiligen lokalen, reizenden, eilerungs¬
erregenden Qualitäten, wie ihre allgemein toxischen Wir¬
kungen genau gekannt, immer wieder betont, die Anwen¬
dung immer geringerer Konzentrationen empfohlen und wai
stets bemüht, die Wunden vor der direkten Einwirkung
der Karbolsäure zu schützen. Nicht die Karbolsäure also
war es, deren Anwendung der Lister scheu Wundbehand¬
lung das Gepräge eines prinzipiell neuen Verfahrens gab,
sondern die Gesamtheit seiner Anordnungen, die einer der
direkten Beobachtung ahgelauschtcn Theorie entsprach.
Gegner anderer Art waren jene, die zwar das Neue
des Li st ersehen Verfahrens anerkannten, aber der Theorie
opponierten; andere wieder waren nicht imstande. Listers
Erfolge zu bestätigen, ohne freilich dabei einzubekennen,
daß sie seine Methode nicht nach seinen \ orschriften übten,
die dritten verstanden weder seine Theorie noch seine
Methode und erzielten aus beiden Gründen keine Erfolge —
kurz, es gab Gegner aller Art.
Mehr aber, als den endlichen Sieg von Listers Re¬
form um einige Jahre aufzuhalten und die Menschheit um den
Segen, der von ihr ausging, um einige Zeit zu verkürzen,
vermochten weder die einen, noch die anderen. Es verdient
aber gerade aus dem doppelten feierlichen Anlaß des
heutigen Tages hervorgehoben zu werden, daß vielfach
wegen der relativ günstigen Erfolge der durch Burrow,
Vater und Sohn, gerade in damaliger Zeit wiedererweckten
Kern sehen Methode der offenen Wundbehandlung manche
Chirurgen dem widerstrebten, es mit neuen Wundbehand¬
lungsmethoden zu versuchen. Doch auch diese konnten
sich nach nicht allzu langem Zögern der neuen Richtung
mit ihren alles bisher Dagewesene übertreffenden Leistun¬
gen nicht mehr verschließen.
Die größte werbende Kraft erwuchs aber der anti-
septischen Wundbehandlung in dem Umstand, daß Listers
Station in Glasgow und Edinburg nach und nach zur förm¬
lichen chirurgischen Wallfahrtsstätte wurde, aus der dann
die bekehrten Jünger als begeisterte Apostel unter dem Ein¬
druck der dort geschauten Wunder heimgekehrt, in aller
Welt die neue Offenbarung, die neue Heilslehre verkün¬
deten. Nie wurden einem neuen Bekenntnisse überzeugtere
Anhänger geworben als diejenigen es waren, denen es ver¬
gönnt war, Josef Lister persönlich am Werke zu sehen
und unter dem Zauber seiner schlichten und darum um
so verehrungswürdigeren Persönlichkeit zu stehen.
Es ist ein dauernder Ruhmestitel für viele gerade
deutsche Chirurgen gehlieben, daß sie früher als andere
Anhänger Listers wurden und so durch den unter den
neuen Bedingungen aufgenommenen Betrieb ihrer Kunst
zu Erfolgen gelangten, die denen des Meisters nichts nach¬
geben sollten. Zumal den Namen Bardeleben, Volk¬
mann, Nußbaum bleibt auch in diesem Zusammenhänge
ein Ehrenplatz in der Geschichte der Chirurgie gesichert.
*
So haben sich denn die guten Wünsche, die Hoff¬
nungen erfüllt, deren Realisierung Vinzenz v. Kern von
der wissenschaftlichen Arbeit der nächsten Zukunft er¬
wartete.
Es erübrigt sich, des näheren das neue Leben zu
schildern, das fortan die Chirurgie seit Lister beseelte,
wie sie nach und nach zur gebräuchlichsten und ..verlä߬
lichsten Heilmethode wurde, die immer neue Gebiete einer
bis dahin unfruchtbaren Therapie eroberte. Denn darin lag ja
der große Fortschritt, den Lister herbeiführte, daß er nicht
nur die Chirurgie seiner Zeit reformierte, sondern der Kunst
des Chirurgen für alle Zukunft eine Sicherheit verlieh, die
sie befähigte, auf den mannigfachsten Gebieten ärztlicher
Tätigkeit, die bis dahin dem Messer des Chirurgen voll¬
ständig unzugänglich erschienen, heilbringend zu wirken.
Die jetzt erreichbaren Erfolge der Chirurgie, die als
Erfolge des antiseptischen, antibakteriellen Prinzipes sich
darstellten, rückten mit einem Male die Mikroorganismen
als ätiologischen Faktor von höchster Bedeutung in den
Vordergrund des ärztlichen Interesses und der Forschung.
Die Begriffe und Vorstellungen klärten sich durch fortge¬
setzte Arbeit immer mehr. Man kam zur Einsicht, daß die
Störungen im WMndverlanfe nur zum geringsten Teile auf
Fäulnisorganismen zurückzuführen waren, — denn lebendes
Gewebe widersteht der Fäulnis — man gelangte allmählich,
dank den ingeniösen K o ch sehen Methoden der bakteriolo¬
gischen Forschung, zum Begriff der spezifisch pathogenen
Mikroben, denen auch bestimmte charakteristische Störun¬
gen des Wundverlaufes entsprachen. Der Entzündungs¬
begriff, das Wesen der Eiterung wurden durch ausgedehnte
experimentelle Prüfung immer besser aufgeklärt, die Mikro¬
skopie lebender Gewebe lehrte uns den Durchtritt der
weißen Blutkörperchen durch die Gefäßwände und nach
langem wissenschaftlichen Streite die ausschließliche Her-
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
.^43
kunft jler mit diesen Leukozyten identischen Lit.erkörper- |
dien aus dem Blute kennen. Wie dies zunächst in der
embryonalen Entwicklung, u. zw. durch ilemak lestgeslellt
wurde, kam nun auch lür jedwede Eorm physiologischen
und pathologischen Wachstums das (iesetz zur Geltung,
daß die Zelle nicht aus uugeformten Blastemen und Ex¬
sudaten, sondern immer wieder nur aus der Zelle hervorgehe
und auch, wo Gewebe zerstört war, sah man die llegenera-
tioii nur aus dem präexistierenden Gewebe erfolgen.
Man erkannte es immer mehr, daß, der lebende Orga¬
nismus nicht als eine den pal hogenen Keimen wehrlos preis¬
gegebene Beute betrachtet werden darf, sondern die Sym¬
ptome, unter denen die Infektionskrankheiten auftreten, viel¬
fach vor allem vitale Reaktionserscheinungen darstellten
gegen die den Organismus an greifenden Bakterien und Bak¬
teriengifte. Zumal Entzündung und Fieber wurden — und
dadurch fand manche intuitiv gewonnene ältere Anschau¬
ung ihre Bestätigung — als Typen solcher lokaler und all¬
gemeiner Reaktionsformen festgestellt. Man lernte es ferner
immer genauer kennen,* wie gegenüber den verschiedenen
wohl charakterisierten, spezifischen Giftwirkungen der Bak¬
terien der Organismus verschiedene, ebenso si)ezifische
Gegengifte aufbringt oder die Mikroben dadurch unwirksam
macht, daß die Zellen des Invasionsherdes sich der Eindring¬
linge und Schädlinge bemächtigen und sie verdauen. So
belehrte uns die Forschung, daß der Organismus selbst in
seinem Haushalte wohl ausgerüstet ist mit Ahwehrkräften
und die Hauptaufgabe der Therapie und Prophylaxe der In¬
fektionskrankheiten 'wurde demgemäß darauf gerichtet, diese
natürlich gegebenen Schutzvorrichtungen möglichst zu unter¬
stützen.
Diese Autoantiseptik, diese Schutzkräfte, erweisen sich
vielfach als wirksam genug, um ihnen den Kampf gegen die
Bakterien zu überlassen und entheben den Arzt der Not-,
Wendigkeit, besondere bakterizide Mittel anzuwenden. Diese
Erkenntnis hat zumal die AVundbehandlung stark beein¬
flußt und im Laufe der Zeit den Wandel der antiseptischen
zur aseptischen Chirurgie zu bewirken vermocht. Die heutige
Wundbehandlung sieht davon ah, keimtötende Mittel in die
Wunde zu bringen, und überläßt zumeist den physiologi¬
schen Reaktionsvorgängen, die jeden Infekt begleiten, der
Autoantiseptik, die Unschädlichmachung der Bakterien; sie
tut dies um so melir, als die künstlicheil bakteriziden Mittel
■ — wie dies schon Lister wohl wußte — zugleich mit den
Bakterien auch die Gewebe schädigen, auf deren möglichste
Integrität ein großer Teil der organischen Abwehr ange¬
wiesen ist. Freilicli sehen wir diese Selbsthilfe dann er¬
lahmen, wenn an sie unverhältnismäßige Anforderungen
gestellt werden, wenn die ein dringenden Bakterien durch
Quantität und Virulenz von vornherein Uebermacht erlangen.
So hat sich denn die aseptische Methode, namentlich
im Bereich der operativen Chirurgie, zugleich und vor allem
zu einer prophylaktischen ausgebildet, die durch weit¬
gehende, bis ins einzelnste bedachte Vorsorge darauf aus¬
geht, alle Voraussetzungen zu erfüllen und alle Bedingungen
zu schaffen, um die Wunden, die wir selbst setzen, vor der
Kontamination schon von vornherein möglichst zu sichern.
In verständnisvoller Würdigung dieser Bestrehungen wurden
überall, wo man auf Kulturfähigkeit Anspruch macht,
Krankenhäuser und Kliniken erbaut, die in ihrer ganzen An¬
lage und Einrichtung von diesem prophylaktischen Gedanken
bis ins einzelnste beherrscht werden.
Daneben gehen aljer allerlei Bemühungen einher, um
bei trotz aller Vorsorge doch möglichen Infektion schon vor¬
hauend die Abwehrvorrichtungen des Organismus zu unter¬
stützen, ihn für den Kampf mit den Bakterien gut gerüstet
zu machen. Die prophylaktische künstliche Erzielung einer
Leukozytose, die willkürlich hervorgerufene Mehrung der
weißen Blutkörperchen, in denen wir die Träger der Alexin¬
wirkungen und die Vermittler der Phagozytose sehen, hat
seinerzeit v. Mikulicz durch vorbereitende Nukleinsäure¬
injektionen zu erreichen gesucht, zumal vor Qperationen,
welche erfahrungsgemäß an die Selbsthilfe des Organismus
besonders große Anforflermigen stellen. In ähnlichem Sinne
handeln wir, wenn wir hei durch Ifrde verunreinigten
Wunden dem Oi-ganismus gegen die solcherart von Ver-
mireinigung erfahrungisgemäß innewohnende Gefahr des
StaJ'rkrampfes, gleich vorhanend, die Gegengifte d('r mög-
licdien Infektion von voinhereiii einverleihen.
Und schließlich sei auf die Anwendung der Stauungs¬
hyperämie nach Bier hiugewiesen, die auf mechanischem
Wege bei verschiedenartigen Infektionen durch Stauung
von Blut und Lymphe und küuslli(di(‘r Oetlemhüdung
eine Anreicherung der Gewehe nnt antihakteri(dlen Schutz-
stotfen zu erreiedum sucht; ein geradezu grüßartiger
Eortschritt der Therapie, der in einej’ großen Zahl von
Fällen, wo wir bisher nur durch blutige Operation und in
schmerzhafter, oft verstümmelnder Nachhehandlung die Pro¬
dukte der Infektion zu beseitigen vermochten, uns in den
Stand setzt, durch eine auf die einfachste Weise bewirkte
Stauung es schmerzlos zu bewirken, daß durch Steigerung
der natürlichen Abwehrvorgänge das Gewehe, bzw. der
Organismus darin unterstützt wird, selbst mit der Infek¬
tion fertig zu werden.
So wurde emsig weitergearbeitet und wurden neue
Erfolge erzielt. Auch in die Zukunft sehen wir mit Zuver¬
sicht; denn die ärztliche Forschung hat, seitdem sie in
Methodik und im Denken zu echter Naturwissenschaft sich
durchgearheitet hat, in wenigen Jahrhunderten, zumal im
letzten, mehr geleistet als vorher in Jahrtausenden. Ihr
denkwürdigster Fortschritt war aber derjenige, der sich an
den Namen Josef Lister knüpft, um so mehr als er zum
entscheidenden Ausgangs- und Wendepunkt in der Erkennt¬
nis der Krankheitsätiologie wurde und ihr die gesamte Heil¬
kunde die mächtigste Anregung bildete, die von ihm zuerst
so erfolgreich betretene Balm auch fortan heizubehalten.
Sie führte im tetzten Grunde zu den Iredeutemlen Emmgeii-
schaften, deren wür uns heute erfreuen, sie führte dazu, daß
wir im Bereiche der Infektionskrankheiten u. zw. gerade
bezüglich der schwersten, es aussprechen können, daß sie
zu den vermeidbaren Krankheiten gehören und die thera¬
peutische Beherrschung, beispielsweise der Diphtherie, außer
Frage steht.
Rechnen wir hinzu, was auf dem Gebiete der Anästhe¬
sierungsmethoden geleistet wurde, wieviel der Impfung zu
danken ist, für die auch v. Kern ein begeisterter Vor-
känipfer war, und man wird der ärztlichen Wissenschaft,
zumal des letzten Jahrhunderts, das Zeugnis nicht versagen
können, daß sie der Menschheit große Dienste geleistet hat.
Sie hat, wie erwähnt, in weiterer Ausbauung der Lister-
schen Heilslehre noch große Ziele vor Augen. Diese Ziele,
einmal erreicht, werden das Glücksproblem der Menschheit
wieder um ein Beträchtliches zu fördern berufen sein. Wir
können, auf das bisher Geleistete uns berufend, es rahig aiis-
sprechen, daß es im Dienste der Allgemeinheit kaum posi¬
tivere Arbeit zu leisten gibt und keine der wärmsten Für¬
sorge durch Staat und Gesellschaft würdigere, als die För¬
derung dieser Ziele der medizinischen Forschung. Denn
was sie zu erreichen berufen ist, das bessert in seinen
wesentlichsten Voraussetzungen das Menschenlos und ist
geeignet, mit den Härten und Sorgen des Daseins zu ver¬
söhnen, sie leichter zu tragen.
Die Zuversicht in die Leistungsfähigkeit der ärztlichen
Kunst und der Glaube an die ärztliche Wissenschaft wäre
das wirksamste Korrektiv gegen den durch die moderne
Philosophie genährten Pessimismus unserer Zeit. Die Krank-
lieiten schließlich ganz bannen, ihnen durch eine weit aus¬
gebildete Prophylaxe wirksam vorl)auen zu können, ist kein
utopischer Zukunftsgedanke. Was ist niclit alles schon
davon zu erhoffen, wenn einmal Syphilis und Alkoholismus
ausgerottet sind ! Ein Forscher von der Bedeutung und den
Verdiensten eines Metschnikoff denkt nocli weiter und
hält es für eine mögliche Zukunftsleistung der biologischen
Forschung, die Lebensdauer des Menschen weit über seine
gegenwärtigen Grenzen auszudehnen und das Alter, das
zumeist ein pathologisches ist, zu einem in den Grenzen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 12
des Physiologischen ablanfenden, euphorischen, mit dem
natürlichen Tod endenden Lehensahschnitt zu gestalten.
Das ist wissenschaftlicher Optimismus ; er stützt sich auf das
schon Erreichte und ist auf die ideale menschliche Natur
gegründet. Soll er aber reelle Bedeutung .erlangen, dann
muß die gesamte Menschheit zur Solidarität und zur Mit¬
arbeit an diesem großen Problem erzogen werden.
So liegt in den weitgesteckten Zielen und Bestrebungen
der modernen Heilkunde, die uns von der Höhe aus sichtbar
werden, zu der uns Josef Lister geführt, die Aussicht auf
Verwirklichung -auch manch großen sittlichen Ideales. Möge
es an dem allgemeinen Verständnis für diese Ziele nicht
fehlen und möge der Weg zum Ruhm künftiger Tage vor¬
gezeichnet sein in der Richtung, auf die der römische Im¬
perator hinwies, der da meinte :
Melius est unum servare civem quam mille occidere bestes.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in
Wien, (Vorstand: Prof. R. Paltauf.)
lieber Toxine des Typhusbazillus.
Von Prof. 11. Kraus und Dr. R. t. Stenitzer.
Die Frage, ob der Typhusbazillus spezifische Gifte
produziert, ist seit Jahren eifrig studiert worden. Brieger,
S i r o t i n i 11, B e u m e r und P e i p e r, sowie Bitter haben
es versucht, dieses Gift darzustellen; es gelang wohl, auch
Gifte nachzuweisen, der Beweis aber für die Spezifizi tät dieses
Giftes konnte nicht erbracht werden. Pfeiffer hat eben¬
falls Gifte aiigenonimeii, die analog den endozellulären
Giften des Choleravibrio • vorhanden sein sollen. Erst
Chantemeisse hat das von ihm beim Typhusbazillus ge¬
fundene Gift durch den Nachweis seiner antigenen Eigen¬
schaft als bakterielles Toxin charakterisiert. Diese Arbeit von
Chanteniesse scheint ganz in Vergessenheit geraten zu
sein und auch Chante messe selbst bat seit längerer Zeit
in dieser vielumstrittenen Frage nicht mehr das Wort er¬
griffen. ln den letzten Jahren haben die Arbeiten Hahns,
Besredkas und Macfadyens einen Fortschritt ge¬
schaffen. Es gelang diesen Autoren, durch Auspressen
mittels Buchnerscher Presse (Hahn), durch Extraktion
und Einengen im Vakuum (Besredka und mittels Ge¬
frieren der Bakterienmasse und Verreiben derselben (Mac-
fadyen und Rowland) gelöste, giftige Substanzen aus
Typhusbazillen (Agarkultur) zu gewinnen. Diesen Sub¬
stanzen kommen nach den Untersuchungen Besredkas und .
Macfad yens zweifellos antigene Eigenschaften zu. Sowohl
Besredka als auch Macfadyen gelang es nämlich, gift-
empfindliche There mit diesen Giften aktiv zu immunisieren,
als auch spezifisch giftneutralisierende Substanzen (Anti¬
toxine) im Serum dieser Tiere nachzuweisen. Deshalb
nehmen auch diese Autoren an, daß im Bakterienleib
der Typhusbazillen endozelluläres Toxin enthalten sei.
Gegenüber dem Standpunkte Pfeiffers bedeuten diese
Arbeiten einen sehr wesentlichen Schritt nach vorne.
Pfeiffer nimmt wohl mit Recht endozelluläre Gifte
an, bezeichnet sie aber insofern fälschlicherweise als
Endotoxin, als diese Gifte nach Pfeiffer, nicht im¬
stande sind, den Organismus zur Antitoxinproduktion an¬
zuregen. Besredka und Macfadyen finden ebenfalls im
Bakterienleib Gift, sind aber in der Lage, dieses Gift als
Toxin zu charakterisieren. Das mit diesem Gifte erzeugte
Serum besitzt spezifisch antitoxische Eigenschaften. Da¬
durch sind diese Gifte in die Reihe der bakteriellen Toxine
eingetreten und können im Sinne der ,, Toxine“ sensu
strictiori als Endotoxin bezeichnet werden.
Seit einem Jahre sind wir mit dem Nachweise lös¬
lichen Giftes in Bouillonkulturen des Typhusbazillus be¬
schäftigt. Wir sind durch unsere Studien über die Gifte
des Dysenteriebazillus, der Vibrionen, Staphylokokken zu
der Auffassung gelangt, daß der Nachweis der löslichen
Gifte bei vielen Bakterien deswegen nicht gelungen ist, weil
entweder die Nährmedien, die bei der Toxindarstellung eine
Rolle spielen, nicht entsprechende Berücksichtigung erfahren
haben und weil die toxigene Eigenschaft der Bakterien sehr
variabel ist. Gerade in dem wechselnden Verhalten der
toxigenen Eigenschaften der Bakterien dürfte die Ursache
für die vielen Mißerfolge gelegen sein.
Ein ganz eklatantes Beispiel für das eben Gesagte
bietet ja die Geschichte der Choleratoxinforschung. Wie viele
Choleravibrionen wurden auf giftige Stoffwecliselprodukie
untersucJit, bis es endlich gelungen ist, hei sicheren Cholera-
vihrionen Toxine zu finden. Auch bei den Staphylokokken
sind wir äJmliclien Verhältnissen begegnet. Mit diesen Er-
fahnmgen ausgestattet, gingen wir daran, die löslichen Gifte
in Bouillonkulturen des Typhushazillus zu suchen. Wir ver¬
suchten in derselben Weise, wie wir es mit den Dysenterie¬
bazillen, Vibrionen, Staphylokokken laten, zunächst viele
aus Typhusleichen gezüchtete, biologisch bestimmte Stämme
in verschiedenartig präparierter Bouillon verschieden lange
zu züchten und in den Filtraten dieser Bouillonkulturen die
Gifte nachzuweisen. Für den Giftnachweis bedienten wir
uns der intravenösen Injektion. Diese Art der Einver¬
leibung des Giftes wählten wir deshalb, weil uns die Studien
über die Toxine der Vibrionen gelehrt haben, wieviel gerade
diese Art der Einverleibung des Giftes das Gelingen des
Giftnachweises förderte. Subkutane Injektionen der El Tor-
Gifte z. B. machen in Hosen, in welchen nach intravenöser
Injektion Tod der Tiere nach kurzer Zeit erfolgt, nur kleine
Infiltrate. Auch für die Typhusgifte gilt, wie wir sehen
werden, daß die intravenöse Injektion besser den Giftnach¬
weis gestattet wie die intraperitoneale.
Tabelle I.
Alter der
Kultur nach
Tagen
Diphtheric-
bouillon*)
Dysenterie¬
bouillon**)
Bouillon 2*4
Bouillonzusatz
vom Phenol¬
punkt 5 cm3
5“/« NaOH
9
VI 3 0 XIII 1-0
XIII 0-5 XI 0-5
11
VI 10
113 0 VI 3 0
12
VI 1-5
13
VI 3 0
VI 3-0
14
VI 1-0 XIII 1-0
Galle 1-5
16
XIII 2 XI 3 0
V 3 0 VI 3 0
XX 3 0
18
XIII 2 0
XIII 2 XI 3
XVII 3-0
XX 3 0 VI 3 0
III 3 0
23
VI 3 0
XIII 2 0X13 0
VI 30
24
XIII 10
25
V30
o
1
i
[
XIII 3 0
! *) Vom Lackmusneutralpuiikt 10 cm® Normalsodalösung
I auf 1 Liter.
j **) Vom Lackmusneutralpunkt 3 g krislall. Soda.
1 ***) Vom Thenolphthaleinpunkt 2‘4 cm® mit 5®/o NaOH.
j z. B. VI 1’5 bedeutet: Typhusstamm VI tötete inlra-
I venös in einer Dosis von l ö cm® ein Kaninchen von 7 bis
I 800 g binnen 12 bis 24 Stunden.
Wie aus der obigen Uebersichtstabelle I über die
Giftproduktion verschiedener Typhusstämme hervorgeht, ge¬
lingt es in verschiedenaltrigen, verschieden alkalisierten
Bouillonkulturen einzelner Stämme giftige Substanzen nach¬
zuweisen, welche in Mengen von 0-5, 1, 2 und 3 cm^
bei intravenöser Injektion lOminchen . vom' Gewichte 800 g
bis 1000 g innerhalb von 5 bis 24 , Stunden töten.
Die Tiere sind nach Injektion wirksamer Gifte bereits
nach drei bis vier Stunden krank und so schwach, daß
sie sich schwer aufrichten können, hegen auf der Seite,
bekommen Durchfälle und gehen innerhalb 5 bis 24 Stunden
zugrunde. Bei der Obduktion gelang es uns bisher nicht,
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
3i-5
irgendwelche Veränderangeii nachzuweisen, die wir als
spezifische Wirkungen des Typhusgiftes anzusehen hatten.
Ab und zu sahen wir Schwellungen der Plaques*) ini Dünn¬
darm (und auch. Airdeutungen von Zerfall), in der Regel
war außer Rötung des peritonealen Ueberzuges des Darmes
und klarer Flüssigkeit im Peritioneum nichts Besonderes
nachweisbar. Dieses für Kanineben bei intravenöser Injek¬
tion wirksame Gift hat bei peri tonealer Injektion viel größerer
Mengen weder bei Kaninchen, noch bei Meerschweinchen
tödlich gewirkt.
Zu bemerken wäre noch, daß die Darstellung des
Giftes nicht leicht ist. Es gelingt ein- oder zweimal bei einem
bestimmten Nährboden in gewisser Zeit die Gifte zu ge¬
winnen, ein drittes Mal sind die Filtrate ungiftig. Trotz
vieler Mühe ist es uns bisher nicht gelungen, einen Nähr¬
boden zu finden, in welchem die Giftbildung konstant opti¬
mal vor sich ginge. Dabei ist das Gift äußerst labiler Natur.
Es erinnert in seiner Labilität an das flüssige Tetanustoxin.
Gifte, die heute genau ausgewertet sind, haben morgen bereits
einen geringeren Titre und können innerhalb einer Woche
ganz ungiftig werden. Weder die Konservierung \im Dunklen,
nocli am Eis verhindert diese rapide Abschwächung. Auch
ist es uns bisher nicht gelungen, durch Fällungsmethoden
zu einem resistenteren -Toxin zu kommen.
Für unsere Ffage wichtig ist die Eigenschaft dieser
Gifte, eine Antitoxinbildung im Tierkörper zu veranlassen.
Die nachfolgenden Tabellen bringen die mit dem Serum
immunisierter Tiere gewonnenen Resultate. Mit den gif¬
tigen Filtraten der Typhusbazillenbouillonkultur wurden
Ziegen und Pferde subkutan durch längere Zeit behandelt
und deren Serum auf seine giftneutralisierende Eigenschaft
geprüft. Es ergibt sich, daß dem Serum der vorbehandelten
Tiere eine giftneutralisierende Wirkung in Mengen zu¬
kommt, in welchen weder Serum normaler Tiere, noch
Tabelle II.
Serum
A aj 1 a>
B bCco 1 tiCm
3 C Ö =*- C C
«- O) g rK OJ g
S S
Tier
Injek¬
tion
Resultat
Pferdeserum Karl vor der
Immunisierung
10
30
Kaninch.
intrav.
+ *)
0-5
30
>
+
10
30
>
1. AGCriaD
05
30
+
II. Aderlaß
1-0
30
»
—
05
30
—
0-1
30
—
Kontrollen :
Gigant (Typhus)
0-5
20
»
+
Edgar (Typhus)
0-5
20
+
Jobst (Dysenterie)
0-5
2 0
+
Infant (Dysenterie)
0-5
05
20
+
Klipp (Dysenterie)
20
»
+
1
Gomtesse (Dysenterie)
0 1
30
)»
+ ;
Kam6 (Cholera)
0-1
30
»
>
•f
—
—
30
»
>
+
—
—
20
4-
Besredka: Trockenserum auf¬
gelöst in physiol. NaCl
001g
20
— .
()-02 g
20
7>
“ i
01 g
40
>
_
0-3 g
60
>
—
—
2-0
>
>
+
*) Auch bei gesunden Kaninchen findet man häufig vergrößerte
Plaques.
*) + tot.
**) — lebt.
das mit anderen Toxinen (Dysenterie, Cholera) immunisierter
Tiere sien wirksam erweist. Allerdings sind die Werte des
Serums noch gering. Es könnte sein, daß diese Antitoxine sich
ebenso verhalten wie die Cholera- und Dysenterieantitoxine,
welche in ihren Werten weit hinter den weiteren Diphtherie-
und Tetanusantitoxinen stehen. Im Prinzip kommt es
aber hauptsächlich darauf an, zu zeigen, daß ein mit
diesen Giften gewonnenes Serum die Fähigkeit hat, dieses
Gift spezifisch zu neutralisieren. Diese Eigenschaft kann
nach den vorliegenden Versuchen dem Serum nicht ahge-
sprochen werden.
Tabelle III.
Serum
Seruni-
inenge cm^
Gift-
mengeem^
Tier Injektion Resultat
Ziegenserum 36
(Agarkullur)
I. Aderlaß
0-5
30
Kaninch.
intrav.
—
01
30
+
III. Aderlaß
0-5
30
—
01
30
>
Ziegenserum 25
(Toxin)
I. Aderlaß
10
30
*
•»
—
05
30
—
0 1
30
>
—
003
30
>
+
11. Aderlaß
05
40
7>
»
—
0 1
40
+
IV. Aderlaß
0-5
30
2>
—
0-1
30
»
+
Normal-Ziegen¬
serum
10
30
+
—
20
>
2>
+
Zum Schluß bleiht noch die Frage offen, ob die von
uns in Filtraten der Bouillonkulturen .nachgewiesenen Gifte
als identisch anzusehen sind mit den Endotoxinen von
Besredka und Macfadyen.
Ein Versuch, der in dieser Richtung ausgeführt wurde,
dürfte, wie aus dem vorhergehenden Protokoll ersichtlich, dafür
sprechen, daß unser Gift und das Endotoxin Besredkas
identisch sein dürften. Es gelang, mit dem uns von Kollegen
Besredka aus dem Institute Pasteur freundlichst über¬
lassenen Antiendotoxin unser Toxin zu neutralisieren. Damit
glauben wir, ist der Beweis der Identität dieser beiden Gifte
sehr wahrscheinlich gemacht.
Ob das in Filtraten der Bouillonkulturen nachgewiesene
Typhustoxin als Sekretionsprodukt der Bakterien aufzu¬
fassen wäre oder als ein durch Zerfall der Bakterienleiber
endozelluläres Gift, ist eine Frage, hie sekundärer Natur
ist. Prinzipiell wichtig erscheint es uns, daß es
gelingt, sowohl im Bakterienleib des Typhus¬
bazillus, als -auch in Filtraten der Bouillonkul¬
turen Toxine nachzuweisen. Daß dieser Nachweis
als erbracht anzuseheii ist, geht aus den Versuchen von
Chantemesse, Besredka, Macfadyen und jetzt aus
unseren Versuchen hervor. —
Die von Bail in der letzten Nummer der Wiener
klinischen Wochenschrift mitgeteilten Versuche zeigen nun
auch, daß in den Exsudaten der mit Typhusbazillen in¬
fizierten Kaninchen Gifte enthalten sind, die Kaninchen
bei intravenöser Injektion töten. Ob aber diese Gifte als
Toxine charakterisiert werden können, ist durch Bail nicht
erwiesen worden. Es ist aber denkbar, 'daßi die in Exsudaten
der infizierten Kaninchen nachgewiesenen giftigen Körper *)
identisch sein könnten mit den jetzt bereits gekannten To¬
xinen der Typhusbazillen. Jedenfalls geht mit Sicher¬
heit a u s der B a i 1 s c h e n Arbeit hervor, d a ß e r den
*) Die Exsudate Bails enthielten noch Bakterien, sind also nicht
gleichzusetzen den bakterienfreien Filtraten.
346
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
A ggrt'ssi 11011 der Ty pli ii sJia zilloii jetzt aucli gü¬
tige lü g(' II s (“ Ji a 1 1 e 11 / u s c li re i 1) i, dit' iJiiieii nacJi
si'iiieii I' r ü Ji e re II Arbeiten I’iir ge \v ö h n 1 i c ii iiiclit
z II ko 111111 (' 11. J)ie Aggi‘('ssiiie warini ja iiacJi liail
Körper, die liloß auf Leiikozyleii spezifiseJi scdiädigend
eiiigewirkl liaiieii solb'ii. Schon in der Arheil üix'r giftige
l'bxsiidaU“ mit Slaiiliylokokken infizierter Tieri' findet Kail
sidbst di(‘ von iliin Jiesti'ii tmie (lifligkeit. d('r Exsinlale.
Die kixsudale der mit TyiiliiisbaziIhMi infiziertmi 'tiere sind
IkmiIi' nach Jiail ('henfalJs giftig. Nnninelir soll kein prin¬
zipieller ('Ic'gensatz mehr zwischen aggressiver und toxischer
Wirkling der Exsudate hestehen und die Wirkung der Ag-
gressine soll eine gleichi' sein wi(^ die der Toxine.
Weswegen Kail die giftigen Exsudate noch als Aggres-
sine hezeichnet, ist nicht recht verstimdlich. Die Exsudate
sind giftig, was früher die .\ggressine Kails nicht waren,
si(' wirken tödlich, was die Aggressine nicht taten, sii'
können also nicht das sogenannte Aggressin im Sinne Kails
sein, üh sie identisch mit dem in ^dtro na.chgewiesenen
IVixin der Tyiihushazillen sind, ist durch Kail nicht er¬
wiesen, jedenfalls aber wahrscheinlich.
Daß Exsudatx' von mit. Typlmsbazillen iniizieiten Tieren
gütig würken, ist aber üherhauiit nicht neu, wie Kail aiizn-
nehnien scheint. Kereits vor zwei Jaliren hat F. Lange im -
Lahoratorium Metschnikof f s die Tatsache einwandfrei
festgestellt. Die Arbeit Langes (Gomptes rendns de la
Soc. de Kiol. 1905, 0. Mai), die Kail entgangen zu sein
scheint, zeigt, daß hakterienf reie Exsudate (Filtrate)
von infizierten Meerschweinchen in Dosen von 0-5 bis 2 cnF
Aleerschweiiichen iniierhalh 18 bis 24 Stnmlen toten. Lange
glaubt auf (iruiid dieser l’ersuche annehnien zu können,
daß T’yiihnshazillen im . Organismus Toxin produzieren und
erklärt damit die Giftigkeit der Exsudate. Kails Arbeit
bringt demnach in dieser Richtung nur eine Kestätigung
der Arbeit Langes. Neu ist bloß die Verschiebung des
Aggressinhegriffes in dem von Wassermann, Doerr und
Sauerbeck vertretenen Sinne, daß die sogeminnte aggres¬
sive Eigenschaft der Exsudate auf ihrer Giftigkeit lieruhen.
Erwiderung auf L Zupniks Artikel (Berliner
klinische Wochenschrift Nr. 53, 1906).
Von Prof. K. Kraus.
ln meinen Arbeiten, sowie in den gemeinschaftlich mit
Prihram und Prantschoff aiisgeführten, über Toxine
und Antitoxine der Vibrionen wurde eine Tatsache
ermittelt, -welche wir als bisher nicht gekannt hingestellt
haben. Es konnte nämlich gezeigt werden, daß das Anti¬
hämotoxin, gewonnen mit dem Hämotoxin eines
\’ibrio, auch Hämotoxin andersartiger, biolo¬
gisch di f f ere n ter Vi br i onen z u neu trali sie r en im¬
stande sei. G lei eil es konnten wir auch für das
T 0 X i n 11 a c h w eisen. 1) a s A n t i t o x i n, g e w o n n e n m i t
dem Toxin des \'ihrio xVasik, hat ebenso das
Toxin der El To r- V i b r i one n neutralisiert, wie
das homologe Antitoxin. Trotz der sicher nachgewie¬
senen hiologischen Verschiedenheikdieser Vibrionen kommen
ihnen demnach gemeinschaftliche Toxine zu.*) ,, 'Damit“,
heißt es in meinem Vortrag in Kerlin, „war eine Tatsache er¬
schlossen, welche bisher in der Iimnunitätslehre nicht ge¬
kannt ist, daß nämlich Toxine verschiedener Hak¬
te rien arten eine Identität nach weisen lassen.
Hier sehen wi r, daß biologisch differenten Vibrio¬
nen, die untereinander gar keine biologischen
Ke Ziehungen auf weisen, identische Toxine zn-
k online n.“
ln einem unlängst erschienenen Artikel (Kerliiier
klinische Wochenschrift t90ß, Nr. 53) wendet sich Zupnik
*) Weitere Untersuchungen haben gezeigt, daß hier ein Analogon
zu den bei der Agglutination gekannten Tatsachen vorliegen dürfte. Den
verschiedenartigen Vibrionen dürften neben dem artspezifischen Toxin
noch Partial toxine zukommen.
gegen die Richtigkeit unserer eben angeführten Rehaup-
luiigeii.
Die von Zuiniikiiii selben Aiiiktd behaiidelhui Fragen
über Agglutination und Präziiiilation hat v. Eisler in ob¬
jektiver Weise in dem vorangehenden Artikel auf ihre 8tich-
hältigkeit geprüft, und die von Zupn ik für sich in Anspruch
genoinmiMien Verdienste auf das Tatsächliche zurückgeführt.
Es erübrigt mir demnach, bloß auf diejenigen Punkte in
Zupniks Artikel (‘inzugehen, die sich ‘mit der sogenaniiten
Gattimgsspezilizität der Toxine liesciiäftigen.
.Zupnik behauptet, daß die von uns mitge-
teilt(‘n Tatsachen nicht neu wären und bloß ein
A n a 1 0 g o n d e r v o n i h m vor einigen Jahren bereits
g e f u 11 d e 11 e n K e f u n d e w ä r e n.
Ini Jahre 1902 trat Zupnik in der Prager medizini¬
schen Wochenschrift mit einer Arbeit hervor, deren Resultat
in dem Satze gipfelt, ,,daß der Löffler sehe Razillus
nicht die spezifische Aefiologie der Rretoneau-
schen Diiihtherie darstelle“ (S. 419). Er ist bemüht,
für die Diphtherie verschiedene Arten von Diph-
t h e r i e h a z i 1 1 e n als Erreger hinzustellen. Zupniks Be¬
haupt ungen sind hauptsächlich darauf gegründet, daß er
morphologische und kulturelle Differenzen der gezüchteten,
als Diphtheriehazillen hestimmten Mikroorganismen findet
und daraus die Verschiedenheit der Diphtheriebazillen ab-
ziileiten bemüht ist.
F ü r diese m o r p li o 1 o g i s c h oder kulturell n u r
wmiiig verschiedenen und von ihm als verschie¬
denen Arten zugehörigen D i p h t h e r i e b a z i 1 1 e n
vindiziert Zupnik identische gat tu n gs s p e z i fi¬
sche Toxine. Welche Kerechtigupg dieser mit großer Em¬
phase viorgetragenen Lehre zukommt, geht aus der Arbeit von
Schick und E r s e 1 1 i g, die im hiesigen Institut ausgeführt
wurde, hervor. Durch diese Arlieit ist unzweifelhaft fest¬
gestellt worden, daß Zupniks Kemühungeii, die in der
Lehre von der iVetiologie der Diphtherie herrschende Klar¬
heit zu verwirren, sich als erfolglos erwiesen haben. Schick
und Ersottig haben gezeigt, daß Zupniks Angaben, die
Diphtheriebazillen wüchsen auf Agar in zwei kulturell
verschiedenen (matten oder glänzenden) Kolonien, . richtig
ist. Gleichzeitig konnte aber ermittelt Averden, daß auf
Glyzerinagar kulturell gar kein Unterschied be¬
steht und daß die auf Agar verschieden wach-
s e 11 (l e 11 B a z i 1 1 e n (matt oder glänzend) sich i n e i n a n d e r
überführen lassen. Nachdem Schick und Ersettig
bei diesen matt oder glänzend yvachsenden Bazillen*) sonst
alle Eigentümlichkeiten der Diphtheriebazillen nachweisen
konnten, indem beiderlei Diphtheriehazillen gleich spezi¬
fisch a g g 1 ii t i n i e r t w u r d e n, identische T o x i n e p r o-
diizi erteil, war, da ja auch die Umzüchtung ge¬
lungen war, kein Zweifel darüber, daß das verschie¬
dene Verhalten auf Agar nicht als Merkmal der
Verse hie de 11 he it angeseJien werden kann.
Auf (iruiid dieser Ai'beif, welche mit vollem Rechte
für die Einheitlichkeit der Diphtheriehazillen eintritt und
die Schlußfolgerungen Zupniks zurückw^eist, waren wir
w o h 1 berechtig t, d i e von Z u p n i k konstruierte
Gattungsspezifität der Toxine der verschieden¬
artigen Diphtheriebazillen als unbewiesen hin¬
zu s tel 1 e n.
Seit dieser Zeit finden wir keine weitere Arbeit
Zupniks vor, welche gegen die Arbeit von Schick und
Ersettig Ein wände erhoben hätte, und noch einmal die
Aläre von den verschiedenen Arten der Diphtheriebazillen
und deren identischen gattungsspezifischen Toxinen als
glaubwürdig hinzustellen bemüht wäre. Als wir die ein¬
leitend erwälmten Feststellungen gemacht halien, Avaren wir
demnach berechtigt, zu heliaupten, daß eine analoge Tat¬
sache bisher nicht gekannt sei. Zupnik wird doch un¬
möglich verlangen dürfen, daß man den von ihm gehegten
Wunsch, eine Gattungsspezifizität der Toxine zu kon-
*) Alle waren aus klinisch verlaufenden Diphtheriefällen gezüchtet.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
317
sfruiereii, als Beweis anerketint. Nacli wie vor müssen
wir die von uns erniitfelten Tatsachen als bisher
u 11 1) e k a 11 11 1 h i 11 s t e 1 1 e n u ii d d i e F o r d e r u n g Zn p-
11 i k s, d i e s h e z ü g 1 i c h e i n e n P r i o r i t ä t s an s p r n c h zu
erlieheii, als nngehiihrend zurückweisen.
Aus dem hygienischen Institut der deutschen Universität
in Prag (Vorstand: Ohersanitätsrat Prof. Hueppe.)
Ueber Bakterienpräzipitation durch normale
Sera.
Von Privatdozent Dr. Edinuud Hoke, I. Assistenten der medizinischen
Klinik. (Vorstand: Ohersanitätsrat Prof. R. v. Jak sch.)
R. Krans^) wies im Jahre 1897 nach, daß in keim¬
freien Knlturfiltraien durch homologes Serum Niederschläge
auftreten. Wurde statt des homologen Serums ein anderes,
z. B. Typhusimmunserinn auf Cholerafiltrate verwendet, so
konnten derartige Niederschläge nicht lieobachtet werden,
woraus Kraus auf die Spezifität der Reaktion schloß. Durch
normale Seren konnte eine Präzipitation von Bakterien¬
filtraten noch nicht nachgewiesen werden, obwohl es nach
Analogie mit anderen Präzipitatioiiserscheiimiigen und an¬
deren Immunitätsreaktionen, wie Agglutination, Hämolyse
und so weiter, sehr wahrscheinlich war, diese durch eine
geeignete Versuchsanordnung demonstrieren zu können.
Bekanntlich sind zum Zustandekommen eines Präzi-
pilates zweierlei Dinge notwendig, ein aktives, in den Fil¬
traten enthaltenes Prinzip, das Präzipitine gen und ein
passives, im Serum vorhandenes, das Präzipitin. Die Stärke
der Präzipitation, die Raschheit der Reaktion hängen demnach
besonders vom (Tehalt der verwendeten Flüssigkeiten 'an den
genannten zwei Stoffen ab. Gelingt es, eine an Präzipitinogen
reicdie Flüssigkeit zu erhalten, so muß es auch durch ge¬
eignete normale Seren gelingen, Niederschlagsbildung her¬
vorzurufen. Durch Verwendung von ,,Bakterienex-
trakten“, wie sie gerade jetzt zu anderen Zwecken aus¬
gedehnt versucht werden, gelingt dies tatsächlich überaus
leicht. Schon Bail und Weil^) konnten in solchen „Ex¬
trakten“ durch normales Rinderserum Ausflockung beob¬
achten.
Bei der Untersuchnng des VIeclianismus dieser Er¬
scheinung zeigte sich sofort, daß nicht nur dem Rinder-
' serum, sondern auch dem Pferdeserum, dem Serum vom
Schwein und Schaf, nicht aber dem Kaninchen-, Meer¬
schweinchen- und Rattenserum fällende Eigenschaften zu¬
kommen. Im normalen Alejischenserum konnten, soweit die
jetzigen Erfahrungen reichen, niemals Präzipitine nach¬
gewiesen werden. Hingegen gewinnt das Menschenserum
unter dem Einflüsse einer Infektion mit dem Typhus¬
bazillus sehr deutliche präzipitierende Eigenschaften, wor-
ül)er an anderer Stelle noch zu berichten sein wird.
I. Fällbarkeit der Extrakte durch normale Seren.
a) Rinde r serum.
Tabelle I.
1. 0‘5 cm‘
2. 0-5 „
3. 0-5 „
4. Oü „
5. 0-5 „
Choleraexfrakt
4- lÜ
-+■ l’O
-t- 0-25
-! O'Oö
-C 1-5
cm® Rinderserum
n
Kochsalzlösung.
Drei Proben wurden im Wasserbade bei 37“ gehalten. Schon
nach wenigen Minuten zeigt sich in Proben 1, 2 und 3 Trübung,
dann Ausflockung, in drei Stunden Absetzen des Niederschlages
Proben 4 und 5 bleiben klar.
Tabelle II.
1. 0'5 cm® Typhusextrakt
-h
l'O
cm®
Rinderserum
2. 0 o „
-l-
Oo
y y
y y
3. 0-5 .,
-1-
0-25
1 y
1 1
4. 0'5 „
-P
OT
yy
y y
5. 0-5 „
-f-
005
yy
yy
d. Oo „
ro
1.
Kochsalzlösung,
Nach einer halben Stunde (wieder wie oben bei 37“ ge¬
halten) zeigen alle Serumproben Trübung, später Austloekung;
Kontrollprobe Nr. 6 bleibt Idar.
b) Pferde-, Schaf-, Schweine- und Z i e g e n s e r u m.
Tabelle III.
1. 0-5
cm® Cboleraextrakt
1- PO cm® Pferdeserum
2. 0 5
,,
h 0-5 „
3. 0 5
^ ^ yy
-P 0-25 „
4. 0-5
,,
h 01 „
5. 0-5
yy yy
“ 0‘05 „
6. 0-5
yy yy
r PO ,, Schafserum
7. 0'5
yy yy _
+ 0’5 „ ,,
8. Oü
■ yy yy
1 0'25 „
9. OÜ
yy yy
+ 01 ,, ,,
tO. Oh
n yy
+ 0 05 ,, ,,
11. 0-5
yy yy
-i- l’O ,, Schweineserum
12. OÜ
yy yy
+ 0'5
13. Oü
yy yy
-r 0-25 „
14. O o
yy ’ '
+ 01 „
15. 0-5
)) yy
1 0'05 ,, ,,
16. 0-5
yy yy
+ PO ,, Ziegenserum
17. Oo
yy yy
+ 05 ,, ,,
18. 0-5
yy ’ '
+ 0-25 „
19. Oo
yy yy
+ 01 ,, ,,
20. Oo
yy yy
+ 0'05 ,,
21. Oo
yy yy
+ l'O ,, Kochsalzlösung.
Nach
einer halben Stunde zeigten sich Trübung in Proben
1, 2, 3, 6,
7, 11, 12, 13, 16, 17, die übrigen Proben bleiben klar.
T a b e 1 1 e IV.
1. 0-5
cm® Typhusextrakt
+ 0'5 cm® Pferdeserum
2. 0 o
M >>
-1- 0‘5 ,, Schaf serum
3. OÜ
yy yy
-!■ 0'5 ,, Schweineserum
4. Oo
y y yy
-t 0’5 ,, Ziegenserum
5. Oo ,, ,, f 0'5 ,, Kochsalzlösung.
Nach einer halben Stunde Trübung in Proben 1 — 4; Probe 5
bleibt klar.
Im ganzen wurden sechs verschiedene Rinderseren
untersucht. Immer wurde eine starke Wirkung auf Typlms-
und Choleraextrakte heohachtet. Die Wirkung ist so deut¬
lich, daß sie einem homologen Immunserum Jcaum nachsteht.
Recht inkonstant in ihrer Wirkung zeigten sich die weiter
untersuchten Pferde-, Schaf-, Schweine- und Ziegenseren.
Gelegentlich Versagten sie vollständig.
In den bisher mitgeteilten Tabellen ist nun der Beweis
einer Bakterienpräzipilalion durch normale Seren erbracht.
Die Protokolle über die mit Kaninchen-, Aleerschweinchen-,
Ratten- und mit normalem TIenschenserum angestelllen Ver¬
suche werden nicht angeführt.
11. Die Inaktivierharkeit des Binderserums.
Es mußte nun untersucht werden, ol) .derartige normale
Seren Avie homologe Immimseren inaktiviert werden können.
Zu diesem Zwecke werden die Seren im Wasserbade einer
Temperatur von 60^ eine halbe Stunde ausgesetzt.
Tabelle V.
1.
0-5
cm®
Choleraextrakt
+
1'5 cm® Rinderserum
'I2
stunde 60"
2.
Oo
j j
y y
+
0*5 „
■/.
60“
3.
0-5
j y
+
0'25 „
V.
V2
„ 60“
4.
0-5
1
01 „
„ 60“
o.
0-5
1
0'05 „
V2
„ 60«
6.
Oo
yy
y y
-1-
15,, ,,
V2
60'^
Noch nach zwölf Stunden ist in keiner Probe eine Trübung
zu bemerken.
Tabelle VI.
1. 0'5 cm® Typhusextrakt -l- 1‘5 cm® Rinderserum Stunde 30
. ,-,-r 1
2. OT) ,.
-r 0-5
1
2 ,,
60
3. 0 5 „
+ 0-25 „
60
4. OT) „
+ 01 „
V2 „
60
5. OT) „
-i 0-05 „
11
60
6. 0’5 „
,, + PS n
Kochsalzlösung.
Alle
Proben bleiben dauernd
klar.
0
ü
0
0
0
Das Rinderserum kann also wie ein Immimserum durch
Erhitzen inaktiviert werden. Durch halbstündiges Erhitzen
auf 50*' wird das Rinderseiami nur cpialitativ beeinflußt, das
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
lieißt, Präzipitation zeigt sich nur in den Proben stärkster
Seruinkonzentration, während sie in den übrigen ausbleibt.
Die Inakti\ierjmrkeit von Pferde-, Schafserum usw.,
wurde nicht untersucht.
111. Die Reaktivierbarkeit inaktivierten Rinder¬
serums.
Der Versuch, des durch Erhitzen oder längeres Stehen
inaktivierten Rinderserums, stößt auf große Schwierigkeiten,
da Pferde-, Schaf-, Scliweine- und Ziegenserum meist an
sich schon präzipitieren, Kaninchen-, Meerschweinchen- und
Rattenserum erwiesen sich wirkungslos. Nur einmal wurde
ein frisches Pferdeserum und ein Schafserum beobachtet,
die an sich wirkungslos waren. Mit diesem wurde ein Er¬
gänzungsversuch vorgenommen.
Tabelle VII.
1. 0‘5 cnP Choleraextrakt + 0'5 cm’’ frisches Rinderserum
2. O o
3. Oo
4. O Ö
5. 0-5
6. Oo
7. O'ö
8. O'ö
9. OÜ
+
+
OÜ
05
-f 0-5
+ 0-25
+ 0 25
+ 0-5
+ 0‘5
+ 0’5
Rinderserum V2 Stunde 60”
„ 'h St. 60" + 0-25 Pferdes.
„ V2 „ 60" + 0-25 Schafs.
Pferdeserum
Schafserum
Pferdeserum
Schafserum
Kochsalzlösung.
Die Proben bleiben 12 Stunden bei
zeigt Probe 1 starke Flockenbildung; 2
4. stärker trüb; 5 — 9 klar.
37". Nach dieser Zeit
klar; 3. etwas trüb;
V2
, St. 60"
1/
60'’ + 0'25 Pferdes.
2 „ 60" + 0-25 Schafs.
Pferdeserum
Schaf serum
Kochsalzlösung.
Probe 1 zeigt starke Aus-
Tabelle VIII.
1. 0'5 cm® Typhusextrakt + 0’5 cm® Rinderserum aktiv
2. 0'5 ,, „ + 0'5 ,,
3. 0‘5 „ „ + 0'5 ,,
4. 0'5 „ „ + 0‘5 „
5. 0'5 „ „ + 0'5 „
6. 0 o ,, „ + 0’5 ,,
7. 0'5 „ ,, + 0‘5 ,,
12 Stunden Bruttemperatur,
flockung; Probe 2 klar; Proben 3 und 4 trübe; 5 — 7 sind klar.
In diesem Versuche gelang es also, das durch Hitze
inaktivierte Rinderserum zu ergänzen. Da nur ein Versuch
vorliegt, muß die Frage noch als nicht vollkommen ent¬
schieden angesehen werden ; es besteht aber wohl kaum
ein Zweifel, daß es bei Verwendung geeigneter Seren ge¬
lingen muß, das inaktivierte Rinderserum zu reaktivieren.
Das Rinderserum ist nach diesem einen Versuche auch
homologen Immunseren analog.
Da, wie gezeigt wurde, das Rinderserum imstande
ist, in Typhus- und Choleraextrakten (auch wahrscheinlich
in anderen Extrakten, wie Bacterium coli usw.) Nieder¬
schläge zu erzeugen, Avurde nun weiter untersucht, ob die
Reaktion wie die eines Immunserums spezifisch ist, das
heißt, ob ein durch Cholera extrakt erschöpftes Serum noch
imstande ist, Typhusextrakt zu fällen, auch umgekehrt. Zu
diesem ZAvecke wird Typhus- und Choleraextrakt mit der
doppelten Serummenge zusammengehracht und der ent¬
standene Niederschlag abzentrifugiert, so daß die Flüssigkeit
wieder völlig klar ist.
Tabelle IX.
1. 0'5 cnP Choleraextrakt + l'O Rinderserum
2.0-5
>>
yy
+ 1-0
3. 0 5
))
yy
+ 1-0
4.05
})
yy
+ ro
5.0-5
y)
yy
+ 1-0
6.0-5
yy
Tyi)husextrakt
+ 1-0
7.0-5
yy
yy
+ ro
8. 0-5
yy
+ 10
9. 0-5
yy
yy
+ 1-0
10. 0-5
yy
yy
+ 1-0
11.0-5
yy
yy
+ 1-0
12. 0-5
yy
Choleraextrakt
+ 1-0
,, nach Cholerapräzipitat ab¬
zentrifugiert
,, nach Typhuspräzipitat ab¬
zentrifugiert
,, '4 Stunde 60"
,, nach Cholerapräzipitat + 0'5,
Rinderserum '4 Stunde 60“
)>
,, nach Typhuspräzipitat zen¬
trifugiert
„ nach Cholerapräzipitat zen¬
trifugiert
„ V2 Stunde 60"
„ n. Typhuspräzipitat zentrif.
+ 0'5 Rinders. ’4 St. 60"
Kochsalzlösung
Eine Stunde Bruttemperatur. Probe 1 starke Ausflockung,
ebenso Probe 6. Alle übrigen Proben sind klar.
Der Versuch zeigt, daß das durch die Fällung er¬
schöpfte Serum weder Typhus- noch Choleraextrakt mehr
präzipitieren kann. Die Reaktion ist demnach nicht spe¬
zifisch und unterscheidet sich dadurch von einem Immun¬
serum. Da das Rinderserum immunkörperreich ist, auch
dies mit seiner hohen präzipitierenden Kraft sehr wahr¬
scheinlich zusammenhängt, wurde versucht, durch Immun¬
körperzufuhr, die durch Extraktfällung erschöpften Seren
gewissermaßen zu ergänzen. Dies gelang, wie die Proben
5 und 10 zeigen, nicht. Daß auch hier, wie bei der Beein¬
flussung der Bakteriolyse durch Bakterienextrakte (siehe
Bail und Hoke, im Drucke) ungemein komplizierte Ver¬
hältnisse vorliegen, ist wohl sicher. Dies näher zu ver¬
folgen, war nicht mehr der Zweck dieser Mitteilung.
Zur Darstellung der Extrakte wurde Typhusstamm „Dobean“
und Cholera „Pfeiffer“ verwendet.
Prag, im März 1907.
Literatur:
*) R. Kraus, Wien, klin, Wocbenschr. 1897, Nr. 32. — “) Bail
und Weil, Zentralblatt für Bakteriologie 1906, 40. Bd., Heft 3.
Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien
(Vorstand: Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg.)
Ein Fall von Abrißfraktur eines Dorn¬
fortsatzes.
Von Dr. Otto v. Frisch, Assistenten der Klinik.
Wenn auch die isolierten Frakturen der Dornfort¬
sätze in der Lehre der Knochenbrüche eine untergeordnete
Rolle spielen, so nötigen sie uns doch durch ihre Selten¬
heit ein gewisses Interesse ab. Und wenn hiemit ein ein¬
zelner solcher Fall beschrieben wird, so ist es nicht zum
mindesten die Klarheit und Einfachheit desselben, welche
mir ihn besonders bemerkenswert erscheinen läßt.
Im Februar laufenden Jahres kam an die Klinik ein
ISjähriger, hagerer PatienU^) mit der Angabe, er habe sich bei
der Arbeit am Rücken verletzt u. zw. hatte er in dem Augen¬
blick, da er mit einer schwer mit Kohlen beladenen Schaufel
eine vehemente Drehung des Körpers machte, um die Kohlen
nach links rückAvärts zu werfen, einen stechenden Schmerz im
Rücken verspürt. Er konnte darauf wohl nach Hause gehen,
doch verursachte von da ab jedes grobe Manipulieren mit den
Armen, Bücken, Neigen und Drehen des Kopfes, sowie die Rücken¬
lage heftige Schmerzen zwischen den Schulterblättern. Die Unter¬
suchung ergab, daß der sonst gesunde, aber mit äußerst grazilem
Knochenbau behaftete Patient bei der Betastung des Rückens
einen schmerzhaften Druckpunkt aufwies : den Dornfortsatz dos
ersten Brustwirbels.
Irgendeine Rückgratverkrümmung oder abnorme Haltung der
Schultern war nicht zu konstatieren, desgleichen fehlte jedwede
spontane oder Druckempfindlichkeit an einer anderen als der
genannten Stelle. Der erAvähnte Processus spinosus war von nor¬
maler Haut bedeckt, anscheinend an richtiger Stelle vollkommen
median gelegen, Avedor eingesunken, noch hervorragend aus der
Frontalebene der Dornfortsatzreihe.
Bei seitlichem, kräftigeren Fingerdruck auf denselben ver¬
schob er sich unter deutlich wahrnehmbarer Krepitation, um
auf Nachlassen des Druckes mit demselben Geräusch Avieder an
die alte Stelle zu rücken. So konnte man das abgesprengfe Stück
nach links und nach rechts, weniger nach oben und unten ver¬
schieben. Ließ man den Patienten den Kopf drehen, so ver¬
ursachte dies dieselben Sclvmerzen Avie die Verschiebung des
Fragmentes durch die Hand des Arztes. Ebenso tat, Avährend
Pat. ohne weiteres den Rumpf rückwärts neigen konnte, das
Beugen nach vorne Aveh. (Dieses Phänomen ist zuerst von Hippo-
krates l)eobachtet Avorden : „. . . . Wenn die [derart] Verwun¬
deten sich vorwärts zu beugen versuchen, so werden sie von
Schmerzen ergriffen, Aveil die Haut sich da anspannt, avo die
Verletzung ist und die Knochenfragmente mehr in das Fleisch
*) Vorgestern in der Sitzung der Gesellschaft der Aerzte in Wien,
vom 15. Februar 1907,
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. 3 19
stechen. ‘‘ Zitiert nach Wagner und Stolper, Deutsche
Chirurgie.)
Ein angefertigtes Röntgenbild bestätigte einwandfrei
die Annahme,“) daß es sieb hier um eine Fraktur der. Spitze
des Proc: spin, vertebr. dors. I. handle. Das Fragment hat
sich, wie die beigegebene Skizze zeigt, um ein weniges
nach abwärts verschnben, hat aber anscheinend keine
Drehung oder seitliche Verschiebung erlitten.
Was nun den Mechanismus der Verletzung anbe¬
langt, so scheint es sich hier, nachdem ein direktes Trauma
durch Schlag oder Fall auszuschließen ist, um eine reine
Abrißfraktur zu handeln und es kann wohl angenommen
wmrden, daß hier ein allzugroßer, einseitiger Muskelzug,
wahrscheinlich des Rhomboideus major, bei dem jungen,
rasch eniporgewachsenen M^urne, dessen Knochensystem,
wie bereits erwähnt, auffallend schwach entwickelt ist, zum
Bruch des Dornfortsatzes geführt hat. Die Dislokation des
Fragmentes in der Aledianlinie nach abwärts dürfte durch
den symmetrischen Zug der Musculi rhomboidei, welche
nach der Margo vertebralis scap. verlaufen, zu erklären
sein; die mangelhafte Verschieblichkeit in der vertikalen
Richtung spricht für die relative Intaktheit des Ligamen¬
tum apicum, welches die Reihe der Dornfortsätze mitein¬
ander verbindet.
So häufig .Frakturen der Domfortsätze bei schweren
Verletzungen (Fraktur oder Luxation) der Wirbelsäule Vor¬
kommen, so selten -werden sie als isolierte Rrüche be¬
obachtet. Nach Wagner und Stolper kommen auf 125
Wirbelfrakturen zehn isolierte Brüche des Processus spino-
sus u. zw. sind damit ausschließlich solche zu verstehen,
welche durch direkte (meist tangentiale) Gewalteinwir¬
kungen (Schlag, Fall mit gekrümmtem Rücken oder auf
einen vorspringenden harten Gegenstand) zustande kommen.
Durch indirekte Gewalteinwirkung ,wird der Bmch
eines Dornfortsatzes nicht selten beobachtet als Begleit¬
erscheinung der Luxation eines Halswirbels. Schuld daran
trägt das hier sehr derbe und widerstandsfähige Ligamen¬
tum apicum, das bei Drehung oder seitlicher Verschiebung
des Luxations Wirbels eher die Fraktur des Processus
spinosus verursacht, bevor es selbst zerreißt.
Der isolierte Bruch eines Dornfortsatzes durch Muskel¬
zug, wie in dem eben beschriebenen Fall, scheint eine
äußerst seltene Verletzung zu sein. Es gelang mir, nur
zwei einschlägige Fälle in der Literatur zu finden. Be¬
treffs des Falles Terrier^) steht mir die Originalarbeit
leider nicht zur Verfügung; es handelt sich um eine Ab¬
rißfraktur eines Brustwirbelfortsatzes durch Muskelzug. Der
andere Fall von Schulte^) betrifft einen vorher gesunden
Soldaten, der beim Bockspringen ungeschickt absprang und
im Moment, als er auf die Füße kam, ohne zu fallen,
einen heftigen Schmerz in der Kreuzgegend verspürte.
Nach einigen Tagen trat Fieber auf und es entstand in
der Gegend des dritten Lendenwirbeldornfm’tsatzes ein
Abszeß. Die Inzision entleerte Eiter und ein Knochen¬
fragment. Die Sektion ergab die Bmclistelle an der Wurzel
2) Pat. wurde von Dr. Herrn. Beer mit der Diagnose: Bruch des
ersten Brustwirbeldornfortsatzes an die Klinik geschickt.
zit. nach Kirmisson: Des d^formitös de la colonne vertebrale
ä la suite de fractures meconnus. Revue d'orthop4die 1896.
D Schulte, Isolierter Bruch des Dornfortsatzes des dritten Lenden¬
wirbels durch Muskelzug. Militärärztliche Zeitschrift 1902, H. 9, S. 481'.
des Processus spinosus des dritten Lendenwirbels und
Pehlen des Dornfortsatzes. Schulte nimmt an, daß durch
Muskclzug (über den vermutlichen Mechanismus desselben
äußert sich Verf. nicht) der betreffende Dornfortsatz ab¬
gebrochen sei und sich hieran eine Osteomyelitis (Strepto-
iind Staphylokokkus) angeschlossen habe, die zur Absze¬
dierung und schließlich zur Pyämie führte.
Referate.
Würzburger Abliaiidluugeii aus dem Gesamtgebiet der praktischen
Medizin. YI. Baud, 8/9. Heft.
Ueber Wesen und Ursachen der Geschwülste.
Von Prof. Dr. Max Borst in Göltingen.
Würzburg 1906, Verlag von A. Stüber.
Der Verfasser gibt, bevor er seine Hypothese über die Ent¬
stehung der Geschwülste entwickelt, eine kurze Darstetlnng des
Wesens der regenerativen, hyperplastiscben und entzündlichen
Wachstumsvorgänge, denn von letzteren vermitteln die infek¬
tiösen Granulome einen gewissen Uebergang zu den wirklichen
Geschwülsten. Diese, sowie jene besitzen die Eigenschaft, zu
metastasieren. Die Metastase der infektiösen Granulome kommt
durch Verschleppung des spezifischen Erregers zustande, wel¬
cher, einmal angesiedelt, an entfernten Körperstellen dieselbe
Gewebsreaktion hervorruft, wie sie im primären Herde besteh I..
Bei den Geschwülsten sind es die Elemente des Tumors selbst,
welche verschleppt werden und infolge ihrer Autonomie zu neuen
Geschwülsten, zu metastatischen Tumoren heranwachsen. Diese
Selbständigkeit der Geschwülste äußert sich auch darin, daß sie
andere Gewebe verdrängen und zerstören und mit ihr hängt auch
die ihnen eigentümliche Atypie des Wachstums zusammen. In
dieser erblickt nun Borst ein Zeichen von Minderwertigkeit Und
spricht so von einem degenerativen Wachstum der Geschwülste,
während hei der Hypertrophie, der Regeneration, der einfachen
und der entzündlichen Hyperplasie und den infektiösen Neu¬
bildungen das Wachstum aus dem ursprünglichen Gewebe einen
zweckmäßigen Vorgang darstellt, durch welchen der Organismus
die eingedmngene Schädlichkeit zii eliminieren trachtet. Mehr
Berührungspunkte finden sich zAvischen Geschwülsten und Äliß-
hildungen, so daß durch genaue Erforschung der Alorpho- und
Biologie der Tümorzellen Fortschritte für die Erkenntnis der
Aetiologie der Geschwülste zu erwarten stehen. Nachdem Ver¬
fasser die parasitäre Theorie der Geschwnlstätiologie zu wider¬
legen sucht, geht er an die Begründung seiner Hypothese, nach
welcher die Anlage aller Geschwülste auf einer pathologischen
Variation des Idioplasmas der betreffenden Zellen beruht. Sie ist
angehore:!, mitunter ererbt und, wie Borst selbst sagt, mit allen
bisher bekannten Tatsachen der Geschwulsliehre in Einklang zu
bringen, ohne jedoch über die Aetiologie viel mehr Aufschluß
zu geben, denn die Ursache dieser angenommenen pathologischen
Variation ist noch völlig dunkel.
*
Jahresbericht über die Ergebnisse der Immunitäts¬
forschung.
Unter Mitwirkung von Fachgenossen herausgegeben von Dr. M'olfgaiig’
Weicliardt, Privatdozenten an der Universität Erlangen.
1. Band: Bericht über (las Jahr 1905.
Stuttgart 1906, Verlag von Ferdinand Enke.
Bei der großen Ausdehnung und der allgemein medizini¬
schen Bedeutung, welche die Immnnitätslehrc erlangt hat, wird
der vorliegende erste Band eines Jahresberichtes des so wich¬
tigen Forschungsgehietes in allen ärztlichen Kreisen willkommen
begrüßt werden mit dem MTinsche, daß die denselben ergänzen¬
den weiteren Bände in gleich vollkommener Weise möglichst
nach Abschluß der Berichtsperiode erscheinen mögen. Für die
sorgfältigste Redigierung des W'^erkes bürgt der Name des' Her¬
ausgebers, der in seinem Bestreben auch auf die Mitwirkung
von Fachgenossen angewiesen ist, die durch möglichst zahlreiche
Beteiligung in Beistellung von Antoreferaten W'^eichardt, wie
er es selbst für das Gedeihen seines Werkes wünscht, unter¬
stützen sollen. In den Jahresbericht über Iminunitdtsforsclmng
sind weder Arbeiten rein bakteriologischen InhaUes, noch solche.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
buü
die in das Gebiel der Protozoenkunde gehören, anfgenomnien
worden. Auch die Karzinom- und die Syi^hilisliteratur sind nicht
einhezogen. Bei der modernen Forschungsrichhmg wird es sich
aber vielleicht bald empfehlen, auch die Luesabhandlungen, so¬
weit sie in das Gebiet einschlagen, aufzunehmen. Der mit 1905
beginnende Jahresbericht fällt in eine Zeit, der eine Reihe grund¬
legender Arbeiten auf dein Gebiete der Immunitätslehre voran¬
gegangen sind ; dieselben sind in einer Anzahl Monographien
aus der Feder hervorragender Forscher in ihrem Zusammenhang
dargestellt., so daß dem Herausgeber nur die Aufgabe zufällt,
auf dieselben hinzuweisen, was auch W ei char dt in der Ein¬
leitung tut, die in Kürze den Stand der Immunitätslehre vor dem
Berichtsjahre skizziert. Ebenso ZAveckmäßig erscheint der am
Schlüsse des Bandes gegebene Ueberhlick über die in der Be¬
richtsperiode gemachten Fortschritte, von denen die Bewährung
der Ehrl ich sehen Theorie, die Erforschung der Aggressine und
die Differenzierung der Typhus- und der Paratyp hushazil len
mittels der Agglutination hervorgehoben werden sollen. Die F’u-
blikationeu sind in alphabetischer Reihenfolge nach den Autoren-
namen ziisammengestellt und einzeln in knapper, aber möglichst
erschöpfender Weise referiert. Sehr zweckmäßig erscheint auch
die namentliche Anführung des Institutes, aus welchen die ein¬
zelnen Arbeiten hervorgegangen sind, sowie die iVngabe der
Seitenzahl, unter welcher die Originalpublikationen im ent¬
sprechenden Archiv nachzuschlagen sind. Die Ordnung des be¬
sprochenen Stoffes nach Materie besorgt ein sehr kompendiöses
Sachregister am Schlüsse. des Bandes.
Es ist wohl keine Frage, daß Weichardt mit der Be¬
gründung dieses Jahresberichtes eine schon lange empfundene
Lücke auszufüllen im Begriffe ist und gerade deshalb sollen alle
Fachgenossen ihrr in seinen Bestreburrgerr tatkräftigst unter-
stützerr und ihm die Arireit, welche für die gesamte medizinische
und biologische Wissenschaft vorr rricht zu unterschätzender Be¬
den turrg ist, rrach Möglichkeit erieichterrr.
*
Erkältung und Erkältungskrankheiten.
Von Dr. Karl Cliodouiisky, k. k. o. Professor der böhmischen med.
Fakultät in Prag.
Wien 1907, Verlag von Josef Safaf.
Chodourrsky, einst ein Anhänger der Lehre, daß Er-
källung für das Zrrshmdekonrmen gewisser Erkrankungen, die urrter
dem Namen der Erkällungskrankheiterr zusanrmengefaßt Averden,
eine Avesceitliche Rolle spielt, sah sich arrf Grund von Beoh-
achtuirgen an seinem eigerren Köirirer veranlaßt, seine ursprüng¬
liche Anschauung, rrrit welcher er mit der weitaus überwiegenden
Zahl von Gcdehrten durch viele Jahre im Einklänge Avar, zu
verlassen und in das Lager der nur spärlichen Gegner der Er-
kä](ungstheoi'i(‘ übm'zutrelen. i\Iit seltenem Eifer tritl er für seine
jReinung ein und scheut nicht vor Experimenten am eigenen
Leihe zurück, Avelche darfun sollen, daß Erkältungen ein unter¬
stützendes Moment für das Zuslandekommen gcAvisser Infek-
liomm ahgeben können. Eine Reihe solcher SelbstversTiche hatte
Verf. schon vor sechs Jahren, seihst 57 Jahn; alt, unternommen
nnd ])uhliziert, doch blieben sie ni(dit ohne Widerspnadi, Avenn
auch niemand den hei'oischen Enisedduß bisher gefaßt liat, Gho-
dounskys VersAichsanordnung an sich sedbst nachzuprüfen. Fm
den genuudden Eiinvänden zu begegnen, entseddoß sich der nun¬
mehr ß.ßjährige Vei’fasser, eine neue Seih' von Selbstversuchen
zu vc'röffentlichen, Avelclu' (‘r in den Monah'U Februar und Mürz
des verflossenen Jahn's vorgenoinmen hal. Man hrauchl Avahr-
li<di nicht ein eingc'fleisidifei' Anhänger d(‘r Erkällnngstlieorie zu
sein, um bei dm' 1 )u r(disi(dit d(‘r Protokolle niidit zu (‘rsclnau'rn,
AA’elchen zufolge der in (‘inem sidion voi'gerüidvten .\lt(‘r befind¬
liche und überdies mit ('in(;ni (dironischeii Bronchialkatarrh he-
hafh'te Gelehrte luudi (dnem Baih^ von -11" siidi dur(h nalu'zu
eiiK' Stiiiule einem starkmi Luftzugi; von ()-5^ aiissf'lzt. Mag die
IniH'i'vation der llautgefäße (*ine noidi so prom|)te si'in, die Voi'-
stellung, daß solche Vi'isiudie, die CHiodounsky selbst ein
Mai'tyiium nennt, unlc'riioinnu'U Avorden sind, wiih immer das
Gid’ühl des kalt ühei’ den Rücken Laufens hei vorrufen. Di('S(‘ Auto-
experinu'iiti' also, w(d(die der Clou vorlii'm'iider .\bhandluno- sind i
w<‘rden Staunen (‘laegc'ii; ob sie aber als Bcwidsi' für die Nicdil j
('xistenz von l’rkältnncskiunkhoiten goAvürdigt wei-den, muß dahin- I
gestellt bleiben. Was nun die Tierexperimente anlangt, Avehdie
zeigen sollen, daß abgekühlte und normale Tiere in gleicher
Weise auf künstliche Infektionen reagieren und daß ein abge-
schAvächter Mikroorganismus im abgekühlten Tiere an Virulenz
nicht zuniraiiit, so erscheinen nicht alle eiiiAvandsfrei : z'. B. die
Versuche mit dem Bacillus pneumoniae Fri ed 1 ände r an Hunden;
aus den Protokollen ist nämlich nicht ersichtlich, daß mit einem
Stamme gearbeitet Avurde, der beim Hunde eine letale Infektion
verursacht. In den übrigen, den eigenen Versuchen vorausge¬
schickten Kapiteln bespricht der Verfasser recht eingehend die
Literatur und die Forschungsergehnisse über Erkältung und Er¬
kältungskrankheiten und bringt auch ganz interessante statistische
Zusammenstellungen über die geographische Verteilung der Er¬
kältungskrankheiten.
*
Einführung in das Studium der Malariakrankheiten mit
besonderer Berücksichtigung der Technik.
Von Dr. Reiuhold Rüge, Marine-Generaloberarzt und Professor an der
Universität Kiel.
Zweite, gänzlich umgearbeitete Auflage.
Jena 1906, Verlag von Gustav Fischer.
In der neuen Auflage seines gediegenen Werkes gibl Rüge,
seihst ein genauer Kenner und verdienter Forscher um die Aetio-
log^ic und die Pathogenese der Malaria, ein unserem dermaligeri,
umfassenden Massen über das AVesen dieser Krankheit ent¬
sprechendes, abgeschlossenes Bild. Demgemäß muß man rück¬
haltlos dem Autor die gebührende Anerkennung zollen, daß er
uns in seiner neuen Auflage mit den jüngsten Fortschritten auf
dem einschlägigen Gebiete bekannt macht, aus Avelcher nicht
nur Aerzte, sondern auch Fachleute reichlich WissensAvertes
schöpfen können. Das in jeder Flinsicht, soAVohl Avas Inhalt,
als auch Darstellung anbelangt, gleich \mllkommene Werk zer¬
fällt in ZAVÖlf Kapitel, deren erstes einen Ueberhlick über die
Geschichte und die geographische Verbreitung der Malaria gibt.
Hierauf AAurd sehr eingehend die Entwicklung der Malariaparasiten
in- und außerhalb des menschlichen Köiirers geschildert, Avorauf
die Anophelinen vom Standpunkte des Zoologen beschrieben
Averden, Avobei ganz besonders auf die Unterscheidung derselben
von den Kulizinen Rücksicht genommen ist. Nach Erörterung
dieser Tatsachen geht Verf. auf die Epidemiologie der Malaria
über, Avie sie sich nunmehr auf Grund der Moskitolehre ergibt,
nicht ohne die früher herrschenden Ansichten, denen ja ein nicht
unbedeutendes geschichtliches Interesse zukommt,' zu eiwälmen.
Eigene Kapitel hehandeln dann die Symptomatologie, die imtho-
logische Anatomie, die Pathogenese, die Diagnose, Prognose nnd
Therapie der Alalaria, Avorauf die Besprechung der Prophylaxe
folgt, Avelche nunmehr in den Vordergrund des Interesses gerückt
erscheint. Zum Schlüsse macht uns Rüge mit der Technik der
Untersuchung vertraut, Avie sie zum NacliAveise der Parasiten
im Blute und in den Stechmücken erfolgreich geübt Avird. Die
schönen Ausführungen des Vei'fassers werden noch durch eine
Reihe Amn Abbildungen erläutert, die in gleich ausgezeichneter
M^eise auf acht Tafeln und auch im Text untergeb rächt sind.
Besonders eiwähnt müssen die beiden farbigen Tafeln Averden,
in denen die Parasiten im menschlichen Blute und in Organen
wiedergegeben .sind, da dieselben in ihrer naturgetreuen Dar¬
stellung als Ersatz für 'mikroskopische Präjiarate bei episkopi-
scher Projekt ion sich empfehlen.
Das 82 Seiten umfassende Literaturverzeichnis gibt Avohl
nur annähernd einen Begriff vmii der enormen Arbeit, Avelche das
Mmrk in sich birgt, das Rüge bescheiden nur eine Einführung
in da:s Studium der Malaria nennt und das geAviß berechtigt
ist, in d('n Avi'itesten ärzlliidien Kreisen Eingang zu finden.
♦
Lehrbuch der allgemeinen Pathologie und allgemeinen
pathologischen Anatomie.
Von Dr. Richard Oestreicli, Privatdozent an der Universität und
Prosektor des Königin-Augusta-Hospitals zu Berlin.
Mit 44 Textabbildungen und 11 Tafeln in Farbendruck.
Leipzig 1906, Verlag von Georg Thieme.
Das vorliegenih' Buch gibt den Inhalt dei' Vorlesungen
Oestri'ichs wieder. Die Anoi’diiung d(‘s behamh'lfmi Sloffc's
ist ziemlich die gleiche, wie in anderen Bü(di(‘rn, wehdu; dassclhe
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
351
Thema Ix'luiiuleln. Es w'crden ziinächsl die eiiizeliieii kraukhai'leii
Zustätuh' und Verändei'Liiig'eii, begiimeiul mit den Slömngen d(>s
Kreislaufes und der Ernäliruug; dann die Entzündung, die Ge-
s(dnvülsle, die Krankheitserreger aus dem Tier- und Pflanzen-
rei(di und endlieh die Mihljildungen besprochen, worauf der all-
genu'iiie Teil folgt. Was den Inhalt seihst betrifft; so wurde ver¬
sucht, ihn bei der Fülle des zu l)ehandelnden Malerials dem
lledürfnissen des Anfängers anzupassen. Uni aber auch
Studenten die für_ sie notwendigen Vorstellungen beizu-
hj’ingen, wäre es wohl angezeigt geivesen, wenn der
V('rfasser sich einer präziseren Diktion befleißt und bei der
Durchsicht des iVIannskriptes, welches die gesprocheneti AVorte
des Lehrers feslhält, die unuingänglich notwendigen Korrekturen
vorgenoniinen hätte. Vor allem erscheint es dringend gebolen,
die Definition festslehender Begriffe möglichst präzis zu geben
und sie nicht, wie es Oestreich leider vielfach tut, durch
bloße Uebersetzungen des gebräuchlichen lateinisclien Namens
oder durch ganz nutzlose Tautologien zu ersetzen. Diesen berech¬
tigten Anforderungen zu genügen, wäre bei einiger Sorgfalt leicht
g('wesen ; schwieriger allerdings wird es, ans dem großen For-
schnngsmateriale die richtige und zweckmäßige Auswahl zu treffen,
damit der Student einerseits nicht mit unnötigen veralteten An¬
schauungen lind Theorien belastet werde,' anderseits ihm aber auch
jene neueren Forschungsergebnisse nicht unbekannt bleiben, deren
er in seinem künftigen Berufe bedarf. Um mir einige Alängel
in dieser Hinsicht anzuführen, sei erwähnt, daßi die Ehrlichsche
Seitenketten theorie nach der Darstellung des Autors vom Anfänger
wohl unverstanden bleiben wird; bei der Besprechung der paren¬
chymatösen Degeneration müssen notwendig die jüngsten IJnter-
snehungen berücksichtigt wei’den, welche ja ein ganz neues Licht
in das Wesen der dabei sich darbietenden Veränderungen werfen.
Die voni Autor gegebene Puklärung des Ikterus
neonatoi'um ivird dem künftigen Arzte gewiß keinen be¬
sonderen Nutzen bringen. Derlei Beispiele nicht zweck¬
entsprechender Auslese des Stoffes ließen sich viele geben, die
zusammen das Werk als ein wenig gelungenes bezeichnen lassen.
AVenn also schon die Ausführungen des Verfassers nicht den An¬
sprüchen genügen können, so hätten doch wenigstens die bei¬
gegebenen Abbildungen, von denen einzelne sogar in Farbendruck
ausgeführt ivurden, günstigen Stellen von Präparaten ('nlnonimen
werden sollen, damit sie wenigstens zum Teil das ersetzen, was
im Texte vermißt wird. Doch auch hier läßt Oestreich die
nötige Sorgfalt vermissen, so daß einzelne Bilder, z. B. 4, 26,
27, 31, statt zu belehren, nur geeignet sind, falsche Vorstellungen
zu erwecken.
★
Die hämatopoetischen Organe in ihren Beziehungen zur
Pathologie des Blutes.
Von Dr. Konrad Ilelly, Prosektursadjunkt im k. k. Franz-Joseph-Spitale
in Wien.
Mit 1 Abbildung und 1 Tafel in Farbendruck.
Wien 1906, Verlag von Alfred Holder.
Die in Vorbereitung stidiende Neuauflage des müstergültigfm
AVerkes von E h r 1 i c h und L a z a r u s : Die Anämie in N o I h-
nagels siiezieller Pathologie und Tlierapie erfährt durch die
vorliegende Arbeit Hellys eim^ willkommene, dem dermaligen
Stande unsi'res Wissens vollkommen entsprechende Ergänzung.
Denn ivenn auch die Stellung der Lymiihdrüsen und der Milz
hinsi(dilli(di ihrer Bedeutung als blutlvildenile Oi-gane sowohl rmler
normahm, als auch unler pathologischen AVuhällnissen in Zu-
samnumhang monographisch behandelt winden, so fehlt iloch
bisher eine übersicldliche Darslidlung unsenu' Kenntnisse über
das Knochenmark. Schon in dieser Hinsicht, noch mehr aber
in Verbindung -mit (h'r Besprechung des gesamten Forschungs-
malmaales auf dem Gebiete dei' normalen und iiathologischen
Anatomie, sowie der Histologie (hu- Lymphdrüsen und der Alilz
und im Anschlüsse an di(‘ aus der bewährten Feder von Ehr¬
lich und Lazarus stammende Darstellung der Veränderungmi
des Blutes füllt die vorlii'gemh', sowohl inhaltliidi als auch in
der .\rt d(>r Wiedmgabe ghdidi ausgezeichnete Abhandlung (dne
sidioii lange imipfuiidene Eücki' in di‘r Tateralur aus. Hiidiei
koimmm Hel ly seine speziellen Kenntnisse in dimi einschlägi'um
Wissensgebiete ganz besonders zustatten, die er sich im Verlaufe
jahrelanger, eingehender Studien erworben hat.
Die Fiideilung des Stoffes ist insoterne sehr zweckmäßig
vorgenommen, als zunächst die Veihältidsse dargestellt werden,
wie sie die Lymphdrüsen und die Alilz de norma bieten, worauf
erst die Amränderungen dieser Organe besprochen wenleu, wie
sie die pafhologisclu- Forschung festgestellt und dem Verständ¬
nisse näher gerückt hat. Afit Rücksicht darauf, daß schon aus¬
führliche Bearbidtungen des normalen Baues und der Funktion
dii'ser Organe,' sowie ihrer A'eränderungen im AVu'laufe v.on Krank¬
heiten vorlii'gen, ist der größere Teil des AVerkes der Besprechung
des Knochenmarkes geividmet, wehdie mit einem historischen
Ueberlilick unserer Kenntnisse beginnt. Nachdem dann Verf. Uns
mit der Untersuchungskenntnis vertraut gemacht hat, geht er
zur Schilderung der normalen Anatomie untl Physiologie (h^s
Knochenmarkes über. Sehr wertvoll erscheint das Kapitel, in
welchem die bisherige, keineswegs einheitliche Nomenklatur einer
Kritik unterzogen wird und welches hoffentlich geeignet ist, di(‘
zur Verständigung notwendige Klarheit der Ausdrucksweise fest¬
zulegen. Die krankhaften Läsionen des Knochenmarkes werden
in eigenen Ka[dl(‘ln vom Standpunkte des allgemeinen und spezi¬
ellen, sowie von dem des Expeiämentalpathologen eingehend be¬
leuchtet. Auf Einzelheiten näher einzugehen, ist Ref. bei dem
einer Bespi'echung ziigeAviesenen Raume nicht gestattet und muß
auf das Originalwerk verwiesen iverden., welches bei der Fülle
der gesammelten Beobachtungen jedem Fachmanne ein willkom¬
menes Nachschlagewerk sein wird und dem Arzte reiche Be-
lehning zu bringen bestimmt ist. Die klaren und übersicbtlichen
.Ausführungen des Autors werden noch durch eine tadellos aus¬
geführte Tafel in Farbendruck ergänzt; welche normales, myelo-
leukämisches und nwelosarkomatöses Alark iviedergibt. Endlich
muß noch des 39 Seiten umfassenden Literaturverzeichnisses ge¬
dacht werden, in welchem sämtliche Publikationen über Knochen-
inark und außerdem eine Reihe ivichtiger Arbeiten über Alilz
und Lymphdrüsen genannt simi, Avelche im AVu’eine mit den
anderen bereits erschienenen zusammenfassenden Arbeiten eine
Uebersicht der gesamten Literatur des hämatopoetischen Systemes
geben. , ^
*
Archives de l’institut royal de bacteriologie Camara
Pestana.
Tome I, Fascicule I.
Li 8 b 0 n n e 1906.
Alit dem vorliegenden Hefte eröffnet das Lissaboner liakterio-
logische Institut, Avelches bisher in verschiedenen Zeitschriften
publizierte, ein eigenes Archiv in französischer Sprache, Avelclu's
dazu bestimmt ist, alle Institutsarbeiten aufzunehmen. Die im
ersten Hefte enthaltenen zAvölf Publikationen sind zum Teil schon
in anderen Zeitschriften veröffentlicht, bringen aber immerhin
beachtenswerte Resultate ernster Forschung', Aveshalb über sie
im folgenden mit dem Himveise auf die entsprechenden an an¬
derer Stelle erschienenen Artikel referiert Averden soll. In fünf
.Aufsätzen Averden die Ergebnisse Amrschiedener Untersuchungen
über Trypanosomen mitgeteilt, mit deren Ei'forschung sich nament¬
lich Franca am Institute beschäftigt. Gemeinsam mit Betten¬
court beschreibt er ein Trypanosoma des Dachses', das die
beiden Forscher zum Andenken an den früheren Institutsvorstand
Trypanosoma Pestanaia nennen. Die gleichen Autoren suchten
auch die Häufigkeit des Trypanosoma cuniculi in Portugal fest¬
zustellen, das sie unter elf daraufhin untersuchlen Tiei'en dreimal
fanden. Letztere .Vrbedt: Bettencourt und Fran(;'.a: Note
sur 1 ’ e X i s t a 11 c (; du Trypanosoma cuniculi <> n Por¬
tugal, ist im Original ersidiimien, Avährend über die in der
Piiblikalion ; 1! e tt(' n c o u r t und Franca: Sur un Try])auo-
some du Blairi'aii (Atel es I a x ii s Sehr.) veröffentlichten
Idilei'snchungeii bereits in der Soc. biol. (('. r. LIK., 1905) und
aueb in porl iigiesiscber Spraclu' in I ’olyU'chnia 1. 1905, heriebUd
wurde. Franca und Athias: Reclu'rches sur les Try-
lianosomes des Am p h i bi (' n s, bringen auf Grund eigener
ITitei‘su(dmngen und eingebender BerüidAsichtigung der einschlä¬
gigen Lileralur eine dankenswerle Zusammenstellung der bisher
in Amphibimi beschriidameii Blutparasilen und siidtlmi dii* gerade
auf diesem Gehiide mannigfache und zu AÜelfacberi Irrtümeru
3o2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
führende Nomenklatur in der Art, daß', wie sie überzeugend
dartun, im ganzen nur drei Trypanosomenspezies bei den Am¬
phibien konstatiert wurden, welche die beiden Autoren noch durch,
zwei neue, Trypanosoma undulans und elegans, ergänzen. Uehcr
wenig erfolgreiche Behandlung künstlicher Infektionen mit Try¬
panosoma gamhiense berichtet A. de Magelhaes: Sur le trai-
tement des rats infectes par le Trypanosoma gam¬
hiense au m 0 y e n de 1 ’ a c i d e a r s e n i e u x et du T r y p a n-
rot. Wie Franca und Athia's sich das Verdienst erworben
haben, die Trypanosomen der Amphibien wissenschaftlich
und übersichtlich geordnet zu haben, so zeigen auch
Bettencourt und Franca: Sur u n Trypanosome
de la chauve-souris, daß hei den verschiedenen
Fledermausarten der verschiedensten Gegenden eine natür¬
liche Trypanosomeninfektion beobachtet wird, deren Erreger
allein das bisher unter verschiedenen Namen beschriebene Try-
panosoima vespertilionis, Battaglia, ist (siehe auch C. B. Soc.
hiolog. LIX., 1905). lieber sehr interessante Versuche von Lyssa¬
infektion hei verschiedenen Spezies und Variationen des Genus
Mus, Murinus, Microtus und Arvicola berichtet C. Franca;
Becherches sur la rage dans la serie animale. Der
je nach Spezies und Variation ungleiche Verlauf der Infektion
wird ebenso genau beschrieben wie die' histologischen Befunde
des Zentralnervensystems und der Ganglien, während eine Anzahl
gelungener photographischer Reproduktionen die charakteristischen
Stellungen der Tiere ini paralytischen Stadium der Erkrankung
veranschaulicht. Als vorläufige Mitteilung bringt C. FraiiQa:
Sur les infiltrations perivasculaires de la rage, den
Nachweis eines ausschließlich plasmazellulären, perivaskulären
Infiltrates bei Lyssa des Stachelschweines. Einen Bericht aus
den portugiesischen Lyssainstituten veröffentlicht M. Athias:
Le traitement antirabique ä l’institut royal de bac-
teriologie Camara Pestana en 1905. Nach Ausscheidung
zweier Todesfälle in den ersten 15 Tagen der Behandlung beträgt
die Mortalität für Lissabon 0-077°/o,' während das antirabische
Institut in Porto 0®/o Sterblichkeit aufweist. Allerdings mußdiervor-
gehoben werden, daß nur für 20-32 % der behandelten Fälle
der sichere Nachweis erbracht ist, daß die Verletzung von einem
lyssakranken Tiere stamUite.
Bettencourt und Franga: Sur la meningite cere-
b r o s p i n a 1 e e p i d e m i q u e et son agent s p e c i f i q u e, konnten
während einer Meningitisepidemie in Portugal in 271 Fällen
den Micrococcus intracellularis menigitidis Weichselbaum
nachweisen; nur in drei Fällen klinischer Meningitis fehlte er,
doch ließen sich aus dem meningealen Eiter Streptokokken,
Staphylokokken und Diplokokken züchten, niemals aber der
Jaeger-Heubnersche Kokkus. (Die mit den aus den ver¬
schiedenen Krankheitsfällen gezüchteten Stämmen gemachten
Untersuchungen bestätigen die seinerzeit von Alb ree lit und
Ghon erhobenen Befunde, so daß sichere, wesentliche
Unterschiede gegenüber dem Jaeger sehen Mikroorganismus be¬
stehen. Was die Versuche Jaegers anlangt, nach welchen das
Serum eines mit Rleningokokken immunisierten Kaninchens auch
den Jaeger sehen Mikrokokkus agglutiniert, so können Verf. auf
Grund ihrer Untersuchungen zeigen, daß normales Kaninchen¬
serum an sich den Jaeger sehen Kokkus zu agglutinieren ver¬
mag, wonach die einschlägigen Befunde Jaegers als irrtümlich
sich heraussteilen. Diese sehr ausführliche und eingehende Arbeit,
welcher zweckentsprechende wissenschaftliche Verwertung eines
reichen Materials zugrunde liegt, berücksichtigt in kritischer
und fachgemäßer Weise die vorliegende Literatur und ist in
deutscher Sprache in der Zeitschrift für Hygiene und Infektions¬
krankheiten 1904, Nr. 46, veröffentlicht. Aus seiner I. D. Lissa¬
bon 1900 entnimmt A. F. Rocha: De 1’ action de quelques
agents c h i m i q u e s et physiques sur 1 e b a c i 1 1 e de 1 a
peste, die Versuche über die Widerstandsfähigkeit der Pest¬
bazillen gegenüber Lösungen von Karbolsäure, Lysol, Trikresolen,
Forniol, Kreolinen, Sublimat und Acid, sulfurosum, ferner gegen¬
über Hitze und Wasser von verschiedenen Temperaturen. Eben¬
falls aus seiner I. D. Lissabon 1903 stammt der Aufsatz von
C. de Lima: Sur la form ule hemoleucocy tair e de la
Lepre, nach welchen auf Gmnd der Blutuntersuchung in
25 Fällen bei Lepra eine Verminderung der polynukleären Leuko¬
zyten, dagegen eine Vermehrung der Lymphozyten erfolgt. In
der Streitfrage über Aggressine stellt sich N. Bettencourt;
Contribution ä l’etude des aggressines, auf Seite
Wassermanns, wenn er auch zugibt, daß ihm )ioch weitere
Versuche nohvendig erscheinen, die GegensUuid einer weiteren
Mitteilung sein sollen.
♦
The Thompson Yates and Johnston Laboratories Report.
Vol. VH (New Series) Part 1.
London 1906, Williams & Nor gate.
Der vorliegende Band beschäftigt sich vorzüglich mit zoolo¬
gischen Fragen, welche in gewisser Beziehung auch medizini¬
sches Interesse haben. S. R. Christophers und R. N ew'-
stead (On a new pathogenic louse which acts as the
intermediary host of a new Haemogregarine in the
blood of the Indian field rat) geben die zoologische Be¬
schreibung einer neuen Spezies; Haematopinus Stephensi; es ist
dies eine Laus, welche als Parasit im Felle der indischen Feld¬
ratte am Kopfe und zwischen den Schultern lebt. Bemerkens¬
wert ist, daß der Wirt dieses Insektes ein Nachttier und aus¬
gesprochener Erdbewohner ist. Eine ergänzende Beschreibung
von Gatrodiscus hominis gibt J. W. W. Stephens in einer
Arbeit : Note on the anatomy of G a s t r o d i s c u s hominis.
Dieses Tier fand er in aufgehobenem: Obduktionsmaterial von
Fällen von Kala Azar aus Assan. K. Jordan und N. Ch. Roth¬
schild: A revision of the S a r c o p s y 1 1 i d a e a family
of Siphonaptera, veröffentlichen ihre ausgedehnten, sehr
exakten Untersuchungen über die Familie der Sarkopsylliden.
Zunächst vergleichen sie zoologisch die bisher bekannten sieben
Spezies dieser Familie, zu welchen sie noch sieben neue hinzu¬
fügen können. Demnach sind 14 Flohspezies bekannt, welche zur
Familie der Sarkopsylliden gehören, die selbst in drei Genera
zerfällt. Von der hieher gehörenden Hectopsylla psittaci war
nur das AVeibchen bekannt und ist es nun den beiden verdienten
Forschern gelungen, auch das Männchen zu finden. Endlich schil¬
dern J. E. S. Moore und C. E. AValker in ihrem Artikel;
The maiotic process in mammalia, die Vorgänge der
Kernteilung in den DiMsenzellen des Meerschweinchenhodens und
ihre Beziehungen zu der Bildung der Spermatozoen. Diese Pu¬
blikation ist gleich allen anderen in dem vorliegenden Bande
mit einer Anzahl ausgezeichneter Abbildungen ausgestaltet, wie
man sie in ihrer tadellosen Ausführung und Reproduktion in
den Berichten dieses Laboratoriums zu sehen gewohnt ist.
*
Liverpool School of tropical Medicine.
Memoir XXL
London 1906, Williams & Norgate.
Zur Erforschung der verschiedenen Trypanosomenarten,
welche die Vertreter der englischen Schule von ihren Expedi¬
tionen aus den Tropen in die Heimat bringen, hat das Institut
für Tropenmedizin in Liverpool ein neues Laboratorium außer¬
halb der Stadt geschaffen. Eine kurze Beschreibung dieser neuen
Stätte Avissenschaftlicher Arbeit leitet das vorliegende Heft ein.
B r e i n 1 und K i n g h o r n : An experimental study
of the parasite of the a f r i c a n t i c k - f e v e r, bildet eine Fort-,
Setzung ihrer Untersuchungen über den Erreger des afrikanischen
Zeckenfiebers, wonach die Spirochaeta Duttoni von der des Rück¬
fallfiebers zu trennen ist. Mit Ausnahme der Katze sind die
gebräuchlichen A^ersuchstiere mehr oder weniger für die Infek¬
tion durch den tropischen Parasiten empfänglich, doch gelang
es nicht, durch Immunisierung ein Serum zu gewinnen, welches
in ii'gend nennensAverter AVeise empfängliche Tiere vor der In¬
fektion schützen konnte. Dagegen weisen Breinl und King¬
horn nach, daß die Spirochaeta Duttoni durch die Plazenta in
das fötale Blut Übertritt Und daß auch die Jungen immuner
Mütter eine, Avenn auch nicht lange anhaltende, angeborene Im¬
munität besitzen.
Breinl und Kinghorn: Note on a ncAv Spiro¬
chaeta found in a mouse, beschreiben eine neue Spiro¬
chäte, Spirochaeta Laverani, die sie in einer Aveißen Maus fanden
und deren UebertragUng Aveder durch den Biß von Flöhen, noch
durch Läuse stattfindet.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
353
Dutton, Todd und Tobey: A comparison between
the Trypanosomes ‘present by day and by night in
the peripheral blood of cases of human Trypano¬
somiasis, finden weder in der Zahl, noch im Aussehen der
Trypanosomen menschlicher Infektionen Unterschiede zwischen
Tag- und Nachtblut.
H. Mole: The laesions in the lymphatic glands
in human Trypanosomiasis, zeigt an der Hand histologi¬
scher Untersuchungen, daß in den Anfangsstadien menschlicher
Trypanosomeninfektion die Vergrößerung der Lymphdrüsen durch
Zunahme der Keimzentren Und durch Vermehrung der Lymph-
zellen bedingt ist. Erst in späteren Stadien wuchert das Binde¬
gewebe, die Lymphdrüsen, in denen die Keimzentren zugruude
gehen, sklerosieren.
Dutton, Todd und Tobey: Concerning certain pa¬
rasitic protozoa observed in Africa, beschreiben eine
Reihe interessanter Parasitenbefunde bei Mensch und Tier. So
fanden sie bei einer eigenartigen Onychie der großen Zehe eine
Spirochäte ; beim Affen sahen sie außer Malariaparasiten eine
Spontaninfektion mit einer noch nicht beschriebenen Trypano¬
somenart. Die Antilope beherbergt neben dem Trypanosoma
Theileri noch eine zweite Spezies, die dem Trypanosoma dimor-
phon am nächsten steht. Bei Fledermäusen beschreiben sie Spiro¬
chäten und intrazelluläre Parasiten in Fönn von Ringen und
Gameten, welche dem Haemosporidium Dionisi am nächsten zu
stehen scheinen.
L. A. Williams und R. S. Williams: Attempts to
cultivate Spirochaeta Dutton i, fanden zur Züchtung dos
Parasiten des afrikanischen Zeckenfiebers defibriniertes Blut bei
Zimmertemperatur am geeignetsten.
B r e i n 1, K 1 i n g h o r n und Todd: Attempts totr ans mit
SpirochaetesbythebitesofCimexlectularius, können
sich nach eigenen Untersuchungen der Ansicht nicht anschließen,
daß durch den Biß der Bettwanze Spirochäteninfektionen über¬
tragen werden. Nach ihrer Meinung spielen diese Blutsauger
sicher keine wesentliche Rolle bei der Ausbreitung von Rekurrens-
epidemien.
Die hier kurz besprochenen Arbeiten liefern nur von neuem
den Beweis, daß ernste wissenschaftliche Forschung in den
Räumen des Liverpooler Tropeninstitutes betrieben wird, welche
Richtung auch die Mitglieder der neu gegründeten Runcorn Re¬
search Laboratories eingescblagen haben.
*
Archives de medecine experimentale et d’anatomie
pathologique.
T. XIX, Nr. 1.
1907.
J o s u e und A 1 e x a n d r e s c u : Contribution ä 1 ’ e t u d c
de l’arterio sclerose du rein, untersuchten mit Hilfe der
modernen histologischen Methoden 23 arteriosklerotische Nieren
und unterscheiden zwei Formen, die Epyphosklorose mit hyper¬
trophischer Wucherung der Bindegewebselemente und die An-
typhosklerose mit Narbenbildung. Den Gefäßveränderungen gehen
die Epithelläsionen voraus, während die interslilielle Nephritis
als eine Folge der Sklerose zu betrachten ist.
Alquier und Baudouin: Meningoencephalie sub-
aigue chez lin tuberculeux, beschreiben eine herdförmig
lokalisierte Meningitis mit Gefäßneubildung und ausgesprochenen
endarteriitischen Veränderungen nebst perivaskulärer, leuko-
zytärer Infiltration. Da weder der Nachweis von Tuberkclbazillen,
noch der von Spirochäten gelang, sprechen sich die Autoren
nicht über die Aetiologie der Erkrankung aus.
Laignel-Lavastine und Roger Voisin: Anatomie
pathologique et p a t h o g e n i e de 1 ’ e n c e p h a 1 i t c a i g u e,
stellen 55 Fälle akuter Enzephalitis aus der Literatur zusammen
und lügen denselben noch elf eigene Beobachtungen hinzu. Nach
den Untersuchungen der Autoren wären drei Formen dieser Fr-
kraidvung zu unterscheiden: Encephalie diapedetique. Encephalic
purulente und Encephalie haemorrhagique.
Lapointe und Lecene: Gliome primitif de la cap¬
sule surren ale, beobachteten bei einem 19 Monate alten Mäd¬
chen ein primäres Gliom der Nebenniere. Der Fall schließt sich
an den von Küster beschriebenen an.
C a r n 0 1 und II a r v i e r : Contribution ä 1 ’ e t u d e de
l’apoplexie biliaire, fanden in zwei Fällen die von W i t-
tich beschriebenen Läsionen der Leber. Es sind dies herd¬
förmige Degenerationen von Leberzellen, Ablageruiiig von Gallen¬
pigment in und zwischen den Leberzellen, welche als Folge
von Gallens lauung anzusehen ist.
S a b r a z e s : A n k y 1 o s t o m i a s e maligne, infection
polymicrobienne etphlebites multiple, beschreibt einen
Fall sehr schwerer Ankylostomiasis, welche in zwei Monaten
zum Tode führte. Die sorgfältige klinische Beobachtung, die ge¬
naue pathologisch-anatomische und histologische Untersuchung
liefert einen höchst wertvollen Beitrag zur Kenntnis dieser Er¬
krankung. ' ! 1 '
Mene trier und Ru be ns -Duval: Lesions histologi-
ques du foie dans un cas d’ictere syphilitiquo du
nouveau -ne, weisen an einem Falle von luetischem Ikterus
eines Neugeborenen nach, daß die bis zu Nekrose führenden Zell¬
veränderungen durch Ueberladung der Leberzellen mit Glykogen
hervorgerufen sind. Sie deuten diese Läsion als Toxinwirkung
und fassen die vermehrte Produktion von . Gallenpigment nur
als eine sekundäre Erscheinung auf.
B. M o r p u r g 0 : L ’ o s t e o m a 1 a c i e et 1 e r a c h i t i s m e c x-
perimentaux. Prioritätsstreit mit Basset (dieses Archiv 1906,
Band 18).
*
Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie.
Bd. 56, Heft 1 bis 4.
1907.
H. V. Recklinghausen: Was wir durch die Puls¬
druckkurve und durch die Pulsdruckamplitude über
den großen Kreislauf erfahren. Auf Grund seiner im
55. Bande dieses Archivs veröffentlichten Methode stellt Verf.
mathematische Formeln auf. Seine Berechnungen stimmen auch
mit den Ergebnissen der experimentellen Prüfung derselben;
V. Recklinghausen zeigt an Beispielen die Anwendung seiner
Methode.
R. Fleckseder: Ueber Hydrops und Glykosurie
bei Uran Vergiftung. Zur Erzeugung von Hydrops genügen
Anurie und Plethora allein nicht, auch ist die Oedembildung vom
nephritischen Prozeß unabhängig, so daß die Uranergüsse durch
Wasserretention bei bestehenden spezifischen Gefäßläsionen zu
erklären ist.
J. Baer: Ueber die Wirkung des Serums auf die
intrazellulären Fermente. Fortsetzung der gemeinsam mit
Loeb veröffentlichten Publikation im 53. Bande dieses Archivs.
Baer und Blum: Ue b e r d e n A b b au v on F e 1 1 s ä u r e n
beim Diabetes mellitus. Im diabetischen Organismus gehen
die verzweigten Fettsäuren mit einer geraden Reihe von 4 G-
Atomen in Oxybuttersäure über. Eine starke Vermehrung dieser
wird auch durch Eiweißspaltungsprodukte bewirkt.
E. B ü r g i : Ueber T e t r a in e t h y 1 a r s o n i u m j o d i d und
seine pharmakologische Wirkung. Das Präparat wirkt
zentral lähmend, curareartig, nicht auf das Herz.
Morawitz und Bierich: Ueber die Pathogenese
der cholämi sehen Blutungen. P’ermentariput bedingt die
langsame Gerinnung des cholämischen Blutes, die hämorrhagische
Diathese Ikterischer wird durch Gefäßschädigung erklärt.
F. Schmidt: Beitrag zur Kenntnis der Urobilin-
urie. Versuchsresultate der Verabreichung von Kalomel an zwei
Leberzirrhotikern.
A. Läwen: Vergleichende Untersuchungen über
die örtliche Wirkung von K o k a i iq' Novokain, A 1 y p i n
und Stovain auf das motorische Nervensystem. Mil
den ersten drei Analgetizis erreicht man am Frosche in 1 bis It-'
Stunden Herabsetzung der Erregbarkeit dos isebiadikus, doch
lassen sich die Substanzen durch Spülung mit indiflerenten hdüssig-
keiten aus dem Nerven wieder auswaschen, was bei Stovain
nicht gelingt, so daß für diese Substanz eine Schädigung des
Nerven angenommen werden muß.
Wandel: Zur Pathologie der Lysol- und Kresol-
Vergiftungen. Schwere Leberschädigungen, die der akuten
gelben Leberatrophie ähnlich sehen, sind Kresolwirkung. Erst
in späteren Stadien findet man auch Läsionen des Herzens, des
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 12
o5j
CiPliiniPs nncl dor Nioren. Herbivore Tiere sind weniger für diese
\'(n-giflnng enipfängücli als karnivore.
F o r s c li 1) a c li und W e bei': D a s I) i in e t li y 1 a m i n o p a r a-
xanlhin, seine dinrefisclie Wirkung und sein Abbau
ini Organismus des Henschen. Wirk! sclnväidier bain-
Ireibend als Theopliylin. Analyse der Abbauprodukle.
X. E. 1 1 o k e : TW b e r d i e Auf n a li m e cl e s Kohlenoxyds
durch das N e r v en s y s toju. Das Cas .wird vom Clebiin nicht
aufgenommen, die akule Vergiflung ist analog einer Asphyxie.
.\us dem Leucblgasi' liingegcm werden, flüchtige Substanzen vom
Cudiii'iie aufgenommen.
(). Adler: AVirkung der 0 I y k o x y I s äiu'e auf den
Fi erkür per. \ergiflung ähnlich der Oxalsäurevergiftung, mit
Ausscheidung von Oxalsäurekrislallen in den Xieren. Bei akutem
\ erlaufe Schädigung des Herzens, vorübergehend auch der
Atmung.
E. S. Faust: Ueher das Ophiotoxin aus dem Gifte
d(‘r OS t indischen Brillenschlange, Cobra di Ca pell o'
(X^ a i a tripudians). Der chemisch rein dargestellte Körper ge¬
hört ]tharmakologisch in die Gruppe der Sapotoxine, unterscheidet
sich von diesen aber durch Unlöslicdikeit in Alkohol und die
curaiinähnliche Wirkung auf Kaltblüter. Er ist kein Glykosid.
Boekelmann und Staat: Zur Kenntnis der Kalk¬
ausscheidung im Harn. Verringerte Kalkzufnhr bedingt Ver-
imdirung' der Kalkausscheidung, bei IMilchdiät besteht Kalk-
retenlion. Hiemit dürfte in Zusammenhang zu bringen sein, da.ß
Pbosphoi'säuri' Resorption und Retention von Kalk zu fördern
scheint.
S c h w' e n k e n b e c h e r und S p i t a : Hebe r die A u s s c h e i-
dung von Kochsalz und Stickstoff durch die Haut.
XaCl- und X-Ausscheidung durch die Haut findet beim Gesunden
in annähernd gleichen IMengen statt. Die Chloridabgabe durch
die Haut sleigt bei Krankheiten, die mit starken Schweißen ein¬
hergehen, doch beti'ägt das ausgeschiedene XaCl pro Tag nie
mehr als lg. J o a n n o v i c s.
Aus v/ersehiedenen Zeitsehfiften.
139. Aus dem hygienischen Institut der Universität
München. U e b e r die Resistenz gegen ]\I i 1 z b r a n d u n d
ü her die H e r k u n ft der m i 1 z b r a n d f e i d 1 i c h e n Stoffe.
\ Oll l\lax Gruber und Kenzo Futaki. Die Resistenz der Ver¬
suchstiere gegenüber der Alilzbrandinfektion ist sehr verschieden:
das Meersclnveinchen und das Kaninchen sind fast gar nicht
odei- sehr wenig wdderstandsfähig, Avährend Hund 'und Huhn
fast immun dagegen sind. Mit den Ursachen dieser Erscheinungen
beschäftigten sich die Verfasser in ihren zahlreichen und aus¬
führlichen Versuchen, die sie sorvohl bezügliedi dör Phagozytose
d(‘s Alilzlirandbazillus durch die Leukozyten der empfänglichen
und der unempfänglichen Tiere in vitro, sowie üher das Blut¬
serum und Blul])lasma, über das Verhalten der dAuikozyten an-
geslellt haben. In einer anderen Versuchsreihe prüften sie wieder
das Verhallen der Tiere gegenüber der subkutanen Infektion einer¬
seits und der iniravenösen oder inlra])eritonealen anderseits. Dar¬
aus ergeben sich folgende Beobachtungen: Das Huhn besitzt in
seiner hohen, dem Milzbrandbazillus ungünstigen Körpertenijiera-
tur ein Avertvolles Schutzmittel gegen dieses Mikrobium. Kiiu' sehr
Avichtige SchutzAvehr gegen die Allgemeininfeklion des Organismus
der untersuchten Tierspezies sind die Phagozyten, die sich auch
der virulentesten IMilzbrandbazillen alsbald zu bemächtigen suchen,
sowie si(‘ ins Blut gelangen. Die Leukozyten des Huhnes haben
die Fäbigkndt, IMilzbrandbazillen aufzufressen und zu verdauen,
in ganz liervorragendem Maße. EtAvas wamiger tauglich dazu
sind die Phagozyten des Humh's. Die Pha,gozyten des Kaninclums
und des Meiu'schweinchens bringen ('s nur zui‘ Umklamnu'rung
und Koidakthduug der ^Milzbrandbazillen ; daher ist eine viel
.größere Zahl von ihnen als von dem Huhuhmkozyten erfordeiliclg
um eine bestimmte Zahl von IMilzbrandbazillen zu Amrnichten.
Das verschiedene V’eidiallen der Fdiagozyteu steht in bester Ueber-
(‘instinnnung mit der A'orschiedenen Rmpfänglichkedt der unter-
svuditeu Tiiuspezies. Das wichtigste Schulzmittid dnr Milzbrand-
bazilh'u gi'gmi die Phagozyten besteht in dei' Bildung von dicken
Hüllen, Kajjseln. Die Ka])selbildung eifolgt in den tierischen
Säften unter Verbrauch eines bestimmten in ihnen enthaltenen
Stoffes. Die gekapselten IMilzbrandbazillen sind dadurch gegen
die Phagozyten geschützt, daß sie diese nicht nudir zum Fräße
locken. Eine schädliche Wirkung üben sie auf die Leukozyten
nicht aus. Für den schließüchen Ausgang der Infektion scheint
es entscheidend, ob ('s einem Teile der ins Blnt gelangten
eingekapselten Milzbrandbazillen gelingt, innerhalb der Rlutbahn
Kapseln zu bilden, bevor sie von den Leukozyten erreicht Averden,
beziehungsAA'eise, ob die IMilzbrandbazillen von vorneherein mit
Kapseln versehen in die Blutbahn kommen oder nicht. In dieser
letztenm Beziehung ist bei subkutaner Infektion Avichtig, Avelche
Existenzbedingungen die Milzbrandbazillen im subkutanen Binde-
gCAvebe Amrfinden. Tn dem des AleerschAveinchens und des Ka¬
ninchens finden sie einen Xährboden, an den sich ein guter
Teil von ihnen — je nach der ursprünglichen Virulenz ein kleinerer
oder größerer Bruchteil — rasch ohne Schaden adaptiert, so
daß binnen kurzem die Wucherung von Kapselbazillen beginnt,
die dann dui'ch den Lymph- und Blutstrom überallhin verschleppt
Averden und sich in den Kapil largebiet.eh ansiedeln. Beim Hunde
und Indin Huhne gehen die Milzbrandbazillen im Unterhautzell-
geAV('be rasch zugrunde, bevor sie Zeit hatten, Kapseln zu bilden.
Dieses verschiedene Schicksal der Bazillen ist dadurch bedingt,
daß die Lymphe im ünterhautzellgeAvebe des IMeerschweinchens
und des Kaninchens keine anthrakozide Substaj\z (uilhält und
nicht oder nur in geringem IMaße die Fähigkeit besitzt, die Leuko¬
zyten zur Abgabe der in ihmm enthaltenen milzbrandfeindlichen
Substanz zu reizen. Dagegen ist die Lymphe im Untcrhautzell-
gOAvebo di.'S Huhnes entweder von vornherein anthrakozid oder
Avird e;s doch sehr bald infolge des 'Reizes, ilen sie auf die ins
ZellgeAvebe eiiiAvandernden Leukozyten ausübt und die si(f dadurch
zu einer fast unerschöpflichen Ouelle eines niilzbrandfeindlichen
Sekretes maclit. Beim Kaninchen gewännt die Unterhautzollgewmbs-
lymphe erst bei Stauung die Eigenschaft .eines solchen Reiz¬
mittels für die Leukozyten Und aus dieser Tatsache und aus der
Behinderung der AusschAvemmung der Milzbrandbazillen aus dem
UnterbautzellgeAvebe durch den Lymphstrom erklärt es sich, daß
das Kaninchen eine IMilzbrandinfeklion in das nach Biers Ver¬
fahren ödematös gemachte Gervebe übersteht, der es sonst er¬
liegen Avürde. Die lAukozyten des Kaninchens sind viel ärmer
an sezernierbaren milzbrandfeindlichen Stoffen als die des Huhnes.
Die Leukozyten des MeerscliAveinchens scheinen solche Stoffe
überhaupt nicht zU enthalten. Die milzbrandfeindlichen Stoffe der
Leukozyten, die Leukanthrazidine, scheinen Aveder beim Huhne
noch beim Kaninchen jemals an das normale Blutspasma abge¬
geben zu Averden. Das Blutsiiasma des Kaninchens ist überhaupt
Amllig Avirkungslos gegen IMilzbi’andbazillen (ebenso Avie das der
wmißen Ratte). Dagegen enthalten <lie Blutplättchen des Kanin¬
chens und der Ratte abweichend auui denen des Meersclnveinchens
und des Huhnes in reichlicdier Menge eine Substanz, welche Milz¬
brandbazillen energisch tötet. Diese Substanz A\drd bei der Blut¬
gerinnung Amn den Blut]dät1chen abgegeben und macht das Serum
des Kaninchens und der Ratte bakterizid. Es ist nicht unmöglich,
daß dieser Stoff auch schon im zirkulierenden 'Blute unter dem
Einflüsse der IMilzbrandinfektion in das Plasma ausgeschieden
wird und auf diese Weise eine erhebliche Schutzkraft ausübt.
— (Münchener mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 6.) G.
*
140. Aus (hun Grossley-Sanatorium London. Vergleich
der Häufigkeit des VorkommeArs A^on behinderter
Xasenatmung als Vorläufer bei Lungen- und extra¬
pul m on ärer Tubei'kul ose. Von IV. C. Rivers. Von
50 Fällen Amn Lungcmtubcukulose zeigten 27 (54To) mangelnde
Durchgängigkeit der Nase. Ahm 50 Koni roll fällen Aum anderweitiger
fexlrapulmonärer) Tubeikulose zcdglen 15 (SO”/») mangelnde Durch¬
gängigkeit der Nase. Ah.u’f. schreibt der sorgfältigen Pflege der
Nasen- und Raclumgebilde eine Avichtige Rolh' bei dm- Projdiy-
lax(' der 'Fuberkulose zu. — (Biitish medical Journal 190ß,
1. Dezember.) .1. Sch.
♦
141. ID'lx'r den Einfluß d (> r Schilddrüse auf die
En Iav ick lung des Embryos. Wm Pi’of. M. Bleibtri'u in
Greifswmid. Im Sommer 1905 hat Dr. Josef Nerking die IL'Sul-
tate seiner im physiologischen Insliluh' dei' GreifsAvalder Uni-
Nr.ll2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
355
versilät mit. Schilddrüsensiibsianz am sravkkm Tiere ajigesiellloti
Versuche v(M’ö1f(Mit!i(dil. Kr vorersl s<"f'iiid(Mi, dal-V '‘<dü(>s
I\luzin dinrh Digeslioii mil S(ddlddrüseiis(d)sl.aii/, eiiK^ Umwand¬
lung unter AbsitalLnng des redu/ierenilen Anteils erfahix“. U(d)(M;
Bleihtreus Anregung uniersuchto er sodann, ob die Scldld-
driisensubslanz vielleicbt aucb aut die s(ddei:mäludicbeu (lewebe
der Kmbryonen und dadurcb auf dercm \Vacbisiums])edingungen
eimm Einlbißi ausübe. Es zeigte skdi, daß Scbilddrüsensubslanz
auf Kroscblarven giftig einwirke, daß al)er erwaebsene ]'’rösrbe
große Mengen dieser Sul)stauz obne Scbadeu vertragen. Nun
fütterte er gi'avide Kanineben mit Scldbblrüsensubstanz und fand,
daß eine frübzeitig Ijeginneude Fütterung mit dieser Substanz
eigenlimilicbe Störungen einer bestebenden Gj’axTdität zur lütlge
baben können; dabei batte es den Ansebein, als ob diese Störujig
niebt dureb eine Abstoßung des Embryos, einen Al)ortus, sondern
dureb eine Rückbildung und Resorption desselben zustande
gekommen sei. Bleib treu hat mm die letzterwäbnien Versuebe
wieder aufgenommen und sie an einem größeren Materiale während
der letzten zwei Jahre ausgefübrt. Es wurden an Mäuse, jReer-
schweineben und Kauineben englische Tabletten der Scbilddrüsen-
sul)stanz verfüttert, oder es wurde ein (Ilyzerinextrakt derselben
subkutan injiziert. In keinem Falle verlief bei solchen Tieren die
Scbwangerscbafl. normal; mindestens war die I ragzeit v^erlängert,
oder es wurden tote Jungen geworfen, bei weitem die meisten
Tiere aber waren steril geblieben. Lange hat gravide Frauen
mit kleinen Dosen Schilddrüse (drei Tabletten täglich) oder Jorlo-
Ihyrin behandelt, obne eine Abnormität zu ]}eobacbten. Tloennike
dagegen fand, daß Tiere unter der Schild drüsent)ebandlung selir
häufig — also iiictit immer — abortieren. Verf. weist nocli auf
die Bestrahlung gravider Tiere mit Röntgens tralden, respektive
Injektion vojx Cholinlösungen bin, bei Avelclien Versuchen eben¬
falls merkwürdige Störungen der Gravidität, die an die Mög¬
lichkeit einer Resorption des End)ryos denken lassen, beobaclitet
wurden und kommt zu folgendem Gedankengange: „Substauzen
schleimiger oder schleimäbniicher Natur werden normalerweise
innerhalb der GeAvebe des Organismus beständig gel)ildet, abei
wieder umgesetzt. Ihre Spaltung erfolgt unter dem Einflüsse
eines in der Schilddrüse vorkommenden Stoffes. Febbui <lieses
Stoffes führt zu einer vermebrteji Bildung schleimiger Stoffe
(Myxödem — MTrt der Scbilddrüsenl)ebandlung). Scbleimälmlicbe
Sulistanzen sind aber ein Erfordernis, A\mnn das Muttertier den
Eml)ryo aufbauen soll. Es ist also zwa^ckmäßig, daß die Mirkung
jenes Stoffes AA'ährend der Gravidität gemäßigt werde. Daliei
findet in dieser Zeit eine Zurückhaltung oder eine Bindung der¬
selben in der Schilddrüse statt (Schwellung der Schilddrüse wäh¬
rend der Gravidität). Ueberscbweminung des Organismus init
Schilddrüsensubslanz während der Gravidität lührt zu einer
Stöiung des Aufbaues, zu einem Abbau des Embryos.“ Wenn jetzt
bei Bestrahlung und Cholininjektion dieselben Erscheinungen beob¬
achtet Averden, so kann inan sich denken, daß diese beiden Ein-
Avirkungen irgendwo lösend, aktiAdcrend oder stiuiuliciimil auf
jene Schilddrüsensubstanz einAvirken. Der Verfassm' will diese
Versuche im Frülijahr in größerem Umfange Avieder aufnehmem,
er Avill auch untersuchen, ob vielleicht Schilddrüsen, die gra-
aM d e n Tieren entnommen sind, stärker AAÜrken,' er Avill die S c h i 1 d-
drüsen der Versuchstiere bestrahlen und sehen, ob dann der
hemmende Einfluß auf die GraAddität noch stärker lieiAfOitiiMi,
als er sich bei Bestrahlung der Ovarien etc. zeigte, er hofft
aber auch, die eigentümlichen Gebilde Avieder zu erhalten, Avclche
den Eindruck zurückgehildeter Embryonen machten und AVill so¬
dann auch die Ergebnisse derselben mitteilen. — (Deutsche medi¬
zinische W'ochenschrift 1907, Nr. 1.) h- !’•
142. lieber die Injektion von frischem Blut¬
serum bei hämorrhagischen Erkrankungen. Von
P. Emile -Weil. Bisher stellte die AnAvendung der Kalksaize
die wirksamste Therapie hei Hämorrhagien auf dyskrasischer
Grundlage dar. Die Beobachtung, daß inkoagulables Blut in vitro
durch Zusatz von frischem Blutsemm wieder gerinnbar wurde,
führte bislier nicht zu Versuchen am Lebenden. Zunächst konnte
der Verfasser feststellen, daß Injektionen von frischem Blut¬
serum, bei sponlaner und familiärer Hämophilie eine präventive
und bei familiärer Hämophilie eine kurative WTrkung ausüben;
eine Geleg'(mheil, dii' kurative Wirkung bei spontaner Hämo-
idülie zu ('11)100011, war bisher nicht vorhanden. In vilro konnte
festgesiellt Averden, daß d('r Zusatz von frischi'in Blulsei'um
Gei'inmmgsauomalien des frischen Itlules hei Hämophilie auf-
heht. Di(' gleiche Beobachtung wurde auch hei akuten und
chronischen, primären und sekundären Blutungen auf dyskrasi¬
scher Grundlage gemacht und es enlfalleleu die Injektionen von
frischem Blulserum in Fällen von akuter und chronischer Pur¬
pura, sowie hei progressiver pei'idziöser Anämie teils iiräven-
tive, teils kurative Wirkung. Zur Anwendung gelangte Blulserum
von Rindern und Kaninchen, auch frisch bereitetes Diphth(‘rie-
heilserum. Das Serum Avurde intravenös injiziert, die Dosis be¬
trug 10 bis 30 cnF. Das frische Blutserum war in seiner Whrknng
den Kalksalzen überlegen, Avoboi der W-irkungsmechanismus
seinem Wmson nach nicht verschieden ist. Die Kalksalze regen die
Bildung der koagulierenden Fermente au, Avährend sie durch
die Injektion des frischen Blutserums direkt dem Organismus
zugeführt Averden und gleichzeitig die xVnregung zur Bildung
koagulierender Fermente im Organismus gehen. Bei akuten Blut-
dyskrasien können die Injektionen von frischem Blutserum eine
unmittelbare Heilung herheiführen, hei chronischen hämorrhagi¬
schen Dyskrasien ist die WTrkung nicht immer zur Erzielung einer
Dauerheilung ausreichend. Zur Bekämpfung der iiämorrhagischen
Dyskrasie genügt schon eine intravenöse Injektion von 15 enU
oder eine subkutane Injektion Amn 30 cm^ des frischen Blut¬
serums. Die Injektion kann ohne Schaden nach zwei Tagen
Aviederholt Averden; hei Kindern genügt eine halb so große Dosis.
Das Serum vom Menschen, Kaninchen, Pferd und Rind zeigt
hinsichtlich der WTTksandveit gegen Hämorrhagien keine Avesent-
lichen rnterschiede. ITiangenehme Nehenwirkungen — Fieber,
Frösteln, Zyanose, Erbrechen, Kopf- und Rückenschmerzen —
Avurden nur nach Injektion von Rinderblutserum beobachtet.
Dort, wo menschliches Blutserum, Avelches in vitro die stärkste
WTrksamkeit zeigt, nicht zu beschaffen ist, empfiehlt sich die An-
AAmndung von fi'isch hereitetem, durch Aderlaßi aus der Karotis
gewonnenen Kaninchenblutserum. — (Bull, et M('m. de la Soc.
med. des hop. de Paris, 1907 Nr. 2.) a. e.
*
143. Häufigkeit und Ursachen der Selbstmord¬
neigung in der Marine im \ er gleich mit der Armee.
Von IMarinestabsarzt Dr. Podestä in Berlin. Podesta ver¬
suchte, ausgehend Amn der Tatsache, daß alle fiir die Selbstmoril-
häufigkeit in der iVimiee in Betracht kommenden Verhältnisse
auch bei der Marine eine Rolle spielen müssen, die Häufigkeit
der Selbstmorde bei der iMarine zu derjenigen in der Armee in
Parallele zu stellen und an der Hand gefundener statistischer
Resultate der Frage näherzutreten, ob und iiiAviefern die Ergeb¬
nisse mit geAvissen, l)esonderen EigentümlichkeiRn und Ver¬
schiedenheiten des Dienstes hei beiden WTiffengattungen in einem
ursächlichen Zusammenhang stehen. Podestäs Untersuchungen
förderten zunächst das überraschende Faktum zutage, daß die
Frexpienz der Selbstmordneigung in der Marine bedeutend und
zAvar um fast die Hälfte geringer ist, als in der Armee, andernteils
aber doch um ein geringes höher, als bei der gleichalterigen männ¬
lichen Zivilbevölkerung. Bei beiden W'ehrgattungen zeigt die Selbst¬
mordneigung eine langsame Tendenz des Absinkens. Merkwdirdig
ist, daß die Selbslniordneigung in der Armee a.m häufigsten in
den ersten Monaten der Dienstzeit, die bei der Marine zumeist
in den späteren Dienstjahren auftritt. Sie betrifft deswegen auch
bei der Armee meist den Gemeinen, in der Marine den Unter¬
offizier. ln der Armee und bei der Marine ist in der größten
Mehrzahl der Fälle seelische Störung als letzte Ursache des
Selbstmordes zu betrachten. Wahrscheinlich bietet sich im spä¬
teren Verlaufe des Marinedienstes häufiger ficlegenheit zur Lut-
Avicklung und Ausl)ildung psychischer Störungen, die geeignet
sind, einen Angriff auf das eigene Leben herbeizuführen. Be¬
sonders gefährdet mögen Individuen sein mit crerbtei oder früh¬
zeitig crAArnrhener neuropathischer Disposition mit nein astheni¬
scher, epileptischer oder hysterischer Veranlagung. (Archiv
für Psychiatrie und Neiwenkrankheiten, Bd. 42, H. 1.) S.
*
144. Abortus nach d e m' G e b ra u c h von Diachylon.
Von F. W. Hope- Robs Oll (Southampton). Eine Frau, die sich
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
Soli
iin Januar 1906 schwanger fühlte, nahm auf den Rat einer Nach¬
barin durch 14 Tage Diachylonpillen. Es erfolgte ein Abortus.
Ende Juli desselben Jahres hatte sie einen zweiten Abortus. Der
Fötus war zwei Monate alt. lin Oktober suchte sie den Arzt
wegen Pelvioperitonitis auf. Sie erklärte bestimmt, seit Januar
keine Diachylonpillen mehr genommen zu haben, da die Menses
seit der Zeit regelmäßig waren und sie keinen Gmnd hatte, sich
schwanger zu fühlen. Die Merkwürdigkeit des Falles liegt darin,
daß der bloß 14 Tage dauernde Gebrauch von Diachylon zweimal
Abortus im Zeitraum von fünf Älonaten im Gefolge hatte. —
(British medical Journal 1906, 17. November.) J, Sch.
*
145. Aus der medizinischen Klinik zu Heidelberg (Geh. Rat
Erb). Zur Frühdiagnose der Lungentuberkulose. Von
Priv.-Doz. Dr. Hans Arnsperger. Verf. ist der Ansicht, daß,
entgegen der bisherigen Annahme, selbst in sehr frühen Stadieji
der Lungentuberknlose sich schon Veränderungen mit Hilfe der
Röntgenstrahlen nachweisen lassen. Das Instrumentarium ist das¬
selbe, wie es bei der Röntgenmethode in der inneren Medizin
nötig ist, kräftiger Induktor, exakter, rascher Unterbrecher, Röhre,
welche lange und starke Belastung erträgt, guter Leuchtschirm.
Das wichtigste ist eine gute Blende; diese muß während der
Untersuchung bald enger, bald weiter gestellt werden können,
was am besten mit der Irisblende zu erreichen ist. Mit der Blende
zusammen muß man auch die Röhre höher und tiefer stellen
können, um sukzessive bei jeder Röhrenstellung die Lunge zu
durchleuchten. Was nun die Ergebnisse der Röntgendurchleuch¬
tung hei beginnender Lungentuberkulose anlangt,' so fand Ver¬
fasser, daß das „Willi a ins' sehe Symptom“, die verminderte
Atmungsexkursionsbreite des Zwerchfells bei beginnender Spitzen¬
tuberkulose, Avelches besonders von englischen Autoren als erstes
Symptom angegeben wird, in seinen Fällen relativ selten zu
seben war. Er fand es nur in ca. 6% der Fälle beginnender
Lungentuberkulose. In späteren Stadien ist das Symptom häufiger.
Als Ursache nimmt Verf. pleuritische Adhäsionen an. Bei fast
allen untersuchten Fällen fand Verf. Veränderungen der Hellig¬
keit und Größe der Lungenspitzenfelder und Verschiedenheiten
der Helligkeitsänderung bei der Atmungsbewegung, sei es ver¬
minderte Aufhellung, sei es stärkere Verdunkelung bei der In¬
spiration. Bezüglich der Größe der Lungenspitzenfelder ist größte
Vorsicht geboten; denn jede Wirbelsäulenverbiegung, Verdickung
von Klavikula und der ersten Rippe kann die Größe der Lungen-
spitzenfelder beeinflussen. Aber bei Fällen; bei denen eine ein¬
seitige Spitzenerkrankung besteht, ist die Verkleinerung der be¬
fallenen Spitze im Röntgenbild meist außerordentlich auffallend.
Bei frischen Fällen besteht diese Größendifferenz öfter ganz un¬
kompliziert, während bei den nächsten Stadien noch Helligkeits¬
differenzen zwischen den Spitzen hinzukommen. Diese Größen¬
differenz dürfte ein Symptom des verminderten Luftgehaltes und
der verminderten Spannung des erkrankten Lungengewebes und
einer darauf beruhenden Retraktion der Lungenränder sein. Geht
die Verjuinderung des Luftgehaltes und’ der Gewebsspannung noch
weiter, so wird eine gleichmäßige Trübung des hellen Spitzen¬
feldes auftreten, ein weiteres Zeichen beginnender Lungenphtliise.
Besonders bei einseitigen Prozessen ist die Spitzentrübung außer¬
ordentlich charakteristisch. Läßt man die Kranken tief inspi¬
rieren, so sieht man, daß bei einseitiger Trübung diese sich
nur ganz Avenig aufhellt, während die gesunde Spitze deutlich
heller wird. Manchmal beobachtet man,’ daß eine erkrankte, ge¬
trübte Lungenspitze bei tiefer Inspiration nicht nur nicht heller
wird, sondern sogar dunkler. Verf. nimmt an, daßi infolge der
verminderten Elastizität die Spitze durch die sich stärker aus-
tlehnende übrige Lunge noch komprimiert wR-d und dadurch noch
dunkler erscheint. Dies sind die Veränderungen im Durchleuch¬
tungsbilde bei ganz beginnender Phthise, welche den Untersuoh'er
auf die Diagnose führen oder in der vermuteten Diagnose bestärken
können. In zweifelhaften Fällen kann die Röntgendurchleuchtung
ausschlaggebend sein für die Frühdiagnose. Für die AusAvahl
der Kranken für die Heilstätten sind diese Feststellungen von
größtem Werte und Verf. möchte gerade dafür Rie Methode be¬
sonders empfehlen. — (Münchener mediz. Wochenschr 1907
Nr. 2.) ■ ’
♦
146. U e b e r d i e A n t i to x i n b e h a n d 1 u n g d e s T e t a n u s,
zumal mit intraneuralen Injektionen. Von Geheimen
Med. -Rat Prof. Dr. E. Küster in Marburg. Bisher Avurden nur
fünf Fälle von Tetanus mit intraneuralen Antitoxininjektionen
behandelt u. zw. von Küster (zAvei Fälle), sodann von Rogers,
Her tie und Kocher. Von diesen fünf Fällen ist nur der
Her tie sehe Fall nach einer anfänglichen, sehr auffallenden
Besserung unter erneuten Krämpfen zugrmrde gegangen. Den
ersten Fall hat Verf. 1905 mitgeteilt, jetzt berichtet er über
seine zAveite Beobachtung. Ein 28 Jahre alter, früher stets ge¬
sunder Mann Avurde überfahren und erlitt eine umfangreiche
RißquetschAAmnde am linken Knie. Die Wunde eiterte. Zwölf
Tage nach der Verletzung Bescheverden beim Oeffnen des Mundes.
Zwei Tage später Aufnahme auf die Klinik Küsters. Deut¬
licher Trismus. Die Wunde Avurde zunächst mit einem Schröpf¬
glase behandelt und eine Staubinde am Oberschenkel angelegt.
Leichte Zuckungen im Beine, krampfhafte Schmerzen durch das
Bein bis. zum Gesicht hinauf. Injektion von 100 I.-E. des Tetanus¬
antitoxinserums in den Oberschenkel und, da tags danach deut¬
liche Liefersperre und Maskenformnies Gesichtes konstatiert Wurde,
nochmalige Injektion derselben Menge. Der Tetanus nahm in den
nächsten zAvei Tagen zu; Morphiuminjektion, sodann intraneurale
Injektion. Nach Lumbalanästhesie mittels Novokains wurde der
Ischiadikus unter der Gesäßfalte freigelegt und 20 T.-E. durch
Einstich ihm einverleibt. Die Wunde durch Naht geschlossen.
Nach einigen Stunden besserte sich der Trismus, tags darauf
konnte Pat. ZAvieback schlucken. Starke Schweißabsonderung. In
der Nacht viele Schmerzanfälle im kranken Beine. In den nächsten
zwei Tagen Avieder je eine Injektion von 100 I.-E. in den gesunden
Schenkel und Morphium. Allmähliche Besserung, nach sechs
Wochen entlassen. Bei einer Nachuntersuchung nach weiteren
sechs Wochen ist die Wunde noch nicht vollkommen geheilt, die
Funktion des Knies stark behindert. Verf. empfiehlt die pro¬
phylaktische Anwendung der subkutanen Antitoxineinspritzungen
bei allen stark verunreinigten Riß- und Quetschwunden („ver¬
unreinigte, gerissene und gequetschte Wunden gehören von vorne-
herein in das Krankenhaus!“) und bespricht sodann eingehend
die Behandlung nach Ausbruch des Tetanus. Er unterscheidet
den örtlichen und den allgemeinen Tetanus, welche zwei Formen
aber nicht streng auseinander gehalten werden können. Es dürfte
am zAveckmäßigsten sein, die Wunde selbst mit Antitoxin nicht
nur zu waschen und auszureiben, sondern auch Einreibungen des
Heilstoffes in die der Wunde benachbarten Gewebsschichten zu
machen. Die Aveitere Einverleibung des Antitoxins erfolgt in drei¬
facher Art. Einmal als intraneurale, dann als lumbale und schlie߬
lich als intrazerebrale Injektion. Bei der intraneuralen Injektion
werden die dem Verletzungsgebiet angehörenden Nervenstämme
freigelegt, man sticht eine feine Hohlnadel in sie hinein und
injiziert in schräger, zentripetaler Richtung eine entsprechende
Flüssigkeitsmenge. Das Verfahren kann an einer zweiten, mehr
zentralwärts gelegenen Stelle wiederholt werden, vielfache Ein¬
spritzungen (Rogers) sind nicht empfehlenswert. „Es Avird ge¬
nügend sein, wenn man alle Nervenstämme, welche Zweige aus
dem Verletzungsgebiet beziehen, an einer einzigen Stelle gründ¬
lich mit Antitoxin aufbläht.“ Die lumbale Einspritzung wird wie
die Bi er sehe Anästhesie ausgeführt. Es fehlen Angaben über
die Zahl und Ausgänge der so behandelten Kranken. Die intra-
zerebrale Injektion, nach Anbohrung des Schädels, Avird entweder
intradural oder in die Seitenventrikel (Kocher) ausgeführt. Die
Resultate dieser Methode sind nicht aufmunternd, vielmehr traten
vorläufig nur die intraneuralen mit den spinalen Einspritzungen
in Wettbewerb. Verf. glaubt, daß man die intraneuralen Injektionen
als das zuverlässigste und ungefährlichste Mittel in allen Fällen
machen solle, in Avelchen die Erscheinungen rein örtlich auf¬
treten und zunächst örtlich bleiben. Verallgemeinert sich der
Prozeß (Trismus), so dürfte eine gleichzeitige spinale Einspritzung,
eventuell mehrmals Aviederholt, die größere Sicherheit bieten.
Fehlen örtliche Erscheinungen und ist die Eingangspforte un¬
sicher, so ist die spinale Injektion für sich oder mit (Avieder-
holten) subkutanen Einspritzungen angezeigt. — (Die Therapie
der Gegemvart, Februar 1907.) E. F.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
357
147. lieber die entzündlichen ps e n d one o p 1 a s ti¬
schen Tumoren des Abdomens. Von Le jars. Es gibt ab¬
dominale Tumoren, welche nach ihrem physikalischen Verhalten;
den klinischen Symplomen, sowie nach Verlauf und Lokalisation
Karzinom vortäuschen, aber in Wirklichkeit entzündlicher Natur
sind. In solchen Fällen gibt manchmal erst die histologische
Untersuchung Aufschluß über die wahre Natur der Erkrankung.
Diese entzündlichen Tumoren bieten namentlich dann diagno¬
stische Schwierigkeiten, wenn es sich nicht um Abszeßbildung,,
sondern um chronische, indurierte Phlegmonen handelt. Solche
Tumoren können in verschiedenen Regionen der Bauchhöhle auf-
treten. Hieher gehören die Fälle von chronischer Perigastritis,
welche vollständig maligne Tumoren vortäuschen können. Auch
entlang dem Uickdarm können sich solche entzündliche Tumoren
entwickeln und es ist die Kenntnis des Vorkoanmens zirkumskripter
chronischer Kojitis und Peiikolitis von Wichtigkeit, weil der
Nachweis eines solchen Tumors bei Personen in vorgerückterem
Lebensalter in Verbindung mit den begleitenden Verdauungs¬
störungen und Abmagerung an ein Dickdarmkarzinom denken läßt,
ln der rechten Darmbeingrube sind es gewisse Formen von chro¬
nischer Appendizitis, welche eine bösartige Neubildung vortäu¬
schen können. Bei diesen Formen wird klinisch wiederholtes
Auftreten von Darmokklusion beobachtet, die lokale Untersuchung
ergibt das Vorhandensein eines harten, höckerigen Tumors. Der
gleiche Befund bei einem Individuum im jüngeren Lebensalter
muß den Verdacht auf Tuberkulose erwecken. Es gibt auch Fälle
von chronischer Epiploitis und subhepatischer Peritonitis, welche
zu diagnostischen Irrtümern Veranlassung geben können. Be¬
sonderes Interesse beanspruchen .die großen entzündlichen Neo¬
plasmen der Gegend unterhalb des Nabels, sowie des Beckens,
welche, ihrem Wesen nach indurative Phlegmonen, das Bild eines
Darm- oder Bauchfellkarzinoms vortäuschen können. Es ist aber
auch zu berücksichtigen, daß sich chronische Phlegmonen mit
oder ohne Abszeßbildung auch in der Umgebung von Neoplasmen
entwickeln können. Von den entzündlichen Neoplasmen sind jene
mit zentraler Abszeßbildung der richtigen Diagnose eher zugäng¬
lich, weil gelegentliche Fieberbewegungen und konstante Schmer¬
zen auf das Vorhandensein einer Eiterang hinweisen. In gleichem
Sinne sprechen rasche Größenzunahme, Auftreten von Fluktuation
an einzelnen Stellen und Hyperleukozytose. Wichtig ist auch
plötzlicher Beginn der Erkrankung mit Fiebererscheinungen. Auch
bei den indurativen Phlegmonen ist der Nachweis vorangegangener
Fieberanfälle von größter diagnostischer Bedeutung, ferner rasches
Wachstum bei nicht ganz hochgradiger Kachexie. Die indurativen
Phlegmonen haben außerdem im Gegensatz zum Karzinom eine
Tendenz zur Rückbildung, doch soll man bei schwererer Ernäh¬
rungsstörung in solchen Fällen mit der Operation nicht zu lange
warten, da diese bei richtigem Vorgehen meist Heilung der ent¬
zündlichen Tumoren herbeiführt. — (Sem. med. 1906, Nr. 50.)
a. e.
*
148. Aus der H. phychiatrischen und Nervenklinik (Vor¬
stand: Hofrat Prof. Dr. J. Wagner v. Jauregg). Die soge¬
nannte ,, akute multiple Sklerose“ (Enzephalomye¬
litis periaxialis skier oticans). Von Dr. Otto Marburg,
Privatdozent für Neurologie. Die als akute oder subakute multiple
Sklerosen beschriebenen Fälle nehmen eine Sonderstellung ein.
Sie entfernen sich in gewisser Beziehung von dem gewohnten
Bilde der Myelitis und nähern sich dafür dem der multiplen
Sklerose. An Oer Hand der Literatur und dreier eigener Beob¬
achtungen äußert sich Marburg über Verbreitung und Ur¬
sachen, die pathologischen Befunde, Prognose und Therapie der
sogenannten akuten multiplen Sklerose, ausgezeichnet durch
eine rasche Progression des Prozesses und klinisch nahe
verwandt mit der multiplen Sklerose. Der pathologische
Prozeß erweist sich als ein diskontinuierlicher Markzerfall
mit relativer Intaktheit des Achsenzylinders und gleich¬
zeitiger oder folgender Wucherung der Gefäß- und (jliazellen
(analog wie bei der diskontinuierlichen oder periaxialen Neuritis).
Der pathologische Vorgang gehört in die Gruppe der degenerativen
Entzündungen. Er dürfte durch Toxine bedingt sein. Der End¬
ausgang ist der komplette Ersatz des zugrunde gegangenen Ge¬
webes durch ein kernarmes, fein fibrilläres Gliagewehe. Die
Prognose der Krankheit ist quoad sanalionem und quoad vitarn
ungünstig. Therapie symptomatisch. Genetisch sieht die Affektion
in der Reihe der degenerativen Myelitiden. Sie ist richtig ge¬
kennzeichnet durch den Namen Enzephalitis pej'iaxialis scleroli-
cans. — (Jahrbücher f. Psychiatrie u. Neurologie, Bd. 27, H. 3.) S.
*
149. (Ans dem Bürgerhospital zu Köln.) Zur radikalen
F r ü h r e s e k t i o n d e s tuberkulösen E 1 1 e n b o g e n g e 1 c n k e s
ü b e r h a u p t, sowie besonders i m kindlichen Alte r. Von
Prof. Bardenheuer. Im letzten Dezennium hatte Verf. bei
Gelenkstubcrkulose vorwiegend eine möglichst konservative, ex-
spektative Therapie geübt. Die wenig günstigen Erfolge, die er
hiebei erzielte, sowie die bei anderen Gelenken, besonders Hüft¬
gelenks tuberkulöse, erreichten günstigen Dauererfolge bei frühzeitig
geübter Resektion und die günstigen Berichte anderer Autoren
(v. Mosetig, Hildebrand u. a.) haben Bardenheuer all¬
mählich veranlaßt, die frühzeitige radikale Resektion des tuber¬
kulösen Ellenbogengelenkes als die aussichtsreichste Therapie zu
üben und zu empfehlen u. zw. auch für das^ kindliche yVlter. Die
konservative Therapie gibt keine sicheren, meist schlechtere funk¬
tionelle Resultate, weil die Tuberkulose doch meist nicht aus¬
heilt, sondern nur mehr oder weniger abgekapselt wird; cs tritt
oft fistulöse Ausheilung ein, die die Aussichten für spätere, even¬
tuell notwendige Operationen sehr trübt; eine weitere Gefahr
liegt in der Weiterentwicklung der Tuberkulose anderwärts und
in der Steigerung des örtlichen tuberkulösen Prozesses mit häufig
eintretender Versteifung und Wachstumsstörung. Letztere war
es vor allem, welche Verf. früher bei frühzeitiger Resektion
fürchtete. Nach eigenen Beobachtungen, sowie den Erfahrungen
anderer Autoren ist die Wachstumsstörung nach frühzeitiger Re¬
sektion (besonders des Ellenbogengelenkes) weitaus nicht so hoch
anzuschlagen wie die Gefahren der konservativen Therapie oder
der Spätoperation. Am Oberarm geht das Wachstum mehr vom
oberen Ende des Humerus und am Vorderarm mehr vom unteren
Radius- und Ulnaende aus; die Epiphysen am Ellenbogengelenk
sind nach des Verfassers Ueberzeugung am Wachstum sein- wenig
beteiligt. Und tritt wirklich eine Wachstumsstörung ein, so treten
die Folgen dieser für die Funktion weit zurück gegen die Un¬
sicherheit des Erfolges, welche eine Spätresektion mit ausge¬
dehnter Entfernung von kranken Knochen ergibt, bei der in der
Regel durch die vorher bestehende schwere Vereiterung eine
fiste 11 ose Heilung nicht erzielt wird, häufig aber ein Schlotter¬
gelenk und Rezidive die Folge ist. Gerade aber eine fistellose
Heilung schützt am meisten vor einem Rezidiv oder Schlotter¬
gelenk. Eine primäre, fistellose Ausheilung ist für Verf. der beste
Gradmesser für die Güte der Operationsmethode, sie erzielt fast
ausnahmslos eine gut stehende, feste Verbindung, oft selbst ein
normal artikulierendes Gelenk, wenn der Knochendefekt nicht
ein gar zu großer war. In diesen Erwägungen tritt B a r d e n h e u e r
für die frühzeitige, radikale Resektion des tuberkulösen Ellen¬
bogengelenkes ein. Unter radikaler Resektion versteht er die
komplette Entfernung von allem tuberkulösen Gewebe des
Gelenkes im Kindesalter, ohne Rücksichtnahme auf die Größe
des Knochendefektes, eventuell auch' auf die Epiphysenlinie, inso-
ferne Teile tuberkulös infiziert sind; unter frühzeitiger Re¬
sektion versteht er die Vornahme derselben sobald, wie die einige
Zeit — ein bis drei Monate — • fortgesetzte konservative Behand¬
lung keinen wesentlichen Erfolg, sondern im Gegenteil eine fort¬
schreitende Tendenz zeigt. Die konservative Therapie ist
höchstens in den besseren Ständen auch länger zu versuchen,
wo bei vorzüglichen hygienischen Verhältnissen manchmal nach
jahrelanger Behandlung ein Dauererfolg erzielt wird. Für die
Zeit des Zuwartens mit konservativer Methode empfiehlt der Autor
am ehesten die Bi ersehe Stauung. Barden heuer steht somit
nahe dem Standpunkte v. Mose tigs, nur daßi letzterer gleich
operiert, sobald die Diagnose auf Tuberkulose gestellt ist und
auch auf kurze konservative Therapie verzichtet. Als Operations¬
methode empfiehlt Bardenheuer die extrakapsuläre Re¬
sektion mit Quer- oder flachem Bogensclmitt, mit welcher die
reine Exstirpation der .Th'berkulose, ohne daß der Inhalt
des Gelenkes über die Wundfläche fließt und diese infiziert, am
leichtesten gelingt. Durch diese wird am ehesten icine fistellose
Ausheilung erreicht, Schlottergelcnk und Rezidive verhindert. Vor-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
606
fasser ;iibt gleichzeilig eine genaue 'Be^;chi'eibung seiner Reseküons-
jiiethüdc an. Im \'ei]auf(' .seinei' Aiisfübriingen legi <ler Autor
jiebe)ib(‘i auch seinen SiaiKipiinkl bei der H ü f Lg e 1 enk s 1 u b e r^
kiilü.se dar, als deren ricldigsle Therapie er gleichfalls die früh¬
zeilige r a d i k a 1 e, e x l r a k a p s 11 1 ä r e Resektion bezeichnet :
Sie ist ej'stens nicht gefähiiicb und gibt selbst bei Totalresektion
der ITanne gute funktionelle Resultate. Durch die frühzeitige
Optn'ation aber kann vor allein die Resektion auf den Femur¬
kopf bescliränkt werden, womit die Waebstumsslürung des Femurs
nacb Resektion der Hüfte umgangen wird, was niclit der Fall
ist liei der gleichzeitigen, sp.äteren Resektion der Trochanteren ;
zudem wird, wenn die ITannenresektion umgangen wiril, die
(Operation weniger eingreifend. — (Deutsche Zeitschrift für Cbir.
1906, Bd. 85. — Festschrift für v. Bergmann.) F. H.
4>
150. Lieber Dauererfolge mit Tuberkulinbeband-
lung. Von Sanitätsrat Dr. W. Rooniisch in Arosa. Verfasser
bringt nach neueilichen vierjährigen Erfahrungen eine volle Be¬
stätigung der Ausführungen in seiner im Jahre 1902 erfolgten
\'eröffentlichung über die unerwarteten Erfolge von Tuberkulin¬
kuren bei hartnäckig Erkrankten, die sich einer jeden anderen
Behandlung viele Monate hindurch als völlig unzugänglich er¬
wiesen hatten. Das namentliche Ergebnis ist: Es gibt eine
Kategorie von Lungentuherkulösen, die sich durch Beobachtung
und Untersuchung genau bestimmen läßt, bei der mit einer
Tuberkulinkur noch Erfolg zu erzielen ist, obwohl jede andere
Behandlungsart versagt hat. Es sind dies jene chronisch Kran¬
ken, die durch eine Luftruhekur alle Entzündungserscheinungen
in der Umgebung der Erkrankungsherde verloren haben, bei
denen aber doch ein oder mehrere tuberkulöise Herde zurück¬
geblieben sind, die keine Neigung zu weiterer Besserung zeigen
und die sowohl bei der physikalischen Untersuchung als auch
hei der Untersuchung des Auswurfes noch die deutlichsten Kraidv-
heitszeichen erkennen lassen. Es ist hieniit eine bestimmte In¬
dikation für die Tuberkulinkuren gegeben. Dieser Auswahl der
Fälle, dieser bestimmten Indikationsstellung, neben genau beob¬
achtendem Vorgehen in der Dosierung glaubt der Verfasser es zu
verdanken, daß er Mißerfolge bei diesen Kuren überhaupt nicht
erlebt hat. Daß man diese aber erleben ward, wenn man wieder
alle akuten Krankheitsfälle, wie von manchen empfohlen wird
und sogar boebfiebernde, sich noch ausbreitende Erkrankungs¬
formen Tuberkulinkuren unterzieht, dessen ist Verf. sicher. Tuber¬
kulinkuren sind nicht gefahrlos und eignen sich Jiicht für alle
Fälle. Bei akuten und besonders fiebernden Fällen erzielt man
mit der Ruhebehandhmg in guter Luft so ausgezeichnete Resul¬
tate, daß man das Tuberkulin nicht vermißt. Die Tuberkulin--
behandlung macht also die bisherige Behandlungsweise nicht un-
Jiölig, ist derselben auch keineswegs gleichwertig, erzielt man
doch in allen heilbaren und rechtzeitig zur Behandlung kom¬
menden Fällen volle Herstellung der Gesundheit. Dagegen ist
das Tuberkulin ein wertvolles Hilfsmittel, das in manchen Fällen
Gutes zu leisten imstande ist und mit dessen Hilfe es auch dem
Verfasser in einigen mitgeteilten Fällen gelang, den hartnäckigen,
bazillenhaltigen Auswmrf und die letzten Krankheitsreste noch zu
beseitigen, sowie wiederholt hartnäckige Temperaturerhöhungen
wieder zur Norm zu bringen. Dabei kann nach des ^Verfassers
Erfahrungen mit einem jeden Tuberkulinpräparat ein Erfolg er¬
zielt wmrden, doch gibt es individuelle Ausnahmen, um ein Prä¬
parat toxisch wirkt und den Wechsel mit einem anderen er¬
fordert. Spengler hat als erster auf diesehi Präparatwechsel
hingewiesen und verwendet ihn jetzt methodisch. Durch diesen
Präpai’atweclrsel hat auch ^'erf. oft da noch einen Erfolg erzielt,
wo er schon die Kur abbrechen wollte, weil störende toxische
Wirkungen mit der Anwendung des Tuberkulins sich verbanden.
^'erLauschte Verf. dann das Präparat, so z. B. das alle Koch sehe
Tuberkulin mit den Präparaten von Denys oder von Spengler,
so ließ sich die Kur mit vollein Erfolg zu Ende führen. Nach
der lleberzeugung des Verfassers ist \veniger die Wahl des Prä-
pa>ates, als die Siclierheit des Arztes in der Beherrschung der
für den betreffenden Fall noUvendigen individuellen Behand¬
lungsweise die Grundbedingung für den Erfolg der Tuberknliu-
bidiaiidbmg. — (Münchener nuajiz. Woclumschr. 1907, Nr. 8.)
G.
Vermisehte l^laehfichten.
Das am 15. d. M. abgehaltene hundertjährige Stiftungsfest
des Operateurinstitutes der Wiener medizinischen Fakultät vollzog
sich unter den würdigen und schönen Formen einer von echt ^
akademisch-kollegialem Geiste beseelten Veranstaltung, die allen
Teilnehmern eine bedeutsame Erinnerung fürs Leben hinterlassen
dürfte. Schon das war erhebend und erfreulich zugleich, daß
man aus diesem Anlasse es so vielfältig mitansehen und mit- ,
erleben konnte, wie da nach langer Trennung in herzlicher 'I
W^ärme manch Wiedersehen gefeiert und manch alte Freundschaft
erneuert wurde und wie pietätvoll die Stimmung wurde, als ini '■
Beruf ergraute Männer die Stätte wieder betraten, wo sie in )
jungen Jahren von bedeutenden Meistern Belehrung und Beispiel
empfingen. Der Vormittag vereinigte alle Gäste zunächst in der !
einen und hierauf in der Schwesterklinik. In wenigen Stunden
wurde hier dem großen Auditorium ein äußerst lehrreiches Bild
der modernen Chirurgie in Lehre und Praxis' vorgeführt. Wie-
viel Weisheit — so mußte man sich sagen — liegt doch in der \
baulichen Anlage dieses alten Krankenhauses, daß es den so
wechselnden Bedürfnissen der kommenden Zeiten immer wieder
angepaßt werden konnte, so daß die moderne Chirurgie hier nicht • \
nur in vollstem Maße ihren Einzug halten konnte, sondern ihr }
auch gerade von hier aus mit die bedeutendsten Anregungen zu- 3
flössen und noch jetzt zufließen. Am Abend wohnten die ehemaligen \
Zöglinge der Hauptversammlung der Gesellschaft der Aerzte bei. 1
Dem schloß sich ein Empfang in der Universität an, zu dem |
von den beiden Vorständen der chirurgischen Klinik die Ein- A
ladungen ausgegangen waren. Es war ein vortrefflicher Gedanke, 1
auch diese gesellige Veranstaltung auf akademischen Boden zu \
verlegen und so dem Feste von seinem ersten Anbeginn bis zum . j
fröhlichen Schluß seinen höheren Charakter zu wahren, der auch •;
denjenigen, die fernab von ihr wirken, das Gefühl der Zugehörig-
keit zur Alma mater lebendig erhielt. Dem Empfange wohnten j
hohe Staatswürdenträger, wie der Minister für Kultus und Unter- .«
rieht, der Landesverteidigungsminister, hohe Beamte der Mini- 'I
sterien, der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Eduard 4
Süß, der Rektor der Universität mit dem akademischen Senat, j
der Rektor der Technik, bei und an der Spitze des zahlreich i
vertretenen Offizierskorps der Militärärzte Generaloberstabsarzt ^
V. Uriel. In einem improvisierten Konventikel in kleinerem 1
Kreise und außerhalb der Universität kam noch nachträglich in 1'
ernsten und heiteren Reden die Befriedigung über den so harmo- )
nischen Ablauf des schönen Festes und der Dank für dessen Ij
Veranstalter in herzlichster Weise zum Ausdruck. \i
Von nachstehenden Herren sind anläßlich der Zentenarfeier des h
k. k. Operateur-Institutes telegraphische Glückwünsche eingelangt : Doktor
H. Dan sch er (Graz), Prim. Meyer (Trautenau), Prim. A. Fabritius
(Kronstadt), Dr. Kamillo Fürst (Graz), Doz. Lazarus (ßerhn), Doktor
M i 1 1 e n d 0 r f e r (W eis), Prim. K w i a 1 k 0 w s k i (Czernowitz), Professor
Kader (Krakau), Prim. Otto (Hermannstadt), Prof. R e c z ey (Budapest), ]
Prim. Preindls])erger (Sarajewo), Oberstabsarzt Gents chits ch ■
(Kragoujevatz), Prof. Narath (Heidelberg), Dr. Smital (Müglitz), (
Dr. Kladar Georgevitsch (Belgrad), Oberstabsarzt Dr. T r n k a
(Triest), Prim. Hairsy (Semmering), Oberstabsarzt Dietl (t^tceIliny),
Prof. Schmit (Linz), Dr. v. Fischer (Triest), Dr. Vogel (Klagenfurt),
Dr. St an gl (Langau), Prim. Sauer (Krems), Prof. v. Grosz (Budapest), I
Prof. Payr (Graz), Stabsarzt Okuniewsky (Pola), Oberstabsarzt ■
I\Iaurer (Temesvar), Dr. Lungstein (Teplitz-Schönau), Hofrat Röchelt
(Meran), Prof. C ec eher eil i (Parma), Prof. Chiari (Straßburg), Primär.
Smoley (Klagenfurt), Dr. Pawlicki (Czernowitz), Hofrat Rydygier
(Lemberg), Prim. Klotz (Steyr), Prim. E r 1 1 (Graz), Hofrat v. Vogl
(Wien), Prim. Obertb (Sebönburg), Prof. Bayer (Prag), Direktor
Dvorak (Pi’ag), Scbüssler (Schwechat), Hofrat Doll in ger (Budapest),
Prof. Riedin ger- (Brümi), Prim. Pontoni (Görz), Prim. v. Karajan
(Salzburg).
*
Ernannt: Prof. Hermann K ü 1 1 n e r an Stelle des in den
Ruhestand tretenden Geh. Medizinalrates Ernst Küster zum
Direktor der chirurgischen Universitätsklinik in Marburg. —
Dr. G. N u 1 1 a 1 1 zum Professor der Biologie in Cambridge.
*
Verliehen: Dem Privatdozenten für innere Medizin in
Breslau Dr. W. E r c k 1 e n t z das Prädikat Professor. — In
Königsberg: den Privatdozenten DDr. Braatz (Chirurgie), Weiß
(Physiologie) und E 1 1 i n g e r (Pharmakologie) der Professortitel.
*
Habilitiert: Priv.-Doz. Dr. Wilhelm Specht in Tü¬
bingen für Psychiatrie in München.
*
Gestorben: Der Privatdozent für Augenheilkunde
Dr. Adolf Gad in Kopenhagen. - Der Vorstand dei- bakterio-
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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logischen Abteilung des Listerinstituts in London, Allan Mac- !
f a d y e n. — Der Professor der Histologie Dr. M. Duval in
Paris. — F. Herrgott, ehern. Professor der Geburtshilfe in Nancy.
In der Sitzung des niederösterreichischen
Landessanitätsrates vom 11. März 1907 wurden folgende
Gutachten erstattet: 1. Ueber den Besetzungsvorschlag für eine
im Stande der landesfürstlichen Amtsärzte in Niederösterreich
erledigte Oberbezirksarztes-, Bezirksarztes- und Sanitätskonzipisten¬
stelle. 2. Ueber die Aenderung des Statuts und der Instruktion
für das ärztliche Personal eines öffentlichen Krankenhauses in
Niederösterreich. — 3. Ueber ein Ansuchen um Bewilligung zur
Errichtung eines Privaterziehungsinstituts für geistig zurück¬
gebliebene Kinder in Wien. — 4. Ueber ein Ansuchen um Kon-
zessionierung eines chirurgischen Sanatoriums in Wien.
*
Der 24. Kongreß für Innere Medizin findet vom
15. bis 18. April 1907 in Wiesbaden statt (Feier des
25jährigen Bestehens des Kongresses). Das Präsidium übernimmt
Geheimrat v. L e y d e n - Berlin. Folgendes Thema soll zur Ver¬
handlung kommen : Am ersten Sitzungstage : Montag den
15. April 1907 : Neuralgien und ihre Behandlung.
Referent : Schnitze- Bonn. V orträge haben bis jetzt an¬
gemeldet die Herren: v. B e r g m a n n - Berlin : 1. Stoffwechsel¬
versuche zur Frage der Schilddrüsentherapie bei Fettsucht;
2. Ueber das Auftreten von Antikörpern bei Phosphorvergiftung.
A. B i c k el - Berlin : Ueber therapeutische Beeinflussung der
Pankreassaftsekretion. Blum- Straßburg : Untersuchungen über
Alkaptonurie. B r u g s c h und Schittenhelm - Berlin : Zur
Stolfwechselpathologie der Gicht. Determann - Freiburg : Demon¬
stration eines einfachen, sofort gebrauchsfähigen Blutviskosi¬
meters. Dietz- Kissingen : Eine Neuerung an den pneumatischen
Kammern, welche es ermöglicht, in verdünnte Luft auszuatmen.
Engländer - Wien : Eine einfache Messung der Harntemperatur
und ihre physiologische und klinische Bedeutung. Fritz F a 1 k-
Graz : Ueber Adrenalinveränderungen an den Gefäßen und deren
experimentelle Beeinflussung. W. Falt a und A. Gigon-Wien:
Ueber Empfindlichkeit des Diabetikers gegen Eiweiß und Kohle¬
hydrat. F r a n z e - Bad Nauheim : Demonstration einer durch¬
sichtigen Zeichenebene für Orthodiagraphie. Siegmund G a r d-
Pistyan : Ueber ein bisher unbekanntes pathognomonisches
Symptom der Ischias. Gräupner - Bad Nauheim : 1. Ueber gesetz¬
mäßige Bildung von Blutdruckkurven bei dosierter Arbeitsleistung ;
2. Demonstration eines Ergometers für dosierte Arbeitsleistung
mit verschiedenen Muskelgruppen. Grober- Jena : Massen¬
verhältnisse des Herzens bei künstlicher Arterienstarre. Franz
G r ö d e 1 HI (Bad Nauheim) : Zur Topographie des Magens.
H. Gutzmann- Berlin : Zur Behandlung der Aphasie. C. Hirsch-
Leipzig und W. Spalteholz - Leipzig : Koronarkreislauf und
Herzmuskel, anatomische und experimentelle Untersuchungen.
Honigmann - Wiesbaden : Ueber Kriegsneurosen. H u i s m a n s-
Köln : Zur Nosologie und pathologischen Anatomie der Tay-
Sachs sehen familiären amaurotischen Idiotie, v. J a k s c h - Prag :
Ueber chronische Mangantoxikosen. G. K 1 e m p e r e r - Berlin :
I. Zur Lehre von der Verfettung ; 2. Zur Behandlung des akuten
Gelenksrheumatismus. Kohnst amm- Königstein : Die Behandlung
der Verstopfung mit fleischloser Ernährung. F. Kraus und
H. F ri e d e n t h a 1 - Berlin : Zur Physiologie der Organe mit
innerer Sekretion. Paul Krause- Breslau : Zur Röntgen- und
Injektionstherapie bei Trigeminusneuralgie und Ischias. Ernst
Kuhn- Berlin : 1. Ueber Hyperämiebehandlung der Lungen
mittels der Lungensaugmaske ; 2. Demonstration zum gleichen
Thema. Karl L e w i n - Berlin : Ein transplantables Rattenkarzinom
mit Demonstrationen. Felix Lommel-Jena: Die Verwertung
parenteral eingeführten Eiweißes im Tierkörper. Magnus-Als-
leben-Jena: Ueber relative Insuffizienzen der Herzklappen.
Ed. Müller- Breslau : Das proteolytische Leukozytenferment und
sein Antiferment. Ed. Müller- Breslau und Jochmann - Berlin :
Demonstration einer einfachen Methode zum Nachweise proteo¬
lytischer Fermentwirkungen. Ortner-Wien: Zur Klinik der
Herzarythmie, Bradykardie und des Stokes-Adams sehen
Symptomenkomplexes. Pel- Amsterdam : 1. Paroxysmale Hämo¬
globinurie und Hyperglobulose. 2. Myasthenia pseudoparalytica
und Hyperleukozytose. R a t n e r - Wiesbaden : Untersuchungen
zur pathologischen Anatomie der Paralysen. R i c h a r t z - Frank¬
furt a. M. : Zur Frage des diagnostischen Wertes des Urobulin-
befundes. Rimbach- Berlin : Die Massage bei den Erkrankungen
des Blinddarmes und Wurmfortsatzes. S c h 1 a y e r - Tübingen :
Experimentelle Untersuchungen über nephritisches Oedem.
S c h 1 ö s s e r - München : Erfahrungen über medikamentöse In¬
jektionen bei Neuralgien. Schloss- Wiesbaden : Experimentelle
Untersuchungen über den Einfluß vegetabilischer Nahrung auf die
Dauer und Intensität der Magensaftsekretion. Staehelin-
Göttingen: Zum Energiehaushalte bei der Lungentuberkulose.
S t e r n b e r g - Wien : Dynamometrische Studien. Strassburger-
Bonn : Ueber den Einfluß der Aortenelastizität auf das Verhältnis
zwischen Blutdruck und Schlagvolumen des Herzens. Treupel-
Frankfurt a. M. : Der gegenwärtige Stand der Lehre von der
Perkussion des Herzens. W a c h e n f e 1 d - Bad Nauheim: Einiges
über den Mechanismus der Zirkulationsorgane. Winternitz
und V. M e r i n g - Halle : Ueber den Einfluß verschiedener Sub¬
stanzen auf die durch Ueberhitzung veranlaßte Temperatur¬
steigerung. Ziegler- Breslau : Ueber die experimentelle Er¬
zeugung und das Wesen der Leukämie. — Anmeldungen von
Vorträgen sind zu richten an Geheimrat Dr. Emil Pfeiffer,
Wiesbaden, Parkstraße 13. — Mit dem Kongresse ist eine Aus¬
stellung von Präparaten, Apparaten und Instrumenten, soweit sie
für die innere Medizin von Interesse sind, verbunden. An¬
meldungen zur Ausstellung sind zu richten an Herrn Geheimrat
Dr. Emil Pfeiffer, Wiesbaden, Parkstraße 13.
*
Verband ärztlicher Heilanstaltsbesitzer
und -Leiter in Steiermark. Die ärztlichen Heilanstalts¬
besitzer und -Leiter in Steiermark haben, als erste in Oesterreich,
einen Verband ins Leben gerufen, der neben der Förderung
wirtschaftlicher Interessen auch einen kollegialen Zusammenschluß
in anderen Fragen bezweckt. In der am 6. Februar stattgefundenen
konstituierenden Versammlung wurden in den Vorstand gewählt:
Dr. Stiehl (Maria-Grün) als Obmann, Dr. v. S c a r p a t e 1 1 i
Krottendorf), Dr. Feiler (Judendorf-Straßengel), Dr. W i e s 1 e r
(Graz), Dr. Mi glitz (Lassnitz). Durch die Fülle gemeinsamer
Interessen ist dem Verbände ein weites Arbeitsfeld offen. Vielleicht
regt diese Neugründung auch in anderen Kronländern den
engeren Zusammenschluß dieser wichtigen ärztlichen Fachgruppe
und in weiterer Zukunft auch die Organisation sämtlicher öster¬
reichischen Heilanstaltsbesitzer und -Leiter an.
♦
Der XHI. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für Gynäkologie findet in diesem Jahre vom 21. bis 25. Mai
in Dresden statt. Die Sitzungen werden vormittags von 8 Uhr
bis I2V2 und nachmittags von 2 bis 4 Uhr in der Aula der
Kgl. Technischen Hochschule abgehalten, die Demonstrationen
am Donnerstag vormittags in der neuen Kgl. Frauenklinik, woran
sich die Besichtigung derselben schließen wird. Als Gegenstände
der Verhandlung waren bestimmt: 1. Indikation, Technik und
Erfolge der beckenerweiternden Operationen. 2. Die Asepsis bei
gynäkologischen Operationen. Kranke, welche von Mitgliedern
der Gesellschaft vorgestellt werden sollen, können in der Kgl. Frauen¬
klinik nach vorheriger Anmeldung Aufnahme finden. Gleichzeitig
wird am Dienstag den 21. Mai nachmittags 4 Uhr die ,, Vereinigung
zur Förderung des Hebammenwesens“ eine Sitzung abhalten, für
welche regste Teilnahme erwünscht ist. Da wegen der gleich¬
zeitigen Tagung anderer wissenschaftlicher Gesellschaften und
wegen allgemeinen Fremdenandranges Dresden in der Pfingst-
woche sehr stark besucht ist, so werden die Mitglieder und Teil¬
nehmer des Kongresses hiemit dringend ersucht, sich Wohnungen
in den Hotels rechtzeitig bestellen zu wollen. Eine große Zahl
von Hotels, sowie die Kgl. Technische Hochschule liegen in un¬
mittelbarer Nähe des Hauptbahnhofes. Auskunft wird gern Herr
Dr. W e i n d 1 e r, Sidonienstraße 14, I., erteilen.
♦
Erlaß des k. k. Ministeriums des Innern vom 26. Fe¬
bruar 1907, Z. 6341, an alle politischen Landesbehörden, b e-
treffend die Einleitung von Erhebungen ü bei¬
den Stand der Hausapotheken. Infolge der Bestim¬
mungen der §§ 31, 32 und 33 des Gesetzes vom 18. Dezember
1906, R.-G.-Bl. Nr. 5 ex 1907, betreffend die Regelung des Apo¬
thekenwesens, ist eine neue Regelung des Betriebes der ärztlichen
Hausapotheken sowie der Einrichtung und Verwendung der
pharmazeutischen Notapparate notwendig. Die k. k .
wird eingeladen, in dieser Angelegenheit die gutächtliche Aeußerung
der Aerztekammer (Aerztekammern) einzuholen und nach An¬
hörung des Landessanitätsrates geeignete Vorschläge für eine
zeitgemäße Revision der Vorschriften der Ministerialverordnung
vom 26. Dezember 1882, R.-G.-Bl. Nr. 182, betreffend die Haus¬
apotheken und Notapparate der Aerzte und Wundärzte, bis
längstens Ende April 1. J. zu erstatten. Zum Zwecke der Orien¬
tierung über den gegenwärtigen Stand der ärztlichen Haus¬
apotheken ist dem Berichte ein nach politischen Bezirken zusammen¬
gestelltes Verzeichnis der ärztlichen Hausapotheken unter An¬
führung des Standortes, des Namens des Arztes, des Datums der
behördlichen Bewilligung und der Entfernungen der nächsten
WIEJNER KLIWISGHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
36».-
öffentlichen Apotheken vom Standorte der Hausapotheke beizu¬
schließen. Im Interesse einer gleichartigen Handhabung der dies¬
bezüglichen Bestimmungen des Apothekengesetzes wird der
k. k . zur Darnachachtung nachstehendes eröffnet: Nach
§ 61 des Apothekengesetzes bleiben die auf Grund früherer Vor¬
schriften erworbenen Rechte zum Betriebe von Apotheken für
eigene oder Hemde Rechnung aufrecht. Dieser Schutz der bereits
erworbenen Rechte erstreckt sich daher auch auf die bereits
vor dem Inkrafttreten des neuen Apothekengesetzes zu Recht
bestehenden Hausapotheken der Aerzte im allgemeinen und der
Hausapotheken der homöopathischen Aerzte insbesondere. Die
im rechtmäßigen Besitze einer ärztlichen Hausapotheke bereits
befindlichen Aerzte und Wundärzte sind daher nicht gehalten, um
eine neue Bewilligung im Sinne des § 29 des Apothekengesetzes
einzuschreiten. Dasselbe gilt auch bezüglich jener Aerzte, welche
schon bisher bei der Behandlung ihrer Kranken sich der homöo¬
pathischen Heilmethode bedienen und im Sinne des Hofkanzlei¬
dekretes vom 9. Dezember 1846, P.-G. S. 74, Bd. Nr. 130, eine
homöopathische Hausapotheke führten. Um so mehr ergibt sich
die Notwendigkeit der genauen Evidenz dieser schon jetzt be¬
stehenden Berechtigungen, für welchen daher in entsprechender
Weise vorzusorgen ist. Bei der Errichtung neuer derartiger Haus¬
apotheken haben selbstverständlich die Bestimmungen der §§ 29
und 31 des Apothekengesetzes voll zur Anwendung zu kommen.
*
' 0 p u s c u 1 a s e 1 e c t a N e e r 1 a n d i c o r u m de arte
medic a. Verlag von F. v. Rossen, Amsterdam 1907. Im
Jauuar vor 50 Jahren waj’ die 'ei-ste Nummer der „N e d e r 1 a n d s c h
Tijdschrift voor Geneeskunde“ erschienen. Zur Feier
dieses Jubiläums hat ein Komitee beschlossen, eine Reihe von
Dokumenten zu reproduzieren, die von alten Meistern der nieder¬
ländischen Medizin herrühren und welche gleichzeitig vor Augen
führen, welchen Einfluß holländische Aerzte auf die Entwicklung
der Medizin ausgeübt haben. An erster Stelle finden wir einen
Aufsatz von Erasmus (1467 bis 1536): Declamatio Erasmi
Rotersdami in laudem artis medicae (auch in englischer Ueber-
setzung). Ferner: Boerhaave (1668 bis 1738): De usu ratio -
cinii mechanici in medicina; Gau bins (1705 bis 1780): Oratio
inauguraliis, qua ostenditur chemiam artibus academicis jure esse
insercndam; Donders (1818 bis 1889): Die Harmonie des
tierischen Lebens, die Offenbarung von Gesetzen. Atißer diesen
vier Meistern sind noch zwei berühmte Holländer zum Worte
gekommen: Leeuwenhoek (1632 bis 1723), welcher unab¬
hängig von Malpighi, dem Entdecker der Kapillaren (1661),
den Zusammenhang von arteriellem und venösem Kreislauf fest¬
stellte, mit seiner Abhandlung: The tme circulation of the Blood
and also that the Arteries and Veins are continued Bloodvessels,
clearly set forth; ferner Jan Swammerdam (1637 bis 1680),
der schon seinerzeit berühmte Experimentator, mit dem Aufsatz:
Versuche, die besondere Bewegung der Fleischstränge am Frosche
bei reff end, die überhaupt auf alle Bewegung der Fleischstränge
am Menschen und Tiere kann gedeutet werden.
♦
Von Räubers Lehrbuch der Anatomie des
Menschen, neu bearbeitet und in siebenter Auflage von
Dr. Fr. Kopsch herausgegeben, ist die dritte Abteilung,
enthaltend Muskeln und Gefäße, im Verlag von G. Thieme in
Leipzig erschienen. Preis M. 14. Auch die vorliegende Abteilung
verdient die Anerkennung, welche die beiden ersten Teile in der
Besprechung (s. S. 194 dieses Jahrgangs) erfahren haben.
*
Vorläufiges Ergebnis der Sanitätsstatistik bei
der Mannschaf t des k. und k. Heeres im Dezember 1906.
Krankenzugang 16.924 Mann, entsprechend 64Voo der durch¬
schnittlichen Kopfstärke; an Heilanstalten abgegeben 6855 Mann,
entsprechend 25Voo der durchschnittlichen Kopfstärke; Todes¬
fälle 29 Mann, entsprechend 011%o der durchschnittlichen Kopf¬
stärke.
*
Aus dem S a n i tä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
f’rweiterten Gemeindegebiet. 9. Jahres woche ( vom 24. Februar bis
2. März 1907). Lebend geboren, ehelich 667, unehelich 303, zu¬
sammen 970. Tot geboren ehelich 56, unehelich 33, zusammen 89.
Gesamtzahl der Todesfälle 768 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 204 Todesfälle), an Bauchtyphus 1,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 14, Scharlach 4, Keuchhusten 4,
Diphtherie und Krupp 9, Influenza 2, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 6*
Lungentuherkulose 115, bösartige Neubildungen 35, Wochenbett¬
fieber 6. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 43 (-f 10), Wochen-
betlfieber 2 ( — 3), Blattern 0 (0), Varizellen 56 ( — 19), Masern 386
( — 33), Scharlach 91 {—), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 6 ( — 2)
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 85 (-f 5), Keuch¬
husten 50 (4- 7), Trachom 1 ( — 1), Influenza 0 ( — 2).
Prele Stellen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Kr ukanitz
(politischer Bezirk Mies, Böhmen), umlassend acht politische Gemeinden
mit 2411 Einwohnern und einem Flächeninhalte von 71‘37 km*. Jahres¬
gehalt K 800 — , jährliches Reisepauschale K 285‘48. Diesem Saniläts-
distrikte sind auch die Ortschaften Skupsch, Neschowa, Malkowitz und
Nitschowa mit einem Flächeninhalte von 7 km* und 443 Einwohnern aus
dem Wcserilzer Sanilätsdistrikte zugeteilt, wofür ein jährlicher Gehalt pro
K 76 06 und ein jährliches Reisepauschale pro K 28'— aus dem Bezirks¬
fonds zur Auszahlung gelangen. Der Sitz des Distriktsarztes befindet sich
in Krukanitz. Bewerber um diese Stelle müssen die im §5 des Landesgesetzes
vom 23. Februar 1888 angeführte Eignung besitzen und obliegt dem
Distriktsarzte die Verpflichtung zur Führung einer Hausapotheke. Gesuche
sind bis 30. März 1907 beim Bezirksausschüsse Tuschkau einzu¬
bringen. Das Prämonstratenserslift Tepl vergibt au den Bewerber obiger
Stelle mit katholischer Konfession die Domänenarztesstelle in Krukanitz
mit nachstehenden Emolumenten: Für ärztliche Behandlung der bei der
Domäne Bediensteten K 400' — , Medikamentenpauschale K 60’ — ,20 Raum¬
meter Scheitholz, freie Wohnung, ein Gemüs^gärtchen und Stallung für
ein Pferd.
Gemeindearztesstelle in der Gemeinde Tolmein
(Küstenland) mit einem Jahresgehalte von K 2000'— . Gesuche bis
31. März 1907 an die Gemeindevorstehung Tolmein, woselbst auch
nähere Auskünfte über die Dienstesbedingungen erteilt werden.
Zwei Distriktsarztesstellen in Krain: 1. In G r o ß-
1 u p p (Gerichtsbezirk Laibach) und 2. in T r a t a (Gerichtsbezirk Bischof¬
lack) mit dem Jahresgehalte von je K 1600' — und einer Aktivitätszulage
von K 200‘ — . Dem Arzte in Großlupp ist außerdem von der Sanitäts¬
distriktsvertretung eine entsprechende Subvention in Aussicht gestellt. Be¬
werber um diese Stellen haben ihre Gesuche bis 1. April 1907 an den
Landesausschuß in Laibach einzusenden und in denselben das Alter, die
Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis, die österreichische
Staatsbürgerschaft, physische Eignung, moralische Unbescholtenheit, bis¬
herige Verwendung und Kenntnis der slowenischen und deutschen Sprache
nachzuweisen. Beigefügt wird, daß nur solche Bewerber berücksichtigt
werden, welche eine zweijährige Spitalspraxis nachzuweisen in der
Lage sind.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeindengruppe
Jagenbach (politischer Bezirk Zwettl, Niederösterreich), umfassend
die Gemeinden Jagenbach, Rieggers, Dorf Rosenau und Schloß Rosennu,
Flächenraum 40 km*, Einwohnerzahl 1942, Gemeindebeiträge K 400' — ,
bisherige Subvention aus dem Landesfonds K 800' — , freie Wohnung;
Haltung einer Hausapotheke erforderlich. Das an den niederösterreichi¬
schen Landesausschuß zu richtende, mit den Nachweisen der österreichi¬
schen Staatsbürgerschaft, der Praxisherechtigung in Oesterreich, der physi¬
schen Eignung und sittlichen Unbescholtenheit belegte Gesuch ist bis
längstens 15. April 1907 an den Bürgermeister in Jagenbach als Obmann
der Sanitätsgruppe einzusenden.
Gemeindearztesstelle inWeilbach (Bezirkshauptmann¬
schaft Ried, Oberösterreich), ist mit 1. Juli 1907 zu besetzen. Die Sanitäts¬
gemeinde besteht aus vier Ortsgemeinden mit einer Einwohnerzahl von
3194 Personen und bezieht der Gemeindearzt eine jährliche Subvention
von K 800' — . Die Wahl des Wohnsitzes innerhalb des Sprengels der
Sanitätsgemeinde ist dem Ermessen des Bewerbers überlassen, Gesuche
sind bis 1. Juni 1907 an die Gemeindevorstehung Weilbach zu richten.
Sanitäts konzipistensteile der X. Rangsklasse im Bereiche
der politischen Verwaltung Dalmatiens ist zu besetzen. Bewerber um
diese Stellen haben ihre Gesuche durch ihre politische Bezirksbehörde
oder, wenn sie bereits in einer öffentlichen Anstellung stehen, durch
ihre Vorgesetzte Behörde binnen vier Wochen nach der ersten Einschal¬
tung dieser Konkursausschreibung in der »Wiener Zeitung« bei dem
Statthaltereipräsidium in Zara einzubringen und mit folgenden Doku¬
menten zu belegen: 1. Geburtsschein, 2. Diplom über die Erlangung des
Doktorgrades der gesamten Heilkunde, 3. Nachweis über die mit Erfolg
abgelegte zur Erlangung einer bleibenden Anstellung im öffentlichen
Sanitätsdienste bei den politischen Behörden im Sinne der Ministerial-
verordnung vom 21. März 1873, R -G.-Bl. Nr. 37, erforderliche Prüfung,
4. Nachweis über die bisherige Verwendung und über die Sprachkennt-
nisse. Zara, am 7. März 1907. Vom Präsidium der k. k. dalmatinischen
Statthalterei.
Bei der k. k. Seeverwallung ist die Stelle eines Seesanitäts¬
arztes mit den Bezügen der IX. Rangsklasse der Staatsbeamten zu
besetzen. Bewerber um diese Stellen haben innerhalb vier Wochen vom
Tage der ersten Einschaltung ins Amtsblatt ihre gehörig dokumentierten
Gesuche an die k, k. Seebehörde in Triest gelangen zu lassen und
folgendes nachzuweisen: 1. die österreichische Staatsbürgerschaft, 2. den
auf einer inländischen Universität erlangten Grad eines Doktors der
gesamten Heilkunde, 3. die auf Grund der Ministerialverordnung vom
M. März 1873, R.-G.-Bl. Nr. 37, mit Erfolg abgelegte Physikaisprüfung,
4. die vollkommene Kenntnis der Landessprachen in Wort und Schrift,
5. das Normalalter und 6. die durch ein staatsärztliches Zeugnis be¬
stätigte körperliche Eignung für den Dienst, welcher sich auch auf Unter¬
suchen an Bord von Seeschiffen erstreckt. Ferner haben die Bewerber
noch den Nachweis einer gründlichen theoretischen und in einem
Krankenhause erlangten praktischen Ausbildung als Arzt zu liefern. Be¬
vorzugt werden jene Bewerber, welche außerdem auch eine längere
praktische Verwendung in einem bakteriologischen Universilätsinstitute
nachzuweisen und wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiete der
Hygiene vorzulegen in der Lage sind. Von der k. k. Seebehörde Triest,
am 1. März 1907.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
361
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offlzielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Feierliche Jahressitzung vom 15. März 1907.
■
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 21. Februar 1907.
Wiener Dermatologische Gesellschaft. Sitzung vom 6. Februar 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Feierliche Jahressitzung vom 15. März 1907.
Vorsitzender: R. Chrobak.
Schriftführer : Richard Paltauf.
Präsident Hofrat Chrobak: Nach den Bestimmungen
unseres Statuts soll der Gründungstag unserer Gesellschaft, einer
der größten und ältesten der Welt — jährt sich doch heute ihre
Gründung zum 70. Male — zu einer entsprechenden Feier ge¬
staltet werden, nach Verlesung des Berichtes über die Leistungen
und Erlebnisse derselben.
Demgemäß wurde seit jeher an diesem Tage immer nur ein
der Feier des Tages angemessener Vortrag gehalten.
In diesem Jahre drängen sich aber geradezu zwei
Ereignisse heran, deren wir in festlicher Weise Erwähnung
tun müssen und weil speziell das eine dieser einen
Markstein bildet in der Entwicklung jenes Gebietes der
Medizin, welches in den letzten Dezennien führend geworden ist
und weil dasselbe auch für die Förderung unserer Sanitäts¬
pflege von entscheidender Bedeutung geworden ist, hat sich
die k. k. Gesellschaft der Aerzte erlaubt, eine Reihe von hieran
beteiligten Faktoren zu unserer heutigen Sitzung einzuladen.
Infolgedessen erwächst mir die schmeichelhafte Pflicht zu
begrüßen in erster Linie unser allverehrtes Ehrenmitglied, den
Präsidenten der Akademie der Wissenschaften Eduard Sueß,
ferner die Herren Sektionschefs Exzellenz Baron Hein und
Dr. L. C w i k 1 i n s k i, Herrn Generaloberstabsarzt Dr. v. Uriel,
die Herren Hof- und Ministerialräte Dr. v. Kelle, Dr. D aimer,
Dr. Illing, die Herren Generalstabsärzte K r a t s c h m e r,
N u s k o, Herrn Statthaltereirat Netolitzky und die vielen
Kollegen von nah und fern, welche der heutige Tag hieher ge¬
führt hat.
Wenn ich nun die beiden heute zu feiernden Ereignisse
nennen soll, so ist dies erstens die vor genau 100 Jahren durch den
großen Chirurgen Vinzenz v. Kern vollzogene Gründung des
chirurgischen Operateürinstituts, welches eine spezifisch
österreichische Institution darstellte, der Pflanzstätte
einer langen Reihe, ja fast aller österreichischen hervorragenden
Chirurgen und akademischen Lehrer dieses Faches, einer nach
vielen Hunderten zählenden Reihe von tüchtigen, wissenschaftlich
hochgebildeten Operateuren, welche sich seit damals über alle
Teile unseres Vaterlandes ausbreiteten und dieselben in aus¬
gezeichneter Weise mit Chirurgen versorgten. Kaum gibt es
irgendwo ein halbwegs größeres Krankenhaus, an welchem nicht
ein aus dieser Schule hervorgegangener Chirurg wirkte.
Es mag immerhin auffallend erscheinen, daß gerade die
k. k. Gesellschaft der Aerzte Anlaß zu dieser Feier nimmt.
Es begründet sich das dadurch, daß diese Gesellschaft seit
ihrem Beginn in innigem Konnex mit der Fakultät und mit
der Entwicklung der Medizin steht, daß die überwiegende Mehr¬
zahl der wissenschaftlichen Arbeiten in dieser Gesellschaft und
durch dieselbe mitgeteilt wurde und daß diese bis heute, ich
möchte sagen, das Glashaus bildet, in welchem unsere reichen
jungen Talente heranwachsen, in welchem sie die Rede, in
welchem die älteren die jungen Kräfte kennen lernen. Seit jeher
ist es der Stolz unserer Gesellschaft gewesen, der
allzuweit gehenden Spezialisierung und Zersplitterung entgegen¬
tretend, den Vereinigungspunkt der verschiedenen Arbeiter zu
bilden, den Blick auf das Ganze richtend. In dem vorzulegenden
Jahresberichte werden Sie den Beweis hiefür finden.
Ich will es aber hier lobend und dankend hervorheben, daß
die Chirurgie, ich möchte sagen, das Hauptfach unserer Gesell¬
schaft geworden ist und daß demgemäß die chirurgischen Demon¬
strationen den größten Anziehungspunkt unserer Gesellschafts¬
verhandlungen bilden.
Aber noch ein zweiter Grund der Festesstimmung. In den
nächsten Tagen feiert ein Heros seinen 80. Geburtstag. Bedarf es
der Erwähnung, daß Lord L i s t e r derjenige ist, dem es gelang,
die reichen Erfolge an unsere Fahnen zu fesseln, der durch die
praktische Abwehr jener kleinsten Lebewesen, welche in der vor¬
aseptischen Zeit die technisch vollendeteste Leistung des Chirurgen
so oft zunichte machten, zu einem der größten Wohltäter der
Menschheit geworden ist.
Herr Prof. Alex. F r a e n k e 1 hat es übernommen, uns einen
Blick in diese 100 Jahre der chirurgischen Entwicklung werfen
zu lassen, die ungeheueren, kaum glaublichen Fortschritte zu
übersehen, welche die Chirurgie auf ihre heutige lichte Höhe
gebracht haben.
Prof. Dr. 0. Bergmeister : Hochansehnliche Versamm¬
lung ! Ich erlaube mir, Ihnen den Bericht über die Leistungen
der Gesellschaft im abgelaufenen 70. Vereinsjahre vorzulegen
und Sie einzuladen, mit mir einen kurzen, flüchtigen Rückblick
auf die wissenschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft, sowie auf
die Vorkommmsise in diesem Jahre, zu werfen.
Was den Personalstand betrifft, so zählte die Gesellschaft am
Schlüsse des Vorjahres 673 ordentliche Mitglieder; hiezu kamen
durch Neuwahl 31, während 13 mit Tod abgingen, 9 nach § 5
der Statuten in den Stand der auswärtigen ordentlichen Mitglieder
über- und 4 definitiv auistraten.
Der Stand der ordentlichen Mitglieder beziffert sich sohin
heute auf 678; der der außerordentlichen Mitglieder auf 24; der
der Ehreninitglieder auf 76 und der der korrespondierenden Mit¬
glieder auf 145.
Durch den Tod wurden der Gesellschaft entrissen folgende
ordentliche Mitglieder:
Dr. Gustav Puchberger, am 29. Mai 1906;
Dr. Leo Job. Prochnik, k. u. k. Konsul in Djeddah, im
Mai 1906 ;
Hofrat Prof. Dr. Isidor v. Neumann, am 31. August 1906;
Prof. Dr. Wilhelm Czermak, am 8. September 1906;
Hofrat Prof. Dr. Josef Weinl ech ne r, am 30. Sep¬
tember 1906;
Kais. Rat Dr. Moritz Modry, am 1. Oktober 1906;
Priv.-Doz. Dr. illfred Murmann, am 3. Oktober 1906;
Hofrat Dr. Ludwig Ritter v. Karajan, am 20. No¬
vember 1906 ;
Primararzt Dr. Balth. Unterholzner, am 6. Januar 1907;
Hofrat Dr. Franz Hektor Ritter v. Arneth, am
18. Januar 1907 ;
Dr. Eduarcl Fischer, am '9. Februai' 1907;
Reg. -Rat Dr. Adalbert Tilkowsky, am 22. Februar 1907;
Primararzt Dr. Alexander Ritter v. Weis may r, am
10. März 1907;
d as auswärtige ordentliche Mitglied:
Dr. Josef Ullrich, k. u. k. Generalstabsarzt i. R., am
19. Oktober 1906;
ferner die Ehrenmitglieder:
Prof. Dr. M. Brouardel in Paris, am 23. Juni 1906;
Exzellenz Dr. Wilhelm Ritter v. H artel in Wien, am
14. Januar 1907 ;
und die korrespondierenden Mitglieder:
Dr. J. H. Scheiber, emerit. Professor in Budapest, am
6. Mai 1906;
Dr. Franz Roser, ehenial. Reichratsabgeordneter m
Braunau, am 11. August 1906;
Prof. Dr. Salvatore Torna sei li, Direktor der medizinischen
Klinik in Catania, am 30. iVugust 1906;
Hofrat Prof. Dr. Oswald Vierordtin Heidelberg, am 2. Sep¬
tember 1906;
Geh. Med.-Bat Prof. Dr. Hermann Cohn in Breslau, am
11. September 1906;
Dr. Ch. F. Taylor in New -York, am 18. September 1906.
Friede ihrer Asche, Ehre ihrem Andenken!
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Eine Reihe von Mitgliedern wurde im Laufe des Jahres
im Namen der Gesellschaft beglückwünscht, so vor allem unsere
Ehrenmitglieder Prof. Dr. Sueß zum 75. und Exzellenz
Geh. -Rat Prof. v. Rergmann zu seinem 70., ferner Hofrat
Prof. Sigmund E x n e r zu seinem 60. und Hofrat Prof. Dr. Leopold
V. Sc hr öfter zu seinem 70. Geburtstage; Hofrat Prof. Ptudolf
Chrobak zu seinem 40jährigen und Hofrat Prof. W. Wiiiter-
nitz zu seinem 50jährigen Doktorjubilä.ujm.
Bei der am 30. Septemher vorigen Jahres stattgcfundeneii
Enthüllung des S e m m e 1 w e i s - H e n k m a 1 e s in Budapest sprach
unser Präsident im Namen der Gesellschaft.
Zur Erledigung geschäftlicher Angelegenheiten fanden drei,
administrative Sitzungen statt. In einer derselben wurden gxjwisse
Adaptierungen, sowie verschiedene Renovderungen im Hause be¬
schlossen (so die Herriclitung des früher verschütteten Souterrains
im Hintergebäude, zur Aufnahme eines Teiles der Bibliothek,
die Tieferlegung der Höfe auf das Niveau der Nachharhöfe,
Pflasterung der Hauseinfalirt, Alaler- und Anstreicherarbeiten und
die Herstellung eines Linoleumbelages im großen Bibliotheks¬
saale), Arbeiten, die während des Sommers in hefriedigeuder
Weise fertiggestellt wurden. Die Verbesserunig; der Akustik des
großen Sitzungssaales ist im Zuge. Heber Ersuchen der Redaktion
von „Oesterreichs Illustrierter Zeitung“ wurde eine photographi¬
sche Aufnahme sowohl des leeren Sitzungssaales, als auch eines
Versammhmgsahends für eine Spezialnummer des genannten
Blattes gemacht, in Welcher der Anteil der Wiener Schule an
der Entwicklung der modernen IMedizin zur Darstellung gelangen
sollte.
Was die Leistungen der Gesellschaft auf Avissenschaftlichem
Gebiete betrifft, so fanden 30 Sitzungen statt, in denen 125
Demonstrationen und 27 Vorträge abgehalteu und 5 Mitteilungen
gemacht wurden.
Vorträge hielten ab: Bartel und v. Pirquet je 2;
Neub urger, Silbermark, S toe r k, Pauli - F r ö hl i ch, M o s z-
koAvicz, Kürt, R. Kraus, Erd heim, Wertheim, Urban-
tsc h i ts c h, Schu r-Z a ck, R u m, L o ewi, S tern, W a h e AI i nas-
sian, C. Reitter, Engländer, Doerr, Semeleder, Hof-
bauer^ Jehle, Redlich und L. Freund je 1.
D e m o n Is t r a t i o h e n hielten ab : Riehl und E h r m a n n
je 6, 0. V. Frilsch 5, Hochenegg, v. Eiseisberg, v. Ha¬
be r e r, Hans L o r e n z, Clair m o n t, S c h n i t z 1 e r, L a n g, B e n (V
dikt je 3, Robinsohn, P. Albrecht, R. Kraus, v. Zum-
buisch, H. Königstein, Hochsinger, Aloszkowicz, L. Te-
leky, Escherich, Pollak, Leischner und Bakes je 2,
ferner v. Neumann, Redlich, Li elite ns tern, Federn,
Alarschik, Blum, Singer, Pichler, Schüller, Schreiber,
Erben, Alt, G. S ch w a r z, J u n g man n, L. K ö n i g s t e i n, N o b 1,
J. Weiß, Holzknecht, Eindenthal, Neck er, L. Freund,
Schiffmann, Friedjung, Peham, Fabricius, Spiegler,
Neurath, A. Exner, Hecht, Porges, Katholicky, Fried¬
länder, Kutischka, Salzer, Kretz, v. Saar, Jerusalem,
Kahler, F. A. Schwarz, v. Hovorka, Zack, Frommer,
Zirm, V. Auffenberg, Chiar.i, Grünberger, J. Stein,
Wagner v. Jauregg, Füster, Horner, 0. Kraus, Latz ko,
Franz, Gold reich, Rie, Siegfried Weiß; Haim, Fein,
AI arcus und Boese je 1.
Mitteilungen machten 0. Fellner, M. Richte r, Esch e-
rich, H. Königstein und Pal.
AVenn auch die weitaus größte Zahl von Demonstrationen
chirurgische Und dermatologische Fälle betrafen, da diese zweifel¬
los die geeignetsten Demonstrationsobjekte liefern, so zeigt doch
der Gesamtüberblick über unsere Ahrhandtungen, daß sich die¬
selben eben sowohl auf Fragen der theoretisch -medizinischen
Forschung als auch auf die verschiedensten Zweige der prak¬
tischen Aledizin erstrecken.
Daß hiebei aktuelle Tagesfragen, wie z. B. die Frage nach
AAhsen und Bedeutung der Epithelkörper, über Kretinismus, über
die Ergebnisse der Bakteriologie und (1er damit zusammenhäiigeu-
den Forsebung nach Ursache und Abwehr gewisser Erkrankungen,
in den Ahrdergrund der Diskussion tretien, erscheint selhstverständ-
hch. Die Röntgenograp hie ist fast wie das Alikroskop ein Be¬
rater und steter IJegleiter des Arztes geworden. Rönigeno-,
Radio- und Lichtlherapie werden eifrig betrieben und studiert.
Dazwischen kommen Ahrträge aus der Geschichte der
Aledizin, über Krankenpflege, aus Pharmak(xlyna.mik und Pharma¬
kologie, über Rassenlehre, aus Physiologie, pathologischer Ana¬
tomie und experimenteller Pathologie, Themata aus der internen
Aledizin und Chirurgie, soAvie aus allen klinischen Diszi¬
plinen vor.
Es ist ein Avechselvolles, iiileressa.nles Bild, welches in den
A'orträgen unserer Gesellschaft im Laufe eines Jahres vor uns
entrollt Avird, der Ausdruck emsigster Betätigung der AViener
Aerzteschaft und mit Stolz sei es gesagt, nicht zum geringsten
Teile der jüngeren Generation, auf allen Gebieten medizinischen'
AATssensi und Könnens.
Immer beschäftigte sich die Gesellschaft auch mit den großen
und scliAvierigen Fragen allgemeiner Volkshygiene.
So veranstaltete sie im Amrflossenen Jahre eine Aktion
in der Karzinomfrage und veröffentlichte auf Grund eines ein,-
gehenden Komiteeberichtes die Broschüre „Principiis obsta“, deren
mehrfache Uebersetzung in verschiedene Sprachen nur mit Be¬
friedigung konstatiert Averden kann.
Heuer wiederum betraute die Gesellschaft über Anregung
der Herren Alracek und Riehl ein Komitee mit dem Studium
der Frage der Ahrbreitung der venerischen Krankheiten. Bei der
Kürze der Zeit Avar es dem Komitee bisher nicht möglich, seinen
Bericht zu erstatten. Die allgemeine Direktive, die sich die Ge¬
sellschaft hiebei gestellt hatte, war die, die Frage nicht allein
nach ihrer rein medizinischen Seite, sondern in größerem Stile
auch nach anderer Richtung zu studieren, so namentlich Schule
und Haus, sowie die Frage der Recht- und Schutzlosigkeit der
Frauen gegenüber der sexuellen Infektion mit in Betracht zu
ziehen und hierin für Recht und Humanität einzutieten. Wir
dürfen inil, Zuversicht erAvarten, daß die sorgfältigen und ein¬
gehenden Studien des in mehrere Sektionen geteilten Komitees,
soAvie der zusammenfassende Bericht desselben, ein geeignetes
Substrat für eine AAmitere, nicht unfruchtbare Aktion in dieser,
das A'^olksAvohl tief berührenden Frage hieten werden.
Ich kann den Bericht über die Avissenschaftliche Tätigkeit
der Gesellschaft nicht schließen, ohne der Ahrleihung des Gold¬
berger-Preises an die Herren F. Ober m e y e r und E. P. P i c k
für ihre Arbeit: Heber die chemischen Grundlagen der
Arteigenschaften der Eiweißkörper, zu ei’Avähnen.
Aföge es der Gesellschaft auch fernerhin gelingen, gelreu
ihrer Devise, der Förderung Und Ahrvollkominnung der gesamten
Heilkunde und der Befestigung und Erweiterung des freimdschatt-
lichen, kollegialen Ahrkehres unter den Aerzten, im Interesse
des wissenschaftlichen Fortschrittes zu dienen.
Quod felix faustum, fortunatum que sit!
Prof. Dr. Alexander Fraenkel: Vinzenz v. Kern —
Josef Lister. (Siehe unter Originalien in dieser AAWchenschrift.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 21. Februar 1907.
R. Neurath stellt mehrere Fälle von zerebraler
Diplegie vor, AAmlche ein charakteristisches Symptom, das nach
derselben dauernd persistiert, aufweisen, nämlich eine Neigung
des Kopfes nach der gelähmten Seite. Diese Haltungsano¬
malie ist auf die Kontraktur der Halsmuskulatur (Sternokleido-
niastoideus Und Kukullariis) zu rückzU führen und hindert in keinem
Falle die BeAvegungsfreiheit des Kopfes.
Herrn . Schlesinger führt einen 26j ährigen Kranken vor,
bei AAmlchem ein Abdominal typhus klinisch eine Härna-
temesis als erstes Symptom darbot. Pat. bekam plötzlich
aus voller Gesundheit Hämatemesis und hohes Fieber, erstere
trat später nochmals auf. Die Untersuchung ergab eine Ver¬
größerung der Alilzdämpfung, erhebliche Leukopenie und ausge¬
sprochene positive AAm dal sehe Reaktion. Der Aveitere A^erlauf
lehrte, daß Pat. einen ambulatorischen Typhus durchgemacht und
erst gegen Schluß der Erkrankung eine Hämatemesis bekommen
hatte. Vielleicht kann die Hämatemesis in Berücksichtigung des
Umstandes erklärt Averden, daß Pat. Amr drei Jahren Symptome
von Ulcus ventriculi, darunter auch Hämatemesis, hatte. Es Aväre
denkbar, daß ein ausgeheiltes Ulkus infolge typhöser Gela߬
veränderungen ]ieuerlich exulzerierte.
R. Kraus trägt, ob das Blut auch hakteriologisch unter¬
sucht AA’Urde, da auch die Alöglichkeit eines Paratyphus in Be¬
tracht zu ziehen sei.
Herrn. Schlesinger eiwidert, daß die bakteriologische
Blutuntersuchung nicht vorgenommen Avurde, jedoch s'ei der Be¬
ginn auch für den Fall eines Paratyphus ein ganz exzeptioneller.
Heim. Schlesinger zeigt einen Fall von Ostitis de¬
formans, bei AA’elchem die Erkrankung nur auf die rechte Tibia
beschränkt ist. Bei dem jetzt 62jähiigen Palienten Avurde vor
15 Jahren eine Verkrümmung und A^erdickung der rechten Tihia
bemerkt, später fing er zu hinken an; Schmerzen hat er ni(*
gehabl. Jetzt ist die Tibia, namentlich vorne, enorm Amrdickl,
nach Amrne und außen gekrümmi, ihre Oberfläche ist grohhöckerig.
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
3G3
Die Kortikalis erweisl sicli iui Röiiigenbild als stark verdickt, die
lanenstriiktur iinregelmäßiig igrobniascliig, ein Sequester ist nicht
vorhanden. Bemerkenswert ist der Umstand, daß die lU’kran-
kung nur auf die Tibia und bei dieser nur auf die Diaphyse
beschränkt ist. Die Wadenmuskulatur ist etwas hypertropliiscb.
Therapeutisch wird Röntgenbestrahlung versucht werden.
0. Marburg: Zur Pathologie der Myasthenie.
Während das klinische Bild der Myasthenie in allen Details fest¬
gelegt erscheint, dank den Arbeiten von Erb, Goldfiamm,
Jolly, Oppenheim und der Wiener Schule, inshesondere von
Pineies und Levis aus dem Fränkischen Ambulatorium, ist
die pathologische Grundlage dieser Affektion bisher nicht aus¬
reichend gekannt. Von der Annahme, daß, eiu nervöses Leiden zu¬
grunde liege, mußte man infolge der fortgesetzt negativeu Be¬
funde zurückkommen. Da hat Weigert seinen bemerkenswerten
Befund erhoben, der das Augenmerk auf den Muskel selbst lenkte,
indem er in demselben Infiltrate nachwies, die als Metastasen
gedeutet wurden. Aehnliches fanden Hun und Buzzard in
je einem Falle, während in einem zweiten Falle des letzteren die
Thymus ähnlich wie bei Hödlnioser und Link frei war oder
wie in den drei weiteren Fällen Buzzards fehlte. Dagegen
zeigten sich bei Buzzard in Leber, Nebenniere und Thyreoidea
kleine Infiltrate, die dieser gleich den im Muskel gefundenen
als Lymphorrhagien anspricht. Die Muskelfasern sind bis auf
minimale Veränderungen in der Nähe den Herde stets inhikj
gefunden worden, nur B o r g h e r i n i spricht von plasmoidaler
Umwandlung, einer Art Homogenisation der Muskelfaser selbst,
bei der jedocli ein Artefakt nicht auszuschließen ist. Vortragender
konnte an exzidierten Muskelstückchen zweier schwerer Fälle
von Myasthenie im Muskel selbst bei Marchifärbung eine fettige
Umwandlung des Sarkoplasmas finden, ähnlich der bei schweren
Autointoxikationen beschriehenen. Dieselbe betrifft den Muskel
nicht in to to sondern nur in einzelnen Fibrillen und diese gleich¬
falls nur streckenweise. Die Querstreifmig ist dabei intakt. Die
zelligen Infiltrate setzen sich zusammen aus Lymphozyten, Leuko¬
zyten und Muskelkernen, sind also typisch für entzündliche Ver¬
änderungen, ISO daßi der ganze Prozeß als Myositis u. zw. als
degenerative diskontinuierliche Form, aufgefaßt werden ^ kann.
Diese Myositis läßt die klinischen Erscheinungen erklärlich er¬
scheinen; sie schließt sich ungezwungen anderen Muskelaffek¬
tionen an und erklärt die Uebergänge zu anderen Muskelkrank¬
heiten. Als Analogien im Nervensystem sind die periaxiale Neuritis
und die multiple Sklerose zu nennen.
L. V. Frankl-Hoch wart erwähnt einen von ihm beob¬
achteten Fall von Myastbenie, welcher Muskelatrophie zeigte,
die nach der Heilung der Krankheit verschwand.
Artur Horner demonstriert Präparate von einem Falle,
den Dr. Schloßberger am 24. Januar 1907 vorgestellt hat.
Fs handelte sich um eine Erkrankung des chromaffinen
Systems bei einem 27jährigen Manne, der neben den Erschei¬
nungen einer Tiiberkulose eine ausgedehnte Pigmentation der
Zunge, sowie der Haut an Bauch und Händen dargeboten hatte.
Der Mann starb am 13. Februar 1907. Die Sektion ergab das
Vorhandensein der bereits hervorgebobenen Veränderungen, weiter
eine totale Verkäsung, Verscbrumpfung und teilweise Verkrei¬
dung der Nebennieren.
Jos. Wiesel bemerkt, daß aus der bloßen Pigmenlierung
allein nicht ohneweiters auf Erkrankung des chromaffinen Systems
geschlossen werden dürfe, da auch schwere Destruktionen des
chromaffinen Systems ohne pathologische Pigmentationen der
Haut und der Schleimhäute Vorkommen.
G a r a macht eine Mitteilung über ein S y m p t o m d o r
Ischias, welches er in zahlreichen Fällen konstant gefunden
hat. Die Untersuchung der Fälle ergab, daß der Dornfortsalz
des letzten Lendenwirbels bei Ischias exquisit druckempfindlich
ist; die Druckschmerzhaftigkeit ist am nächst oberen Dornfort¬
satz nicht mehr so deutlich vorhanden, weiter oben fehlt sie
ganz. Sind mehrere Dornfortsätze druckempfindlich, so liegt sicher
ein anderes Leiden vor, so z. B. in einem Falle des Vortragenden
ein metastatisches Karzinom. In einem Falle von anscheinend
vorhandener Ischias fehlte das Symptom, die nähere Untersuchung
ergab eine Schenkelhalsfraktur. '
L. V. Frankl-Hoch wart hat bei seinen Untersuchungen
dieses Symptom nicht beobachten können.
Herrn. Schlesinger hat das Symptom bei vier Ischias¬
fällen ausgebildet gesehen. Der Befund regt zu neuen Unter¬
suchungen an. _ .
Emil Mattauschek: Zur Epidemiologie der Te¬
tanie. Vortr. berichtet über die Tetaniefälle in der Armee in
den letzten zehn Jahren (1896 bis 1906 inklusive). Es konnten
auf eine Kopfzahl von rund 400.000 nur 83 Fälle erhoben werden.
An der Hand einer Uebersicidstabelle ergibt sich bezüglich der
Verteilung nach Urten, .Jahren und Monaten folgendes: Aus dem
Vergleiche mit der neuen Tabelle v. Frankls für das allge¬
meine Krankenhaus ersieht man eine durchaus ähnliche Häufig¬
keilskurve mit ihrem Gipfelpunkt im Jahre 1896. Bezüglich der
örtlichen Verteilung fällt auf, daß die Tetanie außer in Wien
auch in Mähren und Galizien in den bekannten Wintermonaten
epidemisch ist und in gewissen Jahren in besonderer Häufigkeit
zur Beobachtung gelangt. Die befallenen Berufe: Schneider,
Schuster und sonstige Berufe, verhalten sich beim Militär wie
2:3: 10. Die Häufigkeit wiederholter Erkrankung eines- Individuums
ist in mehr als 30% der Fälle festgestellt worden.
JJiskussion über den von Grübel in der .Sitzung vom
7. Februar vorgestellten Fall von offenem Ductus Botalli.
J. Grübel erwidert gegenüber v. Stejskal, daß er die
Diagnose nur als eine Wahrscheiidichkeitsdiagnose aufgestellt
habe, die von ihm angeführten Symptome seien aber absolut
richtig (Hypertrophie des linken Ventrikels, Schwirren über der
bandförmigen Dämpfung am oberen Sternum, systolisches Ge¬
räusch), eine nochmalige Röntgenuntersuchung ergab eine Er¬
weiterung der Arteria pulmonalis. Das Schwirren ist im Liegen
deutlicher als im Stehen.
M. Weinberger kann aus dem Röntgenbefund sich der
Diagnose eines offenen Ductus Botalli nicht anschließen, er möchte
die Veränderungen mit der Infiltration des Lungengewebes in
Beziehung bringen.
K. V. Stejskal bemerkt, daß die vorhandenen Symptome
noch nicht die Diagnose eines offenen Ductus Botalli rechtfertigen.
J. Pal bemerkt, daß, der Fall gerade deswegen vorge¬
stellt wurde, weil er unklar sei. Die von Grübel angegebenen
Symptome sind vorhanden und auch von anderen Nach¬
untersuchern konstatiert worden.
L. V. Schrötter betont, daß, der Fäll bisher noch nicht
geklärt sei. Er selbst möchte glauben, daß es sich um Ver¬
dichtungen des Lungengewebes infolge von Tuberkulose und um
die Kompression eines Astes der Pulmonalarterie handle.
Wiener Dermatologische Gesellschaft.
Sitzung vom 6. Februar 1907.
Vorsitzender : Finger.
Schriftführer : B r a n d w e i n e r.
Keiner stellt aus dem Karolinen - Kinderspitale vor: 1. Ein
sechs Monate altes Kind mit einer ausgebreiteten Psoriasis
vulgaris, einei' im Säuglingsalter nur äußerst selten beobach¬
teten Hauterkrankung.
Nach Angabe der Mutter war die Haut des Kindes bis vor
vier Wochen noch ganz normal. Heute sind bei dem sehr
gut entwickelten Brustkinde, dessen Gewicht über 8000 g
beträgt, im Gesichte und am Arme, besonders in der
Unterbauchgegend, auch an den unteren Extremitäten ver¬
schieden große und verschieden figurierte Plaques zu
sehen, die sich durch die ziemlich lebhafte rote Farbe, durch
den eigentümlichen trockenen Glanz von der normalen Haut ab¬
heben. Die Infiltration der Herde ist eine geringe, die Schuppen¬
auflagerung eine mäßige, so daß die Oberhautfelderung auf den
Plaques besonders deutlich zutage tritt. In beiden Leisten, am
Perineum Und in der Analgegend, ist ein ausgebreiteter Intertrigo
zu sehen, der psoriatiform verändert ist und besonders am
Rande einen deutlichen Uebergang in glänzendrote Plaques auf¬
weist. An der rechten Wade ist ein breiter, streifenförmiger
Erkrankungsherd zu konstatieren, der sich an eine feinlinien-
förraige Nadelrißverletzung angeschlossen hat. Die Streckseile der
Ellbogen- und Kniegelenke zeigen keine Veränderungen. Neben
diesen großen Plaques sind am Stamme, an den Extremitäten
und vereinzelt an der Nackenhaargrenze punktförmige, bis linsen¬
große, rote, flache Effloreszenzen, die mit feinen weißen bis
gelblichweißen Schuppen bedeckt sind, nach deren Loslösung
es zu punktförmigen Blutaustritten kommt. Mit Ausnahme der
Nackenhaargrenze zeigt die Kopfhaut ganz normale Beschaffen¬
heit. Interessant ist auch die Beteiligung der Handflächen
und Fußsohlen an dem Prozesse. Diese Stellen sind bedeckt
mit bläulichroten Flecken, über welchen es häufig zu feinlamellöser
Abschilferung kommt. Nach dem Abheilen der Plaques am Stamme
bleiben leukodermatische Flecke zurück, die von einem bräun¬
lichen Pdgmentsaum umgeben sind.
Nobl bemerkt, daß er ähnliche, im frühesten Kindesalter
nicht zu selten vorkominende Ausbrüche nummulärer, das Haut¬
niveau kaum überragender, mit minimaler Infiltration und nur
öv.i;
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 12
spärlicher Parakeratose eiiiliej-gelieiider El'flureszeiizen stets dein
seborrhoischen Ekzem ziizurechnen pflegt. Gleichwie in dem
vorgestellten Falle muß nicht stets das Kapillitium den Ausganges-
pimkt der Veränderungen ahgeben. Auch die hier am meisten
alterierten Geni to -Kruralf alten bilden oft genug die erste Keim¬
stätte der durch überschüssige Fettproduktion provozierten Ent¬
zündung. Die Ausschläge heilen prompt bei Anwendung der Ekzem¬
therapie, ohne zu Rezidiven zu führen.
Leiner; Wenn auch bisweilen die Differentialdiagnose
zwischen Psoriasis und Ekzema seborrhoicum Schwierigkeiten be¬
reitet, so gehört der demonstrierte Fall sicher nicht zu diesen
Ausnahmen. Schon das Aussehen der Primäreffloreszenz, das
flache, trocken glänzende, mit feinen Schüppchen bedeckte In¬
filtrat, das Auftreten punktförmiger Blutungen nach dem Ab¬
lösen der Schuppen, spricht gegen die Annahme Nobls diesen
Fall dem Ekzema seborrhoicum beirechnen zu wollen. Auch
die großen Plaques zeigen nirgends die fettige Schuppenauflagerung
oder den Knötchenrand des Ekzema seborrhoicum. Abgeselien
davon kommt es bei der Seborrhoe im Säuglingsalter immer zu
Schuppen- und Borkenbildung auf der behaarten Kopfhaut, von wo
der seborrhoische Prozeß auf die Augenbrauen und das Gesicht
übergeht, während die Kopfhaut und die Augenbrauengegend ganz
glatt, normal ist, ohne das geringste Zeichen einer Seborrhoe.
Spiegler «rklärt den Fall gleichfalls für Psoriasis. Ma߬
gebend für Psoriasis gegen Ekzema seborrhoicum ist nicht nur
die Beschaffenheit der Eruptionen, sondern aüch der Um¬
stand, daß dieselben keineswegs die für Ekzema seborrhoicum
charakteristische Lokalisation haben.
2. Ein einjähriges, hereditär -luetisches Kind, mit Psoriasis
palmaris luetica. An beiden Handflächen zeigt das Kind un¬
regelmäßig figurierte, derbe, gelblich braune Infiltrate, die stellen¬
weise von oberflächlichen Rhagaden durchzogen sind, an anderen
Stellen wieder eine lamellöse Abschilferung erkennen lassen.
No bl demonstriert: 1. Eüien Fall von multipler schan-
kröser Lymphangoitis venerea bei einem 20jährigen
Bäcker. Durch frühzeitigen Einbruch eines follikulären venerischen
Sulkusgeschwüres in das koronare Lymphnetz war es zur For¬
mation eines kleinfingerdicken, bis an den Mons reichenden dor¬
salen Lyinphstrangs gekommen, von dem aus noch gleich mäch¬
tige, gabelförmig verzweigte Fortsätze zu dem Drüsengebiet beider
Leisten zu verfolgen sind, lin Verlaufe des mit dem Integument
verlöteten Stranges ist es zur Bildung von vier nußgroßen, bereits
erweichten und zum Teil schankrös zerfallenen Bubonuli ge¬
kommen, von welchen zwei 2 cm hinter dem Sulkus, respektive
4 cm vor dem Mons im Bereiche des Gliedes eingeschaltet er¬
scheinen, zwei an den zu den Leisten ziehenden Strangsegmenten
aufgetreten sind. Die Inguinaldräsen selbst sind in keiner Weise an
dem spezifischen Entzündungsprozeß beteiligt. D u c r e y sehe Ba¬
zillen sind in den Zerfallsprodukten aller Nisbe thschen Schanker
nachzuweisen.
2. Einen 20jährigen Studenten, bei welchem sich ebenfalls
ein schankrös zerfallender Bubonulus in der Mitte des
Penisschaftes entwickelt hat. Den Ausgangspünkt des knotigen
Herdes bildet ein am Präputialsaum sitzendes venerisches Ge¬
schwür, das zu einer retikulierten, oberflächlichen und einer
strangförmigen, profunden Lymphangioitis geführt hatte. Von dem
Bubonulus aufwärts ist keine palpable Veränderung der Lymph-
bahnen nachzuweisen.
3. Die entzündlich atrophischen und narbigen
Endausgänge eines chronischen Hautprozesses, der nach der
ätiologischen Seite hin nicht völlig klar erscheint. Die Verände¬
rungen betreffen einen 30jährigen Schuhmacher, bei welchem
sich zuerst vor acht Jahren knotige Schwellungen des linken
Handrückens, Vorder- und Oberarmes und späterhin auch ähn¬
liche, bis ganseigroße, blaurote Hautaufti-eibumgen über der rechten
Schulter, sowie in der Brust- und Lendengegend entwickelt haben
sollen. Bei allmählichem Zerfall wandelten sich die ergriffenen
Stellen in vielfach konfluierende Wundflächen um, die dann erst
nach vielen Monaten zur Vernarbung gelangten. Der rechte Hand¬
rücken, der Vorder- und Oberarm in ganzer Zirkumferenz werden
von einem papierdünnen, zerknitterten, fein abschilfernden, glasig
glänzenden, violett durchscheinenden Integument überkleidet, das
über der Beugefläche des Ellbogengelenkes zu kompakten, derben,
schwieligen, tiefreichenden Narbenzügen verdichtet erscheint, welch
letztere den Vorderarm in spitzwinkliger Beugung fixiert erhalten.
Ueber dem Oleokranon eine kreisrunde, talergroße Granulations¬
fläche. Handtellergroße, eingesunkene, rarefizierte Narbenflächen
am' Abdomen und in der Lendengegend sowie hyperplastische,
blaurote, verästelte, polslerartig elevierte, fibröse Geschwülste am
linken Schultergürtel ergänzen den Befund. Die anamnesLischen
Angaben, mit den residualen Veränderungen ziisammengehallen,
lassen die tuberkulöse Grundlage des Prozesses annehmen.
Ein näherer Aufschluß dürfte von seiten der Klinik Riehl zu
erwarten sein, woselbst Pat. vom Oktober 1905 bis März 1906
gelegen sein soll.
Kren; Der Mann lag au der Klinik Riehl. Auch damals
wurde an einen tuberkulösen Prozeß gedacht.
E. Spitzer demonstriert einen Fall von papulo-nekrofi-
scheni Tuberkulid an den Fußsohlen und Fußrücken eines 15-
jährigen Mädchens ohne sonstige tuberkulöse Erscheinungen.
Kör bl stellt aus der Abteilung Mracek eine 27-
jährige Patientin vor, die vor sieben Jahren Lues akquirierte,
damals wegen Erscheinungen im Rachen und am Genitale
Quecksilbereinreibungen durchmachte und seit jener Zeit angeb¬
lich von luetischen Erscheinungen verschont blieb. Vor unge¬
fähr vier Monaten bemerkte die Patientin eine noch heute be¬
stehende Anschwellung am rechten Schlüsselbein. Wir finden
am sternalen Anteil der rechten Klavikula einen harten, ungefähr
nußgroßen, unverschieblichen Tumor von normaler Umgebung
und geringer Druckempfindlichkeit.
Vor zwei Monaten soll eine Geschwulst am Brustbein be¬
standen haben, die aber seither größtenteils zurückgegangen ist,
denn heute läßt sich, bloß eine geringe Erhabenheit nahe der
Ansatzsteile der zweiten linken Rippe und mäßige Druckschmerz¬
haftigkeit daselbst konstatieren.
Vor einem Monat bemerkte die Patientin das Auftreten eiruir
Geschwulst in der linken Seite an einer Rippe. Die Geschwulst
sitzt an der zehnten Rippe, links in der hinteren Axillarliaie ;
sie ist hart, ungefähr haselnußgroß, unverschieblich, von
normaler Umgebung, jedoch bei leisestem Druck schmerz¬
haft. Die Patientin erzählt nun, sie habe vor zwölf Tagen bei
leichtem Neigen auf die Seite plötzlich einen intensiven Schmerz
in der Gegend der Geschwulst verspürt und zu gleicher Zeit
ein knackendes Geräusch gehört, das sie mit dem Abbrechen
eines Miederfischbeines vergleicht. Seit jenem Moment empfindet
sie lebhafte Schmerzen beim Bücken, Wenden, Husten und
tieferem Atmen. Es handelt sich hier wohl um eine Spontan¬
fraktur bei gummöser Osteomyelitis und Periostitis. Diese An¬
nahme wird auch durch das Röntgenbild bestätigt. Wir sehen
im Bilde deutlich die Auftreibung an der Rippe, sowie eine Kon¬
tinuitätstrennung; das zur Wirbelsäule gehörige Fragment be¬
sitzt zwei Zacken.
Fälle von Spontanfrakturen bei gummöser Osteomyelitis,
besonders an den Rippen, sind nicht häufig.
Reines demonstriert einen Fall von Lipomatosis multiplex
symmetrica bei einem 70jährigen Patienten. Die Geschwülste be¬
stehen seit zehn Jahren, wuchsen allmählich und persistieren
in ihrer jetzigen Größe seit drei Jahren. Sie befinden sich am
Nacken und Hinterhaupt, an symmetrischen Stellen beider Ober¬
arme und beiderseits der Lendenwirbelsäule. Sie sind voll¬
kommen schmerzlos. Pat. ist seit seiner Jugend starker Alko¬
holiker. Angeblich trug sein Vater die gleichen Geschwülste an
den gleichen Stellen.
Weidenfeld stellt einen 18jährigen Gürtlergehilfen vor,
der am Stamme u. zw. an den Rippenbögen, am Nabel, in den
Lendengegenden, in der Inguinalbeuge, am Kreuzbein und in der
LendenAvirbelsäulegegend zahlreiche, teils in Gruppen gestellte,
teils isolierte, flache, blaurote bis braunrote Knötchen hat, die im
Zentrum eine pergamentartig schwarzbraune Kruste tragen, nach
deren Entfernen ein seichtes, kreisrundes Grübchen zurück¬
bleibt. An denselben Stellen finden sich gleichgroße Narben,
die im Zentrum von einem erweiterten Follikelausführungsgang
durchbrochen sind und nach dem radial Fältchen der Narben hin¬
ziehen. Die Narben sind gleichfalls zahlreich an den bezeich-
neten Stellen gehäuft. Um die Narben ist die Haut pigmentiert.
Der Beginn der Erkrankung manifestiert sich auf zwei¬
fache Weise: 1. in Form eines follikulären Knötchens, das eine
Pustel an der Spitze trägt, oder 2. als Knötchen, das im Zentrum
zuerst eine grauweiße Nekrose zeigt, die später schwarz¬
braun wird.
Im weiteren Verlaufe wächst das Knötchen heran, aber immer
nur nach der Fläche, so daß auch die Größe eines Hellerstückes
erreicht wird, ohne eine bedeutende Zunahme in der Dicke
zu zeigen.
Auch an den Vorderarmen und Oberschenkeln sind spär¬
liche, in kleinen Haufen vereinigte Knötchen und Narben
nachweisbar, von ganz gleichem Aussehen wie die am Stamme
beschriebenen. Weiters muß bemerkt werden, daß die Zervikal-
Nr. 12
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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di'üsen beiderseits multipel geschwollen sind; Pat. hatte im
Sommer schon eine Eruption, die spontan abgeheilt ist.
Man könnte danach an eine Form der papulo-nekrotischen
Tuberkulide denken, wie der Aspekt tatsächlich sehr viele ähn¬
liche Symptome aufweist. Erwägt man aber, daßi die Knötchen
der Tuberkulide in die Kutis eingesprengt erscheinen, daß
sie bei ihrem Größerwerden in gleicher Weise nach
der Tiefe und Breite wachsen, ferner, daß die Extremi¬
täten am häufigsten befallen erscheinen, dann, daß ihre
Lokalisation unabhängig vom Follikel ist und daß sehr häufig
Polymorphie, wie Kombinalion mit Erythema induratum Bazin,
Flecken etc. besteht, so muß man diese Diagnose abweisen und
diesen Fall als zu der Gruppe der Acne varioliformis rechnen.
Ehrmann nimmt keines von beiden an. Die Acne varioli¬
formis ist eigentlich keine Akne, sie geht nicht vom Komedo
aus und zeigt keine Eiterung. Die gelben Punkte bei Acne varioli¬
formis sind Nekrosen, die Krusten sind nicht Sekret, soudern
nekrotisches Bindegewebe. Ehrmann erinnert an das bekamite
Bild von B o eck, daß man in der nekrotischen Masse Reste des
Gefäßbaumes finden kann. Acne varioliformis bildet Narben, die
vertieft sind. Die meisten Narben hier sind eleviert, einzelne
sind vertieft. Die Lokalisation der Acne varioliformis ist meist
auf der Brust oder zwischen den Schultern. Es ist dies eine
Acne cachecticorum ; dafür spricht das kongiobierte Auftreten, das
Bild einer wirklichen pustulösen Akne, ausgehend von Talg¬
drüsen, während das für die anderen Drüsen nicht stimmt.
Ullmann: Auffällig sind die Pigmentationen, die ent¬
schieden an chronischen Pemphigus erinnern. Die Narben sind
gruppiert. Die Lokalisation der Infiltrate stimmt weder für Acne
cachecticorum', noch für Tuberkulid, die beide an den Extremitäten
lokalisiert zu sein pflegen. Es dürfte sich vielleicht um. eine
Kombinations- oder Grenzform handeln.
M. Oppenheim demonstriert aus seinem Ambulatorium
1. eine 45jähr. Patientin, bei der sich im Anschluß an eine doppel¬
seitige Phlegmone beider unteren Extremitäten ein eigentüm¬
liches Erythem entwickelte. Man sieht an den Streck- und Beuge¬
seiten der unteren Extremitäten, rückwärts hinauf bis über die
Nates reichend, bis kindsflachhandgroße, unregelmäßig begrenzte,
blaurote Effloreszenzen, die sich derb anfühlen und auf Druck
schmerzhaft sind. Viel schwächer ausgebildet sind analoge Efflo¬
reszenzen an den oberen Extremitäten. An der Stelle der phleg¬
monösen Erkrankung, die durch Varizen bedingt war, ist die Haut
noch verdickt und unverschieblich. Es liegt nahe, in diesem Falle
als Ursache des Erythems die Resorption von toxischen oder
infektiösen Stoffen aus den phlegmonösen Herden anzunehmen.
Vielleicht handelt es sich um Phlebitiden des subpapillaren Venen¬
netzes, wofür die eigentümliche netzartige Zeichnung einzelner
Erythemflecke spricht.
2. Einen 40jährigen Sackträger, der über dem Kreuz¬
bein einen doppeltflachhandgroßen, symmetrisch liegenden
Herd von folgender Beschaffenheit aufweist: Die Peri¬
pherie dieses Herdes ist gebildet von einem] 3 mm breiten,
lebhaft roten, erhabenen und scharf begrenzten Bande,
welches als fast ununterbrochener Ring ein braun pigmentiertes,
ovales Feld begrenzt. Innerhalb dieses Feldes finden sich linsen-
bis erbsengroße, zum Teil einzeln stehende, zum Teil zu un¬
regelmäßigen Effloreszenzen konfluierte, derbe, papulöse Efflo¬
reszenzen von lebhaft roter Farbe, zumi Teil mit Schuppen, zum
Teil mit Krusten bedeckt. Auch das periphere, begrenzende Band
zeigt stellenweise Krustenauflagerung. Nirgends eine Narben¬
bildung. Die Affektion besteht seit einem Jahre. Es handelt
sich offenbar umi ein Ekzema marginatum.
Spie gl er ist hinsichtlich der Aetiologie vollkommen der
Meinung Oppenheims, indem es sich ganz_ gewiß um eine
durch Trichophyton tonsurans erzeugte Eruption handle. Der
Nachweis der Pilze wird auch gewiß keine Schwierigkeiten machen.
Hinsichtlich der Diagnose hält er jedoch die Eruption für einen
Herpes tonsurans vesiculosus'. Maßgebend hiefür sind die akut
entzündlichen Erscheinungen, die Bläscheneniptionen an der
Peripherie und wenn der Patient von einer einjährigen Krank¬
heitsdauer spricht, so folgt aus dem klinischen Bilde, daß diese
Angaben unzuverlässig sind.
Weidenfeld demonstriert einen F all von E k z e m a s e b o r-
rhoicum.
Kren demonstriert aus der Klinik Prof. Riehl: 1. Einen
56jährigen Patienten, der an den Handrücken, den Vorderarmen
und über den Ellenbogen, sowie an den Fußrücken imd über den
Knien und schließlich auch im Gesicht Erytheme zeigt, auf denen
teils einzelne, teils zirzinär angeordnete Blasen stehen, die einen
serösen Inhalt haben. Die Lippen und Schleimhäute sind frei.
Die Lokalisation, wie die Erytheme deuten darauf hin.
daß es sich im vorliegenden Fall um ein Erythema bullös um
handelt.
2. Einen 54jährigen Patienten mit Atrophia cutis idio-
pathica, welche die ganze linke untere Extremität ergriffen
hat und nun schon seit einigen Jahren stationär ist; der Rand
an den Nates ist nirgends gerötet. Der Fall zeigt über dem Knie
die typische, rotblau gefältelte Haut, die ihre Elastizität fast voll¬
ständig verloren hat; über dem Unter- und Oberschenkel sieht
man die Haut braun pigmentiert, ziemlich straff gespannt und
von Venen dicht durchzogen.
Ehrmann hat den Fall vor Jahren in der Gesellschaft der
Aerzte und in der Dermatologischen Gesellschaft vorgestellt;
das Bild hat sich geändert. Der Prozeß ist jetzt eigent¬
lich abgelaufen, während ihn früher ein frisch -roter Wall
begrenzte. Die Erkrankung ist von Pick als Erythromelie be¬
zeichnet.
Nobl, der den Patienten gleichfalls einige Zeit zu beob¬
achten Gelegenheit hatte, möchte darauf hinweisen, daß der Patient
an einem chronischen tuberkulösen Lungenkatarrh leidet und
überdies tiefreichende Knochennarben über dem linken bland¬
gelenk auf einen vor Jahren durchgemachten kariösen Prozeß
schließen lassen. Der fortgeleitete Infektionsvorgang hatte auch
zu einem verrukösen Lupus über der Beugefläche des Handge¬
lenks Anlaß geboten. In Würdigung dieser Grundvorgänge kann
die spezifische Abstammung des zur Atrophie führenden aszen-
dierenden Entzündungsprozesses im Bereiche der linken unteren
Extremität nicht ohne weiters von der Hand gewiesen werden.
Ehrmann: Der Lupus wurde exstirpiert. Riehl äußerte
sich gelegentlich einer Demonstration bezüglich der Aetiologie
wie Ehrmann und hält den Prozeß für eine Lymphangioitis
chronica capillaris, mit Ausgang in Atrophie.
3. Ein vierjähriges Mädchen mit einem schon seit
mehreren Monaten bestehenden Ekthyma gangraenosum
um das Genitale und anschließend daran an den über- und Unter¬
schenkeln, sowie am Bauch. An einzelnen Stellen sieht man
noch frische Effloreszenzen in Blasenform. Diese Blasen werden
schnell eitrig, haben einen düster roten Hof, werden gangränös
und geben schließlich einen scharf umrandeten, tiefen, kreisrunden
Substanzverlust, der mit Hinterlassung einer deprimierten Narbe
ausheilt. Erwähnenswert ist,' daß die Affektion unter 10°/oigen
Dermatolsalbenverbänden sehr günstig beeinflußt wird,' indem die
einzelnen Substanzverluste darunter rasch zur Ueberhäutung
kommen.
Reit'inann stellt aus der Klinik Riehl vor: 1. Zwei
Fälle, die neben tuberkulösen, bzw. skrofulösen Erschei¬
nungen das typische Bild des Lichen scophulosorum Hebra auf¬
weisen. Bei dem einen, einem zirka vierjährigen Knaben, findet
sich Lupus vulgaris im Gesicht und der linken Leistenbeuge, ein
Skrofuloderma auf der linken Wange,' geschwollene, zum leil
an die Kutis fixierte Drüsen submental, in axilla et inguine, ab¬
gelaufene Knochenprozesse an der linken Hand, daneben Rha¬
gaden an Mundwinkel- und Naseneingang, Konjunktivitis ekzema-
tosa, sowie Ekzem des' behaarten Kopfes. Der zweite. Erwachsene,
stand schon früher mit Lupus vulgaris und Skrofuloderma in Be¬
handlung der Klinik. Beide zeigen jetzt hauptsächlich auf dem
Stamm lokalisiert bis stecknadelkopfgroße, meist follikulär ge¬
stellte Knötchen von gelblicher oder rotgelber Farbe und weicher
Konsistenz. Dieselben stehen zumeist gruppiert, selten zu Linien
oder Kreisen angeordnet, am dichtesten an der Vorder- und Seiten¬
fläche des Rumpfes.
2. Drei Patienten — zwei davon sind Brüder — die
in verschiedener Intensität das Bild der Acne aggregata zeigen.
Vornehmlich erscheint der Stamm, weniger das Gesicht und die
proximalen Extremitätenabschnitte befallen. Neben Komedonen-
bildung in Gruppen von benachbarten Follikeln, finden sich zahl¬
reiche braune, blaurote, mäßig prominente, follikulär gestellte'
Knoten bis zu Linsengröße, die vielfach mit benachbarten zu
größeren Infiltratherden konfluieren. Diese lUioten können
zwar auch zur völligen Involution gelangen, zumeist erweichen
sie aber und die einzelnen Erweichungsherde konfluieren wieder
vielfach in der Tiefe, so daß oft größere Hautpartien unterwühlt
erscheinen. Als Endprodukt dieses ausgedehnten Zerfallprozesses
resultieren Narben von außerordentlicher Polymorphie. Oft findet
man nur dem einzelnen vereiterten Follikel entsprechende, runde,
deprimierte Narben von normaler Farbe, daneben solche, die
aus der Konfluenz mehrerer solcher hervorgegangen und teil¬
weise pigmentiert erscheinen, anderseits wieder bei größeren
Herden solche, die flach deprimiert, bis kronenstückgroß, im Zen¬
trum depigmentiert und am Rande intensiv pigmentiert sind.
An einzelnen Stellen sieht man solche Narben von brückenföi-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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8b6
inigen, zirkiilär epidemiisicilcii Ciewebssträngen übersiuiniil. Es
handelt sich da uni einzelne, beim Zerfall konfiuierter Infiltrat¬
herde erhalten gebliebene Bindegewebsstränge, die resistenter und
daher erhalten geblieben und dann von der Epidermis überzogen
worden sind.
Finger demonstriert; 1. Einen Fall von Lichen ruber
acumiiiatus. Der Patient zeigt neben den typischen Aku-
minalusknötcben, disseminiert an den Vorderarmbeugen und an
den Streckflächen der Fingerphalangen, am Kopf Wn-ämleriingen.
wie sie bisher noch nicht beschrieben worden sind; daselbst
finden sich außer disseminierten, follikulären, teilweise noch von
einem Haar durchbohrten, äußerst derben, spitzkegelförmigen
Hyperkeratosen, an deren Basis ein Infiltrat nicht nachzuvveisen
ist, scharf umschriebene, bis talergroße, rauhe Scheiben, die aus
dichtgedrängten, ebensolchen follikulären Hyperkeratosen bestehen,
die innerhalb der Scheibe sich aber deutlich differenzieren, im
Zentrum entweder einen kleinen Hornstachel, oder nach Ab¬
brechen desselben eine Delle darbieten.
2. Eine Patientin mit einer Affektion, die aus linsen- bis
hellergroßion, entzündlich roten, leicht kleienförmig schuppenden,
disseminierten Scheiben besteht. Finger bespricht die differential¬
diagnostisch in Frage kommenden, von den Franzosen als Para¬
psoriasis zusammengefaßten Affektionen: Pityriasis lichenoides
chronica. Parakeratosis variegata und Erythrodermie en plaques
disseminees, das scheibenförmige Ekzema anaemicum und die
Psoriasis vulgaris und entscheidet sich für letztere Diagnose,
nachdem an den unteren Extremitäten Effloreszenzen vorhanden
sind, die sich zwanglos als echt psoriatische auffassen lassen.
Brand w einer demonstriert aus der Klinik Finger:
1. Einen 26jährigen Mann mit Lupus vulgaris serpiginosus
der rechten Wange. Gleichzeitig besteht an der rechten Tonsille
ein sehr flaches Geschwür mit feinzackigen Rändern. In den
Geschwürsgrund sind kleinste graue Knötchen eingelagert. Es
handelt sich um ein seichtes, tuberkulöses Geschwür.
2. Einen 30jährigen Mann mit Alopecia areolaris spe-
cifica, die deutliche Gruppenbildung der haarlosen Stellen zeigt,
mithin ihren Ursprung einer gruppierten Roseola verdankt, von
der noch Reste auf der Haut des Staminesi (nachzuweisen sind. Das'
Alter der Lues beträgt über ein halbes Jahr.
Reines berichtet über einen an der Abteilung Ehr¬
mann beobachteten Fall von Hauttnberkulose, der besonders
in klinischer Beziehung beachtenswert erscheint. Es handelte
sich uni einen 62jährigen kachektischen Patienten, der in der
Unterbauchgegend, beiden Leistenbeugen, dem oberen Drittel der
Oberschenkel, sowie in der Analgegend links und auf der Skro tal¬
haut disseminierte, kugelig elevierte, manchmal den Follikeln ent¬
sprechende Knötchen zeigte, die z. T. fistelartig eingeschmolzen
waren, z. T. durch breiteren Zerfall scharfgeschnittene, flache
Ulzerationen mit elevierten Rändern bildeten, in inguine links
jedoch, ad anum, sowie im Laufe der Beobachtung auch an
anderen Steilen aus den bereits erwähnten Krankheitselementen
sich entwickelnde und besonders an den erwähnten Stellen durch |
Zusammeniließicn flächenhaft aiisgebreitete, frambösiforme Wuche¬
rungen bildeten, die eine drüsig papilläre, zerklüftete Oberfläche
aufAviesen; an- den Kuppen zeigten diese,' durch tiefe, nässende
und eitrig sezernierende Furchen getrennten Elevationen manchmal
lochförmige, dünnflüssiges, graues, eitriges Sekret absondernde,
oder verkrustete Perforationsöffnungen.
Das gesamte erkrankte Hautgebiet zeigte chronisch entzünd¬
liche, ekzematöse Veränderungen. Außerdem fanden sich derb
und höckerig gesclnvellte, indolente Lymphdrüsen beiderseits in
inguine, sowie in der linken Axilla. (Demonstration von Photo¬
graphien.) Nonnaler Blutbefund. Diffuse Bronchitis, Fiebertem¬
peraturen, Kachexie, fortschreitender Kräfteverfall, zwölf Tage
nach der Aufnahme Exitus unter den Symptomen einer Pneumonie.
Obduktionsbefund (Dr. Kapfhammer): Beiderseitige
Lungentuberkulose und Lungenentzündung rechts, miliare Tuber¬
kulose der Milz, Tuberkulose der Leisten-, Axillar- und Retro-
peritönealdrüsen.
Die jüngeren, kleineren, noch nicht entwickelten, sozusagen
primären Effloreszenzen präsentierten sich histologisch ajs aus einem
die Kulis erfüllenden, scharf umschriebenen Infiltrat bestehend,
das fistelartig gegen die Oberfläche zu eingeschmolzen war. Die
konfluierenden Zellen waren die eines gewöhnlichen entzündlichen
Infiltrats : Rundzellen, spindelige und epitheloide Zellen, spärliche
Plasmazellen. Elastische Elemente in dieser Partie größtenteils
zugrundegegaitgen. Auffallend intensive Gefäßerweiteiung. Hin¬
gegen ergaben die Schnitte, die aus dem frambösifornien Wuche¬
rungen samt darunterliegenden Drüsen der linken Leiste ge¬
wonnen wurden, Tuberkel in den Drüsen, dem subkutanen Gewebe
und in der Kutis, nebst einem kontinuierlichen Infiltrat. Ebenso
fanden sich Tuberkelknötcben und typisches tuberkulöses Gewebe
mit zahlreichen Riesenzellen in allen Schichten der zerklüfteten,
solitären Effloreszenzen, kombiniert teils mit zentraler Verkäsung
oder Kolliqueszenz, zur Perforation führendem Zerfall. Tuberkel¬
bazillen mäßig reichlich in den Drüsen, den Hauttuberkeln, so¬
wie im diffusen Infiltrat. Am deutlichsten sind die pathologischen
Veränderungen in der tumorartigen Frambösie ad anum, von der
ein Präparat, nach Ziehl-Neelsen gefärbt, demonstriert wird.
Es handelt sich demnach um eine frambösiforme Tuberkulose
der Haut, per contiguitatem von den Lymphdrüsen aus entstanden,
deren eigentümliche Formkompliziertheit zum Teil erklärt werden
kann durch den Entwicklungsverlauf aus ,,primären‘‘, kalten, ein¬
fachen, oft schon perforierten und fortwährend sezernierenden
Haütabszessen und die Lokalisation derselben an Stellen, die
einer intensiveren Vlazeration und Stauung (infolge der erkrankten
Drüsen) ausgesetzt und chronisch entzündlich verändert Avaren.
Das absolute Fehlen klinisch bestimmbarer Lymphknötchen
einerseits, die Pathogenese andererseits differenzieren die Er¬
krankung von einer der geAvöhnlichen Lupusformen, bzw. der
Tuberculosis verrucosa cutis, obzAvar sie histologisch dem Lupus
papillaris (verrucosUs), oder der Tuberculosis verrucosa am ähn¬
lichsten sind.
Es handelt sich hier um eine der frambösiformen, erweichen¬
den, sekundären Hanl tuberkulösen mit positivem Bazillenbefund,
Avic ein solcher, dem vorliegenden teilweise sehr ähnlicher Fall
von Spitzer aus der Abteilung Lang beschrieben und von
MorroAv als Tuberculosis papillomatosa cutis bezeichnet Avurde.
Ullmann erinnert an zAveierlei Fälle von Hauttuberkulose,
eine Gruppe, 1894 in Graz und an verschiedenen Stellen vor¬
gestellt, wo aus kolliqualiven Drüsentuberkeln hervorgehend
Lupusplaques entstehen, die sich durch Bakterienarmut aus¬
zeichnen, so daß man nur durch den klinischen Befund Tuber¬
kulose, Lupus diagnostizieren kann. In die andere Gruppe gehört
ein Fall von Lupus verruc. laryngis, wo der Lupus von dem Larynx
über die Mundschleimhaut und andere Stellen sich ausbreitete.
Auch die histologischen Präparate entsprechen vollkommen den
bazillenreichen Bildern von Lupus verruc. framhoesiformis.
Programm
der am
Freitag den 22. März 1907, 7 Flir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Professor Dr. Ed, Laug stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Verkündigung des Wahlresultates.
2. Doz. Dr. Emil Schwarz : Demonstration.
3. Professor Dr. Hermann Schlesinger: Klinische Beobachtungen
über den Wiener Typhus.
Bergmeister, Paltauf.
Um die rechtzeitige Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer uoch am Sltziiug^sabeud zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Schrötter Donnerstag
den 21. März 1907, nm 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz: Hofrat Professor v. Schrötter.
Programm:
Prof. Dr. Philip (Edingburgh): Die Organisation und das Zu¬
sammenwirken antituberkulöser Maßnahmen; die Fürsorgestelle als
Mittelpunkt.
(In dieser Sitzung Averden keine Demonstrationen abgehalten.)
Das Präsidium.
Vtrantworllichfr Redakteur: Adalbert Karl Trupp. Verlag von Wilhelm Drau m filler in Wien.
Drnok von Bruno Bartelt, Wien, XVIII.. Theresiengasse 8.
Die
„Wiener kliulscUe
Woclieusclirlft“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0- Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riehl, Arthur Schattenfroh, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V, Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
rr . . .
Abouuenientsprels
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Insertions-
Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
Abonnements deren Abbestel¬
lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
luserate
werden mit 60 h = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille-
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebereinkommen.
Redaktion :
Telephon Nr. 16.282.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlagshandlnng :
Telephon Nr. 17.618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
XX. Jahrgang.
Wien, 28. März 1907.
Nr. 13.
1. Originalartikel: 1. Aus der I. k. k. psychiatrischen Klinik und
dem neurologischen Institute in Wien. Beitrag zur Paralyse¬
frage (mit Bezugnahme auf einen Fall paralyseähnlicher Er¬
krankung ohne adäquaten histologischen Befund, von relativ
stationärem Charakter und kombiniert mit progressiver
spinaler Amyotrophie). Von Dr. Erwin Stransky, klinischem
Assistenten.
2. Herzmuskelkraft und Kreislauf. Von Dr. Ludwig Hofbauer.
3. Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in Wien.
(Vorstand: Prof. R. Paltauf.) Lfeber die Spezifität der Bakterien¬
präzipitine. Von Dr. Michael v. Eisler.
4. Aus der Prosektiir der mährischen Landeskrankenanstalt in
Brünn. (Vorstand: Prosektor Dozent Dr. Carl Sternberg.) Zur
Kenntnis der multiplen zentralen Enchondrome. Von Doktor
Emil S ch w e i n b u r g, 1. Sekundararzt der chirurg. Abteilung.
5. lieber die Styriaquelle in Rohitsch-Sauerbrunn. Von Professor
E. Ludwig, Prof. Th. Panzer und Dr. E. Zdarek.
Referate: Lehrbuch der physiologischen Chemie. Von Olaf
Hammarsten. Ref.: Otto v. F'ürth. — Stimmbildung
und Stimmpflege. Von Dr. med. Hermann Gutzmann. Die
Therapie der Kehlkopftuberknlose mit besonderer Rücksicht
auf den galvanokaustischen Tiefenstich und äußere Eingriffe.
Von Dr. Ludwig Grünwald. Grundriß der Kehlkopfkrank¬
heiten und Atlas der Laryngoskopie. Von Dr. L. Grünwald.
Klinik der Bronchoskopie. Von Hermann v. Schrötter. Ref.:
0. Kahle r.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Tlierapeutisclie Notizen.
V. Nekrolog’. Privatdozent Dr. Alexander Ritter v. Weismayf.
Von Priv.-Doz. Dr. Sorgo.
VI. Vermischte Nachrichten.
YII. Yerhandinngen ärztlicher Gesellschaften und Eongrefiberichte.
I N HALT:
I if-
I
Aus der k. k. I. psychiatrischen Klinik und dem neuro¬
logischen Institute in Wien.
Beitrag zur Paralysefrage
(mit Bezugnahme auf einen Fall paralyseähnlicher Erkrankung
ohne adäquaten histologischen Befund, von relativ stationärem
Charakter und kombiniert mit progressiver spinaler Amyo¬
trophie).
Von Dr. Erwin Sti’ansky, klinischem Assistenten.
Bekanntlich ist die progressive Paralyse^ die eine Zeit¬
lang ein relativ sicher umgrenzter Besitz der Klinik schien,
durch eine Reihe neuerer Arbeiten gerade in ihren Be¬
grenzungen einigermaßen ins Schwanken gekommen und
es mehren sich die Stimmen der Autoren, die, vor allem
auf histologische Rindenuntersuchungen gestützt, manchen
bisher unter die paralytische Demenz subsumierten Fällen
eine andere systematische Stellung anweisen möchten. Ab¬
gesehen von Arbeiten früheren Datums (Tiiczek, Bins-
wanger u. a.) sind es neuerdings besonders die Unter¬
suchungen von N i s s 1 und Alzheimer (.Jena, ^1904), welche
in diesem Sinne klärend gewirkt haben, parallel mit den
klinischen Bestrebungen dieser mid anderer Schüler Kräpe-
lins (Gaupp^) ii. a.). Die nachstehende Mitteilung bezweckt
wesentlich, einen kurzen Beitrag zu dem derart angeschnit¬
tenen Fragenkomplex zu liefern, rechtfertigt sich aber übri¬
gens nebstbei auch durcli eine schon in der Titelüberschrift
h Deutsche med. Wochenschrift 1904.
angedeutete klinisclie und anatomische Besonderheit des ihr
zugrunde hegenden, im folgenden in aller gebotenen Kürze
mitzn teilenden Kranklieitsf alles.
Der 58jähi'ige eheiiudige Kaidnuuni J. K. ward am
13. Juli 1904 auf das Beobachtungszimmer des Wiener All¬
gemeinen Krankenbanses auf genommen. Laut polizeiärztlicliein
Barere ist er seit zwei Jahren zunehmend vergeßlicher, in der
letzten Zeit bernfsunfähig geworden, zeitweilig aggressiv, glaubt
sich im Besitze von Geld. Im Krankenliause manifestierte sich
die Demenz in deutlicher Weise. Am 19. Juli wuchs Fat. unserer
Klinik (in der Landesirrenanstalt) zu. Hier war er bei der Auf¬
nahme motivlos eupJiorisch, zeigte kein Krankheitsgefülil, erwies
sich als nicht orientiert, verharrte weiter in seiner dementen
Euphorie, auch auf die Mitteilung hin, daß er hier in der Irren-'
anstatt sei, stand seiner Lage ganz einsichtslos- gegenüber. Beim'
Examen macht er die typischen paralytischen Bedienfetiler. Soma¬
tisch; mittelgroß, kräftig, wohlgenährt; Pupillen auf Licht reagie¬
rend, keine ausgesprochene VII. -Parese; typisch paralytische
Spracliistörung (Silhenslolpern) ; I’SB schien links bei der ersten
Untersuchung fast zu fehlen, rechts sehr lebhaft; indes war dies
wohl nur durcli die willkürliche Innervation des dementen Kranken
bedingt, denn sowohl kurz vorher (Krankengeschichte der Klinik
V. Wagner) als auch nachher waren beide Kniereflexe lebhaft;
keine weiteren Auffälligkeiten von seiten des Nervensystems und
der inneren Organe.
Zur Anamnese erfuhren wir noch, daß Pat. schon in
der letzten Zeit vor der Einbringung das Bild dementer Euphorie
dargeboten haben soll. Lues war nicht zii eruieren. Die Gattin
des Patienten, angeblich gesund, hat einmal abortiert. Durch
die Freundlichkeit des Herrn Direktors Hellwig von der Irren-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
36ä
anslalt in Brünn erfuhr ich, daß, vier Kinder des Patienten in
Idlege der dortigen Anstalt standen, resp. noch stehen: ein
Solni mit Idiotie, der, 15 Jahre alt, an Tuberkulose starb; ein
zweiter Solm mit „Melancholie“, der mit 22 Jahren gleichfalls
an Tuberkulose starb; eine Tochter mit Imbezillität und men¬
struellen Erregungszuständen, die, 18 Jahre alt, an llerzlähmung
starb ; ein Sohn endlich, ein Imbeziller, ist derzeit noch in
der Iglauer Filialajistalt in Pflege; bei zwei der obengenannten
lag in der Anamnese Rachitis vor. Weisen diese Daten auf
eine mögliche Keims chädigung der Nachkommenschaft von seiten
beider oder eines der Erzeuger hin, so ist anderseits auch in
der Blutsvenvandtschaft aszendierender Linie Geisteskrankheit
nicht fremd: ein Oheim und eine Tante des Patienten werden
von der Gattin als charakterologiseh abnorm, drei Vettern (väter¬
licher- wie mütterlicherseits) als geisteskrank bezeichnet. Weitere
belangreiche Details ergab die Anamnese nicht. Weder körper¬
liche, noch psychisclie Surmenage ließen sich erheben.
Das Krankheitsbild blieb bei uns zunächst ein in jeder
Hinsicht stationäres; nur eine Art „degenerativen“ Zuges fiel
bei dem Kranken auf, insofern er mit einer gewissen Vorliebe
IMitpatienten zu necken und ihnen allerhand Schabernack, frei¬
lich in recht plumper Manier, anzUtun pflegte; er erging sich
in recht schwachsinnigen Plänen, äußerte Heiratsgedanken, drängte
sinnlos fort, erzählte, er habe ,,eine Braut mit 16.000 Gulden“
oder auch „mit 7000 Gulden“, versprach gelegentlich Aerzten
und Pflegern eine Belohnung von „10 Gulden“, wenn man ihn
hinauslasse und zeigte sich in jeder Hinsicht einsichtslos'. Er
merkte sich einzelne Namen der Umgehung und besondere Vor¬
kommnisse leidlich.
Im Oktober desselben Jahres begann Pat. mit der Klage
über Schwäche in der rechten Oberextremiität zu kommen und
mit dem Bemerken, daßi er sich ihrer nicht mehr recht zu be¬
dienen vermöge. Die Inspektion ergab eine beginnende, aber
unverkennbare Atrophie in den kleinen Handmüskeln, besonders
im Thenar, doch auch schon im Supinator longus, Bizeps und
Deltoideus wahrnehmbar; deutliche, fibrilläre Zuckungen in den
genannten Äluskeln. Im Laufe der Beobachtung nimmt die Atrophie
immer mehr zu und war bald auch links zu bemerken, auch
hier zunächst in den kleinen Handmüskeln, wo sie im Dezember
bereits einen merklichen Grad erreicht hatte. Ende 1904 ergab
die elektrische Untersuchung in den kleinen Handmuskeln und
imj Thenar links fast völliges Fehlen der galvanischen Erregbar¬
keit; im rechten Thenar deutlich träge Zuckung (Mitte November
war in den linken Interossei noch deutliche, aber träge Zuckung
zu verzeichnen gewesen) ; in den großen Muskeln die bezüg¬
lichen Störungen minder deutlich. Bei elektrischer Reizung der
Nervenstämme zucken die kleinen Handmuskeln gar nicht; bei
faradischer, dii’ekter Reizung reagieren die kleinen Hand- und
Daumenmuskeln ein wenig, doch etwas träger (die elektiische
Untersuchung des Patienten bot nicht geringe Schwierigkeiten
wegen seines ungemein störenden WidersHebens). Sensible Reiz¬
erscheinungen, Diaickschmerzhaftigkeit und elektive Sensibilitäts-
defekte (abgesehen von einer gewissen allgemeinen, wohl zum
großen Teil auf Rechnung der psychischen Verfassung des Pa¬
tienten zu beziehenden Hypalgesie) waren niemals zu verzeichnen :
auch Fieber oder sonstige Allgemeinerschein'ungen fehlten. Eben¬
sowenig kam es zur Entwicklung von Kontrakturen. Die
Sehnen reflexe waren an beiden Oberextrehiitäten eher herab¬
gesetzt, sicher nicht gesteigert.
Der weitere Krankheitsverlauf kennzeichnet sich durch ein
relatives Stationärbleiben, soweit das psychische
Bild in Frage kommt; hingegen machte der amyotrophische
Prozeßi unaufhaltsam immer weitere Fortschritte und parallel da¬
mit die schlaffe Parese der Oberextremitäten, unter steter Führung
der rechten hinsichtlich Intensität und Ausbreitung; nie waren
auch im weiteren Verlaufe Seitenstrangsymptome, sensible oder
trophische Störungen zu vermerken. Ein imi Juli 1905 erhobener
genauer Befund ergab einen besonders hochgradigen Schwund im
rechten Deltoideus (links etwas geringere Atrophie) ; ferner waren
beiderseits der Pectoralis major (rechts mehr als links), der
Bizeps (rechts war dieser Muskel geradezu auf einen dünnen
Strang reduziert), die rechte Trizepsmuskulatur, die langen Supi¬
natoren hochgradig atrophisch; die rechte Hand ward in Pro¬
nationsstellung gehalten und koimte nur mühsam supiniert
werden, die aktiven Bewegungen im Handgelenke (besonders die
Extension) waren sehr erschwert, desgleichen die Bewegungen
der Finger ; Händedruck rechts sehr schwach, links etwas kräftiger ;
Atropliie der kleinen Handmuskeln, namentlich rechts, hochgradig ;
auch der Serratus beiderseits etwas paretisch. Die Parese und
Gebrauchsunfähigkeit der rechten Oberextremität hatte natürlich
in gleicher Weise zugenommen. Pat. konnte von der rechten
oberen Extremität jetzt nur niehr unter aktiver Unterstützung
seitens der weniger ergriffenen linken Gebrauch ]nachen, den
Arm nicht mehr aktiv zur Horizontalen erheben. Die unteren
Extremitäten, sowie die Rumpfmuskeln, partizipierten nicht iui dem
atrophisiereuden Prozeß; auch im Bereiche der Hirnnerven
war intra vitam eine greifbare Amyotrophic nicht wahrzunehmen.
Der weitere Verlauf bot außer stetiger Zunahme der Muskel-
atropbien in den bezeichneten Gebieten und alhnäiilicher allge¬
meiner Gewichtsabnahme keine Besonderheiten. Psychisch
blieb Pat. ziemlich stationär, hielt sich äußerlich geordnet.
Am 25. Januar 1906 erfolgte ganz plötzlich der Exitus letalis.
Die Obduktion (durch Herrn Prof. Ghon im pathologischen
Institute ausgefübrt) ergab : chronische Leptomeningitis und
chronischen inneren Hydrozephalus mit Ependymgranulationen ;
Atrophie des Gehirns. Daneben: Lungenemphysem, Bronchitis,
einen kleinen tuberkulösen Herd in der rechten Lungenspitze.
Endlich exzentiische Hypertrophie des rechten Herzventrikels und
Stauung in Leber, Milz und Nieren.
Nach dem bisher Mitgeteilten (d. h. nach dem klini¬
schen und dem Autopsiebefnnde) würde sich unser Fall,
summarisch besehen, als ein simpler Kasus progressiver
Paralyse darstellen, der — abgesehen natürlich von der
Muskelatrophie — gar nichts besonders Bemerkenswertes
darböte, eine Fall, wie er dutzendmal unter unserem Anstalts¬
material sich in ähnlicher Ausprägung findet, unter dem
Bilde einfacher, allem Anschein nach paralytischer Demenz
(schwachsinnige, gegenstandslose Euphorie, gelegentliche
schwachsinnige Projektenmacherei, Einsichtslosigkeit, typi-
scJie Rechenfehler, daneben — hei ja schließlich nicht so
seltenem Fehlen der okulopupillären Symptome — schein¬
bar typische Sprachstörung ohne sogenamite bulbäre
Komponenten) langsam, ja — abgesehen von der Amyo-
trophie geradezu stationär verläuft, um plötzlich —
offenbar durch Herzlähmung — ad exitum zu kommen.
Zu irgendwelchen besonderen Gedanken und Erwägun¬
gen und damit zu einer über das bei solchen Fällen
gebräuchliche Maß hinausgehenden feineren psychischen
Zustandsuntersuchung konnte dieser Fall in der Fülle
des Materiales füglich keinen Anlaß bieten, da er sich
in den greifbaren psychischen Symptomen, wie bereits
bemerkt, in keiner Weise von so manchen anderen Paralyse¬
fällen unterschied. Und so war es denn auch intra vitam
fast ausschließlich die Kombination mit dem neurologischen
Befund, die ein berechtigtes Interesse zu erheischen schien.
Sind nämlich zwar lokalisierte Muskelatrophien bei der
Paralyse ebensowenig wie bei der Tabes als eine Besonder¬
heit anzusprechen: so gilt dieser Satz doch keineswegs
bezüglich der progredienten Amyofrophien vom Typus
A ran- Buchen ne, resp. Charcot, insofern eine nur recht
beschränkte Anzahl solcher Kombinationen in der Literatur
figuriert (Beobachtungen von Hoche^) und Neisser^) —
je zwei Fälle — , Tambroni,^) Westphal, Zacher®) —
amyotrophische Lateralsklerose — und Schuster.®) Diesen
Fällen schien sich auch der hier mitgeteilte anzureihen.
Das Interesse, welches er nach dieser Richtung hin bot,
bewog mich, ihn noch intra vitam jm hiesigen Wiener Verein
für Psychiatrie und Neurologie vorzustellen (siehe diese
Wochenschrift 1905, Seite 20; bezüglich der Lokalisations¬
angaben — rechts, links — haben sidi dort einige leicht
zu ermittelnde Druckfehler eingeschlichen). Dieses Interesse
erhöhte sich nun aber und begann sich nach einer ganz
anderen Richtung zu erstrecken durch das Ergebnis der
nach den üblichen Methoden (Wei ger t-Pal, Wolters-
Kaes, Gliafärbung, Csokor, Nissl, Marchi, van Gieson,
Hämalaun etc.) ausgeführten histologischen Untersuchung
der Hirnrinde (Stücke aus sämtlichen Rindenpartien,
namentlich aus der Frontalregion und den Zentral¬
windungen und des subkortialen Marks), des Rückenmarks,
der Pia, endlich einzelner peripherischer Nerven und Mus¬
keln. Es ist mir eine angenehme Pflicht, Herrn Hofrat Pro-
’) Neurolog. Zentralblatt 1904.
Allgem. Zeitschrift für F’sychiatrie, Bd. 49 und 51.
9 Siehe Neurolog. Zentralblatt 1888.
Neurolog. Zentralblatt 1886.
®) Neurolog. Zentralblatt 1896.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
369
fessor Dr. Übersteiner und Herrn Kollegen Privntdozenlen
Dr. Marburg für die mir bei der liistologischen Verarbeitung
und Durchsicht der Präparate in liebenswürdigster Weise
gewährte wertvolle Unterstützung an dieser Stelle meinen
herzlichsten Dank aussprechen zu dürfen.
ln der Rinde zeigten sich zunächst an Weigertpräparateh
(Wolters-Kaessche Modifikation) die feinen Fasern ein wenig
gelichtet, aber deutlich ausgeprägt und vorhanden, die radiären
sowohl wie die tangentialen; das Gleiche gilt bezüglich der
Faserung im subkortikalen Marke: geringe, doch keine geradezu
auffällige Abnahme an Fasern und demigemäßi auch keine auffällige
Verschmälerung. An Marchipräparaten fanden sich diffus ver¬
streut über das Gesichtsfeld schWarze Krümmel, besonders in
der weißen Substanz, offenbar Niederschläge die charakteristische
kettenartige Anordnung fehlte; wohl aber konnten in solitärenl
Exemplaren degenerierende, respektive zerfallende Faserstrecken,
besonders in der Radiärfaserung der grauen Substanz angetroffen
werden. Die Zentralwindungen und die Frontalregion unter¬
schieden sich bezüglich der Frequenz dieser Befunde vonein¬
ander nicht. Auf Nisslpräparaten zeigte die Hirnrinde eine voll¬
kommen elektive Schichtung und Tektonik und einen hinter der
Norm' nur in mäßigem Grade zurückstehenden Zellreichtum. Die
großen und kleinen Pyramidenzellen zeigten wie die anderen
Zellelemente meist eine annähernd normale Struktur; etwas
atrophische Zellelemente fanden sich in allen Rindenpartien immer¬
hin in bemerkbarer Anzahl, nur vereinzelt jedoch Zellbilder, die
als degenerative Formen angesprochen werden konnten. Daßi in
irgendeiner der zur Untersuchung gelangten Rindenpartien beider
Hemisphären die beschriebenen, an sich einer mäßigen Atrophie
entsprechenden Zellverändermigen besonders stark hervorgetreten
wären, läßt sich nicht sagen. Die Glia (Weigertsche Färbung,
nach der von BarteU:) angegebenen Modifikation) zeigte sich
feinfaserig, diffus etwas vermehrt, wenn auch nicht in hohem
Grade, die oberste subpiale Schicht, etwas verbreitert; keine irgend¬
wie auffällige perivaskuläre Wucherung. Die Gefäße in der Rinde
zeigten die Erscheinungen mäßiger Arteriosklerose; Lymph-
scheideninfiltration war nur um vereinzelte derselben in höherem
Grade, um viele gar nicht nachweisbar; als Plasmazellen konnten
nur vereinzelte Infiltratelemente da und dort angesprochen werden ;
zweifellose Stäbchenelemente zu sehen, glückte mir nicht. Jeden¬
falls konnte von einer ausgebreiteten Infiltration nicht gesprochen
werden; auch von Gefäßvennehmng konnte keine Rede sein.
Die Pia zeigte sich fibrös verdickt, ihre Gefäße arterio¬
sklerotisch und zum Teil mäßig infiltriert.
Der Hirnstamm wurde an einer Serie untersucht. Von den
untersten Abschnitten an zeigte sich die gliöse Randschicht
etwas verbreitert, ebenso die Gliasepta, endlich auch die sub¬
ependymäre Glia am Boden des vierten Ventrikels unter dem
stellenweise stark gewucherten Ependym; es fanden sich ziem¬
lich viele Amyloidkörperchen. Die Gefäße zeigten wiederum die
gewöhnlichen arteriosklerotischen Veränderungen, mehrfach
hyalinen Aspekt, die Infiltration um sie, wo solche vorhanden,
erreichte nur geringe Grade. In der weißen Substanz erschienen
bloß die Pyramidenbahnen etwas heller, doch ließen sie eine
dislinkte Degeneration nicht erkennen. Das dorsale Längsbündel
von Schütz erwies sich vollkommen intakt; in der Höhe des
Hypoglossuskerngebietes, resp. entlang demselben bildete das¬
selbe an mehreren Stellen eine Art Zwinge, in der dem sogenannten
Pop off sehen Kerne analoge Bildungen, resp. Ganglienzellen¬
häufchen von rundlicher Konfiguration ziemlich scharf hervor¬
traten ; die diese Zellhäufchen Umspielenden Faserkränze schienen
direkte Beziehungen zum dorsalen Längsbündel zu haben. Von
den Hirnnervenkernen zeigte sich im Bereiche des siebenten und
des motorischen fünften Kernes geringe Zellatrophie und Zell-
pigmentation, während dieselbe im Hypoglossusgebiet recht
beträchtliche Dimensionen angenommen hatte, so daß beide Kem-
gebiete des XH- Kernes recht zellarm erschienen; die atrophi¬
schen Zellelemente zeigten vorwiegend den Aspekt der P i g m e n t-
atrophie, doch fanden sich auch noch ziemlich viel normale
Zellen; das Fasernetz im Bereiche der genannten Kemausbrei-
tung zeigte sich rarefiziert, die Fasern sahen stellenweise wie
zerstäubt aus. Die übrigen Himnervenkerne erwiesen sich in¬
takt. Allenthalben erschien endlich die Pia fibrös verdickt, ihre
Gefäße vielfach arteriosklerotisch, aber nur mäßig und nur zum
Teil infiltriert, also so ziemlich der gleiche Befund wie über dem
Großhirn. Sonst bot sich im Bereiche des Stammhirnes keine
Besonderheit.
Vom Rückenmark wurden die zervikalen und die oberen
dorsalen Segmente an zahlreichen Schnitten untersucht. Hier
D Zeitschrift für wissenschaftliche Mikroskopie 1904.
war vor allem die hochgradige Zellarmut der Vorderhörner,
namentlich vom mittleren Halsmark an nach abwärts, auffällig;
von den vorhandenen Zellelementen zeigte nur ein kleiner Teil
normales Aussehen; die übrigen zeigten sich hochgradig ge¬
schrumpft oder vakuolisiert, die tigroide Substanz zeigte Ver¬
änderungen, wie Randstellung, Dissolutionserscheinungen, Homo-
genisienmig; der Kern war in manchen dieser Zellen wand-
sländig, in einzelnen nicht mehr zu sehen. Manche Zellen zeigten
erheblichen Pigmentgehalt, nicht wenige schienen ohne Fort¬
sätze. Sonstige Veränderungen der nervösen Elemente waren
nicht zu sehen; speziell wäre hervorzuheben, daß die weiße
Substanz auch bei Marchifärbung frei erschien imd an
Weigert -Palpräparaten nicht einmal die anscheinend leichte
Aufhellung der Pyramiden, wie sie im' Hirnstamm an¬
gedeutet seiden, im Rückenmark zu sehen war. Die
Gefäße zeigten mäßige Arteriosklerose ; InfilHation um sie
sah ich im Rückenmark fast nirgends. Relativ gering war
die Zahl der Amyloidkörperchen. Die Gliasepten waren nicht
gewuchert. Als einen akzessorischen. Befund möchte ich schlie߬
lich noch das Vorkommen eines Bündelchens feiner Fasern
in der Substantia gelatinosa centralis um den Zentral¬
kanal erwähnen, welches erst kürzlich von Marburg®) genauer
beschrieben wurde (unter Miteinbeziehung seines Vorkommens im
vorliegenden Falle); es sei daher in diesem' Punkte kurz auf
dessen einschlägige Mitteilung verwiesen, ebenso wie hinsicht¬
lich der Frage der Beziehungen, in denen anscheinend diese
Fasern zum dorsalen Längsbündel von Schütz stehen. In den
untersuchten peripheren Nerven der Extremitäten (besonders
Medianus und Peroneus) zeigte sich neben spärlicherer Wall er¬
sehen Degeneration besonders diskontinuierlicher Zerfall (secundum
Gombault,®) me^®) u. a.) in mäßigem Grade und in den
meisten Fasern (am Marchizupfpräparat) erhebliche Zunahme
der Elzholz'schen Körperchen (also Atrophieerscheinungen); in
den Nerven der oberen Extremitäten mehr als in jenen von den
unteren. Endlich kamen noch einzelne Muskelstückchen (Bizeps,
Trizeps ; leider nicht auch die Zungenmuskulatur) zur Unter¬
suchung. Es zeigte sich in ihnen Verschmälerung zahlreicher
Fasern, aber selbst in den stark atrophischen Elementen noch
größtenteils erhaltene Querstreifung; auf Marchipräparaten sah
man stellenweise ein abruptes Absetzen der schwarzen Granula,
wie solches auch von anderen Autoren (Marburg, Pilcz’^)
und anderen) erwähnt wird.
Rückschauend darf ich also wohl dahin resümieren,
daß in einem anscheinend ganz gewöhnlichen, nur
relativ stationären Falle von progressiver Paralyse, der
klinisch nur durch die seltene Kombination mit pro¬
gressiver Amyotrophie von spinalem Typus bemerkens¬
wert erschienen war, welche eben durch diese Kom¬
bination angeregte histologische Untersuchung erkennen ließ,
daß hier von progressiver Paralyse nicht gut gesprochen
werden kpnn, wenn man nicht die Bedeutung ^des anato¬
mischen Befundes für die klinische Systematik einfach außer
acht lassen will.
Kein Zweifel, daß Fälle solcher Art nicht zu den
Seltenheiten gehören und vielleicht hätte man sich in
früherer Zeit damit begnügt, sie unter die mannigfachen
Formen von sog. Pseudoparalyse zu rubrizieren: eine Be¬
zeichnung allerdings, die sich an sich schon als ein Ver¬
legenheitsausdruck kennzeichnet und daher wohl nicht recht
befriedigen kann. Wir werden daher wenigstens den Ver¬
such machen müssen, unserem Falle eine präzisere
Deutung zu geben.
Faßt man den klinischen Befund nochmals ins Auge,
so reiht sich derselbe zwar, wie bereits bemerkt, am unge¬
zwungensten den bekannten Paralysebildern ein : aber
sicherlich schließt er anderseits eine senile oder arterio¬
sklerotische Geistesstörung nicht absolut aus ; wohl bieten
die klassischen Bilder bei diesen Formen in der Regel einen
anderen Aspekt dar, indem dort die psychische Störung ein
mehr presbyophrenisches Gepräge und Untermischung mit
aphasischen Störungen zu zeigen, hier eine mehr ,,lakunäi’e“
zu sein pflegt und in beiden Fällen gerne delirante Züge
in ihrem Symptomenbild aufweist; indes, wie bei der Para-
®) Neurolog. Zentralblatt 1906.
®) Archiv, de Neurologie, Bd. 1.
Journal für Neurolog. und Psychologie, Bd. 1.
“) Siehe Wiener klin. Wochenschrift 1906 (Sitzungsbericht).
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
- VU
lyse, so kennen wir auch bei den diffusen Hirnaffeklionen
des vorgerückten Leliensalters, deren genauere symptomato-
logische Kenntnis bekanntlich noch manche Lücke aufweist,
unter anderem auch ,, einfach demente“ Formen, die jeder
klassischen Symptomatologie spotten und als Haupteharak-
teristikum nichts als eine einfache, nicht näher bestimm¬
bare, allgemeine psychische Abschwächung darhieten können,
deren besondere klinische Steilung im Einzelfalle nicht selten
bloß nach den neurologischen Begleiterscheinungen er¬
schlossen werden kann. Für Paralyse entscheiden in dubio
bekanntlich die sog. tabischen Symptome (die allerdings auch
da fehlen können) und mehr vielleicht noch als diese die
bekannte paralytische Sprachstörung. Nun wissen wir ja
(Befunde von ÄI o e 1 i, P i 1 c z. B a i m a n n ti. a.), daß die
okulopupillären Symptome selbst bei positivem Ausfall der
Prüfung kein unbedingt verläßliches Kriterium abgeben ;
und vielleicht gilt dies auch von der Sprachstörung. Es
sei hier davon abgesehen, daß es hekanntlich nicht immer
ganz leicht ist, manche andere dysarthrische Sprachstörung
von der paralytischen, bisher als wesentlich inkoordinatorisch
aufgefaßten akustisch und optisch (Mitbewegungen) zu unter¬
scheiden; im Alkoholdehrium z. B. kann man zuweilen
eine Sprachstörung beobachten, die der paralytischen sehr
ähnlich ist und vielleicht auch ähnliche funktionelle Bedin¬
gungen (Tremor, Ataxie) bezüglich ihres Zustandekommens
hat. Aber vielleicht braucht in unserem Falle die Sup¬
position nicht ganz von der Fland gewiesen zu werden, daß
die infolge des Fehlens einer elektiven Zungenatrophie und
bulbärer Störungen Intra vitain nicht diagnostizierbar ge¬
wesene Hypoglossuserkrankung doch schon frühzeitig be¬
standen habe und als Grundlage der bestandenen Sprach¬
störung aufgefaßt werden könnte; freilich bleibt die Frage
offen, warum eine ausgesprochen bulbäre Artikulations¬
störung nicht zu konstatieren gewesen ist und warum sich
die Erkrankung des peripheren Flypoglossusneurons in einer
Form manifestiert hat, wie sie sonst nur unter anderen Um¬
ständen heobachtet wird; jedenfalls waren ja übrigens im
Kerngebiete auch gesunde Zellelemente vorzufinden. Viel¬
leicht aber erkiä.rt sich die Existenz der Sprachstörung in
unserem Falle aus der Kombination der Erkrankung des
peripheren Sprachneurons mit der allgemeinen, diffusen
Rindenaffektion, resp. der dadurch bedingten psychischen
Abschwächung. Es scheint mir nicht unmöglich, daß bei
bestehender, sei es anatomisch, sei es funktionell (z. B. durch
Ermüdung) bedingter Schwäche des peripheren Sprach-
apparates eine Sprachstörung, die der paralytischen min¬
destens recht ähnlich ist, dann zustande kommen kann,
wenn auch die psychische Innervation in irgendeiner Weise
— sei es dauernd oder passager, sei es auf anatomischer
oder funktioneller Grundlage — eine minderwertige ist. Man
kann beispielsweise an psychisch normalen Personen, die in
übermüdetem Zustand oder im Zustand der Schläfrigkeit —
also unter kombinierter Minderinnervation des peripheren
und der ,,phychischen“ Neurone — ohne Anspannung der
Aufmerksamkeit sprechen, hei schwierigen Wörtern und
Phrasen, zuweilen Si Ibers tolpern und eine Art Beben
der Lippenmuskulatur, sowie monotone, etwas unsichere
Phonation zuweilen interkurrieren sehen, eine Sprach¬
störung, die allerdings sofort zu schwinden pflegt, wenn
sich die Individuen zu angespannterer Aufmerksamkeit,
resp. erhöhterer Vigilität mul damit zu entsprechender Inner¬
vation aufraffen (namentlich findet man dergleichen bei
leicht erschöpfbaren Neurasthenikern; natürlich sind damit
die hypochondrisch bedingten ,, Sprachstörungen“ mancher
solcher, besonders ehemals syphilitisch infizierter und an
Paralysefurcht leidender Kranker nicht zu vermengen; sie
haben einen ganz anderen Alechanismus, sind auch ganz
anderer Art und zessiereii denn auch ganz gewöhnlich
gerade mehr hei Weglenkung der Aufmerksamkeit). Viel¬
leicht können wir nun in unserem Falle die auf der vorhan¬
denen diffusen Rindenaffeklion, resp. der dadurch bedingten
Demenz fußende, dauernde, organische Minderwertigkeit der
,, psychischen Inneivation“ im Vereine mit der organischen
Affektion des peripheren Neurons — das ja wieder nicht
vollkommen, sondern nur partiell schwer geschädigt erschien
— dafür verantwortlich machen, daß die Sprachstörung sich
gerade als eine Art Koordinationsstörung geltend machte
und damit eine solche Aehnlichkeit mit der paralytischen
annahm, allerdings nicht nur vorübergehend auftrat, wie in
dem oben angezogenen Beispiel, sondern der vorhandenen
anatomischen Grundlage wegen dauernd.
Von einer diffusen Rindenerkrankung wird man in
unserem Falle zweifellos zu sprechen berechtigt sein, freilich
von einer solchen mäßigen Grades: die Arteriosklerose, die
Gliawucherung, die Piaverdichtung, die diffuse, wenn auch
nur mäßige Faser- und Zellatrophie in den verschiedenen
Regionen, ohne Beeinträchtigung der Rindenarchitektur: das
alles würde sich am ehesten noch im Rahmen der so häufigen,
senile' und leicht arteriosklerotische Prozesse in sich kom¬
binierenden Rindenbildern erklären, wie sie im vorgerückten
Alter — unser Patient zählte zur Zeit seines Todes fast
60 Jahre — nichts Seltenes sind.^^) Wir haben ja schon
oben davon gesprochen, daß das klinische Bild keineswegs
als gegen die Annahme eines derartigen Prozesses sprechend
qualifiziert werden kann.
Man könnte an unseren Fall noch einen anderen Kom¬
mentar knüpfen. Es ist bekannt, daß die chronischen Formen
der spinalen Muskelatrophie sowohl untereinander wie mit
den Dystrophien einerseits, der amyotrophischen Lateral¬
sklerose anderseits, in neuerer Zeit immer mehr als Spiel¬
arten einer in großen Umrissen einheitlichen oder doch
aus sehr verwandten Komponenten bestehenden Krankheits¬
gruppe auf gefaßt werden.
Die ätiologische Rolle, die bei dieser Krankheitsgruppe,
resp. ihren Teilgruppen, der individuellen, resp. familiären
Anlage zuzukommen scheint, ist bekannt (Raymond,^^)
StrümpelU'^) und andere). Anderseits ist wieder darauf
hingewiesen worden (Erb, Redlich^^) und andere), daß
speziell bei der amyotrophischen Lateralsklerose, der unter
anderem Kahler und Pickd®) und eine Reihe anderer
Autoren eine besonders nahe Verwandtschaft zu den chro¬
nischen spinalen Amyotrophien vindizieren, die Lues als aus¬
lösender Faktor eine gewisse Rolle spielt (für die Aluskel-
atrophie nimmt dies Gowej's^’^) an).
Bei unserem Kranken verzeichnen wir sicherlich eine
gewisse familiäre Disposition zu nervösen Erkrankungen,
wenn auch nur in ganz allgemeinem Sinne. Besonders auf¬
fällig ist die nervöse und speziell psychische Morbidität in
seiner direkten Deszendenz. Wir sind freilich außerstande,
zu entscheiden, ob jene auf familiärer Disposition beruht
oder auf Blastophthorie, etwa durch Lues der Eltern; be¬
kanntlich ward solche negiert. Mehr als diese Frage aber
noch wird uns die andere interessjferen, ob etwa die nach
dem eben Gesagten keinesfalls ganz ohne ätiologisches Sub¬
strat dastehende amyotrophische Erkrankung init der psy¬
chischen, resp. kortikalen Affektion in irgendeinen Zu¬
sammenhang gebracht werden kann oder nicht?
Fälle von Kombination psychischer Erkrankung mit
progressiver Amyotrophic finden sich in der Literatur mehr¬
fach beschrieben. Dornblüth-Kleiiiwächter^^) be¬
richten von einer später verblödeten, angeblich zirkulären
Psychose, zu der sich später eine amyotrophische Lateral¬
sklerose gesellte; Pilcz^^) beschrieb eine analoge Kom¬
bination mit Paranoia.^®)
Abgesehen von den bekannten Arbeiten von Alzheimer,
Buchholz u. a. verweise ich auf die jüngst erschienene Studie
Miyakes (Arbeiten aus dem 0 b er s t ei n e r sehen Institute, Bd. 13).
Clinique des mal. d. syst, nerv., Paris 1887/88.
'*) Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde, Bd. 3.
Siehe Wiener klin. Wochenschrift 1905 (Sitzungsbericht).
Kahler und Pi c k, Prag. V.-J.-Schrift für prakt. Heilkunde 1879.
'h Handbuch, deutsch v. Grube, Bonn 1892.
‘®) Dornblüth, Neurolog. Zentralblatt 1889.
’*) Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. 17.
’^®) Vielleicht darf hier auch auf den Fall Redlichs (Wiener
klin. Rundschau 1900) hingewiesen werden (neurale Muskelatrophie bei
einer Zirkulären, die väterlicherseits psychisch, mütterlicherseits neuro-
pathisch in gleichartigem Sinn belastet war); Redlich wies auf einige
ähnliche Fälle in der Literatur hin.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
i\ii einen vielleicht höheren Grad pathogenetischer Ver¬
wandtschaft wird man in dem Falle von Sarbo^^) denken,
dessen Patient als geistesschwach und emotiv beschrieben
wird; ebenso in den Fällen von Maas^^) (erblich belastetes,
imbezilles Geschwisterpaar, mit seit Jugend bestehender
amyotrophischer Lateralsklerose). Haenels^^) Kranke
zeigte in den letzten Monaten ihres Lebens Aufregungs¬
zustände; freilich fanden sich bei ihr auch erhebliche ar¬
teriosklerotische Veränderungen. Besonders interessant ist
aber für uns ein Fall amyotrophischer Lateralsklerose von
Mott,“^) den der Autor intra vitam .für eine Paralyse an¬
sah und der besonders Gedächtnisschwäche und leichte
Emotivität, grob anatomisch, bei der Obduktion gleichfalls
einen paralyseähnlichen Gehirnaspekt darbot (also ganz wie
der hier mitgeteilte Fall), während sich histologisch die
Rinde bloß im Projektionsanteil der motorischen Region
alteriert, sonst aber intakt erwiesen haben soll. Prob st,^^)
der dieses Thema eingehender behandelt und in einer Reihe
eigener Fälle Intelligenzdefekte und Stimmungsanomalien
hervorhebt, sagt geradezu, er habe keinen Fall von amyo¬
trophischer Lateralsklerose beobachtet, in dem die Psyche
vollkommen intakt geblieben wäre. Er spricht zusammen¬
fassend von ,,Intelligenzstörimgen, Gedächtnisschwäche, Ur¬
teilsschwäche, erschwerter Aufmerksamkeit und Auffassung,
Stimmungsanomalien, Affekten, Zwangslachen und zwangs¬
weisen Erregungszuständen und in seltenen Fällen Hallu¬
zinationen und Wahnideen und Hemmungszuständen“ als
Vorkommnissen in seinen Fällen. Probst vermutet an¬
scheinend (wie u. a. auch Sarbo), in der Erkrankung der
motorischen Rinde, resp. den sekundären Faserläsionen auch
das Substrat eines Teiles dieser psychischen Störungen.
Er glaubt übrigens, nahe verwandtschaftliche Beziehungen
der amyotrophischen Lateralsklerose mit der progressiven
Paralyse auch in histologischer Hinsicht annehmen zu sollen
(ich erwähne hier, daß kürzlich Marburg^*^) für eine
kontinuierliche histologische Veiwandtschaftsreihe zwischen
den organischen Affektionen im Zentralnervensysteme plä¬
diert hat). An eine vaskuläre Genese der Affektion, wie
manche Autoren sie annehmeu, glaubt Probst nicht.
Ich wage nicht so weit zu gehen wie Probst (und
Marburg). Aber gerade der hier mitgeteilte Fall gibt
im Zusammenhalte mit den Befunden dieser und ein¬
zelner anderer Autoren insofern zu denken, als er zeigt,
wie sehr die paralytische Erkrankung durch eine gewisse
äußere — wohl nicht auch innere! — Vei-wandtschaft
mit anderen Affektionen, wie es scheint, auch mit den
progressiven Amyotrophien, verbunden ist. In unserem
Falle sind die Rindenläsionen freilich ganz anders als in
den Fällen von Probst und Sarbo; aber die Möglichkeit
einer Entstehung der amyotrophischen und der kortikalen
Erkrankung aus der gleichen Wurzel ist gewiß nicht aus¬
zuschließen, mag auch erstere scheinbar der letzteren
zeitlich erst nachgefolgt sein. Vielleicht begünstigte die Ge¬
fäßerkrankung das Entstehen beider auf einem Locus mino-
ris resistentiae (durch individuelle und familiäre Defekt¬
anlage). Außerdem ist ja nicht nur das motorische System
(Pilcz [1. 'c.], Czyhlarz und MarburgA^) u. a.), sondern
gerade auch der Kortex durch seine besondere Inanspruch¬
nahme gegenüber Schädlichkeiten als besonders gefährdet
anzusehen. Histologisch aber, und das möchte ich be¬
tonen, scheinen die beiden Prozesse doch nicht restlos
identifizierbar. Ich glaube demnach nicht, daß der mit¬
geteilte Fall als eine ,, Psychose bei Erkrankung des motori¬
schen Systems“ anzusehen wäre, gleich jenen, die Probst
und andere im Auge haben; dabei erscheint es. mir — ich
Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde, Bd. 13.
Neurolog. Zentralblatt 1904, S. 666.
Archiv ifür Psychiatrie, Bd. 37.
Zit. nach Jahresbericht für Neurologie und Psychiatrie 1899.
Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in
Wien, Bd. 112 (3. Abteilung.)
^®) Die sogenannte akute multiple Sklerose. Jahrbuch für Psychiatrie,
Bd. 27.
’’h Zeitschrift für klin. Medizin, Bd. 43.
371
verweise auf das oben Ausgeführtc — von untergeordneter
Bedeutung, ob man die Amyotrophie in meinem Falle
als eine rein spinale oder als lateral sklerotische auffassen
will; ich entscheide mich aber für die erste Eventualität,
denn für eine greifbare Affektion der Pyramiden liefert der
histologische Befund keine Anhaltspunkte.
Ein letztes Interesse bietet aber unser Kasus noch
insofern, als es sich während der freilich nur anderthalb¬
jährigen Beobachtuug intra vitam um eine relativ
stationäre Paralyse zu handeln schien.- Bekannt¬
lich bedarf gerade die Frage der sogenannten stationären
Paralyse noch einigermaßen der Klärung, klinisch wie
anatomisch; vielleicht liefert der vorliegende Fall auch einen
kleinen Beitrag hiezu.
Herzmuskelkraft und Kreislauf.*)
Von Dr. Ludwig“ TTofbauer.
Auf dem vorjährigen Balneologenkongreß rief Horn¬
berger (Frankfurt) wohl nur deshalb so großes Auf¬
sehen hervor, als er die Harvey sehe Lehre vom Blut¬
kreislauf als unhaltbar darstellte, weil er diese, vor ihm
ja schon von so vielen Autoren betonte Unhaltbarkeit der
Lehre, daß der Herzmuskel allein die Blutzirkulation be¬
sorge, mit so einfachen und klaren Worten und Zahlen an
der Hand folgenden Beispieles darzustellen vermochte:
,,Wir haben es bei dem Blutkreislauf mit einem geschlossenen
Röhrensystem zu tun, in dem keine Spur irgendeines Gases in
freiem Zustande vorhanden ist; alle Gase sind entweder im
Blute gelöst oder chemisch gebunden, ja, Sie wissen alle, wie
ängstlich man vermeidet, daß Luft in die Gefäße eindringt, weil
dieselbe in größerer Menge die Ursache des Todes sein kann.
Nehmen wir eine kreisförmig gebogene Glasröhre, deren
beide Enden durch einen Gummiballon geschlossen sind, so kann
— wenn das System vollkommen mit Wasser gefüllt ist — auch
beim größten Druck keine Bewegung erfolgen, da Flüssigkeiten
nicht kompressibel sind. Komprimieren wir aber den Ballon, ehe
die Röhre gefüllt wird, so geht beim Aufhören der Kompression
der Ballon in seine Gleichgewichtslage zurück, es bildet sich
dadurch ein luftleerer Raum, die Flüssigkeit wird angesaugt. Es
tritt eine Bewegung auf beiden Seiten des Ballons in entgegen¬
gesetzter Richtung ein. Ist der Gummiballon auf der einen
Seite durch ein Ventil geschlossen und wiederhole ich den Ver¬
such, . so geschieht die Bewegung in einer Richtung. Sind an
dem Ballon zwei Klappen, die sich in demselben Sinne schließen,
so wird bei Kompression und Extension des Ballons die Flüssig¬
keit nur in einer Richtung strömen können. Und zwar wirken
nacheinander zwei Kräfte : zuerst eine Druck-, dann eine
Saugkraft.
Verallgemeinern wir diese Beobachtung, so können wir
sagen : In einem geschlossenen Röhrensystem, in welchem sich
kein freies Gas befindet, wirken bei der beschriebenen Versuchs¬
anordnung immer zwei Kräfte, die Druck- und die Saugkraft.
Sind statt eines Ballons zwei gleich große vorhanden, von
denen sich der eine kontrahiert, während sich der andere ‘aus¬
dehnt, so wirken diese beiden Kräfte zu gleicher Zeit, sich gegen¬
seitig unterstützend. Im Herzen sind diese Bedingungen erfüllt,
es wirken immer zwei Kräfte; mit anderen Worten: das Herz
ist keine Druckpumpe, wie Harvey gelehrt und wie man seit
drei Jahrhunderten geglaubt hat, sondern in gleichem Maße eine
Säugpumpe.
Es sind daher alle Berechnungen über die Arbeitslast des
Herzens falsch ; sie sind auch von vornherein unwahrscheinlich,
wenn man sich erinnert, daß nach diesen Berechnungen das Herz
bei ruhendem Körper mit einem Siebzehntel an der totalen
24stündigen Energielieferung des Körpers beteiligt ist, während
das Organ seinem Gewichte nach nur ein Zweihundertstel des
Körpers ausmacht.“
Der Nachweis nun, daß die Herzmuskelkraft als Quelle
der zur Zirkulation des Blutes notwendigen Kräfte nicht
ausreiche, ist, wie gesagt, keineswegs neu zu nennen. Schon
vor einem halben Jahrhundert hat beispielsweise Diester¬
weg nachgewiesen, daß es nicht angehe, die Blutzirkulation
als durch die Kraft des Herzmuskels allein zustande ge-
*) Vortrag, gehalten in der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
am 15, Februar 1907.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
kommen zu betrachten. Damals gab Niemeyer letztge¬
nanntem Autor Recht und setzte sich mithin eine wohl
genügend akkreditierte, klinische Autorität für die Richtigkeit
der Diesterweg sehen Auseinandersetzungen ein.
Wenn trotzdem Diesterwegs Bemühungen nahezu
nutzlos waren, Hornberger hingegen sofort einen durch¬
schlagenden Effekt erzielen konnte, so hängt dies, wie ge¬
sagt, zum großen Teile damit zusammen, daß er mit so
wenigen Worten, einem so klaren Beispiel die Zuhörer von
der Richtigkeit seiner Behauptungen zu überzeugen ver¬
mochte, um so mehr, weil er als Hilfskraft für die Zirkulation
die Saugkraft des Herzens ansprach, die Lehre von der
Saugkraft des Herzens aber auf vielen, von wohlbekannten
Autoren stammenden Versuchen aufbaut.
Goltz und Gaule kamen bekanntlich auf Grund ein¬
gehender Untersuchungen zu dem Resultate, daß sich wäh¬
rend der Diastole des Herzens in dem Ventrikel eine nega¬
tive Druckschwankung nachweisen lasse, welche als Saug¬
kraft, die Bewegung des venösen Blutes unterstützend, ein-
tritt. Die Versuche wurden seither oftmals wiederholt und
ist kaum m'ehr ein Zweifel darüber möglich', daß in derTat
sich diastolisch negative Druckwerte im Herzen finden. Ihre
Arbeit beantwortet gleichzeitig auch die offene Frage, welche
Diesterweg seinerzeit als Waffe gegen die Richtigkeit
der Harvey sehen Lehre ins Feld geführt hatte. Dieser
Autor wies darauf hin, daß schon deshalb Harveys An¬
nahme unhaltbar sei, weil man dann nicht erklären könne,
wie der rechte Ventrikel mit seiner dreimal schwächeren
Muskelschichte ebenso große Widerstände überwinden könne
als der linke Ventrikel.
Dieses Argument nun haben Goltz und Gaule an¬
scheinend widerlegt. Sie zeigten nämlich, daß auf dem Wege
der Ansaugung sich ein Ausgleich zwischen diesen Kraft¬
unterschieden des rechten und linken Ventrikels finden lasse.
,,Die Ansaugung der linken Herzkammer während der
Diastole kommt natürlich dem Lungenkreislauf zustatten. Die Er¬
klärungen, welche man bisher für die geringe Dicke der Muskulatur
der rechten Herzkammer gegeben hat, haben uns nie genügt.
Jetzt glauben wir eine wesentliche Ergänzung dieser Erklärungen
gefunden zu haben. Die Kraft, welche zur Besiegung der Wider¬
stände im Lungenkreislauf notwendig ist, wird nicht ausschließlich
von der rechten Herzkammer geliefert. Die linke Herzkammer
beteiligt sich an dieser Arbeit; das Quantum von Kraft, welches
bei der Systole der linken Kammer aufgewendet werden, muß,
um die elastischen Widerstände der Herzwand zu besiegen, wird
bei der nächsten Diastole als Saugkraft zugunsten des Lungen¬
kreislaufes verfügbar.“
Damit wäre die Diesterwegsche Argumentation zum
großen Teile gestürzt, denn nunmehr steht die Wanddicken¬
differenz des rechten und linken Ventrikels der Harvey-
schen Lehre nicht weiter im Wege. Hombergers Ein¬
würfe allerdings könnten damit nicht erklärt werden; denn
die diastolische Saugung, welche Goltz und Gaule fanden,
ist mach der Erklärung dieser Autoren auch nur als Resultat
der Herzmuskelkraft aufzufassen. Es bleibt mithin nach
wie vor die Frage offen, wie dieser schwache Muskel die
so große Arbeit leisten könne.
Gegen die Einführung der Saugkraft des Herzens als
Hilfskraft für die Blutzirkulation sprechen fernerhin auch
die von Gerhardt jun. auf dem vorjährigen Kongreß für
innere Medizin mitgeteilten Versuche. Letztere wurden
veranlaßt durch die Frage, ob eine kompensatorisclie Mehr¬
leistung der Saugkraft, die bei Zunahme des Schlagvolumens,
bei Stenose der venösen Ostien und bei Erschwerung der
Herzfüllung durch Vermehrung des perikardialen Druckes
zweckdienlich wäre, sich nachweisen lasse und führten zu
dem Resultat: ,,Daß der Saugkraft des Herzens eine Rolle
für die Pathologie zukäme in dem Sinne, daß sie einer
kompensatorischen Mehrleistung fähig wäre, hat sich bis
jetzt nicht erweisen lassen, auch nicht für diejenigen drei
Fälle, unter denen eine solche Kompensation dem Kreis¬
lauf sicherlich wesentlich zugute kommen würde.“
Krehl allerdings, der sich näher mit der Natur der
elastischen, die Saugung veranlassenden Kräfte bescliäf-
tigte, schreibt den elastischen Fasern der Herzwand die
aktive Rolle bei der Diastole des Herzens zu. Er präzisiert
dieselbe näher, indem er (Beiträge zur Kenntnis der Fül¬
lung und Entleerung des Herzens, Leipzig 1891) sagt;
,, Ferner scheinen elastische Kräfte im Spiele zu sein. Unter
dem Endokard liegen äußerst zahlreiche elastische Fasern, um¬
ziehen mit dem Endokard alle Muskelbündel der inneren Längs¬
schichten und gehen mit ihm in alle Vertiefungen hinein. Wenn
bei der Kammersystole diese einzelnen Bündel aneinandergepreßt
werden, so müssen die elastischen Fasern mit derselben nach
vielen Richtungen hin gedrückt und gezogen werden. Ihre ela¬
stischen Kräfte werden in Anspruch genommen und müssen sich
geltend machen, sobald die pressende Kraft nachläßt und das
Herz im Anfang der Diastole öffnen. Ebenso können die ela¬
stischen Platten wirken, welche von den Semilunarklappen aus¬
gehen, sich in das Innere der Muskulatur unterhalb der Aorten¬
wurzel erstrecken. Sie werden in der Systole ebenfalls gepreßt
werden und im Beginne der Erschlaffung einen Druck auf die
weiche Muskulatur ausüben.“
Durch die Einführung der elastischen Fasern als einer
neuen, von der Herzmuskelleistung unabhängigen Kraft¬
quelle für die Saugkfaft des Herzens ist aber die Frage
nach den Hilfskräften der Herzmuskulatur wohl nur schein¬
bar ihrer Lösung nähergerückt. Die elastischen Fasern
stellen ja an und für sich keine Kraftquelle dar; sie können
nur die zu ihrer Formveränderung im vorausgehenden Mo¬
ment aufgebrachte Kraft im nächsten Moment wieder be¬
tätigen. Es handelt sich bei der von ihnen manifestierten
Kraft wieder nur um die der Herzmuskulatur, welche eben
nur zu einem anderen Zeitmoment in Tätigkeit treten
könnte. Ueberdies hat von den Velden allen solchen Be¬
strebungen, durch Einführung der Saugkraft als unter¬
stützender Kraftquelle die Disharmonie zwischen der ge¬
ringen Herzmuskelkraft und der großen Arbeit der Blut¬
bewegung zum Verschwinden zu bringen, endgültig ein
Ende bereitet. Auf dem letzten Kongreß für innere Medizin¬
konnte dieser Autor in einer an Deutlichkeit nichts zu
wünschen übrig lassenden ’Weise dartun, daß es sich hier
in Wirklichkeit gar nicht um eine Saugkraft handle. Das
Herz wirkt, wie er ad oculos demonstrieren konnte, nicht
als Saug-, sondern nur als Druckpumpe im! Kreislauf.
Hiedurch wurde der I.ehre von der Saugkraft des
Herzens als Supplementärkraft jedweder tatsächlicher Boden
entzogen, hat Hombergers Versuch einer Beantwortung
der von ihm neuerdings aufgerollten Frage jedwede Be¬
rechtigung verloren. Welche Kräfte zur Unterstützung der
für die Bewerkstelligung des Blutkreislaufes zu schwachen
Herzmuskelkraft in Aktion treten, diese Frage hat seit Horn¬
berger keine Beantwortung erfahren, es bleibt nach wie
vor die Frage offen: Welche Kräfte sind es außer der
Herzmuskelkraft, welche den Kreislauf bewerkstelligen?
Nun habe ich bei meinen Untersuchungen, welche
ich in Gemeinschaft mit Herrn Priv.-Doz. Holzknecht seit
längerer Zeit schon in seinem Institut ausführe — der
erste Teil der Resultate wurde in dem soeben erscheinenden
Hefte der Hol zknecht sehen ,,Mitteilungen“ *) publiziert
— eine Erscheinung oftmals und immer wieder im gleichen
Sinne auftretend konstatieren können, welche berufen er¬
scheint, die Frage nach den Auxiliärkräften des Herz¬
muskels einer Lösung. näher zu bringen.
Wir beschäftigten uns im Verlaufe unserer Unter¬
suchungen eine Zeitlang mit der Frage nach dem Mecha¬
nismus der Atemvertiefung und stellten die Modi der hie¬
bei statthabenden Alterationen der Zwerchfellbewegun¬
gen fest.
Trotzdem unsere Aufmerksamkeit dementsprechend
auf die am Zwerchfell sichtbaren Bewegungsvorgänge ge¬
richtet war, fiel uns ein eigentümliches Phänomen am Herz¬
schatten auf, welches späterhin jedesmal konstatiert wer¬
den konnte. W ä h r e n d d e r t i e f e n E i n a t m u n g s c h w i 1 1 1
nämlich der Herzschatten in beträchtlichem
Maße an, während der Ausatmun g kehrt er wieder
auf das Volumen zurück, welches er vor Beginn
*) G. Fischer, Jena.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
373
der Einatmung innegehabt hat. Als Beispiel diene
Fig. 1, die Kopie einer Skizze, welche auf einer vor dem
Fluoreszenzschirm fixierten Glasplatte die bei einem
exspiratorische
inspiratorische
Fig. 1. (Verkleinert.)
Schreiendes Kind. (Fall 22. November 1905. 10.)
schreienden Kinde sichtbaren respiratorischen Größenver¬
änderungen des Herzschattens fixierte. Dieses stetig wieder¬
kehrende Spiel vollzieht sich nicht etwa in bescheidenen
Grenzen, es wird im Gegenteil die Größe des Herzschat¬
tens bei jeder einzelnen Inspiration wesentlich größer,
bei der darauf folgenden Exspiration wesentlich kleiner.
Dabei läßt sich leicht konstatieren, daß die Größe des
Herzschattens durch die tiefe Atmung in weit¬
aus höherem Maße beeinflußt wird als durch die
Aktion des Herzmuskels. Wenn also beispielsweise
während der Systole des Herzens die inspiratorische Atem-
Fig. 2.
Blutdruckkurve des Hundes, an der Carotis erhalten.
(Nach V. Bunge, Physiologie II, S. 305.)
phase statthat, so wird durch die inspiratorische Anschwel¬
lung nicht nur die der Systole entsprechende Verkleine¬
rung des Herzschattens vollständig kompensiert, sondern
um ein Vielfaches überholt. Die Schwankungen der Herz¬
größe, welche von den Atemphasen abhängig sind, über¬
wiegen eben in sO' ausgiebigem Maße die diirch die Kon¬
traktion des Herzmuskels bedingten, daß letztere nur als
geringfügige Schwankungen, den respiratorischen aufge¬
setzt, in Erscheinung treten. Es erinnert das Verhältnis
zwischen den durch die Respiration bedingten Größen¬
schwankungen des Herzschattens und den durch die
Herzmuskeltätigkeit bedingten an das Verhältnis, welches
die Pulskurve zeigt, wenn man dieselbe mit einem Mano¬
meter aufnimmt. Ich gestatte mir, eine diesbezügliche Re¬
produktion aus V. Bunges Lehrbuch der Physiologie
herumzureichen, die Ihnen gewiß noch von den physiologi¬
schen Stunden her in Erinnerung ist. SO' wie an dieser
Kurve weitaus größere Schwankungen entsprechend den
Atemzügen ersichtlich sind und diesen großen Schwankun¬
gen kleine, den Herzkontraktionen entsprechende aufge¬
setzt sind, so zeigt der Herzschatten Größenveränderungen,
welche in großem Ausmaße statthäben und der Respiration
synchron sind. Mit diesen großen Schwankungen^ inter¬
ferieren weitaus kleinere, durch' die Herzmuskelaktion ge¬
bildete (siehe Fig. 2).
So zeigt sich denn ein mächtiger Faktor in Funktion,
welcher in der Klinik bislang viel zu wenig Berücksichti¬
gung fand, trotzdem, wie die eben herumgezeigte Kurve
zeigt, man schon vorher Anhaltspunkte dafür gehabt hätte,
der Atmung in ihrer Bedeutung für die Förderung des
Blutkreislaufes eine entsprechende Rolle zu vindizieren.
Wenn dies bislang nicht geschehen ist, so mag ja dafür
vielleicht die Erfahrung verantwortlich gemacht werden, daß
man einerseits am Herzen direkt Beobachtungen nicht an¬
stellen konnte und die an den peripheren Blutgefäßen an-
gestellten Beobachtungen, resp. gesammelten Erfahrungen
nicht eindeutig waren. So' hat Ledderhose in einer aus¬
gezeichneten Arbeit, welche vor kurzer Zeit in den „Mit-
teilmigen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie“
erschien, darauf hingewiesen, daß sich an den peripheren
Venen in die Augen springende Unterschiede der Füllung
mit Blut entsprechend den verschiedenen Respirationsphasen
nach weisen lassen.
Unverständlich aber schien es, daß da nicht an allen
Venen des Körpers gleichsinnige Bewegungen statthaben.
Während das eine Gefäßgebiet inspiratorisch abschwillt, so
daß man sich also leicht denken kann, daß durch
negativen Druck im Brustraum das Blut in der Peripherie
angesogen wird, zeigen gleichzeitig andere Teile des Gefä߬
systems bei ganz normalen Menschen in immer gleich¬
mäßig wiederkehrender Weise, zur Zeit der Inspiration im
Gegenteil: Anschwellung und yergrößerung des Blutgehaltes.
Nun scheint es auf den ersten Blick nicht verständlich,
warum die Einatmung auf das eine Venengebiet zirkula¬
tionsbefördernd und auf das andere bluüaufhemmend wir¬
ken sollte (und ebenso die Ausatmung). Dementsprechend
scheint der Einfluß der Atmung auf die Zirkulation infolge
dieser Gegensätzlichkeit in seinem Endeffekt zu verschwin¬
den, indem auf der einen Seite soviel genützt, als auf der
anderen Seite geschadet würde.
Letzterem Gedanken geben bedeutende Physiologen
selbst, wie Mos so und.Marey Ausdruck. Nach ersterem
,, heben sich, da die verschiedenartigen respiratorischen Be¬
einflussungen des venösen Blutlaufes in den oberen unteren
Extremitäten in entgegengesetzter Richtung sich abspielen,
ihre Wirkungen auf“ und nach Maray „neutralisieren sich
die durch ln- und Exspiration iih entgegengesetzten Sinne
innerhalb des Thorax und des Abdomens erzeugten Druck¬
änderungen“.
Diese unklaren Verhältnisse aber sind dürcli eine von
dem bekannten Anatomen Hasse veröffentlichte Arbeit in
letzter Zeit eindeutig geklärt worden. Er beschreibt m
seiner Arbeit: Die Atmung und der venöse Blutstrom
(Archiv für Anatomie und Physiologie, physiologische Ab¬
teilung, 1906), die Einwirkung der Atmung auf den venösen
Blutstrom in so klassischer, eindeutiger Form, daß man
versucht wäre, die ganze Arbeit hier einrücken zu lassen.
Ich will jedoch der Kürze halber bloß die markantesten
Stellen in Form folgender Exzerpte und Stichworte wieder-
gebem I I ' 1 . ' ^
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
Nr. 13
Seite 291 : „Die Einatmung bewirkt ein erhöhtes Zuströmen
des Blutes aus dem Gebiete der oberen Hohlader in das Herz
und ein erhöhtes Abströmen des Blutes aus den Lebervenen in
den hyperpbrenischen Abschnitt der unteren Hohlader. Sie be¬
wirkt aber zugleich eine Rückstauung des Blutes in dem Gebiete
des peripheren hypophrenischen Abschnittes der Vena cava
inferior, sowie im Gebiete der Pfortader.
Die Ausatmung bewirkt ein vermindertes Zuströmen, eine
Rückstauung in dem Gebiete der unteren Hohlader und der
Lebervenen, dagegen ein vermehrtes Zuströmen aus dem Gebiete
der hypophrenischen Körpervenen und aus dem Gebiete der
Pfortader in die Leber hinein.
Das Maß des Zuströmens und der Rückstauüng richtet
sich in den verschiedenen Gebieten nach der Art der Atmung,
ob Brust-, Bauch- oder gemischte Atmung.
Die Stauungsstelle liegt bei allen Arten der Atmung an der
Vorderseite der in den Herzbeutelraum ragenden oberen Hohlader.
Die Stauungsstelle der unteren Hohlader liegt bei der gemischten
Atmung vor allem unterhalb des Zwerchfellsloches an der Hinter¬
wand der Leber und besonders im oberen Teile der Hohlader-
furcbe. Bei der reinen Bauch- und der reinen Brustatmung liegt
sie dagegen vor allem unterhalb der Leber an der Vorderwand
des peripheren Abschnittes der Vena cava inferior. Die Stauungs¬
stelle an der Pfortader liegt über dem Pankreas unterbalb der
Leberpforte, gleichgültig, wie geatmet wird.
Die Lage der Stauungsstelle der unteren Hohlader unter¬
halb des Foramen venae cavae erklärt es, wie beim Beginn der
Einatmung zuerst ein verstärkter Zufluß aus derselben in das
Herz, dann erst eine Stauung stattfmdet. Bei der Einatmung
erfolgt zuerst infolge der Spannung des Zwerchfelles eine Er¬
weiterung des Hohladerloches und damit eine Erweiterung des in
seinem Bereiche liegenden Gefäßabschnittes. Dann erst tritt eine
Verengerung ein u. zw. durch den Druck des Zwerchfelles auf
eine tiefer gelegene Stelle der Vena cava inferior.
Die Richtigkeit dieser Sätze ergibt sich aus dem ana¬
tomischen Verhalten der in Frage kommenden Gefäße zu den
bei der Atmung tätigen Teilen der Brust, der Bauchwand und
des Zwerchfelles, sowie der Eingeweide.
Die obere Hohlader.
Interessant ist die Form der oberen Hohlader. Außerhalb
des Perikardiums zylindrisch mit kreisförmigem Querschnitt
zeigt sie nach meinen Untersuchungen dieselbe Form beim Neu¬
geborenen und Kindern . . . anders dagegen beim Erwachsenen. . . .
Ihr Querschnitt ist dort elliptisch, die Spitze der Ellipse gegen
die Aorta nach links und hinten gewendet, so daß die längste
Achse von rechts vorne nach links und hinten steht. Dabei ist
die hintere Fläche abgeplattet, die vordere Wand dagegen nach
vorne ausgebuchtet. Diese Form und diese Formveränderungen
sind meiner Ansicht nach die Folge der durch lange Jahre fort¬
gesetzten Atembewegung des Brustkorbes. Ich wies bereits früher
nach, daß die Atmung einen formbedingenden Einfluß auf die
Lunge ausgeübt hat. . . . Warum sollte sich nicht ein gleicher
Einfluß auf die Gefäße geltend machen können ? Ich glaube diese
Frage für die obere Hohlader bejahen zu müssen, denn es ist
auffällig, daß die Ausbuchtung der Vorderaußenwand durchaus
der Vor-, Aufwärts- und Seitenbewegung des Brustkorbes bei der
thorakalen Atmung entspricht.
Die untere H o h 1 a d e r.
Seite 2i)4 : „H enle erwähnt eine Kaliberzunahme der Vene
zwischen der Einmündung der Lebervenen und dem Zwerchfell,
einen Lacus venae cavae. . . . Tatsächlich besteht die Erweiterung
des Lakus ; allein sie besteht nicht für sich allein, sie ist nur
ein Teil einer Erweiterung des intraperikardialen Abschnittes der
unteren Hohlader, eines Bulbus venae cavae inferioris und
zwar der untere Abschnitt desselben. Heule deutet ihn nur
an . . . und nur in einer von R ü d i n g e r s Figuren finde ich
diesen Bulbus gezeichnet. . . .
Dieser Bulbus venae cavae inferioris . . . erstreckt sich
von der Einmündung der Lebervenen als Lakus (Heule) bis zu
der Ausmündung in den rechten Vorhof. Dabei ist seine Aus¬
dehnung — entsprechend der Stellung des Foramen venae cavae —
eine durchaus verschiedene. Hinten und links reicht er tiefer als
rechts und vorne. Dies ist wichtig mit Rücksicht auf die Ein¬
mündung der Lebervenen, zu denen ich mich jetzt wende. In
Betracht kommen hiebei vor allem die beiden Hauptvenen des
rechten und des linken Leberlappens. Die eine mündet von rechtb,
die andere von links her in die untere Hohlader. Die Ein¬
mündung der ersteren liegt höher, die der letzteren tiefer.
Die Einströmungsverhältnisse liegen somit für die rechte, dem
mächtigen rechten Leberlappen entstammende Ader viel günstiger
als für die dem schwächeren und dünneren linken Leberlappen
angehörige Vene. Wichtig ist, daß die Einmündung unmittelbar
unter dem Foramen venae cavae und daß die rechte Lebervene
sogar zum Teil oberhalb im Bereiche des sich an der Hohlader
aufwärts schlagenden Teiles des Perikardiums, also nicht hypo-
phrenisch, sondern hyperphrenisch liegt. Die Mündungsstelle
liegt auch nicht — wie man es oft dargestellt findet — innerhalb
der Hohladerfurche der Leber, sondern zum Teil über derselben
an der Leberfurche.“
Seite 296 : ,,Die Hebung der Brustwand nach oben vorne
und seitlich . . . hat nun eine Hebung und Erweiterung des Herz¬
beutels zur Folge, welche wiederum einen gleichen Einfluß auf
die im Cavum pericardii gelegene Vorderwand der oberen Hohl¬
ader in steigendem Maße von oben nach unten ausüben muß.
Dies hat dann die Ansaugung des Venenblutes aus den über dem
Zwerchfell gelegenen Körperteilen zur Folge. Die nach unten
zunehmende Erweiterung der Vena cava superior ergibt sich aus
den Verhältnissen des Herzbeutels zur vorderen Brustwand. Er
liegt ja abwärts von der vierten Rippe linkerseits — unbedeckt
von den Brustfellen und den Lungen — dem Brustbein und den
Rippenknorpeln unnjittelbar an und ist mit ihnen durch Binde¬
gewebe verbunden, während sich oben Lungen und Pleura
dazwischenschieben.
Sinkt nun bei der Ausatmung der Brustkasten, dann muß
die obere Hohlader sich um dasselbe Maß verengern. Ein Teil
des Venenblutes der oberen Körperhälfte muß rückgestaut
werden und das wird sich in den entfernten Venengebieten
besonders an den Hautvenen geltend machen, namentlich aber
auch in dem in die obere Hohlader absteigenden Jugularsystem,
vor allem in der Jugularis interna.“
Seite 297 : „Zur Erweiterung der oberen Hohlader, welche
das stärkere Abströmen des Blutes aus der oberen Körperhälfte
bedingt, gesellt sich nun aber ein erhöhtes Zuströmen des
Blutes der Lebervenen in die Vena cava inferior u. zw. in den
über dem Zwerchfell gelegenen Abschnitt und dieser bei der
Einatmung verstärkte Strom trägt dann zur bulbären Erweiterung
desselben bei. Bei der Hebung des Brustkorbes hebt sich der
vordere, der sternokostale Teil des Zwerchfelles nicht allein,
sondern es muß das Zwerchfell auch gespannt werden. Damit
ist aber . . . vor allem eine Erweiterung des Foramen venae
cavae verbunden, welche — wie die Abflachung — eine Er¬
weiterung des unteren Herzbeutelraumes und damit eine Er¬
weiterung das Bulbus venae cavae inferioris und des dazu¬
gehörigen Lakus zur Folge hat. Damit erklärt sich die Ent¬
leerung des Lebervenenblutes in steigendem Maße in diesem
Gefäßabschnitt. . . . Bei der Ausatmung findet dann eine Rück¬
stauung des Blutes im Bulbus durch die wieder eintretende Ver¬
engerung des unteren Herzbeutelraumes und des Foramen venae
cavae . . . statt. Damit ist dann auch das Auftreten des Bulbus
und des Lakus erklärt, der sich bis unter das Foramen venae
cavae und bis zur Leberoberfläche erstreckt. . . .
Die Ansaugung des Lebervenenblutes bei der Einatmung
wird auch noch weiter unterstützt durch die Pressung, welche
die untere Hohlader und ihr hypophrenischer Abschnitt erleiden. . . .
Diese Pressung . . . erfolgt entsprechend der Baucheinziehung
nach oben und hinten. . . .“
Seite 298 : „Bei der reinen Zwerchfellatmung wird . . . die
Leber gepreßt und gedehnt, das Foramen venae cavae er¬
weitert . . . durch das starke Abwärtsgehen des Zwerchfelles
wird ferner der untere Perdikardialraum in hohem Maße wie bei
der Brustatmung erweitert und dies erklärt das größere Volumen
des Bulbus venae cavae und bedingt neben der Erweiterung des
Hohlvenenloches und der starken Leberpressung ein erhöhtes
Abströmen des Blutes der Lebervenen.“
Die Berücksiclitigung dieser von anatomischer Seite
geltend gemachten Faktoren gibt im Zusammenhalt mit den
durch die klinische und physiologische Forschung bekannt
gewordenen Daten Aufschluß darüber, welcher Art die Wir¬
kungsweise der Respiration auf die ßeförderung der Zir¬
kulation sei. Es kommen hauptsächlich zwei Faktoren in
Betracht : 1 . Ein mechanischer, welcher im Sinne der
Hasseschen Auseinandersetzungen dadurch wirkt, daß die
Atembewegung das anatomische Verhalten des Herz¬
beutels und des Lakus der Vena cava inferior einerseits,
sowie das der Bauchorgane anderseits ändert und dadurch
die Bewegung des Blutes fördert.
Als zweiter Faktor kommt der in der Brusthöhle in¬
folge der Wirksamkeit der Piespirationsorgane herrschende
negative Druck in JJetracht. Er wird gewöhnlich in seiner
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
375
Ciröße wesentlich iiiilerscliälzt, weil man glaubt, er sei ledig¬
lich von so geringem Ausmaße als dies die Donders-
schen Untersucliimgen zu zeigen schienen.
Dieser Autor band in die Luftröhre eines mensch¬
lichen Leichnams ein Manometer ein, eröffnete dann beider¬
seits den Thorax und bestimmte mittels Manometers den
Druck, welcher durch die elastische Kraft der Lungen er¬
zeugt wird. Diese tritt, sobald der Brustkasten eröffnet ist,
in Erscheinung und trachtet die Lungen zu verkleinern'.
Die so gewonnene Druckgröße aber gibt viel zu geringe
Werte für den der Lunge innewohnenden elastischen Zug
an, welcher während des Lebens in der Lunge herrscht
und erst dann erschöpft wird, wenn der Lunge Gelegen¬
heit gegeben wurde, auf ihren fötalen, atelektatischen Zu¬
stand zurückzukehren. Die Lunge kann nämlich beim Le¬
benden selbst dann, wenn man die Brusthöhle eröffnet,
nicht sofort so stark sich retrahieren, als dies die ihr
innewohnende elastische lletraktionskraft erzielen wollte.
Sie kann dies nach Lichtheims und Bartels’ An¬
schauungen deshalb nicht, weil, sobald aus den Alveolen
etwas Luft entwichen ist, die Bronchiolenwände sich an¬
einanderlegen und dem Besiduum von Luft, welches in
der Alveole sich noch befindet, den Austritt verwehrt. Daß
aber trotz dieses Aufhörens von Luftaustritt die elastische
Kraft der Lunge noch nicht erschöpft ist, erweisen die
Versuche von Traube und Lichtheim zur Genüge. Sie
konnten zeigen, daß beim Versuchstier die Lunge, wenn
ein Pneumothorax erzeugt wird, nach mehreren Stunden
in der Tat auf den völlig luftleeren Zustand zurück¬
kehrt. Dieses Verhalten kann, wie Lichtheim nachge¬
wiesen hat, nur so erklärt werden, daß das kreisende Blut
aus der Alveole die unter Druck stehende Luft vollständig
resorbiert. Zu einer vollständigen Resorption der Luft kann
es aber nur deshalb kominen, weil die in der Alveole be¬
findliche Luft unter Druck steht (der Wirkung der durch
das Eindringen der Luft in die Lunge geweckten, elastischen
Retraktionskraft) .
Schon daraus erhellt, daß die elastische Retraktions¬
kraft der Lunge einen ganz wesentlichen und mächtigen
Faktor darstellt. Während der Inspiration wird die elastische
Retraktionskraft noch weiterhin gesteigert, während der
Exspiration sinkt sie auf einen Minimalpunkt herab. Schon
diese (relativ geringe) inspiratorische Steigerung des nega¬
tiven Druckes hat auf die Blutbewegung einen in der Druck¬
kurve so deutlich ausgeprägten Einfluß. Daraus erhellt,
einen um wieviel größeren Einfluß die elastische, Retrak¬
tionskraft (die stabile Größe, welche im Thorax herrscht.)
auf die Blutbewegung ausüben muß. Zeigen doch die Druck¬
messungen, welche in so großer Anzahl am Versuchstier
und am Menschen angestellt wurden, daß durch die In¬
spirationsbewegung der negative Druck im Thorax ledig¬
lich um zirka die Hälfte seiner Größe steigt. Es ist daher
der Schluß zulässig, daß die vitale Retraktionskraft zirka
zweimal soviel leistet als die durch die Inspiration hervor¬
gerufene Verstärkung des negativen Druckes im Thorax.
Bei Berücksichtigung dieses so mächtigen Einflusses
der Respirationsbewegung auf den Blutkreislauf wird eine
ganze Menge von bislang offenen Fragen in der klinischen
Medizin seiner Lösung näher gebracht, für welche man
bisher nur Aushilfstheorien hatte. Es reicht die Zeit, die
mir zur Verfügung steht, keineswegs hin, um; alle die vielen
offenen Fragen näher zu beleuchten und auf ihre Lösung
mit Hilfe der respiratorischen Einwirkung auf die Zirku¬
lation näher einzugehen. Ich will mich darauf beschränken,
eine einzige von den vielen Fragen etwas näher zu be¬
leuchten. Es ist das die Frage von der Arbeitsdyspnoe,
resp. kardialen Dyspnoe. Auch hier kann ich nicht auf
alle strittigen Punkte (welche trotz der in letzter Zeit zu¬
tage geförderten Aufklärimg [siehe diesbezüglich den dan¬
kenswerten Vortrag von R. Beck in der k. k. Gesellschaft
der Aerzte vom 12. Januar 1906, Wiener mediz. Wochen¬
schrift 1906, Nr. 6 und 7j noch immer existieren) und ihre
Lösung unter Berücksichtigung des angegebenen Faktors
eiiigehen und greife ein Teilkapitel beraus, die kardiale
Grthopnoe.
Mit dem Namen der kardialen Örthopnoe bezeichnet
man die in der Klinik ,so oft wahrnehmbare Erscheinung,
daß Patienten, welche an Erkrankungen des Herzens oder
der großen Gefäße leiden, nachts plötzlich aus dem Schlafe
mit dem Gefühl der Atemnot erwachen und erst dann
wieder einschlafen können, wenn sie sich sitzend im Bette
befinden. Diese allgemein bekannte Erscheinung hat bis¬
her fast keine pathogenetische Erklärung gefunden. Man
fand sich gewöhnlich mit der Erklärung ab, daß im Liegen
die Atemmuskulatur den Thorax schlechter bewegen könne,
die Atmung behindert sei und das Zwerchfell weniger respi¬
ratorisch tätig sei, weil die großen Unterleibsdrüsen, Leber
und Milz, es an den Atemexkursionen mehr behindern als
beim Sitzen, wO' diese Organe vom Zwerchfell mehr hin¬
wegrücken.
Daß diese Erscheinung hauptsächlich nachts auftrete,
dafür finde ich lediglich bei Bouchard den Versuch einer
Erklärung. Er glaubt sie darin gefunden zu haben, daß
bei Nacht mehr harnfähige Substanzen im Körper re liniert
bleiben als bei Tage und als Folge der Einwirkung . dieser
Substanz sei die nächtliche Steigerung der Atemnot zu
erklären. Das erklärt allerdings Bouchards Hypothese
nicht, was denn im Sitzen besser sei als im Liegen. Man
muß also selbst unter Annahme seiner Hypothese die haupt¬
sächlich von deutschen Autoren verfochtene, oben ange¬
führte Annahme einer Verbesserung der mechanischen Ver¬
hältnisse für den Respirationsakt annehmen, welche im
Sitzen erfolge.
Nun war es zunächst nötig, zu erweisen, ob denn in
der Tat das Zwerchfell im Sitzen ausgiebigere Atembewe¬
gungen vollführe als im Liegen. Ich wandte mich daher
an Herrn Dozenten Holzknecht mit der Bitte, radiologisch
Fig. 3.
Zwerchfellbewegungen bei
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......... Qifypn i ^ “ inspiratorischer )
die Richtigkeit dieser Supposition prüfen zu wollen. Da
ergab aber die Untersuchung, welche an einer großen Ver¬
suchsreihe durchgeführt wurde, daß ganz im Gegensatz zu
der allgemein angenoinmenen, oben erwähnten Prämisse
die Atembewegungen des Zwerchfelles im Liegen weitaus
mächtiger, ausgiebiger sich darstellen als beim Sitzen.
(Siehe Fig. 3.)
Außerdem ergab eine an anderer Stelle bereits vor¬
getragene Reihe von Tatsachen, daß es nicht angehe, die
Vorliebe für die sitzende Stellung damit zu erklären, daß
Nr. 13
3<si
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
dadurch die llebiiiig des Tirorax bei der Kiiialiiiiuig ge¬
fördert werde. Ich konnte in einem einwandfrei aufgenom¬
menen Vorträge in der Geseilschaft für innere Medizin und
Kinderheilkunde vor kurzer Zeit zeigen, daß dies unmöglich
die Ursache für die Orthopnoe darstellen könne.
So sind demi die gewöhnlich angegebenen Ursachen
für die kardiale Orthopnoe zu verwerfen. Es mangelt bis¬
her an einer Erklärung dafür, warum die Patienten im
Sitzen weniger Atemnot verspüren, ,,mehr Luft haben“, als
in Rückenlage.
IMan köimte noch an die Möglichkeit denken, daß
eventuell die von Moritz vor zirka einerh Jahre beschrie¬
benen Aenderungen der Herzkonfiguration und -größe, die
er manchmal bei Lageänderung beobachten konnte, hier
verantwortlich zu machen seien. Eine näliere ßetrachtung
aber erweist alsbald, daß ein solcher Versuch vollkommen
fruchtlos zu nennen wäre. Warum Patienten mit Erkran¬
kungen der Zirkulationsorgane sitzend schlafen können, Luft
genug haben, während sie bei jedem Versuch, liegend zu
schlafen, alsbald mit dem Gefühle intensivsten Lufthungers
aufschrecken, ist bislang unaufgeklärt geblieben, sowie die
kardiale Orthopnoe überhaupt. Die Erscheinung wird dem
Verständnis aber näher gerückt, wenn man den früher skiz¬
zierten Einfluß der Respirationsorgane auf die Blutbewegung
in die Rechnung einbezieht.
In dem früher erwähnten Vortrage in der Gesellschaft
für innere Medizin zeigte ich, daß beim Sitzen, sowie beim
Stehen, die vitale Retraktionskraft der Lunge gegenüber
Tabelle I (nach A r o ii : Virchows Arch., Bd. 126).
Größe des negativen Druckes in cm Glyzerin beim
Liegen
Sitzen im Bette
Sitzen auf dem
Stuhl
Sitzen auf dem Stuhl
bei möglichst
entfalteter Lunge
Inspir.
Exspir.
Inspir.
Exspir.
Inspir.
Exspir.
Inspir.
Exspir.
4G2
2-10
5-20
2-80
5 16
3 20
9-40
*4-10
4-64
2-16
4-81
2 60
5-80
3 20
7-12
3-34
4-62
2-14
5-40
280
6-12
3-24
7-50
4-28
4-40
2-12
4-80
2-70
5-23
3-20
8-14
4-34
4 30
2-06
4-80
2-80
5-50
3-30
7-16
4-40
4'60
2-12
5-40
2 50
5-50
3-32
8-32
4-40
4 60 ■
2 10
4-90
2-80
6-44
3 30
740
4-26
4-50
2 20
4-80
3-00
5-20
336
8 20
4 30
4-60
2 16
4-52
2-90
5-10
314
7-00
4-30
4-46
2-10
510
3-00
6-30
3-30
6-88
4-36
5-44
2 20
524
2-84
6-10
3-36
6-96
434
4-61
2 24
5-22
290
5-80
3-20
7-24
4-52
Mittelwerte in cm Glyzerin
4-616
2-14
5-018
280
5-70
3-42
761
433
Mittelwerte, umgerechnet in mm Hg
4
1-9
4-52
2-5
5-1
3
6 85
39
der in Rückenlage innegehabten Höhe überaus gesteigert
wird u. zw. dadurch, daß das Zwerchfell beim Uebergang
aus dem Liegen ins Stehen oder Sitzen um ein ganz Be¬
trächtliches tiefer tritt (siehe Fig. 4). Dadurch werden die
Lungen passiv gedehnt. Es steigt die Größe ihres elastischen
Zuges und infolgedessen die Größe des im Thorax lierrschen-
den negativen Dnickes. Der Beweis für die Richtigkeit dieser
Supposition wird schon erbracht durch die Resultate der
intralhorakalen Druckmessungen, welche am Menschen vor-
genonmien wurden. Sie zeigen, daß in der Tat der intrar
thorakale negative Druck, mit anderen Worten die Saug¬
wirkung der Lungen sich steigert beim Uebergang aus der
liegenden in die stehende Körperlage (siehe Tabelle).
Ein weiterer Beweis liegt in den von Gerhard sen.
mitgeteilten und entsprechend erklärten Veränderungen des
Perkussionsschalles, welche auftreten, wenn der Patient aus
der liegenden in die aufrechte Körperstellung ubergeht.
Weiterhin konnte Gerhard zeigen, daß das Höherwerden
des Perkussionsschalles bedingt sei durch eine Steigerung
des negativen Druckes, welcher infolge dieser Lageverände¬
rung im Brustkasten auftritt.
Dadurch wird aber auch die kardiale Orthopnoe dem
Verständnisse näher gerückt. Wie eben gezeigt, steigt mit
der Lageveränderung des Zwerchfelles, welche das Aufsetzen
bedingt, die Größe der Zugkraft in den Lungen, die Größe
der Saugkraft, welche die elastischen, in der Lunge woh-
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
377
iieiuleii Kräfte ausübeii. Es wird dadurch die Süpplemciilär-
kraft, welche der Herzkraft so sehr zugute kommt, gestei-
gerl. Es kann daher der Blutkreislauf trotz Schädigung
des Herzens leichter im Gange erhalten bleiben. Es erklärt
sich aber auch sehr gut, warum die Orthopnoe in vielen
Fällen nur im Schlafe auf tritt, warum die Kurzatmigkeit
den Patienten, der ja auch tagsüber denselben Herzfehler
hat, nur aus dem Schlafe aufschreckt, während er tagsüber
im Bette liegen kann.
Während des Tages kann er die durch die Atmungs¬
organe beigestellte Saugkraft als Auxiliärkraft seiner Herz-
niuskelkräfte dadurch steigern, daß er stärkere Atenibewe-
gungen vollführt, daß er, mit anderen Worten, an die Re¬
spirationsmuskel mehr Impulse abgibt. Im Schlafe aber
muß diese Vermehrung der Atemimpulse unterbleiben, weil
ja die Tätigkeit der Hirnrinde wegfällt; daher schreckt der
Patient aus dem Schlafe mit dem Gefühle des Lufthungers
auf. Den durch den Wegfall der vermehrten Respirations¬
impulse veranlaßten Wegfall an Saugkräften korrigiert der
Patient dadurch, daß er automatisch wirkende, weil elasti¬
sche Kräfte die Nacht über wirken läßt. Es sind das die¬
jenigen elastischen Kräfte, welche durch das Aufsetzen in
der Lunge geweckt werden, der Zuwachs an elastischer
Retraktionskraft. Diese besorgen automatisch, also ohne
Zuhilfenahme der Hirnrinde, die Vermehrung der Hilfskräfte
des Herzens durch Vermehrung der Saugkräfte im Thorax.
Es erklärt sich so die kardiale Orthopnoe wohl einwandfrei.
Wie gesagt, wird sich bei Berücksichtigung der
Auxiliärkraft, welche die Tätigkeit der Respirationsorgane
für die Bluthewegung darstellt, eine ganze Unmenge von
bisher offenen klinischen Fragen, die bisher wegen Ver¬
nachlässigung dieses Faktors nichts weniger als eindeutig
erklärt wurden, wesentlich leichter erklären und verstehen
lassen.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in
Wien. (Vorstand: Prof. R. Paltauf.)
Lieber die Spezifität der Bakterienpräzipitine.
Von Dr. Michael v. Eisler.
Im Verlaufe von Untersuchungen über die Agglutina¬
tion und Präzipitation hat sich neuerdings die zwischen
diesen beiden Reaktionen bestehende Analogie und die ihnen
im gleichen Maße zukommende Spezifität gezeigt.
Diese Spezifität ist eine solche, daß es, bei Einhalten
aller notwendigen Versuchsbedingungen, wozu namentlich
Beobachtung der quantitativen Verhältnisse und der
Agglutinations-, resp. Präzipitationseigentümlichkeiten der
betreffenden Spezies gehört, gelingt, selbst nahe verwandte
Arten, wie z. B. Typhus und Paratyphus oder die einzelnen
Arten der Kapselbakterien, zu unterscheiden. Selbstverständ¬
lich bedarf man zu solchen differentialdiagnostischen Unter¬
suchungen ein hochwertiges Immunserum, Kranken¬
seren sind für diesen Zweck nicht geeignet. Daher geht es
auch nicht an, die Agglutination durch ein Pätientenserum
ohne weiteres mit der durch ein hochwertiges tierisches
Immunserum zu vergleichen. Die Nichtbeachtung dieses Um¬
standes hat oft zu irrtümlichen Auffassungen bezüglich der
Spezifizität der Agglutination geführt. Auf diese Verhältnisse
wurde auch von Paltauf^) in seiner Abhandlung über
die Agglutination wieder aufmerksam gemacht. Ferner muß
das Immunserum bis zur Grenze seines Agglutinations-PTä-
zipitaitonsvermögens austitriert werden, da in niederen Ver¬
dünnungen auch mit Bakterien, die der zur Immunisierung
gebrauchten Art verwandt ßind, ein positiver Ausfall der
Reaktion erhalten wird.
Dieses schon von Gruber^) in seiner .ersten Mitteilung
über Agglutinine ausdrücklich betonte Verhalten wurde
später durch die Bezeichnung Partial- oder Mitagglutinine
*) KoIIe-Wassermann, Handbuch der palbolog. Mikro¬
organismen, Rd. 4.
Münchener mod. Wochenschrift 1896, S. 206.
zum Ausdruck gebracht. Gruljer schreibt in der eben er¬
wähnten Arbeil, daß die Wirkung der Agglutinine keine
spezifisch abgegrenzte, sondern nur eine graduell abgestufte
ist, so daß jedes Agglutinin gegen die eigene Art am stärksten
wirkt. Auf andere Arten ist die Wirkung um so stärker,
je.,näher verwandt die betreffende Bakterienart ist. Dur-
hanG) versuchte eine Erklärung für dieses Verhalten zu
geben, indem er sich die Agglutinine nicht einheitlicb,
sondern aus zahlreichen einzelnen Komponenten zusamnion-
gesetzt vorstellt; diese Eiiizelagglutinine .entsprechen
wiedernm den Komponenten des ebenfalls komplex ^gebauten
Agglutinogens der Bakterien. Die von ihm beobachtete
Mitagglutination des Gärtner sehen Bazillus durch ein
Typhusimmunserum erklärt daher Durham so, daß unter
den den Typhus- und Gärtner sehen Bazillus konstituieren¬
den Elementen einige gemeinsame vorhanden seien, auf die
dann das Agglutinin des Typhusserunis wirken könne.
Auf Grund derartiger Befunde, welche außer der Agglu¬
tination der homologen Art auch die anderer mehr oder
weniger nahestehender zeigten, kam man zu der Vorstellung,
daß während einer Infektion oder durch die Immunisierung
außer den für das . betreffende Bakterium entstehenden
Agglutininen auch solche für emdere, namentlich verwandte
Bakterien erzeugt würden. Pfaundler^) gebrauchte für
dieses Verhalten die Bezeichnung der „Gruppen aggluti¬
nation“ und gab der Anschauung Ausdruck, daß der Ag¬
glutinationswert eines Immunserums für die zur Erzeugung
verwendete Art am höchsten sei und in dem Maße sinke,
als sich die betreffende Bakterienart von der immuni¬
sierenden entfernt.
Durch die Untersuchungen der folgenden Jahre wurden
manche Ausnahmen von diesem Verhalten aufgedeckt; es
zeigte sich auch, daß für die Entstehung der Mitagglutinine
der die Immunkörper produzierende Organismus von hoher
Bedeutung sei, so daßi das früher angeführte Gesetz, nach
welchem sich die Höhe der Agglutinafion genau nach dem
Grade der Verwandtschaft richte, nicht mehr in dieser Form
aufrechtzuerhalten ist. So wurde häufig nur recht ge¬
ringe Mitagglutination der so nahe verwandten Typhus-
und Paratyphusbakterien durch ein Typhusserum beobachtet
und umgekehrt; ebenso lassen sich die innerhalb der
Vibrionengruppe bestehenden Agglutinationsverhältnisse da¬
mit nicht in Einklang bringen. Anderseits wurden Agglutinine
für die von der immunisierenden, resp. krankmachenden Art
recht weit entfernte Bakterien beobachtet. So z. B. fanden
L u b o w s k i und Steinberg^) bei einem sehr hochwertigen
Proteus Kaninchenimmunserum-Mitagglutination für Typhus¬
bazillen bis 1 : 1280. Selbstverständlich haben solche Mit¬
agglutinine für die diagnostische Verwendung eines künst¬
lich erzeugten Immunserums keine Schwierigkeit, da sie sich
doch in bedeutendem Abstande von den Hauptagglutininen
halten. Nur unter Berücksichtigung aller dieser Verhältnisse
ist man berechtigt, von einer Artspezifizität der Agglutina¬
tion zu sprechen.
Es war notwendig, auf dieses Verhalten etwas näher
einzugehen, weil L. Zupnik auf Grund seiner zahlreichen
diesbezüglichen Untersuchungen, die doch eigentlich nur
eine Bestätigung der auch von anderen Untersuchern er¬
haltenen Resultate bringen, eine neue Auffassung der in
Frage stehenden Reaktionen (Agglutination und Präzipita¬
tion) für nötig hält, indem: er auf das Vorhandensein der
Partialagglutinine (Präzipitine) hinweisend, diese Reaktionen
als gattungsspezifisch und nicht mehr als artspezi¬
fisch bezeichnet.®) Zupnik hat also dadurch ein längst
bekanntes Verhalten mit einem neuen Namen be¬
legt, nicht aber, wie er behauptet, Untersuchungen geliefert,
die eine prinzipielle Bedeutung für die gesamte Bakteriologie
erlangt haben. Warum sich Zupnik so sehr gegen die
Artspezifizität der Agglutination und Präzipitation sträubl,
Journal of exp. Medicine 1901, ßd. 5.
Münchener med. Wochenschrift 1899, Nr. 15.
'') Deutsches Archiv für klin. Medizin 1904, ßd. 69.
0 Zeitschrift für Hygiene 1905, ßd. 49.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
ist. Ulli so weniger eiiizuseheii, als er in seiner mit Posner
veröffentlicliten Aiiieit’') zu dem Resultate gelangt, daß die
Erniittlung des obersten Agglutinationstiters eine unbedingte
äliologisclie Diagnose gestattet, welche Behauptung er
später^) dahin modifizierte, daß außer der Ermittlung der
obersten Agglutinationstiters noch die Berücksichtigung der
Agglutinationseigentümlichkeiten einzelner Serumarten nötig
sei. Wenn nun Zupnik verlangt, daß zur Diagnosestellung
die Ermittlung des höchsten Agglutination, swertes nötig sei,
so hat er damit vollkommen recht, hat aber wieder nur eine
schon von Drüber,^) sowie A chard und Bensaude
aufgestellte Forderung wiederholt.
Zupnik^®) behauptet zwar, daß die von Gruber und
Durham,“) sowie von A chard und Bensaude^^) ge¬
machten Beobachtungen über die Agglutination nahestehen¬
der Arten durch ein Immunserum nichts für die von ihm
,,entdeckfe“ Gattungsspezifizität beweisen, da damals noch
nicht die normalen Blutseren innewohnende Agglutinations¬
kraft bekannt war; nach meiner Meinung geht aber aus der
G ruberscheu Publikafion ganz klar hervor, daß dieser
Autor bereits den spezifischen Einfluß eines Immunserums
auf nahestehende Arten, der sich von der durch Normalseren
ausgeübten Agglutination unterscheidet, erkannt hat, da er
unter Punkt 16 seiner Arbeit schreibt: ,, Jedoch ist die
Wirkung derselben (nämlich Agglutinine) keine spezifisch
abgegrenzte usw. Auf andere Bakterien ist die Wir¬
kung u m s o stärke r, ] e n ä her v e r w ,a n d t die 1) e t r e f-
fende Bakterienart ist.“
Ferner findet sich in der Arbeit von Gruber und
Durham^'^) eine Anmerkung: ,, Vielleicht läßt sich die
Serumprobe zu einem verläßlichen Unterscheidungsver¬
fahren ausbilden, wenn man die Quantitäten genauer be¬
rücksichtigt.“ I
Auch Achard^^) sagte schon im Jahre 1896, daß
nicht die Agglutinatipn als solche, sondern der Grad, in
dem sie stattfinde, spezifisch sei.“
Außerdem sei noch auf die in letzter Zeil erschienenen
umfassenden Untersnchungen über die Agglutination
von Typhus, Paratyphus und Fleischvergiftungen durch
Kutscher und Meinicke^*') und die Ausführungen von
Kolle^^) über diesen Gegenstand verwiesen, der auch den
Standpunkt Zupniks und dessen Versuchstechnik einer
ausführlichen Kritik unterzieht. Diese Untersuchungen haben
ferner gezeigt, daß der Mäusetyphus und eine Reihe von
Fleischvergiftungsbakterien mit den uns derzeit zu Gebote
stehenden Hilfsmitteln nicht mit Sicherheit zu differenzieren
sind, daß dagegen eine Gruppe von Fleischvergiftungsbak¬
terien (Bacterium enterides Gärtner) von dieser Gruppe ab-
zrdrennen sei, da sie trotz gleichen kulturellen Verhaltens
nur in geringem Grade von einem mit einer der früher er¬
wähnten Arten hergestellten Immunserum agglutiniert
werden.
Zu einem ähnlichen Besultate haben auch Unter¬
suchungen von De No b eie, Tr aut mann, Tromms dort,
ühlenhutb, Boehme u. a. geführt. VWn diesen Unter¬
suchern wurde übereinstimmend festgestellt, daß die der so-
genamden Hogcholeragruppe angehörigen Bakterien, näm¬
lich Schweinepest, der No card sehe Psittakosebazillus, der
Mäusetyphus und eine Anzahl von Fleischvergiftungsbak¬
terien (Typus Aertryk-De Nobele) nicht mit Sicherheit
rudereinander und vom ParatYphusbazillus mittels der Ag¬
glutination zu trennen seien, wohl aber von der Gruppe der
Meischbakterien vom Typus Gärtner.
d Prager med. Wochenschrift 1903.
») !. c.
h Soc. de biol. 1896, 11.
"P Deutsche med. Wochensclirift 1905.
") Gruber und Durham, Münchener med. Wochenschrift 1896.
'h I. c.
I. c.
'9 1. c.
1. c.
'*) Zeitschrift für Hyg., Bd. 52.
Zeitschrift für Hyg., Bd. 52.
lu seiner letzten Arbeit über diesen Gegenstand hat
Zupnik^®) mittels der Agglutination eine Differenzieiamg
einzelner Arten der Hogcholeragruppe versucht und kommt
zu derp Scdilusse, daß es unter Berücksichtigung der Aggluti¬
nationseigentümlichkeiten jedes der betreffenden
Immun seren tatsächlich möglich ist, die ein¬
zelnen Arten dieser Gruppe zu differenzieren.
Zupnik ist also in seiner letzten Arbeit zu Resultaten ge¬
kommen, die ibm der Agglutination sogar eine noch höhere
Spezifizität zuschreiben lassen, als dies selbst Kutscher
und Mein icke und die anderen früher zitierten Autoren
tun. Wenn es also nach Zupnik möglich ist, — freilich
nur unter Beachtung der Amn ihm erwähnten Bedingungen
— sogar die einzelnen Arten der Hogcholeragruppe durch
tlie Agglutination zu miterscheiden, so steht diese Behaup¬
tung doch einigermaßen im Gegensatz zu seiner so oft ge¬
äußerten Anschauung, nach welcher der Agglutination jede
Artspezifizität ahgeht. Es ist ja ohne weiteres nach dem
bereits Gesagten klar, daß diese Artspezifizität der Agglutina¬
tion nur unter gewissen bereits näher präzisierten Bedin¬
gungen zum Ausdrucke gelangt, da es doch, wie auch aus
den von Zupnik selbst zitierten Stellen der Arbeiten von
Gruber, Durham u. a. hervorgeht, auch damals schon
klar war, daß aus der bloßen Tatsache der Agglutination eines
Bakteriums durch ein Immunserum eine Diagnose noch nicht
möglich sei. Bei genauer Durchsicht der Arbeiten Zupniks
über die Agglutination kann man nur die Ueberzeugung
gewinnen, daß Zupnik durch seine Untersuchungen wie
so viele andere dazu beigetragen hat, die bereits von den
ersten Untersuchern der Agglutination erkannten Verhält¬
nisse zu bestätigen und unsere Kenntnisse über diese Re¬
aktion, namentlich ihre diagnostische Verwertbarkeit zu er¬
weitern und es muß einigermaßen verwundern, wenn
Zupnik selbst behauptet, ganz neue Tatsachen bezüglich
der Agglutination durch seine Arbeiten geliefert zu haben.
Zu einer besonderen Auffassung ist Zupnik^^) neuer¬
dings bezüglich der Präzipitation gelangt. In früheren Ar¬
beiten^®) erklärte dieser Autor die Präzipitation ebenso wie
die Agglutination für gattungsspezifisch; in seiner letzten
Mitteilung aber behauptet Zupnik, daßi der Präzipitation
auch keine Gattungsspezifizität, sondern nur
eine Familienspezifizi tät zu kommt. Gegenüber
dieser Behauptung muß an der durch zahlreiche Unter¬
suchungen (Pal tauf. Kraus. Wassermann u. a.) nach¬
gewiesenen Analogie zwischen Agglutination und Präzipita¬
tion hingewiesen werden. Namentlich die Versuche von
Kraus^^) über diagnostische Verwertbarkeit der
spezifischen Niederschläge zeigen deutlich den voll¬
kommenen Parallelismus zwischen Agglutination und Prä¬
zipitation. Ein Typhusimmunserum, welches die zur Ver¬
fügung stehenden Typhusstämme ebenso hoch a.gglutinierte
wie den zur Immunisierung verwendeten, erzeugte auch in
den Filtraten der betreffenden Stämme spezifische Nieder¬
schläge. Ganz anders waren die Verhältnisse für Bac¬
terium coli. Entsprechend den eigentümlichen Agglutina-
lionsverhältnissen des Bacterium coli zeigte auch die Präzipi¬
tation genau dieselbe diesem Bakterium zukommende Eigen¬
tümlichkeit. Von einer größeren Anzahl Kolistämme werden
von einem Koliimmunserurn bekanntlich die einen — beson¬
ders natürlich der zur Immunisierung yerwendete — aggluti¬
niert, die anderen nicht. Genau dasselbe Verhalten wies
Kraus auch für die Präzii)itatiou nach. Nur im Filtrate
des Stanimes, der auch in hohen Verdünnungen
(1:20.000) agglutiniert wurde, erzeugte auch das
Immunserum kräftige Niederschläge, ln den Fil¬
traten derjenigen Kolistämme, die nicht odennur in niederen
Verdünnungen aggluliniert wurdep, trat auch keine oder
nur ganz spärliche Niederschlagsbildung auf u. zw. nur
bei Zusatz großer Berenmengeii (2 cm^ Serum auf 5 enU
ip Zeitschrift für Hyg., Bd. 52.
Berliner klin. Wochenschrift 1906.
2h 1. c.
2*) Wiener klin. Wochenschrift 1901.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
379
Filtrat); bei Zusatz von 1 cin^ zu 5 cm^ Filtrat entstand
auch nicht die Spur eines Niederschlages mehr, während
im Filtrate des zur Immunisierung verwendeten Stammes
(5 cm^) selbst noch 0-1 cnr^ einen Niederschlag erzeugte.
Falls die Präzipitation wirklich familienspezifisch wäre, wäre
dieses Resultat ganz unverständlich. Weiters wurden in
derselben Arbeit auch Filtrale der von'Sternberg^^) unter¬
suchten Pa r a ko li Stämme mit demselben Koliimmunserum
geprüft. Auch in diesen Filtraten erzeugte das Serum im
Verhältnisse 1:5 keine Niederschläge. Auch die Agglutina¬
tion fehlte oder hatte nur ganz niedere Werte. Die bekannte
strenge Spezifizität der Agglutination für die Vibrionen
wurde von Kraus auch für die Präzipitation nachgewiesen.
Choleraserum, das den Vibr. cholerae 1 : 20.000 'agglutinierte,
erzeugte in Choleraifiltraten auch noch im Verhältnis 1:40
typische Niederschläge. Andere Vibrionen, die vom Cholera¬
serum nicht oder nur in viel niedrigeren Verdünnungen
agglutiniert wurden, verhielten sich genau ebenso bei der
Präzipitation.
Zu denselben Ergebnissen wie die Versuche von
Kraus haben auch eine Reihe eigener Untersuchungen
zum Teile auch mit anderen Rakterienarten geführt. Von
diesen seien einige zur Ergänzung der oben aufgestellten
Behauptung von der zwischen Agglutination und Präzipita¬
tion bestehenden Analogie und der beiden Reaktionen im
gleichen Maße zukommenden Spezifizität angeführt. Ein
Typhus-Pferdeimmunserum, welches Typhus bis 1:5000
agglutinierte, und ein Typhus-Mäuseimmunserum, gewonnen
von Kaninchen, welches Mäusetyphus bis 1 : 8000 aggluti¬
nierte, wurden in den Mengen von je 0-3 und 0-1 zu je
2 cm^ Filtrat vier bis sechs Wochen alter Bouillonkulturen
von Typhus, Paratyphus, sowie Mäusetyphus zugesetzt.
Nach 24stündigem Aufenthalt im Brutschrank erfolgte
die Ablesung des Resultates, das in der Tabelle 1 wieder¬
gegeben ist.
Tabelle I.
Resxjltat
Tabelle H.
Stamm
Verdünnung
Resultat
Typhus XI
1 : 1600
komplett
1:3200
komplett
1:6400
teilweise
1:12800
—
Typhus XHI
1:1600
komplett
T>
1:3200
komplett
1 : 6400
Spur
»
1:12800
—
Paratyphus Burri
1:50
komplett
1:100
komplett
1:200
teilweise
»
1:400
- -
»
1:800
—
Paratyphus Golio
1:50
komplett
'f>
1:100
komplett
1:200
Spur
1:400
—
1:800
—
Paratyphus Svvoboda
1:50
komplett
1:100
komplett
»
1 : 200
fast komplett
1:400
—
1:800
—
Paratyphus Seemann
1:50
komplett
>
1:100
komplett
1:200
komplett
1:400
komplett
»
1:800
Spur
Mäusetyphus
1:50
komplett
1:100
komplett
1:200
teilweise
y>
1:400
Spur
1:800
—
2 cm^ Typh .-Filtrat.
2 » »
. -|-0'3 cm® Typh. -Serum
-p O’l » »
2 » Mäusetyph. -Filtrat -p 0 3 »
2 » » p 0' l »
2 » Paratyph. A.-Filtr. + 0 3 »
2 » » -j- 0 1 »
2 » Paratyph. B.-Filtr. + 0 3 »
2 > » +0T »
2 » Typh. -Filtrat . . . + 0 3 »
2 » » 4 OT »
2 » Mäusetyph.-Filtratp 0'3 »
2 » » -|- O'l »
2 » Paratyph. A.-Filtr. + 03 »
2 » » + OT »
2 » Paratyph. B.-Filtr. +03 »
2 » » +01»
Mäusetyph-Ser.
starker Niederschlag
Niederschlag
Trübung u. spärliche
Flocken
Spur Trübung
Trübung
Trübung,
Spur Niederschlag
leichte Trübung
sehr starker Nieder¬
schlag
deutlicherNiederschl
Trübung
Niederschlag
Trübung
Im Filtrate des zur Innnunisierung verwendeten
Stammes war die Reaktion noch mit geringen Serummengen
positiv, wo in den Filtraten der verwandten Arten kein
Niederschlag mehr erzeugt wurde.
Das Pferde-Typhusimmunserum wurde an zwei gut
agglutinablen Typhusstämmen, sowie an einer Reihe von
Paratyphusstämmen und dem früher verwendeten Mäuse¬
typhus auf sein Agglutinationsvermögen ausgewerlet. Mit
den Filtraten derselben Stämme und demselben Typhus¬
immunserum wurden denn auch Präzipitationsversuche ge¬
macht. Die Agglutinat ion verlief folgendermaßen :
Zu den Präzipitationsversuchen wurden vier bis sechs
Wochen alte Bouillonkulturen, die durch neue Reichelfilter
geschickt wurden, benützt, ln jedes Röhrchen wurden je
2 cm^ Filtrat gegeben. Selbstverständlich wurden immer
Kontrollproben mit Filtrat und Serum allein angestellt. Die
Ablesung erfolgte nach 24stündigem Aufenthalt im Brut¬
schrank.
Tabelle HI.
Stamm
Menge des
Serums
Resultat
Typhus XI
0'2 cm®
starker Niederschlag
0 1 »
mäßiger Niederschlag
0 05 »
—
Typhus XHI
0-2 »
reichlicher Niederschlag
OT »
deutlicher Niederschlag
»
0 05 »
—
Paratyphus Burri
0'4 »
Flocken
0-2 »
—
01 »
—
Paratyphus Swoboda
0-4 »
reichlicher Niederschlag
02 »
Flocken !
OT »
—
Paratyphus Golio
04 »
deutlicher Niederschlag
02 »
schwacher Niederschlag
OT »
—
Paratyphus Seemann
0'4 »
reichlicher Niederschlag
0-2 »
spärliche Flocken
>
OT »
—
Mäusetyphus
0'4 »
Niederschlag
02 »
spärliche Flocken
»
OT »
—
Zeitschrift für Hyg. 1900.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
Aus den beiden angeführten Verisuclien (Tab. 11 xi. III)
gellt die spezifische Wirlaing des Typbusimmunserinnfe
sowohl bei der Agglutination, als bei der Präzipitation deut¬
lich hervor. Ganz ähnliche Resultate ergeben Versuche,
die in derselben Weise mit einem anderen Typhussennn,
das durch Immunisierung einer Ziege gewonnen wurde,
angestellt wurden.
Von besonderem Interesse war es, die El Tor-Vibrio-
nen, die von einem Choleraserum ebenso hoch agglutiniert
werden wie echte Cholerastämme, auf ihr Verhalten bei der
Präzipitation zu untersuchen. Es wurden Filtrate von editer
Cholera, von El Tor-Stämmen und von leicht spezifischen
Vibrionen geprüft. Das entsprechende Choleraimmunserum
stammte vom Pferde, die übrigen Immunseren von Kanin¬
chen. Auch bei diesen Versuchen war die vollständige Ana¬
logie mit der Agglutination zu konstatieren. Die El Tor-
Filtrate geben mit Cholerasernm ebenso Nieder¬
schläge wie mit El Tor-Serum und umgekehrt. Das
Immunserum, hergestellt mit deml nicht spezifischen Vibrio 21,
war in den angegebenen Mengen ohne Einflaßi auf Cholera-
und El Tor-Filtrate. Also ganz dasselbe Verhalten wie bei
der Agglutination. Tabelle IV gibt einen derartigen Versuch
wieder. Die Menge des Filtrates in jedem Röhrchen betrug
wieder 2 cm^.
Tabelle IV.
Stamm
Menge des Serums
Resultat
El Tor IV
0-3
cm^
Cholera-Serum
starker Niederschlag
0-1
>
deutlicher Niederschlag
X»
0-3
El Tor-Serum
starker Niederschlag
»
OT
»
Spur Niederschlag
■»
0-3
Vibrio 21-Si'rum
— '!
OT
—
El Tor V
0-3
Cholera-Serum
starker Niederschlag
OT
mäßiger Niederschlag
0-3
El Tor-Serum
sehr starker Niederschlag i
3e>
OT
5>
starker Niederschlag
0-3
»
Vibrio 21-Serum
—
»
OT
3>
—
Cholera
03
Cholera-Serum
starker Niederschlag
OT
deutlicher Niederschlag
»
03
»
El Tor-Serum
starker Niederschlag
OT
»
»
Niederschlag
1 ^
03
Vibrio 2I-Serum
j
01
y>
Vibrio
03
Cholera-Serum
- 1
»
OT
_
03
El Tor-Serum
_ !
r>
OT
_ 1
■»
03
Vibrio 21-Serum
starker Niederschlag
OT
>
>
deutlicher Niederschlag
Nicht ohne Redeulung für die vorliegende Frage dürften
auch Versuche von v. Eisler und Porges^^) über die
Agglutination und Präzipitation der Kapsel bakterien
sein. Mit Hilfe dieser Reaktionen ist es uns ge¬
lungen, einzelne Arten der Kapselbakterien mit
Sicherheit zu unterscheiden, so daß als o auch in
diesem Falle die Präzipitation für ebenso spezi¬
fisch angesehen werden darf, als die Aggdutina-
tion. Der in Tabelle V wiedergegebene Versuch wird das
Gesagte zur Genüge erklären.
Zum Schlüsse sei noch auf die Agglutination und Prä¬
zipitation der Dysenteriebazillen verwiesen. Sowohl
Versuche von Kraus und Doerr,“^)als auch eigene ünter-
suchimgen ergaben eine gute Uebereinstimmung der Aggluti¬
nations- und Präzii)itationsresultate. Schon norimVes Pferde-
Zentralblatt für Bakteriolog. 1906, Ril. i2.
■ß Zeitschrift für Hyg. 1906, Bd. 55.
Tabelle V.
Resultat
2 cm^ Friedl. -Filtrat . -j-O 3 cm^ Friedl.-Serum
starker Niederschlag
2» » .“FOT» »
spärliche Flocken
2 » Rbinoskl. -Filtrat 0’3 » »
leichte Trübung
2 » » -j- 0 1 » »
—
2 » Oziina - Filtrat . -f- 0'3 » »
2 > » -p OT » »
j
2 » » -[-0 3 » Ozäna- Serum
mäßig. Niederschlag ,
2 » » -|- OT » »
cleutl. Niederschlag I
2 > Rhinoskl. -Filtrat -F 0 3 » »
Spur Trübung
2 » » “F O T » »
—
2 » Friedl.-Filtrat . -F0 3 » »
—
2 » » -p 0 1 » » .
—
2 » Rhinoskl. -Filtrat -F 0-3 » Rhinoskl. -Serum
deutl. Niederschlag
2» » -pOl» »
spärl. Niederschlag
2 » Friedl.-Filtrat . -FO'3 » »
Trübung
2 » » -p OT » »
—
2 » Ozäna- Filtrat . -FO‘3 » »
—
2 » » -p OT » »
—
serum enthält ziemlich wirksame Agglutinine für Flexner-
bazillen. Durch die Immunisierung mit Shiga-Krusebazillen
steigt auch der Agglutinationstitre für Flexner und erreicht
gewöhnlich ebenso hohe Werte wie für Kruse selbst. Ein
Flexnerinmiunserum dagegen agglutiniert Flexner bedeutend
stärker als Kruse. Aehnliche Verhältnisse ergaben sich auch
bei der Präzipitation. Der in Tabelle VI wiedergegebene Ver¬
such wurde mit dem Pferdeserum Jobst (Krusekulturen),
Ignaz (Flexnerkulturen) und Infant (Kruse+Flexner) ge¬
macht. Die Menge der Filtrate betrug immer 2 cm^ in jedem
Röhrchen.
Tabelle VI.
Stamm
Menge des Serums
Resultat
Flexner
0'3 cm^ Ignaz
Niederschlag
OT » »
Spur Niederschlag
T>
0'3 » Jobst
Niederschlag
»
OT » »
Trübung?
»
ü'3 » Infant
deutlicher Niederschlag
OT » »
—
Kruse
03 » Jobst
starker Niederschlag
OT » »
mäßiger Niederschlag
0 3 » Ignaz
—
OT » »
—
0’3 K Infant
Trübung
1
1
i
01 » ■»
—
Die hier angeführten Versuche, welche sich auf die
verschiedensten Bakterien erstrecken, zeigen wohl deutlich
die durch zahlreiche Untersuchungen gestützte Analogie
zwischen Agglutination und Präzipitation, die sich natürlich
auch auf die Spezifizität dieser beiden Reaktionen bezieht, und
dürften genügen, um die Behauptung Zupniks von
der Familienspezifizität der Präzipitinreaktion
als unbegründet zurückzuweisen. Beiden Reak¬
tionen kommt ohne Zweifel der gleiche Grad von
Spezifizität zu, natürlich unter Berücksichti¬
gung der j e d e r id e r b e i d e n Reaktionen z u k o in m e n-
den Eigentümlichkeiten. Denn bei der Agglutination
haben wir es mit den ganzen Bakterienleibern, bei der Prä¬
zipitation mit gelösten Bestandteilen derselben zu tun.
Diese im vorausgehendon näher charakterisierte Spezi-
fizität der Bakterienpräzipiline wird auch durch die in
Nummer 12 dieser Zeitschrift mitgeteilteri Versuche von
Hoke über die Erzeugung von Niederschlägen in Bakterieji-
filtraten durch nonnale Sera nicht berührt. Auf das mögliche
Kr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
381
Vorliandeiiseiii von Bakterienpräzipitinen in normalen Seren
wurde bereits von Kraus“^) liingewiesen. Ferner zeigten
Kraus nnd Doerr,^®) daß in Pdltraten von Flexnerstäminen
Streptokokken-Pferdeserum Niederschläge erzeugt, wohl auf
(irund des schon dem normalen Pferdeseriim zu kommenden
relativ hohen Agglntinationsvermögens für Flexnerbakterien.
Solche Reaktionen kommen aber nur durch verhältnismäßig
große Mengen des präzipitierenden fremden Immun- oder
des Normalserums zustande. Für die Beurteilung der Spezi-
fizität der Bakterienpräzipitine in Immunseren sind, wie ja
im vorhergehenden betont wurde und worauf schon von
Kraus^'^) aufmerksam gemacht wurde, die quantitativen
Verhältnisse von aussclilaggebender Bedeutung.
Aus der Prosektur der mährischen Landeskranken¬
anstalt in Brünn. (Vorstand: Prosektor Dozent Dr. Carl
Sternberg.)
Zur Kenntnis der multiplen zentralen
Enchondrome.
Von Dr. Emil Schweinburg, T. Sekundararzt der Chirurg. Abteilung.
Wiewohl in der Literatur bereits mehrere Fälle von
multiplen Enchondromen beschrieben sind, berechtigt uns
ein besonderer Nebenbefund bei einem vor kurzem beob¬
achteten Falle zur Veröffenthchung desselben, zumal diesem
Befunde einige .Bedeutung iür die Auffassung der Fälle
von multiplen- zentralen Enchondromen zuzuschreiben
sein dürfte.
Unser Fall reiht sich in dieser Hinsicht der bekannten
Beobachtung von Kast^) und v. Recklinghausen an,
welche daher in Kürze wiedergegeben werden soll.
Dieselbe betraf einen 34jährigen Bauernsohn aus gesunder
Familie, in der niemand eine ähnliche Erkrankung anhvies. Seit
seinem sechsten Lebensjahre sollen sich an den Fingern der
rechten Hand knotige Anschwellungen entwickelt haben, die von
den Angehörigen mit einer, einige Zeit vorher stattgefundeneii
Quetschung in Verbindung igehracht wurden; doch auch schon
vor dem sechsten Lebensjahre — im Alter von drei bis vier
Jahren — sollen Verdickungen an den Fingern bestanden haben.
Aelmliche Schwellungen traten in der Folgezeit auch an anderen
Knochen auf, so am Daumen und Zeigefinger der linken Hand,
an den Zehen beider Füße, sowde an den Rippen und der Wirbel¬
säule.
Sämtliche Geschwülste wuchsen langsam weiter, bis un¬
gefähr im Alter von 15 bis 16 Jahren eine Beschleunigung ihi'es
Wachstums eintrat, die bis zum 21. oder 22. Lebensjahre anhielt.
Seit dieser Zeit sollen die Verdickungen im Wachstum still-
gestanden und keine Veränderungen gezeigt haben.
An verschiedenen Körperstellen bestanden Angiome.
Diesem Falle sei ein neuer liinzugefügt, welcher am
15. Oktober 1906 auf unsere Abteilung kam.
W. V., ein SOjähriger Arbeiter, kommt ins Spital, um sich
den stark deformierten Zeigefinger der linken Hand ahtragen
zu lassen, da er ihm bei der Arbeit hinderlich ist. Er gibt
an, aus vollkommen gesunder Familie ahzustammen. Vater und
Mutter leben und besitzen chensowenig wie sieben Geschwister
<lerartig abnormale Veränderungen. Drei Brüder haben beim
Militär gedient, vier Sclwesterri sind verheiratet und haben ge¬
sunde Kinder. '
In seinem sechsten Lebensjahre sollen allmählich, jedoch
mehr auf der linken als auf der rechten Hand kleine, runde
Geschwülste entstanden sein, die zum Teil an den Fingern, zum
Teil auch am Hamdrücken sich zeigten. Mit Rücksicht darauf,
daß, am linken Handrücken ein Knollen besonders stark gewachsen
ist, wurde Pat. von seinen Eltern im zwölften Lebensjahre nach
Prag gebracht, woselbst ihm dieser entfernt wurde. Ganz mäßig
seien die Geschwülste an den Fingern gewachsen ; an den übrigen
Köri)crstollen hat Pat. keine Veränderungen bemerkt. Seit dem
21. Jahre ist nach Angabe des Patienten Stillstand im Wachstum
der Tumoren eingetreten. Seit zwei Jahren verheiratet; kinder¬
los; venerische Affektion. wird negiert.
^0 K o 1 1 e -W a s s e r m a n n, Handbuch der patholog. Mikroorg.
I. c.
^0 1. c.
Status praesens: Mittelgroßer, mittelkräftiger Mann.
Etwas vorspringende Jochbeine; nirgends Anhaltspunkte für
Rachitis.
Jlerz und Lunge ohne pathologischen Befund. An den Rippen
und am Becken zeigten sich keine Veränderungen, ebenso sind
Wirbel und Skapula normal. Der Metakarpus <les rechten Zeige¬
fingers zeigt ebenso wie die Grundphalanx des Zeigefingers einen
beträchtlichen Knollen; sonst bieten die übrigen Finger der
rechten Hand beim Ahtasten nichts AhnoiTues.
Die Veränderungen an <leii Fingern der linken Hand sind
jedoch auffallender. Der Metakarpus des linken Zeigefingers ist
nicht tastbar. (Hier dürfte im zwölften Lebensjahre der Tumor
gesessen sein, der operativ gleichzeitig mit einem Teile des Meta¬
karpus entfernt wurde.)
t
Der Zeigefinger hängt au einem dünnen Stiele, ist verkürzt
und von einem hühnereigroßen Tumor durchsetzt. Der dritte
Finger zeigt sowohl iin Metakarpus als auch an der verdickten
Grundphalanx einen Tumor, ebenso sind knollige Verdickungen
am vierten Finger fühlbar.
Am rechten Humerus konnte man ungefähr in der Mitte
einen haselnußgroßen Tumor fühlen, kleinere am linken Radius
und an beiden Tihien. Der Uebergang zwischen Os cuhoide'um
und den Kuneiformen zu den Metatarsen war beiderseits winkelig ;
an den Kuneiformen, Kuhoideen und Navikularen konnten Form-
vorändernngen getastet werden.
Der Vergleich mit den Röntgenbildern beider Hände zeigt
deutlich die Lokalisation und Größe der Tumoren. Leider war
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 13
3^ -
der Paliont nicht dazu zu bewegen, Brustkorb und Füße durch-
leucblen zu lassen.
Es fanden sieb ferner verstreut über verschiedene Körper¬
stellen einzelne, inäßig erbal)ene, weiche, bell- bis dunkelbraun
gefäj'bte Nävi; i
Am Rücken in unsyminotriscber Anordnung fünf ü])er linsen¬
große Nävi neben sieben ungefähr birsekorngroßen, zwei linsen¬
große syinmetriscb über der rechten und linken Mamilla, je zwei
kleinere syinmetriscb an den Streckseiten der Vorderarme, vier
kleinere unsymmetrisch an den Oberschenkeln.
Die Abtragung des Zeigefingers erfolgte mit der Schere in
der Mitte der stark verdünnten Grundpbalanx. Pat. verließ am
18. Oktober 1906 das Spital.
Die anatomische Untersncliuiig (Prosektor Privatdozeiit
Dr. Sternlierg) des aiiipiitierteii Fingers ergab folgenden
Befund :
,,])er übersendete Finger zeigt in seinen beiden unteren'
Dritteln eine gleichmäßige, namentlich gegen die Basis zu sehr
beträchtliche, annähernd spindelförmige Auftreibung. Die Haut
ist überall unverändert. Die beschriebene Auftreibung fühlt, sich
knochenhart an. Auf einer medianen Sägefläche zeigt sich die
Ejidphalanx ohne Veränderung; die Vlittelphalanx ist an ihrem
distalen Ende gleichfalls unverändert, währeml sie im übrigen
von einer fast hübnereigroßen Geschwulst eingenommen er¬
scheint; diese hat einen undeutlich lappigen Bau und besteht
durchwegs aus Knorpelgewebe. Peripher ist sie von einer diinnen
knöchernen Laimelle überkleidet, welche in die Kortikalis des
unveränderten Endstückes der Phalanx übergeht.
Bei histologischer Untersuchung zeigt sich die Geschwulst
zusammengesetzt aus großen Inseln hyalinen Knorpels. Diese
sind getrennt durch einzelne schmälere oder breitere Züge von
Bindegewebe, in welchen Blutgefäße verlaufen. An einer Stelle
findet sich im Innern des Kuoii)els in geringer Ausdehnung ein
verkalkter Herd; Verknöcherung ist nicht nachweisbar. Die
Knochenschicht, welche die Oberfläche überkleidet, ist sehr dünn
und zeigt stelleinveise an ihrer dem Knorpel zugewendeten Fläche
tiefere Lakunen, die von Osteoklasten ausgekleidet sind; ver¬
einzelt reichen einige dünne Knocheirspangen in die Geschwulst
hinein.“
Diagnose: Zentrales Enchondrom.
Es handelte sich also um einen Fall von multiplen
zentralen Enchondromen, die vorwiegend an Händen und
Füßen, zum Teil auch an Humerus, Radius und Tibien
und zwar soAvohl an den Epiphysen, als auch an den Dia-
physen, saßen, mit dem Körperwachstum ihre Größe ver¬
änderten und mit Beendigung desselben unverändert fort-
bestanden.
Insofern Ijesteht vollkommene Analogie mit den bisher
))ekaimten Fällen. Der Neljenhefund von zahlreichen, teils
symmetrisch, teils unsymmetrisch angeordneten Nävi ver¬
leiht dem Falle ein hesonderes Interesse und es Hegt die
Frage nahe, oh dieser Befund uns nicht weitere Anhalts¬
punkte für die Auffassung derartiger Fälle zu liefern vermag.
Was zunächst die Entstehung der multiplen zentralen
Enchondrome anlangt, so bestehen hierüher verschiedene
Anschauungen.
Nach der einen Annahme gehen diese Geschwülste aus
unverknöcherten Knorpelinsehi hervor, die während einer
frühen fötalen Entwicklungsperiode innerhal]) der knorpelig
vorgehildeten Knochen infolge einer Ossifikationsstörung
liegen bleiben.
Nach der anderen Auffassung betrifft die Anomalie
der Ossifikation den wachsenden Knochen, indem im wesent¬
lichen Knorpelinseln aus der Knorpelknochengrenze in das
Innere des Knochens verlagert werden.
Virchow“) behauptet: daß schon ,,in der ersten Ent¬
wicklung der Knochen gewisse Lluregelmäßigkeiten vor sich
gehen, Avelche die Prädisposilion zu der späteren Geschwulst-
hildung legen. Wenn ich die möglichen Formen solcher
Enlwicklimgsstörmig erwäge, so möchte ich es für sehr
wahrscheinlich halten, daß gelegentlich in den Avachsenden
Knochen einzelne Fragmente von der ursprünglichen
Knorpelanlage unverknöcherl ührighleihen, welche später
der Ausgangspunkt der GescliAvulstentwicklung Averden.“
Ih'züglich des Zusammenhanges der Enchondrome mit
Bachitis spricht sich VirchoAV ni(dit ausdrücklich für diese
aus, er Aveist nur ,,auf die Möglichkeit, daß dieser oder
ein ähnlicher Slörungsvorgang Avirklich die Prädisposition
schafft, besonders hin“.
V. Recklinghausen steht im AAmsentlichen auf der
Grundansicht Virchows, er sagt:
,,Für die Ansicht, daß es sich um eine Störung in
der ersten Entwicklung des Knochens aus seiner knorpe¬
ligen Anlage, um eine Mangelhaftigkeit der endochondralen
Knochenhildung handelt, kann nicht nur der Umstand in
Anschlag gebracht Averden, daß sich der reine hyaline
Knorpel in den jetzigen Geschwülsten vorfindet, sondern
auch das negative Verhältnis, daß in dem neugeschaffenen
XumorgeAvehe keine Andeutung von einem Uebergang des
pathologisch geAvucherten Knorpels in Knochen aufzuweisen
ist“ und meint, daß es sich ,,um diejenige Form derE.nchon-
drome . handelt, Avelche mit dem Wachstumsprozesse des
Skelettes in direktesten Zusammenhang zu bringen sind und
aus manchen Gründen Amn einer früheren rachitischen Er¬
krankung abgeleitet werden, selbst dann, wenn die bekannter¬
maßen zurückbleibenden rachitischen Verkrümmungen der
Skeletteile auch nicht spurAveise aufzufinden sind“. Im Laufe
der Jahre ist zu diesen Ansichten nichts Wesentliches
hinzugekommen. In den beiden neuesten Monographien über
die Geschwülste finden Avir folgende Anschauungen:
Rorst''^) glaubt, ,,daß bei der primären Anlage des
Skelettes und Avährend der embryonalen Wachstumsperiode
Störungen eintreten, die später der Ausgang solitärer und
multipler Chondrome Averden“.
Rihhert^) ikommt in seiner Anschauung über diese
GescliAAdilste zum Schlüsse, ,,daß alle Chondrome aus
Knorpelkeimen entstehen, die infolge von Entwicklungs¬
störungen von chondrogenen Teilen ahgesprengt Averden“.
Fassen wir nun unsere Ansicht über das Entstehen
der multiplen Enchondrome zusammen, möchten Avir sagen,
daß auch in unserem .Falle kein Grund vorliegt, Rachitis
als ursächliches Moment anzunehmen und daß auch die
Voraussetzung einer Verlagerung von Keimen uns überflüssig
erscheint. Es reicht Adelmehr die Annahme einer Ossifika¬
tionsstörung zur Zeit der fötalen EntAAdcklung Amllkomlnen
aus, um so mehr, als ja diese GeschAvülste gemeiniglich
vorAviegend an den Epiphysen sitzen.
Räumt schon diese Anschauung über die Eptstehung
der in Rede stehenden GescliAvülste denselben eine Sonder¬
stellung gegenüber anderen Tumoren ein, so wird eine der¬
artige Auffassung derselben noch unterstützt durch Berück¬
sichtigung ihres übrigen Verhaltens. In dieser Hinsicht ist
darauf zu verweisen, daß diese Geschwülste regelmäßig mul¬
tipel sind, stets schon in frühester Jugend zur EntAvicklung
gelangen, ja bisAveilen sogar kongenital nachgewiesen wurden
und bezüglich ihres Wachstums mit dem Körperwachstum
in direktem Zusammenhänge stehen; auch Avurde in ein¬
zelnen Fällen hereditäres Auftreten beobachtet.
Wir möchten hier auch jener seltenen Krankheit Er-
Avähnung tun, die zum erstenmal von Ollier''^) (1899) als
,,Dyschondroplasie“ heschrieben und jüngst Amn Wittek®)
an der Hand eines eigenen Falles im Rahmen einer ein¬
gehenden Darstellung als ,,01 Her sehe Wachstumsstörung“
bezeichnet Avurde; sie steht in vielen Beziehungen dem
hier in Rede stehenden Krankheitshilde nahe. Es handelt
sich hiebei um eine bereits in den ersten I^ehensjahren in
Erscheinung tretende Affektion, Avelche sich klinisch durch
Verkürzungen, Tumoren und Verkrümmungen, vorwiegend
einer Körperhälfte, charakterisiert ; aber auch an Hand und
Fuß der anderen Körperhälfte — an den Phalangen —
Metakarpen und Metalarsen finden sich Verkrümmungen
und Auftreihungen, die ebenso, Avie die entsprechenden Bil¬
dungen der anderen Seite — dem Röntgenbilde zufolge —
als Chondrome aufgefaßt Averden müssen. ,,ln allen bisher
bekannten Fällen Avahrt die Erkrankung hezüglich der langen
Röhrenknochen den Charakter der Halbseitigkeit“, gleich¬
zeitig einherschreitend mit Muskelatrophie der hefallenen
Extremität, ohne daß von seiten des nervösen Apparates
Störungeji beobachtet Avurden. In keinem der vier bisher
bekannten Fälle bestand Rachitis.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
383
Auch ill- den hier herangezogeiieii ßeohachiungeii sind
niithin niultiiile- zentrale Enchondroine mit allgemeinen Ent-
wicklimgsstorungen vergesellschattet.
Alle diese Momente siirechen dafür, den multiplen
zentralen Enchondromen eine gewisse Sonderstellung ein-
ziiräumen. AucJi Borst meint, dah diese ,,Kn()rpelneul)il-
dungen in mehr als einer Beziehung in einen gewissen
(legensatz zu den anderen Knorpelgeschwülsten zu
bringen sind“.
' Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, scheint uns
auch das Auftreten zahlreicher, zum Teile symmetrischer
Nävi von Bedeutung zu sein. Auch v. Becklinghausen
hat in dem eingangs erwähnten Ealle auf die zahlreichen
Angiome aiifmerksam gemacht und mit llücksicht auf die
phleliogenen kavernosen Angiome die Frage aufgeworfen,
,,oh das Ausbleiben der Verknöcherung etwa die Folge
einer Aplasie der Blutgefäße war“.
Wenn wir auch in unserem Ealle keinen Anhaltspunkt
für eine derartige Erklärung finden, scheint uns der Befund
von Nävi in anderer Hinsicht von Bedeutung zu sein. Es
treten nämlich gerade dadurch die multiplen zentralen
Enchondrome in eine gewisse Analogie zu anderen Pro¬
zessen, die wir heute im Sinne einer Bildungsanomalie
zu deuten gewohnt sind.
Hier ist vor allem jenes bekannte Bild der multiplen
Neurofibromatose (v. Recklinghausen) zu nennen. Es
hamlelt sich hiebei um multiple Tumoren an den Nerven,
welche bisweilen augeboren sind, häufig sich bereits in
frühester Kindheit entwickeln, oft hereditär auf treten und
mit angeborenen Pigmentflecken, Nävis und Intelligenz-
defekten kombiniert sind.
Neuerdings hat RieliR) das ,, Adenoma sebaceum
Pringle“ als eine analoge Bildungsanomalie der v. Reck-
1 in ghau sen sehen multiplen Neurofiljromaiose angereiht.
,,Es handelt sich um Fälle, bei denen sich Affektionen auf die
Schleimhäute der Mundhöhle, auf andere Körperregionen,
z. ß. Nacken und Skrotum, ausbreiten, und nebstbei Gc-
schwulstbildungen am Nagelfalz einzelner Finger und Zehen,
Veränderungen im Wachstum der Nagelplatte sich zeigen.
Bei einigen Kranken dieser Art sind Mißbildungen und In¬
telligenzdefekte bekannt geworden. Es besteht also in diesen
Fällen eine embryonal angelegte, kongenital oder im späteren
Leben manifest werdende Bildungsanomalie, weiche durch
ererbte Anlage bedingt ist.“
Diesen beiden genannten Bildungsanomalien möchten
wir nun die multiplen zentralen Enchondrome, die, wie im
vorstehenden ausgeführt, in einem gewissen Gegensätze zu
den echten autonomen Afeubildungen stehen, an die Seite
stellen und sie als eine Vegetalionsstörung im Sinne Kun¬
drats auffassen; dieselbe kann sich in verschiedenen
Formen manifestieren, wie es einerseits die Fälle von
01 Her scher Erkrankung, anderseits die hier besprochenen
zeigen.
Zum Schlüsse gestattet sich der Verfasser seinem ge¬
ehrten Chef, Herrn Direktor Dr. Nedopil, für die Ueber-
lassung des Falles seinen besten Daidc zu sagen.
Literatur:
') Virchow Archiv, Bd. 118. Ein Fall von Enchondrom mit
ungewöhnlicher Multiplikation. Klinische Beobachtung von Dr. Käst,
Anatomisch untersucht von Prof. v. Recklinghausen. — b Virchow,
Die krankhaften Geschwülste, Bd. 1. — b borst, Die Lehre von den
Geschwülsten. — *) Ribbert, Geschwulstlehre. — ®) Ollier, zitiert
nach W i 1 1 e k. — b Dr. Arnold W i 1 1 e k, Die Olüersehe Wachsturnstörung,
Bibliotheca medica, E. Heft 7. — ’) Wiener klin. Wochenschrift 1906.
Nr. 43. Offiizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung 19. Oktober 1906.
lieber die Styriaquelle in Rohitsch-Sauerbrunn.
Von Prof. E. Ludwig, Prof. Tli. Panzer und Dr. E. Zdarek.
Der Kurort Rohitsch-Sauerbruiin liegt in Steier¬
mark, nahe der kroatischen Grenze, unter 40" 14’ nörd¬
licher Breite, 33° 18’ 42’’ östlich von Ferro, 228 Meter
über dem Meere. Man gelangt am becpiemsten dahin auf
der Lokalbahn, welche von der Station Grobelno (Südbahn-
hauptlinie Wien — ^Triest) nach dem Markte Rohitsch führt;
die Fahrt von Grobelno dauert eine Stunde.
Ueber die Gescbichte des Kurortes und seiner Heil-
tiuellen entnebmen wir dem Buche von Dr. Macher^) und
einem Aufsatz des Dr. Anton Schlossar^) folgendes: Die
Heihiuellen von Rohitsch-Sauerbrunn sind seit Jahrhun¬
derten bekannt; ob sie schon die alten Römer als solche
erkannt haben, ist ungewiß, verschiedene in der Nähe be¬
findliche Thermen haben sie benützt. Sie waren mit dem
Quellengebiet vertraut, das beweisen aufgefundene Denk¬
steine mit Inscbriften. Es darf wohl angenommen werden,
daß die römische Marschstation Mansi o Ragan do ne mit
dem Namen Rohitsch zusammenhängt. Hier sollen noch
die Ruinen eines alten Sonnentempels gefunden worden sein.
Die Einwanderung der Slowenen erfolgte um das
Jahr 580. Der Name der Rachatzer, der mächtigen Herren
zu Rohitsch, ist aus dem XI H. Jahrhundert nachweisbar.
Einige Stellen in alten Quellenwerken deuten darauf hin,
daß das Heilwasser im XL Jahrhundert bekannt war, doch
dürfte dasselbe erst 4572 ausdrücklich erwähnt worden sAin
u. zw. von Leonhard Thurneysser in seinem Buche:
Von kalten, warmen, mineralischen und metallischen
Wassern. Darin wird ein Wasser von großer „krafft und
tugendt“ besprochen, das 5000 Schritte von dem „alten
Stedtlein Cylie gegen den Mittentag“ gelegen sein soll. Auch
Tabernaemontanus spriebt in seinem 4584 herausge¬
gebenen ,, Newell Wassersebatz“ von einem ,,Sawerbrunnen
nit weit von Reichenburg“, was sich auf dieses Quellen¬
gebiet beziehen dürfte.
Der erste bestimmte flinweis auf den Fleilwert des
Robitscher Vlineralwassers findet sich in dem Werke des
landschaftlichen Physikus und Arztes Johann Benedikt
Gründel: Roitschocrene, das, in lateinischer Sprache
verfaßt, 4685 erschien und zwei Jahre später in deutscher
Uebersetzung beräusgegeben wurde unter dem Titel: „Roit-
scbocrene, das ist ausführliche Beschreibung deß in Unter-
Steyer weit berühmten Roitscher Sauerbrunn“ (Grätz 4687).
Gründel preist in dem Buche die Rohitscher Heilquelle
in lateinischen Versen, deren deutsche Uebersetzung in der
deutseben Ausgabe zu finden ist. Die ersten Zeilen handeln
von der J^age des Gesundbrunnens:
,, Nicht weit vom beiligen Creutz ein edler Brunn’ entspringet
Der dem erkrankten Leib die Gesundheit wiederbringet.“
Die übrigen Verse schildern die medizinische Wirkung
des Wassers; die letzten Verse lauten:
,,Er ist wahrliafftig ja ein Götter-Trank zu nennen
Wie solches immerdar vil Tausend thun bekennen
Er ist ein Schatz im Land, dem Steyerniark ein Zier
Ein Kleinod der Natur, d’rum trink’ und solch’s probier’,“
Der Brunnen entsprang damals ,,aus einem bohlen Wei¬
den- oder Felberstock“ und hatte den in der Nähe wohnen¬
den Bauern ,, schon lange Zeit für ein ordinari Trunk ge-,
dienet“. Prof. Dr. v. Sorbait, Leibarzt der Kaiserin Eleo¬
nora, Gemahlin Ferdinands HL, hatte schon früher das
Rohitscher Wasser nach Wien gebracht und damit erfolg¬
reiche Kuren angestellt. Desgleichen haben Physikus Doktor
Wagner in Graz, I^eibarzt 4h'of. II Im er v. Wartenberg,
Leibarzt Dr. Herdet v. Todenfeld in Wien, Dr. 4ebr,
Pbysikus von Schweinfurt, Dr. v. Lebenwald, Idiysikus
von Leoben und Dr. Kern, Physikus von Graz, therapeu¬
tische Versuche mit dem Rohitscher Wasser in ausgedehn¬
tem Maße unternommen. Viel Rohitscher Wasser wurde
schon damals, insbesondere gemischt mit Wein, als Er¬
frischungsgetränk genossen,
Physikaliscli-medizinische Beschreibung der Sauerbrunnen bei
Rohitsch von Matthias Macher, Doktor der Heilkunde, Magister der Ge¬
burtshilfe, Physikus zu Rann in Steyermark. Graz. In der tranz berstl-
schen Buchhandlung. Johann Lorenz Kr ein er, Vorbericht. Marburg am
1. Februar 1823. , • -i j
Landeskuranstalt Rohitsch-Sauerbrunn seit 1801 im Besitze des
Landes Steiermark. 1904. Im Verlage der Landeskuranstalt Rohitsch-
Sauerbrunn.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 13
Zur Verbreitung des Rufes der RohiLsclier Quellen
trug f‘olg(‘udes Ereignis viel bei, das v. Sorbait erzählt.
Ein (Irat Zrin kam um das Jahr KEIO auf einem Jagdaus-
tlug in die (iegend von Roliitsch und wur.le von den Land-
ieulen auf die Heilkraft des Rrnnnens aufmerksam gemacht.
„Weil en er niit der schwarzen (Jelhsiiclil überladen, auch
i.,eh(;r und Milz hart gewesen,“ soll der (Iraf nach längerem
Gebrauche des Wassers von seinem Leiden geheilt wor¬
den sein.
Die Quelle war damals für jedermann zugänglich und
nur .mit einem einfachen Holzzaun umgehen, zum Schutze
gegen Verunnnnigimg durch das Vieh, das die Quelle gern
aufsuchte. Uni Unterkunft für Kurgäste zu schaffen, welche
das Wasser an der Quelle trinken sollten, wurden in der
Nähe der Quelle einige Hütten erbaut, die meisten Kur¬
gäste wohnten aber in Marburg oder in Pettau und ließen
sich das AVasser täglich an der Quelte frisch füllen und
in gut verstopften Flaschen bringen.
Lange Zeit hatte niemand ein Interesse daran, die
Quelle als Eigentum zu erwerben; die Füllung und Ver¬
sendung des Wassers besorgte der jeweilige Pfarrer von
1 leiligenkreuz. Infolge gesteigerter Nachfrage drängten sich
mehrere tSpekulanteii an dieses Geschäft heran und gerieten
bald miteinander in Streit. Peter v. Hammer erhielt ein
Privilegium zur Verführung des Sauerbrunnen, das ihm
aber Dr. v. So r bait und der Gastwirt Frank in Wien
streitig machten; Baron Courty, Besitzer der Herrschaft
Stei'nmoll, sprach das Fägentumsrecht an, es entstand ein
langwieriger Prozeß, währenddessen Baron Courty sich
als unumschränkter Besitzer gcrierte. Er setzte im Jahre
1()7G den Preis des Wassers so stark hinauf, daß eine
Flasche, die ungefälir 2^2 Maß enthielt, in Wien einen
Gulden bis einen Gulden 15 Kreuzer Koiiv.entionsmünze
kostete. Gegen diese Anmaßung wurde von allen Seiten,
insbesondere von dem Magistrat von Pettau energisch pro¬
testiert, bis endlich eine Allerhöchste kaiserliche Ent¬
schließung dem Streite ein Ende machte, indem sie das
Schöpfen aus der Quelle ganz freigab und dem Gastwirt
Frank in When ein Privilegium zur Versendung des Wassers
durch Oesterreich und andere kaiserliche Länder erteilte.
Den Streit um den Besitz der Quelle und den hohen
Preis des von Baron Courty in den Handel gebrachten
Ho hitscher WAssers hatten unlautere Spekulanten benützt,
um das Whasser verschiedener anderer Quellen als Rohit-
scher^Vasser zu verkaufen; dadurch wurde der Ruf des
echten Wassers arg geschädigt. 1706 erteilte Kaiser Josef 1.
dem .loh. Conrad Heiickl die Befugnis zum \'erschleiß des
Hohitscher Sauerbrunnen; nach dem Erlöschen dieser Be¬
fugnis erhielten die elf bürgerlichen Apotheker in When
ein eigentliches Privilegium; diese ließen die llauptciuelle
in Stein fassen und bestellten einen Brunnenaufseher;
neben dem Brunnen stellten sie eine Statue des heiligen
Jobanues auf, welche die Inschrift trägt: ,,sanclo Joanni
statua a Collegio pharmaceutico Austriaco - Vieniiensi
structa.“ Diese Statue ist noch heute in den Anlagen des
Kurortes zu sehen. Das den Whener Apothekern erteilte
Privilegium wurde von der Kaiserin Maria Theresia be¬
stätigt, mit der W'eisung, die Füllung gewissenhaft und
ordentlich zu besorgen. Als im Jahre 1782 Kaiser Josef 11.
das Whener Apothekerkollegiuni aulhob, hörte der wohl¬
tätige Einfluß des letzteren auf das Robitscher Whisser auf.
Die Quelle geriet in \'erfall und gab zu allerlei Streitig¬
keiten Anlaß. Drei Bauern besorgten nun die Füllung und
Versendung des Whassers und erriebteten an Ort und Stelle
eine Sauerbrunnenbadeanstalt, in der sie das der Quelle
entnommene Wasser durch Beimischung von erhitztem
Säuerling entsprechend erwärmten.
1771, also fast ein Jahrhundert nach Gründeis
R o i t s c h o er e n e erschien eine chemisch - medizinische
Hntersuebung des Brunnens von Dr. Dietel, deren wesent¬
licher Inhalt in das berühmte W^erk von Heinrich v. Crantz:
Die Gesundbrunnen der Oesterreichischen Monarchie, auf-
genommen wurde.
Eine bessere Zeit für die Robitscher Heilquellen trat
am Beginne des XlX. Jahrhunderts ein, als ihnen die Stäniie
von Steiermark ihre Autmerksamkeit zuwendeten. Der
Grazer ApoUieker Josef Suess wurde mit der jVnalyse des
Heilwassers betraut, deren Ei’gebnisse der Leibarzt Doktor
B. Fa by in einer Schritt: ,,Cnemisch-physilvalische Unter¬
suchung des Rohitsclier Sauerbrunnens nebst Anleitung zum
innerlicneii Gebrauche desselben“ fGrätz iSUdj, verulfenl-
liclit hat. Durch kaiserliche Verordnung wurde 18U8 den
Ständen das Schöpfen, die l'üllung und Versendung des
Rohitsclier Wassers ausschließlicli zuerkannt. Damit stell¬
ten sich geordnete VerJiältnisse ein und der gute Rut dieses
Mineralwassers breitete sich bald weilhin aus.
Die Stände kautten zunächst den Grund in der Um¬
gebung der Quelle an, bauten Wohnhäuser und bestellten
einen Brunnenarzt und einen Inspektor. Hervorragende Ver¬
dienste um die Hebung und das Aulblülien des neu be¬
gründeten Kurortes erwarben sich tier Landeshauptmann
Ferdinand Graf v. Attems, sein Naclifolger Ignaz M. Graf
V. Attems und der Prälat, des Stiftes i\.djnont, Gottliaii.
Kugelmeyer. Das einmal geweckte Interesse blieb dem
Kurort dauernd bis auf den heutigen Tag erhalten und
mancherlei Ereignisse trugen dazu bei, dasselbe frisch an¬
zuregen. So weilte 1810 der besonders in Steiermark so
hochverehrte Erzherzog Johann zur Kräftigung seiner Ge¬
sundheit in dem jungen Kurort und lenkte die Autmerksam-
keit auf dessen Heilquellen.
Zielbewußt und unausgesetzt Neues, Zweckmäßiges
und Schönes schaffend, hat die steirische Landesvertretung
den Kurort ausgestaltet, so daß derselbe heute über alle
guten modernen Einrichtungen und Behelfe für den Kur¬
gebrauch und die Mineralwasserversendung verfügt und so¬
wohl in dieser Hinsicht als auch in bezug .auf wobigepflegte
Garten- und Parkanlagen den besten seiner Art an die
Seite zu stellen ist.
Leber die geologische BescJiaffenheit von Rohitsch-
Sauerbrunn und dessen Umgebung verdanken wir Herrn
Dr. J. Dreg er, Geologen der k. k. geologischen Reichs¬
anstalt in When die folgende Mitteilung, für die wir ihm
auch an dieser Stelle unseren besten Dank sagen:
,,Als die Bahn noch nicht bis Rohitsch ging, fülirte
der gewöhnliche WRg in das von lieblichen Hügeln um¬
gürtete Sauerbrunn von der Bahnstation Pöltschach aus
durch die malerische Dolomitschlucht des Vollabaches an¬
steigend, am Wotschberg vorüber. Von der Paßhöhe an¬
gefangen, fast bis vor den Kurort selbst, liietet sich dem
Reisenden ein weiter Blick über die reizende Landschaft
bis weit nach Kroatien liinein.
Der Wotsch bildet mit seinem 980 m hohen Gipfel
die größte Erhebung dieser Gegend und stellt mit dem sich
anschließenden Pleschiwetz und dem weiter östlich ge¬
legenen Donatiberg einen dem Kurort nördlich vorgelager¬
ten Gebirgszug dar, welcher als Fortsetzung der südlich
vom Bachergebirge aufragenden Gonobitzer und Weiten¬
steiner Berge als der letzte Ausläufer der Karawankenkette
angesehen werden kann.
Der breite Gebirgsstock des Wotsch ist größtenteils
aus mächtigen Schichten von hellgrauem Dolomit und Kalk
zusanmiengesetzt, welche Gesteine wohl ebenso wie die
Bleierz fübronden, gewaltigen Dolomit- und Kalkmassen in
den Karawanken, der oberen Trias formation (etwa dem
Niveau des erzfübrenden Kalkes) zuzuzählen sein dürften,
wenn es auch bisher nicht gelang, Versteinerungen aufzu¬
finden, die das als unzweifelhaft erscheinen ließen.
in den Schluchten und an den Ränflern des Kalkes
und Dolomites sind öfter Gesteine aufgeschlossen, die der
oberen Karbonformation angehören und auch hier, wie so
oft in den südlichen Kalkalpen, von unterirdischem Schiefer
und Sandstein begleitet werden. Das , obere Karbon ist
durch Fusulinen führenden, weißgeäderten, dunklen, oft
bituminösen Kalk, durch graubraunen, tonigsaiuligen
Sebiefer und Sandstein und durch grobe Quarzkongloinerate
und Breccien vertreten.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
,385
Wälireud sieb jiortniselic Bilduii.gcMi ((d.wa (Irödciier
Saiidsbdn iiiid Vorrucano) nieJd, siclicr iiaediweiscn lassen,
fiiidol sieh iinlerlriadiseliei', röllielignnici', schiefrij^er Saiid-
sU'iii (Wbn'feiier Sehiehlen) am NordfidJe des Wotscb (hoi
Sludenilz).
Der eben in seiner geologiseben Zusammensotzimg
besproeliene (ielnrgssi.oek des Wolseli ist ringsntn von ter-
liären Bildungen uing(d)en, die das waldige HLigelland zu¬
sammensetzen,. in dem Ivobitseb-Sauerbrunn gelegen ist.
Als ältesle tertiäre Ablagerung triti, dem Dolomit und Kalke
des Wolseb mit ziemlicb steilem, südlichen Einfallen, dis¬
kordant angelagert ein gramu- bis bläulicher bituminöser
sandiger Mergelscbiefer auf, der das Hangende eines un-
bedeubrnden Braunkoblenlagers bildet und den sogenannten
(i()b(U‘oligo(;änen) Sotzkaschiebten angebört, die durch ihre
Ivobleufübrung eine so große volkswirtschaftliche Bedeu¬
tung hesitzen. Die gleichen Sedimente sind in einem zweiten,
ebenfalls westöstlicb streichenden Zuge südlich von Sauer-
brmin hei lleiligenkreuz und über der Sottla auf kroatischem
Bod<'.n aufgeschlossen, wo auch (bei Klenovec) einige Meter
mächtige Braunkohle bergmännisch gewonnen wird, die
hauptsächlich für die Glashütte in Straza verwendet wird.
Als nächst jüngere Bildung erscheinen über den (aqui-
tanisc.ben') Hangendschichteu der Kohle graue, sandigmerge-
ligo Gesteine von unter mioeänern Alter, ‘denen vulkanischen
Tuff entludtendc Sandsteine, Konglomerate und (Tathotam-
ni(m-)Kalko eingelagert sind. Tn der Gegend von Markt
R'ohitsch üherwiegt der tuffige, bräunliche Sandstein, der
besomb'rs in Kroatien große Ahn’hreitung hesitzt, hei Heiligen-
knuiz und in Kroatien südlich des ehen erwälinten Zuges
von S'f)tzkaschichten dagegen (hu- (T/ilholamnicm- oihvr
E('i(lia-)Kalk, Avährtmd der TJrspningsort der Hauplqnellen
von Bohitsch-Sauei-hniun in dem flach nach lYord fallenden
uraiien, in der Tieb' f('sten idergel geleg(m ist, über den sich
bi('r di(' .Mluviouen des Irje- und Teichhae.hes ausbrc'iten.
Der oben crwähnle, duredt (‘inen li(‘rrlicli(m E(‘inj)lick
b(d\annte, 88.ß jn hohe, cl.w'a 8V2 km ostiiordtist li(di von
Sauerbnuin geh'ga'm* Donatiberg sl.clll (‘in a.ns (hm sandig¬
mergeligen Bildungen scharf hervortretendes Li tholanmien-
Kalkriff dar, das durch seine sehr steilen, stellenweise senk¬
recht und sogar ül)erhängend stehenden Gesteinschichten
auffallend ist. Diese außerordentlich steile Schichtstellung
des Lithotaninienkalkes und Konglomerates läßt hier eine
Störungslinie veiinuten, die um so wahrscheinlicher ange¬
nommen werden kann, als in ihrer westlichen Fortsetzung
nördlich von Sauerbrunn Ersclieinungen auftreten, die eben¬
falls darauf hinweisen, daß die Erdoberfläche hier hedeu-
teiide Stöningen erlitten hat, indem mitten in den miocäiien
Bildungen vereinzelte Schollen karhonischer (und vielleicht
auch permischer) Gesteine erscheinen, wie sie eben vom
Wotsch besprochen worden sind. Von R. Ho ernes wurde
diese Stöiamgslinie als Donati-Störungslinie bezeichnet.
Eine große Wichtigkeit ist meines Erachtens den vul¬
kanischen Gesteinen unserer Gegend beizulegen. Es ist be¬
reits erwähnt worden, 'daß in den'miocänen Bildungen Sand¬
steinablagerungen auftreten, die von vulkanischem Tuff-
material durchsetzt sind und bisweilen den Mergel ganz
zurückdrängen. Außer den Tüffsands feinen nehmen jedoch
auch massige, feste Eruptivgesteine selbst und deren Tuffe
an dem Aufbau des Untermioeäns teil. Südöstlich vom
Wotsch, am Südfuß des aus mioeänern', grobkörnigen Sand¬
stein bestehenden Pleschiwetz zieht sich in westöstlicher
Richtung, der hier allgemein herrschenden Streichungs¬
richtung, ein gegen 3 km langer und etwa V2 km breiter
/Vufhruch eines Hornhlende-Andesites von heller, gelblicli-
grauer (in fiischem Zustande grünlicher) Farbe mit dazu¬
gehörenden Tuffen, während gleich südlich von Rohitsch-
Sauerbrunn bei Tersisebe und mehreren anderen Stellen
gegen die Sottla imd in östlicher Richtung über diesen
Bach hinaus schon in Kroatien leicht zerfallende Andesit-
tuffe von gelblichweißer und grauer Färbung auftreten, aus
welchen ösflich vom .Markt Bohitsch bei Videna und hei
St. Rochus (wieder auf steirischem Gebiefe) dmd\ler fester
Augit-Andesit bervorfril t.
Wir bal)en alsO' einen mächtigen Aufbriudi von Horn-
blende-Andesit nördlich von Sauerbrunn und ei.ne Zone von
Andesittuffen ndt dem Vorkommen von Augit-Andesit anzw(‘i
Stellen östlich von IMarkt Rohitsch, w.äbrend in (h'ii da¬
zwischen liegenden Sedimenten vulkanisches TuffTiiateiial
eine hervorragende Rolle spielt. Mit diesen wichtigen Zeugen
einer großartigen eruptiven Tätigkeit lassen sich wohl die
kohlensäurereichen Wässer, die von der Geogend von Kostiei-
nitz und Unter-Gabernig (Ignatzi- mid Königsbrunnen,
Marienhrunnen, Roisalien- und Bnhnerbrunnen) angefangen
bis zu den der steiennärkiseben LiindscbaH gehörigen Säuer¬
lingen bei Rohitsch-Sauerbrunn (Styria-, Tenii)elbrunnen,
«-ß-T-Brunnen usw.) in ursächlichen Zusammenhang bringen,
indem die Kohlensänre(‘xhalationen den letzten Rest einer
vulkanischen Tätigkeit darstellen, die in der Mioeänzeit die
Andesite und Tuffe an die Erdoberfläche gebracht hatte.
Das in den Klüften und Gesteinsspalfen, in den(‘n die
Kohlensäure eni[)orsteigt, eingedrungene Wasser wird mit
dieser bereichert und so befähigt, leichter aus dem Gestein
der Umgehung mineralische Bestandteile zu lösen. Auf dies('
Weise entstehen kohlensaure Gewässer, die je nach den in
ibnen g(‘lös(en Slofhui verschiedenartige ^Mineralwässer dar¬
stellen.“
Die erste Analyse des Rohitscher Mineralwassers hat
Gründel im Jabfe 1685 vorgenommen; er fand außer dem
,, Brunnengeist“ auch Eisen und alkalische Bestandleile und
beobachtete, daß die Quelle bei r(‘gn(‘risch(‘i‘ Witterung
schwäciier wurde. 1771 wurde von. Dr. Dietel ein(‘ Ana¬
lyse ausgefübrt, aiudi ihre Resultate tragen noch ganz d(‘n
Gliai'akb'r der alten Methoden und bi(‘ten wenig Braiudi-
bares; dann folgte 1803 eine Analysfg die der A[)otbek(‘r
Suess in Grraz nacdi Bergmanns Mefbode ausfübrtn und
1821 eine Analyse von dem Professor am .Toanneinn, Doklor
rjOr(‘nz V. Vest, d(‘r(‘n B(‘su1tate v. Vest im Grälz(‘r Z(‘if-
blatt ,,Der .Aufmerksame“, 1821, Nr. 19, veröfbmtlicht ba(.
Danach enthält ein halbes Wiener Maß = 40-5 TiOt des
Wassers :
Kohlensäure .
Kohlensäuren Kalk .
EisenO'xydul .
Wasserfreies Glaubersalz . . .
Kochsalz .
Wasserfreies kohlensaures Natron
Feste Bestandteile .
1040
23-7
1-3
8-7
0-2
23-6
57-6
Wiener
Grane
Kubikzolle
Bittererde weist diese Analyse nicht aus, hei einer
früheren Analyse hatte v. Vest ebenso' wie Suess Bitter-
erde nachgewiesen.
Außer dieser Analyse der Hauptquelle werden noch
die Analysen der Ferdinands-Quelle (nach dem Grafen Ferdi¬
nand von Attems genannt) und der Gotthards-Quelle (nach
dem Abte Gotthart Kugelmeyer genannt) angeführt.
Je V2 Maß der Wässer dieser beiden Quellen enthält
danach :
i l ' i ' -
Ferdinands-
Gotthard-
rfiielle
qdf’llp
Kohlensäure ....
. 660
76 0 Wiener Kub.-Z
Kohlensäuren Kalk . .
. 13 0
6 0 Grane
Bittererde .
. 0 5
Kohlen saures Eisen . .
. Sour
0-4 ..
Schwefelsaures Natron .
. 33
0-6 „
Salzsaures Natron . .
. 0-4
0-3 „
Kohlen saures Natron
. 18-3
9-5 „
Feste Bestandteile . .
. 355
25-8 „
1837 hat Schrötter das Wasser der T((mpelquelle,
dann Prof. Max Buchner in den Jahren 1874 bis 1884
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
liCÜ
die Wässer der Moritz-Qaelle,^) der Teiiipelciuelle^) und
der Styria quelle^) analysiert.
Büchner erliielt für 10.000 Gewichtsteile des Wassers
der S t y r i a qii e 1 1 e folgende Werte :
Schwefelsaures Kalium . . . 21292
Schwefelsaures Natrium . . . 19-2772
Salpetersaures Natrium . . . 0-0092
Chlornatriimi . 0-9425
Jodnatrium . 0 0003
Saures kohlensaur. Natrium . . 14-2281
Plrosph'orsaur. Calcium . . . 0-0274
Saures kohlensaur. Calcium . . 8-3570
Saures kohlensaur. Magnesium . 45-3331
Saures kohlensaur. Eisen . . . 0-0G23
Saures kohlensaur. Mangan . . 0-0386
Phosphorsaure Tonerde . . . 0-0100
Kieselsäure . 0-4100
Freie Kohlensäure . 31-4969
Ueherdies werden noch Spuren von Baryum, Stron¬
tium, Lithium und Brom nachgewiesen.
Im Herhste des Jahres liat der Landesausschuß in
Steiermark heschlossen, eine neue Analyse des Wassers
der Styriacpielle zu veranlassen und uns mit deren Aus-
fülirung hetraut. Wir haben die Vorarbeiten an der Quelle
am 3. Januar 1905 besorgt, die gesamte Analyse wurde bis
Ende Mai 1905 fertiggestellt.
Dermalen bestehen in Rohitsch-Sauerhinnn sechs
Mineralquellen, nämlich: die Styriaquelle, die Tempel¬
quelle mit drei Nehenquellen, von denen nur eine in
Stein gefaßt ist, die Josefs -Q'ue Ile, die Ferdinands¬
quelle, die Gotthard -Quelle und die Waldquelle.
Zur Trinkkur an Ort und Stelle, sowie zum Versand
diente ausschließlich das Wasser der Styriaquelle und
Tempel quelle, während das Wasser der Nehenquellen von
der Tempel quelle und der anderen genannten vier Quellen
nur zur Herstellung von Mineralbädern verwendet wird.
Die Tempelquelle und die Styriaquelle sind in Nabre-
sinamarmor gefaßt. Diese Fassung von kreisrunder Basis
ist von einer 80 cm dicken Betonschichte bis zum Felsen¬
grunde herab umgehen, an die Betonschichte schließt sich
eine 1 bis 2 m dicke Schichte von gestampftem Lehm
an. Der Durchmesser der Marmorfassung beträgt hei der
Tempelquelle 85 cm, hei der Styriaquelle 80 cm, die Tiefe
des Brunnens von der Erdoberfläche bis zur Quellsohle
hei der Tempelquelle 3-55 m, hei der Styriaquelle 3-17 m.
Die beiden Quellen sind voneinander 40-8 m entfernt; die
Aldaufröhren, in denen das Wasser zum Füllschachte fließt,
sind in geringer Höhe über den Quellsohlen angehracht,
nämlich 0-155 in im Tempelhrunnen, 0-05 m im Slyria-
hrunnen;^) die Entfernung des Füllscliachtes von den beiden
Quellen beträgt 50-3 m, hzw. 35-1 m. Im Füllschachte,
der erst seit einigen Jahren besteht und mit den besten
Einrichtungen versehen ist, werden die Flaschen für den
Versand gefüllt und ferliggestellt.
Die beiden Bnmnen sind durch tempelaiiige Bauten
vor den Wittenmgseinflüssen geschützt.
Die Temperatur der Styriaquelle haben wir am
3. Januar 1905, um 10 Uhr vormittags bestimmt; sie hefrug
lO*^ C; zur seihen Zeit war die Lufttemperatur — 10-2® C,
der auf 0® reduzierte Barometerstand 749-8 mm. Herr
Direktor Dr. Mulli teilt uns mit, daß die 1903 und 1904
in den verschiedenen Jahreszeitmi vorgenommenen Messun¬
gen der Quellentemperatur zwischen 9-2® C und 11-2® C
gezeigt haben.
Sitzungsbericht d. kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien.
Mathem.-naturw. Klasse, H. Abt., 71. Bd., S. 309 bis 314.
0 Daselbst 73. Bd., S. 221 bis 227.
®) Die Ergebnisse dieser Analyse scheinen nicht veröffentlicht
worden zu sein, wir haben dieselben einem schriftlichen Berichte an den
Landesausschuß entnommen.
®) Die Ueberfallrohre sind 1-3G8, hzw. 1-085 m über der Sohle an¬
gebracht. Die Brunnenkränze ragen 0-790 m über die Erdoberfläche empor.
Das frisch geschöpfte Wasser der Styriaquelle ist klar
und farblos, es riecht und scluneckt erfrischend, wie die
kohlensäurereichen Säuerlinge; es färbt blaues Lacknius-
papier violett, nach dem Eintrocknen blau. Beim Stehen
des Wassers in einein offenen Gefäße entweichen Kohlen-
säurehläschen und tritt nach und nach Trübung und Aus¬
scheidung eines reichlichen weißen Niederschlages ein ; diese
Veränderung erfolgt rasch, wenn die Wässer erwärmt
werden. 1 ; | !
Die qualitative Analyse wies in dem Wasser der
Styriaquelle folgende Bestandteile nach: Kalium, Cä¬
sium, Rubidium, Natrium, Lithium, Ammoniak,
Calcium, Strontium, Baryum, Magnesium, Eisen,
Mangan, Aluminium, Schwefelsäure, Chlor, Brom,
Jod, .Borsäure, Phosphorsäure, Kieselsäure,
Kohlensäure, Salpetersäure, Ameisensäure und
nicht flüchtige organische Substanzen.
Die Untersuchung eines Stückes von kompaktem
Quellensinter, der sich im Laufe der .fahre in einem Leitungs¬
rohre abgeschieden hatte, ergab überdies noch die Anwesen¬
heit von Arsen- und Titansäure- Spuren.
Von diesen Bestandteilen wurden nach erprohlen ]\Ie-
thoden quantitativ bestimmt: Kalium, Natrium, Lithium,
Ammoniak, Calcium, Strontium, Magnesium, Eisen, Mangan,
Aluminium, Schwefelsäure, Chlor, Brom, Jod, Phosphor¬
säure, Borsäure, Kieselsäure, Kohlensäure, Salpetersäure
und nicht flüchtige organische Substanz (organischer Kohlen¬
stoff). Alle übrigen aufgezählten BesJandteile wurden, da
sie sich nur spurenweise vorfinden, nur qualitativ nach¬
gewiesen.
Die quantitativen Bestimmungen der einzelnen Be¬
standteile ergaben folgende Mittelwerte für 10.000 g Wasser:
Kaliumoxyd . 0-254
Natriumoxyd . 14-434
Lithiumoxyd . 0-004
Ammoniak . 0-027
Calciumoxyd . 3-166
Strontiumoxyd . 0-032
Magnesiumoxyd . 11-369
Eisenoxyd . 0-043
Manganoxydul . . 0-004
Alumiiiiiunoxyd . 0-001
Schwefelsäureanhydrid .... 11-162
Chlor . 0 509
Brom . . 0-001
.Jod . 0001
Pliorphorsäure'i.nhydj'id .... 0-003
Borsäureanhydrid . 0-062
Salpetersäureanhydrid .... 0-018
Kieselsäureanhydrid . 0-455
Kohlensäureanhydrid . 61-084
Organischer Kohlenstoff . . . . 0-149
Kontrollsulfate, gefunden . . . 75 613
Kontrollsulfate, herefdmet . . . 75-244
Die folgende Tabelle enthält die Bestandteile des
Wassers in Gramm-Ionen für 1000 g Wasser:
K . . . 0-000539 CI . . . 0-001436
Na . . . 0-046486 Br . . . 0000001
Li . . . 0-000027 J ... 0-000001
NH, . . . 0-000158 PO, . . . 0-000004
Ca . . . 0-005654 B,0, . . . 0 000045
Sr . . . 0-000031 NO3 . . . 0000033
Mg . . . 0-028169 CO'H . . 0-085579
Fe . . . 0-000054 CO.^ . . . 0-053234
Mn . . . 0-000006 AlgO^ . . O’OOOOOl
SO, . . . 0-013942 SiO, . . . 0-000753
Werden nach altem Usus die Bestandteile zu Salzen
gruppiert, so gelangt man zu folgender Darstellung:
Schwefelsaures Kalium .... 0-470
Schwefelsaures Natrium .... 19-436
Chlornatrium . 0 840
Nr. 13
387
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Bromiiatriulii . 0 001
Jiodiiatriiim . . .' . 0001
Piiospliorsaiurcis Natrium .... 0 005
Borsaiires Natrium . 0 000 -
Salpetersauros Natiium .... 0028
Ivolilei) saures Natrium .... 9 -323
Kohlensaures Lithium . 0 010
Kohlcnsaures Ammonium . . . 007()
Ivohlensaures Calcium .... 5-65-1
Kohlensaures Strontium . . . 0046
Kolilensaures Magnesium . . . 23-763
Kohlensaures Eisen . 0-063
Kohlensaures Mangan .... 0-006
Aluminiumoxyd . 0-001
Kieselsäureanhydrid . 0-455
Kohlensäure, hlalhgel)U mien . . . 18-828
Kohlensäure, frei . 23 428
Organischer Kohlenstoff .... 0-149
Summe der festen Bestandteile 60-268
Den in dieser Tabelle enthaltenen Werten für die
normalen kohlensauren Salze entsprechen folgende Werte
für die sauren kohlensauren Salze (Bikarhonate) :
Natriumhikarbonat ....
. 14-773
Lithiumhikarh'Oiiat ....
. 0-018
Amiiioniuinhikarboiiat ....
. 0-125
Calciumhikarh'Oiiat ....
. 9-160
Stroütinmhikarbonat ....
. 0-065
Alagiiesiiimbikarbonat ....
. 41-234
Eisen])ika.rbmiat .
. 0-09(5
Man gaiibikarb'onat .
. 0010
Drückt man nach dem Vorschläge von C. v. Than
die Zusammensetzung in Aequivalentprozenten der Bestand¬
teile aus, so gelangt man zu folgendem Ergebnis :
K . . .
. 0-469
V2SO, . .
. 24-240
Na. . .
. 4-0-410
CI . . .
. 1-248
Li . . .
. 0-023
Br . . .
. 0-001
NH, . .
. 0-137
J . . .
. 0001
VoCa . .
. 9-829
V,PO, . .
. 0-011
V.,Sr. . .
. 0-054
V.,B,0, . .
. 0-077
V.Mg. . .
. 48-974-
NO., . .
. 0-029
V,Fe. . .
. 0-094
CO3H . .
. 74-393
V-.Mn . .
. 0010
100-000
100-000
Al.,0,
. . . 0-001
SiOa .
. . . 0-655
CO, .
. . . 46-276
B e s t i in ni
11 n g des
s p e z i f i s c li e n Gewi
ch te s.
Das sivezifische Gewicht wurde wegen der in dem
Wasser enthaltenen großen Menge freier Kohlensäure mit
dem Apparat von E. L ud w i g hei der Temperatur des schmel¬
zenden Eises hestimmt. Es betrug auf destilliertes Wasser
von derselben Temperatur, als Einheit bezogen: 1-008166.
Bestimmung des Gefrierpunktes.
Die im Beckmann scheu Apparat vorgenommene Be¬
stimmung ergab: — 0-32® C.
Daraus ergibt sich die Zahl der Gramm-Molen und
-Ionen im Liter und der osinotische Druck, wie folgt:
Gramm-Molen und Osmotischer Druck
-Ionen im Liter
0-175 2-14- Atm.
Bestimmung der elektrolytischen Leitfähigkei
Kapazität des verwendeten Gefäßes: C = 0-17596.
Temperalur x
9-2® C 0-005141
9-8® C 0-005228
10-0® C 0-005295
10- 6® C 0-005391
11- 2® C 0-005500
Das der Quelle frei entströmende Gas ist reines Kohlen¬
dioxyd; es wird von Kalilauge bis auf einen minimalen
Best alisorhiert.
Das Wasser der Styriaquelle in llohitsch-Sauerhrunn
gehört zu den alkalisch-salitnschen Säuerlingen. Es ist mit
Kohlensäure gesättigt und durch einen großen Gehalt an
Magnesiumhikarhonat ausgezeichnet.
Außer den von Prof. Buchner nachgewiesenen B(v
standteilen haben wir durch unsere Analyse noch weiter
sechs Bestandteile aufgefunden, nämlich, Cäsium, Ru¬
bidium, Ammoniak, Arsen, Titansäiirb und Amei¬
sensäure. Arsen und Titansäure ließen sich, wie schon
früher erwähnt, im Quellensinter nachweisen.
Wird unsere neue Analyse mit der Analyse von
Buchner verglichen, so ergibt sich folgendes: Der Gehalt
der Styriaciuelle an festen Stoffen hat sich in diesem Zeit¬
raum nicht nennenswert geändert, denn die geringen Diffe¬
renzen der analytischen Ergebnisse lassen sich durch die
verschiedenen angewendeten Methoden und unvermeidlichen
Versuchsfelder ungezwungen erklären. Dagegen beruht die
Angabe Buchners, daß das Wasser der Styriarpielle in
10.000 g 31-4969 g freie Kohlensäure enthält, auf einem
größeren Bechen- oder Beobachtungsfehler, denn diese Zahl
ist mit dem Ahsorptionskoeffizienten der Kohlensäure ab¬
solut nicht in Einklang zu bringen.
{Referate.
Lehrbuch der physiologischen Chemie.
Von Olaf Hamiiiarsten, ehern. Professor der mediz. und physiol. Chemie
an der Universität Upsala.
Sechste völlig: umgearbeitete Auflage.
836 Seilen.
Wiesbaden 1907, Verlag von J. F. Bergmann.
II am mars tens rülimlicirst bekanntes Lelirbncli der
physiologischen Clieniie liegt mmniebr in seiner sechsten Auf¬
lage vor. Seitdem Ilammarsten im Jahre 1890 die zweite
schwedische Auflage seines Werkes in die deutsche Sprache über¬
tragen war, war demselhen eine aiißierordentlich wichtige Rolle
in allen Werkstätten physiologisch-chemischer Forschung he-
schieden. Es ist wohl kaum zuviel gesagt, daß alle jüngeren
Riochemiker Deutschlands und Oesterreichs in einem gewissen
Sinne als Schüler Ham mars tens' gelten können, insoferne woh!
eiif jeder von ihnen gewolnd ist, aus 'dieseiri Buche immer und
immer wieder Relehrung zu schöpfen.
Hammarsten hat es stets verstanden, sein durch Klar¬
heit, Gründlichkeit und strengste Objektivität ausgezeichnetes Werk
auf der Höhe moderner Wissenschaft zu halten und so hat denn
auch, der rapiden Entwicklung der physiologischen Chemie ent¬
sprechend, die vorliegende secliste Auflage eine völlige Ihii-
arheitung erfahren.
Der Plan des Buches ist im ganzen unverändert gehliehen.
Die Mitteilung einer Kapitelül)ersicht dürfte denselben am besten
veranschaulichen: 1. Eiideitung; 2. die Proteinstoffe,- 3. die
Kohlehydrate; 4. das Tierfett; 5. die tierische Zelle; 6. das
Blut; 7. Chylüs, Lymphe, Transsudate und Exsudate; 8. die Leber;
9. die Verdauung; 10. Gewebe der Bindesuhstanzgruppe ; 11. die
Muskeln; 12. Gehirn und Nerven; 13. die Fortpflanzungsorgane ;
14. die Milch ; 15. der Harn ; 16. die Haut und ihre Ausscheidungen ;
17. Chemie der /Mmimg; 18. der Stoffwechsel hei verschiedener
Nahrung und der Bedarf des Menschen an Nahrungsstoffen.
Otto V. Fürth (Wien).
*
Stimmbildung und Stimmpflege.
Gemeinverständliche Vorlesungen gehalten von Dr. med. Hcrinauii
Gntzmauu, Privatdozenten an der Universität Berlin.
Wiesbaden 1 906, Bergmann.
In zehn Vorlesungen, die Verf. im Auftrag der Stadt Ham¬
burg über Stimmhiklung und Stimmpflege gehalten hat, wird
in klarer und gemeinverstäudlicher Weise das Thema ahgehan-
delt. Nach einer durch zahlreiche Illustrationen und Experi¬
mente erläuterten Darstellung der Anatomie und Physiologie der
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Atnniiigsorgane bespriclil Vcrf. die Knt.sleluing iitid Jbilwicl'limg
der Sliinnie, sowie den St ininiansalz. Die weilnren Vorb'snngen
betreffen die Slörnngen der (l('sangs- und S])i'eelislininH‘ und
die Maßnalinien zn ihi'i'r Vcnliiilnng, lianplsäeblicb' init Jiüek-
sicld auf die Sebnie. Das Jbieli, w'elcln's in ei-slej’ Linie für
Slinnn|)ädag(»g(‘n und lieiirer Inlerc'sse haben düi’fie, für diese
ist es ja speziell gesclirieben,- wii’d aber aiieb jedem Kolb'gen,
iler sieh l•aseb über dieses Thejna orientieren will, will¬
kommen sein.
♦
Die Therapie der Kehlkopftuberkulose mit besonderer
Rücksicht auf den galvanokaustischen Tiefenstich und
äußere Eingriffe.
Von Dr. Ludwig Oriinwald, Rad Reichenhall-Miinchen.
München 1907, Verlag von J. F Lehmann.
Im ersüm Teile des vorliegenden Werkes weist Verf. anf
die Nolw<mdigk(*it einer Kritik der Therapie bin. Di(^ mannig¬
faltige (leslallung und di(‘ prognosfisebe V(M'scbiedeTdieit dei' ein¬
zelnen Kälb' je nach d(“r laiverlelztlK'it der Oberfläclie, den-
i-age der Tn berkebb^pols und der riewebsiH'aklion, die individuelle
|{<'sislenz und di(' Kom])likalion mit rinngentnbei’knlose sind wicdi-
tige Kakloren bei der Denrleihmg des Erfolges von lluM'apeidi-
scbeii !\1a tbia Innen und aus der Niebtl)eaebtung dieser Momente
erkbirl sieh Vei'f. di(‘ so div(“rgi(nend(m Meinungen über die LokaT
beliandlnng der E('b]kopfiuberknlose.
Ans den Ibjslulaten d('r Therapie, die Verf. aufslent, sei
bervorgeboben, daß V(nf. betont, eine wirksame Lokaltberapie
müsse, auch bei iniliahm und scheinbar oberflächlichen Erkran¬
kungen, Ix'reits in die T'iefe greifen. Dies erscheint begründet
durch die histologischen Ilntersuchungam deis Verfassers, da er
ofl li(d: nnter doj' Oberfläche noch Tnberk('ldepots fand. Weil es
zur \hubülung diiekter Schädem von Wichtigkeit sein dürfle,
bei lokallberapeiitischen Maßnabmcn die unversehrte Oherfläcbe
nicht zu verletzmi, sieht Verf. in dem galvanokansl ischen Ticfen-
slich (‘in V<'rfahren, das bald umn-wartetc Yerhreilung finden
dürfl('.. Am Schlüsse <les ersten d’eiles werden die speziellen,
Indikationen für endolaryngeale Eingriffe znsammengestellt ; Für
initiale E.rkranknngen funktionell in Anspruch genommene Par¬
tien em|)fieblt sich Scliweigeknr und unschädliche Mittel, wie
Sonnenbelichtnng, Inhalationen etc. Geschwüre von geringerer
Ansdelmung sind mit Alilcbsäure, Geschwüre von größerer Aus-
delmnng mit dem Galvanokauter zu behandeln. Bei vermuteter
Tiefenerstreckung ist der galvanokaustische Tiefenstich anzuwen¬
den. Gestielte Depots sind ahzutragen. Bei ausgeh reiteter Er¬
krankung, deren Beseitigung endolaryngeal ausgeschlossen er¬
scheint, kommen äußere Eingriffe in Betracht.
Von diesen handelt der zweite Teil. Verf. hat aus der
Literatur '93 Fälle von äußeren Operationen hei Kehlkopf tuber¬
kulöse gesammelt, dieselben tabellarisch nach vcrschiedeiien Ge¬
sichtspunkten geordnet und stellt nach kritischer Untersuchung
des Matei'ials folgende Indikationen für eine äußere Operation auf:
1. Der Zustand des Kehlkopfes muß die Alöglichkeit oder
doch Wbabrscheinlichkeit der Ausheilung durch allgemeine oder
endolaryngeale Therapie ausgeschlossen erscheinen lassen.
2. Der Allgemcinzustand muß einen größeren Eingriff zu¬
lassen. : I
3. Im hisherigen Verlaufe, sowohl dos Lungen-, als dos Kehl¬
kopf prozesses, soll die Widorstandsfähigk(‘it des Oiganismus er¬
kennbar sein, lleilungsprozesse auf den Lungen sind besser zu
beurteilen als scheinbare Intaktheit dieser Organe.
4. Die Sokretionsverhältnis'se der Lunge müssen eine un¬
gestörte Wundheilung wenigstens als möglich erscheinen lassen.
5. Es muß möglich erscheinen, den lokalen Herd durch
den i)rojeklieiten Eingriff vollständig auszurotten.
Vielleicht wird sich die Badikaloperalion der Kehlkopf¬
tuberkulose hei vorsichtiger, im Sinne des Verfassers gestellter
Indikation trotz der hisheiägen schlechten Resultate — von den
93 Fällen sind nur 10 als geheilt (Heilung länger als zwei Jahre)
zu betrachten — neue Freunde ei'werhen ; -jedenfalls kann das
ohne di(' so holiebte kritiklose Begeisterung geschriebene Buch
(hm Kollegen zum Studium bestens empfohlen werden.
Grundriß der Kehl köpf Krankheiten und Atlas der
Laryngoskopie.
Von Dr. L. GrUuwald, Bad Reicheiihall-Müncheri.
M ü n c li c u 1907, J. F. Lehmanns Verlag.
Del- beslbekannle G r ü n w a I d sehe Atlas lit'gt in zweiter
Auflage vor. Verf. hal den der ersten Auflagi; laugidiigten Text
wesenilicli erw('il(M-|, so daß nun Diagnoslik und 'Pheraiiie der
Keblkopf(M-kranknngen vollständig berücksichtigt sind, ein Um¬
sland, der zur cveileren Verlindl.iing des Buches gewiß htdlragen
wird. An den Bildern ist nur wmiig geändert. Wünscbmiswert
wäre W(dil die Verhessmiing einiger dersidben gewesen, so zum
Beispiel wird wobl niimiand aus Fig. 1 auf T. 24 die Diagnose
„aknies, entzündliches Oedern“ machen können; Fig. 2 auf T. 43
muß wegen der starken Hötnng der Schleimhaut eher für einen
B('l i'opharyngealahszeß als für eim^ Lordose angesehen werden.
Vii'lh'ichl würde es sich auch (unpfelihm, die .Anzahl der histo¬
logischen Bihh'r etwas einzuschränken, da di(‘se für den prak¬
tischen Arzt — demselhen ist ja das Buch wohl lianidsächlich
zugedacht — Aveniger wertvoll sein dürften. Es wärim dafür
lieber die laryngoskopisclum Bilder zu vermehren; so vermissen
wir z. B. ('ine Abhildnng des Lai-ynxsklerom;s, auch wären viel-
h'icht einige sellemu-e Erkrankungen ahzubildeii, wie Lc'pra, Pem¬
phigus u. a. Die Ausführung der Tafeln ist hei dem billigen
Preise des Werkes, obwohl das Koloi-it nicht immer ganz gut
getroffen ist, eine vorzügliche zu nennen.
*
Klinik der Bronchoskopie.
Von Herinajiii v. Sclirölter, Dr. phil. et med. in Wien.
Jena 1906, Verlag von Gustav Fischer.
Deni slattlichen Bande liegen Untei-suchungen zugrunde, die
Verf. an dem großen Materiah' (h'r medizinischen nniv('rsitäls-
klinik seines Vah'is vorgi'uonnm'ii hal. Wie wir der V(trr('de ent-
nebuK'it, Iriig sieh Schrötler u rsprüngli(.-h mit dem (b'dankc'ii,
(un Hand huch der 'rracheobronehoskopie herauszugehen, in (b'iu
in gleicher A nsführlichkc'it Methodik und Klinik be’handelt ',v('rden
sollten. Umstände persönlicher Natur zwanga'U ihn j('doeh, vor
liegendes Werk in ,,Avesentlich g(d<ürzter Form“ — - <'S umfaßt
Irntzdo'in noch 688 S('il('n — ■ ('.rscheinen zu lassen.
Doch auch in dieser Förth bietet das Buch, nament¬
lich für den mit den Untersuchungsmethoden schon Ver¬
trauten, eine Fülle des Interessanten. Man merkt nur leider dem
Werke die ehvas überhastete Arbeit ;in, so fällt es unangenehm
auf, daß allein 38 Seiten Nachträge und Ergänzungen ausfüllen,
ein LTebelstand, der aber leicht und cs ist zu hoffen, bald, durch
eine zweite Auflage hehohen werden könnte.
Im allgemeinen Teil des Buches finden wir nach einem
kurzen historischen Ueberblick technische Rembrkungen. Verfasser
ist es niemals vorgekommen, daß die Einführung der Böhre
vom Mutide aus, wenn er dieselbe gleich hei der ersten Uider-
suchUng forcieren wollte, mißglückt wäre. Erwähnenswert er¬
scheint die Beschreibung der neuen, nach dem Prinzipe des
leuchtenden Stabes von L. v. Schrötter konstruierten Böhre,
die zweifellos die weitere Aushreitung der neuen Untersuchungs¬
methode wesentlich fördern wird. Die Untersuchungen wurdcJi
stets mit Lokalanäslhesie ausgeführt, allgemeine Anästhesie an¬
zuwenden sah sich Verf. nie genötigt, doch gibt er zu, daß zu
operativen Zwecken, zur Extraktion von Fremdkörpern, speziell
bei Kindern, die Narkose oft nicht zu umgehen sein Avird.
Verf. heschreiht ferner das von ihm verwendete Instru¬
mentarium, bespricht speziell eingehend die Amvendung des
Alagneten zur Extraktion metallischer Fremdkörper und gibt ver¬
schiedene Instrumente an, die er sich erdacht, aber noch nicht
ausgeführt und angeAvendet hat.
Der spezielle Teil enthält gegen GO Krankengeschichten,
die zur Genüge demonstrieren, Avelch hoher AVert der neuen,
von Killian inaugurierten und von ihm und seiner Schule
speziell zur Diagnose der Erkrankungen der Bronchic'ii und
der Lunge zuerst angCAvendelen Untersuchungsmethode Iwi-
zumessen ist. Fraglich ei-scheint uns nui-, ob es nicht
besser Aväi'e, bei hochfiebernden und herabgekommenen
Individuen, auf diese Untersuchungsart mit Rücksicht auf den
Patienten lieber zu verzichten, da sie, wenn auch noch so ge-
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
389
scliickl ihirt'hjfiil'iihii, für den Patieiileii sleis nnaugeneliiii nml |
ormiidend, off. (|ua]voll, ja g('fährlich sein wird. Vand. hat anc.li
solclie Ki'anke uidersnclil, vor deren llidf'rsnelning andc're wold
aus diesiMi (iriinden Abslanil nelnnen wdii'dfni.
EingeleileL wird der si)ezi(dle Teil mil, eimu' ilespreclnmg:
ties normalen, endoskopiseluMi Hihies, gamau wtoahm dit' pulsa-
toriselien und resiiiraforisehen Hewegungsiahänonunut best lu'i(d)e]i,
W(d)ei Verf. aucli stdiie itbysiologisclien llnlers'iKduingtm sirtdfl.
ll('rvorzuh(d)en wäiam form*!' baui)l:sä(ddi(di die stdiömm l'irfolgi!,
die Verf. bei cluajuisclien Sbmosen, durtdi nuadianistdie. Dila.-
lalion erzielte, es gadang ibm iji eimun Falb' von 'ruberkulose.
und in einigen Fällen von Lues, ilie Itesbdtenden Slenosen foils
daiu'rnd, b'ils vorübergeliend zu (u-weilern. iMii anerkenm'uswerler
Offenbeif ItericdileL er amdi über eiiu'ii Fall von Slenose des
linkt'u Hronclnis, bei dem es infolge der Dilalalionsversuebe zur
Piildung eines ialschen Weges kam.
S('br inleressanbilleoltacblungen fimb'ii sich in den Kapibdn:
(destdiwidsbt dt's 'rracheoliromdnalbauines und Ileziehuttgen des
Bronchialbauines zum Aneurysma. J)aßi tis alter auch dniadi die
Hrnmdioskoitie nieht. immer möglich ist,, zur rit bl.igen Diagnose¬
stellung zu gelangen, zt'igen die KraiikengeschiidiLen Ni’. 54 und
Nr. 49. Im Falle 54 war die Diagnostt Neoplasma, des Hronclnis
gestellt, wüiab'ii, bei eim*)' Frobet'xzision bt'hufs bislologiscber
Fnb'rsuchung kam es zu eiiu'r tödlitdien Hlntung, diit Aulopsie
ergab ein Aiu'urysma der .Aorta, das den Hronclnis arrodiort
halte. Im Fall 49 vväia' die Diagnose nur durch die Probe¬
exzision sicherzustelb'n gewi'sen, die wegen Ab'rdacbt ('ines Aneu-
ry.smas wohl mit, Rücksicht auf Fall 54 unterlassen wurdi'. Die
Vei'mulungsdia.gnose Aneurysma. bestät.igle sich bei d(ir Sektion
nicht, es handelte sich um (‘in Karzinom. Ausführlich hebandelt
ist das Kapit('l Fremdkörper. Verf. teilt si'chs eigene Fälle mit,
die teilweise schon aus der Literatur lu'kannt sind; trotz ihta'r
geringen Anzahl zeigen sie deullicdt die Leistungsfähigkeit der
Methode. Leider vermissen wir eine tahellarische und slalislische
Verarlu'itung des gesamten imhlizierlen Fremdkörpeiinaleidales,
die hier wohl nicht fehh'n sollte. Vi'i'f. verspricht in eiiu'r späteren
Milleilung auf die Statistik der hronchoskoiusch('n Fnundköi'per-
fälh' zurückzukommen.
Die sorgfältige Benützung der fiiteralur, die ausführliche,
nicht einseitig spczialistische Hearheitung des Materiales, zahl-
reicdie gegebene Anregungen zu weiteren llntersiudmngen, machen
das Huch besonders wertvoll, nicbt zulelzt auch die» s(diöne Aus¬
stattung mit 72 Ahhildungi'U, speziell aber die ausgezeichmden
farbigen Tafeln mit I ra(dieo-broncboskopis(di(“n Ib'funden am
Schlüsse des Randes, 0. Kahler.
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
1 51 . lieber Choledoch o d node n u m a n a s t o m o s e. Von
Prof. ,1. A. Rosenberger, AVürzburg. Bei einer 49jäbrigi‘u
Frau bestand seit, über zwei Monaten bochgradiger Ikterus. Heller
Stuhl, grünlicdi gefärbter Urin bei gleichzc'il.ig hocdigradiger Ab¬
magerung, Schmerzen und Magenbc'schwerden ; fc'rner konnte eine
längliche, von der Leber bis zur Ib'ocökalgegend reichende Cie-
scbwulst, die als vergrößiei'te Gallenblase gedeutet wurde, iial-
idort worden. Unter der Annahme, A^erschluß der Gallenwege,
wahrscheinlicli durch ein Karzinom oder durch Gallensteine wurde
die Laparotomie ausgeführt; man fand weih'i' dl(' geringste Stein-
hildung, noch einen Tumor; bei Druck auf die gc'füllte Galb'ii-
blase sab man den Choledochus anschwellen. Fs wurde die
Zyslekf.omie ausgefübrt und drainiert. Die Patientin erholte sich
rasch; der Ikterus verscdiwand. Als aber nach zirka fünf Wochen
das Drainrohr, aus (h'in Gallo ahfloßi, entfernt worden und die
Fislelöffnnng in kürzester Zi'it verheilt war, trat wieder Gelb¬
färbung der Haut mit starkc'in .Tiickreiz auf. Auf Wunsch der
Patientin wurde die Relaparotoimie gemacht. Der Zystikus wa.r
ohliteiiert, hingegen der Choledochus zu einerU weichen, dickeren
Schlauch angeschwolh'ii. Fs konnte, abermals weder ein Stein,
noch ein Tumor gelastet werden. So wurde der Chohuhx’hus
ca. IV2 cm lang inzidiert. Fine eingeführte 'Sonde konnte nicld,
bis in den Darm Vordringen. Nacb Längsinzision des Duodenums
ca. 4 cm lang wurde dieses abgelastel und (la. man di(‘ Sond«'
im Choledochus an der Papille durchfühlen konnte, ein narbiger
Verschluß der Fimnündiingsstelle in das Duod(‘Uum angenommeu.
Verf. stellte, nacluh'in der längere Schnitt im Duodenum durch
Seidennähle zurc'chtgepaßit war, durch Vernähung d(‘r Inzisioiu'ii
nach den Prinzipien (hsr Darmanaslomos(' (‘iiui .Anaslomosf'
zwischen Chol(‘do(duis und Diiodenmn lu'r. Fs Irat bald ein
normales Ih'finden (dn. Zebu Monate nacb d(‘r ()p(‘ralion sieht
die Palienlin blühend aus und fühlt sich vollkommen g(‘sund.
Nachdem bislu'r eine lidekliou der Leber durcdi Hi'udvfluß von
Darminball, wi(' di('.s von Körte, Kehr u. a.. lH‘oba(dit('l wurde,
nicht erfolgl(', ist, du's aiadi (mudiih'in Pal. dinsdi zi'lm Monate
gesund) kaum imdir zu (U’warlen. Verf. hatte zu glei(di('i' Zeit
liei einer amb'ren Patientin weg('n chrouisclK'm Ikterus eineChole-
zysteidx'i'oslomie ausgeführt; diese Palienlin, sowie zwei gb'iche
Fälle aus früherei- Zeit Ix'fanden si<di ]m)sI. opc'raliouem nicbt
sowohl wie die Palientin niiit d(‘r ChohMlocln.duodenumanaslomose,
weshalb der Autor di(‘se Ix'i Fällen mit. tiefsilzendem Hindernis
des Galh'nabflusses ganz allgem<‘in zur Frwägung und Nach-
abmung empfiiddt. — (Deutsche Zi'itsFhrift für Cbiiurgie 1900,
Rd. 85. — F('st.schrift für v. Hergmann.) F. 11.
1 52. U e 1) e r die S c h w i e i’ i g k e i t d er Diagnose f r (' i e r
P 1 e u r a.e r gü'S s e. Von C. Siimon und P. Ameuille. Dii* Dia¬
gnose f]-('i(‘r Pleuraergüss(' stützt si(di aid'. Dämjd'ung in den ab¬
hängigen Thoraxparlien mit gesteigerter Hesislenz bei Palliation.
Aufbebung des Slimmfix'initus, sowie Abschwäcdiung oder Febhm
des vesikulären Atmungsgeräusches. Man findet selten diesi'
Zeichen vollständig vereiid und es kann jeih'S ('inzeln Vorkom¬
men, ohne daßi ein frei('r . Frguß in Vier Pleurahöhle vorhanden
ist. Seihst, die, Dämpfung kann bei Pleuraergüssen f(‘hlen und
es findet sich die Angabe, daß ein Lungenemphysem ein Fx-
sudat von eiiu'in Liter vollsländig maskieren kann, in welchem
Sinne auch eine von den Verfassern milgeteilte Heohacdilung
spricht. Als wesentli(dies dffferenlialdiagnoslisches Zeichen dei'
Pleuritis gegenüber anderen, Dämpfung erzeugenden Affektionen
der Brustorgane, wird das Fehlen des Stimmfremilus tangidührt,
doch gibt es auch Fälle von Lungenkongestion, wo der Stinim-
fremitus fehlt, anderseits Fälle von pleuritischen Frgüssen, wehdie
nicht zur Aufbfebung des Stimmfremitus führen. Abschwäcdiung
oder Aufhebung der Atmungisgeräusche wird auch bei Pneumo¬
thorax, massiver Pneumonie und verschiedenen Lungeniiifiltra-
lionen beobachtet, während es Fälle von Pleuritis gibt, wo nicht
nur die normalen Atmungsgeräusche, sondern auch Kuistoj'-
rasseln du i ch das Fxsudat hindurch wahrgenomm(*n wird. Di('
diagnostisch wertvolle Amrschiebung der Organe bei linksseitiger
Ideuritis wird aucdi bei Pnemnothoiax, manchmal sogar bei PiU'U-
monie beobachtet. Fs gibt demnach kein für Ph'urilis pallu»-
gnomisches Symptom und es kann ein sicberer .\ufs(dduß nur
durch das Frgebnis der Prohepunklion gewonnen werden. Man
muß eine Nadel von genügend weitem Lumen mindesU'ns 8 bis
10 mm tief einstechen. Auf Fehlen eines FrgUsses kann nur
dann gesiddossen werden, wenn die richtig vorgenommeiu'
Punktion nur etwas Blut oder Luftblasen liefert, diin negativer
.Ausfall der Punktion kann durch fehlerhafte Te(dinik oder zu
große Viskosität des Exsudates bedingt sein. Fs gibt auch Fälb‘
von sorofibrinösem Frguß, wo die Punktion negativ auslälll,. Fs
ist dies dann der Fall,' wenn die verdickten Pleiirawäiido so
starr sind, daß sie eine Ausdehnung der famge an Stelle der
durch Aspiration zu entziehenden Flüssigkeit nicht geslatli'n.
.Tedenfalls inuß mit Rücksiidit auf die relative Unverläßli(dik('il
der Symptome hei Pleuritis jeder therapim tischen Punkliou (‘im;
Prohepunklion vorausgeschickt werden. — (Arch. gen. de nu'-d.
190ß, Nr. 41.) a. a.
*
153. Aus der medizinischen Abteilung If d('S Bürgi'rspilals
in Slraßburg i. F. (Direktor: Prof. Dr. A. Cabn). Fin Fall
V on s u b k u ta.n e m Fmphysem bei L u n ge n t u h 0 r ku 1 0 s e.
Von Dr. Frnst Krenckei’, Assistenzarzt. Suhkulaiies Fmphysem
bei Lungentubei’kulose ist äußerst sidten. Verf. konnte nur einen
einzigen Fall in der Literatur ausfindig numhen und teilt hier
einen zweiten mit. Am 22. .April 1900 wurde eine 27jährige,
äußerst abgemagerte Frau auf die Abteilung aufgenommen. Sie
zeigt ungc'wöbnliche Dyspnoe, leiebte Zyanose, Trommelschlägel¬
finger, Fieber. Die Untersuchung ergibt beiderseitige Lungiea-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
tuljerkulose. Jiii Spiitain zahlreiche Tubcrkelbazilleii. Am 2G. April
trat in der liegend des Juguluni llauLemphyseni auf, das immer
släiker Avurde. Am 28. April reichte es nacli oben Ins zum
Kiefenvinkel, nach links bis an das Akromion. Starke Dyspnoe,
Respiration: 40. Am nächsten Tage reicht das Eniphysem
am Halse Jiach hinten bis fast an die Wirbelsäule und geht
auf die unlerc Schlüsselheingrube über. Abends Exitus. Die
.\ulopsie ergab in kurzem das starke Emphysem im subkutanen
Rindegewebe am Halse. Ausgedehnle Larynxulzerationen. An
der linken Lungenspitze eine große Kaverne, welche dii'ekt bis
auf den Kostalraum reicht. Am linken Lungenhilus ist unter
der Pleura viel Luft angesainmelt. Die rechte Lunge ist fast
ganz in Kavernen aufgegaiigen. Der Unterlappen und der ganze
Ol)erlapi)en enthalten nur ein System von Kavernen. Die großen
Rronchien münden unvermittelt in die großen Kavernen. Zur
Eiklärung des Emphysems dachte Verf. zunächst an den Durcli-
bruch einer Kavernenwand, welche infolge Verwachsungen niclit
zu Pneumothorax geführt hatte. Eine zweite Möglichkeit konnten
die tiefgreifenden Larynxgeschwüre bilden. Beide Annabmen be¬
stätigte die Autopsie nicht. Verf. nimmt an,' daß in der (legend
des linken Lungenhilus eine Perforation erfolgt ist, die zunächst
zu interstitielleni Emphysem geführt hat und daßi die Luft sich
von da den Weg zum Bindegewebe des vorderen Mediastinums
und des subkutanen Gewebes des Halses und der obersten Brust-
parlien gebahnt hat. Die hei Tuberkulose seltenere, erhebliche
Atemnot und ungervöhnlich krampfhafte Hustens töße führten auch
in diesem Ealle von Lungeiituberkuloso ganz in derselben Weise
zu kleinsten Zerreißungen ties Lungenparenchyms, wie hei Keuch-
liusten, Masern und Diphtherie. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1907, Nr. 6.) • G.
*
154. Hernia the tose unter der Geburt. Von Dr. Sieg¬
fried Bauer. An der Abteilung für Frauenkrankheiten im iVller-
tieiligenhospilal zu Breslau (Primärarzt Dr. B. Asch) wurde eine
IXpara aufgenommen, welche schon zu Hause eigentümliche Stel¬
lungen und Bewegungen der rechten Hand gezeigt hatte. Sonst
Wehen, starke Blutung, keine Kindeshewegungen. Im Spital „fielen
eigenartige Bewegungen der Ober- und Untergliedmaßieu der rechten
Körperhälfte auf, die mehr den Unterarm, intensiver die Zelieii,
ani meisten die Finger betrafen. Sie imponierten durch ihre
Stetigkeit und Langsamkeit, durch die eigentümlichen Beugungen,
Streckungen und Ueherstreckungen, durch, die Ab- und, Adduktionen
als typische Athetoseheweguiigen.“ Sie erinnerten in nichts an
choreatische Zuckungen. Auch der Mund nahm in seiner rechten
Hälfte daran teil, die Zunge wurde nach rechts schleckend liervor-
gest reckt. Systolisches (anämisches) Geräusch an der Herzspitze,
sonst normale Verhältnisse. Urin stets eiweißfrei. Diagnose : Vor¬
zeitige Plazentalösung mit sekundärem Fruchttod. Rlasenspi'en-
gung, Geburt eines fnschtoten, sehr anämischen, kleinen Kindes.
Die offenbar schon vorher in toto gelöste Plazenta wurde mit
einem lliesenkoagulum sofort nach der Gehurt ausgestoßen. Die
typischen Athetosehewegungen dauerten am Tage der Geburt noch
in derselben Stärke fort, nachts im Schlafe ebenfalls, jedoch fast
ausschließlich die Finger und Zehen betreffend; am nächsten
Tage geringe]', waren sie am dritten Tage ganz geschwunden.
Das Wochenbett verlief ungestört. Der Verfasser bespricht das
Vorkommen der Alhetose nach und auch vor Hemiplegien und
Enzephalitis der Kinder, bei Tumoren, Tuberkulose etc. des Ge¬
hirns, die sogenannte idiopathische Athetose, begleitet von Im¬
bezillität, Idiotie und Epilepsie, 'mit und ohne Erkrankun,gen be¬
stimmter Hirnteile. In seinem Falle muß man, da andere An¬
haltspunkte (Hysterie, Potus, Lues etc.) fehlen, die Athetose mit
der vorzeitigen Plazentarlösung und schweren Blutung in Ver-
hindung bringen. Oh die Reizung des linken Zerebrums, irgendwo
vielleicht an einer Stelle zwischen Thalamus opticus und Zero-
bellum, durch die Anämie allein oder durch eine kleine Blutung
oder vorübergehende Embolie (Zottenverschlepj)ung) zu erklären
ist, das möchte Verfasser nicht entscheiden. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1907, Nr. 5.) E. F.
*
155. Klinische Be tr a c h tu n g (> n h e i E n I w e i ch u n ge n
G (“ i s I e s k r a n k e r. Von Oberarzt Dr. A 1 h i’ e c h t - Treptow' an
der Bega. Auf GJund von 150 Fällen, in welchen Geist<‘skranke
übergeben worden waren, entwichen,
roße Gruppen voji Entweichungen unter-
dieser Gruppen ist durch phudoses Davon¬
laufen, die andere durch überlegtes EntAveichen gekennzeichmd.
Eine Unlei'gruppe der letzteren bilden die Fluchtversuche der
verbrt'cherischen Geisteskranken. Albrecht hespriiht in seiner
Ai'beil, Avelche Krankheitstypen in der einen und in der anderem
der beiden Gruppen hauptsächlich verlreten sind. Die Gruppe der
überlegten Entweichungen ist die weitaus größte. Hier ist auch
in den meisten Fällen ein bestimmter Grund für das Eidweichen
maßgebend, ln nicht seltenen Fällen erfolgen Enlweichungen von
Geisteskranken aus durchaus krankhaften Beweggründen heraus.
Die Zahl der Enlweichungen beträgt in der Anstalt Treplow
lO'Vo der Aufnahmen. Männer entweichen häufiger als Frauen.
In der überwiegenden Anzahl von Fällen regen krankhafte innere
Vorgänge zu Fluchtversuchen an. In den Fällen Albrechts
führten die Entweichungen wohl gelegeidlich zur Verunglückung
des entwichenen Geisteskranken, nie aber zu einer Gefährdung
des Publikums. — (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und
psychisch -gerichtliche Medizin, Bd. 63, H. 6.) S.
♦
156. (Aus dem livländischen Feldlazarett des Roten Kreuzi's
im russisch-japanischen Kriege 1904/1905.) Ueher Indikatio-
n e n h e i in S c h ä d e 1 s c h u ß i m Kriege. V on Dr. W. v. 0 e l-
tingen, seijierzei tigern Chefarzt des Feldlazarettes in Eho und
Mukden. WTihrend in früherer Zeit (besonders vor den klein-
kalihrigen Geschossen) und auch zu Beginn des Krieges Schädel¬
schüssen gegenüber eine ahwartende Haltung, oh sekundäre Sym¬
ptome auftraten, deren Ursachen einmal in der Blutung, dann
in der Infektion lägen, eingenommen Avurde, einigte man sich,
durch die überaus schlechte Prognose, die das konservative Zu¬
warten ergab, nach den ersten Kriegsmonaten schon mehr für
ein aktives Vorgehen, eine aktive Prophylaxe, die die
Infektion nicht bekämpfen, sondern ihr Vorbeugen soll. Hiefür
sprach vor allem die Erwägung, daß die meisten im Lazarett
sterbenden Schädelschüsse an einer Infektion zugrunde gehen
(die unschwer durch das verwahrloste Haar und die schweiß-
durchti'änkten Älützen erklärlich ist) ; Patienten, die der Schwere
ihrer Gehirnläsion erliegen, erreichen das Lazarett nicht mehr
oder nur auf kurze Dauer. Die Operation, welche im Kriege
meist gemacht wurde, war das ,, Debridement“, die Freilegung
der Schädehvunde, eventuell unit folgender Drainage mit Drain¬
rohr an den abhängigen Teilen des Schädels oder mit Docht¬
tamponade an den hochgelegenen Partien, wie Stirn und Scheitel.
Von 51 Schädelschüssen, über Avelche Verf. berichten kaiin, sind
nur 18 gestorben. Nicht operiert wurden 19, davon starben 7;
primär operiert wurden 20, von diesen starben 4 (Vö); sekun¬
där wiu'den 12 operiert, von diesen starben 7 (über die Hälfte).
Unter primärer Operation bezeichnet Verf. den Eingriff innerhalb
der erste.]! 24 Stunden. Die Indikationsstellung erweist sich aber
im Kriege, avo jedes prohatorische Operieren, als zu der im
Kriege drakonisch zu unterdrückenden Polypragmasie führend,
hintanzuhalten ist, als überaus sclnvierig; als ihre Avertvollste
Stütze e]'scheint die Kenntnis der Mechamik der Schußver-
letzunge]! des behaarten Kopfes. Aus Gründen der ZAveckmäßigf
keit unterscheidet der Autor schematisierend de]i S treif schu IL
den S t e c k s c h u ßi, den D u r c h s c h u ß und den Tange n t i a 1-
schuß. Ersterer Avi]'d als Weichteilschuß behandelt. Der Steck¬
schuß ist durch das Fehlen des Ausschusses am leichteste]! als
solcher zu erkennen. Das Geschoß befindet sich in der Wunde,
selten im Knochen, meist aber tiefer. Die priniäre Operalion
ist bei diesen nicht durch die Lokalisation der IVunde oder
das Stecken eines Geschosses (außer Avenn es in der AVunde
liegt), sondern durch den C’harakter der KnochenAvunde und die
funktionellen Syniptonie (Avenn diese durch zunehniende Blutung
oder durch Splitterung bedingt sind) indiziert. Durchschuß
und Tangentialschuß haben Ein- und Aussclmßüffnung ge¬
mein, das Geschoß fehlt. ObAvohl sehr scliAAuerig, ist die erforder¬
liche Diagnose sehr Avichtig, Aveil höchstens die Hälfte aller
Durchschüsse, aljer siclier alle Tangentialschüsse zur Operation
kommen sollen. Die Durchschüsse Averden unterschieden in
Quer- und Längsschüsse (die in den großen Durchmessern des
Schädels liegen) und in Schrägschüsse. Da diese uiitunter einen
Bao
aus der Anstalt, der sie
konnte A 1 1) r e c h t ZAvei
scheiden. Die eine
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
391
Wundkaiial von G cm (auch iiocli weniger) aiifweisen, anclerseils
Tangenlialschtisse bis 10 cm (und darnl)er) Länge liaben, so
ist zur Diagnosenstellung häufig nur die Splitterung an der
Knochemvunde als Kriterium zu verwenden. Nur in seltenen
Fällen werden Durchschüsse zur Operation gelangen ; (dnerseils
wegen der Kleinheit der Knochendefekte, anderseits wegen der
oft zu großen Zerstörung. Herdsymptome indizieren die Operation
nur dann, wenn sie durch zunehmende Blutung oder grobe Splilte-
rung bedingt erscheinen; im letzteren Falle ist dann der Schuß
meist als T an ge n ti a 1 sc h u E zu deuten. Diese wieder worden
unterschieden als Aufschlagschuß, Furcliungsschu ß und
als tangentialer Durchschuß. Beim ersteron erscheint die
äußere CHastafel vom abgeglittenen Geschosse etwas oingebogen
oder fissuriert, die innere hingegen ist stärker zerstört und zer¬
splittert. Ein- und Ausschuß sind meist unregelmäßig, nahe neben¬
einander oder vereinigt. Beim Fu r dien sch u ß ist der Schädel
wie ,, aufgepflügt“, der Knochendefekt viele Zentimeter breit und
bis 13 cm lang. Ein- und Ausschuß sehen zerrissen aus, brauchen
aber nicht vereinigt zu sein; oft sind sie mit Knochenteilen voll¬
gestreut, besonders der Einsch'uß. Bei der dritten Art, dem tan¬
gentialen Durchschuß, besteht zwischen beiden Knochen¬
defekten eine Knochenbrücke, Ein- und Ausschuß zeigt sich so¬
wohl in der Haut als im Knochen wie beim gewöhnlichen Durcli-
schuß. Er unterscheidet sich aber von jenem durch die größere
Knochenlücke und die größere Zerstörung der Hirn¬
schale. Ist die Sum m e der beiden K n o c li e ii 1 ü c k e n
g r ö ß e r a 1 s die Hälfte d e r K n o c h e n b r ü c k e, so kann m a n
den Schuß als Tangentialschuß betrachten; ist sie aber
kleiner, so spricht man besser von Durchschuß. Es ist dies
aber deshalb wichtig, weil letzterer die primäre Operation nicht
oder selten indiziert. Beim Tangentialschußi hingegen, wo
der Verschmutzung der Wunde durch Haare oder TeTe der Kopf¬
bedeckung bei Anwesenheit grober Splitterung fast ausschlie߬
lich eine Infektion folgt, d a r f d i e primäre 0 p e r a t i o i\
nicht unterlassen werden; die sekundäre Freilegung führt
nur in glücklichen Fällen (unverletzte Dura) zur Heilung (von
zwölf 'sekundären Operationen starben sieben). Von allge¬
meinen Symptomen bilden Ausfallserscheinungen (Paresen,
Paralysen), außer durch S]ditterung bedingt, sowie Reizerschei¬
nungen, gestörte Psyche keine Indikation zur Operation. Tem¬
peratur und Puls sind wichtig, aber nicht unbedingt verläß,-
lich. Daß jeder Hirnschuß eine Pulsverlangsamung zeige, wie
frühere Mitteilungen besagen, kann, Verf. nicht bestätigen. Eine
stetige Abnahme der Pulszahl eines niedrigen Pulses, mit Zu¬
nahme der Schwere in den übrigen Erscheinungen, spricht sicher
für zunehmende Blutung und indiziert die sofortige Operation.
Bezüglich der Schnittführung empfiehlt v. Oettingen einen
Lappenschnitt mit der Basis nach oben (kein Kreuzschnitt). —
(Langenbecks Archiv für klinische Chirurgie 1906, Bd. 81, T. H
— Festschrift für v. Bergmann.) F. H,
*
1 57. Leber das Verhalten des H e r z v o 1 u m s bei
der chronischen Lungentuberkulose. Von E. Barie.
Lange Zeit stand die Ansicht in Geltung, daß bei der chronischen
Tuberkulose das Herz an Volum zunimmt und die Dilatation
vorwiegend das rechte Herz betrifft. Es wurde auch auf das
schließliche Auftreten von Trikuspidalinsuffizienz infolge von Dila¬
tation des rechten Herzens hingewiesen und diese Insuffizienz
als nützliches Gegengewicht des gesteigerten Druckes in den
Aesten der Pidmonalarterie aufgefaßt, doch blieb diese Anschau¬
ung nicht ohne Widerspruch. Zur Entscheidung der Frage ist
es notwendig, die Fälle in zwei Gruppen zu sondern u. zw. chro¬
nische Tuberkulose mit Kavernenbildung und tlie fibröse Phthise
der Lungen. Bei der ersten Gruppe ist das Verhalten des Herzens
sehr variabel. Man findet manchmal annähernd normale llei'z-
größe, häufig ist das Herzvolum verkleinerl und es kann diese
Verkleinerung bis zur echten Atrophie des Herzens gehen. Es
gibt aiudi Fälle, wo bei normalem Herzvolum das Myokard auf¬
fallend schlaff und von einer Fettgewebsschichte bedeckt ist.
Fettige Degeneration der Herzmuskelfasern und hypertrophische
Sklerosierung des IMyokard sind als ausnahmsweises V^oi'kommtiis
heschi'ieben worden. Bei der filnüsen Phthise wird fast aus¬
nahmslos eine Zunahme des Herzvolums beobachtet, welche aus¬
schließlich das rechte Herz betrifft. Diese Volumszunahme hängt
ni(dit so sehr mil der Tuherkulose selbst, als mit <len die fibröse
Phlhisc begleitenden Veränderungen — Sklerosen und Emphysem
des Lungengewebes, Bronchieklasie und Pleuraadhäsionen zu¬
sammen. Bei der chronischen kavernösen Tuherkulose der Lungen
kann hypertrophische Dilatation des rechten Herzens unter meh¬
reren Bedingungen auftreten, wenn nämlich die Tuberkulose mit
einer organischen Herzaffektion vergesellschaftet ist, ferner bei
Kombination der Tuberkulose mit Stenose dei‘ Pulmonalarterie,
schließlich bei Bestehen von Slörungen des Verdauungstraktes,
weil von hier aus durch Reflexwirkung ein Si)asmus des (.tefäß-
gebieles des kleinen Kreislaufs mit konsekutiver hypertrophischer
Dilatation des rechten Herzens ausgelöst wird. Es kann zur
Ausbildung einer Trikuspidalinsuffizienz mit systolischem Ge¬
räusch neben dem Processus xiphoideus. Jugular- und echtem
Lebervenenpuls kommen. Wenn man die Verdauungsstörungen
durch Ruhe, salinische Abführmittel, Milchdiät, Alkalien und
Kalkwasser zum Schwinden bringt, so wird die reflektorisch
entstandene Trikuspidalinsuffizienz beseitigt. — (Journ. de Prat.
1907, Nr. 2.) a. e.
*
158. Nervöse E r s c h e i n u n g e n b e i m F e b e r gang d e s
Mageninhaltes in den Darm. Von Geheimrat F. A. Kehrer
in Heidelberg. Beim gesunden Meiischen geschieht der Leber-
gang des verdauten Mageninhaltes in den Zwölffingerdarm fast
unmerklich oder ist nur bei bestimmten Veratdassungen von
Symptomen begleitet. Nach Leberladung des Magens oder nach
Genuß reizender Speisen und Getränke, sowie bei nervösen Men¬
schen, bei Herz-, Lungen- und Magenkranken selbst nach milder
Kost, treten oft quälende Erscheinungen ein, von denen Ver¬
fasser mir die nach der Abendmahlzeit vorkommenden an führt.
Verf. spricht bei der Verdauung von drei Stadien, einem ersten
Füllungsstadium während der Einfuhr der Nahrung, von einem
zweiten für die Magenverdauung bestimmten Verdauungsstadium
mit relativer Magenruhe und von einem dritten Austreibungs¬
stadium, welches zur Beförderung des verdauten Mageninhaltes
in und durch den Dünndarm dient. Die bei Beginn des Aus¬
treibungsstadiums gelegentlich vorkommenden örtlichen Erschei¬
nungen bestehen in Druck im Epigastrium, selbst Angstgefühl,
der sogenannten Präkordialangst, ferner in Druck, selbst Schmerz
in der Herzgegend, Herzklopfen und iVtemnot. Es dürfte sich
dabei entweder um eine mechanisch-chemische, direkte Pmizung
der Vagusäste oder um reflektorische Wirkungen von den Magen-
auf die Herznerven handeln. Auch die Oppression, an welche
sich meist beängstigende Träume anschließen und welche als
Alpdrücken bekannt ist, muß als Lebergangsform der örtlichen
zu den Traumerscheinungen erwähnt werden. Eine zweite Gruppe
von nervösen Erscheinungen beim Beginne des x\ustreibungs-
stadiums besteht im Aufwachen aus dem ersten Schlaf infolge
von Träumen, die oft einen beängstigenden Charakter haben,
so daß die Schlafemlen seufzen, laut schreien, sich im Bette
aufrichten und dergleichen ‘mehr. Die Entstehungsvveise dieser
Träume könnte nach Verf. auf Veränderungen der Blutfülle des
Gehirnes beruhen, oder, was wahrscheinlicher ist, darauf, daß
der im Austreibungsstadium in den Darm übergehende Chymus
sofort auf der Duodenal- und Dünndarmschleimhaut resorbiert
wird und durch seinen Lebergang ins Blut und die Gewebe
unter anderem auch ins Gehirn, diese Reizerscheinungen erzeugt.
Verf. 'möchte also betreffs der Diätetik folgendes vorschlagen :
f. Personen, welche öfters an den erwähnten Störungen leiden,
sollten die Abendmahlzeit frülizeitig, d. h. drei bis vier Stunden
vor dem Schlafengehen, einnehmen, oder, falls dies nicht möglich,
spät zu Bett gehen, so daß das Lebergangsstadium bereits vor
dem Einschlafen beendet ist. 2. Es sollten solche Personen niclit
zu viel Speisen und Getränke zu sich nehmen, daß dadurch der
Magen vollständig angefüllt wird. 3. 1st den Betreffenden anzu¬
raten, gerade am iVbend leicht verdauliche, nicht in Fett gebratene
oder stark gewürzte Speisen, außierdem xVlkoholika nur in mäßigen
Mengen, zu genießen. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1907,
Nr. 6.) G.
1 59. l G' b e r 1) 1 i c k ü b e r di e B e h a n d 1 u n g v o n 30 ( I ('-
n i c k s I a r r e k r a n k e n mit Joch ni a n n s c h e ni 1\1 e n i n g o-
WIENER KLINISaiE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. IB
kokken seru m. Von Dr. Ch. Schöne. Im städtischen Kranken¬
hause '/Al Ratibor (dirig. Arzt San. -Rat Dr. Krümer) wurden im
Jalirc' 1906 insgesamt 30 Kraiike im Atter von zehn Monaten
Ijis zwanzig Jahren mit dem von Jocliniann eingefüluten Serum
(Fabrik E. Merck) behandelt. Das Serum wurde in Quantitäten
von 20 bis 40 cm® subkutan und intramuskulär (Hinterseite des
Ohersctienkels oder in die Mol) renheimsche Grube), später
meist intralumbal eingespritzt. Die Erfahrungen batten nämlich
gezeigt, daß letztere Methode wirksamer zu sein scheine als
die subkutane. Zur intralumhalen Injektion wurden die Krauken
in die Knieclleuhogenlage gebracht und außerdem noch 12 bis
24 Stunden lang nachher mit dem Kopf im Bette tiefer gelagert.
Die Lumbalpunktion wurde in jedem Falle zur Sicherung der
Diagnose ausgeführt, außerdem hei den meisten Kranken in thera¬
peutischer Hinsicht größere Flüssigkeitsmengen entleert, um augen¬
blickliche Hiindi'ucksymptome (Kopfschmerz, Benommenheit, Er¬
brechen) zu bekämpfen. Die erste Gruppe bilden fünf Kinder.
Kein Erfolg, Aveil kleine Mengen in langen Intervallen injiziert
Avurden. In der zweiten Gruppe Avurden Avieder fünf Krauke
am vierten bis sechsten Krankheitstag mit su])kutanen Serum-
injekfionen (zAveimal 20, Amreinzelt 30 cm®), anfangs erfolglos,
behandelt. Nun Avurde drei Kranken in der vierten Krankheits-
Avoche nach Punktion und Ablassen von 35 bis 75 cm® Zerebro¬
spinalflüssigkeit 20 cm® Serum intralumbal eingespritzt. Nach
einem Tage AmrscliAvand das Fieber, nach einem bis neun Tagen
das letzte vSymptom der Krankheit, die Nackensteifheit. Ein
Aveiteres Kind bekam dreimal eine intralumhale Injektion von
10 bis 20 cm® Serum und zeigte sich derselbe Erfolg; der fünfte
Fall (I5jähriger Knabe) zeigte einmal Fieberfreiheit, dann folgte
Avieder Anstieg der Temperatur und Tod im Kollaps. Günstig
verliefen weitere Ader Fälle, bei Avelchen erst subkutan, sodann
intralumhal eingespritzt AAmrde. Die dritte Gruppe bilden vier
Fälle mit Erfolgen nach subkutaner Injektion, die vierte Gruppe
umfaßt vier erfolglos behandelte Fälle; endlich die fünfte Gruppe
acht mit intralumhalen Injektionen mit recht gutem Erfolg be¬
handelte Kranke. Nach vorausgegangener Punktion Avurden 15 bis
40 cm® an den ersten Krankheitstagen, aber auch zu Beginn
der zweiten KrankheitsAvoche intralumbal injiziert und danach
dauernder Fieberahfall beobachtet. Zusammenfassend, sagt der
Verfasser, reagierten 21 Kranke auf das Serum überhaupt, fünf
konnten nicht reagieren (drei im Stadium hydrocephaliciim, einer
erhielt zu Avenig Serum, einer verlief rasch), hei Ader Kranken
blieb eine Wirkung aus. Von den erstei’Avähnten 21 Kranken
reagierten unbedingt Und liiit sofortiger Genesimig 13, mit so¬
fortiger Genesung, aber erst auf größere oder intralumbale lu-
jektionen sechs und nur mit vorübergehender Fieherfreiheit bei
Aussetzen Aveiterer Injektionen zwei. Bei 66 insgesamt im Rati-
borer städtischen Krankenhause behandelten Genickstarrekranken
beträgt die Mortalität 40%, die Mortalität der mit Serum Be¬
handelten ca. 27% (acht von 30), die der Nichtbehandelton 53%.
Als NehenAvirkungen Averden schnell Amrühergehcnde Albuminurien,
dann Hautaffektionen vom Typus der Urticaria rubra, Glieder¬
schmerzen etc. erwähnt. — (Die Therapie der GegenAvart,
Februar 1907.) E. F.
*
160. Aus der deutschen psychiatrischen Klinik (Professor
A. Pick) in Prag. Klinische und anatomische Beiträge
zur Frage nach den Ursachen und der Bedeutung
d er zer eh r osp i na len PI e 0 zy to se (der Z eil vermehr u n g
im Liquor cerebrospinalis). Von Dr. Oskar Fischer,
zAveitem Assistenten. Das einzige positive Resultat der Unter-
siudiungen Fischers ist der sichtliche Zusammenhang von Pleo¬
zytose und IMeiiingitis spinalis chronica inferior und die Kon¬
statierung der Tatsache, daß die der klinischen Untersuchung
zugänglichen Liquorzellon nur lierausgeschAvemmle Exsudatzellen
der Meningen darstellen, also ein Resultat, Avelches einer diffe-
nmlialdiagnostischon Frage eine sichere Führung gestatten Avürde.
Aufgabe Aveitorer klinischer Beobachtung Avird es sein, ilie Patho¬
genese der Pleozytose zu studieren. Den Ausdruck ,, Lympho¬
zytose“ als Bezeichnung für die Vermehrung der Zellen im
Li(iuor hat Fischei' durch den passenden Ausdruck ,, Pleozytose“
suhstiluiei't. — (Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie
Bd. 27, H. 3.) S. ’
161. Ein Fall von Dünndarm volvulus mit einem
Meckel sehen Divertlikel nebst einigen Worten über
suhakuten Ileus und ülier Gastrostomie hei Dünn-
(1 a r m p a r a 1 y s e. Klinischer Vortrag von Prof. K. G. L o n n a n d e r
in Upsala. Bei einem Patienten Avurdo ZAvei Tage nach Einsetzen
von akuten Darmerscheinungen, nachdem die Wahrscheinlichkeits¬
diagnose auf Volvulus des Dünndarmes hei Avahrscheinlich be¬
stehendem Me ekel sehen Divertikel gestellt Avorden Avar, die
Laparotomie ausgeführt. Man fand ein entzündetes Meckel-
sches Divertikel, das mit der vorderen Bauchwand bis an den
Nabel verAvachisen Avar, soAvie eine Umdrehung fast des ganzen
Dünndarmpakets um Avenigstens 360° und freie hämorrhagische,
seropurulente Peritonitis. Nach Exstirpation des Divertikels und
Reposition des Dünndamies wurde ‘eine Witze Ische Fistel
am Jejunum, eine am Ileum und eine 'am Cökum (mit Röhren
von 3 mm Durchmesser) angelegt; letztere diente zur Ernäh¬
rung, die beiden anderen zum Durchspülen von 0-9% Kochsalz¬
lösung. Am zAveiten Tage abends Avaren der .Dickdarm und der
Dünndarm, mit Ausnahme des Jejunums, oberhalb der Fistel
und des Duodenums bereits in Tätigkeit. Da man trotz rasch
folgender Magenspülungen stets übelriechenden Inhalt im Magen
fand, Avurde unter Annahme einer Parese oder 'Ahknickung des
obersten Jejunums am dritten Tage eine Gastrostomie nach
Witzei gemacht und vom Magen aus mit 0-2% Kochsalzlösung
durchgespült. Am fünften Tage hatte der ganze Darm sein Be-
Avegungs vermögen Avieder gewonnen, trotzdem starb Pat. nach
vorübergehender Besserung am selben Tage. Im Sektionsprolo-
koll ist u. a. eine stark ausgesprochene Darmdiphtheritis im
obersten JejunUm, ca. 40 cm lang, heivorgehoben. Diese, sowie
Stercorämie, Avesentlich durch Aufnahme fäkaler Gifte vor dem
Wiedereinsetzen der Peristaltik bedingt, hält Verf. für die Todes¬
ursache. Nach der ans diesem Fälle, sowie einigen ähnlichen
Erfahrungen geAvonnenen Anschauung über Darmparese macht
der Autor den Vorschlag, hei Darmlähmung im obersten Jejunum
(resp. Duodenum) die Gastrostomie an der Pars pylorica
auszuführen. Magen und Dänrne, bis zu einem gewissen hohen
Grade ausgedehnt, können sich, da deren Muskel über einen
geAvissen Grad hinaus gedehnt sind, nicht zusammenziehen, be¬
vor die betreffenden Organe teilweise entleert sind; ob Parese
oder Paralyse vorliegt, ist an dem Verhalten des Darmes nach
seiner Entleerung (per enterotomiam) zu erkennen. In hohem
Grade ausgedehnte (Avie gelähmt aUssehende), aber nicht ge¬
lähmte Därme fangen nach teihveiser Entleerung bald an, sich
zu hcAvegen; gelähimfe Därme jedoch kontrahieren sich nicht,
auch Avenn ihr Inhalt entleert ist. Die behufs Wiederherstellung
der BeAA^egungsfähigkeit zUr Entleerung angelegte Fistel (Entero-
stomia) muß proximal von der gelähmten Darmpartie angelegt
werden. „Weil die Darndähmung in manchen Fällen auch <len
obersten Teil des Jejunums umfaßit und wahi'scheinlich auch das
Duodenum unterhalb der Papilla Vateri, so findet sich in diesen
Fällen kein anderer Ausweg, als an der Pars pylorica des
Magens eine Fistel anzulegen (eine Gastrostomie zu machen).
Habe ich bei einer Operation den Dünndarm entleert und das
JejunUm zeigt dessenungeachtet kein Zeichen Amn Kontraktion,
so mache ich alsbald in derselben Sitzung die Gastrostomie.“
Ebenso hält Lennander in Fällen, avo eine primäre IndikatioJi
zur Gastrostomie nicht vorlag, dieselbe für vollständig indiziert,
„Avenn der Bauchumfang zunimmt, die Pulsfrequenz steigt und
zAvei bis drei Magenausspülungen Retention von Flüssigkeit mit
schlechtem oder fadem Geruch ergibt“. Die Pars pylorica ent¬
leert sich durch eine Fistel nur, Avenn der Weg durch den
Pylorus nicht mehr zugänglich ist. 1st der Weg durch den Dünn¬
darm durch Behebung der Darnqraralyse Avieder offen, so läuft
niebfs mehr durch die Magenfistel aus. Verf. betrachtet von diesem
Gesichtspunkt aus die Daimparalyse in etwas günstigerem Lichte
Avie in seinen Darlegungen (Ueher die Behandlung der akuten
Peritonitis) vom vorigen Jahre und glaubt auch Fälle von hoch¬
gradiger Darmparese (Darmparalyse?) durch Anlegung von einer
bis drei Enteros tomien zur Heilung bringen zu können. Der
erste diesbezügliche Vorschlag, die Darimparalyse durch Gastro¬
stomie zu bekämpfen, stammt von Jahoulay (Lyon medical,
12. März 1905). — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1906.
Bd. 86, 11. 1.) F. 11.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCHRIET. 1907.
393
162. Der Plaiitarreflex und das Babinskisclie
Zehenphänonien vom physiologischen und patho¬
logischen Standpunkt. Von Noica und Sakelaru. Ks
besteht der Plantarreflex nach der Schilderung der Mehrzahl
der Beobachter in der nach leichter Reizung der Fußsohlenhant
eintretenden Beugung der Zehen, während das Bahinskisclui
Phänomen durch Streckung der Zehen, speziell der großen Zehe
gekennzeichnet ist. Der Plantarreflex wird bei 90 ,his 95 «/o der
Gesunden beobachtet, das Zehenphänomen vertritt den normalen
Plantarreflex sehr oft hei bestehender Erkrankung der Pyra¬
midenseitenstrangbahn. Da der äußere Anteil der Fubsohleidiard,
von der fünften LumhalwUrzel, der innere Anteil von der ersten
Sakralwurzel innerviert wird, so ist es erforderlich, die Erschei¬
nungen nach Reizung des inneren und äußeren Fußsohlen randcs
gesondert zu untersuchen. Bei Gesunden verschiedener Alters
stufen wird nach Reizung des äußeren Fußsohlenrandes in der
Richtung von hinten nach vorne entweder überhaupt keine Be¬
wegung oder zunächst leichte Flexion der kleinen Zehe mit Ab¬
duktion, sodann eine Bewegung der drei äußeren Zehen, Flexion
der Grundphalange, Extension der Mittel- und Endphalange be¬
obachtet. Wenn man den inneren Fußrand von hinten nach
vorne streicht, beobachtet man in der Mehrzahl der Fälle eine
Flexion der vier äußeren Zehen ohne Abduktion, dann Flexion
des Hallux, Steigerung der Flexion aller Zehen mit Adduktion,
endlich Adduktion und Innenrotation des Fußes. Der innere
Plantarreflex entspricht dem Plantarreflex der Autoren und ist
gleich dem äußeren Planlarreflex ein normaler Befund. Bei Per¬
sonen mit Erkrankungen der Pyramidenbahn tritt nach Reizung
des äußeren Sohlenrandes ein kompliziertes Phänomen auf, wel¬
ches in seiner vollen Entwicklung aus acht Phasen bestehen kann,
mit Flexion und Abduktion der vier äußeren Zehen heginnt
und mit Extension aller Zehen, Adduktion und Innenrotation
des Fußes abschließt. Eine Phase dieser Bewegung, Flexion und
Abduktion der vier äußeren Zehen ist mit , dem von Babinski
beschriebenen Abduktionspbänomen, welches auf eine Erkran¬
kung der Pyramidenbahn hindeutet, identisch. Bei Reizung des
inneren Fußisohlenrandes in Fällen von Erkrankung der Pyra¬
midenbahn beobachtet man entweder keinen Reflex oder den
normalen Plantarreflex oder das Zehenphänonien, eventuell eine
Kombination beider Formen. Das Babinski sehe Zebenphäno-
men tritt aber nach Reizung des äußeren Sohlenrandes auf.
Durch Reizung der Fußsohle können zwei normale Phänomene,
der äußere und innere Plantarreflex und ein pathologisches, das
Babinski sehe Phänomen, hervorgerufen werden. Die normalen
Plantarreflexe kommen ausschließlich durch die iVkiion der Fuß-
muskehi zustande, während für die Entstehung des pathologi¬
schen Bah inskiseben Phänomens eine Beteiligung der Unter¬
schenkelmuskulatur erforderlich ist. Das Zentrum der von der
Fußsohle bervorgerufenen normalen und pathologischen Reflexe
ist im fünften Lumbalsegment zu suchen. — (Sem. med. 1906,
Nr. 51.) a. e.
+
163. Ueber Arbeitsentlohnung in unseren Irren¬
anstalten. Von Dr. August He gar- Wicsloch. Die Beschäfligung
der Geisteskranken in Irrenanstalten ist ein wichliger therapeuti¬
scher Faktor. Die Frage, ob und inwieweit der einzelne Kraidre
einen Anspruch auf eine Entschädigung für seine Arbeit, welche
doch der Anstalt zugute kommt, hat, ist keineswegs noch gelüst.
Hegar ist nun in seinen Zusammenstellungen, zu welchen eine
Uebersicht über eine größere Zahl von arbeitenden Kranken
notwendig war, der Frage nähergetreten, ob und inwieweit das
Bedürfnis bestehl, den arbeitenden Kranken außer den gebräuch¬
lichen Vergünstigungen noch weitere an Geld zuzuweisen, inwie¬
fern damit ein Nutzen geschaffen werden kann. Hegai' kommt
zu dem Schluß', daß die planmäßige Einführung der Arbeitsenl-
lohnung zu befürworten ist, da tlie Mängel, die diesem System
anhaflen, sich durch eine richtige Organisation leicht abschwächen
lassen, da fo'iier durch die Aiheit der Geisteskranken eine Stei¬
gerung der wirtschaftlichen Erlrägnisse erzielt, überdies in den
Kranken die schlummernde Arbeitsfähigkeit geweckt, ausgebildet
und zum Nutzen des Arbeitenden selbsl, wie zum Nutzen d(U'
Gesamtheit verwertet wird. — (Allgemeine Zeitschrift für Psy¬
chiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, Bd. 63, H. 6.) S.
164. Ueber H y p e r nep b r o m me tas tase n. Von Doktor
E. Hoffmann, Assistenzarzt der chirurgischen Abteilung des
slädtisclum Krankenliauses in Cbarlotteidmrg-Westend (Direktor
Prof. Dr. Bessel-Hageu). Die Diagnose der malignen Hyper¬
nephrome wird selten gestellt; es gibt Fälle, bei welchen alle
Kardinalsymptonie eines Nierentumors fehlen, wo nur Meta¬
stasen auf irgendeincu versteckten Primärherd hinweisen. Diese
Metastasenbildung der Nebennierengeschwülste ist häufig von
großem diagnostischen Werte. Zwei eigene Beobachtungen dienen
zur Illustration des Gesagten. Im ersten Falle, 56jähriger Mann,
fühlte man in der Gallenblasengegend einen fast faustgroßen,
ziemlich derben Tumor mit grobböckeriger Oberfläcbe. Die Lenden¬
gegend war beiderseits nicht druckempfindlich, der Urin unver¬
ändert. Der Mann konnte das linke Bein nicht gebrauchen, für
die Gehstörung war keine Ursache zu finden. Nach fünfwöchent-
licber Beobachtung trat plötzlich eine Lähmung des linken Armes
und. des linken Beines auf. Seither Kräfteverfall. Nach weiteren
fünf Wochen Spontanfraktur im rechten Oberschenkel beim Heben
des Kranken. Exitus nach einigen Tagen. Die Sektion ergab
einen walnußgroßen, grauweißen Knoten im oberen Pole der
rechten Niere, vom Nierenparenchym ganz geschieden; Hyper¬
nephroma malignum. ln der Gallenblasengegend eine mannsfaust¬
große Echinokokkusblase. Sodann Hypernephrommetastasen: eine
walnußgroße in der rechten Hirnhälfte, kleine Tumoren, bis erbsen¬
große, an den Pleuren beider Lungen, ein haselnußigroßer Tumor
in der Milz, Tumoren in den Rippen, endlich eine Metastase
im rechten FeJiiu]-. Der zweite Fall betraf eine 60jährige Frau.
Man fand am Introitiis urethrae eine walnußgroße, bläulichrote,
blumenkohlarfige, zUin Teil exulzerierte, leicht blutende Ge¬
schwulst; im Scheidengewölbe, vorne und hinten, ähnliche Ge¬
schwülste; das kleine Becken von harten Tumormassen aus¬
gemauert. Am rechten Oberschenkel eine ähnlich beschaffene,
apfelgi'oße Geschwulst, mit daumenstarkem Stiele der Haut auf¬
sitzend. Diagnose; inoperables Karzinom der Scheide mit HauL-
metastase. Abtragung des Hauttumors. Prof. Henke diagnosti¬
zierte malignes Hyirernepbrom. Jetzt forschte man nach einem
Nierentumor und fand endlich eine Resistenz in der linken Nieren¬
gegend, durch tympanitischen Schall von der Milzdämpfung ab¬
zugrenzen. Im Ihin Spuren von Eiweiß, Leukozyten, keine
Zylinder, zeitweise rote Blutkörperchen, epitheloide Zellen. Die
Zystoskopie ließ eine hämorrhagische Zystitis und zwei Tumor¬
metastasen im Blasenfundus konstatieren. Später traten kolik¬
artige Schmerzen in der linken Leistengegend auf, nach einigen
Wochen Exitus. Nekro.skopie : Die linke Niere war in einen kinds¬
kopfgroßen Tumor umgewandell. Am oberen Niej'enpol saß eine
kirschgroße, derbe, mit einer Kapsel versehene Geschwulst, die
auf dem Durchschnitt eine ockergelbe Farbe zeigte. Daneben
ein Tumor mit Resten von Nebennierensul)stanz. Die untere
Hälfte der Niere war ganz in eine Tumormasse von gelapi)tem
Baue aufgegangen, die obere Hälfte zeigte noch unveränderte
Nierensubstanz. Außerdem IMetastaseii in den Lungen, in der
Blasenwand, im Knochen etc. In beiden Fällen waren es also
die sekundären Knochenmetastasen, Avelche ein primäres Leiden
vortäuschten. Auch Albrecht berichtet aus der Höchen egg-
scbeiT Klinik über vier Fälle maligner Hypernepbrome, bei welchen
ebenfalls ein Knochentumor als erstes Zeichen auf die Krankheit
aufmerksam machte, wobei ein Niereutumor nicht zu fühlen war
und auch sonst nichts auf eine Nierenerkrankimg bituvies. Man
wird in Zukiuift an derlei Neubildungen denken müssen. —
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 8.) E. F.
*
165. Aus dem hygienischen Institut in Bonn. Bakt(‘riu-
1 Ogi sc he Untersuchungen über ein neues Fornialin-
d e s i n f e k t i o n s V e r f a b r e n, das A u tan ve r f a b r e n. Von
Priv.-Doz. Dr. mod. Selter, Assistent des hygienischen Insti¬
tutes. Flügge verlangt von einem zur praktischen Desinfektion
geeigneten gasförmigen Desinfiziens : 1. Daßi es sich leicht und
sicher herstellen läßt, und daß' innerhalb einer bestimmten, nicht
zu langen Zeit (eines Tages oder einer Nacht) Absterben der
Krankheitserreger eintritl. 2. Daß es in eine gewisse Tiefe dringt,
also frische und angetrocknete Sputa in nicht zu dicker Schicht,
Diphtheriemembranen, auf porösen Stoffen (Kleider, Betten,
Wäschestücken) eingetrocknete Exkreto an der Innenseite sicher
VVIENEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
slerilisiert Averdcn. 3. Daß (lurch das Deeinfizienz keine Be¬
schädigung der Ciebrauchsgegenslände erfolgt und kein Gerucli
hinterhleiht. 4. Daß das Deisinfeklionsniittel nicht zu teuer ist.
Diese Anforderungen soll das von Eichen grün gefundene Prä-
I)aral, Aulan, erfüllen. Dias Autan ist ein gelbliches Pulver mit
sclnvachem Fornialingeruch. Es besteht aus einem Gemisch von
polymerisiertem Formaldehyd und Metallsuperoxyden in einem
heslimmten Verhältnis und hat die Eigenschaft, daß, wenn man
es mit Wasser ühergießt, schon nach wenigen Sekunden eine
Gasbildung unter starker Temperaturerhöhung eintritt, welche so
lebhaft wird, daß in kurzer Zeit dichte Formalin- und Wasser¬
dämpfe emporsteigen. Verf. hat durch bakteriologische Unter¬
suchungen geprüft, wieweit es zur Desinfektion von Kranken¬
zimmern und anderen Räumen zu venverten ist und kommt zu
folgenden Schlüssen: 1. Das Autan-Desinfektionsverfahren ist denk¬
bar einfach und allenthalben auszuführen, auch an solchen Stellen,
wo man bisher die Apparate nicht gut gebrauchen konnte, hei
Kleiderschränken, Bücherschränken, Kisten, Droschken, Eisen-
hah/icoupes. 2. Die Formalinmenge kommt plötzlich und auf
einmal in den zu desinfizierenden Raum. Das hat den Vorteil,
daß einmal eine bedeutend kürzere Zeit der Einwirkung )iötig
sein wird; die Grenze dieser Zeit wird noch durch genauere Unter¬
suchungen festzustellen sein; vorläufig schlägt Verf. vor, min¬
destens vier Stunden einwirken zu lassen. W^eiter hat man den
Vorteil, daß der Raum nicht sorgfältig abgedichtet zu werden
braucht. Die Zeit hiefür fällt also fort und ebenfalls die Zeit zur
Entwicklung der Formalin- und Wasserdämpfe. 3. Das Präparat
kann leicht überall hingeschafft werden, entweder durch den
Arzt selbst oder durch einen Boten, der es aus der Apotheke
holt. 4. Desinfektoren sind nicht mehr erforderlich. Einer wird
genügen, der das Zimmer in Ordnung bringt, d. h. alle Gegenstände
so stellt, daß ihre Oberfläche voll den Dämpfen ausgesetzt wird.
Flecke des Bodens sind mit Sublimatlösung abzuwischen. Die
Desinfektion des Bodens kann noch dadurch unterstützt werden,
daß man etwas Pulver auf den Boden streut, besonders in die
offenen Bitzen und Ecken. Außer zu Desinfektionszwecken kann
das Autan auch gut zur Desodorierung venva.ndt werden, zum
Beispiel von Leichenzimmern, übelriechenden Eisschränken, und
so weiter. Alan streut zu diesem Zwecke entweder das trockene
Pulver aus, wobei sich infolge der Luftfeuchtigkeit langsam For¬
malindämpfe bilden, oder man bringt die Reaktion durch Ueber-
gießen von WMsser auf einmal zustande. — (Münchener inediz.
Wochenschrift 1906, Nr. 50.) G.
*
1 66. U e b e r e inen Fall v o n A u t o i n o k u 1 a t i o n des
syphilitischen J n i 1 i al af f e k te s. Von L. Queyrat. Der
30, jährige Patient hatte eine Initialsklerose im Sulkus mit doppel¬
seitiger fnguinaldrüsenschwelluug, welche seit 14 Tagen bestand
und noch nicht behandelt worden war. Im Geschähe der Sklerose
wurden mit G i e m s a - Färbung Spirochäten nachgewiesen, welche
etwas dicker und kürzer wairen, als <lie itypischen Formen. Am
Tage der Aufnahme wurde mit ausgeschahten Gewebspartikeln
der Initialskleiose eine Impfung an zwei Stellen des linken Hypo¬
gastriums und in der Gegend des linken Deltoideus vorgenonnnen.
.\n den korrespondierenden Stellen rechterseits wurden zur Kon¬
trolle mit einem ausgeglühten Instrument aseptische Verletzungen
erzeugt, welche tiefer waren als die hei Mer Impfung gesetzten
Verletzungen. Am zwölften Tage nach der Impfung traten an den
mit Skierosengewehe geimpften Stellen rötlich- violette Flecke auf,
welche sich im weiteren Verlauf in tyi)ische syphilitische Papeln
mnwandelten. In der gleichen Zeit sind die an den korrespon¬
dierenden Körperstellen gesetzten asei)lischen Verletzungen fast
vollständig ahgeheilt. Diese Beobachtung ist ein neuerlicher ISe-
weis für die Autoinokulahilität der syphilitischen Initialsklerose.
welche l)ei unhehandellen, hzw. nicht mit Ouecksilber behandelten
Fällen in den ersten elf Tagen nach ^dem Auftreten d(‘r Initial¬
sklerose erzielbar ist. Nach Ablauf rlieses Zeitraumes ist eine
.Auloinokulation nicht inehr möglich. Am 12. oder 13. 'läge nach
der Impfung entwickelt sich an der Impfstelle ein Fleck, welcher
sich allmählich in eine bis erbsengroße, dunkelrote Papel ver¬
wandelt, an deren Oberfläcdie sich feine Schu|)pen, Krusten, aus¬
nahmsweise auch Geschwüre bilden. Di(‘ Imiifläsion besieht durch
einige Wochen und heilt manchmal unter Hinterlassung einer
Pigmentation. Die Veiniulung, daß traumatisch erzeugte sekundäre
Manifestationen vorliegen, wird durch das Vei'halten der zur
Kontrolle gesetzten aseptischen Verletzungen wideilegt. Auch er¬
zeugt weder die Ini])fung gonorrhoischen Eiters, noch des Eiters
von Balanoposthitis ähnliche Veränderungen. Die syphilitische
Natur der Impfläsionen wird auch durch den positiven Spiro-
chätenhefund ei'wiesen, so daß die Frage der Autoinokulation
des syphilitischen Primäraffektes endgültig in |)Ositivem Sinne
beantwortet ist. — (Bull, et Alem. de la Soc. med. des luAp. de
Paris 1906, Nr. 36.) a. e.
Therapeutisehe fiotizen.
Bromural ist das neueste Schlafmittel. Es stellt eine
Verbindung von Baldriansäure (in der Isopropylgruppe vorhanden)
und des Broms vor. Bromural wurde von Dr. S a a m- hergestellt,
unter Prof. Gottliebs Leitung im pharmakologischen Institut
zu Heidelberg von Dr. v. d. E e c k h o u t geprüft und sodann
von den DDr. Hans Krieger und R. v. d. Velden von der
medizinischen Klinik der Universität in Alarburg a. d. L.
(Direktor : Prof. Dr. Brauer) in 90 Fällen angewandt. In den
meisten Fällen drei- bis fünfmal, in 20 Fällen schon Wochen
hindurch. Nach diesen Versuchen wirkt das Bromural ein¬
schläfernd in Dosen von 0'3 g in den leichtesten Fällen, im
Durchschnitt am besten in einer Gabe von 0'6, meist nach
5 bis 25 Alinuten. Diese Wirkung klingt wahrscheinlich in allen
Fällen in drei bis fünf Stunden vollständig ab. In den Fällen, in
denen der Schlaf über diese AVTrkung hinaus andauert, ist aller
Wahrscheinlichkeit nach anzunehmen, daß der natürliche Schlaf
sich dem primären, künstlich erzeugten, anschließt. Bleibt^ dieser
nachfolgende natürliche Schlaf aus, so erreicht man mit einer
zweiten Dosis einen gleichen Effekt wie mit der ersten Dosis.
Bromural versagt in allen Fällen, wo Schmerzen, Hustenreiz,
Angina pectoris, Erregungszustände oder Delirien bestehen. Der
durch Bromural hervorgerufene Schlaf zeigt, soweit es sich über¬
sehen läßt, keine Abweichung gegen den natürlichen Schlaf. Die
rasche Ausscheidung, bzw. Zerstörung des Alittels scheint aus
dem raschen Abklingen des Mittels hervorzugehen. Nachwirkungen
oder Nebenerscheinungen waren nicht zu beobachten. (Deutsche
med. AAWchenschrift 1907, Nr. 6.) E. F.
l^ekrolog.
Privatdozent Dr. Alexander Ritter v. Weismayr.
AVir bedauern das plötzliche Hinsebeiden eines lieben Kol¬
legen und tüchtigen Mannes. Im kräfiigsten Alannesalter hat ihn
der Tod überrascht und hat einem edlen und arheitsfreudigen
Leben ein jähes Ende bereitet.
Dr. V. AVeismayr hat sich in seinem Spezialfache als
Tuberkulosearzt und Tuberkuloseforscher einen auch im Auslände
bekannten und geachteten Namen envorben. Schon als Assistent
Hofrat V. Schrötters widmete er fast seit der Begründung
des Veieines Heilanstalt Alland demselben seine vollen Kräfte.
Den schwierigen und dornenvollen Weg, den der Verein zurück¬
legen inußte, bis zur Erreichung seines Zieles, der Errichtung
der Heilanstalt Alland, Iiat Dr. v. AVeismayr nicht nur mit¬
erlebt, er hat mit Wort und Tat niitgestritten als treuer Schüler
•und Gefälute v. Schrötters, die Bestrebungen des A'ereines
auf das kräftigste gefördert. Als die Heilanstalt Alland 1898
eröffnet wurde, war er der herufenste, die Leitung derselben zu
übernehmen und behielt diesellM' bis zum Herl)ste 1902, nach¬
dem er während dieser Zeit nach jeder Bichtimg seiner Tätigkeit
fördernd und produktiv gewirkt hatte.
Kurz vor der Uebernahme der Direktion hatte er sich als
Privatdozent für innere Aledizin habilitiert.
Im Jahre. 1902 ühersiedelle v. AVeismayr nach Arco, da¬
seihst die Leitung des neuen Sanatoriums St. Pankratius über¬
nehmend, die er schon nach ein paar Jahren wegen Differenzen!
mit der administrativen Leitung der Anstalt aus ärztlichem Pflichl-
gefühle zurücklegte. Di(“ ausschließiliche Konsiliarpraxis, auf die
er nun angewiesen war, konnte den geistig regsamen Alaun auf die
Dauer nicht befriedigen und die das wissenschaftliche Arbeiten er¬
schwerenden äußeren Verhältnisse seiner damaligen Berufsstellung
ließen ihn die Bückkehi' mudi AVien anslrehen, welche ihm denn
auch mit der Erlangung d(*s l’rimariati's für innere' Medizin am
Elisabeth - Spitale eianöglichl wurde. Kaum ein Jahr war es ihm
vergönnt, auf diesem neuen Felde seiner Tätigkeit, welches ihm
Nr 13
393
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
iniuM'o Hcfriedigiiiig verse lia ff i<', zu wirken, als ihn im ,10. Indams-
jalire der Tod seinoi' Familie und seinen Freunden enfrilF
Zaldreicli sind seine gediegenen wissenscdiafilichen Arbeiten
auf dem Gebiete der Tuberkulose, der Hygiene und lb-oi)bylaxe,
Jleilslättenbehandlung, Infektionswege, Miscbinfektion, Synipto-
inalologie und Therapie sieb erstreckend. Die letzte, bei seinen
Lebzeiten ejscbienene Arbeit hal er in der Festschrift für von
Schrötter veröffen Hiebt, über Wuchsformen der Tüberktd-
bazillen, auch in seine letzten Lebenstage scheint eine AiTxdt
zu fallen, welche gegenwärtig in der Wiener klinischen Rund¬
schau erscheint, über die Prophylaxe der Tuberkulose.
Auch auf dem Gebiete der poi)ulären Wissenschaft hat
er viel Ers])rießliclies geleistet. Aus seiner Feder stammt die
kleine, impuläre Broschüre über die Verhütung der Tutierkulose,
welche der Verein Heilanstalt Alland seither in Hnnderttausenden
von Exemplaren verbreitet bat und eine größere populäre Arbeit
über dasselbe Thema.
In der Geschichte der Tuberkulosebekämpfung in Oesterreich
hat sich v. Weisinayr einen dauernden Platz errungen.
Er beherrschte in hervorragendem .Maße die Fähigkeit der
schriftliclien und mündlichen Darstellung und war schon als
Assistent V. Sehr otters ein beliebter Lehrer hei seinen Schülern.
Alle die dem Verstorbenen näher standen und Gelegenheit
hatten, das gewinnende, ruhig- heitere und freundlich - vornehme
Wesen desselben kennen und schätzen zu ler.ien, werden die
Nachricht von seinem Hinscheiden mit wahrem Scinnerze em¬
pfangen haben.
Ehre seinem Angedenken !
Priv.-Doz. Dr. Sorgo,
Direktor der Heilanstalt Alland.
\/ermisehte Kaehriehten.
Ernst V. Bergmann
Das schöne Fest zu Ehren v. Bergmanns 70. Geburtstag
ist kaum verklungen und schon rüstet man in Berlin und aller¬
orts, wo man die Bedeutung des Mannes zu schätzen wußte,
zur Trauerfeier, ln kdzter Stunde, vor Schlußi des Blattes, er-
hallen wir die Nachricht vom Heimgang E. v. Bergmanns.
Anläßlich seines 70. Gehurtstages suchten wir seinen großen Ver¬
diensten gerecht zu werden. Es geschah dies in unserer Weise,
indem wir ihm eine Festschrift widmeten. Fast von allen hervor¬
ragenden Stellen österreichischer Chirurgie waren hiezu Beiträge
eingelaufen und in einem einleitenden Aufsatz wurde versucht,
seinen Wert zu würdigen. Wir haben dem nichts hinzuzufügen,
als daß wir uns dessen voll bewußt sind, daß der Aerztc'stand
einen seiner Großen verloren hat, auf den jeder mit Stolz und
Genugtuung hinwedsen konnte, dem die nach jeder Hinsicht wn'ir-
dige Repräsentation <les Standes, wie sie sicli in seiner l’erson
dokumentierte, Herzenssache ist. Die Red.
*
E r n a n n t ; Landessanitätsinspeklor Dr. Emil v. Gele h r i n i
zum Slatlhaltereirate und Landessanitätsreferenten hei der Slatt-
halterei in Triest.
♦
V e r 1 i e h e n : Dem praktischen Arzte Dr. Ton v. K a 1 i n c z u k
in Wien der Titel eines kaiserlichen Rates. — Dem außerordentlichen
ITofessor für Lai'yngologie und Rhinologie, Dr. Gustav Killian,
in Freiburg i. R. der Titel ,, ordentlicher Honorarprofessor“. —
Dem Ih'ivatdozenten füi' Hygiene, Dr. Paul Römer, in Marburg
das Prädikat Professor.
*
Habilitiert: Di'. Wladislav Ru z ick a für allgemeine Bio¬
logie an der böhmischen Universität in Prag. — Dr. 11. Lii'l-
mann in Halle a. S. für Hygiene. — Dr. Wilhelm Baum für
Chirurgie in Kiel. — In Basel: Dr. Bing für Nervenkrankheiten
und Dr. Stäubli für innere Medizin.
*
Die diesjährige (79.) Tagung der Gesellschaft
D (Ul t s c h e r N a t u r f o r s c h e r u n d, A e r z t e findet in Dresden,
vom 15. bis zum 21. Septeniher statt. Für die Sitzungen der
wissenschaftlichen Abteilungen sind folgende Tage: Montag, den
16. September, naclimittags, Dienstag, den 17. und IMittwocli, den
18. September, vor- und nachmitalgs in Aussicht genommen.
*
Der XVl. Internationale medizinische Kongreß
wird 1909 in Budapest stattfinden. Als Tag der Eröffnung
ist der 29. August 1909 festgesetzt, die Sitzungen werden bis
4. Septemlier dauern. Voi'läufig gibt der Generalsekretär des
Kongi'('ss('s, Pi'of. Dr. Emil v. Gr(')sz, lludapi'st (l'ngarn), Vlll.,
Eszlei'liäzyagsse 7, den Interessenten bereitwilligst Auskunft.
*
Wir erhalten folgende Zuschrift : Der diesjährige Btintgiui-
kongreß wild Montag, den 1. April d. T., morgens 9 IJhi',
in Berlin, im Langenbeckhause, stattfinden. Die definitive Tages¬
ordnung, sowie die Mitgliedskarten oder Teilnehmerkarten (Mk. lO)
können am Sonntag, den 81. März, vormittags von 10 bis 1 Uhr
im Bureau des Herrn Melzer (Langenbeckhaus, Ziegelstr. 10/11 )
und am Montag, den 1. April, von 8 Uhr vormittags ali im
Kongreßhureau (im Langenhe(*khaus) in Empfang genommen
werden. Herr Melzer ist ermächtigt, Beitragszahlungon in Empfang
zu nehmen. Für die Niederschrift von Diskussionen sind For¬
mulare im Bureau und am Vorstandstisch zu haben. Die Manu¬
skripte der gehaltenen Vorträge und Demonstrationen sind vor
Schluß des Kongresses dem I. Schriftführer, Herrn Dr. Immel-
mann, zu übergehen. Nicht eingereichte IManuskripte können
während der nächsten acht, dem Kongreß folgenden Tage -dem
Schriftführer nachträglich eingereicht werden. Nach diesem Termin
eingehende Manuskripte haben keinen Anspruch auf Publikation
in den Verhandlungen. Alle Manuskripte sind in leserlicher Schrift
abzufassen und in druckfertigem Zustand einzuliefern. Die Dis¬
kussionsbemerkungen sind bis zum Schlußi des Kongresses dem
1. Schriftführer einzureichen. Später eingehende Diskussionsmanu¬
skripte können von der Aufnahme ausgeschlossen werden. Am
Abend des 31. März (Sonntag) findet ein geselliges Zusammen¬
sein (abends 8 Ubr) im Spatenbräu, Friedrichstr. 172, statt,
Hamburg, den 15. März 1907. H. Albers- Schönberg, Vor¬
sitzender für 1907.
*
XIV. internationaler Kongreß für Hygiene
und Demographie in Berlin 19 J7. Am 26. Februar 1. J.
trat der engere Ausschuß des österreichischen Komitees für den
in der Zeit vom 23. his 29. September 1. J. in Berlin abzuhaltenden
Kongreß für Hygiene und Demographie unter dem Vorsitze des
Herrn Sektionschefs Dr. v. J u r a s c h e k, Präsidenten der sta¬
tistischen Zentralkommission, zu einer Sitzung zusammen. In
. derselben wurden die Referate, die von Oesterreichern am Kon¬
gresse gehalten werden, endgültig bestimmt. Es werden folgende
Herren Referate erstatten : Obersanitätsrat Dr. v. Britto, die
Professoren Dr. Burgerstein, Dr. Epstein, Dr. Gra߬
berger, Stabsarzt Dr. Franz und Dr. H 1 a d i k, Baudirektor
Hofer, Prof. Dr. H u e p p e, kais. Rat J e h 1 e, Dr. Jelinek,
Sektionschef Dr. v. Juraschek, die Professoren Dr. Kah r hei,
Dr. Kraus, Dr. Landsteiner, Generalkonsul Dr. v. Lind¬
heim, Hofrat Dr. Ludwig, Regierungsrat Mare sch, die
Professoren Dr. Hans Horst M e y e r, Dr. Pal tauf, Dr. Prauß-
nitz und Hofrat Dr. v. Schrötter, Polizeibezirksarzt Doktor
S i 1 b e r s t e r n, Dr. T e 1 e k y, Schiffsbau-Oberingenieur Wagner
und Hofrat Dr. W e i c h s e 1 b a u m. Es ist sehr wünschenswert,
daß auch ,, Vorträge“ in größerer Zahl von Oesterreichern ge¬
halten werden. Diejenigen Herren, die geneigt sind, solche zu
halten, mögen dies unter Angabe des Themas der unten bezeich-
neten Geschäftsstelle ehebaldigst bekanntgeben. Mit dem Kon¬
gresse ist eine hygienische Ausstellung verbunden, die von öster¬
reichischen Kreisen rege beschickt werden wird. Den Kongre߬
teilnehmern wird Gelegenheit gegeben werden, sich in umfang¬
reicher Weise über die zahlreichen hygienischen Einrichtungen
von Berlin und seinen Vororten zu unterrichten. Die wissen¬
schaftlichen Sitzungen sollen im allgemeinen nicht über 2 Uhr
nachmittags ausgedehnt werden, damit die Nachmittage für die
Besichtigungen frei bleiben, lieber 100 Anstalten sind aus¬
gewählt worden, die teils während der Kongreßtage je nach Be¬
lieben besucht werden können, teils unter fachmännischer Führung
gruppenweise besucht werden. In einem ,, hygienischen Führer“
wird eine Beschreibung der Anstalten gegeben, so daß die
Kongreßteilnehmer von vornherein die einzelnen, für sie inter¬
essanten Besichtigungen auswählen können. In Oesterreich gibt
sich für den Kongreß großes Interesse kund, wie aus der Zahl
der bis jetzt angemeldeten Teilnehmer geschlossen werden kann.
Für das österreichische Komitee, dem Vertreter der Zentralstellen
und Männer der Wissenschaft angehören, führt das Präsidium
der Statistischen Zentralkommission (IVien I., Schvvarzenberg-
straße 5) die Geschäfte, woselbst alle Auskünfte erteilt und An¬
meldungen entgegengenommen werden.
*
II n t e r s tü 1 zu n g s ve r e i n für Witwen und Waisen
der k. u. k. Militärärzte. Samstag iden 4. Mai 1. T., 5 Uhr
nachmittags, findet im Lehrsaale I der Militärärztlichen Appli-
I kationsschule, im Gebäude der ehemaligen Josefsakademio
1 (Wien IX., Währingerstraße Nr. 25) die diesjährige General-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. IH
V e i's a 111 ni 1 u 11 g stall. Tugesordirung: 1. N'erifiziei'ung des
Protokolls der vorjälirigen Cieiieralversanindiuig ; 2. Vorlage des
Reclieiiscdiaftsbericlites für das Jalir T9Ü6; 3. Bericht der Revi¬
soren. 4. Antrag auf Statutenänderung (Aufnahme von k. k. und
königlich ungarischen Landwehrärzten als wirkliche Vereinsniit-
glieder usw.); 5. Mitteilungen des Verwaltungskoniitecs ; ö. Even¬
tuelle Anträge von Vereinsinitglicdern (seihe müssen 14 Tage
früher dem Verwalt ungskomifee angezeigt werden; 7. Wahl von
Funktionären in das Verwaltungskomitee nach § 22, dann für
das Schiedsgericht nach § 30 der Statuten und als Revisoren für
das Jahr 1907 nach § 9 der Cleschäftsordnung. Damit die General¬
versammlung nach § 27 der Statuten heschlußfähig sei, werden
die P. T. Herren Vereinsmitglieder ersucht, zuversichtlich er¬
scheinen zu wollen.
Wir erhalten folgende Zuschrift: XXXVI. Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1907. Nach §3
d(‘r Geschäftsordnung vom 5. Januar 1905 sollen nicht mehr als
70 Vorträge und Demonstrationen auf die Tagesordnung gesetzt
werden; angemeldet sind genau 100. Es wird sich aher doch viel¬
leicht das gesamte IMaterial erledigen lassen, wenn: 1. die Vor-
li'äge sämtlich frei gehalten, kaum Ausnälrmen zugelassen werden
(§ 0) ; 2. diejenigen Herren, welche über Experimente an Tieretr
l)erichten, lediglich die Schl ullf olger u ngen aus ihren Arbeiten
in einem ganz kurzen Referate mitteilen; 3. ,,neue Erfahr
rungen“ über schon publizierte Materien nur mit wenigen Worten
berührt werden. Längere, wohl ausgearheitete, mit Literatur ver¬
sehene Reden können nicht gehalten, wohl aher später gedruckt
werden. Es wird mein eifrigstes Bestreben sein, von Anfang an
für rasche Erledigung des Programmes zu sorgen; erst im Ver¬
laufe des Kongresses wird man übersehen können, ob die mit
einem * bezeichneten „Reserven“ zur Verabschiedung kommen
können. Die Herren, deren Vorträge ich in Reserve gesetzt habe,
mögen mir das nicht übel nehmen; es sind Fehler meinerseits
bei der Beurteilung der Vorträge unvermeidlich, aber ich bin an
die Geschäftsordnung gebunden; sie gestattet statt 105 eben nur
70 Vorträge. Die aufgestellte Tagesordnung ist als eine vorläufige,
eventuell noch änderungsfähige anzusehen. Sollten noch besondere
Wünsche geäußert werden, so ist deren Erfüllung eventuell mög¬
lich. Die Mitgliedskarten, welche beim Eintritt in den Sitzungs¬
saal vorgezeigt werden müssen, können von Sonntag den 31. März
ab, die definitive Tagesordnung von Dienstag den 2. April, nach¬
mittags 4 Ehr, im Bureau des Herrn Melzer im Langenbeck-
Hause, in Empfang genommen werden. Von Samstag den 30. März,
abends, an bin ich in Berlin (Hotel Berliner Hof, Neustädtische
Kirchstraße) zu etwaigen Besprechungen bereit. Jena, den
12. März 1907. B. Riedel, Vorsitzender für das Jahr 1907.
*
Das Dys enteric toxin. Von Dr. Robert Doerr, k. n. k.
Regimentsarzt. Verlag von G. Fischer in Jena. Noch vor wenigen
Jahren galten die Shiga- Kruse sehen Bazillen als die alleinigen
Erreger der epidemischen Dysenterie, bis in einzelnen Epidemien
die sogenannten Flexn ersehen Stäbchen als das ursächliche
Moment der Dysenterie angesehen werden mußten. Der Autor,
welcher sich selbst um die Klärung der Aetiologie der Dysenterie
liervorgetan hat, bespricht in der vorliegenden Monograi)hie die
besondere Stellung des Flexnerbazillus gegenüber jenem von
Shiga-Kruse, die nicht nur durch die Verschiedenheit der
kulturellen Eigenschaften, durch die Agglutination, sondern mich
dadurch bedingt ist, daß. die Bazillen der Flexnergruppe kein
Toxin produzieren, wohl aber jene vom Typus Kr use- Shiga
und daß dieses Toxin besonders auf Kaninchen giftig wirkt.
*
Die Verlagsbuchhandlung Wilhelm Braumüller feierte
in diesen Tagen den 100. Geburtstag ihres im Jahre 1884 ver¬
storbenen Begründers gleichen Namens. In Nr. 11 der ,, Gegen¬
wart“ widmet Dr. Adolf K o h u t (Berlin) diesem Gedenktag einen
längeren Artikel, dem wir folgendes entnehmen : „Zu den Aus¬
erwählten und Berufenen, deren bahnbrechendes Lebenswerk
noch jetzt unvergessen ist, gehörte der vor einem Jahrhundert
— am 19. März 1807 — im thüringischen Städtchen Zillbach als
zweiter Sohn des Pfarrherrn Michael Braumüller geborene
Wilhelm B r a u m ü 1 1 e r, der dann ein Menschenalter hindurch
in Wien lebte, ein guter Oesterreicher wurde und zu den treuesten
und wackersten Söhnen seines von ihm so sehr geliebten Adoptiv-
Vaterlandes gezählt werden muß. Bei seinem Eintritt in die
buchhändlerische Arena war, wie gesagt, Oesterreich der un¬
dankbarste und unfruchtbarste Boden für den Buchhandel und
den Buchverlag; aber er trat mit der Energie eines Reformators
und dem Seherblick eines Genies, das alle Hindernisse mit
spielender Leichtigkeit überwindet, an die verworrenen und trost¬
losen Verhältnisse heran. In diesem Manne der Praxis, dem von
keinen Voraussetzungen und Vorurteilen befangenen Beurteiler
der gegebenen Tatsachen, lebte zugleich ein hoher idealer Sinn
und das lauterste Streben. Mit solchen glänzenden Geistes- und
Charaktereigenschaften ausgestattet, glückte es ihm, in erfolg¬
reicher Weise die Schranken zu beseitigen, die der Gleich¬
berechtigung zwischen den buchhändlerischen Veröffentlichungen
im Habsburgischen und im Deutschen Reiche im Wege standen,
und einen Verlag zu schaffen, der sich bald einen W’^ellruf erwarb
und eine Vereinigung der namhaftesten Denker, Forscher und
Gelehrten deutscher Zunge wurde. Immer mehr nahm der öster¬
reichische Verlag an Kredit zu, nicht nur im Inlande, sondern auch
im Auslande, und selbst reichsdeutsche Kapazitäten rechneten es
sich zur Ehre an, bei Wilhelm Braumüller ihre Werke er¬
scheinen zu lassen. Ein findiger Kopf, ein produktiver Geist und
ein für die Wissenschaft und ihre Fortschritte begeisterter, echt
deutscher Mann, wirkte er selbst anregend und befruchtend auf
die schaffenden Köpfe seiner Zeit und viele Werke seines Verlages
erstanden aus seinen ideenreichen Anregungen. Die Zweige der
Literatur, die er pflegte, haben seinen Namen auch mit der
Wissenschaft eng verknüpft; war er es doch, der den damals
noch jungen Sternen der medizinischen Schule, wie: Skoda,
H y r 1 1, Rokitansky, A r 1 1 u. a. für ihre grundlegenden
Werke seinen Verlag freudig zur Verfügung stellte; war er es
doch, der jene kostspieligen Werke verlegte und ungeheuere
finanzielle Opfer für sie brachte, ohne von vornherein eines
buchhändlerischen Erfolges sicher zu sein. In erhebender Weise
wurden seine Verdienste von der Universität Würzburg anerkannt,
die ihn gelegentlich ihres 400jährigen Gründungsfestes unter vielen
Sternen der Wissenschaft zum Ehrendoktor der Philosophie er¬
nannte. Sein Name ist auch in einer Stiftung, die er dem
,, Orientalischen Museum“ machte, erhalten geblieben, u. zw. in
einem etwa 1400 Bände umfassenden Werk, das ihm vor einigen
Jahrzehnten vom Mikado verehrt worden war. Als die Würzburger
Universität B r a u m ü 1 1 e r zum Ehrendoktor ernannte, gab der
große Anatom Hyrtl seiner Sympathie für den so Geehrten mit
den Worten Ausdruck: ,,Das war einmal eine Ehrendoktor¬
ernennung, welche mich erfreute ! Quod faustum felix fortunatumque
sit Tibi, Clarissime Neodoctor, opto et exopto.“
♦
Im M a r i a - T h e r e s i a - F r a u e n h 0 s p i t a 1 e in Wien sind
im Jahre 1906 nach dem Berichte des Direktors Prim. Dr. Her¬
mann V. Erlach 800 Kranke verpflegt Avorden. Das Ambulatoxium
Avar von 4415 neu eingetretenen Frauen besucht gewesen.
*
Dr. Karl Buberl ordiniert ab 1. Mai 1907 als Badearzt
in Franzensbad in Böhmen (Haus Beethoven).
*
Wie der Redaktion mitgeteilt Avird, besteht in dem dritt¬
größten Wiener Krankenhause, dem Kaiser-Franz- Joseph-Spital,
gegenAvärtig ein derartiger Mangel an Hilfsärzten, daß für die
neu eintretenden Aerzte die besten Avancementschancen bestehen.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
<>r weiterten Gemeindegebiet. 10. Jahres woche (vom 3. bis
9. März 1907). Lebend geboren, ehelich 643, unehelich 305, zu¬
sammen 948. Tot geboren ehelich 57, unehelich 23, zusammen 80.
Gesamtzahl der Todesfälle 796 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 21‘1 Todesfälle), an Bauchtyphus 0,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 17, Scharlach 11, Keuchhusten 3,
Diphtherie und Krupp 7, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 5,
Lungentuberkulose 134, bösartige Neubildungen 44, Wochenbett¬
fieber 7. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 39 ( — 4), Wochen-
betlfieber 8 (-|- 6), Blattern 0 (0), Varizellen 69 (-[- 13), Masern 301
( — 85), Scharlach 93 (-j- 2), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 4 ( — 2),
Ruhr 1 (-(- 1), Cholera 0 (0), Diphtherie und Kiupp 96 (-}- 11), Keuch¬
husten 37 ( — 13), Trachom 0 ( — 1), Influenza 6 (-}- 6).
Freie Stellen.
Stelle eines Badearztes in Luhatschowitz. In
dem mährischen Salzbade Luhatschowitz, welches im Jahre 1902
von einer Aktiengesellschaft angekauft und modernisiert wurde, ist
durch das Ableben des Herrn Dr. Em. Spielmann, welcher da¬
selbst durch 28 Jahre praktizierte und über den Winter in Wien domi¬
zilierte, die Stelle eines Badearztes freigeworden. Der Besuch der Saison
1906 betrug 3504 Kurgäste und über 5000 Passanten; von Wien allein
waren etwa 300 Kurgäste. Für zwei Drittel böhmischer Kurgäste waren
sechs böhmische Aerzte vorhanden, für ein Drittel deutscher Kurgäste ein
deutscher Arzt, also die möglichst günstigen Verhältnisse für diesen.
Der Verwaltungsrat möchte als Nachfolger Dr. Spielmanns einen
Dozenten oder gewesenen Assistenten wünschen. Auskünfte durch den
Badedirektor MUDr. Fr. V o s e 1 f.
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
397
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
1 N H ALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 22. März 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 7. März 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 22. März 1907.
Vorsilzender : Prof. Alexander Kolisko.
Scbriflfülirer : Dr. Fritz Hitschmann.
Sekretär Prof. R. Pal tauf verliest das Protokoll der am
15. März 1907 vorgenommeiieii Wahl von Funktionären und Mit¬
gliedern der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Für die Wahl von Funktionären wurden 147 Stimmzettel
ahgegehen; mit 140 bis 146 Stiurmen wurden gewählt:
Zum Präsidenten: Hofrat Prof. Dr. R. Chrohak.
Zum Vizepräsidenten: Hofrat Prof. Dr. S. Exner.
Zu Sekretären: Prof. Dr. Otto Rergmeister und Pro¬
fessor Dr. Richard Pal tauf.
Zum Vermögensverwal ter : Dr. Anton Loew.
Zu Ribliothekareu: Prof. Dr. Ludwig Unger und Pro¬
fessor Dr. Heinrich Paschkis.
Zu Verwaltungsräten (137 bis 140 Stimmen): Dr. Josef
Rreuer; Prof. Dr. Ottokar Chiari; Reg. -Rat Professor Doktor
A. V. Frisch; Primararzt Dr. Karl Ewald; Prof. Dr. Alexander
Kolisko; Dr. Anton K h a u t z v. E u 1 e n t h a 1 ; Ih’of . Doktor
H. H. Meyer; Hofrat Prof. Dr. A. Mosetig v. Moorhof;
Hofrat Prof. Dr. Leopold Oser; Hofrat Prof. Dr. Emil Zucker-
k a n d 1.
Zu Rechnungsrevisoren: Dr. Alexander Hinter¬
berger; Dr. August S c h Av a r z ; Dr. Hermann T e 1 e k y senior .
Zu Vorsitze n den: Hofrat Prof. Dr. Viktor Ebner;
Prof. Dr. Ernst Finger; Prof. Dr. Leopold König stein.
Zu Schriftführern: I )r. Albert R lau; Dr. Hans v. 11 a-
herer; Dr. Karl v. Stejskal.
Als Mitglieder wurden gewählt: a) Zum Ehrenmit¬
glied:*) Hofrat Prof. Dr. J. M. Eder, Direktor der k. k. graphi¬
schen Lehr- und Versuchsanstalt, Wien.
h) Zu korrespondierenden Mitgliedern:*) Doktor
M. Kaller, Delegierter Oesterreich-Ungarns im Conseil superieur
de sante in Konstantinopel; Dr. Eduard Zirm, Primararzt in
Olmütz.
c) Zu ordentlichen Mitgliedern: Dr. Jul. RcyUel,
Assistent am path. -anatom. Institut; Dr. Rudolf Rergmeister,
klin. Assistent; Dr. Karl Rondy, prakt. Arzt; Dr. Siegfr. Roxer,
Abteilungsassistent; JJr. Johann Rurkl, k. k. Stabsarzt; Doktor
Julius Drey, Ahteilungsvorstand am öffentlichen Kinderkranken-
instilut; Dr. Gustav Egger, poliklin. Assistent; Dr. Wilhelm
Falta, klin. Assistent; Dr. Maiu-us Fisch, Radearzt und Re¬
dakteur; Dr. Anton Fischer, k. k. Oberstabsarzt; Dr. Leopold
Franz Födisch, Rahnarzt der k. k. Staatsbahndirektion; Doktor
Ernst Gl aß', prakt. Arzt; Dr. tieinrich Haase, prakt. Arzt ;
Dr. Albert Herz, Ahteilungsassistent; Dr. Fritz Hutter, prakti¬
scher Arzt; Dr. Emil Kraus, gew. klin. Assistent; Dr. Otto
Loewi, a. ö. Professor; Dr. Franz Makszini de Bedehaza,
Regiments- und Gardearzt; Dr. Karl Mobilia, prakt. Arzt; Doktor
.4dolf Müller, Zahnarzt; Dr. Karl v. No or den, o. ö. Professor;
Dr. Josef Peter, Zahnarzt; Dr. Hugo Raubitschek, k. u. k.
Oberarzt; Dr. Felix Reach, präkt. Arzt; Dr. Heinrich Reicliel,
Assistent am hygien. Institut; Dr. Karl Reitmann, klinischer
Assistent; Dr. Robert Rosenthal, Leiter der Priyatheilanslalt
Hacking; Dr. Hugo Salomon, klin. Assistent; Dr. K. Schwarz,
Assistent am physiolog;^. Institut; Dr. Ludwig Schweiger, prak¬
tischer Arzt; Dr. Otto Specht, prakt. Arzt; Dr. B. Spitzer,
Assistent am zahnärztl. Univ.-Inslitid. ; Dr. Richard Tliaussig,
ein. Sekundararzt; Dr. Armin v. Tschermark, o. ö. Professor;
Dr. Josef Utscliick, prakt. Arzt; Dr. Ernst Venus, potiklini-
scher Assistent; Dr. Gustav Weil, k. k. Stabsarzt.
*) Zur Gültigkeit der erfolgten Wahl von Ausländern zu
Ehren- resp. korrespondierenden Mitgliedern, bedarf es nach § 9 der
Statuten noch der Genehmigung der k. k. n.-ö. Statt¬
halterei.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
19. Februar 1907.
Wisseuschaftlicher Verein der Militärärzte der Garnison Wien.
Sitzung vom 26. Januar und 9. Februar 1907.
Priv.-Doz. Dr. Emil Schwarz demonstriert: 1. Einen Fall
von A n e u r y s m a d er Arte r i a a n o n y m a d e x t r a, mit v o 1 1-
komrnenem Verschlüsse der Carotis communis. Der
jetzt öOjährigc kranke Täglölmer, liatte vor 30 Jahren sich luetiscli
infiziert, sonst keinerlei nennenswerte Erkrankungen. Im Ok-
loher 1905 suchte der Kranke meine Abteilung im Kaiser -Franz-
Joseph - Amhulatorium wegen trachealen Stridors auf. Der da¬
malige Refund ergab eine Einbiegung der rechten Trachealvvand,
eine kleine Dämpfung im ersten rechten Interkostal raum, ohne
sicht- und fühlbare Pulsation. Keinerlei Gefäßdiffereuzen. Die
von Priv.-Doz. Dr. Holzknecht ausgeführte radiologische Unter¬
suchung zeigte, daß die Trachea in der oberen Thoraxapertur
nach links an die linke Oberfläche des Mediastinums abhiegl.
i\n der oberen Hälfte des Mittelschattens Veränderungen, welche
sich am einfachsten durch eine raumbeengende Bildung in der
rechten Hälfte der ol)ereu Thoraxapertur erklären lassen, die
nicht nur die Trachea, sondern auch den Aortenbogen nach links
verdrängt, die Aorta bietet radiologische Zeichen der diffusen
Dehnung erheblichen Grades. Die raumbeengende Bildung und
die Aorta werden beim Schlucken deutlich in mäßigen Exkur¬
sionen gehoben. Das Gebilde pulsiert nicht und bietet nichts
Charakteristisches. Ich nahm damals bewogen durch die so frülu
zeitige Trachealstenose einen gutartigen Tumor an und ließ den
Kranken auf eine chirurgische Abteilung aufnehmen behufs even¬
tueller Operation. Der Kranke verließ jedoch l)ald das Spital
und ich sah ihn nicht bis zum 14. Februar d. J., an welchem
Tage er wegen heftiger, in Arm und Nacken ausstrahlender
Scluuerzen wieder meine Abteilung aufsuchte. Der Befund war
nun in kurzem folgender: Zyanose des Gesichtes, stärkeres Vor¬
treten des Venennetzes auf der rechten oberen Hälfte des Thorax.
Deulliche pulsatorische Erschütterung des medialen Endes der
rechten Klavikula und des rechten ersten Interkostalraums neben
dem Sternum (jetzt viel weniger sicht- und fühlbar als vor vier
Wochen). Weder in der Achselhöhle, noch in der Supraklavikular-
grube sind Drüsen tastbar. Knapp ober dem Klavikulargelenke
deutliche Pulsation der rechten Subklavia, welche etwas höher
liegt als die linke. Dämpfung im ersten Interkostalraum und am
ganzen manubrium sie mi. Spitzensloß in linker Seitenlage im
sechsten Interkostalraum, in Rücketilage nicht fühlbar, Herztöne
rein, etwas dumpf, keinerlei Geräusch, auch nicht über dorn
pathologischen Dämpfungsbezirke. Stridor und Heiserkeit. Laryn-
goskopischer Befund, welchen Herr Dr. Weil aufzunehmen so
freundlich war : Rekurrenslähmung rechts, Hypästhesie des Kehl¬
kopfes, besonders der rechten Hälfte, Vorwölhung der linken
Trachealwand ohne Pulsation daselbst. Die radiologische Auf¬
nahme, welche ich der BTeundlichkeit des Herrn Kollegen Holz¬
knecht verdanke, ergibt: Herzschatten in gesamter querer Breite
kaum über der oberen Grenze der Norm, jedoch init einem
größeren Anteil in der linken Körperhälfte liegend als unter physio¬
logischen Verhältnissen. Das obere Mediastinum enthält in der
rechten Hälfte ein faustgroßes, schattengebendes Gebilde von an¬
nähernd kugeliger Gestalt, gleichmäßig gerundeten, nicht zweifellos
pulsierenden Rändern, welches zur Hälfte in das Gebiet des
rechten Ohcrlappens fällt. Die Trachea, der Oesophagus und der
Aortenhogen nach links verdrängt und sich an diesen (der übrigens
diffuse Dehnung zeigt) ohne Diskontinuität anschmiegt. Das inter¬
essante an dem B’alle sind nun die Differenzen in den Gefäßen
der beiden Seiten : Die beiden Radialarterien sind, ahgesehen
von einer stärkeren Schlängelung der linken, gleich weit, die
Pulse syncliron und gleich stark. Die Druckmessung zeigt rechts
und liidvs gleiche Werte (nach Sahli 120 mm, nach uärtner 80).
Auch die beiden Rrachiales fühlen sich vollkommen gleich an. Di'-
rechte Subklavia zeigt, wie erwähnt, höhere Lage und stärkere
Pulsation. Während (lie linke Karotis auffalleinl weit ist und
sehr kräftig pulsiert, ist aber an der rechten Seite keine Spur
eines Karotispulses (weder in der Carotis communis noch externa,
noch Art. maxill. ext., oder Art. temp.) zu finden. Nur in der
Nähe des unteren Randes des Ringknorpels ist in der Ciefe emo
kleine Pulsation, offenbar die vom Trunc. thyreocorvical. (also
Subklavia) ahgchende Art. thyr. inf. zu tasten. Es besteht also
eine vollkommene Obturation der Carolis communis.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
Was licgi liier iiuii vor? Die eiiifaehste Annahnrc, die eines
Aneurysinas <ler Art. anonyma, Jiat anscheinend vieles gegen sich:
Vor alh'in, dali als erstes Symptom und schon vor IV'i Jahren
Trachealstenose aufgetreten war, ferner die trotz der jetzt he¬
deulenden (iröße der Geschwulst sehr geringfügige Pulsation —
auch vom Jugulum und von der Supraklavikulargegend aus ist
wenig davon zu finden — endlich die Gleichheit der Pulse in
dem Gehiete der Subklavia, bei einer solchen Differcmz in den
Karotiden. Trachealstenose findet sich noch am ehesten liei Aneu-
i-ysmen des Arcus aortae, wo jedoch meist die linksseitige Wand;
der Trachea eingehuchlet wird. Dann liegt für ein Aortenaneurysma
Dämpfung und Schatten auffallend hoch, endlicfi könnte von
einem solclien aus der isolierte Verschluß- der Carotis dextra
nicht erklärt werden. Gegen die Annahme eines Tumors spricht
alles; die Stauungserscheimmgen im Gebiete der Vena innomin.
dexlr. sind verhältnismäßig geringfügig, im Vergleiche zu der
starken Kompression, die auf die Arterie ausgeüht wurde. Ferner
sind wir mit der Annahme eines Tumors, der ausschließlich
unter der Thoraxapertur sitzt, überhaupt nicht imstande, den
isolierten Verschluß der Karotis zu erklären. Ferner ist gleich¬
zeitig nachweisbare starke Dehnung der Aorta jedenfalls ein
Argument zugunsten einer Erkrankung der Gefäßwände und ich
möchte dahei- doch hei der ersten Annahme bleiben, daß hier
ein Aneujysma vorliegt, ich glaube, man müßte dasselbe dann
folgendei-rnaßen lokalisieren : Ausdehnung der aufsteigenden .Aorta
mit. sackartiger Ausdehnung an der Ahgangsstelle der Arteria
anonyma dextra und median von ihr, so daß die letztere in
das Aneurysma mit eingeht und von rechts her die Trachea kom¬
primiert. Sehl' starke Gerinnselhildung, welche einerseits die
Pulsation trotz der Ausdehnung des Sackes so geringfügig macht,
anderseits den Durchbruch in die Trachea so lange hintanhält.
Vollkommene Verlegung des Abganges der Karotis bei freiem,
nicht zu weitem Kanal zur Subklavia. Außerdem wäre noch die
Möglichkeit einer anatomischen Anomalie: eines getrennten Ab¬
ganges der rechten Karotis und Subklavia in die Aorta in Betracht
zu ziehen, welche uns vielleicht noch leichter die vorliegenden
Verhältnisse erklärt, die ich aber wegen dieses Vorkommnisses
nur als eventuelle Hypothese hinstellen möchte.
Diskussion: Dr. L. Wiek.
2. Präparate von fibrinöser Bronchitis, mit
enormer Eosinopliilie. Als ,, fibrinöse Bronchitis“ werden
eine ganze Anzahl von Zuständen bezeichnet, welche zwar ein
Gemeinsames: die Expektoration von Bronchialgerinnseln, auf-
weisen, sonst aber sowohl ätiologisch wie klinisch nichts juitein-
ander zu tun haben und daher auch nicht miteinander unter einem
Ki’ankheitsnamen zusammengefaßt werden sollten. Sieht man von
Infektionskrankheiten, namentlich Diphtherie, wo diese Gerinnsel¬
bildung nur einen Teil der entzündlichen spezifischen Erkrankung
der Bronchien darstellt, dann von direkten Schädigungen der
Broncbialschleimhaut durch reizende Dämpfe und Flüssigkeiten
ab, so bleiben <lie als ,, primäre fibrinöse Bronchitis“ benannten
Fälle übrig. Auch diese läßt sich in zwei Unterabteilungen zer¬
legen: eine akute fieberhafte Affektion, welche oft tödlich endigt
und sehr selten zu sein scheint, dann eine zweite, idiopathischje,
mehr chronische, gleichfalls ziemlich seltene Erkrankung, welche
unter ‘dem Bilde einer mit Remissionen und Exazerhationen ver¬
laufenden chronischen Bronchitis einhergeht, auf deren Höhe unter
dyspnoischen Anfällen die bekannten Gerinnsel ausgehustet
wenlen. Die Stellung dieser Erkrankung im neurologischen Sy-
sleme ist von den einzelnen Beobachtern nur hie und da be¬
rührt worden, obwohl denjenigen, welche die (lerinnsel einer ge¬
naueren Untersuchung unterzogen, doch manches daran aufgefallen
ist. Abgesehen davon, daß dieselben nicht immer bloß aus *ge-
scbichtetem Fibrin, sondern mebr oder Aveniger aus einer äußerst
zähen, muzinartigen Substanz bestellen, fanden sich in mehreren
Fällen, wo daraufhin untersucht wurde, die Leydenseben Asthma¬
kristalle (Zenker, Riegel, Leyden, Fried reich, Schmiilt,
B. Koch, Frit sehe) sowie in den meisten dieser Beobachtungen
auch eosinophile Zellen in reichlicher Menge (Fritsche,
Schmidt). Nachdem wir nun wissen, daß die Asthmakristall©
Derivate der eosinophilen Zellen sind, so können wir auch in
den älteren dieser Beobachtungen das Vorhandensein letzterer
Elemente im AusAvurfe mit Bestimmtheit annehmen. Ich hatte
nun Gelegenheit, eine analoge Beobachtung zu machen. Eine
30jährige Flau, welche seit ungefähr drei Vierteljahren an bron-
(diilischen Symptomen litt, bemerkte in der letzten Zeit, daß sie
unter heftiger Sleigerung ihrer BescliAA^erden Avurniförmige, mehrere
Zentimeter lange Gebilde aushustele. Außer den bronchilischen
Zeichen bot sie kein Krankheitszeichen, insbesondere kein Zeichen
der Tuberkulose; auch Avaren niemals vorher dyspnoi.sche Anfälle
aufgelrelen. Der .VusAvurf war reichlich, zäh, mit stark eitrigen
Beimengungen und enthicdt dünne und dicke Pronchialgerinnsel,
von dejien ich eines hier demonslriere ; dasselbe Avar viel dicker,
es ist im Alkohol geschrumpft. Die Gerinnsel Avaren weißlich oder
blaßrosa gefärbt, fein, längsstreifig und in ibren äußeren Scbichten
schleimig durchscheinend. Die mikroskopische Untersuchung des
AusAAUirfes zeigte massenhaft eosinophile Zellen und reichlich *
Kristalle und auch an dem eingestellten mikroskopischen Schnitt¬
präparate von einem solchen Gerinnsel kann ma:n die fast aus¬
schließliche Vorherrschaft der eosinophilen Zellen und die Kristalle
leichterkennen. Außerdem zeigt die Weigertsche Färbung ein
Fibrinnelz und besonders auf den Querschnitten die Bildung d('s
Zentrums aus zusanrmengerollten lamellösen Fibrinmassen. Die
Eosinophilen sind fast alle einkernig, Avas auch beim Asthma-
sputum AAdederholt beobachtet Avurde. Die Untersuchung des Blutes
der Kranken ei'gab eine sehr starke Eosinophilie: G4Uo Neutro¬
phile, 12Uo Eosinophile, 24°/o Lymphozyten, ein Verhalten, Avelches
auch Amn Fritsche in einem Falle bemerkt Avurde.
Ich glaube nun, daß diese auffällige Tatsache, die also
schon Aviederholt, nur vielleicht nicht in so frappierender Weise
beobachtet Avurde, doch nicht als völlig nebensächlich aufgefaßt
Averden kann. Wir kennen außer dem Bronchialasthma bis jetzt
keine Pi'imärerkrankung der Bronebien, Avelche typische Eosino¬
philie auf weist, ja Avenn Avir auf das massenhafte und prädomi¬
nierende dieser Zellgattung im Auswurfo achten, so fallen selbst
die anderen bronchitischen Erkrankungen, Avie Tuberkulose, Bron-
chiektasien, kardiales Asthma mit Stauungsbronchitis fort. Fast
noch Avicb tiger ist die begleitende Eosinophilie des Blutes. Die
Klinik des Bronchialasthmas lehrt uns ferner,, daß der echte asthma¬
tische Anfall keinesAAmgs für die Diiignose ausschlaggebend ist,
indem in zahlreichen Fällen das Bronchialasthma unter der Form
rezidivierender oder chronischer Bronchitiden auftritt, daß also
nach Curschmaniis Ansicht eine Bronchiolitis exsudativa be¬
steht, bei Avelcher die Chance zur EntAvicklung asthmatischer
Anfälle von der Ausdehnung des Prozesses und der Reizbarkeit
des beti'offenen Individuums abhängt. Auch die von Hof mann
und T eic Inn ü Iler beschriebene eosinopbilc Bronchitis ist Avohl
nichts als ein Asthmakatarrh. Hiezu kommt iioch die von Hof¬
mann angeführte Beobachtung, daß bein'! typiseben Bronchial¬
asthma, Avenn cs nach längerem Bestehen in das bronchitische
Stadium eingetreten ist, in maueben Fällen der AusAvurf die
für die primäre fibrinöse Bronchitis charakteristische Gestalt an¬
nimmt; keine Spiralen, dagegen lange, baumartig Amrzweigte Ge¬
rinnsel, AAmlchc Abgüsse der Bronchial Verzweigungen darstellen.
Ferner Avurden auch beim typischen Asthma P'ibrinfäden ge¬
funden, ja V. Jaksch hält den Zentralfaden der Curschmann-
schen Spiralen für Fibrin. Auf den wiederholten Befund von
Spiegler bei fibrinöser Bronchitis möchte ich Aveniger Wert
legen, da diese aus rein mechanischen Gründen entstehenden
Gebilde für die Art des AusAvurfes nicht bcAveisend sind. Es
bieße mm den Tatsachen ZAvang antun, Avollte man bei all dieser
■Uebereinstimmung Fälle, Avie der von mir beobachtete, auch ferner¬
hin vom Bronchialasthma trennen. Wir kämen daniY. j:u dem
unlogischen Systeme, daß eosinophiler Katarrh ohne Anfälle
und eosinophile fibrinöse Bronchitis nach asthmatischen An¬
fällen zum Bronchialasthma gehören, dagegen eosinophiler Katarrh
mit Bronchialgerinnseln ohne Anfälle eine Krankheit sui generis
darstellen Avürde. Diese Auffassung der primären fibrinösen Bron¬
chitis ist nicht vollkommen neu. Schon Leyden Aveist auf Grand
der Kristallbefunde in Friedreichs Falle eine Beziebung dieser
beiden Prozesse nicht als unmöglich ab. Auch Ungar ist aus
demselben Grunde für eine solche Beziehung eingetreten, doch
sind die Bronchialgerinnsel, Avelche er ini Sputum Amn Asthma¬
tikern fand, seiner Beschreibung nach die später von Curse li¬
man n beschriebenen Spiralen, niclit die fibrinösen Bronchial¬
ausgüsse. Erst Fritsche hat auf Grund der Eosinophilie in
Sputum und Blut seiner Kranken, seinen Fall mit C ursch, -
manns Bronchiolitis exsudativa analogisiert. Obwohl Fritsche
in dieser Auffassung von C ursch mann Avidersprochen AVurde,
möchte ich dennoch auf Grund meiner Beobachtung und der
früher crAvähnten klinischen Umstände neuerlich für die Ein¬
reihung der primären chronischen fibrinösen Bronchitis in die
Gruppe des Astlunakatarrhs nachdrücklich cintreten. Was die
Entstehung der Gerinnsel betrifft, Aväre ich zur Annahme geneigt,
daß, solange die Bronchiolitis exsudativa auf die feinsten Bronchien
beschränkt bleibt, bloß die Spiralen, das sind die Ausgüsse der
spiralig gedrebten Broncbiolen, im Spul um erscheinen, daß aber
hei einer Ausdehnung des Prozesses auf die gröberen Aeste,
nach längerem Bestehen des Asthmas tritt dies von vorn¬
herein .ein, die schleimig-fibrinösen Bronchialgerinnsel zur Aus¬
bildung gelangen können.
Prim. Dr. Schnitzler berichtet unter Demonstration des
betreffenden Instrumentes über eine Perforation iler Flexura
}
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
399
si g 1110 idea durch eine zu thorapeutisc lie n Zwecken,
wegen c li r o 11 i s c li e r 0 1) s tip a t i o n p e r a ii um e i n g c-
fiihrte Bougie unci Heilung durch Laparotomie. Es
liandelte sicli um eiuen 40,jälirige]i JMann, der, iiii übrigen gesund,
seit langer Zeit an Ohslipalion litt. Seit mehr als' einenr Jalire
fülirte sich der Patient eine dicke Hartgumiiiibougie mehrmals
wöchentlich in den IMasldarm ein. Obwohl ihm ärztliclierseils
empfohlen worden war, diese Behandlung nur durch die Hand
eines Arztes au-sführcn zu lassen, führte Pat. die Bougierung
slets eigenhändig aus. Am 22. Februar d. J. vollfiihrle er die
geAvohnte Manipulation u. zw. in fast aufrechter Stellung, wie
geAA'öhnlich. Während er mit der einen Hand die in den Darm
eingeführte Bougie fixierte, gurgelte er gleichzeitig. Da \mrspürte
er einen plötzlichen Schmerz in der Unterhauchgegend. Er ent¬
fernte die Bougie; keine Blutung. Es trat Stuhldraiig auf, doch
ging kein Stuhl all. Das Allgemeinhefinden waar ein sehr gutes
und auch zAAmi Stunden später, als der Hausarzt Dr. 0. Rie
den Patienten sah, AA'ar sein Befinden ein ganz vortreffliches.
Trotzdem fand Dr. Rie die Situation mit Rücksicht auf die
Anamnese und eine, AAmnn auch nur miaimale Spamiung in der
Unterhauchgegend, ernst genug, um die Berufung eines Chirurgen
zu Amranlas'sen. So sah S c h n i t z I e r den Palieiilen ca. dVs Sfiinden
nach dem Vorfall. Pat. sah sehr gut aus, hatte keine Schmerzen,
links Andeutung Amn Bauchdeckenspannung, kein Aufstoßen, kein
Erbrechen. Rektaluntersuchung mit dem Finger ergibt kein Blut,
keine palpable Verletzung. Puls 80, Temperatur 38-1. Die
Temperalursteigerung und die, wenn auch nur angedeutete Bauch¬
deckenspannung veranlaßten Schnitzler, trotz Fehlens schwerer
Erscheinungen eine ernstere Verletzung u. zav. eine Perforation
des untersten Anteils der Flexur durch die eiugeführte
Bougie anzunehmen und die Laparotomie vorzuschlagen. Hof¬
rat Ax Eiseisberg, der den Patienten zAvei Stunden si)äter sah,
schloß sich, trotzdem bis dahin keine Zunahme der Erschei¬
nungen eingetreten Avar, diesem Vorschläge an. Schnitzler
nahm nun ■ — zirka acht Stunden nach der Verletzung — die
Laparotomie vor. Dieselbe ergab eine eitrige Peritonitis!
der unteren Bauchhälfte und eine ca. 3 cm lange Perforation;
der A^orderen Wand der Flexura sigmoidea, etAva hanrl-
hreit oberhalb des Peiitoneala,usatzes. Naht der Perforation, Drai¬
nage der Bauchhöhle, partielle Bauchdeckennaht. Heilung ohne
ZavI sehen fall. Schnitzler erAvähnt die Häufigkeit der Bou-
gierungsverlelzungen bei Behandlung des s t r i k tu r i e r t e nl
Rektums. Bei gesundem Dann, Avie in diesem Falle, sei die,
eigentlich ohne besondere CieAvaltanAArnndung erfolgte Perforation:
bemerkensAAmrt. Quenu, der 36 Perforationen der Flexur zu-
sammengestellt hat, konstatiert darunter 27 Todesfälle; vou
30 nicht operierten Fällen starben 25; von sechs operierten
Fällen starben nur zwei, Auei' Avurden geheilt; als fünfter geheilter
Fall Aväre nun der hier hesprochene Schnitzlers aiizufügen.
Das Wesentliche bleibt Avohl die möglichst frühzeitige Vor¬
nahme der Laparotomie, seihst auf ganz geringfügige Symptome
hin, Avie dies hier geschehen ist.
Prof. D]’. H. Schlesinger; Klinische Beobachtungen
über den Wiener Typhus. (Erscheint ausführlich in dieser
Wochenschrift.)
Diskussion : Primarius M o s z k o av i c z bemerkt, daß die
stürmischen Erscheinungen mit denen der Wiener Typhus nach
den Ausführungen des Vortragenden oft einsetzt, sehr oft dem
zunächst gefragten Arzt die Diagnose einer Perityphlitis nahe¬
legen. So kommt es, daß der hinzugerufene Chirurg nicht selten
die Differentialdiagnose ZAvischen Typhus und Perityphlitis zu
stellen hat, die nicht immer leicht ist. MoszkoAvicz hat zAveimal
abgelehnt einen zweifelhaften Fall zu operieren, sehr gegen
den Willen des behandelnden Arztes. Die Patienten wurden in
ein Krankenhaus gebracht, wo die Diagnose Typhus abdominalis
vollkommen sichergestellt wurde.
Nur sehr sorgfältige Untersuchung kann uns vor einer
solchen Fehldiagnose beAvahren. Besonders Avichtig ist das Symptom
der Bauchdeckenspannung bei entzündlichen Prozessen des
Peritoneums. Doch spannen manche Menschen ihre Bauchdecken
bei jeder Untersuchung, deshalb möchte MoszkoAvicz auf ein
verläßlicheres Symptom, das Verhalten der Bauchdeckenreflexe,
aufmerksam machen, das er auf Empfehlung des Kollegen
Dr. Karl Lein er seit drei Jahren bei allen Fällen von Perityphlitis
sorgfältig beobachtet. Bei diffuser Peritonitis fehlen alle Bauch¬
deckenreflexe, bei zirkumskripter Peritonitis kann man beobachten,
daß z. B. nur der rechte untere Bauchdeckenreflex fehlt, während
alle anderen erhalten sind. Nur bei wenigen Fällen versagt das
Symptom. Wenn der erkrankte Appendix wohl geschützt hinter
dem Dünndarm oder dem Netz liegt oder wenn er tief ins Becken
hinunterreicht, dann Avirkt der Reiz der Entzündung auch Aveniger
auf die sensiblen Nerven der Bauchdecken. Diese sind nicht
gespannt und die Reflexe sind erhalten.
Handelt es sich um Typhus, dann macht der Patient den
Eindruck eines schwer erkrankten Menschen, wie er nur bei
den schlimmsten septischen Formender Perityphlitis kommt. Diese
haben aber fast immer diffuse Bauchdeckenspannung und keine
Reflexe. Wo diese vorhanden sind, müssen wir bei auffallend
schlechtem Allgemeinbefinden die Diagnose Perityphlitis nur mit
großer Vorsicht stellen.
Primarius Priv-Doz. Dr. S c h n i t zl e r : Es Averden jetzt zweifel¬
los nicht selten Typhusfälle unter der Diagnose Appendizi tis
den chirurgischen Abteilungen eingeliefert; in jedem Semester
sehe ich ein oder den anderen derartigen Fall, konnte jedoch
stets noch jeden solchen unter richtiggestellter Diagnose auf die
interne Abteilung transferieren. Abgesehen von anderen Hilfs¬
mitteln ist es ja die Blutuntersuchung, die fast immer die
Differentialdiagnose ermöglicht. Die akuten, ohne Aufschub
operationsbedürftigen Appendizitiden verlaufen fast aus¬
nahmslos mit Leukozytose, der Typhus mit Leukopenie.
Auf Grund dieses Symptomes habe ich erst vor wenigen Tagen
Avieder einen Avegen vermeintlicher Appendizitis an meine
Abteilung gewiesenen Kranken auf die interne Abteilung
transferiert. Die, übrigens äußerst seltenen, ohne Leuko¬
zytose verlaufenden, schwer septischen Appendizitiden,
resp. Peritonitiden wird der Erfahrene wohl schon nach dem
klinischen Bild nicht mit Typhus verwechseln können.
Pi’of. Hermann Schlesinger: Ich möchte vorerst erklären,
daß ich nicht entfernt daran dachte, den Chirurgen eine eventuelle
Fehldiagnose einer Perityphlitis aai Stelle eines Typhus vorzu-
Averfen; ich AAmllte nur aut die große Gefahr einer Vei’Avechslung
hingeAviesen haben. Mir ist seihst eine solche Verwechslung be¬
gegnet • — ich habe über dieselbe in der Gesellschaft für innere
^Medizin berichtet — bei Avelcher der Symptomenkomplex einer
Perforationsappendizitis nach Angina tonlsillaris stürmisch em-
setzte. Der Kranke Avurde aus äußeren Momenten nicht operiert;
schon am ZAveiten Tage aber Avar Perityphlitis unAvahrscheinlich,
da Leukozytose fehlte. Es entwickelte sich dann ein typischer
Typhus.
Dem Vorschläge Schnitzlers, hetreffs’ . der VerAvertung
des Leukozytenbefundes zur Stellung der Differentialdiagnose
möchte ich unbedingt -beipflichten, da Leukopenie bei Typhus,
aucli bei den jetzigen Fällen ein regelmäßig zu beobachtendes
Vorkommnis ist.
Das Aussehen des Kranken Avird sich vielleicht Aveniger
für die Differentialdiagnose veiwerten lassen, da die Typhösen
zumeist nicht mehr den typhösen Aspektus darhieten, Avenn sie
ordentlich gepflegt AAmrden. Den fuliginösen Belag, die stark be¬
legte Zunge, sehen Avir hei Krankenhausfällen recht selten. De¬
lirien fehlen in sehr Auelen Fällen. Selbst erfahrene Krankenhaus¬
ärzte äußerten mir mehrmals ihre Vei'Avunderung über das Aus¬
sehen der Kranken, das gar nicht dem typhösen glich.
Hingegen dürfte das Verhalten der Bauchdeckenreflexe eine
ganz Avesentliche differentialdiagnostische Bedeutung hei Ent¬
scheidung der Frage Perityphlitis -Typhus beanspruchen.
Primararzt M o s z k o av i c z erinnert daran, daß Feder mann
bei ausgedehnten Untersuchungen an dem großen Material
Sonnenburgs in Berlin gefunden hat, daß gerade die schwersten
septischen Fälle von Perityphlitis, bei denen jede Verzögerung
der Operation gefährlich ist, keine Leukozytose aufweisen. Die
Wiener Typhen mögen im allgemeinen nicht schwer verlaufen,
im Allgemeinbefinden Avird doch ein großer Unterschied zwischen
einem Typhus und einer leichten Perityphlitis sein. (Zu bemerken
wäre noch, daß im Privathause Leukozytenzählungen nicht vor¬
genommen Averden können. Die Entscheidung muß sich auf
andere Symptome stützen.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 7. März 1907.
H. Salomon stellt eine Frau mit funktionellem
Sanduhr m a gen vor. Pat. hat Schmerzen in der Magengegend,
daselbst ist deutliche Peristaltik sichtbar. Die Röntgenunter¬
suchung ergibt einen Sanduhrmagen mit einem schmalen Ver¬
bindungsstücke, Avelches sich jedoch, wenn durch Empordrücken
des unteren Magenanteiles dessen Inhalt in den oberen Magen¬
anteil hineingetrieben wird, fast zu normaler Breite erweitert.
Die Kranke kann durch Fixation des ZAverchfelles in seinem Tief¬
stände die ZAveiteilung des Magens Avillkürlich hervorrufen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 13
Ferner zeigt H. Salomon ein Kind mit konstitu¬
tioneller Fettleibigkeit. Dasselbe ist 5 Jahre alt und
wiegt 40 kg ; im Alter von 4 Jahren wog es 25 kg. Drei Viertel
des Gewichtes sind auf Fett zu rechnen. Die Ursache der Fett¬
leibigkeit läßt sich nicht eruieren, der Sauerstoffverhrauch ist
etwas herabgesetzt, 120 bis 125 cm® pro Minute gegen 135 bis
140 cm® bei einem normalen Kinde von gleichem Alter, ebenso
das Nahrungsbedürfnis. So gelang es nicht, hei einer Nahrung
mit einem Gehalte von 600 Kalorien Abmagerung herbeizuführeri,
während das Nahrungshedürfnis eines normalen Kindes ein weit
höheres ist.
Schließlich führt H. Salomon einen Mann mit hyste¬
rischer Kontraktur der rechten Hand und der
Finger derselben vor. Der rechte Arm ist im Ellbogen und
Handgelenk flektiert. Der Zeige- und Mittelfinger sind stark
hyperextendiert, die beiden letzten Finger im Grundgelenke ge¬
streckt, in den anderen hyperextendiert, der Daumen ist hyper¬
extendiert und in die Hohlhand gedrückt. Es bestehen weiter
Hypersensibilität des Handrückens und der Finger und Schüttel¬
bewegungen der rechten Hand und des Armes. Das Leiden
begann bei dem Pat., einem Lehrer, der viel Harmonium spielen
und schreiben mußte, vor fünf Monaten mit einem Zustande von
nervöser Erschöpfung und starker Einschränkung des Gesichts¬
feldes, die Hände versagten beim Spielen den Dienst. Nachdem
diese Erscheinungen verschwunden waren, stellten sich plötzlich
Krämpfe in der rechten Hand ein, die nach Massage ver¬
schwanden, dann erschienen nacheinander eine Schwellung der
Hand, zuckende Bewegungen im Arm, die auch im Schlafe an¬
hielten, Schmerzen in diesem Arm, schließlich die jetzt vor¬
handenen Kontrakturen. Pat. hat vor einem Jahre Pneumonie
Überstunden, nach welcher eine Schwäche der rechten Körper¬
seite zurückgeblieben sein soll. Es könnte sich um kleine Er¬
weichungsherde im Gehirn, die vielleicht mit der Pneumonie
Zusammenhängen oder um eine hysterische Affektion handeln.
Das letztere ist wahrscheinlicher, da Pat. leicht hypnotisierbar ist.
Alfred Fuchs möchte das Leiden für ein organisches
halten, bedingt durch enzephalitische Herde ; er würde die Be¬
wegungen als athetotisch bezeichnen. Als Fuchs den Patienten
untersuchte, waren an der rechten unteren Extremität Fußklonus
und Patellarklonus vorhanden, links war kein Klonus nach¬
weisbar, die sensiblen Reflexe waren an beiden Extremitäten
different. Ferner bestand früher eine Differenz des Trigeminus
im Gebiete des Tensor veli palatini. Die frühere Sehstörung
möchte Fuchs als Hemianopsie auffassen. Es fehlen bei dem
Pat. hysterische Stigmata.
H. Salomon bemerkt, daß hysterische Einzelsymptome
ohne sonstige Stigmata der Hysterie verkommen können. Er
habe ebenfalls die Möglichkeit einer organischen Affektion erwähnt.
A. Herz demonstriert eine Frau, bei welcher mächtige
Kollateralbahnen für die Vena saphena magna
ausgebildet sind. Dieselben beginnen am Unterschenkel in
Form eines varikös erweiterten Venennetzes, das sich in der
Kniegegend zu einem mächtigen Strang vereinigt, welcher gegen
die Fovea ovalis zieht. Es kann eine Obliteration der Vena
saphena oder ein abnormer Verlauf derselben vorliegen; für das
letztere spricht die Doppelseitigkeit der Abnormität.
L. V. Schrötter bemerkt, daß nach K o b 1 e r eine
solche Abnormität in Bosnien endemisch vorkommt, was für eine
angeborene Anlage sprechen würde.
L. V. Schrötter demonstriert das anatomische Präparat,
welches von der Obduktion des Falles mit auffallender Ver¬
größerung undTumorbildung des Schädels stammt,
den er am 8. November 1906 vorgestellt hat. Der Schädel war
im ganzen vergrößert und verdickt, außerdem fanden sich noch
große knochenharte Höcker an der Stirne und an der rechten
Schläfe. Ueber der Stirne war der Perkussionsschall seinerzeit
tympanitisch. Der Kranke starb an allgemeiner Schwäche. Die
Obduktion ergab, daß ein Fibrosarkom der Schädelknochen mit
hochgradiger Verdickung derselben vorlag, daneben bestanden
Osteoporose, Erweichung und Eburneation.
G. Schwarz zeigt eine Röntgenaufnahme eines Falles von
L u n g e n g a n g r ä n. Im rechten Unterlappen der Lunge sitzt
eine Zerfallshöhle, in welcher die obere Begrenzung eines Exsu¬
dates sichtbar ist. Bei der physikalischen Untersuchung konnte
die Succussio Hippokratis hervorgerufen werden.
M. We inberger erwähnt einen ähnlichen Fall, in
welchem die Succussio Hippokratis in einer gangränösen Lungen¬
höhle, welche der Thoraxwand anlag, hervorgerufen vmrden
konnte.
J. Wiesel: Renale H e r z h y p e r t r o p h i e und
c h r 0 m a f f i n e s System. Vortr. hat 22 Fälle von chronischer
Nephritis und einige Fälle von akuter Nephritis untersucht. Bei
den ersteren, die mit Herzhypertrophie einhergingen, fand sich
unabhängig von der Form der Nephritis und ihrer Aetiologie eine
typische Veränderung des chromaffinen Gewebes; die Mark¬
substanz der Nebennieren verbreitert — ohne daß die Rinde ver¬
schmälert war — die Verbreiterung war durch eine Vermehrung
des chromaffinen Gewebes bedingt, die einzelnen Zellen desselben
waren aber nicht verändert. Auch das übrige chromaffine System
zeigte eine Hypertrophie. Bei der akuten Nephritis waren diese
Veränderungen nicht zu finden, dagegen fanden sie sich bei
reiner Herzhypertrophie ohne Nephritis. Weiter ergaben die
Untersuchungen des Vortr., daß die Arteriitis der Nephritiker
einen degenerativen Prozeß darstellt, der in der Media beginnt,
welcher auf die Intima übergreift und im weiteren Verlaufe
sklerotische Veränderungen hervorruft.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 19. Februar 1907.
Vorsitzender : Obersteiner.
Schriftführer : P i 1 c z.
Zu ordentlichen Mitgliedern wurden gewählt die Herren :
Robert Bäränyi, Langer, Richard Nepallek, Heinrich Weiß.
A. Demonstrationen.
1. H i r s c h 1 demonstriert einen Fall von M e d i a n u s-
verletzung mit S e n s i b i 1 i t ä t s s t ö r u n g e n ohne
solche der Motilität (erscheint demnächst ausführlich).
Diskussion: v. Wagner fragt, ob der Fall mit Rück¬
sicht auf Möglichkeit eines Fremdkörpers in der Wunde röntgeno¬
logisch untersucht worden war.
Hirschl verneint diese Frage; der Fall ist am Tage der
Verletzung auf einer chirurgischen Abteilung untersucht und
genäht worden.
Frankl-Hoch wart erwähnt mehrere Fälle, bei welchen
nach Traumen an peripheren gemischten Nerven nur Sensi*
bilitätsdefekte, aber keine solche der Motilität aufgetreten waren ;
das umgekehrte ist ja so häufig der Fall. Einmal sah er ein junges
Mädchen, das sich in suizidaler Absicht eine kleine Verletzung
am linken Handgelenk zugezogen hatte, indem sie mit einem
stumpfen Messer in der Gegend des Medianus eine Art von
Sägebewegung ausführte. Die minimale Blutung wurde sofort
gestillt ; die Motilität blieb frei : hingegen war typische Medianus¬
anästhesie wahrnehmbar, sowie Entartungsreaktion im Thenar-
gebiete. Eine Erklärung für dieses wechselnde Vorkommnis er¬
scheint schwierig.
Redlich: Es läßt sich durch die Methode der Nerven-
dissekation nachweisen, daß die Nerven für die einzelnen Ge¬
biete nicht wirr durcheinander im Nervenstamme liegen, sondern
schon weit hinauf zentralwärts in bestimmten Gruppen an¬
geordnet sind. So ließe sich die isolierte Verletzung gerade der
sensiblen Fasern erklären.
Hirschl: Das Verfahren hat den Namen ,, Aufsplitterung“.
Auf eine Anfrage Obersteiners, wie lange nach der Ver¬
letzung der Fall untersucht worden war, erwidert Hirschl, daß
die Sensibilitätsstörung sofort auftrat.
2. Fuchs demonstriert ein Kind mit eigentümlicher
funktioneller Sprachstörung.
Diskussion: Mattauschek hatte einen analogen
Fall bei einem Gendarmen beobachtet, der meuchlings an¬
geschossen worden Avar. Unmittelbar nachher noch keine Sprach¬
störung. Erst sechs bis sieben Wochen später traten hysterische
Anfälle und anschließend die Sprachstörung auf.
Infeld kennt beide Fälle und betont auch, daß es sich
hiebei nicht um ein Stottern handle. Vor allem fehlt die
charakteristische Disharmonie der AtembeAvegungen. Bezüglich
des Falles von Fuchs wäre noch hervorzuheben, daß die
Störungen in eine Zeit fielen, in Avelcher auch sonst bei Kindern
häufig Dysarthrien sieh entAvickeln. Die Kinder verstehen schon
viel, aber sprechen noch nicht viel. Auch dieses Kind hatte noch
nicht gut gesprochen.
3. Fuchs demonstriert einen Fall, der eine dem Grae fe¬
schen Symptom analoge Erscheinung ohne irgend av eiche
andere Symptome von Basedow bietet; im übrigen
schwere Unfallsneurose.
Diskussion: Infeld: Woher Aveiß Vortr., daß Pat.
diese Erscheinung nicht schon vor dem Trauma gehabt ?
Fuchs: Soweit Anamnese lehrt, wurde vorher niemals
etwas auffallendes bei Pat. bemerkt.
Straß er: Ich hatte Gelegenheit, den Fall seit Jänner zu
beobachten. Im November scheint das Symptom noch nicht vor-
Nr. 13
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
401
handen gewesen zu sein, da der Ophthalmologe Kollege Hanke
nichts auffallendes bei dem Kranken gesehen hatte.
Schlesinger: Man sieht manchmal G r a e f e als zu¬
fälligen Befund ; mir ist es wiederholt bei Bleikranken auf¬
gefallen. Ob damit im Zusammenhang, weiß ich nicht. Jedesmal
wurde es aber als zufälliger Befund erhoben.
Dr. Robert B ä r a n y berichtet über den Ohrenbefund bei
dem von Priv.-Doz. Dr. Fuchs vorgestellten Falle von Kopf¬
trauma. Der Mann ist beiderseits, besonders links schwerhörig.
Es bestehen die Zeichen einer Erkrankung des Kochlearapparates.
Trommelfell beiderseits intakt, leicht getrübt. Was den Vestibular-
apparat betrifft, so ergibt das Ausspritzen mit kaltem Wasser
(kalorischer Nystagmus Dr. B a r ä n y) beiderseits normale Re¬
aktion. Auch auf dem Drehstuhl zeigen beide Vestibularapparate
typische nichtgesteigerte Reaktion. Auffallend sind nur die
heftigen Begleiterscheinungen des Drehnystagmus. Beim Anhalten
nach zehn Drehungen bei aufrechtem Kopfe wankt Pat. in un¬
bestimmter Richtung auf dem Sessel, fühlt sich ganz benommen.
Anamnestisch gibt Pat. an, daß er kurze Zeit nach dem Unfall
stärker an Schwindel gelitten habe als jetzt. Er bekam Schwindel
beim Bücken, beim Hinaufsehen, bei jähen Kopfwendungen,
wenn er aus der Kälte in ein warmes Zimmer trat, wenn er
auch nur wenig Alkohol genoß. Objektiv fand sich nur mehr
geringer rhythmischer Nystagmus bei seitlichen Endstellungen
der Augen und er zeigte hie und da eine geringe Verstärkung
bei Neigung des Kopfes nach rückwärts. Von besonderer Wichtig¬
keit war in diesem Falle die Untersuchung der Gegenrollung
der Augen mit dem von Vortr. konstruierten Apparate (siehe
auch Archiv für Ohrenheilkunde, Bd. 67). Diese ergab eine deut¬
liche Störung. Es wurde bei zwei an verschiedenen Tagen vor¬
genommenen Untersuchungen ein Wechsel der Rollung bei ein
und derselben Kopfstellung, das einemal von 6® das anderemal
von 10® konstatiert. Es ist dies ein Verhalten, wie es für Kranke
mit Schwindel vestibulären Ursprungs charakteristisch ist und
sich insbesondere bei traumatischen Fällen häufig findet.
Fuchs (bezüglich der Bemerkung von Schlesinger):
Eine gewisse geringgradige Dissoziation der Bewegung der Lider
kann ja gefunden werden, allein hier handelt es sich um eine
typische auffallende Erscheinung, ich konnte auch in der Literatur
nichts ähnliches finden. F 1 a t a u berichtet, daß G r a e f e auch
bei anderen Krankheiten vorkomme. Ich habe das niemals
gesehen.
F r a n kl-Hoch wart ist auch der Meinung, daß das
Grae fesche Symptom in ganz seltenen Fällen auch bei Leuten
Vorkommen kann, die nicht an Morbus Basedowii erkrankt sind
und überhaupt keine Nervensymptome haben. So zeigte Fr an kl-
Hoch wart einmal der verstorbene Internist H. F. Müller
einen mit leichten Darmsymptomen behafteten Menschen, der
das obgenannte Symptom, sonst aber keine Nervenerscheinungen
aufwies.
Schlesinger betont, daß er jedes Jahr dergleichen
Fälle gesehen habe u. zw. auch bei Nicht nervenkranken. Es
existieren übrigens doch einige analoge Literaturberichte.
Wintersteiner meint, daß man die fragliche Er¬
scheinung überhaupt nicht Graefe nennen kann. Graefe ist
doch kein der Willkür unterworfenes Symptom. Hierüber istes so,
daß, wenn Pat. aufgefordert wird zu fixieren, er zu grimassieren
beginnt und ein förmlicher Krampf in den Augenmuskeln und
im Frontalis auftritt. Sich selbst überlassen aber hat Pat. wieder¬
holt nach auf- und abwärts geblickt, ohne daß diese Erscheinung
aufgetreten wäre. Das sind Sachen, die man lernen kann. Kinder
z. B. lernen solche Grimassen vor dem Spiegel ; einer meiner
Schulkollegen hatte dieses Symptom sehr gut machen können.
Linsmayer erinnert, daß der bekannte Schauspieler
M i 1 1 e r w u r z e r, wenn er höchsten Schrecken darstellen wollte,
genau dieselbe Erscheinung absichtlich erzeugte, wie sie der
demonstrierte Fall bietet.
F o d o r hat vor wenigen Tagen ein 2jähriges Kind gesehen,
das von Geburt an mit den Augen sehr schlecht fixiert hat und
sehr lebhaft vagierende Bewegungen mit dem Bulbi vornimmt.
Bergmeister konstatierte dasselbe übermäßige Aufklappen der
Lider, wie bei Basedow. Auch in diesem Falle war die Erscheinung
deutlich durch einen Willkürakt verstärkbar.
4.1m Anschluß an den von Priv.-Doz. Fuchs demonstrierten
Fall, stellt Dr. B ä r ä n y einen ihm von Hofrat v. Wagner gütigst
überlassenen Fall aus der psychiatrischen Klinik vor.
Es handelt sich um einen 51jährigen Hilfsarbeiter, der im
Jahre 1900 ein schweres Kopftrauma mit längerer Bewußtlosigkeit
erlitt und seither an epileptischen Anfällen mit Bewußtseinsverlust
Zungenbiß, Urinverlust etc. leidet. Außerdem bestand seither hoch¬
gradige Schwerhörigkeit. Vor drei Wochen fiel Pat. von einem 5 m
hohen Holzstoß, war danach 18 Stunden bewußtlos. Seither be¬
steht angeblich Taubheit links, ob er gleich nach dem Unfall
stärkeren Schwindel hatte, kann er sich nicht erinnern (Pat. ist
sehr vergeßlich) ; jetzt leidet er nur in geringem Grade an
Schwindel, der zeitweise beim Bücken und bei rascherem Gehen
auftritt.
Die Untersuchung ergab. Fast vollständige Taubheit links,
rechts ehenfalls Schwerhörigkeit vom Charakter einer Erkrankung
des Kochlearapparates. (Das Trommelfell war beiderseits intakt ;
links fand sich eingetrocknetes Blut im Gehörgang [Verheilte
Trommelfellruptur?]). Ausspritzen mit kaltem Wasser ergab links
nur sehr geringe, rechts normale Reaktion. Die Untersuchung der
Gegenrollung ergab kein ausgesprochen pathologisches Verhalten.
Es konnte daher bereits aus diesem Befunde die Diagnose auf
eine Läsion des Vestibular- und Kochlearapparates links (wahr¬
scheinlich Blutung) gestellt werden. Es war jedoch die Frage, ob
diese Läsion auf das im Jahre 1900 oder auf das vor drei Wochen
erlittene Trauma zu beziehen war. Hier brachte die Untersuchung
des Drehnystagmus Aufschluß.
Bei der am 9. Februar, 16 Tage nach dem Unfall, vorge¬
nommenen Untersuchung fand sich nämlich beim Anhalten nach
10 Rechtsdrehungen nur sehr geringer Nystagmus (15 Zuckungen
in 14 Sekunden), beim Anhalten nach 10 Linksdrehungen aber
normaler Nystagmus (46 Zuckungen in 26 Sekunden). Eine Woche
später hatte sich dieser Befund wesentlich geändert ; nun war
sowohl nach 10 Rechts-, wie nach 10 Linksdrehungen nur sehr
geringer Nystagmus (12 bis 15 Zuckungen in 13 bis 16 Sekunden)
vorhanden. Es ist dies ein Verhalten, wie es nur nach frischer
Ausschaltung eines vorher funktionierenden Vestibularapparates,
also insbesondere nach akuten Labyrintheiterungen oder nach
operativer Entfernung eines funktionierenden Labyrinthes vom
Vortr. beobachtet wurde. Die Erklärung dafür liegt in einer
Adaption der Zentren. Dieses Verhalten läßt die Diagnose auf
eine Schädigung des linken Vestibularapparates durch das zuletzt
erfolgte Trauma mit Sicherheit stellen.
5. Dr. Artur Schüller spricht über Halisterese der
Schädelknochen bei intrakraniellerDrucksteige-
r u n g. Bekanntlich wird bei gesteigertem Hirndruck sehr häufig
die Innenfläche des Schädels usuriert. Diese Usurierung macht
sich dem tastenden Finger als eine Rauhigkeit der Schädel¬
innenfläche bemerkbar, oder es kommt zur Bildung von Defekten.
Solche finden sich begreiflicherweise zuerst an den dünnen
Knochenvorsprüngen, welche die Sella turcica umrahmen (Sattel¬
lehne, Processus clinoidei) ;am Schädeldach werden die Impressiones
digitatae vertieft, so daß die Juga prominenter erscheinen; man
kann dies meist im Bereiche des Stirnbeins am deutlichsten
wahrnehmen. Bei den höchsten- Graden der Usurierung wird die
Schädelkapsel dermaßen ausgehöhlt, daß eine Dehiszenz derselben
eintreten kann.
Die genannten Schädelveränderungen konnten bisher klinisch
nicht diagnostiziert und daher praktisch nicht verwertet werden.
Mit Hilfe der röntge nographischen Untersuchungsmethode
jedoch, ist man imstande, die durch den gesteigerten Hirndruck
hervorgerufenen Usuren in vivo zu erkennen.
Von besonderem Interesse ist es, daß sich am Röntgenbilde
Verdünnung und Verkürzung der Sattellehne und Processus clinoidei
manifestieren kann in Fällen, wo die genannten Teile bei der
Sektion keine Formveränderung erkennen lassen, wo erst die
Möglichkeit, mit einem Skalpell die Sattellehne einzuschneiden,
daraufhinweist, daß eine Abnahme des Kalkgehaltes jener Knochen¬
teile stattgefunden hat.
Schüller demonstriert das eben erwähnte Verhalten an
zwei Fällen von Tumor cerebri, welche an der Klinik v. Wagner
zur Beobachtung kamen. In beiden Fällen ließ sich bei der Sektion
außer der Weichheit der Sattellehne keine Hirndruckveränderung
der Schädelkapsel nachweisen. In einem der beiden Fälle konnte
überdies ein interessanter Nebenbefund konstatiert werden : das
Vorhandensein einer tief einschneidenden Knochenfurche an der
Innenfläche des Schädeldaches, beiderseits ungefähr dem Verlaufe
der Kranznaht folgend. Es handelt sich um eine ziemlich seltene
Varietät, nämlich um die Ausbildung des Sinus sphenoparie¬
tal i s (Merkel).
Diskussion: v. Wagner möchte fragen, ob es sich
bei dieser Venenfurche nicht um einen Atavismus handeln könnte.
Bei Hunden nämlich erfolgt der Abfluß des gesamten venösen
Blutes aus dem Schädelinnern durch einen Ast der Jugularis
externa, welcher durch ein bestimmtes Foramen geht.
Eine Frage v. Frankls, ob nicht systematische Unter¬
suchungen über das histologische Verhalten des Schädels bei
Hirntumoren vorliegen, verneint Schüller.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 1:J
Wiesel: Beim Herausnehmen der Hypophyse ist mir oft
aufgefallen, daß die Sella sehr leicht eingeschnitten werden kann;
ich will nicht sagen, daß dies etwas normales ist, allein sicher
kommt es vor, auch ohne endokranielle Drucksteigerung.
6. Stern demonstriert Präparate zum Verlaufe und der
Histologie des P i c kschen Bündels (erscheint demnächst aus¬
führlich).
Obersteiner betont, daß dergleichen Detailarbeiten oft
viel mehr Wert haben, als den der einfachen Konstatierung, der
Tatsache an sich und erinnert an die Arbeit von K a r p 1 u s und
Spitzer.
B. Der angekündigte Vortrag von Hirschl ,, Syphilis und
Dementia praecox“ wurde wegen vorgerückter Stunde über An¬
trag V. Wagners für die nächste Sitzung vertagt.
Wissenschaftlicher Verein der Militärärzte der
Garnison Wien.
Sitzung vom 26. J a n u a r 1 907.
Begimentsarzt Priv.-Doz. Dr. Reuter demonstriert die ana¬
tomischen Präparate einer Lysol Vergiftung und erörtert an¬
schließend an diese Demonstration kurz das toxische Verhalten
des Lysols, die klinischen Erscheinungen und den anatomischen
Befund, sowie die therapeutischen IMaßnahnien hei rlieser Ver¬
giftung.
Regimentsarzt Dr. Sc hei dl spricht über die Erkrank angen
dos Wunnfortsatzes, .mit spezieller Berücksichtigung diagnostischer
^Momente und betont in der Einleitung,“ daßi man die für Wurm¬
fortsatzerkrankungen charakteristischen Anfälle durch eine sympto¬
matische Behandlung zwar heilen könne, aber nur bis zur nächsten
Attacke. Will man aber die Krankheit heilen, so vermag dies
einzig und allein die Operation. Diese Erkenntnis ist hei dem
so allgemeinen Interesse für diese Erkrankungsform so lief in
die Laienkreise gedrungen, daß die allermeisten sich einer vor¬
geschlagenen Operation bedingungslos unterwerfen, ln einer
kurzen Statistik wird vom Vortragenden die in den letzten Jahren
geradezu kolossale Zunahme der Appendixoperationen auf seiner
Abteilung nachgeAviesen. Zur näheren Besprechung teilt er die
AppeiKlixerkrankungen in zwei große Gruppen ein, in Appendicitis
simplex und Appendicitis perforativa, Vielehe beiden Formen durch
das so bedeutungsvolle Moment der Perforation scharf vonein¬
ander getrennt Averden. Nach einer kurzen Besprechung der Sym¬
ptome, der Therapie der Aniälle, der Untersuchungsergebnisse
und der Befunde bei der Operation,' Avelche ja einer Autopsie
gleichkonnnen, bespricht derselbe die.Amn ihm geübte und durch
viele Operationsbefunde als richtig erkannte Methode, na(’h wel¬
cher man sich ein ziemlich zutreffendes Bild über die bei der
Operation sich vorfindenden Verhältnisse machen kann, da durch
ein richtiges Deuten der subjektiven Angaben des Kranken und
des objektiven I'ntersuchungsergehnisses die Lageverhältnisse des
Wurmfortsatzes, des Netzes etc. richtig eingeschätzt werden
können. Täuschungen sind natürlich bei einem so vielgestaltigen
Krankheitsbild, Avie es eheii die Wurmfortsatzerkrankungen dar¬
stellen, nicht ausgeschlossen, bestätiigen aber gewiß nur die
oben als Regel vorausgesetzte Korrelation Amn Symptomen und
dem Untersuchungsbefund einer- und dem Operationsbefund
anderseits.
Diskussion: Oberstabsarzt Prof. Pick bemerkt: Es ist
wohl eine feststehende Tatsache, daß zahlreiche Fälle von Appen¬
dizitis hei konservativer Behandlung zur Heilung gelangen, doch
Avissen wir, daß die Operation das einzige Mittel ist, um mit
Sicherheit einem eventuellen RezidiA" der Krankheit vorzubeugsn.
Der Umstand, daß' die Aid. und der Verlauf der folgenden
Anfälle nicht voraus bestimmt werden kann, hat dazu geführt,
daß man die Operation auch auf die Appendicitis simplex aus¬
dehnte.
Die Diagnose der Erkrankung des Wurmfortsatzes ist in
vielen Fällen eine außerordentlich scliAAÜerige, da neben den aus¬
gesprochenen Krankheitshildern auch solche Vorkommen, deren
Deutung nicht mit absoluter Sicherheit möglich ist. Es ist daher
begreiflich, Avenn im Falle des ZAveifels die berechtigte Angst
vor schlimmen Eventualitäten zur Veranlassung Avird, auch in
solchen Fällen zu operieren, bei Avelchcn sich dann hei der
Operation eine geringe oder überhaupt keine Veränderungen des
Wurmfortsatzes nacliAveisen lassen.
Der Grund liegt idien in der noch unzureiidienden Diagnostik.
Regimentsarzt l’riA'.-Doz. Dr. Reuter berichtet in Kürze
über das Ergebnis der histologischen Fntersuchung von 45 Ap¬
pendizes, Avelche er iin Laufe des Jahres 1906 in dm- Prosektur
des Garnisonsspitales Nr. 1 zu untersuchen Gelegenlieit halte.
Das ^laterial entstammte zum größten Teil der Abteilung des
Stabsarztes v. Wolff, zum geringeren Teil der des Regiments¬
arztes Sc hei dl. Unter diesen 45 Fällen fanden sich 82 akute
und 13 chronisch - rozidiAÜerende Formen. Nur in einem 'Udl
der Fälle konnte Reuter Fremdkörper oder eingedickte Kol¬
massen im Lumen des M^urmfortsatzes iiachAveisen, in der jMehr-,
zahl der Fälle Avar dasselbe frei. Nach Schilderung der normalen
Verhältnisse des Wurmfortsatzes geht der Vortragende sodann
auf die von Aschhoff (Ueher die Topographie der Wurmfort¬
satzentzündung, Verhandlungen der deutschen pathologischen Ge¬
sellschaft 1904, H. 7, S. 246) veröffentlichten Untersuchungen
des Näheren ein und bemerkt, daß er die von A sch hoff näher
charakterisierten Formen der Appendicitis acuta, den Wand-
ahszeß und die pseudomembranöse Schleimhautentzündung in
einem Teil seiner Fälle vorgefunden habe. Da Reuter bei den
chronisch rezidivierenden Fällen konstant eine Oblite¬
ration des distalen Endes des Wurmfortsatzes vorfand, so schließt
er sich der Ansicht jener an, die in dieser Obliteration den Aus¬
gang eines Entzündungsprozesses sehen.
Regimentsarzt Dr. Preßlich hält seinen angekündigten
Vortrag : Ueher P y r a m i d o b e h a n d 1 u n g des Typhus a h-
dominalis. (Erscheint ausführlich anderen Orts.) ^
S i l z u n g V 0 m 9. F e h r u a r 1907.
Regimentsarzt Dr. Set tm ache r demonstriert eine Reihe
instruktiver Röntgenbilder.
Regimentsarzt Dr. lg. Hbf er bespricht einen Fall Aron
otogener Sinusthrombose, die hei einem Soldaten im Anschlüsse
an eine akute Mittelohrentzündung aufgetreten Avar.
Nach kurzer Erörterung über die otitische Pyämie spricht
der Vorti'agende über die Entstehungsürsaclie, Bakteriologie und
EntstehungsAveise der Sinlisthromhose, über die Ausdehnung der
Thrombenbilduiig ; führt einige statistische Zahlen an, bespricht
sodann die Symptomatologie der Thrombose des Sinus trans-
versus und speziell auch des Sinus cavernosus, dann die Diagnose,
Prognose und den Verlauf. Bei Besprechung der Therapie Averden
die Indikationen der Jugularisunterbindung besonders hervor¬
gehoben, ebenso die Gefahren der Luftaspiration und deren
Vermeidung.
Der Fall, den der Vortragende operierte, war eine obtu¬
rierende Thrombose des Sinus transversus rechterseits, welche
im Anschlüsse an eine akute eitrige Otitis rechterseits auftrat;
es kam . im Verlaufe derselben schon in der zweiten Woche zum
Aufli-elen von typischem intermittierenden Fieber mit Tages¬
differenzen bis zu 3-2'’, zu Schüttelfrösten; in der dritten Woche
gesellten sich Erbrechen, Gelenksschmerzen im linken Schulter-
gelenk und Diarrhöen dazu, welche Symptome die Diagnose
Sinuslhrombose rechtfertigten. Die Operation ergab einen
perisinuösen Eiterherd um den Sinus sigmoideus herum. Die
Punktion des Sinus Avar negativ, die Inzision wies Thromben
nach; hierauf Freilegung des Sinus bis zum oberen Knie des¬
selben, nach unten bis zum Bulbus venae jugularis; Spaltung des
ganzen Sinus und Ausräumung der Thromben, Avobei es vom
Bulbus her zu bluten begann, Tamponade des Sinus mit Jodo-
formgazestreifen, einige Hautnähte, Verband.
Die Untersuchung des perisinuösen Eiters ergab Strepto¬
kokken. Eine Unterbindung der Vena jugularis Avurde unterlassen,-
weil erstens der Thrombus nur an einer Stelle ei’Aveicht Avar,
die SinusAvand Aveiter nach ahAvärts gesund aussah, ebenso Avie
der Knochen und der Thrombus vollkommen entfernt Averden
konnte; zweitens, nian die Jugularisunterbindung bei Weiterbe¬
stehen des pyämischen Fiebers auch später noch machen konnte
und drittens, Aveil eine Amreilige Jugularisunterbindung Amr der
Operation bei Nichtvorhandensein einer Thromhose eine vSta'rke
Knochenblutung bei der Operation zur Folge hat, Avas sehr lästig
sein kann. Der Aveitere Krankheilsverlauf Avar normal, der Kranke
genas nach fünf Wochen.
Der Vortragende bemerkt zum Schlüsse, daß das Bild der
otitischen Pyämie auch für den Militärarzt Avichtig sei, da das
Schicksal solcher Kranker Amr allem daAmn abhängt, ob sie recht¬
zeitig dem Otochirurgen zugcAviesen Averden, da sonst der un¬
bedingt notAvendige chirurgische Eingriff unterbleibt oder viel¬
leicht zu spät unternommen AAÜrd.
Regimentsarzt Dr. Gustav Pollak hält den angekündigten
Vorti'ag: Zur Epidemiologie des Typhus abdominalis.
(Siehe unter den Oiiginalien in Nr. lü dieser Wochenschrift.)
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch (len 8. April 1907, Anfang 7 Uhr.
Programm:
1. Demonstrationen. — 2. Diskussion über den demonstrierten Fall
Hajeks: Ueber rezidivierenden Glottisspasmus (wahrscheinlich Tetanie).
Nach der Sitzung gesellige Zusammenkunft im Riedhof.
Der Sekretär.
VtrantworUicher Rtdaktaar: Adalbert Karl Trapp. Verlag von Wilhelm Branmtfller in Wien.
Drnok von Brnno Bartelt, Wien, XVIII.. TheresiengasBe 8.
rr- ^
Die
,,WIeuer klluisclie
■WoclieiiScUrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
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Zuschriften für die Redaktion
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unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
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Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Sebattenfrob, F. Sebauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. y. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
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J
Verla^sh andlung:
Telephon Nr. 17.618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien, 4.
INH
1. Origiiialarlikel : 1. Aus der k. k. Universitätsklinik für Hais¬
und Nasenkrankheiten in Wien. (Vorstand: Prof. 0. Chiari.)
Zur ösophagoskopischen Diagnose der idiopathischen Speise-
röhrenerweiterung. Von Dr. Emil G 1 as, Assistenten der Klinik.
2. Aus der 11. chirurgischen Abteilung der k. k. Rudolfstiftung.
(Vorstand: Primarius Priv.-Doz. Dr. ü. Föderl.) Ueber sub¬
kutane Darmrupturen. Von Dr. Anton v. K h a u t z jun.
Assistenten der Abteilung. ’
3. Aus der medizinischen Klinik der Universität in Lemberg.
(Direktor: Prof. Dr. Gluzihski.) Ein Beitrag zur Frage der
Polyglobulie. Von Dr. N. Schneider, ehern. Demonstrator
der Klinik.
4. Zwei Fälle von diffuser Peritonitis appendicularis mit nach¬
folgendem Darmverschluß. Von Dr. Erwin Nießner,
Ordinarius des deutschen Ritterordens-Spitales in Troppau!
II. Ueterale; Ueber die Fürsorge für kranke Säuglinge. Von
Prof. Dr. A. S c h 1 o ß m a n n. Säuglingskrankenpflege und
Säuglingskrankheiten. Von Dr. A. Bagin sky und Dr. Paul
Sommerfeld. Die Krankheiten der ersten Lebenstage. Von
Dr. Max Runge. Leitfaden zur Errichtung von Kindermilch-
April 1907. Nr. 14.
ALT:
anstalten. Von Edmund Suckow. Die Behandlung von Säug¬
lingen in allgemeinen Krankenhäusern. Von Prof. F. Wesener.
Vorträge über Säuglingspflege und Säuglingsernährung. Von
A. Baginsky, B. Bendix, J. Cassel, L. Langstein,
H. Neumann, B. Salge, P. Selter, F. Siegert und
J. Trum pp. Säuglingssterblichkeit und Wohnungsfrage. Von
E. Me inert. Schulhygiene. Von L. Burger st ein. Rückkehr
zur natürlichen Ernährung der Säuglinge. Von E. Hagen-
bach-Burckhardt. Die Säuglingsfürsorgestelle I der Stadt
Berlin. Einrichtung, Betrieb, Ergebnisse. Von Dr. A. Japha
und Dr. H. Neumann. Der akute Dünndarmkatarrh des
Säuglings. Von Dr. B. Salge. Grundzüge für die Mitwirkung
des Lehrers bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.
Von Dr. Fritz Kirstein. Die physikalische Therapie im
Kindesalter. Von Julius Zap pert. Ref.: Rudolf Poliak.
III. Aus yerscliiedeiieii Zeitschritteu.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichteu.
VII. Yerhaudluugeu ärztlicher Gesellschaften und Eougreßberichte.
Aus der k. k. Universitätsklinik für Hals- und Nasen¬
krankheiten in Wien. (Vorstand: Prof. 0. Chiari.)
Zur ösophagoskopischen Diagnose
der idiopathischen Speiseröhrenerweiterung.
Von Dr. Emil Glas, Assistenten der Klinik.
Entferniiiig von Fremdkörpern ans dem (desophagus,
Diagnostizieren von Oesopliagnsstenosen, narbigen Strik-
turen, beginnenden Karzinomen, LaugenverätzuRgen n. a.
gehören mm fast schon zum täglichen Handwerk unseres
Spezialfaches. Zu den selteneren Erkrankimgen der Speise¬
röhre, deren ösophagoskopischer Befund auch für den ge¬
übten Oesophagoskopiker von wesentlichem Interesse ist,
gehören die Divertikel und spindelförmigen Dilatationen der
Speiseröhre. Harm er hat auf Grund zweier an der Klinik
von ihm ösophagoskopierter Fälle jüngst eine Arbeit: Die
ösophagoskopische Diagnose des Speiseröhrendiverlikels, er¬
scheinen lassen, in welcher auf die Schwierigkeiten hei der
l^eurfeiinng dieser Fälle hingewiesen wird. Im nachfolgen¬
den sei auf Grund melirerer von mir an der Klinik öso-
phagoskopierter Fälle von idiopathischer Speiseröhren¬
erweiterung auf das Interessante dieser ösophagoskopi¬
schen Befunde hingewiesen, wobei betont sei, daß bereits
Mikulicz gelegentlich der Demonstration seiner ersten
Oesophagoskopieii, in der Sitzung der deutschen Gesellschaft
für Chirurgie vom Jahre 188‘2, auf dieses seltene Krankheits¬
bild hinwies und in ätiologischer Hinsicht auf die kardio-
spaslische Genese dieser Affektion aufmerksam machte. Seit¬
dem sind zahlreiche Arbeiten über Dilatationen erschienen,
welche A. Neumann im dritten Bande des Zentralhlattes
für die Grenzgebiete zusammengestellt hat, und die sich
auch zum Teile in den Arbeiten von Rosenheim, Stark,
Gottstein, Kraus, Dauher n. a. finden.
Ehe wir mm zur Analyse der diesbezüglichen öso¬
phagoskopischen Befunde gehen, seien zuerst im nachfolgen¬
den in Kürze die betreffenden Krankengeschichten wieder-
gegehen.
Fall I. G. R., ßOjähriger Kaufmann, sucht im Sommer 1906
die Klinik auf. Er gibt an, daß er häufig ein merkwürdiges
Druckgefühl im Gebiete der Speiseröhre habe, welches er zum
Teil auf seine Nervosilüt zurückführt. Doch gesellten sich vor
drei Monaten noch Schlnckhescliwerden hinzu, welche in letzter
Zeit wesentlich zunahnien, weshalb Pat. die Klinik aufsucliL
Flüssigkeiten kann Pat. gut schlacken, doch erzeugen feste Speisen,
zumal wenn sie nicht gut gekaut siml, ein Druckgefüld, das
er über den Mageneingang verlegt. Ißt er sclmell, so bemerkt er,
daß die Speisen nicht liinuntergleiten ; er ist der Meinung, daß
sie sich ,, irgendwo über dem Magen“ stauen. Diese Beoliachtimg
macht ihn oft aufgeregt und schlecht gelaunt. Auf den Rat eines
hefrenndeten Arztes hat Pat. sich eine Schlundsonde gekauft,
welche er jeden Morgen einführt. Hiebei fällt es ihm auf, daß
er an einer bestimmten Stelle einen Schmerz verspürt, welcher,
je weiter er die Sonde vorzuschieben sucht, um so stärker wird.
Manchmal kann er den sich ihm entgegenstellenden Widerstand
mit der Sonde überhaupt nicht überwinden. Dann läßt er die
Sonde eine Weile liegen und versucht nach einer Pause ein
weiteres Vorschiebeu, was ihm, falls er auf andere Momente
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
jtv>4;
sein Augeiiuierk richtet, gewöhiilicli gelingt, l’nt. hat guten
Appetit, trotzdem ist er in den letzten Monaten abgeniagert.
Sein Vater soll in seinen letzten Lebensjahren Paralysis agitans
gehabt haben.
Aus dem allgemeinen Status ist niclds von besonderer lle-
deutung hervorzuheben.
Die von dem Patienten mitgebrachle Scblundsonde wird
vorsichtig eingeführt und gelange anstandslos bis zu einer Ent¬
fernung von 41 cm von der Zahnreihe. Dort stößt die Sonde
auf einen starken Widerstand, welchen der Patient als den normal
bei ihm zu findenden bezeichnet. Nach schnellem flerausziehen
der Sonde fließen lüO cnP säuerlich riechender, mit Speiseresten
vcu’sehener Flüssigkeit nach, welche keine Salzsäure enthält, (ileich
darauf wird die Sonde ein zweitesmal eingeführt und nach einer
Pause mit dem Sondenende die Stelle des Widerstandes etwas
stärker gedrückt. Pat. macht eine tiefe Inspiration und hält dann
den Atem förmlich an; in diesem Augenblick konstatiert die
sondenführende Hand das Weichen des Widerstandes, die Sonde
gleitet anstandslos bis in den Magen (5Ü cm tief).
Am nächsten Tage wird der Rum pel sehe Versuch ge¬
macht. Eine an ihrem unteren Ende mit Löchern versehene Sonde
wird in den Magen geleitet, eine Nebensonde führt in den er¬
weiterten Speiseröhrenabschnitt. Eingießen einer Flüssigkeit durcli
die Nebensonde; bei gesenktem Trichter fließt dieselbe nicht
zurück.
Dieser Versuch soll das Bestehen einer Dilatation (gegen¬
über der Diagnose eines tiefsitzenden Divertikels) beweisen, doch
schließen wir uns den von Neumahn und Rosenheim dies¬
bezüglich gemachten Einwänden vollinhaltlich an.
Tags darauf ösophagoskopische Untersuchung. Die
Einführung des Üesophagoskopes gelingt trotz des Mangels einer
Zahnlücke bei gesenktem Kopfe in sitzender Stellung leicht. Kaum
ist jedoch das Rohr über die Ringknorpelenge etwa 4 cm hin¬
aus, so verlischt das Licht des Leiterschen Panelektroskopes'. Eine
große Menge säuerlich riechender Flüssigkeit ist zum Abfluß ge¬
kommen u. zw. so rasch, daß dieselbe nicht aufgefangen werden
konnte. Der Versuch, nun das Gesichtsfeld rein zu bekommen,
mißlingt anfangs. Alles Tupfen nützt nichts. Auch die Klyso-
pompe, die wir durch das Rohr einführen, vermag nicht die
ganze Flüssigkeit herauszupumpen, weswegen wir den Kopf des
liegenden Patienten noch stärker senken und den Patienten auf¬
fordern, WTirgbewegungen zu machen. Auf diese Weise gelingt
es, bei stark gesenktem Rohre die Flüssigkeit fast völlig heraus-
zubekommen und nach wiederholtem Austupfen ist das Gesichts¬
feld rein. Wir führen nun das Uesophagoskop vorsichtig bei
guter Beleuchtung weiter und konstatieren bei einer Entferiumg
von etwa 20 cm das Zurücktreten der blassen Oesophagusschleiin-
haut. Hier blicken wir in einen weiten Hohlraum, dessen Wan¬
dung uns anfangs völlig unsichtbar bleibt. Erst bei starker Drehung
des proximalen Tubusendes bringen Avir uns Teile der Wandung
zu Gesicht, Avelche minimale Faltenbildung zeigen, meist Amn
normaler Farbe sind und nur an Avenigen Stellen Auflockerung
der Schleimhaut erkennen lassen. Aus der großen Exkursions¬
fähigkeit des Rohres ist zu entnehmen, daß das Rohr in einem
großen Hohlraum sich befindet, dessen Wandungen mit Rück¬
sicht auf die geringe Fältelung und den Mangel vorspringender
Partien als festere, in einem gewissen Tonus befindliche er¬
scheinen. Wir lassen den Patienten tief atmen, doch treten keine
respiratorischen Bewegungen auf. Der Holilraum schließt sich
auch bei maximaler Exspiration nicht. Im bifurkalen Gebiete
li'oten pulsatorische Phänomene der hinteren Wandung auf, welche
synchi'on mit dem Pulse verlaufen. Das Rohr AAÜrd nun leicht
bis 40 cm von der Zahnreihe vorgescholren. Hier muß Avieder-
holl abgetupft Averden, ehe das Gesichtsfeld sich völlig rein dar¬
stellt. Dann sieht man einen von rechts hinten nach links vorne
verlaufenden Spalt, Avelcher von zwei stark vorspringenden W’ilsten
begrenzt erscheint, an deren Oberfläche feine Gefäßramifikatioiien
sichtbar sind. (Das ganze Bild erinnert an das einer Portio.)
Die Wülste schließen aidferordenllich enge aneinander und eine
eingeführte Darmsaite Amrmag absolut iiicht Amrzndringon. Aus
dem J\lagcn dringen Aveder Gas, noch Flüssigkeit herauf. Beim
Zurückziehen des Tubus ist nochmals Amn oben der Hohlraum
völlig zu überblicken und ist es bei entsprechend zentraler l’Tih-
i'ung des Rohres möglich, noch bei einer Entfernung von 30 cm
(von der Zahnreihe) die porlioarfige WTdstbildung in kardialem
Gebiete zu übersehen.
Fall H. 48jähriger Patient, Avar früher stets gesund. Vor
sechs Jahren erlilt er ein Trauma, indem ihm ein schweres Eisen¬
stück auf das Abdomen gefallen sein soll. Von diesem Unfall
erholte er sich bald Avieder, doch will er seitdem (vine gewisse
Nervosität beobachtet haben; hie und da Unrulie uni Schlaf¬
losigkeit. Vor ZAvei Jahren bemerkte er, daß . er feste Speisen
nicht 'mehr so gut Avie fiüher hinabsohlucken konnte. Er gibt
an, das Hindernis etwa in der Höhe der Magengrube Amrspürt
zu haben. Das Trinken von Flüssigkeiten ging anstandslos. Die
BeschAverden nalmien im Laufe der nächsten Monate zu, indem
das Hindernis größer zu Averden schien und Pat. oft und oft
schlucken mußte, um kleine Bissen hinunter zu bekommen. Lliebei
regte er sich manchmal sehr auf, so daß ihm das Blut zu Kopfe
stieg. Nachdem ihn ein Landarzt bougiert hatte, kaufte er sich
'.spontan eine Schlundsonde und übte selbst anfangs tägliclr ein¬
mal, dann öfter die Bougierung. Bougierte er vor dem Essen
u. ZAV. unmittelbar vorher, so sollen die kleingekauten Speisen
zumindest anfangs ganz gut in den Magen hineingelangt sein,
nach mehreren Bissen jedoch hatte er das Gefühl des ,,krampf-
hafteji Widerstandes“ im untersten Bereiche der Speiseröhre.
Hiebei stellte sich ein peinliches Druckgefühl an einer bestimmten
Stelle' ein. Flüssigkeit ging, Avenn er in einem Zuge größere
Mengen nahm, plötzlich prompt hinunter. Pat. gewöhnte sich
auch an Bougierungen nach dem Essen. Er gibt an, im Laufe
der Zeit eine gewisse Schlundrohrmassage gelernt zu haben,
Avelche darin bestand, daß er zuerst mit dem Bougieende die
Stelle, Avo sich der Widerstand fand, kräftig und Aviederholt
drückte. Konstatierte er dann das „Hineinschlüpfen“ der Sonde,
dann begann er zuerst langsam und dann etAvas schneller die
Bougie durch die verengte Stelle auf und ab zu bewegen, Avas
ihm, AA’ie er angibt, Avesentliche Erleichterung verschaffte. Da
er jedoch seit 14 Tagen stärkere Beschwerden hat und bei Son¬
dierung öfter die Sonde nicht über das Hindernis hinauszubring’en
vermag, sucht er die Klinik auf.
i'at. ist etAvas abgemagert ; äußerlich nichts Abnormes, Aveder
in der Bauchgegend, noch in der Supraklavrkulargmbe ein Tumor
zu konstatieren. Die Einführung der Schlundsonde gelingt leicht.
Dieselbe läßt sich bis 42 cm von der Zahnreihe leicht vor¬
schieben, dort stößt man auf ein Hindernis; bei stärkerem An¬
drücken der Sonde verspürt der Patient Schmerzen. Beim Her¬
ausziehen der Sonde macht Pat. regurgitierende BeAvegungen und
entleert hiebei löü cm^ einer alkalisch reagierenden Flüssigkeit.
Gleich darauf führt sich Pat. selbst die Sonde ein zAveites Mal
ein, schiebt sie langsam hinunter und macht, nachdem sich das
Hindernis auf das neue eingestellt, nun ein kompliziertes Schluck¬
manöver, indem er tief inspiriert und dann bei geschlossener
Slimmritze Avürgt; nun genügt ein geringer Druck und die Sonde
gleitet bis 50 cm anstandslos in den Magen. Beim Herausziehen
der Sonde hat man das Gefühl, als ob sich über dem Ende der¬
selben ein Ring zusammenziehen Avürde. Bis 30 cm heraus¬
gezogen, versuche ich die Wiedereinführung, Avas aber abermals
nicht gelingt, da der alte AViderstand (42 cm von der Zahnreihe)
sich aufs neue einstellt. Keine Flüssigkeit wird regurgitiert.
Die 0 es o p h a g o s k o p i e Avird noch an demselben Morgen
ausgeführt, da Pat. am Abend Avieder heimreisen Avill. (Die
Oesojjhagoskopie Avird allen Herren des Kurses demonstriert.)
Die Einführung des Rohres gelingt nach Ueberwindung der Ring¬
knorpelenge leicht. 20 cm von der Zahnreihe entfernt ändert
sich das bis dahin normale Bild. Hier legen sich nämlich Falten
vor das Tubusende, Avelche einerseits das Lumen zum Teil ver¬
legen, anderseits das Aveitere Vordrängen des Rohres an ein¬
zelnen Stellen scliAvierig machen. Tupfer müssen, da Speisereste
zAvischen den Falten wiederholt vordrängen, oft angewendet
Averden. Die Falten zeigen an mehreren Orten entzündete Schleim¬
haut inil Gefäßinjektion. Bei tiefer Respiration zeigen die Falten
nur geringe oder gar keine Mitbewegung, doch sind die ])ulsatori-
schen WTuidphänomene, zumal im infrabifurkalen Teile, deutlich
ausgesprochen. Bei starker Drehung des Rohres gelingt es, andere,
vorher nicht eingestellte \Vand])ariien sichtbar zu machen, Avelche
gleichfalls nicht von straff gespannter Schleimhaut ausgekleidet
sind, sondern deutliche Fältelung aufweisen. 35 cm von der
Zahnreihe ist das Vordrängen der quergestellten Falten so groß,
daß man das Lumen nicht Aveiter zu sehen vermag und sich der
vo]'geschol)ene Tubus Aviederholt in den faltigen Winkeln und
Buchten verliert, ohne Aveiter vorgedrängt Averden zu können.
Erst allmählich arbeitet sich das Rohr langsam durch. 40 cni
Amn der Zahnreihe ist die Schleimhaut stark injiziert, das Vor¬
schieben des Tubus bereitet dem Patienten Schmei'zen und bei
41 cm stößit das Rohr auf einen starken Widei’stand. Hier zeigt das
ösophagoskopische Bild rosettenartig aneinander gelagerte, gegen
ein punktförmig geschlossenes Lumen sich hindrängende, stark
gerötete Schleimhautfältchen. Trotz forcierter Inspiration und
energischer SchluckbeAA'eigung des Patieiden ist das liefere Vor-
drängeii des Tubus unmöglich. Erst nach Aviederholtem Betupfen
dieser Partie mit 20°'i'igem Kokain kommt es zu einem Zurück¬
treten der Roselten und das Oesophagoskop dringt in den Magen
Nr. li
Wiener klinische Wochenschrift. 1907,
ein, w'ü die rulsainlene Farbe der iMagensclileiiidiauL deullicli
yiclilbar wird. Kein Tnnior, keine Narben, keine Leukoplakie
’/Al sehen.
Fall III. (Die Oesopliagoskopie dieses Falles verdanke ich
dem einer. Assistenten der IV. medizinischen Abteilung des Pro¬
fessors Ko vacs, Herrn Dr. V oll bracht, der diesen interessanten
Fall in einer Arbeit: Zur Kenntnis des Schluckmechanismus bei
Kardiospasmus, einer eingehenden Würdigung unterzogen ha.t.)
Die Anamnese dieses l^itienten ergibt wechselnde,
auf Dilatation hinweisende Beschwerden. Anfangs waren es
nur schwerere Speisen, die stecken blieben, dann aber
auch Flüssigkeiten, während breiige Nahrung gut passierte.
Forcierte Atem- und Schluckbewegungen halfen dem Patienten
manchmal über das Hindernis. Längere Zeit wurde er
bougiert, dann durch Wochen init schottischer Dusciie auf
die iMagengegend behandelt; doch halfen ihm diese Kuren alle
nur vorübergehend, weshalb er im Dezember 1905 aufs neue
das Spital aufsuchte.
Es handelt sich um ein nervöses, leicht irritierbares,
35jähriges Individuum, dessen Urganbefund nichts Pathologisches
bietet. Bei Einführung von Bougien stößit man 39 bis 4IV2 cm
von der Zahnreihe auf elastischen Widerstand und gelingt es
nicht, diesen Widerstand zu überwinden. ,,Erst in allerletzter
Zeit konnte Bougie Nr. 16 vom Patienten selbst in den Magen
eingeführt werden und auch niir ist die Passage in letzter Zeit
gelungen.“ (Vollbracht.)
Pat. wurde nur einmal von mir ösophagoskopiert und
hiebei ein Befund erhoben, welcher dem^ des Falles 11 teilweise
gleicht: Die Einführung des Oesophagoskopes gelingt leicht; kaum
hat man jedoch das Rohr in eine Entfernung von etwa 30 cm
von der Zahnreihe gebracht, so strömt ein Strahl getrübter Flüssig¬
keit aus dem Rohre, zirka einen Viertelliter messend. Nachdem
die Flüssigkeit abgeflossen ist, erscheint die Oesophagusschleinr-
haut von normaler Farbe, doch zeigt sich bei tieferer Einführung
des Rohres eine starke Faltenbildung der Schleimhaut, welche
auf ca. 10 cm Länge deutlich zu konstatieren ist. Gleichzeitig
gelingt es, mit dem Ende des Oesophagusrohres ziemlich weit
reichende Bewegungen zu machen, wobei man die Empfindung
hat, daß man von seiten der üesophagusschleimhaut keinerlei
Widerstand begegnet. Eine unterhalb dieser Dilatation befind¬
liche Stenose oder ein Tumor ist nicht festzustellen, trotzdem
das 45 cm lange Rohr bis in den uidersten Bereich der Speise¬
röhre eingeführt wird.
Aus dem Röntgenbefund (Priv.-Doz. Holzknecht) sei mit¬
geteilt, daß die untere Hälfte des intrathorazischen Oesophagus
von den aufgenommenen Wismutingesten unter je nach der Menge
verschieden großer Dehnung bis zur Unterarmdicke und Keuien-
form (dickes Ende an der Kardia) ausgebreitet wird. Fine Ent¬
leerung des Sackes findet bei ruhigem Verhalten des Patienten
nicht statt. Dagegen tritt bei dem Schluckmanöver des Patienten
(y a 1 s a 1 va scher Versuch + Luftschlucken bei geschlossener
Glottis) der Inhalt des dilaiierten Oesophagus unter gleichmäßig
langsamem Ausfließen in der Zeit von 20 bis 25 Sekunden in
den Magen. Dabei läßt sich das ebenso gleiclnnäßig sinkende
Niveau, welches entsprechend der Erweiterung des Oesophagus
allmählich breiter wird, bis zu seinem anscheinend an der Kartlia
gelegenen Ende verfolgen. Das dabei keineswegs kollabierende
Oesophaguslumen erscheint mit Gas gefüllt. Die Gasfüllung
schwindet am Ende der Entleerung plötzlich unter Kollaps der
\\ ände, unter fühl- und hörbarem, gurrenden und zischenden
Geräusch im linken Hypochondrium
Fall IV. Pat. erscheint im Juli 1905 mit folgender von ihm
selbst geschriebener Anamnese an der Klinik: ,,lch bin Schuster
und jetzt 57 Jahre alt. Meine Krankheit hatte im Jahre 1894
ihren Anfang. Im Monat Juni dieses Jahres habe ich noch des
Morgens nieinen Kaffee getrunken iind bin dann in die Stadt
gegangen, ohne etwas zu spüren. Um 10 Uhr ging ich in ein
(lasthaus und kaufte mir ein Stück Fleisch. Als ich dieses ge¬
schnitten hatte und ein Stück essen wollte, konnte ich es nicht
inehr herunterbringen. Es kam Schleim herauf, aber essen konnte
ich nichts. Ich bin damals gleich zum Herrn Prof. Schrötter
gegangen, durch 14 Monate ging ich hin. Dann ein Jahr zum
Prof. Albert, dann war ich in der Ambulanz bei Prof. Hacker,
aber alle Behandlung war erfolglos. Meine Krankheit hat sich
nur insofern gebessert, als ich doch jetzt mit vieler Mühe etwas
hinunlerbringen kann.“
Pat. ist stark abgemagert. Sonst ist der somatische Befund
normal. Gleich nach der Aufnahme des Patienten wird die Son¬
dierung vereucht, welche anstandslos gelingt. Nach Ueberwindung
eines 40 cm von der Zahnreihe gelegenen Hindernisses gleitet
die Sonde leicht in den Magen. Nach dem Herausziehen der
405
Sonde kommt eine Menge von 100 cnr‘ alkalisch reagierender
llüssigkeit nach.
Oesopliagoskopie: Einführung des 45 cm -Rohres von
13 mm Querschnitt. Nach starkem Rückwärtsbeugen des Kopfes
gelingt die yeberwindung der Ringknorpelenge leicht. Charak-
teiistische iiichteiform des oberen Oesophagusabschnittes mit
losetlenfüimigem Abschluß'. 30 cm von der Zahnreihe entfernt
ist eine auffallende Fältelung der Wandung sichtbar, deren
Schleimhaut staike Injektion der oberflächlichen Gefäßchen zeigen.
Zwischen den leicht wegdrängbaren Falten Speisereste. An ein¬
zelnen vorspringenden Stellen (den Kämmen dör Falten) fest¬
haftende Membranen, die mit der Pinzette entfernt werden. (Hefe-
pilze und Leptotbrix mikroskopisch nachweisbar.) Im Gebiete
dei Kieuzungsstelle des linken Bronchus mit der Speiseröhre
ist das Vordrängeii des Rohres mitten zwischen den stark vor-
spiingenden Falten, die in dieser Gegend dichter gedrängt er¬
scheinen, schwierig. Ein stärkeres Rechtsdrehen des Rohres führt
zum Ziele. Bei tiefer Respiration weisen die Wandungen keinerlei
Veränderungen auf. Doch werden gerade in diesem Abschnüt
lebhafte peristaltische Bewegungen wahrgenommen. Die Gegend
des Zwerchfellhiatus passiert der Tubus ohne größere Schwierig¬
keit, um schließlich 39 cm von der Zahnreihe entfernt auf einen
größeren Widerstand zu stoßen, der bei 40 cm im Augenblick
nicht zu überwinden ist. Das Bild dieser Gegend zeugt sich
als ein von zwei stark vorspringenden, mit injizierter Schleim¬
haut versehenen LippenWülsten begrenzter Spalt, welcher, von
rechts hinten nach vorne verlaufend, im Augenblick der Unter¬
suchung völlig geschlossen ist. Weder Respirationsbewegungen,
noch Schlucknianöver können für den Augenblick diesen krampf¬
haften Verschluß aufheben. Erst wiederholtes Kokainisieren der
Lippenwülste bringt nach einigen Minuten den Krampf zum
Schwinden, das Rohr überwindet den Widerstand und gleitet
in den Magen. Beim Zuiäickziehen des Rohres verspürt die
führende Hand keinerlei Zug oder Druck im kardialen Gebiet
und gelangt in den weitfaltigen, infrabifurkalen Oesophagus-
abschnitt, in welchem die Exkursionsmöglichkeit des Oesophago¬
skopes besonders auffallend zutage tritt.
Der Röntgenbefund, den ich der Liebenswürdigkeit des
Heian^ Priv.-Doz. Holzkjiecht verdanke, lautet folgendermaßen :
Die Wismutingesten füllen fast in der ganzen verabreichten Menge
einen mäßig längsgedehnten Alagen (große Kurvatur in Nabel-
höhe), welcher radiologisch keine groben anatomischen Ver¬
änderungen seiner Wand und keine abnormen Beziehungen zu
seiner Nachbarschaft zeigt. Ein Teil der verabreichten Ingesten
jedoch bleibt stets in dem untersten Abschnitt des Oesophagus,
wo sie in einer mächtigen, s a c k a r t i g' e n, drei bis vier
Q u e r f i n g e r breiten, spindelförmigen Dilatation Platz
finden. (Vgl. die diesbezüglichen Radiogramme.)
Fig. 1.
Dorso ventrale Durchleuchtung (Thorax von vorne
gesehen) nach vorausgehender Einnahme einer Mahlzeit, aus 300 g
Gries in der Milch und 25 g Bismutum subnitricum bestehend.
(Nach der Pause des Schirmbildes gezeichnet.) Der zwischen
den hellen Mittelfeldern hegende Mediastinalschatlen zeigt den,
wie stets in diesen Fällen, sich mehr nach rechts hin aus-
breitenden, kolbenförmig enveiterten Oesophagus. Nur geringe
Mengen der Mahlzeit sind im Laufe der Untersuchung in den
Magen gelangt.
Durchleuchtung in der ersten schrägen Richtung (Thorax
von rechts vorne gesehen). Die Wii'belsäule weicht nach rechts,
das Herz und der Gefäßischatten nach links zurück. Der Oeso¬
phagus zeigt in dieser Richtung einen viel schmäleren Quer-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
4uö
durchmesser. Der QaerschiiiU. des Lumens, aus beiden Bildern
ermittelt, ist also oval mit der größten Ansdelmimg in nngetähr
querer Richtung, was aus den räumlichen Verhältnissen im
Mediastinum begreiflich wird.
Fig. 2.
Diese vier genau beobachteten, ösophagoskoi)ierten und
zum Teil auch röntgenisierten Fälle idiopathischer Speise-
rohrenerweiterung beweisen die Wichtigkeit der ösophago-
skopischen Untersuchung , in derartigen Fällen. Denn, wie
ich bereits anläßlich der V'orstellung des Voll bracht sehen
Falles in der Gesellschaft für innere Medizin betont habe,
ist erst der ösophagoskopische Befund für das Fehlen einer
anatomischen Ursache der Dilatation beweisend und erst
durch die üesophagoskopie können die sekundären, ober¬
halb anatomischer Stenosen sich etablierenden Dilatationen
von den idiopathischen, ,, spindelförmigen“, mit Sicher¬
heit geschieden werden, ein Moment, auf welches
bereits Rosenheim des besonderen aufmerksam ge¬
macht hat. Wenn auch der Wert der internen Unter¬
suchung und der verschiedenen, zum Nachweise idiopathi¬
scher Dilatationen ersonnenen Metlioden nicht herahgesetzt
werden soll, so ist doch derzeit bereits zur Genüge bekannt,
daß liefsitzende Oesophaguskarzinome, heginnende Karclia-
karzinome und feine narbige Prozesse im ösophagealen
Rohre zuerst und ausschließlich durch das Oesophagoskop
erkannt werden können und darum in solchen Fällen —
es sei zum Beispiel hier auch der Fälle mit Dilatation
idiopathischer Natur -p Oesophaguskarzinom gedacht —
stets ösophagoskopiert werden soll. Wir können uns darum
dem Urteil Kellers absolut nicht anschließen, der kürz¬
lich bei Besprechung des S traußschen Eudiometers (zwecks
differentialdiagnostischer Verwertung) mit Rücksicht auf die
sich darbietenden technischen Schwierigkeiten der Oeso-
phagoskopie in Fällen spindeltörmiger Dilatation nicht jenen
hohen Wert beimißt, welcher ihr hiebei zukommt.
WTe aus den von uns ösophagoskopierten Fällen her¬
vorgeht, findet sich fast stets ein ziemlich einheitliches
Bild bei der idiopathischen Speiseröhrenerweiterung, wie
es bereits von den Autoren des genaueren beschrieben
wurde ; Das Rohr zeigt in dem dilatierten Abschnitte große
Exkursionsfähigkeit, die zurückgehaltenen Flüssigkeiten und
Speisereste drängen sich durch den eingeführten Tubus
heraus, die Reinigung des Gesichtsfeldes ist oft mit großen
Schwierigkeiten verbunden. Ist dieselbe gelungen, dann über¬
sieht man bestimmte Wandpartien: ln dem dilatierten Ab¬
schnitt gelingt es uns nicht, im selben Augenblicke die ganze
Zirkumferenz zu überblicken. Die Schleimhaut befindet sich
meist im Zustande der Entzündung, die vorspringenden
Kämme zeigen häufig Membranautlagerung, Auflockerung
und Gefäßinjektion. Die Schleimhaut lagert faltenartig vor
dem Tubusende und ist oft nur mit Schwierigkeit weg¬
zudrängen. ln den zwischen den Falten befindlichen W'ellen-
lälern finden sich nicht selten auch nach gründlicher Reini¬
gung Speisepartikelchen. Respiratorische Bewegung der öso¬
phagealen Wandpartien fehlt oder ist zumindest wesent¬
lich eingeschränkt, ln allen unseren Fällen fanden wir nehen
der Dilatation das Bild des Spasmus in kardialem Gebiete.
(Hiebei ist das Bild dasselbe, ob nun der Spasmus im
Gebiete des Hiatus oesophageus, oder tiefer unten zu linden
ist.) Ro'settenartiger Verschluß des Rohres, mit starkem Vor¬
springen der Fältchen, das konzentrisch gelegene Lumen
fest verschlossen, die Schleimhaut dieser Partie gewöhnlich
entzündet, verdickt, gerötet, auch leicht blutend. Manchmal,
wie im Fall I und IV, portioartig, mit stark vorspringenden
Lippenwülsten und einem schmal zusammengedrängten, von
rechts hinten nach links vorne verlaufenden Spalt. Ueber
das merkwürdige ösophagoskopische Bild des Falles I,
welches in der Literatur nur ein Analogon hat (R o s e n h e i m,
Beiträge zur Kenntnis der Divertikel und Ektasien der Speise¬
röhre) sei noch weiter unten des genaueren gesprochen.
Zunächst seien hier in differentialdiagnostischer Be¬
ziehung einige Momente besonders hervorgehoben.:
I. Gegenüber dem ösophagoskopischen Bilde
n o r m a 1 e r W a n d p a r t i e n.
Erst sei zum besseren Verständnis dieser Verhältnisse
darauf hingewiesen, daß das ösophagoskopische Bild in ver¬
schiedenen Höhen ein wesentlich verschiedenes ist, wie
aus den zahlreichen in der Literatur niedergelegten Unter¬
suchungen normaler Fälle zu entnehmen ist und wovon
sich auch jeder Oesophagoskopiker allezeit überzeugen kann.
So gibt es Stellen im Schlundrohr, welche bei tiefer Respi¬
ration mit dem Bilde der Dilatationen Aehnlichkeit haben,
wobei es zur Faltenbildung in der Wandung und zur Hohl¬
sicht kommen kann, ohne daß es sich jedoch um einen
pathologischen Prozeß handeln würde. Dies ist besonders
im infrabifurkalen Teil der Speiseröhre der Fall. So ist
die Beobachtung von Stark ganz richtig, welcher bei Be¬
schreibung des ösophagoskopischen Bildes der normalen
Speiseröhre über Faltenbildung in diesem Gebiete Mitteilung
macht, welche mitunter weit ins Lumen vorspringen. ,,Dann
gleichen die oberhalb der Vorbuchtung belindlichen Wellen¬
täler auf den ersten Blick divertikelartigen Ausstülpungen;
man erlangt aber sofort Klarheit über die wahren Verhält¬
nisse, wenn man mit dem Rohr die Falte verstreicht und
die verdächtige Stelle über dem Tubusende anspannt. Auch
die Farbe, die in solchen faltigen Einbuchtungen dunkelrot
oder dunkelblaurot erscheint, nimmt bei Anspannung der
betreffenden Stelle das normale Blaßrosa an.“ Wichtig er¬
scheint uns diesbezüglich die respiratorische Verschieblich¬
keit, welche hei dem Falten werk dilatierter Wandpartien
entweder völlig aufgehoben ist oder doch zumindest wesent¬
lich herabgemindert erscheint.
Nicht minder wichtig ist die Kenntnis der Engen,
welche das ösophagoskopische Rohr zu überwinden hat und
welche Jonnesco als die Ringknorpelenge, die Aorten¬
enge, die Bronchialenge und die Diaphragmaenge be¬
schrieben hat. Anderseits muß erwähnt werden, daß es
namentlich zwei Stellen sind, wobei es 'zu einer Abweichung
des Rohres nach links kommt : das sind die Partien zwischen
Ringknorpelenge und Kreuzung des Schlundrohres mit dem
Aortenbogen und dann die Partie unterhalb des siebenten
Brustwirbels knapp oberhalb jener Stelle, wo der Oeso¬
phagus vor der Aorta zu liegen kommt. Diese zwei Ab¬
weichungen sind von großer Wichtigkeit. Ein gerade ein¬
geführtes Rohr wird, wenn es die primäre Richtung bei-
behält, Anteile der rechten Wand deutlicher einzustellen
vermögen als Par lien der linken und auf diese Weise können
leicht Trugbilder zustande kommen. Nur wenn man in ge¬
nauer Kenntnis dieser anatomischen Daten etwa dem Ring¬
knorpel entsprechend (siebenter Halswirbel) und bei Beginn
der zweiten Abweichung (siebenter Brustwirbel) die
Direktion des Rohres nach links richtet, wird man das
richtige Bild des Oesophaguslumens erhalten. Dann nehme
man auch hier, wie bereits oben betont, auf die respiratori¬
schen Schwankungen entsprechende Rücksicht. Es kann
recht wohl geschehen, daß hei tiefer Atmung das Lumen
sich wesentlich weitet und man in einen weiten Hohlraum
hineinsieht, welchen der Ungeübte als Dilatation ansprechen
würde. Doch kommt dieser Hohlraum bei der Exspiration
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
407
wieder zum Verschluß und es ersclieint von Wichtigkeit,
aut diesen Wechsel hinzuweisen, welcher hei ausge¬
sprochenen Dilatationen der Speiseröhre nicht zu finden ist.
Nun sei besonders auf die ö s o p h a g o s k o p i s c h e 1) i a-
gnose des Kardio spasmus hingewiesen, welche einen
nicht unwesentlichen Punkt zu der richtigen Beurteilung
dieser Verhältnisse hietet. Ohne hier des genaueren auf die
alte Mikulicz-Hacker sehe Streitfrage einzugehen, ob der
Uebergang des Oesophagus in den Magen im ruhigen Zustand
offen oder geschlossen sei, sei darauf verwiesen, daß das
Gebiet des Zwerchfellanteiles der Speiseröhre sich ösophago-
skopisch in Form eines von rechts hinten nach links vorne
verlaufenden Spaltes darstellt, der von portioartig vorsprin¬
genden Wülsten oder sternförmig angeordneten Falten be¬
grenzt erscheint. Außer dieser Diaphragmaenge linden wir
jedoch hei nach links vorrückendem Rohre gewöhnlich unter¬
halb u. zw. in verschiedener Höhe des etwa 2 bis 3 cm
messenden intraabdominalen Oesophagusabschnittes diesem
ähnliche Bilder, welche darauf hinweisen, daß auch im
ruhenden Zustand ein tonischer Verschlußi zwischen Oeso¬
phagus und Magen existiert, wenn er auch nicht immer knapp
in kardiales Gebiet zu verlegen ist. So' konnten >yir nicht
selten Bilder sehen, wobei ein Teil der unter dem Hiatus
gelegenen aihschlußartigen Fuge dem Oesiophagus angehörte,
während ein Teil bereits charakteristische Magenschleimhaut
aufwies. Aehnliche Befunde konnte auch Hacker erheben,
weshalb er die Ansicht anssprach, daß dieser Abschluß
tatsächlich einmal höher, einmal tiefer liege und daß ein
rosettenförmiges Aneinanderliegen durch ringförmige Kon¬
traktion der Wände auch unter dem Hiatus oesophageus
zustande kommen könne, ähnlich wie auch Kraus erklärt,
„daß es nicht mehr zu bezweifeln sei, daßi die Kardia selbst
sich in gewöhnlichem Zustand mäßig kontrahiert befindet“.
Wodurch unterscheidet sich nun das ösophagoskopische
Bild des Spasmus im tiefsten Anteil des Oesophagus (kurzweg
„Kardiospasmus“) von dem normalen Bild dieses Gebietes?
Wir wollen hier gleich t^rwegnehmen, daß es sich hiebei
zumeist nur um eine quantitative Differenz handelt.
Mikulicz, welcher als erster die Dilatation auf Grund
ösophagoskopi scher Befunde als eine durch den Spas¬
mus an der Kardia hervorgerufene Erscheinung gedeutet hat,
hat keinen diesbezüglichen Befund mitgeteilt, wahrscheinlich
deswegen, weil ihm die Differenz des ösophagoskopischen
Bildes gegenüber dem normalen unwesentlich erschien. Wie
aus den Befunden der Autoren und den unsrigen hervorgeht,
ist der Unterschied vorzüglich in der spaltartigen Enge, die
weder Gas noch Flüssigkeit passieren läßt, in dem krampf¬
artigen Widerstand, den die Partie dem Vorschieben des
ösophagoskopischen Rohres entgegenstellt und in den stärker
vorspringenden Wülsten oder Rosetten gegeben. Bei festem
Andrängen des Rohres äußert der Patient starke Schmerzen
und oft bedarf es wiederholter Kokainisierung und interner
Bromdarreichung, um über die krampfartige Enge hinüber-
pikommen. Zeichen chronischer Entzündung, starke Gefä߬
injektion, Membranbildung, u. ä. sind meist sekundäre, hei
lange bestehenden Prozessen hinzukommende Erscheinun¬
gen. Ziemlich typisch sind beispielsweise die diesbezüg¬
lichen Befunde von Fall I oder Fall IV : 40 cm von der
Zahnreihe findet sich ein von rechts hinten nach links
vorne verlaufender Spalt, welcher von zwei stark vorsprin¬
genden Wülsten begrenzt erscheint, an deren Oberfläche
feine Gefäßramifikationen sichtbar sind. Die Wülste schließen
außerordentlich enge aneinander und eine eingeführte Darm¬
saite vermag absolut nicht vorzudringen. Aus dem Magen
dringen weder Gas noch Flüssigkeit herauf. Beim Zurück¬
ziehen des Tubus ist nochmals von oben der Hohlraum
völlig zu übersehen, und ist es hei entsprechend zentraler
I'ührung des Rohres möglich, noch bei einer Entfernung von
30 cm die portioartige Wulsthildung in kardialem Gebiete
zu übersehen. Fall IV: 40 cm von der Zahnreihe ein im
Augenblick nicht zu überwindender Widerstand. Das Bild
dieser Gegend zeigt sich als ein von zwei stark vorsprin¬
genden mit injizierter Schleimhaut versehenen Lippenwülsten
begrenzter Spalt, welcher, von rechts hinten nach links
vorne verlaufend, im Augenblick der Untersuchung völlig
verschlossen ist. Erst wiederholtes Kokainisieren der Lippen¬
wülste bringt nach einigen Minuten den Krampf zum
Schwinden, das Rohr überwindet den Widerstand und gleitet
in den Magen.
ff. D i f f e r e n t i a 1 d i a g n O' s e g e g e n ii bie/r L u s c h k a schem
Vormagen, Antrum cardiacum und t,iq f si tz e hO eli
Divertikeln. • '
Die ersten beiden in die Gruppe der angeborenen Ek¬
tasien einzureihenden Erkrankungen sind außerordentlich
selten. Die Diagnose der ersten wird zu stellen sein, wenn
sich eine Erweiterung über dem Hiatus oesophageus findet,
während das Antrum cardiacum sich unterhalb in Form
einer sack- oder diverlikelartigen Erweiterung vorfindet, wie
es Mehner t heschrieben. Erstere Erkrankung wird dem¬
zufolge ein der idiopathischen Speiseröhrenerweiterung sehr
ähnliches Bild aufweisen, und da auch tatsächlich in einer
Anzahl von fällen (vgl. auch den zuletzt von Baumgarten
demonstrierten Fall) die spindelförmige Erweiterung auf kon¬
genitale Anlage zurückzuführen ist, werden diese beiden
Bilder nicht strenge voneinander zu scheiden sein. Beim
Antrum cardiacum wird der normale Befund oberhalb des
Hiatus oesophageus ausschlaggebend sein.
Wichtiger ist die Differentialdiagnose gegenüber den
tiefsitzenden Divertikeln des Oesophagus, deren bereits
einige heschrieben worden sind. Doch liegen diesbezüglich
erst drei ösophagoskopische Befunde vor, von denen nur
der Fall von Reitzen stein ösophagoskopisch völlig sicher¬
gestellt war. Zur Differentialdiagnose dieser beiden Krank¬
heitsbilder sind eine Anzahl Methoden angegeben worden,
welche wir hier nur anführen wollen, ohne auf deren diffe¬
rentialdiagnostischen Wert weiter einzugehen: Der Rumpel-
sche Sondenversuch, der Ke Hing sehe Sondenversuch, der
Boekelmannsche Versuch, die • Untersuchung mit der
Divertikelsonde (Leu he), das Straußsche Verfahren mit
dem Eudiometer. Was uns jedoch hier besonders interessiert,
ist der Unterschied im ösophagoskopischen Bilde. Bei dem
genannten Fall tiefsitzenden PLilsionsdivertikels fand sich der
divertikelartige Sack, die Schleimhautumschlagsfalte und
die Speiseröhrenöffnung. Von wesentlichem Belang wird
der Befund am Ende des Sackes sein. Schieben wir das
Oesophagoskop in einem tiefsitzenden Divertikel vor, so wird
dasselbe schließlich nicht mehr Vordringen können; auch
nach gründlichster Reinigung dieser Partie mit Tupfern, Klyso-
pompe und nach Kokainisierung wird das Auffinden eines
Lumens unmöglich sein. Das Oesophagoskop stößt an die
Wandung an, ohne daß, das oben beschriebene Bild des
spastisch kontrahierten Lumens (Spalt mit Portiobildung)
zu finden wäre. Die Wandung kann wohl in Falten gelegt
sein, doch zeigt der untere Pol demgegenüber keinerlei
Differenz. Vor allem ist also der Mangel des Lumens am
unteren Pol (Divertikelende) ösophagoskopisch feststellbar.
Nicht so hoch wäre das Erkennen der Divertikelschwelle hei
den tiefsitzenden Divertikeln einzuschätzen, da, wie ja oben
beschrieben, gerade bei Dilatationen zahlreiche Falten
schwellenartig in das ösophagcale Lumen vorspringen und
daher leicht derartige Schwellen Vortäuschen können. Nur
wenn es gelingt, von dieser Schwelle aus einerseits in den
Oesophagus, anderseits in das Divertikel zu gelangen, er¬
scheint letztere Diagnose gesichert.
Schließlich sei noch eewähnt, däß es auch Fälle gibt,
wo Ektasien der Speiseröhre sich mit divertikelartigen Bil¬
dungen im unteren Abschnitt des Oesophagus kombinieren
und daher nicht vergessen werden dürfe, daß die sichere
Diagnose der einen Erkrankung die andere noch nicht mit
Sicherheit ausschließt.
HI. Die ösophagoskopische Differentialdiagnose
gegenüber sekundären Dilatationen oberhalb
anatomischer Stenosen.
Hiebei kommen die Dilatationen oberhalb von Narhen-
strikturen und Karzinomen in Betracht, wobei jedoch zu
i05
'Wi'LNER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. U
bemerken ist, dab diese Erweiterungen relativ selten in
höherem (trade vorhanden sind. Wir konnten die Dilata¬
tionen einigemal in Fällen intensiver Langenverätznng kon¬
statieren, wobei jedoch das Lumen fast völlig fehlte (es han¬
delte sicli um gastrostomierte Patienten einige Monate nach
der Verätzung). Das ösophagoskopische Bild solcher Dilata¬
tionen ist dem der spindelförmigen Erweiterungen gleich :
das Rohr zeigt starke Exkursionsfähigkeit, die Wand zeigt
multiple Faltenhildung mit geringer oder fehlender respira¬
torischer Verschieblichkeit, mitunter wird Hohlraumsicht
zu beobachten sein. Das Wesentliche liegt in der Konsta¬
tierung der unteren Wandverhältnisse. Während bei unseren
Erkrankungen der kardiospastische Spalt sichtbar würd oder
das Eindringen in den Magen nach entsprechender Vor¬
bereitung des Patienten (Kbkainisierung u. ä.) möglich wird,
finden wir dort die charakteristischen feinen strahlenförmi¬
gen Narben im Zwerchfellbereich oder Kardiagebiet und
auch der infillrierencle Tumor wird deutlich zu sehen sein.
Es ist also von wesentlichster Bedeutung, das unterste Ge¬
biet einer genauen Inspektion zu unterziehen und auch in
jenen Fällen, in welchen der spastische Verschluß das weitere
Vordrängen des Rohres erschwert, durch entsprechende Ma߬
nahmen das Vordringen bis in das kardiale Gebiet zu er¬
möglichen, wobei die peripheren Wandpartien einer beson¬
ders genauen Untersuchung zu unterwerfen wären. Schlie߬
lich bleibe nicht unerwähnt, daß Fälle von .spindelförmiger
Dilatation und Karzinombildung auf der Höhe von Schleim¬
hautfalten ebenfalls bereits beschrieben worden sind.
Nun kämen wir noch auf die Differenz in dem ösophago-
skopischen Bild des Falles I gegenüber dem der Fälle II,
HI und IV des genaueren zu sprechen.
Bei Fall I konnten wir einen weiten, fast starren
20 cm von der Zahnreihe beginnenden Hohlraum
überblicken, in dessen Tiefe die portioartige
^V u 1 s t b i 1 d u n g im kardialen G e b i e t z u f i n d e n w a r.
Keine diffuse Faltenbildung der Schleimhaut, sondern Starr¬
heit des Rohres. Keine schlechte Uehersichtlichkeit, sondern
Hohlraumsicht.. Ein Behind, welcher in der Literatur nur in
dem Fall VI der Rosenheimschen Fälle sein Analogon
hat. Dieser Autor schließt an die diesbezügliche Beischrei¬
bung folgende Bemerkung ; ,, Diese Erscheinungen können
wir uns nur durch eine gewisse Starrwandigkeit erklären,
die, da nennenswerte entzündliche Veränderungen an der
Schleimhaut fehlen, am ehesten durch Annahme einer
Muskelhypertrophie verständlich wird.“ So faßt er diesen
Fall als funktionelle Anomalie im Gebiete der Kardia auf,
welche Störung zur Rückstauung und Erweiterung der
Speiseröhre geführt hat, worauf der , Organismus mit einer
Muskelhypertrophie antwortet. Diesen Fall setzt er
in Gegensatz zu jenen, wobei die Wandung schlaff, muskel¬
schwach und in Falten gelegt und wobei es sich nicht um
eine im Gefolge von Spasmus ausbildende spindelförmige
Erweitenmg, sondern eine primäre atonische Dilatation
handelt.
Hier ist der Platz, mit wenigen Worten noch auf die
verschiedene Auffassung der Ursache der idiopathi¬
schen Speiseröhrenerweiterung einzugehen, zumal
da (du lehrreicher interessanter Befund hiebei mitgeteilt sei.
Mikulicz und Vleltzer sehen in dem Kardiospasmus das
Primäre. Die erschlaffende Kraft im Gebiete der Kardia
erscheint geschwächt, die Peristole des Oesophagus vermag
den Widerstand in diesem Gebiele nicht zu überwinden, es
kommt zur Dehnung der Speiseröhre. Rosenheim erklärt
für weitaus die größere Zahl von Fällen die Atonie der
Schlundmuskulatur für das Primäre, dort kommt es zu Er¬
weiterungen, im Gefolge davon zu Entzündungen, welche
auch auf karduiles Gebiet übergreifen, um schließlich sekun¬
där zu Spasmus der Kardia zu führen. Kraus leitet Atonie
des Oesophagus und Spasmus der Kardia von einer gleich¬
zeitigen paralytischen Affektion verschieden funktio¬
nierender \ agusfasern ab, sohdier nändi(di, deren Schädi¬
gung eimui Wegfall der Hemmungseinflusses auf die Kardia
beim Schluckakt, und solcher, deren Ijäsion die permanente
Erschlaffung eines Anteiles (des oberen) der Vluskulatur
der Speiseröhre J)ewirkt. Eine interessante, hiefür sprechende
Beobachtung ist der Paltaufsche Fall von Dilatation
bei Läsion beider Nervi vagi. Dadurch wird es wahr¬
scheinlich, daß einerseits die permanente Erschlaffung eines
Anteiles der Speiseröhrenmuskulatur, anderseits der Weg¬
fall des Hemmungseinflusses auf die Kardia (der gleichfalls
durch den Vagus erfolgt) beim Zustandekommen dieser Dila¬
tation (+ Kardiospasmus) eine wesentliche Rolle gespielt
haben.
Auch wir sind der Meinung, daß die Vlikulicz-
Meltz ersehe Anschauung, bzw. die Kr aus sehe in der
weitaus großen Mehrzahl der Fälle zu Recht besteht und die
Rosenheim sehe Deutung nur für wenige Fälle sicher
zur Geltung kommt. Hiefür scheinen uns folgende Momente
zu sprechen :
1. Das ösophagoskopische Bild zeigt vorzüglich den
Typus der Bilder H, IH und IV, d. i. den Typus des
schlaffen, mu s k e 1 s ch wa ch e n Sackes, und doch
zeigen die anatomischen Befunde in der weitaus großen
Mehrzahl der Fälle H y p e r t r o p h i e d e r VI u s k u 1 a r i s, was
dafür spricht, daß auch in diesen Fällen ein Widerstand
zu überwinden war, d. i. Kardiospasmus (nur daß
vielleicht die Hypertrophie nicht jenen Grad erreichte, wie
in Fall l).
2. In nicht wenigen bMllen dieser Art (H, IH, IV) ist
der Spasmus im kardialen Gebiet bereits im Beginn der Er¬
krankung nachweisbar. Dieses Vloment spricht, wenn auch
nicht gerade für den primären Spasmus, so doch zu¬
mindest für ein gleichzeitiges Auftreten desselben mit der
Dilatation, wms im Sinne der Kraus sehen Auffassung zu
deuten wäre.
3. Es gibt Fälle von starker (schlaffer) Dilatation ohne
entzündliche Veränderung der Schleimhaut, für welche Fälle
die eigentliche Veranlassung des Kardiospasmus (Rosen¬
heim), d. i. entzündliche Irritation wegfallen würde.
Wenn demgegenüber gefragt wikd, wieso es dann wohl
komme, daß oberhalb anatomischer Stenosen erheblichere
Ektasien der Speiseröhre i'elativ selten seien (,,weshalb es
nicht wahrscheinlich ist, daß gerade beim Spasmus die Ek¬
tasien des Oesophagus häufiger als sonst auftreten“), müssen
wir antworten, daß spastische Zustände mit anatomischen
Stenosen kaum zu vergleichen seien. Keine anatomische
Erkrankung vermag einen derartigen Verschluß zu erzeugen,
wie der Kardiospasmus, kein anatomisches Hindernis ver¬
mag das Oesophagoskop so schwer zu überwinden, wie den
spastisch kontrahierten Kardiaanteil. Schon eine einmalige
ösophagoskopische Untersuchung helehrt uns über die
Schwierigkeit, den spastischen Widerstand am unteren Anteil
des Oesophagus zu überwinden und läßt daher auch das
Hindernis erkennen, das sich der Oesophagusperistole in den
Weg stellt. Anderseits sei bedacht, daß man hochgradiger
anatomischer Hindernisse wegen (intensive Laugenverätzung
oder diffus infiltrierendes Karzinom) meist bereits die Gastro¬
stomie gesetzt hat, weshalb die eigent'iche Veranlassung zur
Dilatation (die geschluckten und lange im Oesophagus
liegenden Speisen) hiebei in Wegfall kommt.
Vlit Berücksichtigung dieser Umstände erscheint uns
die Auffassung von F. Kraus richtig, welcher meint, man
könne ni(dit mehr Dilatationen, welche durch primären Spas¬
mus der Kardia entstehen, von solchen unterscheiden, die
infolge von Atonie der Wandungen zustandeigekommen sind.
,,In einem gegebenen Fal'e ist höchstens ’das eine der beiden
zusammenwirkenden Momente mehr, das andere weniger
betont.“ Doch spielt auf jeden Fall zumeist der Kardio¬
spasmus eine wesentliche Rolle.
Wir hatlen vor einiger Zeit Gelegenheit, einen Patienten
zu ösophagoskopieren, der über Dysphagie klagte und bulbär-
paralytische Symptome darbot. Die Einführung des Rohres
g(dang außerordentlich leicht und der ganze Oesot)hagus
von der Höhe der Bingknorpelenge an war durch seine be¬
sondere Weite ausgezauchnet. Man konnle von dem
obersten Bereich. desselben bis in die Tiefe in
Nr. 14
WIENER KLINISCHE AVOCIIENSCIIRIFT. 1907.
409
einen weiten' Holilzyli nder sehen, ein Bild, das
auf K r s c h 1 a f f u n ,g d e r W a n d u n g (L ä h m ii ii g) z n r ü c k-
z n f ü li r e n ist. I in (t e 1) i e t e d er K a r d i a s p a s t i s c li e r
\ erschliiß. Dort wurde dys Rolir krainpfartig angehalten
und war ein weiteres Vordringen erst nach wiederholt ein
Kokainisieren möglich. Die Sektion dieses Falles ergab
Mediastinaltiini'Or mit Kompression des Vagns.
Fs fand sich also Erschlaffung der ösophagealen Wandung
und Spasmus in kardialem Gebiet bei Kompression des
Vervus vagus vor, welche Beobachtung an /die CI. Bernard-
schen Untersuchungsresultate erinnert: Krampfhafte
Kontraktion der Kardia nach Dur chs chne i d un g
der Vagi (u n d p e r m a n e n t e Erschlaffung der 0 eso¬
phagus niuskulatur). Es handelt sich also de facto um
eine anatomische paralytische Erkrankung, als
welche sie Kraus aufgefaßt hat. Jene Vagusfasern, welche
den Tonus der Speiserohrenmuskulatur beherrschen, und
jene, welche der Kardiokoniraktion entgegenwirken, er¬
scheinen paretisch. Das Resultat ist Erweiterung des Oeso¬
phagus und stärkeres Hervortreten der kontrahierenden, in
der Kardia selbst gelegenen Kraflkomponente infolge Weg¬
falles der Hemmungsimpulse.
Wenn wir nun auch die Verschiedenheit in den öso-
phagoskopischen Bildern der idiopathischen Speiserühren¬
erweiterung aus den oben angeführten Gründen nicht zur
sicheren Deutung hestimmter Genese anführen können, so
darf jedenfalls diese Verschiedenheit auf quantitative Diffe¬
renz in der hypertrophischen Kompensation der JJesophagus-
muskularis zurückgeführt werden, ähnlich, wie man ja auch
versucht hat, die verschiedenen Formen idiopathischer
Speiseröhrenerweiterung von diesen Momenten abzuleiten.
♦
Meinem verehrten Chef und Lehrer, Herrn Professor
0. Chiari, sei auch an dieser Stelle für die liebenswürdige
Förderung und die Ueberlassung des Materiales herzlich
Dank gesagt.
Literatur:
Siehe Neumann, Die spindelförmigen Erweiterungen des
Oesophagus. Zentralblatt für die Grenzgebiete, Bd. 3, H. 5. — Friedrich
Kraus, Die Erkrankungen der Speiseröhre. Nothnagels Handbuch 1902;
sowie die Oesophagoskopiearbeiten von Hugo Stare k, Gottstein,
Rosen heim, wo die genaueren Literaturdaten zu finden sind.
Aus der II. Chirurg. Abteilung der k. k. Rudolf Stiftung.
(Vorstand: Primarius Priv.-Doz. Dr. 0. Föderl.)
Ueber subkutane Darmrupturen.
Von Dr. Anton v. Kliautz jun., Assistenten der Abteilung.
Die sabkutaiieii Darmrapturen bilden noch immer ein
schwieriges und interessantes Kapitel der chirurgischen Dia¬
gnostik. Die schwere innere Verletzung kann meist nicht
mit absoluter Sicherheit, sondern bestenfalls mit großer
Wahrscheinlichkeit angenommeu werden; denn fast alle
Symptome, die man bisher zur sicheren Diagnose verwerten
zu können glaubte, haben sich in einzelnen Fällen als nicht
stichhaltig erwiesen und so kam es, daß manchmal der
Uperationsbefund den Eingriff nicht rechtfertigte, während
man sich in anderen Fällen wieder zu spät zur Operation
entschloß. In der Regel nahm man früher eine abwartende
Haltung ein uud laparotomieiie erst, wenn alle Zeichen
der Peritonitis (Kollaps, Darmlähmung) schon vorhanden
waren; begreiflicherweise waren die Resultate sehr un¬
günstige.- Allmählich ist man vorsichtiger geworden, man
legte auf früher wenig gewürdigte Symptome (besonders
Rektusspannung) mehr Wert und operierte eher, bevor all¬
gemeine Peritonitis da war oder diese irreparable Schädi¬
gungen gesetzt hatte. Die Vervollkommnung der Asepsis
und der operativen Technik machten den Eingriff weniger
gefährlich und erleichterten den Entschluß in zweifelhaften
Fällen.
Die Behandlung der Bauchkontnsionen überhaupt hat
fast die gleichen Wandlungen durchgemacht wie die Appen¬
dizitistherapie. Auch hier können die leichten Fälle häufig
ohne Schwierigkeit ausgeschieden werden, während die
meisten schweren das Bild der umscbrie])enen oder allge¬
meinen Perforationsperitonilis gehen. Wie man hier sich
früher meist abwartend verhielt und so mancher Fall da¬
durch verloren ging, so wurde später die Frühoperation
allgemein üblich, bis sich eine gemäßigte Richtung geltend
machte, deren Resultate nicht schlechter sind als die der
radikalen. Jede Prohelaparotomie, mag sie nach den Sym¬
ptomen noch so indiziert gewesen sein, hat ja, wenn der
Betund sie nicht rechtfertigt, etwas Deprimierendes an sich
und drängt, die Diagnostik zu verbessern. Und doch kommt
jeder gewissenhafte Chirurg, auch wenn er nicht zu den
operationsliistigen gehört, allmählich zu der Ueberzeugung,
daß es besser ist, einmal ohne zureichende Berechtigung
und ohne Schaden laparotomiert zu haben, als einmal den
lebensrettenden Eingriff zu unterlassen.
Die Prognose der subkutanen Darmrupturen wurde
besser, nicht nur, weil man sie früher operierte, sondern
weil man auch solche Eälle noch und. Dank der modernen
Peritonitisbehandlung, mit Erfolg operierte, die man früher
als aussichtslos l)etrachtet hätte.
Die Ausspülung der Bauchhöhle mit großen Mengen
heißer physiologischer Kochsalzlösung, der wir gerne
1 bis 2% Wasserstoffsuperoxyd hinzufügen, die Anregung
der erlahmenden Darmperislaltik durch wiederholte Irriga¬
tionen und milde Abführmittel, die Entlastung des gelähm¬
ten Darmes durch Enterostomie, die Beschleunigung des
Stoffwechsels durch Aufnahme großer Flüssigkeitsmengen
per OS und durch subkutane Infusion, verbunden mit for¬
cierter Transpiration, dieses förmliche Durchwaschen des
Körpers läßt mitunter den Organismus die septische In¬
fektion des Peritoneums überwinden.
Es ist ja staunenswert, welche peritonecale Sepsis der
Organismus noch vertragen kann, vorausgesetzt, daß noch
keine Darmlähmung besteht. Und die Anschauungen Len-
nanders^) und Heidenhains,^) daß der Tod bei der
Peritonitis vorwiegend durch die Resorption von Toxinen
im gelähmten Darme und weniger durch die peritoneale
Infektion hervorgerufen wird, gewinnen immer mehr an
M ahrscheinlichkeit durch jene Fälle, wo bei der Obduktion
eine relativ geringe Peritonitis, aber hochgradige Darm¬
lähmung gefunden wird. Einige günstige Resultate hat man
mit der Enterostomie erzielt, die entschieden nachahmens¬
wert ist, während in jüngster Zeit Katzenstein^) das
\mn Wernitz hei puerperaler Sepsis empfohlene Verfahren
mit großen Kochsalzklystieren bei der diffusen Appendix-
l)eritonitis mit gutem Erfolg angewendet hat. Ueber Atropin-
und Physostigmininjektionen liegen nur ganz vereinzelte
gute Erfahrungen vor. Bei der Erkenntnis der schweren
Gefahr der Darmlälnnung wird jeder moderne Chirurg das
früher so beliebte Opium meiden und die Schmerzstillung
lieber mit Eisblase oder Thermophor versuchen, wenn auch
bei den ganz schweren Fällen, die meist letal enden, wegen
der großen Unruhe der Patienten die Morphininjektion oft
nicht zu umgehen ist.
Da es überhaupt mehr als fraglich ist, ob wir jemals
die Peritonitis werden sicher erfolgreich bekämpfen können,
bleibt bei den Darmrupturen nur die eine Hoffnung, ihre
Prognose zu verbessern, wenn sie rechtzeitig zur Operation
kommen. Jeder Fall von Bauchkontusion, wenn das Trauma
nur halbwegs geeignet war, eine schwerere Läsion zu
setzen, soll einem Kra.nkenhaus überwiesen werden, um
nicht erst, wenn die Notwendigkeit des Eingreifens ein-
tritt, diircli den Transport dem Kranken zu schaden und
die Hilfe zu verzögern. Denn wenn auch schwere Traumen
bisweilen keine innere Verletzung hervorbringen, so ge¬
nügt doch in manchen Fällen ein scheinbar unbedeutender
Anlaß, um schwere Schädigungen zu verursachen.
In den letzten 3V2 Jahren wurden an der Abteilung
meines Chefs 27 Patienten mit Bauchkontusion beobachtet,
nicht eingerechnet einige moribunde Pätienteji, die wenige
Sluuden, nacli der Aufnabme imo])eriert starben. Von jenen
wurden 17, darunter auch solche, bei welchen schwere
410
Nr. 14
WIEN.F.R KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Gewalten, wie Hiifschlag etc., eingewirkt hatten, exspekta-
tiv behandelt und sämtliche geheilt entlassen. Von den
operierten Fällen hetrafen sieben JVIagendarmverletziingen
(davon vier gestorben), einer schwere Ruptur der Leber
durch Deichselstoß (starb an Anämie), einer Zerreißung der
Harnblase hei gleichzeitiger Fraktur der Wirbelsäule durch
Sturz und einer Zerquetschung der rechten Niere durch
Hufschlag, die beiden letzten vollständig geheilt. Bei den
vier gestorbenen Patienten mit Darmverletzung war in zwei
Fällen, die 14, resp. 24 Stunden nach dem Trauma zur
Operation kamen, die primäre Peritonitis, respektive Pul-
monalemholie die Todesursache, in einem Falle vonMagen-
rnptur hei gleichzeitiger Milzdurchtrennung hatte sich an
der relativ kleinen Perforationsstelle ein guldengroßes Ulkus
gebildet, das durch seinen Durchbruch zum Exitus führte
und in dem Falle von inkompletten Darmrissen hat aus¬
gedehnte Fettembolie beider Lungen das Ende erklärt.
Im folgenden will ich die Krankengeschichten der er¬
wähnten sieben Fälle, die ich mit Ausnahme von zwei
(1 und 5) auch seihst zu operieren Gelegenheit hatte, kurz
anführen, da sich nur an der Hand der Anamnese und des
Status praesens die Indikationsstellung beurteilen läßt.
1. C. M., 28 Jalire alt, Kutscher; aufgenommen am 11. Llävz
1904 sub J.-Nr. 2566.
Pat. erhielt heute, ca. 8 Uhr früh, einen Pferclehuf schlag
gegen den Bauch. Seitdem starke Schmerzen im ganzen Bauche,
anhalleiides Erhrechen, Schwächegefühl. Wird um 7 Uhr abends
in das Spital gebracht.
S t a t US praesens: Kollabiert, Puls sehr . beschleunigt,
Bauch aufgetriehen, gespannt, überall druckschmerzhaft, Flajiken
gedämpft; galliges Erbrechen.
Diagnose: Peritonitis diffusa e ruptura intestini.
Operation 10 Uhr abends. Unter Billrothmischungsnarkose
mediane Laparotomie. Es entleert sich reichlich gallige Flüssig¬
keit. Die Darmschlingen teilweise verklebt, auf der Serosa zahl¬
reiche Fibrinauflagerungen. An der hinteren Wand des unteren
horizontalen Duodenalastes ein 2 cm langer, querer Riß durch
die ganze Wanddicke. Naht desselben. Darauf ein Mikulicz¬
tampon. Bauchnaht.
Exitus letalis zwei Stunden post operationem.
0 b d uk I i 0 n s h e f u nd : Peritonitis purulenta o ruptura
traumatica duodeui (horizontalis inferior). Infarctus haemor¬
rhagicus pulmonis utriusque ex embolia ramorum art. puhno-
nalis utriusque. Sutura intestini facta.
2. J. F., 18 Jahre alt, Kutscher; aufgenommen am 25. Mii
1905 suh J.-Nr. 5346.
Pat. erhielt heute früh 147 Uhr von einem Pferde einen
Hufschlag in die Mittelbauchgegend. Sofort heftige Schmerzen
daselbst. Pat. begab sich zwei Stunden später zu Bett, erbrach
um 9 Uhr vormittags das erstemal und dann noch drei- bis
viermal bis zur Aufnahme. Ein vormittags herbeigerufener Arzt
soll den Zustand für unbedenklich erklärt haben. Da die Schmerzen
an Intensität Zunahmen, wird Pat. um V2IO lUlir abends in das
Spital gebracht.
Status praesens: Mittelgroß, kräftig gebaut, mäßig gut
genährt. Gesicht etwas verfallen. Keine auffallende Blässe. Tem¬
peratur 36-4°, Puls 92, kräftig. Herz- und Lungenhefund ohne
Besonderheiten. Leherdämpfung sehr schwach, kaum zwei Quer¬
finger breit.
Bauch eingezogen, Bauchdecken bretthart gespannt, heim
leisesten Druck überall hochgradig schmerzhaft. Ueberall ge¬
dämpft tympanitischer Schall. Urin wird spontan entleert, klar.
Diagnose: Peritonitis diffusa e ruptura intestini.
Operation V2II Uhr abends. In Billrothmischungsnarkose
mediane Laparotomie. Es entleert sich zirka ein Liter serös¬
schleimiger, bräunlicher Flüssigkeit, der reichlich Fihrinflocken
beigemengt sind. Gleichzeitig entweicht freies Gas. Die Dünn¬
darmschlingen miteinander locker verklebt, gerötet und mit Fibrin
bedeckt. Die Darmschlingen selbst gut kontrahiert.
Zirka 10 cm unterhalb der Flexura duodenojejunalis, .gegen¬
über dem l\losenterialansatz, eine fast guldengroße Perforations-
Öffnung, welche von di’ei stark auswärts gerollten Darmwand¬
lappen begrenzt wird. Die Mukosa grünlich verfärbt. Resektion
des ca. 8 cm langen Darmstückes mit der Perforalionsöffnung
und axiale Vereinigung mit zweischichtiger, fortlaufender Naht,
welche durch Lembertnähte gedeckt wird.
Sonst keine weiteren Verletzungen. Ausspülung der Bauch¬
höhle mit einigen Litern physiologischer Kochsalzlösung. Trock¬
nung des Peritoneums. Tamponade der Resektionsstelle mit (dnem
Gazestreifen. Bauchnaht in drei Schichten.
Verlauf bis auf geringe Temperatarsteigerungen befriedigend.
Ab 1. Juni zunehmendes Fieber; Ursache ein rechtsseitiges Pleura¬
empyem, nach dessen Entleerung durch Rippenresektion 1,6. Juni)
das Fieber abfällt. Die Bauchwunde bis auf einige Nahtfisteln
verheilt. Von seiten des Abdomens keine Beschwerden.
Pat. verläßt am 20. Juni 1905 mit noch sezernierender
Thorakotomiewunde gegen Revers die Abteilung.
3. F. T., 41 Jahre alt, Hilfsarbeiter; aufgenommen am
31. August 1905 sub J.-Nr. 8757. .
Am 29. August 1905, um 5 Uhr abends, fiel ihm eine zirka
zwei i\Ieter lange und fast einen Zentner schwere Eisenstango
mit. dem Griffe auf die linke Unterbauchgegend. Es traten sofort
heftige Schmerzen im ganzen Bauche und Uehlichkeiten auf, so
daß Pat: sich setzen mußte und erst eine halbe Stunde später
nach Hause ging. Er begab sich zu Bett und ein Arzt riet ihm
Spitalsaufnahme wegen möglicher innerer Verletzung.
Doch hielt Pat. zu Hause Bettruhe und nahm kalte Um¬
schläge. Da die Bauchschmerzen an Intensität Zunahmen, an¬
dauernd Ueblichkeit, wenn auch kein Erbrechen bestand und
seit der Verletzung weder Stuhl noch Winde abgegangen waren,
sucht Pat. am 31. August, um' 3 Uhr naclunittags, das Spital auf.
Status praesens: Klein, grazil, schlecht genährt. Haut¬
farbe hlaßJiräunlich, Gesichtsausdruck gleichgültig, Zunge feucht,
Puls 68, kräftig, Temperatur 36-9. Herz- und Lungenbefund, sowie
Leberdämpfung normal. Abdomen im Oberbauch etwas einge¬
sunken, im Uiiterbauch vorgewölht, überall weich und eindrück-
bar, nur in der linken Unterbauchgegend und über der Symphyse
etwas Spannung und Druckschmerz. Hühnereigroße rechtsseitige
freie Leistenhernie; linker Leistenkanal geschlossen. Urin spontan
entleert, klar, zeigt Vermehrung von Indikan.
Rektalbefund: Ampulle weit, Douglas nicht vorgewölht,
nicht schmerzhaft.
Diagnose: Contusio abdominis et intestini.
Therapie: Bettruhe, Eisbeutel, flüssige Kost. Trotz Oel-
klysma kein Stuhlabgang.
1. September. Der Meteorismus ira Unterbauch hat etwas
zugenommen, desgleichen die Druckschmerzen. Puls 72, Tem¬
peratur 37-3. Um 7 Uhr abends erbricht Pat. einen halben Liter
galliger Flüssigkeit. Daraufhin Operation 8 Uhr -abends. In Bili-
rothmischungsnarkose mediane Laparotomie. Die Darm schlingen
mit der vorderen Bauclnvand und untereinander verklebt. Beim
Lösen der Verklebungen quillt dicker, grüner, stinkender Eiter
hervor. Aus dem kleinen Becken und von der linken Fossa iiiaca
her entleert sich reichlich mit Gasblasen untermischte, dünne,
fäkulente Flüssigkeit. An der Konvexität einer Dünndarmschlinge
des obersten Ileum findet sich ein hellergroßes Loch, mit vor¬
quellender Schleimhaut und fibrinbelegten Rändern. Verschluß
der Oeffnung durch zwei Reihen Seidenknopfnähte in querer
Richtung. Ausspülung der Bauchhöhle mit einigen Litern phy¬
siologischer Kochsalzlösung. Ein Mikulicz tampon in den Douglas.
Bauchnaht in drei Schichten. Die Peritonitis hatte sich links
bis über die Nabelhöhe und nach rechts bis über die Mittellinie
ausgedehnt. Noch keine besondere Darmlähmung.
Dekursus: Fieber nur am zweiten, vierten und fünften
Tage post operationeju, 38 bis 38-5°, sonst afehril. Puls immer
zwischen 60 bis 70. Wundverlauf befriedigend. Am 11. Sep¬
tember wird ein rechtsseitiger Parotisahszeß inzidiert; im Eiter
Staphylococcus aureus in Reinkultur.
Am 20. Oktober 1905 vollkommen geheilt und beschwerdefrei
entlassen.
4. R. F., 9 Jahre alt, Buchbindergehilfensohn, aufgenommen
am 21. Oktober 1905 sub J.-Nr. 10.353.
Wurde heute, V2I Uhr mittags, von einem leeren Streifwagen
überfahren. Die Räder sollen über den Leih gegangen sein, so
daß Pat. sich unter dem Wagen gedreht hat. Nach kurzer Bewußt¬
losigkeit wurde er in die Wohnung seiner Eltern getragen, klagte
über heftige Schmerzen in der Nahelgegond und erbrach zirka
fünf Stunden nach der Verletzung zweimal ca. 80 bis -100 cm®
schwarzroten (blutigen?) Schleims. Ein zweimal konsultierter Arzt
empfahl schließlich, einen Chirurgen zu Rate zu ziehen, der
den sofortigen Transport ins Spital veranlaßiLo (V28 Uhr ahemls).
Status praesens: Klein, grazil, schwächlich. Blaßi, doch
nicht sehr auffallend. Gesichtsausdruck ängstlich. Zunge feiiclrt,
wenig belegt. Puls 140, mäßig kräftig. Temperatur 35“. Atmung
rein kostal, oberflächlich, 36 bis 40.
An Herz und Lungen nichts Besonderes.
In der linken Seite über den unteren Rippen eine zwei
Querfinger breite, 10 cm lange, streifenförmige Suffusion.
Nr. U
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
411
Abdomen in Thoraxniveau, mäßig vorgewölbt. Leber¬
dämpfung schmäler. Die beiden Flanken und die Unterbaucli-
gegend gedämpft, tympanitisch ; die Dämpfung bei Lagewechsel
sich aufhellend. Milzdämpfung nicht deutlich abzugrenzen. Druck¬
schmerz nicht deutlich, Rektusspannung mäßig stark.
Während des Spitalsaufenthaltes kein Aufstoßen, kein Sin¬
gultus, kein Erbrechen. Pat. hat spontan ca. 200 cm^ klaren,
gelben Harnes entleert. Die Hautfarbe ist jetzt auffallend blässer!
Diagnose; Haemorrhagia intraperitonealis.
Operation; 9 Uhr abends. In Aethernarkose mediane Lapa,-
rotomie. Es entleert sich zirka ein Liter dunklen, flüssigen
Blutes. Die Leber unverletzt. Die Milz quer rupturiert in zwei
ungleiche Hälften. Die untere kleinere fast vollkommen abgetrennt,
die obere von mehreren tiefen Rissen durchsetzt. Da das ganze
Organ größer als normal (12 cm lang und 5 cm breit), der Milz¬
stiel unverletzt und die Blutung jetzt relativ gering und rein
parenchymatös ist, wird das lose untere Fragment abgetragen
und der Rest durch tiefgreifende Catgutnähte versorgt.
Am Fundus des Magens, nahe der großen Kurvatur, ein
1 cm langer, penetrierender Riß., aus dem Mageninhalt quillt,
knapp daneben ein stricknadeldicker, blutender Ast der Coronaria
ventriculi inf. sin. Das Gefäß wird ligiert; der Riß im Klagen
durch drei durchgreifende Nähte geschlossen und nach Lembert
übernäht. Nach Ausspülung der Bauchhöhle mit physiologischer
Kochsalzlösung Tamponade der Milz- und der Magennaht mit je
einem Gazestreifen. Bauchnaht in zwei Schichten.
Dekursus; Trotz wiederholter Kochsalzinfusionen, Nähr¬
klysmen und Analeptika, hochgradiger Schwächezustand mit Er¬
brechen anhaltend. Am 26. Oktober entleert sich fast die ganze
Magenflüssigkeit durch die Bauchwunde. Puls immer um 140,
Temperatur erreicht kaum 37*’. Unter den Erscheinungen von
septischer Peritonitis (wiederholtes schwärzliches Erbrechen,
flüssige Stühle) und zunehmender Schwäche
Exitus letalis am 29. Oktober 1905.
Obduktionsbefund; Peritonitis purul. diffusa e per-
foratione ventriculi. Defectus dimidii inferior, lienis post resec-
tionem (propter dilacerationem trauniat.). Anaemia universal,
gravis. Enteritis acuta. Vulnus laparotorniae.
5. M. W., 48 Jahre alt, Wäscherin, aufgenommen am
9. Dezember 1905 sub J.-Nr. 11.904.
Wurde heute, ca. 6 Uhr morgens, von den Pferden eines
fahrenden Wagens niedergestoßen. Genaueres weiß sie nicht an¬
zugeben, weil sie gleich das Bewußtsein verlor. Um 7 Uhr früh
wird sie auf die Abteilung gebracht.
Status praesens: Mittelgroß, kräftig gebaut, mäßig gut
genährt. Temperatur 36-5, Puls 88. Pat. klagt über heftigen Kopf¬
schmerz. Am rechten Oberarm, dessen Bewegungen sehr schmerz¬
haft sind und an der rechten Becken- und Oberschenkelgegend
mehrere streifenförmige Suffüsionen. Die siebente und achte Rippe
rechts in der vorderen Axillarlinie sehr schmerzhaft, daselbst
deutliches Federn. An den Brustorganen nichts Auffallendes. Ab¬
domen in Thoraxniveau, weich, nirgends besonders druckschmerz¬
haft. Harn normal. Auf Einlauf wird Stuhl entleert, Pat. begibt
sich in einem unbewachten Momente ohne besondere Beschwerden
auf das Klosett. Temperatur abends 37-4, Puls 100, gut.
10. Dezember. Pat. hat nachts mehrmals erbrochen, klagt
über Schmerzen in der rechten Mittelbauchgegend. Temperatur
37-8, Puls 120. Zunge trocken. Bauch meteoristisch aufgetrieben.
Rechts vom Nabel starker Druckschmerz und reflektorische Muskel¬
spannung. Der übrige Bauch nicht schmerzhaft.
• Diagnose: Ruptura intestini post contusionem. Peritonitis
circumsciipta.
Ein operativer Eingriff wird von der Patientin jetzt, wie
auch an den folgenden Tagen, da das subjektive Allgemeinbefinden
relativ gut war, abgelebnt. Unter zunehmendem Fieber (abends
täglich gegen 39°) und hohem Pulse (112 bis 120) bildet sich
in den folgenden Tagen in der recbteu Mittelbauchgegend eine
fast handflächengroße, mäßig schmerzhafte Resistenz aus. Der
übrige Bauch ist weicher geworden, Stuhl und Winde gehen ab,
das Erbrechen hat sistiert. Infolge zunehmender lokaler Schmerzen
und ansteigendem Fieber (über 39°) willigt Pat. am 19. Dezember
in die Operation.
Operation: 19. - Dezember 1905. In Billrothmischungs-
narkose rechts pararektaler Bauchschnitt. Peritoneum parietale
mit den Darmscblingen verklebt. Nach vorsichtiger Lösung der
Verklebungen entleert sich im Schwall zirka ein halber
Liter Eiter und Dünndarminhalt. Die Abszeßhöhle wird mit phy¬
siologischer Kochsalzlösung ausigespült und mit zwei Gummidrains
und vier Gazestreifen drainiert. Ein Absuchen nach der Per¬
forationsstelle wurde mit Rücksicht auf das Lokalisiertsein des
Prozesses unterlassen. Die Wunde wird breit offen gelassen.
Verband.
Dekursus: Das Fieber fällt rasch ab. In den nächsten
Tagen entleert sich noch reichlich, Darminhalt durch die Wunde,
seiner BeschaffeJiheit nach aus dem Ileum, doch nimmt die Se¬
kretion allmählich ab. Seit 15. Januar 1906 kein Kolabgang mehr
durch die rein granulierende Wunde.
6. Februar 1906. Mit gut vernarbter Wunde geheilt ent¬
lassen.
6. J. G., 12 Jahre alt, Schulkind, aufgenommen am 18. Ok¬
tober 1906 sub J.-Nr. 10.418.
Wurde heute, um Vih Uhr nachmittags, von einem leeren
MilcliAvagen überfahren. Das Wagenrad soll über den Bauch ge¬
gangen sein. Wird um 5 Uhr nachmittags ins Spital gebracht.
Status praesens: Groß, gut genährt, blaß. Bei Bewußt¬
sein, unruhig. Temperatur 36-5, Puls 80, klein. Ueber beiden
Lungen verschärftes Vesikuläratmen. Am Herzen nichts Ab¬
normes. Atmung beschleunigt, kostal. Oberhalb des Nabels eine
zwei Finger breite, streifenförmige Exkoriation. Abdomen etwas
über Thoraxniveau, stark gespannt, druckschmerzhaft, namentlich!
in der linken Flanke; daselbst Dämpfung, sonst überall tympa-
nitischer Schall. Leberdämpfung verkleinert, reicht nur bis zwei
Querfinger oberhalb des Rippenbogens. Mit Katheter klarer Harn
entleert. Kein Erbrechen.
6 Uhr abends. Die Blässe hat zugenommen. Puls auf 96
gestiegen, die Schmerzen im Bauch unverändert.
Diagnose: Haemorrhagia intraperitonealis? Ruptura
intestini ?
Operation: V27 Uhr abends. In Aethernarkose mediane
Laparotomie. Kejn freier Erguß. Am Colon transversuin zwei zirka
3 cm lange Serosalängsrisse, so daß die Muskularis IV2 cm breit
freiliegt, werden übernäht. Blutige Suffusion des absteigenden
Duodenums, das auch nach Ablösung unverletzt gefunden wird.
Gazestreifen daselbst. Suffusion am Pankreasschweif. Nach Ein¬
gießung von physiologischer Kochsalzlösung in die Bauchhöhle
Schluß derselben in zwei Schichten.
19. Oktober 1906. Unter zunehmender Atem- und Puls¬
frequenz, Fieber bei 39°, Zyanose, Lungenödem,
Exitus letalis um 3 Uhr nachmittags.
Obduktionsbefund (gerichtlich) ; Ausgedehnte Fe tt-
embolie (wahrscheinlich ausgehend von einer zwei Handflächen
großen Fettzermalmung nach Kontusion der rechten Gesäßhälfte)
beider Lungen. Kontusion und Ruptur (3 cm langer Riß) am
linken Lungenunterlappen ; 80 cm° flüssiges Blut im linken Pleura¬
raum. Bruch der elften und zwölften Rippe beiderseits nahe der
Wirbelsäule.
Mäßiges Hämatom um die linke Niere, Stauung derselben
infolge frischer Thrombose ihrer Vene. Ablösung der Nieren¬
kapsel.
Guldengroße Suffusion der Darmwand am absteigenden Duo¬
denum ; feinste Schleimhautrisse daselbst. Ein 4 cm und ein
3 cm langer, bis 2 cm klaffender Serosarißi am Colon transversuin
(übernäht). Peritoneum überall blaß, glatt und glänzend.
7. J. P., 41 Jahre alt, Tischlergehilfe, aufgenommen am
16. Januar 1907 sub J.-Nr. 635.
Glitt gestern, 4 Uhr nachmittags, als er einige Holzstücke
trug, auf der Stiege aus, wobei er auf das Gesäß fiel und sich
sein linksseitiges Leistenbruchband in die linke Bauchwand stieß'.
Die Holzstücke fielen zur Seite. Sofort danach heftige Bauch¬
schmerzen, die allmählich bis jetzt zunalnnen, wiederholtes
Aufstoßen.
Ein Arzt „goll heute morgens den Zustand für unbedenklich
erklärt und von Spitalsaufnahme abgeraten haben. Da die
Schmerzen unerträglich werden, wird Pat. heute um 5 Uhr nach¬
mittags ins Spital gebracht.
Status praesens: Älittelgroß, mittelkräftig, schlecht ge¬
nährt. Temperatur 37-9, Puls 100, kräftig. Augen haloniert, Zunge
belegt, trocken. Aufstoßen. Herz und Limgeii ohne Besonderheiten.
Abdomen etwas über Thoraxniveau, überall druckschmerz¬
haft, besonders links, Bauchdecken stark gespannt, beiderseits
handbreite Flankendämpfung. Leberdämpfung kleiner, ln der
linke)! Leiste eine hühnereigroße, freie Leistenhernie. Leisten, -
kanal für einen Finger offen. Urin spontan entleert, klar, kon¬
zentriert.
Diagnose; Peritonitis diffusa e ruptura intestini.
Operation: 7 Uhr abends. In Billrotlimischungsnarkose
mediane Laparotomie. Es entleert sich mäßig reichlich trübe seröse
Flüssigkeit. Die Darmschlingen gebläht, gerötet, an vielen Stellen
mit gelben Fibrinauflagerungen versehen. Beim Vorziehen des
Darmes stürzt plötzlich aus der linken Fossa iliaca reichlich
4 . -
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
gelber, düiiuflüssiger Kot hervor. Eine mittlere, links gelagerte
Dünnclarnischlinge (240 cm oberhalb der Vnlrulä Bauhini) zeigt
gegenüber dem .Mesenterialansatze eine längsovaie, ca. IV2 cm
lange und 1 cm breite Perforation, mit glatten Rändern. Nach
provisorischer Abklemmung und Ausspülung der Bauchhöhle mit
physiologischer Kochsalzlösung Uebernälmuig der Rupturstelle in
Längsrichtung, mit zwei Reihen Lembertknopfnähten. Ras Je¬
junum bis zur Rupturstelle stark gebläht nnd gelähmt, der übrige
Darm kontrahiert, zeigt Peristaltik. Die Umgebung der linken
Bruchpforte frei von Fibrinauflagerungen; solche im Douglas und
nahe dem Promontorium. Nach nochmaliger Ausspülimg <ler
Bauchhöhle zwei dicke Gummidrains in den Douglas und ]e
zwei lange Gummidrains über die Flanken in beide Ifypo-
clmndrien. Bauchdeckennaht in zwei Schichten.
Nach Schluß der Operation zwei Liter Kochsalzlösung sub¬
kutan in den linken Oberschenkel.
17. Januar. Temperatur 38°, Puls 120. Wiederholtes Er¬
brechen grünlich -schwärzlicher Flüssigkeit. Trotz wiederholter
Einläufe weder Stuhl noch Winde. Bauch aufgetrieben, gespannt,
schmerzhaft.
18. Januar. Im Aelherrausch Lüftung der Wunde und x\n-
legen einer W'itzelfistel knapp oberhalb der Rupturstelle, deren
Uebernähung intakt ist, um von hier aus idurch Spülungen den
gelähmten Darm zur Peristaltik anzuregen, jedoch ohne Erfolg.
Die Spülflüssigkeit wird kaum zurückbefördert, sondern größten¬
teils durch Erbrechen entleert.
Unter andauerndem Erbrechen zunehmender Verfall.
19. Januar. V2I Uhr mittags Exitus letalis.
Obduktionsbefund: Peritonitis purulen ta diffusa e rup-
tura intestini jejuni traumate effecta. Hernia inguinalis sin.
Sutura intestini. Paralysis intestini tenuis. Vulnus parietis ant.
abdominis e laparotomia. Degeneratio parenchynlatosa viscerum.
In den ersten drei Fällen und im Fälle 7 war die
Gewalteinwirkung eine mehr zirkumskripte, daher die
isolierte Läsion, während in den ührigen drei Fällen von
Ueherfahrenw erden zweimal jnehrfache Verletzungen vor¬
handen waren. Die Lpkalisation betrifft die Lieblings¬
stellen über der Wirbelsäule und den Darmbeintellern; so
finden wir dreimal das Duodenum, resp. die Flexura duo-
denojejunalis und die Mitte des Querkolons betroffen und
zweimal den Dünndanu auf der linken Fossa iliaca. In
den Fällen 3 und 7, wo Leistenhernien bestanden, die
Theorie Dunges^) zur Erklärung der Ruptur heranzuzieben,
würde gezmuigen erscheinen, da in erste rem Falle die Hernie
rechts und die Perforationsstelle links nahe dem Colon des-
cendens war und in letzterem die Bruchpforte durch das
Bracherium verschlossen war, dieses bei dem . Sturz (viel¬
leicht durch den maximal gebeugten Oberschenkel) gegen
die Darmbeinschaufel gedrückt und bei der Operation die
Bruchpforte frei von Fihrinhelägen gefunden wurde. Die
Rupturen waren in den Fällen 1, 2, 4 und 7 wohl unmittel¬
bar durch die Gewalteinwirkung hervorgebracht. In den
Fällen 3, 5 und 6 bewirkte das Trauma, den klinischen
Erscheinungen nach zu schließen, zuerst eine Quetschung
der Darm wand und erst sekundär kam es in den beiden
ersten Fällen durch Wandnekrose zur Perforation und um¬
schriebenen Peritonitis. Doch kann nach den Untersuchun¬
gen von Leim and er in Analogie mit der perforativen
Appendizitis auch nach primärer Eröffnung des Darm¬
lumens hei nur geringem Kotaustritt ein zwischen den
Darmschlingen abgekapselter Abszeß solange keine oder nur
geringe spontane Schmerzen machen, als die Entzündung
nicht auf das Peritoneum parietale übergreift, ganz abgesehen
davon, daß hei kleinen Perforatiousöffnungen durch die vor¬
quellende Schleimhaut stundenlang der Austritt von Darm¬
inhalt verhindert werden kann, was Lund, Nichols und
Bottomley®) noch 16 Stunden nach der Verletzung bei
einer Perforation von Bleistiftdicke konstatieren konnten.
Bei einem Patienten von BüdingerQ traten erst sieben
Tage nach der Verletzung Perforationserscheinungen auf,
trotzdem eine 2 cm , lange offene Stichwunde des ]\lagens
vorhanden war.
Was die klinische S ynip tomato logie anbelangt,
so boten die Kranken verschiedene Bilder, je nach der Dauer
und Art der Verletzung. Das typische Bild der frischen
diffusen Perforationsperilonilis zeigte Fall 2, während
Fall 1 und 7 bereits das weitere Stadium derselben mit
Darmlähmung zeigten. Als umschriebene oder langsam pro¬
grediente eitrige Peritonitis erwiesen sich Fäll 3 und 5
hei der Operation. Einige diagnostische Ueberlegung er¬
forderten die frischen Fälle 4 und 6, doch luahnte in
ersterem Falle die zunehmende Anämie, im letzteren die
steigende Palsfrequenz zum Eingriff. Wie man sieht, wurde
von den vier primären Rupturen kein einziger in den ersten
Stunden eingebracht, sondern erst nach 7 bis 24 Stunden,
auch ein Beweis für die Schwierigkeit der Frühdiagnose.
Am Chirurgenkongreß 1900 wurden die einzelnen
Symptome der traumatischen Darmperforation einer Dis¬
kussion unterzogen und die damals von v. Angerer®) an¬
geführten Punkte werden, wenn auch nur ein Teil von ihnen
im speziellen Falle zutrifft, in der Regel auf eine schwere
innere Verletzung hinweisen. Der allgemeinen Wichtigkeit
halber will ich sie im folgenden kurz bringen:
1. Stundenlang andauernder Shock.
2. Zunehmen der Pulsfrequenz, doch kann der anfangs
frequente Puls langsamer werden und erst mit eintretender
Peritonitis wieder ansteigen. Zunehmen der Pulsfrequenz
und Temperatursteigerung deuten auf septische Peritonitis.
3. Beschleunigte und rein thorakale Atmung.
4. WiedeTholtes Erbrechen; bei einfacher Kontusion
hört das Erbrechen in der Regel nach ein- bis zweimal auf.
5. Heftige spontane Schmerzen und Druckschmerz ;
nimmt der Schmerz zu, dann ist Austritt von Darminhalt
wahrscheinlich.
6. Frühzeitiges Verschwinden der Leberdämpfung,
doch spricht Bestehenbleiben derselben nicht gegen Darm¬
ruptur.
7. Starke reflektorische Rektusspannung.
8. Meteorismus muß in den ersten sechs Stunden
nicht auftreten, sondern kann erst nach Erschlaffung der
immer zuerst auftretenden Kontraktion des Darmes ein-
treten. Durcli die Muskelkontraktion des Darmes kann
es zum Verschluß von Darmrissen trotz ausgestülpter
Schleimhaut kommen, wie Hertle^) bei einer queren Ab-
reißiUng des Dünndarmes vier Stunden nach dem Trauma
weder Darminhalt noch Gas im Bauche fand.
Urinretention ist meist auch nur bei den komplizierten
Bauchkontusionen vorhanden, doch spricht ihr Fehlen noch
nicht dagegen; denn von den sieben Patienten meiner Be¬
obachtung mußte ein einziger vor der Operation katheterisiert
werden.
Als wichtigstes Symptom möchte ich die reflektorische
Rektusspannung nennen, daneben das Ansteigen des Pulses
und die thorakale Atmung. Das Erbrechen kann selbst bei
Perforation vereinzelt sein oder ganz fehlen wie bei inkom¬
pletter Ruptur und doch erheischt diese ebenso wie die
Quetschung der Wand das chirurgische Eingreifen, da es
sowohl zur Durchwanderung von Bakterien wie zur sekun¬
dären Perforation kommen kann (Fälle von Courtois und
Destrez,^°) Lexer,^^) Daireaux^^) usw.). Heftige spon¬
tane Schmerzen und solche hei Druck, besonders über die
Verletzungsstelle hinaus, sprechen fast immer für schwere
Verletzung.
F. FränkeU^) empfiehlt, in unklaren Fällen stünd¬
lich die Temperatur im Rektum zu messen; ein Ansteigen
derselben spreche mit großer Wahrscheinlichkeit für Darm¬
ruptur. Jedenfalls sind bei zweifelhafter Diagnose Opiate
und Analeptika zurückzuhalten, um nicht das Krankheits-
hild zu verschleiern, und schwere innere Veränderungen
durch Euphorie zu verhüllen.
Die Prognose der Darmrupturen ist bei Operation in
den ersten zwölf Stunden noch relativ günstig; sie ver¬
schlechtert sich aber dann rapid mit jeder Stunde. Eine
Ausnahme bilden jene Fälle, wo nur wenig Darminhalt aus¬
getreten ist und es zur Abkapselung und Bildung .von Ab¬
szessen gekommen ist. Solche gehen, auch weim sie erst
einige Tage nach dom Trauma eröffnet werden, fast immer
in Heilung über.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
413
Unser Vorgelieii ist also ein zweifaches, je nachdem
es sich um frische oder um verschleppte Fälle handelt, und
weist auch hier wieder eine Analogie mit der Behandlung
der akuten Appendizitis, der diffusen Appendix-Peritonitis
und des appendizitischen Abszesses auf. Während man in
frischen Fällen und bei der freien Peritonhis ausgiebig
median laparotomiert, um den ganzen Bauchraum einer Re'"-
vision zu unterziehen, beschränkt man sich hei den Ab¬
szessen auf eine Inzision, je nach der Lage desselben, unter¬
sucht eventuell dessen Nachbarschaft, ohne aber den ganzen
Darm nach Verletzungen abzusuchen. Jedenfalls ist man
nicht berechtigt, auf einen kleinen Probeschnitt hin bei
Mangel an freiem Gas, Blut oder Darminhalt, die Bauch¬
höhle ohne gründliche Untersuchung wieder zu schließen.
Denn auf diese Weise kann eine schwer suffundierte, später
der Nekrose anheimfallende Stelle, ein größerer Serosariß
der Darmwand oder selbst eine vorläufig durch Schleimhaut
oder lose Anlötung verschlossene Perforation später zur
Peritonitis führen. In dieser Hinsicht ist auch die von
Hertle^) anläßlich des letalen Ausganges einer retroperi-
tonealen Duodenalruptur wieder empfohlene Ablösung des
Zwölffingerdarmes nach Kocher und Revision der hinteren
Darmwand hei Traumen in dieser Gegend auszuführen,
ebenso wie die Freilegung der hinteren Magenwand durch
Eröffnung des Netzbeutels, der Rückseite eines breit an¬
gewachsenen Dickdarmstückes usw.
Da der günstige Ausgang einer bereits bestehenden
Peritonitis trotz aller modernen Kampfmittel stets ein zweifel¬
hafter ist, weil er ja abhängt von der Menge und Virulenz
des Infekfionsmateriales, der Jugend und allgemeinen Wider¬
standskraft des Individuums, von verschiedenen Faktoren,
deren Wertbestimmüng oft ganz unzuverlässig ist, so wird
eine Besserung der bisherigen Operationsresultate in erster
Linie durch frühere Diagnose und rechtzeitige Operation
zu erreichen sein.
Literatur:
Lennander, lieber die Behandlung der akuten Peritonitis-
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 81. — h H e i d e n h a i n, lieber
Darmverschluß und Enterostomie bei Peritonitis. Deutsche Zeitschrift lür
Chirurgie, Bd. 74. — ^ Katzen stein, Vorschlag zur internen Be¬
handlung der akuten Peritonitis nach Perityphlitis. Die Therapie der
Gegenwart 1906, Novemberheft. — Bunge, Zur Pathogenese der
subkutanen Darmrupturen. Beiträge zur klin. Chirurgie, Bd. 47, Heft 3.
— ®) Lennander, Leibschmerzen, ein Versuch, einige von ihnen zu
erklären. Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie,
Bd. 16, Heft 1. — ®) Lund, Nichols, Bottomley, Six cases of
rupture of the intestines, with 4 recoveries. Boston med. and surg,
journal 1902, November. — Büdinger, Stichverletzung des Magens.
Wiener klin. Wochenschrift 1897, S. 433. — ®) v. A n g e r e r, lieber
Operationen bei Unterleibskontusionen. Verhandlungen der deutschen
Gesellschaft für Chirurgie 1900. — ®) H e r 1 1 e, Ueber stumpfe Bauch¬
verletzungen. 77. Naturforscherversammlung, Meran 1905. — Courtois
et Destrez, Contusion violente de l’abdomen etc. Archiv de möd. et
de pharm, militaires 1903, Mai. — Lexer, Ueber Bauchverletzungen.
Berliner klin. Wochenschrift 1901, Nr. 48, 49. — p a i r e a u x.
Contusion du coecum, du colon ascendant et de l’anse terminale de l’iKon
Sans perforation. Arch, de m6d. et de pharm, militaires 1905, Nr. 9. —
F. F r ä n k e 1, Einige Grundsätze für die Beurteilung und Behandlung
der Kontusionen des Bauches. Münchener med. Wochenschrift 1903, Nr. 17.
Aus der medizinischen Klinik der Universität in Lemberg.
(Direktor : Prof. Dr. Gluzihski.)
Ein Beitrag zur Frage der Polyglobulie.
Von Dr. N. Schneider, ehern. Demonstrator der Klinik.
Wegen des allgemeinen Interesses, das die Frage der
Polyglobulie gegenwärtig erweckt, erlaube ich mir folgenden,
in der hiesigen medizinischen Klinik vor einigen Jahren
beobachteten Fall zu veröffentlichen, da ich hoffe, dadurch
etwas zur Aufhellung dieser bisher noch ziemlich dunklen
Frage beitragen zu können.
B. S. aus Bilka Krölewska, Landwirt, 51 Jahre alt, aul-
genomraen am 3. Dezember 1901.
Anamnese: Der Vater des Patienten soll an der Cholera,
die Mutter an Hydrops gestorben sein; von den Geschwistern
starb ein Bruder an Lungenentzündung, eine Schwester an
Schwindsucht. Zwei Schwestern leben und sind angeblich gesund.
Pat. gibt aji, daß er im siebenten Lebensjahre an Malaria
mit Anfällen, die sich jeden zweiten oder dritten Tag wieder¬
holten, erkrankte. Dieser Zustand habe ununterbrochen iy2 Jahre
hindurch gedauert. AußeKlem erzählt Pat., daß er schon damals
auf der linken Seite unter dem Rippenbogen eine flache, harte
Geschwulst durch Betasten herausfühlen konnte, unter die er
mit Leichtigkeit seine Hand schieben konnte. Seit dem ersten
Auftreten dieser Krankheit sei er mehrmals bis zmn 25. Lebens¬
jahre von Malaria heimgesucht worden, besonders in der Früh¬
lingszeit,' doch währte dieselbe nie länger als einen Monat. In
dieser Periode soll er auch einen leichten Gelenksrheumatismus
durchgemacht haben, der hauptsächlich im linken Schultergelenk
und in beiden Kniegelenken lokalisiert war, wo Pat. auch später
von Zeit zu Zeit ein ,, Reißen“ verspürte.
Im 38. Lebensjahre sei er an einem sechs Monate dauernden
Bauchtyphus (?) erkrankt, einige Zeit danach soll er wieder
durch einige Wochen an Malaria gelitten haben.
Mit 40 Jahren erkrankte er an einer 6 Wochen währenden
Dysenterie, vor sieben Jahren soll er eine Lungenentzündung
durchgemacht haben, über deren Verlauf er jedoch nichts Näheres
anzugeben weiß. Vor fünf Jahren seien beim Pat. Beschwerden
von seiten der Bauchhöhle auf getreten in Form von krampf¬
artigen Schmerzen, die, von der Magengrube ausgehend, nach
beiden Seiten in der Richtung der Rippenbögen ausstiuhlten.
Die erwähnten Schmerzen wären von der Nahrmigsauf nähme un¬
abhängig gewesen. Außerdem pflegte Pat. ein Gefühl des Druckes
und der Völle im Magen zu haben.
Der Stuhl war teils angehalten, teils diarrhoisch. Zu dieser
Zeit habe die unter dem linken Rippenbogen gelagerte Geschwulst
dem Patienten schon ein Gefühl der Schwere verursacht, doch
seien dabei keine Schnierzen vorhanden gewesen. Erst zu An¬
fang des Frühlings 1901 habe Pat. ein Größerwerden der Ge¬
schwulst bemerkt, mit diesem Augenblick wären auch Schmerzen
in der Gegend der Geschwulst bei jeder Bewegung und An¬
strengung aufgetreten. Außerdem habe Pat. zu dieser Zeit zu
husten angefangen. Alkoholgenuß mid Lues werden negiert.
Mit diesen Erscheinungen habe sich Pat. zur hiesigen chirur¬
gischen Klinik gemeldet, wo man ihm am 1. Mai 1901 die Milz
exstirpierte. Aus der Veröffentlichung Jasihskis,’^) welcher
diesen Fall vom chirurgischen Standpunkt beschrieb, entnehmen
wir folgende Details : Bei der Aufnahme in die chirurgische
Klinik habe sich Pat. als Individuum von schwachem Körperbau,
mangelhafter Ernährung, mit Erscheinungen eines Lungenemphy¬
sems und Bronchialkatarrhs vorgestellt. Der Puls war regel¬
mäßig, von guter Spannung, 72 in einer Minute. Unter dem
linken Rippenbogen ragte ein Tumor hervor, von der Größe
eines Mannskopfes, von harter Konsistenz, der vergrößerten Milz
entsprechend. Die Leber war zwei Finger unterhalb des Rippen¬
bogens palpabel. Im Urin war eine geringe Spur Eiweiß. Die
Inguinaldrüsen erbsengroß, mäßig weich. Oedeme waren weder
an den Unterschenkeln, noch an den Knöcheln vorhanden.
Die klinische Diagnose lautete : Tümor lienis chronicus,
probabiliter malaricus. Den Blutbefund vor der Exstirpation der
Milz veranschaulicht Tabelle I.
Tabelle 1.
Datum
Zahl der
Leukozyten
Zahl der
Erythrozyten
W:R
°/o-Gehalt der Leukozyten
Bemerkung
Polymorph¬
kernige
Neutrophile
Kleine
Lymphozyt.
Große 1
Lymphozyt, j
Eosinophile
Uebergangs-
zellen
17./IV.
1901
22.000
6,000 000
1:272
82
6
0
9
3
Geringe
Poikilozytose
'21./IV.
15.200
6,000.000
1:394
86
6
3
5
0
Am 1. Mai 1901 wurde am Patienten die Splenektomie vor¬
genommen. Bei der anatomischen Untersuchung der exstirpierten
Milz wurde vor allem eine bedeutende Vergrößerung des Organs
konstatiert; es hatte folgende Dimensionen: Länge 27 cm, Breite
16 cm, Dicke 11 cm, Gewicht 2650 g. An der Oberfläche zahl¬
reiche, feste, bindegewebige Verwachsungen. Die Kapsel in toto
bedeutend verdickt (Perisplenitis chronica fibrosa), hie und da
von knorpelhafter Härte.
Auf dem Durchschnitt: das Parenchym von graurötlicher
Farbe, von derberer Konsistenz, die Struktur der Milz verwischt,
ß Dr. Stanislaus Jasiüski: 0 wycinanin äledzivny. (Ueber die
Splenektomie.) Przegl^d lekarski 1901, Nr. 51, 52.
414
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
die Gefäße erweitert mit verdickten Wandungen. Außerdem sind
zahlreiche kleine, grauweiße, unregelmäßig gestaltete (Leukämata)
und einige große, gelhlichweiße, infolge Anämie nekrotisch ge¬
wordene Herde sichtbar (Infarkte); die letzteren greifen auch
auf die Kapsel über, welche an diesen Stellen mehr weißlich ist.
IMikroskopisch wurden entsprechende Bilder konstatiert, d. i. in
den Infarkten sich gar nicht färbende Partien, im Milzparenchym
aber eine bedeutende Hyperplasie des Stromas und der lymphati¬
schen Elemente. Die anatomische Diagnose lautete : Tumor lienis
chronicus, mit Ilücksicht auf den Bluthefund: pseudoleucaemicus.
Was den Verlauf nach der Operation betrifft, so trat die
Heilung der Wunde erst nach 2V2 Monaten ein. Diese ganze
Zeit hindurch fieberte Pat. hauptsächlich infolge eines eitrigen
Prozesses in der Bauchdeckenwunde, in den ersten Tagen außer¬
dem infolge einer Exazerbation des Broncliialkatarrhs.
In dieser Zeit machte Pat. zwei typische Malariaanfälle
durch, Plasmodien wurden jedoch kein einziges Mal gefunden.
Die Blutveränderungen nach der Splenektomie sind auf
Tabelle H sichtbar. Zu Ende des Sommersemesters verließ Patient
die cliirurgische Klinik im Zustand eines relativen Wohlbefindens.
W' ährend der ersten Zeit des Aufenthaltes zu Hause fühlte
er sich sehr schwach und war deshalb gezwungen, teilweise
das Bett zu hüten. Kurz darauf seien jede "Woche oder alle
zwei Wochen Anfälle eingetreten, bei welchen dem Patienten vor
den Augen finster wurde und der ganze Körper erstarrte, so daß
Pat. manchmal umfiel, ohne jedoch dabei das Bewußtsein zu
verlieren.
Tabelle II.
Datum
1
Zahl der
Leukozyten
Zahl der
Erythrozyten
W:R
“/o'Gehalt der Leukozyten
Bemerkung
Polymorph¬
kernige
Neutrophile
Kleine
Lymphozyt.
Große
Lymphozyt.
Eosinophile
1
Uebergangs-
zellen
1
2.1V.
1901
66.000
7,000.000
1:106
86
3
4
5
2
4./V.
44.600
5,725.000
1: 128
86
2
4
4
4
7./V.
43.000
6,000.000
1:139
—
—
—
—
—
Normo-
blasten l^/o
9./V.
58.400
5,600.000
1:95
—
—
—
—
12./V.
53.000
5,250.000
1:98
88
2
5-2
4
2
4
Normo-
blasten 47o
17./ V.
46.400
2,350 000
1:50
808
4
■
4
6
Normoblast.
: Leukozyten
= 4:5(10
28./V.
28.000
4,600.000
1:164
—
—
—
—
—
8./V1,
24.000
4,750.000
1:197
68
19
4
5
4
15./VI.
22.000
5,000.000
1:227
—
—
—
—
—
21./VI.
15.200 5,249.600
1:345
68
28
3
4
2
4 Normo-
blasten
28./VI.
16.000j 4,500.000
1:281
—
—
—
—
—
Vor einem Monat wären heftige, nur für kurze Zeit ver¬
schwindende Schmerzen in den Nägeln der rechten Hand auf¬
getreten. Der anfangs verminderte Appetit habe sich gebessert;
ebenso sei der Husten wie auch die früheren Beschwerden von
seiten der Bauchhöhle verschwunden.
Mit diesen Angaben meldete sich Pat. in die innere Klinik
am 3. Dezember 1901.
Von nun an befand sich Pat. mit kurzen Unterbrechungen
fast ein ganzes Jahr in unserer Beobachtung. Wir lassen jetzt
seine Krankengeschichte im Auszug folgen.
Status praesens bei der Aufnahme: Pat. von mittlerer
Statur, mäßigem Knochenbau, mangelhafter Ernährung, schwach
entwickeltem Fettpolster, von hlaßhräunlicher Hautfarbe. Kopf
normal aktiv und passiv beweglich, Schädel heim Beklopfen nicht
schmerzhaft, Druck auf die Nervi supra- und infraorhitales nicht
onpfindhch, im Fazialis keine Veränderungen. Die Augäpfel in
normaler Stellung, regelmäßig beweglich, die Pupillen gleich,
reagieren auf Licht normal. Die Lippen hleichrosa, das Zahn¬
fleisch etwas gelockcu’t, Zunge feucht, etwas belegt, weicher Gaumen
normal beweglich, ]\landeln nicht vergrößert. Hals entsprechend
lang und breit, die Jugularvenon etwas erweitert, die Karotiden
mäßig gespannt, Aorta im Jugnlum nicht palpahel, die Zervikal¬
drüse]! erbsengroß, weich, ‘nicht schmerzhaft, die Schilddrüse nicht
vergröfkrt. Thorax genug lang und breit, mäßig gewölbt; rechte
Supraklavikulargruhe etwas tiefer als die linke, linke rhoraxhälffo
hei der Atmung minder beweglich. Stimmfreniitus wegen
schwacher Stimme nicht qualifizierbar. Perkussionsschall rechts
vorne hell, nicht tympani tisch bis zur sechsten oberen Rippe,
untere Grenze beweglich. In der rechten Axilla hell bis zur
siebenten oberen Rippe, untere Grenze schwach beweglich. Links
vorne heller Lungenschall, untere Grenze vierte obere Rippe,
beweglich. In der linken Axilla Schall hell, geht an der achten
oberen Rippe in tympanitischen Schall vom Magen über. Thorax
von hinten: Wirbelsäule gerade, auf Druck nicht schmerzhaft,
beide Thoraxseiten gleich gewölbt, linke Seite etwas schlechter
beweglich. Perkussionsschall über der rechten Spitze leicht ge¬
dämpft, sonst überall hell; untere Grenze beiderseits eine Hand¬
fläche unter dem unteren Skapularwinkel, schwach verschiebbar.
Auskultation von hinten beiderseits : Inspirium vesikulär, in den
unteren Parlien etwas verschärft, Exspirium schwach vernehmbar.
Ebenso verhält sich der Auskultationsbefund vorne und in beiden
Axillen.
Herzspitzenstoß sichtbar und fühlbar im fünften linken Inter¬
kostalraum, einen Finger einwärts der linken Mamillarlinie. Herz¬
dämpfung fällt links mit dem Spitzenstoß zusammen, reicht nach
rechts bis zum linken Sternalrand. Auskultation über der Herz¬
spitze und den Gefäßostien, zwei dumpfe Töne. Abdomen flach,
weich; zwei Finger unterhalb des Processus xiphoides ist eine
winkelförmige, glänzende, 5 bis 6 cm lange, braunrote Narbe
sichtbar. Leber reicht bei der Perkussion in der rechten Mamillar¬
linie drei Finger unterhalb des Rippenbogens, in der jVIittellinie
zwei Finger unterhalb des Processus xiphoides, überschreitet die
Mittellinie um drei Finger, ist gut fühlbar, von glatter Ober¬
fläche, weich, nicht schmerzbaft, mit scharfem Rande. Per¬
kussionsschall über den übrigen Partien des Abdomens tympani-
tisch. An den Unterschenkeln und Knöcheln sind keine Oedeme
vorhanden. Am linken Unterschenkel zahlreiche Narben nach
früher vorhandenen Geschwüren sichtbar. Axillardrüsen niebt
palpahel, Leistendiäisen erbsengroß, mäßig weich, nicht schmerz¬
haft. Weder das Sternum, noch die langen Knochen sind beim
Beklopfen schmerzhaft. Patellarreflexe erhalten. Sonst sind keine
Sensihilitätsstörungen zU konstatieren.
Zwei Tage nach der Aufnahme, d. i. am 5. Dezember, be¬
gann Pat. mittags plötzlich zu fiebern; die Temperatur, welche
um 8 Uhr früh 36'7° C betrüg, stieg mittags auf 38° C und zwei
Stunden später auf 40-5° C. Der Radialpuls belief sich auf 128
in einer Minute. Zugleich mit dieser Temperatursteigerung trat
eine beträchtliche Dyspnoe ein — 30 Atemzüge in einer Minute
— und ein stechender Schmerz in der unteren Thoraxhälfte
links vorne. Dazu gesellte sich ein Husten, bei dem Pat. ein
rostfarbenes Sputum expektorierte. Wie der weitere Verlauf be¬
wies, trat bei unserem Patienten eine typische linksseitige, krup¬
pöse Lungenentzündung auf, die jedoch nicht per crisim endete,
da unmittelbar darauf an der früher von dem entzündlichen
Prozeß ergriffenen Stelle sich deutliche Erscheinungen eines tuber¬
kulösen Infiltrates zu entwickeln begannen.
Am 31. Januar 1902 verließ Pat. auf eigenes Verlangen die
Klinik.
Am 25. Februar 1902 wurde er zum zweitenmal aufge-
nommen. Er gab nun an, daß er während des Aufenthaltes zu
Hause oftmals Hitze mit nachfolgenden reichlichen Schweißen
gehabt habe. Während der ganzen Zeit verließ ihn der Husten
mit spärlichem, schleimig-eitrigen Sputum, in dem er einmal eine
ganz geringe Beimischung von Blut bemerkt habe, nicht.
Bei der jetzigen Untersuchung ließ sich ein tuberkulöses
Infiltrat der linken Lungenspitze fests teilen. Die Temperatur hatte
anfangs einen suhfebrilen Charakter, verhielt sich aber schon
nach kurzer Zeit normal, nur von Zeit zu Zeit traten Temperatur-
Steigerungen bis 38° C ein.
Während des diesmaligen Aufenthaltes in der Klinik traten
nach Angabe des Patienten Anfälle von Täubwerden ein, ge¬
wöhnlich im zweiten und dritten Finger der linken Hand be¬
ginnend, von hier auf die ganze linke obere Extremität und den
Thorax übergehend, wo Pat. dann immer ein Gefühl hatte, als
ob der ganze Briistkasten, speziell die Herzgegend zusammeu-
gedrückt würde. Anfälle dieser Art sollten durchschnittlich eine
halbe Stunde gedauert haben. (Angina pectoris?)
Am 10. März um 9 Uhr früh trat bei dem Patienten ein
Anfall unter folgenden Erscheinungen auf: Verlust des Bewußt¬
seins, Dyspnoe, röchelndes Atmen, erweiterte, auf Licht nicht
reagierende Pupillen ; nach fünf Minuten begannen beide Augen
zu tränen, dann wurden beide Bulbi nach links gewendet; nach
15 Minuten kehrte das Bewußtsein zurück, wonach den Patienten
«Mii Gefühl der Kälte und bedeutender Schwäche umfing. 'Einen
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
415
dcrarligeii Anfall soll f’al. iiieiiuils früher gehabt haben. (Acqiii-
valent eines epileptischen Anfalles?)
Am 21. März veiiieti Pat. die Klinik auf eigenes Verlangen
und kam am 21. April zum drittenmal zurück. Diesmal gainer
an, daß er vor zwei Wochen zu Hause während eines der Husten-
anfälle, die ihn die ganze Zeit hindurch quälten, einen starken,
mehrere Tage dauernden Blutsturz gehabt habe.
22. April. Die Untersuchung des Sputums auf Tüberkel-
bazillen gab jetzt zum erstenmal einen positiven Befund. Der
Limgenstatus war unverändert. Die Temperatur war teils normal,
teils leicht subfebril, Maximum 37-8° C. Während des diesmaligen
Aufenthaltes in der Klinik traten neben den früliercn Symptomen
Lungenblutimgen, die zwar nicht sehr stark waren, doch sich
häufig wiederholten, auf den ersten Plan.
Am 11. Mai verließ Pat. die Klinik auf eigenes Verlangen.
Am 8. Juni suchte Pat. die Klinik zum viertenmal auf und
klagte übej- fortwährendes Blutspucken, Heiserkeit, Schmerzen
in den Fingern .der linken Hand von derselben Art wie früher
und über bedeutende SchAväche. Bei der Untersuchung wurde
ein Aveiteres Fortschreiten des tuberkulösen Prozesses konstatiert.
Die Temperatur war Avährend des diesmaligen Aufenthaltes
in der Klinik nonnal, nur an manchen Tagen subfebril (Maximum
37-6° C), Lungenblutungen Avaren diesmal nicht vorhanden. Wegen
Schluß der Klinik zu Ende des Semesters begab sich Patient
am 12. Juli 1902 nach Hause.
Nachdem er sich am 30. September 1902 zum lünftenmal
in die Klinik meldete, gab er an, daß er die ganze Zeit zu
Hause bettlägerig war. Die Heiserkeit dauerte immerfort an, ebenso
der Husten, bei welchem Pat. ein schleimig-eitriges Sputum in
ziemlich reichlicher Menge, doch ohne Blutbeimischung, abson¬
derte. Außerdem hätte er an profusen nächtlichen SchAveißen
gelitten, Fieber Aväre nicht dageAAmsen. Der Appetit soll erhalten
gewesen sein, doch wäre nach Nahrungsaufnahme oft Aufstoßen
ohne Nachgeschmack aufgetreten, der Stuhl war dauernd ver¬
hallen. Seit ZAvei Monaten seien zu diesen Erscheinungen ein
Druck in der Magengrube und krampfartige, von einem Brennen
eingeleitete und nach beiden Rippenbögen ausstrahlende, • von
der Nahrungsaufnahme unabhängige Schmerzen hinzugetreten. Die
Intensität dieser täglich sich Aviederholenden Schmerzen sei sehr
heftig und die Zeit ihrer Dauer zehn bis ZAVölf Stunden gewesen.
Bei der Untersuchung Avaren die Lungenveränderungen von der
Art, wie beim letztenmal. An den unteren Extremitäten Avar ein
leichtes Oedem zu konstatieren.
Was den Verlauf anbetrifft, so Avar die Temperatur mit Aus¬
nahme des ersten Tages (38-7® C) normal, gegen das Ende des
Ijobens subnormal. Radialpuls durchschnittlich 90 in einer Minute.
Die Tagesmenge des Urins betrug 1800 bis 2000 Cm^, spezifisches
Gewicht 1016, ohne abnorme Bestandteile.
Am 2. Oktober und in den folgenden Tagen klagte Patient
über heftige Schmerzen in der Magengrube, die nach beiden
Rippenbögen, sowie nach oben gegen den Thorax ausstrahlten.
Mäßiger Husten, Amn Tag zu, Tag sich steigernde ScliAväche, immer
größere Apathie, Sopor, Pat. Avill keine Nahrung zu sich nehmen.
15. Oktober 1902. Exitus letalis.
Ueber die Blutuntersuchungsresultate Avird Aveiter unten be¬
richtet Averden.
Die klinische Diagnose lautete : Splenectomia ante IV2 annos
nunc leucaemia. Tuberculosis chronica destructiva pulmonis
utriusque praecipue sinistri.
Die pathologisch -anatomische Diagnose (Privatdozent Doktor
Kucera) lautete: Tuberculosis pulmonumi chronica destructiva
et indurativa lobi super, sinistri. Caverna chronica ad basim
lobi super, dextri. Eruptio miliaris chronica dispersa. Pleuritis
chronica fihrosa ambilateralis. Myocarditis chronica fibrosa ven-
triculi sinistri. Hypertrophia et dilatatio cordis utriusque. Degene-
ratio adiposa myocardii. Atheroma aortae. Ulcus verisimiliter
pepticum partis pyloricae ventrieüli. Peritonitis chronica adhae-
siva in regione hypochondrii post resectionem lienis. Enteritis
catarrhalis chronica. Anaemia universalis. Nephritis chronica indu¬
rativa dispersa. Oedema extremitatum inferiorUm.
Ueber das Resultat der Knochenmarksuntersuchung Avird
unten die Rede sein.
Indem wir nun zu der kritischen Beurteilung
des beschriebenen Falles übergehen, glauben wir, des
besseren Verständnisses halber, im' Krankheits verlaufe
unseres Patienten, insofern derselbe in der Klinik beob¬
achtet wurde, drei Stadien unterscheiden zu müssen :
I. Stadium vor der Milzexstirpation, II. Amrühetgehendes
(drei, resp. fünf Monate dauerndes) Stadium nach der
Splenektomie und das die ganze Beobachliuigszeit in der
interoen Klinik bis zum Tod umfassende III. Stadimn.
Um uns über den Zustand, den Patient im I. Sladium
darbot, Klarheit zu verschaffen, müssen Avir uns auf die
schon früher erAvähnte Arbeit Jasiiiskis“) stützen. Nach
derselben Avurde damals bei dem Patienten folgendes fest¬
gestellt: Lungenemphysem, diffuser Bronchialkatarrh,
mäßige Vergrößerung der Lel)er, im Urin Spuren x-on Ei-
Aveiß, zuletzt ein beträchtlicher Milzlumor. Die auf diesem
Untersuchungsbefund und der eingangs angegebenen Anam¬
nese beruhende klinische Diagnose lautete damals: Tünioi'
lienis chronicus, prol)ahiliter malaricus; die anatomische,
aus der Untersuchung der exstirpierten Milz resultierende
Diagnose: Tumor lienis chronicus, mit Rücksicht auf den
Blutbefund pseudoleucaemicus.
Was die \mm Anatomen gestellte Diagnose ,,Pseudo-
leukämie“ betrifft, so müssen’ wir Amm klinischen Stand¬
punkte bemerken, daß die Blutuntersuchuiigen der letzten
Jahre uns schon heute eine Unterscheidung der einzelnen
Formen der, sei es i,n den Lymphdrüsen, sei es in der
Milz oder irgenchAm anders auftretenden Hyperplasie, die
früher, Avenn nur keine leukämischen Blutveränderungen
Amrhanden Avaren, ohne Aveiteres mit dem gemeinsamen
Namen ,, Pseudoleukämie“ bezeichnet Avurden, ermöglichen.
Denn in dem Maße, als unsere häinatologischen Kenntnisse
sich erweiterten, kam es zum Vorschein, daß man in dieser
Gruppe ganz Amrschiedene Krankheitszustände, Avie die echte
Pseudoleukämie, Tuberkulose, Lymphosarkomatosis (Kun¬
drat) u. s. Av., Avelche Avir allmählich Amneinander zu unter¬
scheiden lernen, Amrmengte. Indem Avir also heute unter
Pseudoleukämie eine echte Hyperplasie der lymphadenoi-
dalen Elemente, sei es in den Lymphdrüsen, sei es in der
Milz oder auch im Knochenmark, Amrstehen, erfordern Avir
zAvecks Stellung einer richtigen Diagnose eine für dieses
Krankheitsbild, Avie Pinkus erAviesen hat, charakteristische
relative Lymphozytose im Blute. Da aber solche im Blute
unseres Patienten zu jener Zeit nicht nachgeAviesen Averden
konnte, so darf man vom klinischen Standpunkt in diesem
Falle von einer Pseudoleukämie überhaupt nicht sprechen.
Vollkommen richtig Avar, Avie Avir schon früher ei’Avähnt
haben, die Diagnose : Tümor lienis malaricus, Aveil in An¬
betracht dessen, daß Pat. laut Anamnese durch eine Reihe
von Jahren u. zav. schon seit der frühesten Jugend an
Malaria litt und ebensolange im linken Hypochondrium die
Amn der Milz ausgehende Geschwulst fühlen konnte, der
Milz tumor höchstAvahrscheinlich malarischen LTrsprunges
Avar. Indem wir nun dieser klinischen Diagnose im Prinzip
beistimmen, müssen Avir noch ein, in der damaligen Krank¬
heitsgeschichte zu Avenig berücksichtigtes Symptom herAmr-
heben, das dem ganzen Fall ein jedenfalls charakteristisches
Gepräge verleiht.
Denn wenn Avir nun die den Blutbefund Amr der Milz¬
exstirpation wiedergehende Tabel[le I näher ins Auge fassen,
so fällt uns Amr allem eine Vergrößerung der Erythrozyten¬
zahl oder Polyglobulie und dann eine Leukozytose und zAvar
mit neutrophilem Charakter auf. Da im Organismus des
Patienten keine derjenigen Veränderungen, die geAvöhnlich
eine Vermehrung der Erythrozyten Amrursachen, aufzufinden
Avar u. ZAV. weder Insuffizienz des Herzmuskels, noch über¬
haupt welche Stauungserscheinungen (Puls 72, regelmäßig,
gut gespannt, keine Oedeme), sO' geAvinnt dieses Symptom
eine höhere Bedeutung und da sich noch außerdem ein sehr
heträchtlicher Milztumor hinzugesellte, so müssen Avir
unseren ganzen Fall als zur Gruppe der in der letzten Zeit
immer öfter beschriebenen Fälle der Polyglobulia cum spleno-
megalia et cyanosi gehörig betrachten, obAvohl in unserem
Fall keine Zyanose vorhanden war. ZAvar ist der eben ge¬
nannte Sym'ptomenkomplex noch nicht genau festgestellt
und sind die Akten in . dieser Frage noch lange nicht end¬
gültig geschlossen, dennoch erscheint mis die A'on Professor
Crluzinski^) in der Sitzung der Lemherger med. Gesell-
I. c.
*) Tygodnik lekarski 1906, Nr. 24.
Nr. 14
41- .
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Schaft am 8. Juni 1906, anläßlich dreier vom Dozenten
Rencki demonstrierter Fälle von Polyzythämie mit Milz¬
tumor und Zyanose geäußerte Ansicht, es sei hier die Poly-
glohulie als Hauptsymptom zu betrachten, während die Milz¬
vergrößerung nur von sekundärer Bedeutung sei, am meisten
plausibel. Möglicherweise könnte der Milztumor seine Ent¬
stehung analog der Leukämie einer erythroblastischen
iMetaplasie verdanken, was natürlich noch durch genaue
histologische Untersuchungen der Milz in derartigen Fällen
zu beweisen wäre.
Von noch geringerer Bedeutung scheint die Zyanose
zu sein, die in einigen Fällen auftritt, in anderen aber gar
nicht vorhanden ist.
Was die Pathogenese dieser Fälle betrifft, so liegt mit
Rücksicht auf das Kardinalsymptom, die Polyglobulie, die
Vermutung nahe, daß die Ursache der Erkrankung im
Knochenmark, speziell in seinem die Erythrozyten bildenden,
dem sog. „erythroblastischen“ Teil gelegen ist. Die gestei¬
gerte Tätigkeit dieses Gewebes kann uns die Vergrößerung
der Erythrozytenzahl genügend erklären. Wir sind um so
mehr geneigt, diese übrigens schon von anderen ausgespro¬
chene Deutung zu akzeptieren, als in der Mehrzahl der be¬
schriebenen Fälle neben der Polyglobulie auch eine neutro¬
phile Leukozytose besteht, die wieder als Reizungssymptom
des leukoblastischen Knochenmarkteiles aufzufassen ist.
Auch in unserem Falle bestehen ähnliche Verhältnisse, da
hier ebenfalls eine deutliche neutrophile Leukozytose sicht¬
bar ist. Wir hätten also- in diesem Falle mit einem Reiz¬
zustande des ganzen Knochenmarkes u. zw. sowohl seines
erythroblastischen, wie auch leukoblastischen Teiles zu tun.
Die Frage über die diesen Reizungszustand hervorrufende
Ursache ist auch noch nicht gelöst. Soweit sich bisher be¬
urteilen läßt, kann der beschriebene pathologische Zustand,
des Blutes von verschiedenen, sei es auf die Milz, sei es
auf IMilz und Leber oder auch direkt nur auf das Knochen¬
mark wirkenden Krankheitserregern (Tuberkulose, Lues und
Malaria) hervorgerufen werden.
So vermutete man anfangs, daß der Ausgangspunkt
dieses Leidens eine primäre Tuberkulose der Milz sei ; doch
sind sichere Fälle von Polyglobulie bekannt, wo keine Milz¬
tuberkulose vorlag und wo sogar keine Milzvergrößerung
vorhanden war. Ich erwähne diese Anschauung nur deshalb,
weil man in unserem Falle Tuberkulose der Milz annehmen
könnte, in Anbetracht dessen, daß später Lungentuberkulose
sich entwickelte. Doch wurden vom Anatomen keine makro¬
skopischen tuberkulösen Veränderungen in der Milz vor¬
gefunden, und eine genauere Untersuchung in dieser Rich¬
tung wurde leider nicht ausgeführt. Immerhin können wir,
wieder zu unserem Falle zurückkehrend, den Zustand
unseres Patienten bei der Aufnahme in die chirurgische
Klinik als Tumor lienis chronicus cum polyglobulia definieren
mit der Bemerkung, daß wir als denjenigen Faktor, der den
ganzen Krankheitszustand hervorgerufen hat, eine lang¬
dauernde Malaria betrachten. Erst von diesem Standpunkt
betrachtet, gewinnt unser Fall Interesse.
Wir kommen jetzt zum II. Stadium des Krankheits¬
prozesses. Am 1. Mai 1901 wurde die Milz exstirpiert!
Die nach dieser Operation ausgeführten Blutanalysen stellt
Tabelle II vor. Beim näheren Studium dieser Tabelle fällt
uns zuerst eine bedeutendere Vermehrung der Leukozyten¬
zahl auf, die erst nach anderthall) Monaten, stufenweise
abnehmend, die vor der Operation konstatierte Zahl er¬
reichte. Diese Leukozytose besitzt anfangs einen neutro¬
philen Charakter, ebenso wie vorher, später werden die
Verhältnisse etwas anders, worauf wir weiter unten zurück¬
kommen werden. Die Zahl der Erythrozyten aber geht,
nachdem sie am Tage nach der Operation bis zu sieben
i\Iillionen hinaufstieg, langsam, mit geringen Schwankungen
zur Norm herunter; im Blute beginnen kernhaltige Erythro¬
zyten vom Typus der Normoblasten aufzutreten. Für die
Entstehung der eben geschilderten Blutveränderungen sind.
wie es schon übrigens Jasihski^j in seiner Arbeit hervor¬
gehoben hat, dreierlei Einflüsse maßgebend: vor allem die
Exstirpation der Milz, als eines Blutbildungsorganes, sodann
der Blutverlust bei der Operation, schließlich die lokale
Eiterung in der Bauchdeckenwunde. Jeder dieser drei Fak¬
toren ist für sich selbst imstande, das Verhalten der weißen
Blutkörperchen zu rechtfertigen. Die Eiterung wird, wie be¬
kannt, sehr oft von einer Leukozytose begleitet, nach
größeren Blutverlusten beobachten wir ebenfalls eine Leuko¬
zytose als Symptom einer traumatischen Anämie, nebenbei
Erythroblasten als Regenerationserscheinung seitens der
roten Blutkörperchen.
Endlich zieht die Splenektomie außer einer gestei¬
gerten Funktion der Lymphdrüsen auch eine regere Tätigkeit
des Knochenmarkes nach sich. Wir dürfen gleichzeitig nicht
vergessen, daß die oben erwähnten Einflüsse auf einen
Organismus einwirkten, in welchem bereits früher anormale
Verhältnisse im Blute herrschten.
Einen Mo-nat nach dem Eingriff, da angenommen
werden kann, daß Pat. nach erlittenem Blutverluste Zeit
hatte, sich zu erholen und die Wunde nach der Operation
fast geheilt war, verändert sich das gegenseitige Verhältnis
der weißen Blutkörperchen so, daß (8. Juni und 21. Juni)
an Stelle der bisherigen neutrophilen Leukozytose eine
jedenfalls deutliche, relative Lymphozytose eintritt. Diese
Lymphozytose, die sich durch vikariierende Funktion der
Lymphdrüsen erklären läßt, tritt nicht so deutlich auf den.
ersten Blick hervor, wie es gewöhnlich in experimentellen
Fällen von Splenektomie bei Tieren (Kurlöw) vorkommt
oder auch in entsprechenden Fällen bei Menschen (Beck,
Riegner, Hartmann und Vaquez), doch muß man in
unserem Fall diesen Umstand berücksichtigen, daß sich
diese Lymphozytose auf Grund einer neutrophilen Leuko¬
zytose entwickelt, welche sie vorerst quasi 'beseitigen mußte,
um erst sichtbar zu werden. Was das Verhalten der roten
Blutkörperchen nach der Splenektomie anbetrifft, so fällt
uns vor allem die bedeutende Vermehrung ihrer Zahl bis
auf sieben Millionen am zweiten Tage nach der Operation
auf. Aehnliche Verhältnisse fanden auch Hartmann und
Vaquez (nach ,, Anämie“ in Nothnagels Handbuch zit.)
in einem ihrer Fälle von Splenektomie. Dieses Symptom
kann möglicherweise durch die Annahme erklärt werden,
daß das Knochenmark noch nicht imstande, war, die hämato-
lytische Tätigkeit der Milz zu übernehmen. Die später
folgende Verringerung der FAythrozytenzahl in dieser Periode
im Vergleich zum früheren Zustand ist unserer Ansicht nach
ein Symptom von relativer Anämie, welche teils durch den
Blutverlust bei der Operation, teils durch den febrilen Zu¬
stand, den die Eiterung der Wunde verursachte, zu er¬
klären ist.
So blieb zu Ende des Aufenthaltes 'des Patienten in der
chirurgischen Klinik von der früheren, vor der Splenek¬
tomie bestehenden Polyglobulie scheinbar nichts zurück,
da das Hauptsymptom, nach welchem die Krankheit be¬
nannt wurde, nämlich die Vermehrung der Erythrozyten¬
zahl, fehlt. Wenn wir aber das Wesen der Polyglobulie
in einer gesteigerten Tätigkeit des Knochenmarkes und be¬
sonders seines erythroblastischen Teiles erkennen werden,
so müssen wir sagen, daß in ihm ein Reizzustand existiert,
worauf die Anwesenheit der Normoblasten und die deutliche
Leukozytose hinweisen. Nur geht dieses Knochenmark vom
erythroblastischen Reizungszustand in ein sozusagen para¬
lytisches Stadium langsam über; das erythroblastische Ge¬
webe, dessen Tätigkeit vordem zwar gesteigert, aber dabei
funktionstüchtig war, weist bereits die ersten Anzeichen
einer beginnenden Erschöpfung auf, während der leuko-
blastische Teil in dieser Periode noch immer Symptome
der Reizung darbietet.
Für die Richtigkeit unserer Annahme spricht der Blut¬
zustand unseres Patienten im HI. Stadium, an dessen Be¬
sprechung wir uns nun machen wollen.
9 1. c.
Nr. U
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
417
Wie aus der eingangs angegebenen Krankengeschichte
erhellt, erkrankte der Patient zwei Tage, nachdem er in die
interne Klinik anfgenommen wurde, an linksseitiger krup¬
pöser Pneumonie mit äußerst schwerem Verlauf. Am
siebenten Tage besserte sich der Allgemeinzustand zu¬
sehends, die bisher hohe Temperatur nahm (einen subfebrilen
Charakter an, und blieb auf diesem Niveau lange Zeit hin¬
durch, die physikalischen Verändenmgen in der affizierten
Lunge traten gleichfalls nicht zurück. Wie der weitere Ver¬
lauf bewies, entwickelte sich auf dem von der Lungen¬
entzündung sichtlich vorbereiteten Gmnde eine chronische,
bisher latent gewesene Tuberkulose, deren einziges Sym¬
ptom vor Auftreten des Entzündungsprozesses eine leichte
Dämpfung in der rechten Lungenspitze war.
Spur mehr zu sehen. Dafür treten jetzt im Blute die Norino-
blaston ziemlich reichlich auf, am 4. März sehen wir auf
407 Leukozyten neun Normoblasten, von nun an wächst ihre
Zahl ständig. Am 19. Juni haben wir auf 524 Leukozyten
schon 210 Normoblasten, die überdies zahlreiche Mitosen
aufweisen, am 24. Juni auf 530 Leukozyten 174 Normo¬
blasten, am 4. Juli auf 720 Leukozyten 178 Normoblasten.
Wälirend des letzten Aufenihaltes des Patienten in unserer
Klinik, d. i. kurz vor seinem Tode, gelangt die Zahl der
Normoblasten zu kolossaler Höbe : 8. Oktober auf 769 Leuko¬
zyten 414 Normoblasten, das bedeutet mehr als die. Hälfte
der weißen Blutkörperchen, auß,erdem Megaloblasten, am
9. Oktober gleicht die Zahl der Normoblasten der Zahl der
Leukozyten, am 13. Oktober übersteigt ihre Anzahl die der
Tabelle III.
Datum
Zahl der
Leukozyten
Zahl der
Erythrozyten
ec;
Hämoglobin
Fleischl
Färbungs¬
index
Prozent-Gehalt der Leukozyten
Bemerkung
Polymorph¬
kernige
Neutrophile
Kleine
Lympho¬
zyten
Große
Lympho¬
zyten
Mono¬
nukleäre
Leuko¬
zyten
Eosino¬
phile
üeber-
gangs-
zellen
Neutro¬
phile
Myelo¬
zyten
! 3./I.
1902
39.500
3,168.750
1 :80
45
0-7
—
— •
—
—
—
—
—
. 15./I.
26 050
3,725.000
1 :143
55
0-7
—
—
—
—
—
—
21./I.
21.500
4,100.000
1:190
60
0-7
—
—
—
—
—
—
27./II.
37.300
4,368.500
1 :117
54
0-6
—
—
—
—
—
—
4./II1.
—
—
—
—
— ’
84-7 j 7-1
0-7
0
6-3
0-9
0
Auf 407 Leukozyten 9 Normoblasten
23./IV.
31.125
5,625.000
1:180
—
—
81-8
5-3
0-8
0-9
7-1
. .
3-6
0
Auf 709 Leukozyten 15 Normoblasten
28./IV.
—
—
—
—
—
82-2
86
0-9
0
5 2
2-4
0-5
Auf 1185 Leukozyten 31 Normoblasten
2./V.
31.000
4,243.500
1;136
40
05
83-3
6-4
0-5
01
6-9
2T
02
Auf 1080 Leukozyten 39 Normoblasten
7.1V.
33.850
4,007.000
1:118
40
05
—
—
—
—
—
—
—
lO./VI.
—
—
—
—
—
81-2
7-4
0-6
0
96
09
0
Auf 924 Leukozyten 22 Normoblasten
19./ VI.
.
—
—
—
—
—
83
9-7
11
0
4-5
1-5
0
Auf 524 Leukozyten 210 Normoblasten.
In denselben zahlreiche Mitosen
24./VI.
—
— -
—
—
79 6
7-7
1-1
0-8
9
1-5
0
Auf 530 Leukozyten 174 Normoblasten
4./VII.
42.350
3,237.500
1 :76
40
0-6
72-9
8-7
16
0-7
7
8-3
0-6
Auf 720 Leukozyten 178 Normoblasten
8./X.
164.000
—
—
20
—
82
5-7
2-2
0-2
1-4
5-9
26
Auf 769 Leukozyten 414 Normoblasten,
7 Megaloblasten. Bedeutende Leuko-
zytolyse, Mitosen in Normoblasten —
9./X.
—
—
— ■
—
—
89-4
4-4
1-0
0
1-4
2T
02
Auf 694 Leukozyten 619 Normoblasten,
3 Megaloblasten
13./X.
—
—
—
—
—
77-5
11-8
3-2
0-4
2-6
3-2
1-0
Auf 491 Leukozyten 745 Normoblasten,
1 Megaloblast. Bedeutende Leukozyto-
und Lymphozytolyse.
15./X.
55.400
1,385.000
1:25
20
07
87-8
4-8
2 1
0
0-5
29
1*4
I
Auf 411 Leukozyten 996(1) Normo¬
blasten. Geringere Lymphozytolyse
Wir werden an dieser Stelle weder den Verlauf der
Pneumonie, noch den ihn begleitenden Zustand des Blutes
besprechen, weil das zum Gegenstand einer besonderen
Arbeit werden soll, und schreiten jetzt zur Analyse des
Blutes unseres Patienten von dem Augenblick an, wo wir
annehmen können, daß sein Organismus sich nicht mehr
unter dem Einfluß der Pneumokokkeninfektion befand, das
ist vom 3. Jänner 1902. An diesem Tage wurden es eben
drei Wochen, seitdem die Lungenentzündung endete, und
das vorherrschende Leiden ist nun Tuberkulose. Den dazu¬
gehörigen Blutzustand weist Tabelle HI auf. Wenn wir das
Verhalten der roten Blutkörperchen in diesem Stadium ins
Auge fassen, bemerken wir, daß ihi'e Anzahl schon vom
Anfang an verringert, zu Ende des Lebens noch weiter
sinkt und am Tage des Ablebens kaum 1,385.000 beträgt.
Von der früher bestehenden Polyglobulie ist folglich keine
Leukozyten fast doppelt und am Tage des Todes haben
wir auf 411 Leukozyten 996 (!) Normoblasten.
Die weißen Blutkörperchen befinden sich im Blute in
vergrößerter Anzahl, durchschnittlich über 30.000, zu Ende
des Lebens haben wir noch höhere Ziffern (8. Oktober
154.000, 15. Oktober 55.000). Diese Leukozytose hat ständig
einen neutrophilen Charakter, in der späteren Periode treten
neutrophile Myelozyten auf.
Wir müssen jetzt die Frage beantworten, ob über¬
haupt und auf welche Weise das Verhalten des Blutes in
dieser Periode auf Grund der im Körper des Patienten fest¬
gestellten pathologischen Veränderungen zu erklären sei.
Die Verringemng der roten Blutkörperchen kann in unserem
Falle als Fölgezustand der Lungentuberkulose, des fast un¬
unterbrochen dauernden Fiebers, der Lungenblutungen usw.
sehr leicht begreiflich sein. Schwieriger ist es, die Ursache
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
des so massenhaften Auftretens der Normoblasten im Blute
ausfindig zu machen. Wenn noch in der Periode vom
23. April bis zum 7. j\Iai die Lungenblutungen zur Not
als Quelle dieses Phänomens betracht werden können, so
kann in der Folgezeit, wo keine Lungenblntungen mehr
vorkamen, dieser Faktor gar nicht in Betracht kommen und
gerade war die Zahl der Normoblasten im späteren Stadium
noch bedeutender. Wir haben hier also vor uns unzweifel¬
hafte, weitere Reizangssymptome des .erythroblastischen
Knochenmarkisgewebes, ohne im Organismus diejenigen Ur¬
sachen aufweisen zu können, auf deren Wirkung wir ge¬
wöhnlich das Erscheinen der Normoblasten im' Blute zurück¬
führen. In diesem Falle erscheint uns nur die einzige Deu¬
tung möglich, daß dieses uns näher nicht bekannte Agens,
welches früher vermöge seines auf das erythroblastische
Gewebe als Reiz einwirkenden Einflusses, im Blute das Bild
der Polyglobulie herrorgerufen hatte, nun seine Wirkung
weiter ausübt, nur äußern sich die Folgen derselben jetzt
anders u. zw. in der erhöhten Zahl der Normoblasten bei
verminderter Erythrozytenmenge.
Deshalb ist auch das gegenwärtige Blutbild als kon-
seciuente, weitere Fortsetzung des früheren Zustandes zu
betrachten, der nur modifizierl ist (nicht in seinem Wesen,
sondern nur in seiner äußeren Erscheinungsform), vor allem
durch die Milzexstirpation, dann durch die Lungenentzün¬
dung, endlich durch die Lungentuberkulose.
Was wir über die . Normoblasten gesagt haben, läßt
sich auch von den weißen Blutkörperchen 'behaupten. Durch
die ganze fast, zehn Monate umfassende Dauer dieses Sta¬
diums war ihre Menge bedeutend vermehrt, gegen das Ende
kommen Zahlen Amr, denen man nur bei Leukämie begegnet,
was auch den Grund zur klinischen Diagnose ,,Nunc leu¬
caemia“ abgab. Die Leukozytose besitzt, wie erwähnt, die
ganze Zeit hindurch einen neutrophilen Charakter, im Körper
aber ist dauernd keine derjenigen Ursachen, welche eine
derartige Leukozytose gewöhnlich henmiTLifen, nachzu¬
weisen. Was die Leukozytose anbelangt, die nach Milz¬
exstirpation in gewöhnlichen, insofern normälen Verhält¬
nissen, als dabei keine Blutverändeningen vom Charakter
der Polyglobulie bestehen, beobachtet wird, so dauert die¬
selbe, wie bekannt, durchschnittlich sechs Monate und zeigt
nach einer gewissen Zeit eine mehr weniger deutliche, rela¬
tive Lymphozytose, wie es auch in unserem Falle war;
doch kehrt das Blut nach Ablauf eines halben Jahres zum
normalen Zustand zurück. Bei unseren Patienten hingegen
bleibt die Leukozytose nicht nur nach sechs Monaten be¬
stehen, sondern dauert bis zum Tode, indem sie immerfort
ibren neutrophilen Charakter beibehält. Diese eben und
nur eine solche auch längere Zeit und dauernd
bestehende neutrophile Leukozytose wäre für
diejenigen Poly glo bulie fälle char akter i s tisc h,
in denen die Milz exstirpiert wurde.
Es liegt hier also ein stetiger Reizungszustand des
leukoblastischen Knochenmarkgewebes vor. Bei fortwähren¬
dem Andauern dieses Reizzustandes treten gegen das Ende
neutrophile Myelozyten, als Symptom der Ermüdung auf.
Das Knochenmark befindet sich also während der
ganzen Zeit unserer Beobachtung, das ist ein ganzes Jahr
hindurch, im Zustande einer dauernden Reizung, ohne daß
eine sichtbare, gewöhnliche Ursache. aufzuweisen Aväre. Der
Annahme dieses Reizungszustandes entspricht die bei der
Sektion konstatierte Beschaffenheit des Knochemnarkes voll¬
kommen. Das IMark der langen Knochen (Femur), ebenso
der Rippen war lebhaft rot, byperplastisch. Auf den Aus¬
strichpräparaten (Femur und Rippe) fand man: sehr zahl¬
reiche Normoblasten, wenige Megaloblasten, neutrophile,
eosinophile und sogar einige basophile Myelozyten, poly¬
morphkernige neutrophile und eosinophile Leukozyten, ziem¬
lich zahlreiche kleine, in geringerer Anzahl große Lympho¬
zyten, schließlich Avenige Plasmazellen.
Auf einem der a^oii der Rippe stammenden Schnitt¬
präparate AAuirden zwei typische IMiliarluberkel gefunden, ln
Anbetracht ihres jungen Habitus (nach der Ansicht des
Priv.-Doz. Dr. Kucera konnten dieselben vor höchstens
drei Wochen entstanden sein) müssen A\ür diesen Befund
als terminalen, zufälligen, der keinen Einfluß auf den Zu¬
stand des Blutes haben konnte, betrachten.
Wenn Avir uns jetzt noch einmal den Zustand des
Blutes bei unserem Patienten A^om Anfang der Beobach¬
tung bis zu seinem Tode vergegenwärtigen, so verhält sich
derselbe folgendermaßen : Vor der Splenektomie Avar die
Zahl der roten Blutkörperchen vermehrt, es lag eine deut¬
liche Polyglobulie vor, damit Avar eine unzAveifelhafte neutro¬
phile Leukozytose verbunden. Nach der Milzexstirpation
Avar das Bild ein Avenig verAvischt, teils infolge der Elimi¬
nierung der Milz aus dem Organismus, teils infolge von
lokalen Entzündungsprozessen am Orte der Wunde; einen
Monat nach der Operation Avar die Zahl der Erythrozyten,
schon nur normal, dagegen begannen Normoblasten im Blute
aufzutreten. Die Leukozyten waren im allgemeinen ver¬
mehrt, doch trat an die Stelle der bisher neutrophilen Leuko¬
zytose eine relatwe Lymphozytose ein, die nur kurze Zeit
dauerte, da sie einer ebenfalls nur vorübergehenden vika¬
riierenden Tätigkeit der Lymphdrüsen ihre Entstehung A^er-
dankte. ln dem Maße, als die Lungentuberkulose sich ent¬
wickelte, begann die Erythiozytenzahl sich zu verringern,
dagegen sehen Avir im . Blute immer mehr Normoblasten
erscheinen, die Zahl der weißen Blutkörperchen ist nun auch
größer als früher, der Charakter der Leukozytose ist Avieder
neutrophil Avie Amr der Milzexstirpation, in das Blut be¬
ginnen Myelozyten überzugehen.
Die Polyglobulie wird also mit der Zeit unter dem
Einflüsse neuer pathologischer Faktoren in Anämie um¬
gewandelt, doch das Wesen des Prozesses, das, was wir
von Anfang an als die Basis der krankhaften BlutA''erän-
derungen in unserem Falle betrachten, nämlich der Reizungs¬
zustand des Knochenmärkes, dauert ununterbrochen fort
und tritt sogar immer deutlicher hervor. Als die Avahrschein-
lichste Ursache dieser Reizung des Knochenmarkes aber
haben wir schon anfangs die langdauernde chronische Ma¬
laria angegeben. Diese bildete vermutlich dasjenige Agens,
Avelches auf eine uns bisher unbekannte VVeise das Knochen¬
mark affizierte, die Blutveränderungen aber waren nur ein
sekundäres Folgesymptom.
Zuletzt müssen Avir iioch auf einen Avichtigen Punkt
die Aufmerksamkeit richten. Es wurde von manchen
Autoren, die als Ursache der Polyglobulie eine primäre Er¬
krankung der Milz annahmen, die Exstirpation dieses Organs
aus therapeutischen Gründen empfohlen. In der oben er-
Avähnten Sitzung der medizinischen Gesellschaft erwähnte
Prof. Gluzinski''') Avährend der Diskussion über die Poly-,
globulie ganz richtig, daß die Exstirpation der Milz in
solchen Fällen ebenso zAvecklos sei, Avie bei der Leukämie.
Unser Fall beweist auch in vollkommen überzeugender
Weise, daß ein ähnliches Verfahren gar nicht begründet
isl. Die Splenektomie hat hier den pathologischen Zustand
des Blutes prinzipiell in keiner Hinsicht verändert. Es traten
nur für kurze Zeit die A"on der Eliminierung der Milz aus
dem Organismus abhängigen Erscheinungen (relatiA^e
Lymphozytose) auf, die Avesentlichen Symptome der
Knochenmarkreizung blieben aber dieselben. Es ist dies
übrigens Amllkommen verständlich, in Anbetracht dessen,
daß in ähnlichen Fällen Amn Polyglobulie nicht in der Milz,
sondern im Knochenmark die Quelle der BlulA-eränderungen
gelegen ist.
Zum Schlüsse sei es mir gestattet, pieinem hochver¬
ehrten Chef, Herrn Prof. Dr. Gluzihski, für die Ueber-
lassung des Falles und die wertvollen Ratschläge Avährend
der Arbeit den tiefsten Dank auszusprechen.
1. c.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
419
Zwei Fälle von diffuser Peritonitis appendicu-
laris mit nachfolgendem Darmverschluss.
Von Dr. Erwiu Nießner, Ordinarius des deutschen Ritterordens-Spitales
in Troppau.
Die Zahl der Veröffeiitliclmiigen über Darm Verschluß
als Spätfolge von Appendizitis ist bereits eine beträchtliche.
Mac Williams^) führt 86 Fälle dieser Art an. Der Sitz des
Verschlusses war fast stets der Dünndarm.
Wenn ich mich entschließe, zwei Fälle aus meiner
Beobachtung bekannt zu geben, so geschieht dies haupt¬
sächlich deshalb, weil sie eine seltene Uehereinstimmung
in manchen Punkten zeigen und weil sie geeignet sind, die
Schwierigkeiten in der .Differentialdiagnose zwischen Peri-
lonitis und Darmverschluß nach Peritonitis zu beleuchten;
es erweist sich dabei die Unterscheidung des mechanischen
und dynamischen Ileus als praktisch sehr wichtig.
Der durch Verstopfung des Darmes durch Steine
Fremdkörper, Verschließung durch Strikturen, .Tumoren’
Hernien, Volvulus, Invagination, Knickung, Adhäsionen ver¬
ursachte mechanische Ileus hat mit dem dynamischen Ileus,
welcher durch Aufhebung der motorischen Funktion infolge
Marasmus, übermäßiger Ausdehnung der Darmwand, Ver¬
giftung durch Toxine, durch Peritonitis, Splanchnikuserkran-
kung usw. entsteht, eine große Zahl gemeinsamer Symptome.
Die hauptsächlichsten Erscheinungen sind : Das Auf¬
hören des Abganges von Stuhl und Gasen, Erbrechen,
welches im späteren Stadium zum Koterbrechen wird, Auf¬
getriebensein des Bauches, Aufblähung des Darmes, Puls-
beschleunigung, Indikanurie und Leukozytose des Blutes.
Die Temperatur ist häufig normal oder subnormal, später
bei AuBreten einer Peritonitis gesteigert. Bei einem durch
Peritonitis’ veranlaßten dynamischen Ileus treten selbstver¬
ständlich auch die Erscheinungen der Bauchfellentzündung
hinzu: Spannung der Bauchdecken, kolikaiiige Schmerzen,
Druckempfindlichkeit des Leibes.
\on besonderer Bedeutung für die Diagnose des mecha¬
nischen Ileus ist die Versteifung des geblähten Darmes,
Asymmetrie des aufgetriebenen Leibes und eine mehr
weniger lebhafte Peristaltik, die bei nicht zu starken Bauch¬
decken durch die wechselnde Füllung, der einzelnen Darm¬
abschnitte sichtbar wird und ein lebhaftes Poltern und oft
unaufhörliches Rollen im Leibe verursacht.
Doch sind diese Symptome keine absoluten, sondern
nur relative, bald ist das eine, bald das andere mehr aus¬
geprägt; so findet man mitunter, wie auch Fed ermann^)
in seiner trefflichen Beschreibung von sechs Fällen von
bpätileus nach Appendizitis aus der Klinik des Professors
Sonnen bürg angibt, noch häufig Abgang von Stuhl, wenn
die anderen Zeichen deutlich ausgeprägt sind. Es pflegt
dann der Stuhl in kleinen dünnen Streifen oder Stücken ab¬
zugehen.
Aber auch andere Symptome z. B. die Schmerzen,
die Art der Aufblähung, weisen Verschiedenheiten auf. Ab¬
gesehen von den Unterschieden, welche durch Verschieden¬
heit der Verengungsstelle, ob im Zwölffingerdarm, ob im
lleum, oh im Dickdarm, bedingt sind, spielt dabei gewiß
die Art des Hindernisses eine Rolle. Der Verschluß ist in
\ielen fällen anfangs kein vollkommener, es gelingt noch
der Darmmuskulatur, durch längere oder kürzere Zeit Darm¬
inhalt durch die verengte Stelle durchzupressen. Auf einmal
versagt der Mechanismus. Es mag dabei manchmal idie
Eindickung des Darminhaltes in den unteren Darm¬
abschnitten und die datlurch bedingte Vermehrung des
Widerstandes, manchmal die Vergiftung der Darmmusku¬
latur durch Toxine eine gewisse Rolle spielen. Beim soge¬
nannten Wringverschluß, der durch Drehung des Darmes
um seine Achse entsteht, wird die Lichtung um' so fester
verschlossen, je stärker tier vom oberen Abschnitt wirkende
Füllungsdruck ist.
Intestinal obstruct, following app. operat. Med. and surg. report
Presbyter, hosp. New-York 1904.
b Langenbecks Archiv, Bd. 75.
Es ist begreiflich, daß durch die Verschiedenheit der
Symptome die Diagnose erschwert, in manchen Fällen un¬
möglich wird.
Und doch hängt das ganze Heil des Kranken von der
richtigen Erkenntnis des Zustandes ab. Der Kräfteverfall
nimmt von Tag zu Tag raind zu und die Erfolgaussichten
für eine Operation werdeti immer trostloser.
Gilt doch für diese Fälle noch mehr als für den ein¬
geklemmten Bruch der Grundsatz, vor Sonnenaufgang oder
vor Sonnenuntergang zu operieren, falls das Hindernis nicht
behoben werden kann.
Tritt nach einer Peritonitis ein mechanischer Darm-
yerschluß ein, so wird die Diagnose um so schwieriger sein,
je kürzer die Zeit ist, die zwischen der Peritonitis und
dein Ileus liegt. Ist dagegen die Bauchfellentzündung schon
längere Zeit abgelaufen, so wird die richtige Diagnose keine
Schwierigkeiten bereiten.
Die Behandlung wird entsprechend der ernsten Lage
eine zielbewußte sein müssen, es muß jedes Abwarten, das
Zeitverlust und Gefahr mit sich bringt, vermieden werden.
Gehen die Erscheinungen nach Entleerung des unteren
Darmabschnittes durch hohe Irrigation und durch eine
Magenaussiüilung nicht sofort zurück, so muß man sich
zur Operation entschließen. Beim mechanischen Ileus ist
weder von Atropin- noch Physostigmininjektionen ein anderer
Erfolg als nnnötiger Zeitverlust und eine weitere Schwächung
des Kranken zu erwarten.
Die Operation soll dort, wo viele Verwachsungen der
Därme untereinander bestehen, die Schwäche des Patienten
eine eingreifendere Operation nicht zuläßt, in der Anlegung
einer Darmfistel bestehen; dadurch wird natürlich nur ein
Provisorium geschaffen, ln vereinzelten Fällen soll sich
die Darmfistel entweder spontan oder nach Durchquetschung
der Spornes schließen (WA 1ms D- Tritt dieser günstige Zu¬
fall nicht ein, so müssen wir nach Hebung des Kräfte¬
zustandes das Hindernis durch die Laparotomie beseitigen
und die Fistel verschließen.
WRiin möglich, werden wir bei der Operation direkt
das Hindernis angehen und die vielen Uebelstände, welche
die Darmfistel mit sich bringt, von vornherein zu vermeiden
suchen.
Die Aussichten für die Operation sind uni so günstiger,
je früher operiert wird; je weiiter die Operation hinaus ■
geschoben wird, desto mehr wächst die Gefahr, welche
durch dm Darmlähmung, durch Gangrän des Darmes und
Perforation, Thrombose der Mesenterialgefäße und Intoxika¬
tion bedingt ist.
Federmann berichtet über sechs Fälle, von denen
vier durch Operation gerettet wurden, Broca über drei
letal verlaufene.
Von den beiden von mir beobachteten Patientinnen
starb die eine durch neuerliches Auftreten der Bauchfell¬
entzündung, während die zweite gerettet wurde.
Die Krankengeschichten lauten:
1. Fall. M. C., 20 Jahre alt, Kindergärtnerin, erkrankte
am 13. Dezember 1905 an heftigen, sich steigernden Leibschmerzen
und Erbrechen; da gleichzeitig Blutungen aus dem Genitale
eintraten, bezog sie diese Erscheinungen auf die Menses, so daß
erst am 17. Dezember, als sich der Zustand immer nieJir ver¬
schlimmerte, ein Arzt zu Rate gezoge2i wurde. Derselbe stellto
sofort die Diagnose auf Appendizitis, resp. Appendizitis mit all¬
gemeiner Bauchfellentzündung und, überwies die Kranke dem Zivil¬
spital des Deutschen Ritterordens. Rat. zeigte hei der am
18. Dezember erfolgten Spitalsaufnahme kurz folgenden Befuiul :
Schwächlich gebautes Mädchen, sehr kollabiert, Temperatur 38-2,
Puls 120 bis 130, Zunge sehr trocken, Bauchdecken sehr gespannt,
Bauch aufgetrieben, tym])anilisch, äußerst schmerzhaft, besonders
in der lleocökalgegend, jedoch keine ausgesprochene Dämpfung,
durch die vaginale Untersuchung läßt sich aber eine bedeutende
Resistenz im rechten voohuen Douglas nachweisem. Pal. er¬
bricht von Zeit zu Zeit grünlichen Scldeim.
Entsprechend der Diagnose allgemeine Peritonitis appendicu-
laris wurde sofort zur Operation geschritten. In Chloroform¬
narkose wird der Bauchraum mittels Schrägschnitt nach Roux
b Wilms, Der Ileus. Deutsche Chirurgie 1906.
420
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
eröffnet; sofort stürzt reichlich dünnflüssiger, graugelber Eiter
liervor. Die Dai’nischlingen scheinen in Eiter zu schwimmen.
Processus vermiformis leiclit zu finden, zeigt sich stark gan¬
gränös, mit zwei Perforationsstellen und einem Kotsteinchen. Nach
Unterbindung und Durchtrennung des Mesenteriolums wird der
Appendix abgetragen, der Rest ins Cökum gestülpt und die Serosa
vernäht. Der nochmals eingehende Finger eröffnet den Douglas-
ahszeß. Ausgiebige Mikulicz sehe Drainage in der ganzen Inzi-
sionshreitc. Intern täglich fünf , Kapseln Arg. coli. Crede ä 0-30.
Der Puls bessert sich, die Temperatur ist durch mehrere
Tage noch gesteigert, Stuhl und Winde gehen ab, die Zunge
wird rein und feucht. Durch weitere fünf Tage beinahe völliges
Wohlbefinden, Temperatur normal, so daß Pat. schon als gerettet
betrachtet wird.
Vom 31. Dezember an zeitweiliges Erbrechen, Stuhl an¬
gehalten, neuerdings Schmerzen, Symptome, die als Peritonitis
gedeutet wurde. Auch der Abgaug: der Winde hört auf, am
1. Januar 1906 wird noch etwas Stuhl entleert. Doch das Er¬
brechen wird häufiger, ist fäkulent, die Temperatur dabei fast
normal. Puls 120. Die Dannschlingen zeichnen sich durch die
dünnen Baucbdecken gut ab, zeigen Steifung und deutlich sicht¬
bare Peristaltik. Häufiges Kollern im Leibe. Die Diagnose wird
nun auf mechaniseben Ileus gestellt und am 2. Januar der Bauch¬
raum neuerdings, u. zw. in der Mittellinie eröffnet. Es finden sich
die Darmschlingen sehr stark gebläht, lebhaft gerötet, zaJdreiche
Verlötungen zwischen den Darmschlingen und mit dem Netz,
jedoch nur geringe Fibrinauflagerungen und fast kein Eiter. Der
geblähte Darm wird an mehreren Stellen punktiert, die Punktions¬
stellen vernäht, die Verlötungen gelöst. Der Dickdarm ist leer.
Da die geblähten Dannschlingen in das kleine Becken reichen,
werden die Gedärme fast ganz eventriert und endlich zeigt sich
im kleinen Becken die Verschlußistelle. Ein Teil des untersten
Ileums ist gedreht und am Beckenboden angelötet. (Fig. 1.)
Naht in drei Etagen.
Fig. 1.
A = abführender Schenkel.
Z == zuführender Schenkel.
B = Beckenboden.
Am selben Tage gehen reichlich Flatus und sechs flüssige
Stühle ab. Auch weiterhin bleibt der Darm durchgängig. Jedoch
steigt die Temperatur, der Puls wird elend, am 7. Januar kolla¬
biert Pat. und es tritt Exitus ein.
2. Fall. M. D., 27 Jahre alt, Kanzlistensgattin, erkrankt
am 24. März 1906 unter koiikartigen Schmerzen, die auf den
Eintritt der Menses bezogen werden. Die zunehmenden Schmer¬
zen und Erbrechen veranlassen die Patientin, am 28. März .ärzt¬
liche Hilfe zu suchen.
Die Bauchdecken sind stark gespannt, der Bauch aufge¬
trieben, Temperatur 38-6®, Puls 110, Zunge stark belegt, häufiges
Erbrechen.
Die sofort im Zivilspital des Deutschen Ritterordens ausge¬
führte Operation ergibt diffuse Peritonitis appendicularis, der Pro¬
cessus vermifonnis, welcher an einer Stelle perforiert ist und
in Avelcbem sich ein größerer Kotstein befindet, wird reseziert;
IMikuliczsche Drainage, intern Arg. coli. Crede. ln den fol¬
genden Tagen sinkt die Temperatur allmählich ab, der Puls wird
langsamer und kräftiger, Stuhl und Winde gehen ah. Beim znveiten
Verbandwechsel winl noch ein Kotsteinchen aus der Wunde ent¬
fernt. Die Wunde hegiimt sich zu schließen. Pat. ist über drei
Wochen fieberfrei imd hei gutem Appetit.
Am 25. Mai Erbrechen, Stuhl und Winde angehalten, Bauch
aufgetrieben, gespannt, gesteifte Darmschlingen mit zeiRveilig auf¬
tretender Peristaltik zu beobachten. Kollern im Leibe. Puls 120,
Temperatur normal.
Am 26. Mai Bauchschnitt in der Mittellinie. Obere und
mittlere Dünndarm schlingen stark aufgebläht, unterer lleumanteil
leer. An vielen Stellen Fibrinauflagerungen und Verlötungen.
Darm ziemlich stark injiziert, der untere Teil blaugrau verfärbt,
stellenweise kaum kleinfingerdick. Das Mesenterium zeigt eine
Zahl verschieden großer, blauschwarzer Stellen.
AT
N = Netz.
C = Cöcum.
G D = Geblähter Dünndarm.
1. Strangförmige Fibrinauflagerung
2. und 3. Umschnürungen durch Netz.
Die Stenosenstellen am unteren Ileum sind leicht zu finden.
Die oberste wird durch einen festen Fibrinstrang, der den Darm
ganz umgibt, gebildet. Etwa 1 dm davon, zwei Finger breit von¬
einander entfernt, zwei Stellen, an welchen der Darm durch
Netz ringsum so fest stranguliert ist, daß er, wie an der Durch-
trittsstelle einer eingeklemmten Hernie, ganz weiß aussieht. (Fig. 2.)
Cökum und die Appendixstelle fast glatt und entzündungsfrei,
ebenso der Douglas. Der Fibrinstrang wird ganz abgelöst, die
beiden Netzschlingen abgebunden und abgelöst. Naht der Bauch¬
decken in drei Etagen.
Das Erbrechen sistiert sofort nach der Operation, Winde
und Stuhl gehen ab, Wundverlauf fieberfrei. Bald heilt auch die
an der Stelle der ersten Operation verbliebene kleine Fistel.
Am 15. Juni kann Pat. geheilt das Spital verlassen.
Bemerkenswert ist in beiden Fällen die Verwechs¬
lung der Appendizitiserscheinungen mit Menstruations¬
beschwerden seitens der Patientinnen.
Weiters der günstige Einfluß der Appendizitisopera¬
tion auf die diffuse Peritonitis, die bei der ersten und zweiten
Operation unzweifelhaft nachgewiesen wurde und die nach
den anamnestischen Erhebungen beidesfalls gewiß schon
länger als 24 Stunden gedauert hatte.
Es war in beiden Fällen projektiert, sowie die Erschei¬
nungen der diffusen Peritonitis weiter bestünden, auch an
der linken Bauchseite zu inzidieren und den Bauchramn
gründlich mit physiologischer Kochsalzlösung durchzu¬
spülen. Beim weiteren Krankheitsverlauf erschien dieser
Eingriff unnötig. Aus dem Nachlassen der Bauchfellentzün¬
dung und dem Auftreten der charakteristischen Ileuserschei-
nungen wurde die Diagnose gestellt und durch die Operation
bestätigt. Daß die Mikulicz sehe Schürzentamponade bei
der Operation nicht an den folgenden Ereignissen schuld
trug, geht daraus hervor, daß in beiden Fällen die Stenosen
weit entfernt vom Tampon aufgetreten sind.
Wenn auch der unmittelbare Erfolg im ersten Falle
durch das neuerliche Aufflammen der Peritonitis vernichtet
wurde, so war aus der Art des Verschlusses zu ersehen,
daß jede andere Behandlung als die operative erfolglos
bleiben mußte.
Nr. li
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
421
{Referate.
lieber die Fürsorge für kranke Säuglinge.
Unter besonderer Rerücksichtigung des Neuen Dresdener Säuglingsheims.
Von Prof. Dr. Ä. Schloßmanii,
Mit 12 Tafeln, 11 in den Text gedruckten Abbildungen und 5 Kurven.
Stuttgart 1906, Ferdinand Enke.
Kurz vor seinem Scheiden von der Leitung des Dresdener
Säuglingsheims, entwirft Schloss mann ein zusammenhängendes
Bild von dem Getriebe seiner Anstalt. Die Zweckmäßigkeit der
von ihm getroffenen Einrichtungen, betreffs Einteilung des Hauses,
Milchheschaffung und Milchbereitung, Ernährungstechnik, Pflege
und^ Behandlung seiner Säuglinge, spiegelt sich in den höchst
zufriedenstellenden Erfolgen ah. So sind denn die Institutionen
des Dresdener Säuglingsheims für die Errichtung ähnlicher An¬
stalten anderw'ärts vorbildlich geworden und werden es wohl
bis auf Aveiteres bleiben müssen.
Vor Jahresfrist hat Schlossmann auch eine Waldstation
(,, Waldheim“) für kranke Säuglinge ins Leben gerufen; dadurch
konnte einerseits der drohenden Ueberfüllung des Stadtheimes
Avährend der Sommermonate gesteuert und für die akut kranken
Säuglinge Platz geschaffen werden, anderseits wurden durch die
Freiluftbehandlung bei den Säuglingen mit chronischen Ver¬
dauungsstörungen (Atrophien) therapeutische Erfolge gezeitigt, „die
alle bisher bei der Säuglingspflege beobachteten weit übertreffen“.
*
Säuglingskrankenpflege und Säuglingskrankheiten.
Nach den Erfahrungen im städtischen Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-
Kinderkrankenhaus in Berlin.
Von Dr. Adolf Baginsky, unter Mitwirkung von Dr. Paul Sommerfeld.
Mit 44 Textabbildungen und 1 farbigen Tafel.
Stuttgart 1906, Ferd. Enke.
Nach einer Einleitung, in der der Verfasser die Entstehungs¬
geschichte seiner Säuglingsabteilung ausführlich mitteilt, werden
die Einrichtungen derselben eingehend heschriehen. Die näheren
Details über Größe und Beschaffenheit der Wohnräume, über
Lüftung, Betten, Utensilien, Kleidung etc., das meiste nach An¬
gaben Bagin skys ausgefühi’t, enthalten viel Wissenswertes und
müssen im Original nachgelesen werden. Mit großer Sorgfalt
wird die Asepsis in der Säuglingsabteilung beobachtet. Dann
folgen detaillierte Angaben über Milchgewinnung, Stallhygiene,
über den Dienst in der Milchküche etc. Weiters werden die wich¬
tigsten chemischen Untersuchungsmethoden der Milch beschrieben.
Der zAveite Teil beschäftigt sich mit den Säuglingskrank¬
heiten, denen allgemeine Bemerkungen über die Untersuchung
der Säuglinge vorausgeschickt werden. Der dritte Abschnitt ent¬
hält wichtige und interessante Angaben und Pläne für die Er¬
richtung von Säuglingsasylen und Säuglingskrankenanstalten, mit
Verwertung der langjährigen Erfahrungen des Autors auf dem
Gebiete der Säuglingspflege.
*
Die Krankheiten der ersten Lebenstage.
Von Dr. Max Runge.
Dritte umgearbeitete Auflage.
Stuttgart 1 906, Ferdinand Enke.
Dreizehn Jahre sind seit der letzten Auflage des bekannten
Buches verflossen, Jahre, in denen auf dem in Rede stehenden
Gebiet wichtige Fortschritte u. zw., wie der Autor in der Vor¬
rede behauptet, im Gegensätze zu früher, zum großen Teil durch
die Arbeit der Kinderärzte zutage gefördert worden sind. Daher
war eine „zeitgemäße Umarbeitung“ der einzelnen Kapitel dringend
erforderlich. Und so finden wir in der neuen Auflage die neuere
Literatur eingehend berücksichtigt, die der Autor in übersicht¬
licher Weise zusammengestellt und kritisch gesichtet hat. Be¬
sonders wertvoll aber macht das Buch die überaus reiche per¬
sönliche Erfahrung des Verfassers, die in jedem einzelnen Ab¬
schnitt hervortritt; die meisterhafte Diktion gestaltet es zu einer
überaus anregenden Lektüre.
*
Leitfaden zur Errichtung von Kindermilchanstalten.
Von Edmund Siickoiv.
Hannover 1906, Verlag von M. & H. S c h a p e r.
Die Stadt Bergisch- Gladbach ist die erste deutsche Stadt,
wo auf Gemeindekosten eine Kindennilchanstalt ins Lel)en ge¬
rufen Avurde. Der Verfasser, Tierarzt und Direktor des städti¬
schen Schlachthofes, hat ,,nach eingehenden Milchsludien“, unter
Mithilfe beAvährter Fachmänner, die Anstalt eingerichtet, Avelche
laut Beschreibung Avohl imstande ist, eine einwandfreie Säug¬
lingsmilch zu liefern. Das soll anerkannt Averden.
Dagegen muß Kritik geübt werden an den Vorschriften,
die Verf. für die Säuglingsernährung gibt. In geradezu apo¬
diktischer Weise stellt er die Behauptung auf, die von ihm
angegebenen Milchmischungen (Rahmgemenge nach Biedert)
seien die „bestbewährten“, spricht von „bestem Muttermilch¬
ersatz“ und führt weniger glänzende Erfolge in gleichen An¬
stalten „nicht zum Avenigsten“ darauf zurück, „daß ihnen die
in praxi so beAvährten Mischungstabellen fehlten, die für die
Bereitung seiner Kindermilch von ihm zusammengestellt sind“.
Weiters z. B. ist gelegentlich der Empfehlung des Milchzuckers
folgender Satz zu lesen : „Die in einer Nachbarschaft konstatierte
größere Anzahl von Brechdurchfällen führe ich zum größten
Teil auf die Mischungen mit gewöhnlichem Zucker zurück.“
Verf. dokumentiert sich eben als Laie in Fragen der Säug¬
lingsernährung und sollte die Erteilung derart wichtiger Vor¬
schriften Erfahreneren überlassen. Außerdem verunzieren das
Büchlein einige Photographien von mit der Anstaltsmilch auf¬
gezogenen Säuglingen; nachdem sonst nichts Neues in der Ab¬
handlung zu finden ist, scheint dem Referenten die Hoffnung
des Verfassers, „einige positive Fortschritte in der Säuglings
ernährung nachAveisen zu können“, kaum erfüllt.
*
Die Behandlung von Säuglingen in allgemeinen
Krankenhäusern.
Von Prof. r. Wesener.
Wiesbaden 1906, Verlag von J. F. Bergmann.
An das städtische Elisabeth -Krankenhaus in Aachen wurde
im Herbst 1903 eine eigene Säuglingsabteilung angegliedert und
Avesentlich nach den S ch 1 o s s m an n sehen Prinzipien eingerichtet.
Verfasser berichtet über die in den ersten fünf Vierteljahren
(bis Ende Dezember 1904) gewonnenen Erfahrungen. Die Mor¬
talität belrug 34-70/0 (gegen 48-6% der früheren Jahre). Diese
Verbesserung sei hauptsächlich auf die Resultate bei den Ver¬
dauungskrankheiten zurückzuführen; die Ergebnisse seien außer¬
dem durch eine Reihe ungünstiger Umstände beeinflußt Avorden
(abnonn große Hitze des Sommers 1904; Unzulänglichkeit der
Räume ; zeitAveiser Ammenmangel ; im Beginne noch ungeschultes
Pflegepersonal). Im Sommer hat Verf. Temperatursteigerungen
bei einer Reihe von Säuglingen beobachtet, die er nur auf die
erhöhte Außentemperatur zurückführt („Wännefieber“) ; er nimmt
desAvegen in der heute noch strittigen Frage der Cholera infantum-
Aetiologie den vermittelnden Standpunkt ein, daß zwei Faktoren
in Betracht kämen, einmal die Infektion durch die Nahrung und
zweitens „die deletäre Wirkung der Außentemperatur“ (Mein er t).
Der Autor kommt nach seinen, unserer Meinung nach noch etAvas
unzulänglichen Erfahrungen zu dem Schlüsse, daß Säuglings¬
abteilungen, die an ein bestehendes Krankenhaus angegliedert
sind, bei bedeutend geringeren Kosten dasselbe leisten können,
wie eigene Säuglingskrankenhäuser. Außerdem sei diese Ein¬
richtung noch aus dem Grunde zu empfehlen, Aveil den jungen
Aerzten das Studium der Säuglingskrankheiten wegen der ge¬
ringen Anzahl der selbständigen Säuglingskrankeuhäuser bisher
sehr erschwert Avar.
*
Vorträge über Säuglingspflege und Säuglingsernährung.
Gehalten in der Ausstellung für Säuglingspflege in Berlin im März 1906
von A. Bagiiisky, B. Bendix, J. Cassel, L. Langstein, H. Neumann,
B. Salge, P. Selter, E. Siegert und J. Trunipi).
Berlin 1907, Verlag von Julius Springer.
In einem ansehnlichen Bändchen sind die gelegentlich der
Ausstellung für Säuglingspflege in Berlin im vorigen Jahre A'on
heiworragenden Pädiatern und Hygienikern abgehaltenen popu¬
lären Vorträge wiedergegeben. ObAvohl das gedruckte Wort nicht
422
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
dieselbe Wirkung ausübt, als das lebendige, gesprochene und
namentlich der lesende Arzt fast nur Bekanntes finden wird,
das durcli häufige Wiederholung in verscliiedener Form das
Interesse abstumpfen dürfte, sei trotzdem das Büchlein auch ärzt¬
lichen Kreisen wärmstens empfohlen, als Paradigma, wie man
populäre Vorträge halten soll. Es ist eine Kunst, zum Volke
so zu sprechen, daß man nicht zu viel, nicht zu wenig sagt,
daß man das Interesse des zuhörenden Laien vom Anfang bis
zum Ende wachzuerhalten vermag.
In kurzer Zeit wird auch in Wien eine ähnliche Ausstellung
eröffnet werden und es wäre wünschenswert, wenn das Berliner
iMuster auch hier Nachahmung finden würde. ,
*
Säuglingssterblichkeit und Wohnungsfrage.
Von E. Meiuert.
Sonderabdruck aus Archiv für Kinderheilkunde, Bd. 44, Heft 1/3.
Stuttgart 1906, Verlag von Ferd. Enke.
Aus einer durch 14 Tage durchgeführten Statistik der Stadt
Leipzig ergab sich, daß daselbst die Sterblichkeit der unehelichen
Säuglinge zwar größer ist als die der ehelichen, daß erstere
aber den Schädlichkeiten der heißen Monate weniger ausgesetz't
sind, als die letzteren. Als Grund für diese Erscheinung gab der
Leipziger Verwaltungsbericht für 1'903 an, daß entweder die un¬
ehelichen Kinder vielfach bald nach der Geburt starben und
der überlebende d'eil gegenüber den Gefahren der heißen Jahres¬
zeit Avidei’standsfähiger sei, oder daß die Beaufsichtigung der
unehelichen Ziehkinder eine bessere wäre.
In Dresden ist die Sterblichkeit der unehelichen Säuglinge
geringer als in Leipzig. Der Grund liegt nach Meiner t darin',
daß in Dresden das HauptgeAvicht auf die WohnungsAmrhältnisse
der unehelichen Ziehkinder, in Leipzig nach dem Taubeschen
Prinzipe auf die Eirnährungsverhältnisse derselben gelegt Averde.
Die Dichtigkeit der Wohnungskomplexe und die damit zusammen¬
hängende Durchlüftung der Wohnungen spiele eine große Rolle
in der Frage der Säuglingssterblichkeit, AAÜe vergleichende Beob¬
achtungen von Prausnitz in Graz und Engel-Bey in Kairo
bereits dargelegt haben. Olnvobl in Aegypten z. B. die Zahl
der Brustkinder eine sehr große ist, sei trotzdem die Sterblich¬
keit der Säuglinge eine sehr große. Die Cholera infantum sei
eine Erkrankung funktioneller Natur, nicht durch toxisch oder
infektiös unbrauchbare Nahrung verursacht; sie sei eine der Amr-
schiedenen Erscheinungsformen des Hitzschlages, gegen den das’
Brustkind ZAvar eine relative, aber keine absolute Immunität be¬
sitze. Die relatiA^e Immunität sei dadurch bedingt, daß die Mutter
Avährend der heißen Jahreszeit durch reichliche Flüssigkeitszufuhr
ihre Milch Amrdünne. Die Säuglingssterblichkeit werde sinken,
sobald die Wohnungsdichtigkeit durch ErAveiterung: der Quartiere,
Verlegung derselben außerhalb der Stadt, Schaffung von Park-
aidagen etc., A^erringert Averde.
Der Schlußsatz der reichlich mit statistischen Daten aus¬
gestatteten Arbeit, AA^elche die Ergebnisse der bisherigen, gleich¬
sinnigen Untersuchungen Avürdigt, sollte nach Ansicht des
Referenten folgendermaßen lauten : „Die Wohnungsfrage bildet
einen Avesentlichen Faktor in der Frage der Säuglingssterblich¬
keit“, statt, AAÜe er Avirklich lautet: „Die Frage der hohen Säug¬
lingssterblichkeit ist im AA-esentlichen eine Wohnungsfrage“.
*
Schulhygiene.
Von L. Burgerstein.
Leipzig 1906, Verlag von B. G. T e u b n e r.
Der bekannte Verfasser des in Gemeinschaft mit 0. Neto-
litzky herausgegebenen Handbuches der Schulhygiene gibt uns
in der Teubnerseben Sammlung: Aus Natur und GeistesAvelt,
eine knappe, dabei ausführliche Darstellung der schulhygienischen
Frag(‘n (Einiichtung des Schulhau.ses und seiner Nebenanlagen;
Raumverteilung, Beleuchtung, Lüftung etc., Hygiene des Unter¬
richts, Schulkrankheiten, Hygiene des Lehrerberufes usav.). Das
Rudi, vorncbndicli für den Lehrerstand geschrieben, gibt auch
dem Arzte eine klare Uebersicht über die einzelnen Fragen und
ist zur Einführung in dieses außerordentlich Avichtige und gegen-
Avärtig viel diskutierte Kapitel der Sozialhygiene wärmstens zu
empfehlen.
*
Sammlung lilinisclier Vorträge. Begründet von Richard v, Volkmann.
Rückkehr zur natürlichen Ernährung der Säuglinge.
Von E, Hagenbach-Burckliardt, Basel.
Leipzig 1906, Verlag von Breitkopf und Härtel.
Zunächst eine kleine historische Betrachtung der natür¬
lichen Ernährung, dann eine Darstellung der gegeiiAArärtigen, leider
so mißlichen Zustände und schließlich eine Besprechung der
Mittel, die uotAvendig sind, um Abhilfe zu schaffen und die
allgemeine Rückkehr zur natürlichen Ernährung zu ermöglichen.
Da kommen nach des Verfassers Ansicht hauptsächlich iti Be¬
tracht: ,, Anleitung zum Stillen in den Gebäranstalten, Säuglings¬
heimen, bessere Instruktion der Hebammen (Beteiligung der Kinder¬
ärzte am Unterricht), Belohnungen der Hebammen, Belehrung,
Vorträge und dergleichen, direkte Belehrung der Stillenden (Consul¬
tations des nourrissons), materielle Unterstützung und Belohnung
Stillender, gesetzlicher Schutz der stillenden Frauen, Entgegen¬
kommen der Fabrikherren, der Arbeitgeber, Gründung von Krippen,
hauptsächlich in der Nähe von industriellen Etablissements, mög¬
lichste Entlastung der stillenden Mutter von der Arbeit außerhalb
des Hauses.“
♦
Die Säuglingsfürsorgestelle I der Stadt Berlin. Ein¬
richtung, Betrieb, Ergebnisse.
Von Dr. A. Japha und Dr. H. Neiimaun.
Berlin, 1906, Verlag von S. Karger.
Im Jahre 1 905 wurden aus IVIitteln der S c h m i d t - G a 1 1 i s c h-
Stiftung in Berlin vier Säuglingsfürsorgestellen errichtet, deren eine
(l) in die Neumann sehe Poliklinik Amrlegt wurde. Ueber Ein¬
richtung, Betrieb und Resultate der letzteren berichten die Ver¬
fasser nach einjähriger Tätigkeit in ausführlichster Weise, indem
sie in anerkennensAAmrter Weise ihr Material nach allen nur
möglichen Richtungen Und Amii allen nur irgendAvie in Betracht
kommenden Gesichtspunkten statistisch beleuchten.
Die Säuglingsfürsorgestelle stellt sich zur Aufgabe, bedürf¬
tigen Müttern und Pflegemüttern Amn Säuglingen unentgeltlichen
Rat über Wartung und Ernährung der Säuglinge zu erteilen,
bedürftigen Müttern durch Gewährung von Unterstützungen
(Lebensmittel oder Geld) das Stillen zu ermöglichen und schließi-
lich solchen, die nicht in der Lage sind, ihr Kind zu stillen.
eiiiAvandsfreie Milch, eA^entuell Nährpräparate durch acht Tage
unentgeltlich, von da ab zum Selbstkostenpreis zu überlassen.
An^egliedert an die Säuglingsfürsorgestelle sind folgende Ein¬
richtungen: 1. Unentgeltlicher Unterricht in der Säuglingspflege
(monatliche Kurse); 2. Sprechstunde für unbemittelte Schwangere;
3. Unterkunft für hilfsbedürftige Wöchnerinnen und ihre Säug¬
linge (für ZAvölf Mütter mit ihren Kindern [unentgeltlich] und
außerdem für sechs Säuglinge [gegen Entgelt] ) ; 4. Station für
kranke Kinder; 5. Bureau des ,, Kinderhauses“ (zur Erledigung
von Nachfragen betreffs' Pflegestellen, Unterbringung von Müttern
mit ihren Kindern, AVohltätigkeitsvereinen etc.).
Die Einzelheiten des musterhaften Betriebes, aus dem na¬
mentlich die Avirksamen häuslichen Recherchen hervorgehoben
seien, müssen im Original nachgelesen Averden.
Die Erfolge der Säuglingsfürsorgestellen, namentlich Avas die
Propaganda für das Selbststillen anbelangt, sind recht ermun¬
ternde und die Verfasser sind der Ansicht, daß auf dem Wege
derartiger Säuglingsfürsorgestellen, bei entsprechender Ver¬
mehrung derselben für die Herabsetzung der Säuglingssterblich¬
keit in den großen Städten Bedeutendes geleistet Averden könne.
*
Der akute Dünndarmkatarrh des Säuglings.
Habilitationsschrift von Dr. B. Salge.
Leipzig 1906, Verlag von Georg Thieme.
Der akute, toxische, auf alimentäre Schädigungen ziirück-
zuführende Enlerokatarrh des Säuglings ist nach den Unter¬
suchungen Saig es als ein in klinischer, chemischer, bakteriologi¬
scher und therapeutischer Hinsicht Avohl charakterisiertes Krank-
heitsbild aufzufassen. Die vermehrten, Avässerigen, stark sauer
reagierenden Stühle zeigen im Ausstiäch die reichliche .Anwesen¬
heit Gi'am- positiver Stäbchen („blaue Bazillosc“ Escherichs,
F i nk e 1 s te i n s) ; das We.sen der Erkrankung liegt in der Ent¬
stehung großer Säuremengen im Darm; Darreichung von Fett
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. 423
führt zur Steigerung eben dieser Säuren und dalier ist die vom
Verfasser beobachtete Fet'tintoleraiiz (auch Fraucumilchfett) in
den betreffenden Fällen zu erklären. Die tberapeuliscbe Konse¬
quenz war die mit Erfolg durcbgeführte Verabreichung entfetteter
Frauenmilch oder Molke. Ab zu trennen von diesem durch Nahrungs¬
schädigung hervoi'gerufeiien akuten Darmkatarrh, sind jene Fälle
mit ähnlichem klinischen Bild, die mit stark alkalischen Stühlen,
vonviegend Grain -negativer Bakterienflora (Koli) einhergeheu,
gegen Fett weit weniger empfindlich sind, daher Frauenmilch
sofort gut vertragen und die, wie mitunter nachweislich (gehäuftes
Auftreten) infektiösen Ursprungs sind.
*
Grundzüge für die Mitwirkung des Lehrers bei der
Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.
Von Dr. Fritz Kirsteiii.
Berlin 1907, Verlag von Julius Springer.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit hat den Zweck,
Lehrer und Lehrerinnen über das Wesen übertragbarer Krankheiten
aufzuklären und anf die Gefahren aufmerksam zu machen, die
durch das Vorkommen derselben hervorgerufen werden können.
In leicht faßlicher Darstellung wird das Wesen der Ansteckung,
der Immunität, werden die Quellen der Infektion, die Verbreitungs¬
weise der Krankheitserreger, die Bekämpfung ansteckender Krank¬
heiten in der Schule, mit Anführung der einschlägigen gesetzlichen
Bestimmungen besprochen ; es wird die Notwendigkeit einer mög¬
lichst frühzeitigen Anzeige ans Herz gelegt, es werden die Art
der Isolierung, der Desinfektion und schließlich der Wert der
Schutzimpfungen und die Art und Weise der indirekten Be¬
kämpfung auseinandergesetzt. Im zweiten Teile folgt eine kurze
Besprechung der verschiedenen Infektionskrankheiten. Das Büch¬
lein darf den Mitgliedern des Lehrerstandes zur Orientierung in
obigen Fragen bestens empfohlen werden.
Die physikalische Therapie im Kindesalter.
Von Julius Zappert.
Stuttgart 1906, Verlag von Ferd. Enke.
Mehr als in irgendeinem Zweige der Medizin tritt in der
Kinderheilkunde die physikalisch - diätetische Therapie gegenüber
der medikamentösen in den Vordergrund. . Es bildet daher die
vorliegende Arbeit eine erwünschte Ergänzung der modernen Fach¬
literatur. Verf. gibt eine wohl erschöpfende und befriedigende
Darstellung aller jener physikalischen Prozeduren, die in der
Pflege des gesunden, sowie des kranken Kindes zur Anwendung
kommen, mit Berücksichtigung einer poßen, mit kritischer Aus¬
wahl empfohlenen Literatur und mit Verwertung der eigenen,
reichlichen Erfahrung. Im ersten Teil bespricht Zappert die
Anwendung des einfachen und des mit den verschiedenen Zu¬
sätzen bereiteten Bades. Im Kapitel über j, Abhärtung“ warnt er
mit Recht vor energischen Kaltwasserprozeduren im Kindesalter,
mißt dagegen der Abhärtung durch Luft eine große Bedeutung
bei. Bei Sport und Gymnastik gelte vor allem der Mabnruf : ,,Maßr
halten!“ Der zweite Teil ist dem kranken Kinde gewidmet. Es
gibt wohl kaum eine Krankheit im Kindesalter, bei welcher nicht
physikalische Heilfaktoren in Betracht kämen: Die Hydrotherapie
bei Erkrankungen des Respirationstraktes, der Verdauungsorgane,
bei Infektionskrankheiten, die Klimatotlierapie bei Rachitis, Per¬
tussis etc., die Orthopädie z. B. bei Rachitis, Elektiizität, Mas¬
sage und Gymnastik bei Erkrankungen des Zentralnervensystems
und so weiter. Dazu kommt noch eine Reihe von Erkrankungen
des Zirkulationsapparates, des uropoetischen Systems, der Haut,
die hier nicht abgehandelt werden, da sie speziell pädiatrische
Indikationen nicht erfordern. Rudolf Pollak.
Aus versehiedenen ZeitsehHften.
167. Ueber Arteriosklerose und ihre Behandlung.
Nach klinischen Vorträgen Von Prof. H. Senator in Berlin.
Bei der Arteriosklerose handelt es sich um teils entzündliche und
hyperplastische, teils degenerative, nekrobiotische Vorgänge, die
nach verschiedenen Gefäßige bieten bald in der Intitna, l)ald in
der Media beginnen und sich auf die anderen Gefäßhäute aus¬
breiten. Die Kalkablagerung ist <'in sekundärer Prozeß, das
heißt, der Kalk wird erst in die schon erkrankten Gefäße eingo-
lagerL; die neuerdings als Heilmittel vorgescblagene Kalkentziehung
ist nicht empfeliienswert, vielleicht sogar gefährlich. Der Vor¬
tragende bespricht <lie Symptome der Krankheit, tlic Wertschätzung
des erhöhten arteriellen Druckes und weist nach, daß> dieser iiicbt
als Ursache der arteriellen Veränderungen angesehen werden
könne. Einmal handelt es sich bei der Arteriosklerose um eine
A b n u t z u n g s k r a n k h e i t (senile Form), sodann wird sie al s
Folge von Syphilis, von chronischer Intoxikation durch Alkohol,
Tabak und verschiedenen IMetallen (Quecksilber, Blei), auch, wie
es scheint, von Schwefelkohlenstoff, betrachtet. Weitere Ursachen
bilden der lange fortgesetzte Mißbrauch des starken Kaffees und
Tees, der Extraktivstoffe des Fleisches und der Räucherungs¬
produkte, ebenso endogene Schädlichkeiten, wie sie bei Gicht,
Diabetes mellitus, Nephritis vorliegen. Die Arteriosklerose wird
durch reichlichen Genuß stickstoffhaltiger Nahrung (viel Fleisch,
Wurst, Käse etc.) in ihrem Entstehen begünstigt. Die reichliche
stickstoffhaltige Kost wird Anlaß zur stärkeren Darmfäulnis, die
Resorption dieser Fäulnisprodukte setzt eine chronische Intoxi¬
kation (intestinale Autointoxikation) und führt zur Arteriosklerose.
Die sitzende Lebensweise, die Fettleibigkeit, die sie begleitende
Verstopfung und hiedurch und durch den Rettreichtum bedingte
erschwerte Blutbewegung sind als weitere Ursachen anzusehen.
Man wird demnach bei der Behandlung vorerst gegen diese Ur¬
sachen anzukämpfen haben. Man wird die Alkoholika und den
Tabak verbieten oder wenigstens erheblich einschränken, bei der
senilen Arteiiosklerose aber keineswegs diese Genußmittel oder
andere Lebensgewohnheiten plötzlich und gewaltsam entziehen,
respektive ändern. Die Ernährung erfordert eine sorgfältige
Regelung. Der Genuß' stickstoffhaltiger Nahrungsmittel ist eiu-
zuschränken, die sogenannte lakto-vegetabilische Kost mit
geringer Beigabe von Eiweiß, das Verbot der sogenannten Extraktiv¬
stoffe und Räucherungsprodukte sind angezeigt. Also Milch,
daneben Kohlenhydrate (Brot, Mehlspeisen, Schleimsuppen) und
Fette, Obst, grüne Gemüse, auch Eier in kleinen Mengen; kein
Fleisch, oder nur sogenanntes weißes Fleisch und frische Fische.
Bei fettreichen Menschen wird man anderseits die Kohlehydrate
(Zucker, Mehlspeisen und andere Amylazeen) von der Diät aus¬
schließen und dafür grüne Gemüse und Übst empfehlen, dazu etwas
mageres Fleisch gestatten, dabei für reichlichen Stuhlgang, für
Muskelübung (aktive und passive Gymnastik), natürlich ohne jede
Uebertreibung und unter stetiger Kontrolle der Herztätigkeit Sorge
tragen. Befällt die Arteriosklerose einen Diabetiker, so steht die
Unterdrückung der Zuckerausscheidung wohl obenan, man wird
aber einigermaßen lavieren müssen, bald mehr, bald weniger
Eiweißnahrung gestatten, dabei besonders reichlich die grünen
Gemüse, saures Obst, Salate und vor allem Fette gestatten. Bei
der lakto - vegetarischen oder mehr rein vegetarischen Diät wird
die Viskosität des Blutes herabgesetzt, dadurch die Fort¬
bewegung des Blutes erleichtert, die Arbeit des Herzens und der
Gefäße (Arterien) erleichtert. Die Herabsetzung der Blutviskosität
wird auch durch Jodpräparate erreicht. Vielleicht üben sie
außerdem eine günstige Wirkung auf die Arterienhäute, besonders
auf die Intima, aus. Empfehlenswert sind Jo di pin in Capsul.
gelatin, zu 1 g, drei- bis viermal täglich und Sa jodin in Tabletten
ä 0-5, vier- bis fünfmal täglich. Senator benützt seit langem
eine Verbindung von Jod und Nitriten, z. B. Kali jodat. oder
Natrium jodat. 1 bis 2 g. Aquae ad 200, hievon dreimal täglich
einen Eßlöffel mit Älilch zu nehmen. Zweckmäßig ist auch eine
Verbindung von Tinct. jodi 10 mit Spirit, aether, nitros. 30,
wovon drei- bis viermal täglich 20 bis 30 Tropfen genommen
werden, oder Nitroglyzerin OT, Spirit, aether, nitr. 30-0, drei-
bis viermal täglich 15 bis 20 Tropfen. Verf. eiwähnt sodann die
hydriatischen Prozeduren, die bei ausgebreiteter Arteriosklerose!
und namentlich bei Beteiligung des Herzens große Vorsicht er¬
heischen, der einfachen warmen, der Kohlensäure- und Sauer-
stoff-(Ozet-)Bäder, die bei strenger Individualisierung nützen
werden. Dasselbe gilt von der Massage, von der aktiven und
passiven Gymnastik, bei welchen ganz besondere Vorsicht, tasten¬
des Vorgehen am Platze ist. In neuester Zeit wird die Zufuhr der
sogenannteji Blutsalze empfohlen, da bei der Arteriosklerose wenig
Salze im Blute vorhanden sind. Am beffuemsten anwendbar sind
die x\ntisklerosintabletten (sie enthalten Kochsalz, dauebeu Nafr,
424
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 14
sulfur., Natr. phosphor., Natr. carbon., Magiies. phosphor, und
Calcium glycerophosphat.), man fängt mit zwei Tabletten an und
steigt allmählich bis auf sechs Stück täglich. iMan steige lang¬
sam, setze auch einmal ein bis zwei Tage aus, damit die Tabletteji
lange Zeit genommen werden können. Oh sie wirklich spezifisch
wirken, kann Senator, der daneben stets Jodpräparate gab und
die Diät regelte, nicht sagen. Nebst alledem tritt die sympto¬
matische Behandlung in ihre Rechte. Alle Ursachen, welche Stö¬
rungen hervorrufen, sind zu beseitigen, also z. B. körperliche
Ueberansirengung, psychische (auch geschlechtliche) Aufregunge]i,
Ueberfüllung des IMagendarmkanals etc. Die Blutzufuhr ist zu
verbessern, gewisse Symptome, wie heftiger Schmerz, Beklemmung
und so weiter sind symptomatisch (Morphium) zu bekäm])feii. —
(Die Therapie der Gegenwart 1907, März.) E. F.
♦
168. Ueber nervöses Auf stoßen. .Von Dr. Richard
Adler in Prag. Die Eructatio nervosa besteht darin, daß hei
vollkommen magengesunden Individuen durch krampfartige
Ruktusparoxysmen atmosphärische Luft entleert wird. Dies kommt
hauptsächlich bei hysterischen, aber auch bei nervösen (neuras the-
nischen) Individuen vor. Während des Schlafes hören die Ruktus
auf. Verschieden ist die Art des Auftretens : In einzelnen Fällen
nur Minuten dauernde, in anderen stundenlange Anfälle, bald
ohne besondere Veranlassung, bald bei irgendeiner Aufregung; in
manchen Fällen während und im Anschlüsse an die Mahlzeiten.
Eichhorst, insbesondere aber Bouveret haben gezeigt, daß
die Luft durch eigentümliche Pharynxkontraktionen geschluckt
wird und wenn eine größere Menge Luft geschluckt ist, dieselbe
dann durch Aufstoßen entfernt wird; das Primäre ist also nicht
das Aufstoßen, sondern das Schlucken der Luft, daher die fran¬
zösische Bezeichnung „l’aerophagie nerveuse“ richtiger und be¬
zeichnender ist als die deutsche. Im allgemeinen wird eine anti¬
nervöse Therapie, besonders Suggestion, empfohlen, häufig je¬
doch ohne Erfolg. Dagegen kann Verf. die von Bouveret,
später von Leu he empfohlene Methode, den Mund offen halten
zu lassen, für sehr viele Fälle warm empfehlen. Wenn man
nämlich durch eine entsprechend große, zwischen die Zahn¬
reihen gesteckte Scheibe Schluckbeschwerden verhindert, so ver¬
hindert man das Luftschlucken und damit natürlich auch das
Aufstoßen; die vorhandene Luft wird npch ausgestoßen, dann
ist Ruhe. Man läßt die Scheibe so lange als notwendig tragen
und weist den Patienten an, sofort wieder das Mittel zu ver¬
wenden, sobald das Aufstoßen beginnt.’ Wenn die Anfälle während
des Essens kommen, kann dieses Mittel natürlich nicht ange¬
wendet werden. Hier schlägt Verf. außer Allgemeinbehandlung
ein lokales Revulsivum, z. B. Jodtinktur oder ein Vesikans vor.
In einzelnen Fällen können auch schwerere Erscheinungen von
seiten des geblähten und auf getriebenen Magens (Trommelsucht)
entstehen. Es schien dem Verfasser wichtig, auf das so ein¬
fache Mittel, das nirgends erwähnt wird und das mit einem
Schlage die unangenehmen Erscheinungen des Luftschluckens
beseitigt, aufmerksam zu machen. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1907, Nr. 4.) \G.
♦
169. (Aus dem Londoner Middlesex -Hospital.) Ueber
einige gewöhnliche F'ehler in der Diätetik und all¬
gemeinen Hygiene des Kindesalters. Von A. F. Vo el cke r.
Diese von einem langjährigen Praktiker verfaßte Abhandlung ent¬
hält zwar — wie er selbst betont — kaum etwas prinzipiell
Neues, doch sind einige von ihm angeführte Punkte wohl be-
rücksichtigenswert und daher im folgenden hervorgehoben. Es
wird zunächst gegen den Aberglauben Stellung genommen, daß
die gemischte Ernährung mit Frauen- und Kuhmilch schädlich
sei und es ist jedenfalls nicht gleichgültig, von einem viel er¬
fahrenen Arzte wieder einmal bestätigt zu hören, welch gute
Erfahrungen das jetzt wohl von den meisten Kinderärzten an-
erkaimte „allaitement mixte“ auch ihm gezeitigt hat. Ferner
wird darauf aufmerksam gemacht, wie verfehlt es ist, die Ge¬
wichtskurve des Säuglings als alleiniges Kriterium seines Ge¬
deihens zu betrachten. Bezüglich des Obstgenusses macht Ver¬
fasser darauf aufmerksam, daß der tägliche Genuß von Ohst nach
einiger Zeit zu Darmträgheit führt und empfiehlt, den Kindern
bloß drei- bis viermal wöchentlich Obst zu verabreichen. Eine
nicht geringe Rolle wird auch der genügenden Fettzufuhr bei¬
gelegt. Es wird hiebei u. a. das Bratenfett — mit Maß verab¬
reicht — als eine den Kindern sehr angenehme Form der Fett¬
zufuhr empfohlen. Im Hinblick auf die Frage: „Rohe oder ge¬
kochte Milch“, tritt Verf. dafür ein, daß jüngere . Kinder durch¬
aus gekochte Milch erhalten sollen; älteren dagegen kann, falls
Abneigung gegen gekochte Milch besteht, rohe gereicht werden,
vorausgesetzt, daß diese aus einwandfi-eier Quelle stammt. Be¬
züglich der Kleidung wird auf die Gefahr der kritiklosen Ab¬
härtungsbestrehungen — Unbekleidetsein der Brust, der Waden
— und der Mode des Sandalentragens hingewiesen. Wichtig ist
auch der Hinweis darauf, daß beim Spazierengehen auf die Er¬
müdbarkeit des einzelnen Kindes zu wenig Rücksicht genommen
wird. Verf. stellt die Forderung auf, ,,daßi Kinder spazieren gehen,
jedoch nicht spazieren gegangen werden sollen“. Mit einem Appell
an die Aerzte, Führer und Erzieher des Publikums zu sein, schließt
diese stellenweise mit viel überlegenem Humor und tiefer Men¬
schenkenntnis gewürzte Studie. — (British medical Journal,
26. Januar 1907.) J. Sch.
•t
170. Sind die Röteln immer gutartig? Von L. Chei-
nisse in Paris. Nach der herrschenden Lehre sind die Röteln
eine durchaus gutartige, niemals das Leben bedrohende Erkran¬
kung. Es finden sich jedoch in der Literatur auch Mitteilungen^
aus welchen hervorgeht, daß die Röteln, namentlich bei ge¬
schwächtem Zustand des kindlichen Organismus, sehr bedrohliche
Komplikationen von seiten des Respirations- und Verdauungs¬
traktes, z. B. Bronchopnemnonie und Enterokolitis mit sich
bringen können. Es ist allerdings der Einwand erhoben worden,
daß es sich hei solchen PMllen um verkannte Masern gehandelt
hätte, wie auch die Lehre aufgestellt wurde, daß den Röteln
keine klinische Selbständigkeit zukommt, indem sie als eine
Mischform von Masern und Scharlach zu betrachten sind. Der
Verfasser beobachtete bei einem 22jährigen Mädchen mit typischen
Röteln am sechsten Tage nach Ausbruch des Exanthems eine
Temperatursteigerung bis 40-2°, gleichzeitig Heiserkeit und Schling'-
beschwerden. Die Tonsillen waren beträchtlich vergrößert und
es erstreckte sich eine Schwellung über die ganze Mundschleim¬
haut, die angeschwollene Zunge zeigte einen dicken Belag, welcher
im Gegensatz zum Verhalten bei Scharlach sich auch auf die
Zungenränder und die Zungenspitze erstreckte. Es bestanden
intensive Schluck- und Atembeschwerden, gleichzeitig auch
schwere Allgemeinerscheinungen. Durch Spülungen des Mundes
mit Wasserstoffsuperoxyd, antiseptische Einblasungen in den
Schlund, sowie innere Darreichung von Bierhefe wurde die Er¬
krankung nach acht Tagen geheilt, doch blieb ,noch für längere
Zeit ein Zustand allgemeiner Schwäche zurück. Solche Fälle
von schwerer sekundärer Angina im Verlauf der Röteln sind
auch von anderen Autoren beschrieben worden. Auch das Auf¬
treten von Hyperpyrexie bei Röteln ist beobac'Jitet worden. Bei
einer in einer Krippe auf getretenen schweren Epidemie von Röteln
wurde neben Bronchopneumonie, Meningitis und Lymphdrüsen¬
vereiterung auch ein Fall doppelseitiger eitriger Otitis, sowie
Ulzeration der Nasenschleimhaut beobachtet. Es waren hier unter
27 Fällen von Röteln acht Todesfälle zu verzeichnen. Es ist
demnach nicht berechtigt, die Röteln als eine unter allen Um¬
ständen gutartige Erkrankung zu bezeichnen. — (Sem. med. 1906,
Nr. 52.) a. e.
*
171. (Aus der Klinik des Professors Doktor Finger
und dem pathologisch -anatomischen Institut in Wien.)
D r ü s e n k r e b s der Mamma unter dem klinischen Bilde
von Pagets disease. Von J. Kyrie. ,Der Verfasser berichtet
über einen Fall von klinisch typischem Pagets disease bei einer
39jährigen Frau. Die histologische Untersuchung ergab den Be¬
fund eines Drüsenkrebses mit eigentümlicher Metastasierung in
die Haut; nebenbei fand sich im Papillarkörper das chronisch
entzündliche Infiltrat, wie es für Pagets disease charakteristiscli
ist. Resümierend nach Heranziehung der einschlägigen Literatur
(Jacobaeus, Matzenauer) kommt Verf. zu dem Schlüsse,
„daß dem klinisch fest umschriebenen, einheitlichen Begriff von
Pagets disease kein gemeinsames pathologisch-anatomisches Sub¬
strat zugrunde liegt, indem das eine Mal ein Plattenepithel, das
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
425
andere Mal ein Zylinderzellcn- oder Drüsenkrebs dieses Krank¬
heitsbild hervorrnfen kann, wobei das Oberflächenepithel des
Warzenhofes oder das die Milchgänge aiiskleidende Epithel oder,
wie im vorliegenden Falle, das Parenchym der Milchdrüse die
Karzinommaterie ahgeben kann“. — Archiv, für Dermatologie
lind Syphilis, Bd. 83, H. 2.) Pi°
*
172. Ans der I. medizinischen Klinik der Universität in
Budapest (Direktor: Prof. F. v. Koränyi). Ueber die Hypo¬
plasie des Arteriensystenis. Von Dr. Siegmund v. Ritoök.
Die Studie befaßt sich, mit den in der Literatur niedergelegten
Fällen von Hypoplasie des Arteriensystems, ln 73 Fällen ist es
bloß zwölfmal gelungen, die Diagnose bei Lebzeiten zu stellen
und da mitunter nur als Wahrscheinlichkeitsdiagnose. Da Doktor
V. Ritoök nicht in der Lage ist, einen Mangel an diagnostisch
veiwertbaren Älerkmalen zu finden, glaubt er, daß bisher der
in Rede stehenden Krankheit nicht die genügende Aufmerksamkeit
geschenkt wurde. Seine Studie liefert eine , Reihe diagnostischer
Anhaltspunkte: 1. jugendliches Alter; 2. hochgradige, jeder Be¬
handlung trotzende Anämie, für welche kein landerer Grund ge¬
funden werden kann; 3. nachweisbar mangelhafte Entwicklung
anderer Organe (Herz, Genitale, Hämophilie, Leukämie);
4. schnelles Ermüden jugendlicher Individuen bei geringer phy¬
sischer Arbeit, Hotz scheinbar normaler Entwicklung; 5. sub¬
normale Temperaturen oder bei fieberhaften Krankheiten unge¬
wöhnlich geringe Temperatursteigerung; 6. Herzklopfen (sogar
stenokardische Anfälle) bei relativ geringer physischer Anstren¬
gung, besonders bei Individuen mit schnellem Wachstum in der
Pubertät; 7. Hypertrophie des linken Herzens bei Fehlen anderer
Ursachen; 8. akute Insuffizienz der Herzens nach relativ geringer
physischer, einmaliger oder habitueller Arbeit; 9. geringe Wider¬
standsfähigkeit gegenüber akuten und infektiösen Krankheiten
(wegen baldiger Insuffizienz des Herzens). Natürlich werden alle
diese Erscheinungen selten gleichzeitig beobachtet werden können.
In je größerer Zahl sie jedoch nachgewiesen werden können,
mit desto größerer Wahrscheinlichkeit wird die Diagnose auf¬
gestellt werden können. Ueber die Therapie läßt sich nichts
Nennenswertes sagen. Prophylaktisch hätten sich sogar kräftig
gebaute Individuen vor jeder, mit physischer Anstrengung einher¬
gehender Arbeit streng zu hüten. Bei eingetretener Insuffizienz
des Herzens oder noch bestehender Kompensation gleicht das
Heilverfahren dem sonst bei Herzkrankheiten üblichen Verfahren.
— (Zeitschrift für klinische Medizin 1907, Bd. LXI, H. 1 u. 2.)
K. S.
173. Ueber den Einfluß des Chinins auf die Wehen¬
tätigkeit des Uterus. Von Dr. A. Maurer, Assistenten der
Universitäts-Frauenklinik in Gießen (Direktor Geh. Med. -Rat Pro¬
fessor Dr. Pfannenstiel). Die Methode ist gegen 40 Jahre alt;
über ihren Wert sind einander widersprechende Angaben ver¬
öffentlicht worden. An obengenannter Klinik wurde im ganzeii in
78 Fällen Chinin zur Anwendung gebracht u. zw. in 63 Fällen
zur Wehenanregung oder Wehen Verstärkung intra partum und in
15 Fällen zur Behandlung des Abortus. In 61 Fällen (78-2o/o) komite
eine deutliche Wirkung der verabreichten Chinindosen beobachtet
werden, in 17 Fällen (21-8%) waren dieselben mehr oder weniger
wirkungslos. Das Chinin wurde per os oder subkutan verabreicht.
Von Chinin, bisulf. (2:30) wurden 0-4 g injiziert, welche Dosis
wirksam war. Später gab man es nur innerlich, zumeist 1 g
Chinin, sulf. auf einmal, welche Dosis nach zwei, resp. fünf bis
sechs Stunden ein drittesmal wieder gegeben wurde. Das Chinin
wurde in Oblaten gegeben, hinterher etwas Kaffee gereicht. Die
Wehen setzten nach einer Stunde ein, wurden allmählich kräf¬
tiger, hielten an oder es wurde die Chiniridosis von 1 g wieder¬
holt gegeben. Die Dosis von 3 g wurde aber nur in den seltensten
Fällen verabreicht. In der Mehrzahl der Fälle war die Geburts¬
dauer eine wesentlich kürzere. In 14 Fällen handelte es sich
um künstliche Frühgehurt; es wurde Hystereuryse angewandt
und gleichzeitig Chinin verabreicht. In neun Fällen wurde gute,
in fünf Fällen gar keine oder nur geringe Wirkung erzielt. Auch
hier wurde die Geburtsdauer wesentlich abgekürzt, was ein großer
Vorteil ist. 14mal wurde das Chinin bei der Behandlung des
Abortus ei'probt, zehnmal mit positivem, viermal mit negativem
Resultat. Der Verfasser gibt bei den einzelnen Gruppen eine
Reihe kurzer Krankengeschichten, erwähnt die geringen Neben¬
wirkungen des Chinins, die Blutungen in der Nachgeburtsperiode
(dreimal beobachtet), die Unschädlichkeit des Chinins für die
Kinder und schließt mit folgenden Worten: Das Chinin übt un¬
streitig einen wehenverstärkenden, vielleicht auch einen vvehen-
erregenden Einfluß auf den Uterus aus. Für die Wirkung des
Chinins kann freilich nicht in jedem Falle garantiert werden.
Chinin ist als Wehenmittel ganz besonders empfehlenswert, weil
es eine physiologische Wehentätigkeit hervorruft, und weil es
sowohl für die Mutter als auch für das Kind absolut unschädlich
ist. Von ganz besonderem Werte ist die Anwendung des Chinins
bei der künstlichen Frühgehurt und bei der Behandlung des
Abortus zur Verstärkung unserer sonstigen Wehenreize. Das
Chinin macht die normale Uterasmuskulatur gegen den Nerven¬
reiz empfindlicher, es übt also auf den Uterusmuskel eine sensi¬
bilisierende Wirkung aus. Versagt das Chinin, so hat man es
wahrscheinlich mit einem abnorm schwachen Muskel zu tun öder¬
es ist die empirisch gefundene Tatsache zu erwägen, daß das
Chinin in geringen Dosen den glatten Muskel reizt, bei zu starker
Dosis aber 1 ä h m t. Störend wird immer bleiben, daß wir die Höhe
der lähmenden Dosis für den einzelnen Fall nicht Vorhersagen
können. — (Deutsche medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 5.)
E. F.
*
174. Aus der kgl. chirurgischen Universitätsklinik zu Königs¬
berg i. Pr. (Direktor: Prof., Lexer). Das xAuf treten intra¬
vitaler Gerinnungen und Thrombosen in den Ge¬
fäßen innerer Organe, nach Aether- und Chloroform¬
narkosen. Von Dr. Paul Mul z er, Assistent am; Rudolf - Virchow-
Krankenhaus zu Berlin, früherem Volontärarzt der clrirurgischen
Klinik zu Königsberg i. Pr. Verf. hat in zahlreichen Tierexperi¬
menten die histologische Untersuchung der Lunge, Leber und der
Nieren nach langdauernden, tiefen Aether- und Chloroformnarkosen
vorgenommen. Er hat 25 gesunde Kaninchen mit reinem Aether
so tief narkotisiert, daß die Kornealreflexe während der ganzen
Narkose erloschen waren. Die Tiere starben teils in der Nar¬
kose, teils wurden sie nach Ablauf einer bestimmten Zeit in
tiefster Narkose viviseziert, lebensfrische Organstückchen ein¬
gelegt und der Weigertschen Fibrinfärbung unterworfen. Bei
sieben Tieren, welche die Narkose nicht länger als eine halbe
Stunde aushielten, enthielten die Gefäße normale, nicht defor¬
mierte und gut gefärbte Blutkörperchen. Dauerte die Narkose
länger als eine halbe Stunde, fand Verf. innerhalb der Gefäßi-
lumina mehr oder weniger zahlreiche, feine, blaugefärbte Körnchen,
die Erythrozyten gegen die Gefäßwand zu deformiert und körnig
zerfallen. Gelang es, die Narkose bis zu einer Stunde fortzu¬
führen, so traten feine blaue Fäden auf, die sich in die Schicht
der deformierten roten Blutkörperchen hinzogen ; oft war in einigen
Gefäßen der Inhalt deutlich nach Art typischer Thromben ge¬
schichtet. 21 Tiere narkotisierte Verf. mit Chloroform, pur. in
derselben Weise wie mit Aether. Audi hier fand er, wenn die
Narkose über eine halbe Stunde dauerte, dieselben pathologischen
Veränderungen innerhalb der Gefäße der Lunge, Leber ^und der
Nieren, wie nach Aethernarkosen : Zerfallene Erythrozyten, kör¬
nige und fädige, blaugefärbte Massen und teilweise geschichtete
Thromben. In beiden Versuchsreihen zeigte sich das Auftreten
dieser pathologischen Verhältnisse unabhängig von der Menge
des Narkotikums und der Art der Lagerung. Auch waren durch
die Anordnung der Versuche Aspiration oder Abkühlung als ur¬
sächliche Momente ausgeschlossen. Auch um postmortale Ver¬
änderungen kann es sich nicht handeln, denn Verf. fand niemals
in' den untersuchten Organen nicht narkotisierter Tiere irgend¬
welche Blaufärbungen, Körnchen oder Fäden in den Gefäßen.
Kontrollversuche mit Injektion von Aether und Chloroform in
die Ohrvene einiger Kaninchen ergaben innerhalb der Gefäße
der inneren Organe im allgemeinen dieselben Erscheinungen wie
nach längerer Narkose mit diesen Stoffen. Diese blaugefärbten,
körnigen und fädigen Massen hält Verf. für körniges und fädiges
Fibrin und meint, daß xAether und Chloroform als Blutgifte primär
eine Schädigung der roten Blutkörperchen, sekundär ein Ver¬
kleben und eine Gerinnung mit Ausscheidung von Fibrin heiwor-
rufen. Ob außerdem die Gerinnbarkeit des Blutes narkotisierter
426
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 14
Tiere erhöht ist, konnte Verf. nicht mit Sicherheit entscheiden.
Der Häinoglobingehalt ist nach der Narkose vielleicht etwas herab¬
gesetzt. Die Zahl der roten Blutköiijerchen hat nach der Nar¬
kose ganz beträchtlich ahgenonmien. Deutlich zeigen in der Zähl¬
kammer die nach der Narkose stark deformierten Erythrozyten
den destniierenden Einfluß des Narkotikums. — (Münchener niediz.
Wochenschrift 1907, Nr. 9.) G.
175. (Aus dem Viktoria-Hospital in Glasgow.) IJeher zwei
Fälle von trau m a t i s c h e r N i e r e n r u p t u r, von denen
in einem nur eine einzige Niere vorhanden war. Von
James Grant Andrew. Ein Idjäliriger Knabe fiel mit der
^0111611 Seite gegen eineji harten Gegenstand auf. Es bildete sich
eine Geschwulst in der rechten Lumbalgegend, starke Schmerzen
traten auf, der Urin enthielt Blut. Da sich der Zustand ver¬
schlechterte, wurde laparotomiert. Hiebei wurde die Nierenkapsel
von ausgetretenem Blut enorm ausgedehnt gefunden. Die Kapsel
wurde ausgeräumt und entsprechend drainiert. Nach fast drei
Monaten wurde infolge einer neuerlichen Hämorrhagie eine Wieder¬
holung: d:er Operation notwendig. Bei dieser Gelegenheit zeigte
sich, daß die linke Niere fehlte. Da das Nierengewebe durch
die Blutungen stark lädiert war, so starb Pat. zwei Tage nach der
Operation. Bei der Obduktion wurde die Abwesenheit einer linken
Niere bestätigt. Die auf der rechten Körperseite gelegene stellte
ein dreiteiliges Organ mit zwei deutlichen Hilen, einem unvoll¬
ständig geteilten Nierenbecken und zwei getrennten Harnleitern
dar. Ein zweiter Fall von traumatischer Nierenruptur, der einen
siebenjährigen Knaben betraf und bei welchem die Diagnose durch
Operation sichergestellt worden war, ging in Heilung aus. Vom
diagnostischen Standpunkt wären nach Verf. in beiden Fällen
folgende Symptome wichtig: die Anwesenheit von Blut im Urin
unmittelbar nach dem Unfall, Palpabilität der rupLurierten Niere
und eine deutlich erkennbare retroperitoneale Schwellung in der
Lumbalgegend. — (Lancet, 26. Januar 1907.) J. Sch.
*
176. Ueber Akrozephalosyndakty lie. Von E. Apert.
Als Akrozephalosyndaktylie wird eine angeborene, mit dem Leben
vereinbare Mißbildung bezeichnet, bei welcher der Schädel eine
abuorme Entwdcklung in der Höhendimension zeigt, nach rück¬
wärts abgeplattet ist und in der oberen Stirnregion übermäßig vor¬
springt, wobei gleichzeitig Syndaktylie an allen vier Extremi¬
täten besteht. Es sind bisher neun Fälle .dieser Mißbildung be¬
schrieben worden, welche in ihren wesentlichen Zügen identisch
sind und nur hinsichtlich des Entwicklungsgrades der Mißbildungen
Abweichungen aufweisen. In einigen Fällen sind auch Mißbil¬
dungen des Gaumens beobachtet worden. Die Mißbildung ist
weder familiären, noch hereditären Charaktei's. In einigen Fällen
wurde Hydramnios, bzw. syphilitische Infektion der Eltern fest¬
gestellt, in zwei zur Autopsie gelangten Fällen erweckte Sklerose
der Milz den Verdacht auf hereditäre Syphilis. Die besondere
Form des Schädels läßt sich durch amniotische Kompressionl
erklären, ebenso ist es festgestelit, daß Syndaktylie auf gleiche
Weise oder durch die Wirkung amniotischer Stränge zustande
kommen kann. Jedoch wird dadurch nicht die Symmetrie der
Mißbildung erklärt. Die durch Druck zustande kommenden Mi߬
bildungen sind Unregelmäßig, ferner findet man bei der durch
amniotische Stränge erzeugten Syndaktylie kongenitale Ampu¬
tationen der Finger, sowie verschiedene Einschnürungen. Die
gleichartige Form der IMißbildung bei Akrozephalosyndaktylie, die
vollständige Symmetrie und die Beteiligung aller vier Extremi¬
täten wird besser durch die Annahme eines trophischen Zen¬
trums an der Schädelbasis erklärt. Nach Babes zeigen alle
Träger von Mißbildungen, welche alle vier Extremitäten betreffen,
auch Mißbildungen des Gesichtsschädels, z. B. Hasenscharte
mit Gaumenspalte, sowie auch manchmal Spaltbildang im Ge¬
sicht. Diese Mißbildungen sind die Folge einer fötalen Erkran¬
kung der Schädelbasis, welche entzündlicher, spezifischer oder
traumatischer Natur sein kann. Bemerkenswert ist das Fehlen,
die Degeneration oder mangelhafte Entwicklung der Hypophysis.
IMan muß daher annehmen, daß an der Schädelbasis ein trophi-
sches Zentrum für die Extremitäten vorhanden ist, dessen Läsion
zur Zeit der ersten Einbryonalentwicklung Mißbildungen hervor¬
ruft. Diese Theorie wird auch durch die Bedeutung der Hypo¬
physiserkrankungen, für die Pathogenese der Akromegalie ge¬
stützt. — (Bull, el Mejii. de la Soc. med. des hop. de Paris 1906,
Nr. 38.) a. e.
♦
177. Ein Beitrag zur K e n n t n i s der B ak t e r i e n f 1 o r a
der Mundhöhle. Von Dr. Viktor Mucha, Wien. Der Verfasser
berichtet über seine Untersuchungen des Sekretes einerseits bei
Anginen, anderseits der normalen Mundhöhle. Dabei gelang es
ihm, bei Anginen in 24 von 26 Fällen, in der normalen Mund-
höhle in 21 von 25 Fällen einen eigentümlichen Streptokokkus
nachzuweisen. jMorphologisch und biologisch gehört er zur Gruppe
des Streptococcus brevis, leicht erkennbar und isolierbar ist er
infolge des Aussehens seiner Kolonien auf serumhaltigem Zucker¬
agar; er -bildet nämlich kleine, häufig aber bis stecknadelkopf¬
große, unregelmäßig begrenzte, in den Nährboden vielfach tief
eingegrabene, knorpelharte Kolonien. Für die gebräuchlichen Ver¬
suchstiere ist er wenig pathogen. Was die Identifizierung mit
den bekannten Bakterien anbelangt, so glaubt Mucha, ihn mit
dem von Hlawa beschriebenen Leukonostok hominis identifi¬
zieren zu müssen, hält ihn jedoch, ini Gegenteil zu Hlawa, der
seinem Leukonostok eine große Bedeutung bei den akuten Exan¬
themen beimißt, für einen häufigen Bewohner der Mundhöhle,
dessen pathogene Bedeutung für den Menschen wahrscheinlich,
aber nicht einwandfrei sichergestellt ist. — (Zeitschrift für klinische
Medizin, Bd. 62.) Pi.
*
178. Aus dem Augusta-Hospital in Köln (Chefarzt: Professor
Matthes). Blutuntersuchungen bei Asthmatikern. Von
Dr. P. S aleck er. Der diagnostische Wert der Eosinophilie des
Asthanablutes sank bedeutend, als Neuss er und seine Schule
eine Vermehrung der azidophilen Zellen bei den verschieden¬
artigsten Krankheitsprozessen fanden. Verf. hatte Gelegenheit,
sieben Asthmatiker vor, im und nach dem Anfall, weitere sieben
im' Intervall zu untersuchen. Die Resultate aus den mitgeteilten
Krankengeschichten und Vers'uchsreiihen sind folgende. Im Inter¬
vall findet sich meist eine prozentuale Verschiebung der weißen
Blutzellen in dem Sinne, daß die Polynukleären vermindert
(bis auf 40*’/o), die Monoimkleären bis auf 45^/0) und
die. Eosinophilen (bis auf 42 o/o und auch niehi’) ver¬
mehrt sind. Unter den Polymoi’phkernigen findet man öfter ein
Ueberwiegen oder wenigstens einen hohen Prozentsatz der ein-
und zweikernigen Formen. Unter den Mononukleären sind die
mononukleären Leukozyten und Uebergangsfonnen meist stark
vermehrt. Im oder kurz nach dem Anfalle 'findet man ein An¬
steigen der Leukozytengesamtmenge. Dieser Anstieg betrifft haupt¬
sächlich die Polymorphkernigen, die zuweilen bis 80o/o und mehr
der Gesamtleukozytenzahl ausmacheii. Die Mononukleären und
besonders die Eosinophilen nehmen absolut an Zahl ab, zuweilen
scheinen die Eosinophilen fast verschwunden. Dauert der Anfall
an, so können die Verändeiamgen in demselben Sinne zunehmen,
wie es in zwei mitgeteilten Fällen vorkommt. Ein anderer Fall
zeigt dagegen trotz weiteren Ansteigens der Gesamtleukozyten¬
zahl ein leichtes Absinken der Polymorphkernigen und ein stär¬
keres Ansteigen der Eosinophilen. Bald nach dem Anfall sinken
die Polynukleären istark ab, die Mononukleären und Eosinophilen
nehmen absolut an Zahl zu. Im Laufe von einigen Tagen kehren
die Verhältnisse zur NoriU; zurück. Bei sogenannten akuten Asthma¬
anfällen scheinen die Schwankungen der Blutzusammensetzung
erheblicher zu sein als bei den chronischen. Als Erklärung für
diese geAvaltige Blutveränderung im Asthniaanfalle möchte Ver¬
fasser annehmen, daß von der Bronchialschleimhaut aus ein starker
Reiz auf die Blutbildungsstätten ausgeübt Avird. Diese geben zu¬
nächst ihr geAvöhnliches Reservematerial, die Polynukleären, her,
Avährend die Bluteosinophilen, einem spezifischen Reize folgend,
in die Bronchien emigrieren. Auf den Verlust an Eosinophilen
antAvorten die Blutbildungsstellen mit einer Ueberproduktion, avo-
durch isich das spätere Ansteigen derselben erklärt. Die Poly¬
nukleären gehen, da sie bei der Spezifität des Bronchial reizes
nicht gebraucht Averden, zugrunde. Das Bronchialasthma Avird von
den meisten Autoren für eine Reflexneurose gehalten. V^’erfasser
meint, daß man so starke Blutreaklionen nur auf chemische oder
bakterielle Reize folgen sieht. — (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1907, Nr. 8.) G.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. 427
Therapeutisehe j^otizen.
Jodofan, ein neues or gallisches Jodpräparat, als
Jodo former satzmittel. Von Dr. H. Eisenborg:, Berlin.
Jodofan, das Monojododioxylbenzolaldeliyd, C6H3J(OH)2HCOfl,
bildet ein röflicbgelbes, kristallinisches, fein pulverisiertes, nicht
liygroskopiscbes, rein organiscb-cbemisches Präparat, welches
gerucb- und geschmacklos ist. Es ist unlöslich in Wasser, 'Alkohol,
Aether, Chloroform. Durch die Wundsekrete wird es zersetz^
wodurch die rote Farbe in ein dunkles Grau übergeht. Die
bakteriologische Prüfung ergab eine überraschend kräftige des¬
infizierende Wirkung. Diese ist so stark, daßi in ausgeschütteten
Platten das Whichslum der Kulturen schon in einer Entfernung
von fast 1 cm von der Trockensuhstanz aufhört. Diese hohe
desinfizierende Kraft zusammen mit der absoluten Reizlosigkeit
des Präparates, welche bisher hei allen Versuchen konstatiert
wurde, sichern dem Jodofan nach Verf. eine bedeütende Zukunft.
Hinsichtlich der Benützungsweise bemerkt Verf., daß das Jodofan
auf die Wundfläche nur in ganz, dünner Schicht auf gestäubt
werden darf, weil es, in dicker Schicht auf ge tragen, einen mit
dem Wundsekret verbackenden Schorf bildet, der die Aufsaugung
in die .Veibandstoffe hindert. Zu Verhandzwecken kann man
sich einer lOo/oigen Jodofangaze bedienen. Verf. verfügt bis jetzt
über 49 Fälle, aus der sogenannten kleinen Chirurgie 34, von
dermatologischen Fällen 10, nässende Ekzeme, Ulcera mollia,
Ulcera cruris varicosa, wobei er auch eine 20”/oige Jodofanpaste
zur Anwendung brachte; dann bei einem inoperablen I-’ortio-
karzinom mit ausgezeichneter desodorisierender Wirkung. An
allen diesen Fällen hat Verf. den Eindruck gewonnen, daßi wir
im „Jodofan;* ein dem Jodoform ebenbürtiges, absolut reizloses
Wundheilmittel und Wunddesinfiziens besitzen, welches zweifel¬
los völlig frei ist von all den Nachteilen, die so häufig der An¬
wendung des Jodoforms entgegenstehen. — (Münchener medizi¬
nische Wochenschrift 1907, Nr. 12.) G.
^/ermisehte J^aehriehten.
Ernannnt: Der mit dem Titel eines außerordentlichen Uni¬
versitätsprofessors bekleidete Privatdozent an der Universität in
Wien, Dr. Anton El sehnig, zum ordentlichen Professor der
Augenheilkunde und Vorstände der Augenklinik an der deutschen
Universität in Prag. — Der .außerordentliche Professor Dr. x\dolf
Pas son zum ordentlichen Professor der Ohrenheilkunde in
Berlin. — Prof. Partsch in Breslau Zum Geh. Medizinalrat. —
Dr. Salge zum außerordentlichen Professor der Kinderheilkunde
in Göttingen. — Der außierordentliche Professor Dr. Szekey in
Budapest z'um Direktor des dortigen Pasteurinstitutes. — Privat¬
dozent Dr. Klein in Amsterdam zum Professor der Hygiene,
gerichtliche Medizin und Pharmakologie in Groningen. — Doktor
Kadi an (Chirurg) und Doktor Verkhowsky (Laryngologe) zu
ordentlichen Professoren am medizinischen Institut für Frauen
in Petersburg.
*
Geh. Med.-Rat Prof. Hermann Senator beging am 23. März
die öOjäbrige Doktorjubelfeier.
*
Verliehen: Dem praktischen Arzte Dr. Ottokar B o z a nek
in Prag der Titel eines kaiserlichen Rates. — Dem Oberstabsarzt
Dr. Richard Müller in Berlin das Prädikat Professor.
*
Habilitiert; Dr. R. Dalla-Vedova für Chirurgie in
Rom. — Dr. Eenzi für externe Pathologie in Florenz.
*
Gestorben: Dr. Ottomar Rosenbach, Professor für
innere Medizin in Berlin. — Obermedizinalrat, Generalarzt Doktor
V. Burckhardt, Vorstand der chirprgisohen Abteilung des
Ludwig- Spi tales in Stuttgart. — Prof. Dr. G. B. F'owler in
New - York.
*
Am 23. März versammelte sich in Dresden auf Einladung
der Profesisoren Heu b ner- Berlin und Czerny- Breslau eine
Anzahl von Pädiatern zu einer Tagung, auf der folgende Vorträge
gehalten wurden: Czerny-Breslaü: Exsudative Diathese; Stei-
n i tz - Breslau : Ueber Vegetarismus und exsudative Diathese;
Or gl er und Weigert-Breslau ; Sloffwechseluntersuchungen bei
Soletrinkkuren; F reund- Breslau : Milchnährschaden und Fett¬
resorption : R i e t s c h e 1 - Berlin : Ueber die Magenlipase beim
säugenden Tier; Ludwig F. Meye r- Berlin : Ueber den Tod hei
Pylorusstenose ; G o f f r y e - Dresden ; Temperaturheobachtungen
beim Säugling ; W e i g e r t - Breslau : Ernährung und Infektion ;
F i n k e 1 s tein - Berlin ; Ueber Idiosynkrasie gegen Kulnnilcb;
0 r g 1 e r- Breslau : Lieber die Harnsäureausscheidung im Säug¬
lingsalter: N 0 e gig e r a th - Berlin : Referat über v. Behrings
phtbisiogenetische und phthisiotherapelitische Theorien; Demon¬
stration von Photogrammen; Goeppert-Kattowitz: Heilung bei
Spina bifida; Heubner-Berlin : Ueber Poliomyelitis; Lang¬
stein-Berlin; Kohlehydratstoffwechsel in den ersten Lebens¬
tagen; die Bedeutung des Fettes für die Verdauung, der Milch¬
eiweißkörper durch Magensaft (nach Versächen von Lempp-
Berlin); K oeppe- Gießen : Ueber die oxydativen Fermente der
Milch; Möllh aus en -Dresden: Bedeutung von Kochsalz- und
Zuckerinjektionen beim Säugling. ,
*
Anläßlich der 25. Wiederkehr des Jahrestages des Eintrittes
Sr. Exzellenz Prof. v. Bergmann in ,den Lehrkörper der Ber¬
liner Universität hat Prof. Franz Skarbina ein Gemälde ge¬
schaffen, das den großen Chirurgen inmitten seiner Assistenten
während einer Operation im Hörsaale zeigt. Von diesem künst¬
lerisch ausgeführten Bilde wurde für den Kunstverlag Richard
Bong in Berlin eine Gravüre hergestellt, welche nach dem Urteil
Sachverständiger als eine gelungene Kopie des Originals bezeichnet
werden muß'. Das genannte Kunsthlatt wird nicht nur ein Schmuck
für jedes xLerztezimmer, sondern gewiß für viele auch eine will¬
kommene Erinnerung an den nun verewigten Meister sein.
*
'Das von Pnof. J. v. M ering unter Mitwirkung hervorragender
Kliniker herausgegebene Lehrbuch der inneren Medizin,
dessen dritte Auflage 1905 ausgegeben worden war, ist nun in
vierter, teilweise umgearbeiteter Auflage erschienen.
Verlag von G. Fischer- Jena. Preis Mk. 12-50.
♦
Hyperämie als Heilmittel. Von Prof. Dr. August Bier
in Bonn. Fünfte, um ge arbeitete Auflage. Verlag von
F. Vogel in Leipzig. Preis Mk. 12. Wie der Verfasser des wohl
schon allgemein bekannten Werkes hervorhebt, hat namentlich
die Behandlung akuter Entzündungen und Eiterungen in der vor¬
liegenden Auflage eine Umarbeitung erfahren. Neu hinzugekommen
sind die Kapitel über Behandlung der Keloide, der Tendovaginitis
crepitans, der Hautkrankheiten und schließlich auch noch ein
Inhaltsverzeichnis.
*
Unter dem Titel ,,Geschäfts reisen de Badeärzte“
schreibt Dr. N. an die Münchener medizinische Wochenschrift
in Nr. 13 u. a. folgendes: München, 12. März 1907. Sein-
verehrliche Redaktion! Alljährlich im Frühjahr fühlt sich eine
Anzahl von Badeärzten gedrungen, die in den Städten prakti¬
zierenden, ihnen persönlich völlig unbekannten Aerzte, jneist
während der Sprechstundenzeit, aufzusPchen und sich vorzustellen.
Manchmal sind es zwei, drei Aerzte an einem Tage. Ich fühle
mich, wie wohl die meisten der so Auf gesuchten, immer bei solchen
Besuchen im Interesse des Staiidesansehensi beschämt. Dieser
Tage erhielt ich, wähi'enddem ich in der Ordinationsstunde be¬
schäftigt war, die Karte eines Herrn Dr. Hugo Sch. aus Marien¬
bad in mein Sprechzimmer geschickt. Mit einer Patientin be¬
schäftigt, ließ ich dem Herrn höflich sagen, daß ich heschäftigit
sei und seinen Besuch dankend für empfangen ansehe. Heute
erhielt ich beiliegende Ansichtskarte des mir persönlich unbe¬
kannten Herrn aus dem Münchener Ratskeller; ,, Werter Herr
Kollege ! Aus dem Ratskeller sende ich Ihnen mein Prosit und
besten Dank für den liebenswürdigen, kollegialen Empfang! Besten
Gruß Dr. Sch.- Marienbad. Rechne mit Bestimmtheit auf Ihren
werten Gegenbesuch in Marienhad.“ Das Verhalten des Herrn
Dr. Sch. kann die Kollegen, denen er sich weiter vorstellt,
nur veranlassen, ihm möglichst viele Patienten zur taktvollen
Behandlung zuzuweisen. Vielleicht aber auch nehmen die in
den Badeorten praktizierenden Aerzte einmal die Regelung der
Frage in die Hand, wie sie dem Unfug steuern könnten, daß
einzelne von ihnen wie Geschäftsreisende in den Städten umher¬
ziehen und das Ansehen der Badeärzte und das des ärztlichen
Standes im allgemeinen schädigen.
Freie Stellen.
G e m e i n d e a r z t e s s t e 1 1 e für die Gemeinde Montona
(Bezirk Parenzo, Küstenland). Jahresremuneration K 3800. Der Vertrag
wird im Sinne des Landesgesetzes vom 19. März 1874, L.-G.- u. V.-Bl.
Nr. 8, abgeschlossen werden. Auskunft über die näheren Vertrags¬
bedingungen erteilt das Gemeindeamt in Montona, woselbst auch die
gehörig instruierten Gesuche einzubringen sind.
428
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
Stadtarztesstelle in der Stadt B y s t f i t z a. H., politischer
Bezirk Hollcschau (Mähren), mit 3857 Einwohnern böhmischer Umgangs¬
sprache. Der jiihrliche Gehalt beträgt K 600. Bewerber wollen ihre ge¬
hörig belegten Gesuche bis 30. April 1. J. bei dem Stadtvorslande von
Bystfitz a. H. einbringen.
Gemeindearztesstelle in Bernhardstal (Niederöster¬
reich) für die Sanitätsgemeindengruppe Bernhardslal-Reintal mit 2480 Ein¬
wohnern. Beiträge der Gemeinden K 400; Landessubvention K 400.
Naluralwohiuing und Hausapotheke. Gesuche bis 15. April d. J. an das
Bürgermeisteramt in Bernhardstal.
Gemeindearztesstelle in Wildendürnbach (Nieder¬
österreich) für die Sanitätsgemeindengruppe Wildendürnbach-Neuruppers¬
dorf mit ca. 2000 Einwohnern. Gemeindebeiträge K 500, Landessubvention
K 600. Naturalquartier und Hausapotheke. Gesuche an das Bürgermeister¬
amt in Wildendürnbach.
Gemeindearztesstelle inGerolding (Niederösterreich)
für die Sanitätsgemeindengruppe Gerolding-Schönbühel a. d. D., mit
ca. 1500 Einwohnern. Beiträge der Gemeinden K 340, Bezirkskranken¬
kasse K 600, Bezirksarmenrat Melk K 220, Landessubvention K 1200,
zusammen K 2360, außerdem freie Wohnung. Gehörig belegte Gesuche
sind an den Bürgermeister von Gcrolding einzusenden.
Oberbezirksarztes-, eventuell Bezirksarztes- oder
Sanitätskonzipistenstellen. Bei den politischen Behörden in
Tirol und Vorarlberg gelangen eine, eventuell zwei Oberbezirksnrztes-
stellen mit den systemmäßigen Bezügen der VHI. Rangsklasse und in der
Folge eine oder mehrere Bezirksarztesstellen mit den sy-temmiißigen Bezügen
der IX. Rangsklasse, dann eine oder mehrere Sanilätskonzipistenstellen
mit den systemmäßigen Bezügen der X. Rangsklasse zur Besetzung.
Bewerber um eine dieser Stellen haben ihre gehörig instruierten und
insbesondere mit dem Nachweis über allfällige besondere wissen¬
schaftliche Qualifikation versehenen Gesuche im vorgeschriebenen Dienst¬
wege bis längstens 20. April 1907 beim gefertigten Statthaltereipräsidium
einzubringen. Innsbruck, den 24. März 1907. K. k. Statthallerei¬
präsidium für Tirol und Vorarlberg.
An die Redaktion gelangte Werke.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Broecliaei't, fitudes sur les injections de vaseline et de paraffine.
H a y e r, Brüssel.
Martini, Trypanosomenkrankheiten (Schlafkrankheit) und Kala-
azar. Fischer, Jena. M. 1’20.
Hasebroek, Die Zandersche mechanische Heilgymnastik und ihre
Anwendung bei inneren Krankheiten. Bergmann, Wiesbaden.
Wiedemann, Die äugen ärztliche Tätigkeit des Sanitätsoffiziers,
Ebenda.
Kronipecher, Kristallisation, Fermentation, Zelle und Leben. Ebenda.
Erg’cbnisse der experimentellen Pathologie und Therapie, ein¬
schließlich Pharmakologie. Redigiert von Dr. E. Schreiber. 1. Bd.
1. Abtlg Ebenda.
Rajjlioni, Zur Analyse der Reflexfunktion. Ebenda.
Hainmarsteii, Lehrbuch der physiologischen Chemie, 6. Aufl. Ebenda.
Veit, Handbuch der Gynäkologie. I. Bd. 2, Aufl. Ebenda.
Marx, Einführung in die gerichtliche Medizin für praktische
Kriminalisten. Hirschwald, Berlin.
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obefite — diabete. B a i 1 1 i e r e, Paris. Fr. 7‘ — .
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der menschlichen Nieren und ihre Bedeutung für die Nephritis. Hirzel,
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schwülste. Eine biologische Studie. Akad. Verlagsgesellschaft, Leipzig.
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Herzfeld, Praktische Geburtshilfe. 2. Aufl. Ebenda. K 13’20.
Urbaiitschitsch, Ueber subjektive optische Anschauungsbilder.
Ebenda. K 6'—.
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Bonne, Deutsche Flüsse oder deutsche Kloaken ? Lüdeking,
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Baisch, Reformen in der Therapie des engen Beckens. T h i e m e,
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Räubers Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Neu bearbeitet
und herausgegeben von Dr. Kopsch. 7. Aufl. 3. Abteilung; Muskeln,
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Adler Alfred, Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban
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Hirsch, Ueber Arterienverkalkung. 3. Aufl. Berlin, München.
Vorberg, Gift oder Heilmittel im Unglück. Ebenda.
Polluon, Heinsraths Tarsalexzision und Kuhnts Knorpelausspülung
in der Granulosebehandlung. Barth, Leipzig. M. — 80.
Prowazek, Taschenbuch der mikroskopischen Technik der Pro-
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Döuitz, Die wirtschaftlich wichtigen Zecken mit besonderer Be¬
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Brastich, Der geistig Minderwertige in der Armee und dessen
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Kroath, Beitrag zur gofechtssanitäre.n Applikatorik im Gelände.
Ebenda. K 2 40.
Bulkley, Ueber die Beziehungen von Krankheiten der Haut zu
inneren Störungen mit Bemerkungen über Diät, Hygiene und allgemeine
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Eschle, Grundzüge der Psychiatrie. Ebenda. K 9 60.
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Berger, Ueber die körperliche Aeußerung psychischer Zustände.
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Doerr, Das Dysenterietoxin. Ebenda. M. 2’50.
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Sommer, Eine neue Art der physikalischen Nachbehandlung von
Verletzungen auf Grund einer röntgenologischen Studie über die Kallus¬
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Höderleiu und Kröulg, Operative Gynäkologie. 2. Aufl. Thieme,
Leipzig. M. 25 — .
Schulz, Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der un¬
organischen Arzneistoffe. Ebenda. M. 8 — .
Putter, Die Bekämpfung der Tuberkulose innerhalb der Stadl.
S c h o e t z, Berlin. M. — ’OO.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung der pädiatrischen Sektion vom 14. März und Sitzuntr
vom 21. März 1907. ^
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellscliaft. Sitzung
vom 20. Februar 1907.
Aerztlicher Verein in Brünn. Sitzung vom 13. und 20. Februar 1907.
Medizinischer Verein in Greifswald. Sitzung vom 10. Dezember 1906.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung der p ä d i a t r i s c h e n Sektion v o in 14. i\I ä r z 1S07.
K. Hochsinger zeigt ein Kind mit einseitiger Hoden¬
tu b er ku 1 o s e, welclie schon im vierten Lehensmonat aufgetreten
ist. Der Testikel ist pflaumengroßi. Das Kind bietet sonst keine
Zeichen von Tuberkulose. Es Avird die Exstirpation des Hodens
ausgeführt werden, weil nach derselben erfahrungsgemäß meist
Heilung einlritt, zumal die Hodentuberkulose bei Kindern in der
Mehrzahl der Fälle eine isolierte Erkrankung darstellt.
N. Swoboda hat einen Fall beobachtet, in welchem nach
Erweichung des tuberkulosen Hodens und Durchbruch des Ab¬
szesses Heilung eintrat.
K. Hoch singer bemerkt, daß solche Spontanheilungen
nicht so selten Vorkommen; die operative Entfernung des er¬
krankten Hodens sei jedoch zweckmäßiig.
P. Moser demonstriert anatomische Präparate von zwei
Fällen von diffuser Sklerose des Zentralnerven¬
systems. In beiden Fällen handelte es sich um Kinder, welche
bis ungefähr zum siebenten Jahre gesund waren. Dann änderte
sich das psychische Verhalten, sie Avurden verdrossen, lertiten
schlecht und allmählich bildete sich ein Zustand von hoch¬
gradigem Idiotismus bis zu vollständiger Apathie aus. Während
dieser Zeit stellten sich Rigidität der Muskulatur bis zu spasti¬
scher Parese, ataktische Störungen und Verschle(dderung der
Sprache ein. Der Tod erfolgte an Pneumonie. Bei der Obduktion
fanden sich diffuse sklerotische Partien im Großhirn, nament¬
lich in der hinteren Hälfte, und des Seitenstranges des Rücken¬
markes, in einem Falle auch eines Teiles des Vorderstranges. Es
handelt sich um eine interstitielle Entzündung. Prognose und
Therapie des Leidens sind aussichtslos.
K. Zuppinger stellt einen ZAvölfjälirigen Knaben nnt
chronische m, sekundären G e 1 e n k s r h e u m a t i s m u s
vor. Vor acht Jahren bekam Pat. einen akuten Gelenksrheumatis¬
mus in den Knie- und S))runggelenken. Nach vorübergehenJer
Besserung rezidivierte die Ifrkrankung und es wurden neben den
großen Gelenken auch die Hand-, Hals-, WTrhel- und Kiefergelenke
ei'griffen, so daß Pat. sich durch Jahre fast nicht rühren konnl(;;
der Kopf war nach vorne gebeugt und so fixiert. Dann hat sich
der Zustand etAvas gebessert, die früher konstatierte Endokarditis
der Mitralklappe ist jetzt nicht mehr nacluveisbar. Unter An-
Avendung von Fibrolysininjektionen ist eine Aveitere Besserung
eingetreten, so daß diese Therapie jetzt Aveiter fortgesetzt Avird.
Pat. kann jetzt den Kopf beAvegen und den Mund öffnen.
Neurath hat einen ähnlichen Fall beobachtet, bei Avel-
cheni die Knochen im Wachstum zurückgeblieben Avaren, Avähreml
die RöntgemintersPchung ein abnorm langes Bestehenbleiben der
Gelenksfugen ergab.
B. Neurath denionstriert ein TVajähriges Kind mit chro¬
nischem G e 1 e nk s r h e u m a t i S inn s, welcher vor zAvei Jahren
zum erstenmal aufgetreten ist und seither rezidivierte. Es sind
die größeren Extremitätengelenke befallen. Im' Böntgenbilde findet
sich eine Linie, parallel der Epiphysenlinie, als Ausdruck der
Avährend der ersten Erkrankung gehemmten Ossifikation.
Ferner demonstriert B. Neurath Präparate und Ab¬
bildungen des Gehirns eines Mikrozephalen. Sie stammen
von einem zAveijährigen Kinde, A\mlches seit der Geburt einen
sehr kleinen Kopf hatte und in einem Anfalle Amn tonischer
Starre starb. Das Gehirn zeigt eine ausgesprochene Mikrogyrie,
namentlich im Parietal- und Temporallappen, indem die großen
GidiirnAvindungen durch Furchen in zahlreiche kleinere Windungen
geteilt sind. Whahrscheinlich handelt es sich primär um eine Schä¬
digung der Aveißen Substanz.
J. FM’ i e d j u n g d emons triert ein h o c h g r a d i g a t r o p h i-
sches Kind, Avelches im dritten Monate 2570 g wiegt. Die Tem¬
peratur steht unter 35-2°, die Muskulatur zeigt einen erhöhten
Tonus, es bestehen chi'onische Obstiiialion und eine Nabelhernie,
der Gesichtsausdi uck ist der eines myxödemkranken Kindes, doch
sind keine Zeichen des Vlyxödenis vorhanden. Ueber der Khivi-
kula Avölbt sich beiderseits beim Schreien eine GescliAvulst Amr,
deren Natur unklar ist. Stellemveise finden sich am Körper noch
Lanugohaare. Das Kind wird alle drei Stunden an die Brust
angelegt. Therapeutisch AAÜrd die Darreichung von Thyreoidea¬
substanz versucld Averden.
K. Feiner bemerkt, daß hier Avahrschcinlich ein Myxödem
vorliegt, Avelches erst nach dem Abstillen deutlicher zum Vor¬
schein kommen dürfte.
J. Fried jung möchte sich ebenfalls dieser Ansicht an¬
schließen, doch spreche dagegen die bestehende Hypertonie der
Muskeln, Avährend Myxödem mit Flypotonie einhergeht.
N. S AA' o b 0 d a zeigt ein Kind mit Urticaria pigmc'u-
tosa. iVm Rumpfe finden sich hrauno flache und AAuarzen artige
Flecken, Avelche beim Reiben zu einer Urtikariaquaddel an-
schAvellen. Die braunen Flecken sind nach einer im ersten Flalb-
jahre durchgemachten Urtikaria entstanden. Die Affektion zeigt
eine allmählich fortschreitende Besserung.
Als Gegenstück hiezu demonstriert Vortr. ein Kind mit
brauner P i g m e n t i e r u n g na c h L i c h e n s c r o p h u 1 o s o r u m.
Auch hier finden sich am Körper hraiine Flecken, aus ihnen ent¬
stehen aber beim Reiben keine Urtikariaciuaddeln.
Schwoner zeigt ein Kind mit M i ß b i 1 d u n g e i n e r H a n d.
Dem Vorderarm sitzt eine verkümmerte Hand auf, an Avelcher eine
Anlage Amn Fingern nachAveisbar ist.
J. Zappert hat bei einem Kinde mit einer derartigen Mi߬
bildung beider oberen Extremitäten im Rückenmark Hydromyelie
konstatiert, Avas Avohl ein zufälliges Zusammentreffen sein dürfte.
J. Fried jung: Ueber den Einfluß der Säuglings¬
ernährung auf die körperliche Rüstigkeit der Fr-
Avachsenen. Die rührige Projiaganda für die natürliche Säug¬
lingsernährung holt die Argumente aus der Beobachtung der Säug¬
linge selbst. Vergleichende Untersuchungen dagegen über die
Aveitere EritAAdcklung von Brustkindern einerseits und Flaschen¬
kindern anderseits fehlen fast vollständig. Wohl sind die Firgeb-
ni.sse der militärischen Assentierungen hie und da unter diesem
GesichtsAvinkel betrachtet Avorden, aber dieses Material kann Amr
der Kritik nicht bestehen. Vortr. versucht es, der Frage an der
Hand eines geeigneten Vlaterials näherzutreten; seine Beob¬
achtungen ei'strecken sich naturgemäß auf eine so kleine Zahl,
daß sie bloß als Anregung aufgefaßt sein Avollen. Ein Verband
von ArbeiterturnAmndnen mit einem ökonomisch ziemlich gleich¬
artigen Mitgliedermaterial, hält alljährlich strenge Leishmgs-
prüfungen ab, bei denen alle Turner dieselben 18 Uelrungen aiis-
zuführen haben. Die Leistungen Averden nach Turnerart mit
Punkten klassifiziert. Die diesjährigen Prüfungen ergaheii
Iw'istungen A’on 49 bis zu 1 Punkt herunter. Vortr. legte nun
jerdem Tuiaier eine Reihe \mn Fragen vor, unter anderem auch
die nacli ihrer Ernährung im Säuglingsalte)'; die Beantwortung
wurde durch alle möglichen Kautelen zuverlässig gemacht. Nach
der Prüfung Avurden die Turner, 155 an der Zaiil, in drei Kate¬
gorien geteilt: gute Turner mit 30 bis 49 Ihmkten, mittelmäßige
mit 15 bis 29V2 Punkte)), schlechte mit 1 bis 14V2 PUnktcMi
und nu)i vergliche)), Avelche Ernährinig sie als Säugli)ige er¬
halten hatten und Avie bürge die Brustki)ider bei der Brust ge-
haltoi Avorden Avaren. Dabei ergab sich folgendes: Von den 155
Turnern hatten 100 die ))atürliche, 1 Zwie)nilch, 13 F''laschen-
)iahrung olialte)), 41 konnten kei)ie verläßliche A)igabe machen.
De)))nach 64-5‘’;o Brustki))der )))it n)i)idestens 731 S|illmo))ate)),
so daß auf 1 bei Bcnützimg der MiPelzahl 6 Monate entfalle)).
Von de)) 33 gute)) Turne)')) luitte)) 24 die Brust erhalte)) (72Tp) ))))d
zvvar du)’ch 240 Mo))ate (Mittelzahl 9 bis 10 Vlonate). Von de))
))))tteh))äßige)) Turner)), 6G an der Zahl, Ava)'e)) 44 Brustkinder,
das ist 6G'’/o, durch 289'4' Mo))ate gestillt (Mittelzahl 3 Mo))ate).
Vo)i de)) 5G ,, schlechten“ Tur))er)) hatte)) 32 die Brust cu’halte)),
das si))d 57o,'o, u. zav. durch 2OIV3 Mo))ate (.Mittelzihl 3 Monate).
De)) besseren tur))erische)) Leiistu))ge)) e))t, spräche)) also ))ach diese'))
Erhebungen höhere Proze))te an Brustkinder)) u))d gleichzeitig
ei))e a))sgiebigere Stiliu))g. Vortr. o'örtcu't ))och die a,))dere)) FV)k-
lore)), die dieses Result;)! heei))ffußt habe)) )))ochle)), u))d kou))))!
zu de))) Schlüsse, daß so klei))e Zahle)) Avohl kei)) abschließe))des
430
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
Urteil gestatten, daß sie aber immerliin ein Ansporn für die
Freunde der natürliche]! Säuglingsernährung sein können; sie
scheinen darzntun, daß die letztere größere! Aussichten auf phy¬
sische Rüstigkeit l)ielet als die unnatürliche, wenn auch mit Erfolg
durchgeführle Flaschennahrung.
Th. Escherich bezeichnet es als wünschenswert, derartige
Erhehungen über den Einfluß des Stillens auf das weitere Ge¬
deihen in der Zeit der ersten Kindheit vorzunelnnen und stellt
derartige Untersuchungen an dem Material der Schutzstelle in
Aussicht.
J. Zapp er t glaubt, daß die Zwiemilchernährung vielmehr
verbreitet sei, als es die Erhebungen des Vortragenden ergeben.
R. Neurath weist darauf hin, daßi hereditäre Alomente und
überstandene Krankheiten hier auch berücksichtigt werden müssen.
Pernicich hält die Berücksichtigung des Gewichtes bei
der Geburt für ein wichtiges Moment.
S. Weiss bemerkt, daß gröbere Vluskelleistungen durch den
Alkoholgenuß nicht geschädigt werden, dies sei nur bei feineren
Muskelaktionen der Fall.
J. Fried jung hält die Einwände für berechtigt, er habe
sie selbst auch in seinem Vortrage erwähnt und den Wert seiner
Zusammenstellung nicht überschätzt. Das hereditäre Moment sei
bezüglich der Muskelkraft nicht ausschlagigebend,
*
Sitzung vom 21. März 1907.
R. W. Philip -Edinburgh: Die Organisation und das
Z u s a m m e n w i r k e n a n ti t u b e r k u 1 ö s e r M a ßm a h m e n ; d i e
Fürsorgestelle als Mittelpunkt. Die Tuberkulosebe¬
kämpfung bildet eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart,
ein besonjderes Interesse hat an derselben 'Oesterreich. Die Be¬
kämpfung der Tuberkulose Avird in den '.^ivdlisierten Ländern in
verschiedenem Umfange durchgeführt, es ist aber eine Aveitere
Ausdehnung: derselben eine dringende NotAvendigkeit. Es ist fest¬
gestellt, daß mit der Einführung besserer hygienischer Verhältnisse
die Zahl der Erkrankungen an Tuberkulose abnimmt. Die Tuber¬
kulose muß nach ärztlichen Grundsätzen behandelt werden, AA^elche
sonst gegen Infektionskrankheiten anigeAvendet Averden. Allerdings
müssen bezüglich der Tuberkulose diese Maßregeln inodifiziert
Averden, wmil diese Krankheit einige Eigentümlichkeiten aufvveist,
welche anderen Infektionskrankheiten nicht zukommen, Avie zum
Beispiel ihren meist chronischen Verlauf und ihre große Ver¬
breitung. Man muß hier die Kranken in allen Stadien der Tuher-
kulose aufsuchen, ihre Umgebung vor der Infektion schützen
und die Behandlung der Kranken je nach dem Stadium ihres
Leidens einrichten: schwere Fälle sollen in besonderen Anstalten
isoliert, leichtere in Sanatorien, noch leichtere in Arbeitskolonien
untergebracht AAmrden, in manchen Fällen Avird eine xAufklärung
über das W’^esen der Krankheit und über eine entsprechende
Lebensführung genügen. Die Avesentlichsten Faktoren des
Operationsplanes gegen diese Volksseuche sind: die Anzeigepflicht,
die Fürsorgestelle, das Krankenhaus, das Sanatorium und die
xhrbeitskolonie. Die Fürsorgestelle bildet den Mittelpunkt dieser
Institutionen, da sie die Kranken aufnimmt, untersucht und den
für sie passenden Anstalten zmveist, außerdem die sonstigen!
prophylaktischen klaßnahmen gegen die Verbreitung der Krank¬
heit durchzuführen hat. Im Jahre 1887 Avurde in Edinburgli
Amni Vortragenden die erste Fürsorgestelle „Victoria Dyspensary“
gegründet, derselben folgt die Gründung von Dispensaires Und
Fürsorgestellen in Belgien, Frankreich und Deutschland. Das Pro¬
gramm der Victoria Dispensary ist folgendes : In demselben Averden
die Ki'anken und deren AusAvurf untersucht, über jeden Fall Avird
eine Krankengeschichte geführt, die Patienten Averden entAveder
einer passenden Anstalt zugeAviesen oder in Ileimpflege belassen,
Avobei ihnen Belehrung über ihr Verhalten, soAvie über <lie Ma߬
nahmen zur Verhütung der Infektionsgefahr für ihre Umgebung
erteilt Avird. Sie erhalten Medikamente, Spuckflaschen und Des¬
infektionsmittel; das Zusammenarbeiten mit anderen Wohltätig-
keitsvereinen ermöglichtes, daß den Kranken auch Nahrungsmittel
gegeben werden können. Die Kranken bleiben dauernd in Beob¬
achtung der Fürsorgestelle. Das Personal derselben besteht aus
vier Acu’zten, von Avelchen einer honoriert Avird, und aus einem
geschulten Pflegerinnenpersonale, außerdem teilt sich ein frei-
Avilliges Damenkomite«] mit den Aerzten und den Pflegerinnen
in die Uebenvachung der Kranken ini Hause. 'Außerdem Averden
in der Hilfsstelle, Avelche täglich drei bis vier Stunden offen
ist, xVuskünfle, Avelche in das Gebiet der Tuberkulosebekämpfung
fallen, gegeben. Eine Analyse der letzten in der Fürsorgestelle
beobachteten 1000 Fälle ergibt folgende Tatsachen: Die Infektion
Avar in 614 Fällen ervTesen, in n117 Avahrscheinlich und in 269
unbestimmt. In einem Bett zusammen niit einer oder mehreren
Personen schliefen 659 Patienten, in einem Zimmer allein
schliefen 231, in einem Bett allein (mit anderen Personen in
dejnselben Zimmer) 110 Patienten. Die Tuberkuloseverbreilung
lief mit der Wohnungsdichtigkeit parallel; Avenn man bedenkt,
daß die lOOOi Patienten mit noch anderen 5143 Personen znsanunen-
Avolmten, so .sieht man, daß jeder einzelne Fall durchschnittlich'
niehr als fünf Personen gefährdete. Es ergab sich auch, daß
von den 167 Personen, Avekdie mit anderen in einem Zimmer
Avohnten, oft mehrere in derselben Wohnung lebende Personen
infiziert Avurden. Die Wohnungen, in AAmlchen Tuberkulose ge¬
lebt haben, AA'erden auf Kosten der Stadt desinfiziert. In die unter
ärztlicher Aufsicht stehenden Arbeitskolonien Averden entAveder
ganz leichte Fälle direkt von der Fürsorgestelle oder behandelte
Fälle aus den Sanatorien überAAÜegen. Bei geschickter Leitung
könnten solche Kolonien ihren eigenen AufAvand bestreiten.
Th. Escherich fragt an, ob ein Einfluß der Tätigkeit
der Fürsorgestelle auf die Sterblichkeit an Tuberkulose in Edin¬
burgh zu bemerken sei, insbesondere, ob es gelungen sei, Heim¬
infektionen in der Familie zu verhüten.
Phili]! erwidert, daß. die Mortalität an Tuberkulose in
Edinburgh gesunken ist; welchen iVnteil daran die .Fürsorgestelle
hat, sei sclnver ziffernmäßig festzustellen. Sicher ist, daß in
Auelen Fällen eine Heiminfektion A^erhütet Avurde.
H. Teleky frägt, ob das Institut durch private Wohltätig¬
keit oder auf öffentliche Kosten gegründet AAmrde und erhalten
wird.
Philip entgegnet, daßi das meiste die private Wohltätigkeit
getan hat, später hat auch ein Zusammenarbeiten mit städtischen
Behörden begonnen, nanientlich' mit dem Gesundheitsamte.
M. Sternberg bezeichnet es als Verdienst des Vortra,gen-
den, den aktiven Kampf gegen die Tuberkulose eingeführt zu
haben und hebt hervor, daß die Kooperation mit Behörden und
anderen Vereinen die systematische Bekämpfung der Tuberkulose
erleichtert. In Oesterreich z. B. könnten die Krankenkassen, falls
ein solches Zusammenarbeiten angebahnt Avürde, in der Tuber¬
kulosebekämpfung schöne Resultate erzielen. Sternberg fragt,
ob die Pflegerinnen sich mehr mit 'der Krankenpflege oder mit
Reinigungsarbeiten befassen und ob die Pfleglinge in den Kolonien
sich freiwillig der Arbeit unterziehen oder ob hiebei ein Zwang
ausgeübt wird.
L. A''. Schrötter Aveist darauf hin, daß auch in Oesterreich
ein Zusammenarbeiten von Behörden mit privaten Vereinen in
der Tuberkulosebekämpfung in der letzten Zeit zu beobachten
ist. Das Feld der PriAmtAvohltätigkeit ist in England Adel AA'eiter
gezogen als bei uns. Die Pfleglinge von Kolonien und ähnlichen,
Institutionen lassen sich durch gutes Beispiel und Belehrung
zur Arbeit beAvegen.
Philipp stimmt dieser Erfahrung zu. Die Krankenpflege¬
rinnen, AAmlche in England durchschnittlich auf einer höheren
Bildungsstufe stehen, Averden zur Krankenpflege, Beaufsiebtigung
der Kranken, zu Erhebungen usav. AmrAvendet.
L. A^ Schrötter bemerkt, daß in England selbst Frauen
gebildeter Stände sich dem Pflegerinnenstande AAudnien.
Heinrich Weiß Aveist darauf hin, daß auch in Wien ein
Zusammenarbeiten von privater Wohltätigkeit mit amtlichen
Stellen möglich sein Averde, Avenn einmal die Privatwohltätigkeit
eine finanzielle Basis gesebaffen haben Averde.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
Sitzung vom 20. Februar 1907.
Vorsitzender : Finger.
Schriftführer : Brandweine r.
Ehr mann demonstriert einen Fall von Tuberculosis
miliaris mucosae oris. Pat. soll schon vor Jahren ein ,, Ulcus durum“
ohne Exanthem gehabt haben. Später soll er auf der Klinik
Finger mit Sklerose und Exanthem, auf der Klinik Riehl wegen
eines Geschwürs der Unterlippe behandelt worden sein. Tuber¬
kulin positiv mit anschließendem, makulösem Exanthem. Er wurde
hier schon vor einem Jahre von anderer Seite mit der Diagnose
„Gumma“ vorgestellt, der ich nicht beitieten konnte und Tuber¬
kulose diagnostizierte. Pat. zeigt jetzt eine Narbe auf der Unter¬
lippe, die offenbar von Aetzungen herrührt, mit denen er ander¬
weitig behandelt worden Avar (Milchsäure). Auf dem Zahnfleisch
und der angrenzenden Lippenschleimhaut ein mit tief ein¬
geschnittenen Rändern versehenes, teils schlapp granulierendes,
teils speckig belegtes GeschAvür, in der Umgebung gelbe, miliare
Knötchen auf hyperämischem Grunde, auf der Unterfläche der
Zunge, auf den Boden der Mundhöhle übergreifend, ein ebenso
Nr. U
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
431
beschaffenes Geschwür. Die Untersuchung auf Tuberkel-
h a z i 1 1 e n im Geschähe ist positiv. Interner Befund
negativ, mithin miliare Tuberkulose, wahrscheinlich durch Infektion
von außen.
Finger; Der Mann lag vor zwei Jahren an meiner Klinik.
Es war ein in die Tiefe dringendes Geschwür mit peripheren
Knötchen vorhanden. Der positive Ausfall der Tuberkulinreaktion,
das absolut negative Ergebnis der antiluetischen Therapie lenkten
auf die Diagnose Tuberkulose hin.
Ehr mann demonstriert zwei Fälle von Lichen chronicus
(V i d a 1).
Der eine Fall wurde schon im Stadium eczematisationis
vorgestellt, jetzt sieht man das typische Bild der abgeschlossenen
schuppenden, chagrinlederartig zusammentretenden, außen zer¬
streuten, soliden Knötchen. Pat. zeigt bei der Probefrühstück-Untersu¬
chung vollständigen Mangel an Säuren. Die andere Patientin zeigt auf
bräunlichem, handtellergroßen Grunde, der von einem umschrie¬
benen ,, Ekzemplaque“ zurückgeblieben ist, im Zentrum dieser
Stelle eine guldenstückgroße, lichenifizierte Stelle. Beide Patienten
stellt E h r m a n n zu dem Zweckq vor, um zu zeigen, daß die
betreffenden Fälle in verschiedenen Zeitpunkten verschiedene
Bilder gebert. Beide haben Dermographismus.
Nobl demonstriert: 1. Einen an der Stirn eines 30jährigen
Mannes seit zwei Jahren bestehenden talergroßen, quer-ovalen,
scharf gegen die Umgebung abgesetzten, dunkel braunrot ver¬
färbten Krankheitsherd, der bei seinen atypischen Charak¬
teren der richtigen Deutung erhebliche Schwierigkeiten entgegen¬
stellt. Der talergroße, im Zentrum eher unter das Hautniveau
eingesunkene, fein gerunzelte, an der Oberfläche glänzende, feinste
Schüppchen tragende Plaque wird von etwas höheren Säumen
begrenzt, die in unterbrochenen Reihen schmutzig braun verfärbte,
sich fettig anfühlende Börkchen tragen. Löst man diese ab, so
treten von zartester Epitheldecke überschichtete, stark hyper-
ämische, ab und zu auch leicht blutende Exfoliationen zutage.
An keiner Stelle des zart infiltrierten Bezirkes ist es zu einer
intensiveren Atrophie oder narbigen Umwandlung der Ober¬
fläche gekommen. Differentialdiagnostisch kämen die diskoide
Form des Lupus erythematosus und der flache Hautkrebs
in der Varietät des Ulcus rodens in Anbetracht. Dem
klinischen Aussehen nach müßte man sich eher zur ersteren
Annahme bekennen, obwohl es befremdend erscheint, daß der
über zwei Jahre dauernde Prozeß immer noch durch die diffuse
Gefäßreaktion ohne narbige Atrophie beherrscht sein soll. Des¬
gleichen ist die steile Abgrenzung der Umgebung ein der Norm
widersprechendes Phänomen. Anderseits muß das Vorkommen
von Epitheliomen so oberflächlicher Lokalisation in Verbindung
mit entzündlichen Erscheinungen ohne weiteres zugestanden
werden. Doch wäre auch hiebei eine stärkere Exfoliation und
ulzeröser Zerfall zu gewärtigen, dessen Spuren an keiner Stelle
wahrzunehmen sind. Auch die vorgewiesenen Schnitte eines
kleinen Randsegments, die leider bei der Kleinheit des Objekts
der Fläche nach verlaufen, bieten keine verläßlichen Hinweise
für die krebsige Natur des Prozesses. Im übrigen will Nobl
die Gewebsprüfung angrenzender Partien weiterhin durchführen.
2. Einen sechsjährigen Knaben mit zerstreut den Stamm
und Extremitäten einnehmenden, kronenstückgroßen, kreisrunden,
elevierten, von fettigen Schuppenmassen bedeckten, bei der
Hornschichtabhebung blutenden Effloreszenzen, die trotz ihrer
Psoriasisähnlichkeit doch nur in das Gebiet des E c z e m e n
plaque zu verlegen sind, wenn auch Fälle dieser Kategorie
nicht zu selten unter der Marke der Psoriasis zur Wertung gelangen.
L e i n e r bestreitet die Ansicht N o b 1 s, daß der vorgestellte
Fall von Eczem en plaques ein Pendant abgeben soll zu dem
von ihm in der letzten Sitzung demonstrierten Fall, bei dem es
sich um eine veritable Psoriasis handelte.
3. Ein in großzackigen Girlanden die Ober- und Vorderarme
sowie die Lendengegend einschließendes tuberkulöses Spät¬
syphilid, das bei einem 30jährigen Manne nach sechsjähriger
Krankheitsdauer zur Entwicklung gelangt. Eine spezifische All¬
gemeinbehandlung hat niemals stattgefunden. Das matt rosenrote
Kolorit der urtikariaähnlich vorspringenden Knötchenleisten, der
Mangel einer jeden Schilferung, sowie die nicht zu massige In¬
filtration der Herde sind geeignet, eine Verwechslung mit gewissen
groß figurierten, zirzinären Erythemen idiopathischer Natur herbei¬
zuführen.
Oppenheim demonstriert aus seinem Ambulatorium
einen 35jährigen Mann mit Tuberkulose der Mund¬
schleimhaut. Man sieht an der Unterlippe, die leicht ver¬
dickt ist, sowie an den seitlichen Wangenpartien tiefe,' rhagadi-
forme Geschwüre mit scharfen Rändern, gelbgrau belegt. In der
Nachbarschaft dieser, namentlich an der Unterlippe, finden sich
stecknadelkopfgroße, graue, in die Schleimhaut eingesprengte
Knötchen, die disparat stehen.
Es bestehen bei dem Patienten Erscheinungen einer In-
filtratio pulmonum ; Hämoptoe vor zwei Jahren. Die Genese ist
wohl die, daß das tuberkelhaltige Sputum die Mundschleimhaut
infiziert hat.
Ehr mann; Diese Fälle von miliarer Tuberkulose der
Schleimhaut, besonders am Ausgang des Respirationstraktes, sind
meist Autoinokulationen, selten ektogen. Bekannt ist der Fall
der Albertschen Klinik, der eine Wärterin betrijft, bei der die
Infektion durch Stich mit einer Nadel zustande kam, die vorher
in tuberkulöses Sputum gefallen war.
Finger unterscheidet zwei Formen der Tuberkulose¬
geschwüre der Mundschleimhaut, Autoinfektion bei phthisischen
Individuen, zweitens Primärinfektion. Letztere Geschwüre ver¬
laufen torpid, erzeugen weniger Schmerzen, zerfallen viel weniger,
haben aber die Neigung, in die Tiefe zu gehen. Von diesen
Geschwüren ist eine große Uebergangsreihe bis zu jenen, die als
Lupus der Schleimhaut dann diagnostiziert werden, wenn Lupus
der Haut da ist.
U 1 1 ni a n n demonstriert 1. einen Fall von tuberkulösen
Tumoren (Uebergang in Karzinom?) — Phlebitis.
Der hier vorgestellte Mann, 39 Jahre alt, erkrankte 1894
an Bluthusten und Spitzenaffektion. Die Hämoptoe wiederholte
sich öfter. Im Jahre 1901 stellte sich eine Eiterung vom Mast¬
darm ein. Im März 1902 wurde der Patient auf der Abteilung
des Prof. v. M o s e t i g wegen Periproktitis einer Operation
(wahrscheinlich Exkochleation und Paquelinisierung) unterzogen.
Einige Zeit nachher begann sich in der Umgebung des Anus
eine Infiltration zu bilden, die alsbald beide Gesäßbacken ergriff
und beiderseits bis zu den Trochanteren fortscliritt und nun
folgendes Bild zeigt; Die Gesäßgegend ist an beiden Seiten
nahezu symmetrisch höckerig geschwellt, die Haut über den
Tumoren dunkelbraunrot verfärbt. Die Infiltrationen sind mäßig-
derb und reichen stark in die Tiefe. Auf Druck entleert sich aus
mehreren fistulösen Oeffnungen in der Trochantergegend und in
der Mitte der Geschwulst dünner seröser Eiter. Davon etwas
verschieden ist das Zentrum der Geschwulst, welche dort
kraterförmig um den Anus gewuchert ist und an ihrer Ober¬
fläche eine beträchtliche papillomatöse Verdickung der Epi¬
dermis zeigt. Der Anus ist beim Stehen durch zwei wuchernde
Längswulste, die sich an den Kanten berühren, verdickt. Die
Geschwulst dieser Partie ist hart, stellenweise etwas ulzeriert
und stellenweise von den übrigen, derbteigigen Infiltrationen
etwas schärfer abgesetzt. Ein merkwürdiges Bild zeigt die hintere
Fläche beider Oberschenkel: Vom Tumor setzen sich nach ab¬
wärts — rechts deutlicher als links — ■ den fast überall deutlich
prominenten ektasierten Hautvenen entlang u. zw. diesen genau
folgend, oberflächlich in der Haut sitzende, dunkelbraungelbe,
etwas eindrückbare Stränge fort.
Die Konsistenz dieser Stränge ist weich, schwammartig.
Dieselben treten stellenweise V2 cm weit über die Haut hervor,
stellenweise verlaufen sie mehr in der Tiefe. Diese Infiltration
setzt sich nach unten in die ektasierten, aber sonst scheinbar
nicht veränderten Hautvenen des Unterschenkels fort. Im
Wurzelgebiet der Vena saphena, hinter dem Malleolus internus
ist abermals eine derartige teigige Infiltration der Venen¬
geflechte zu bemerken, welch letztere sich an dieser Partie
stellenweise derb, stellenweise schlaff anfühlen. Von der Kuppe
der zirkumanalen Geschwulstpartie wurde eine kleine Zacke
exstirpiert — mehr war vorläufig nicht möglich — und zeigt
das histologische Bild große Aehnlichkeit mit einem Epitheliom.
Der Uebergang von tuberkulösen Abszeßwänden, Fisteln,
Geschwüren oder Lupus ulcerosus in Epitheliom ist ja relativ
nicht gar so selten und legt den Gedanken an eine derartige
Umwandlung nahe. Eine tiefergreifende Exzision wird behufs
Sicherstellung noch gemacht werden.
Weit interessanter und seltener erscheint mir aber die Ver¬
änderung an den Venen, weshalb ich auch den Patienten heute
schon, noch vor Abschluß meiner Untersuchung vorstellte, zumal
bei der hochgradigen Kachexie ein Erscheinen des Patienten zu
späterer Zeit vielleicht in Frage stand. Wir kennen bereits In¬
filtrationen spezifisch-luetischer, namentlich auch tuberkulöser
Natur, die als Venensyphilis, Phlebitis syphilitica oder Phlebitis
tuberculosa in den letzten Jahren beschrieben worden sind.
Obwohl es mir nicht möglich war, tiefer greifende Exzi¬
sionen an verschiedenen Partien zu machen, hoffe ich in einer
ausführlichen Mitteilung dies nachholen und dadurch diesen Fall
auch aufklären zu können.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
Ehrmann. Das Präparat zeigt wohl eine Epithelwucherung,
aber nicht eine maligne, bei der es zur Loslösung von Epithel¬
inseln kommt, die sich mit dem Bindegewebe mischen.
2. Einen Fall von Lichen ruber planus und ver¬
rucosus.
An einem Kijährigen Jungen zeigen sich zahlreiche hanf-
korn- l)is erbsengroße grauwmißliche Plaques von Lichen
ruber planus, bloß auf dem Skrotum lokalisiert; außerdem
unterhalb des linken Malleolus internus zwei etwa hellergroße,
])raune, warzenähnliche Plaques von Lichen ruber ver¬
rucosus. Letztere bestanden früher als erstere. Da das Jucken
im Skrotum zunimmt, dürfte die Affektion in weiterer Ausbreitung
begriffen sein.
Erwähnenswert ist das Zusammenvorkommen von planen
und verrukösen Formen. Die übrige Haut und die Schleimhäute
des Mundes sind vollständig frei.
Das Auftreten der verrukösen Proliferation, speziell an
stark Iransspirierenden Hautpartien, wie: Kniekehlen, Vola,
Planta und Malleolargegend ist von mir öfters beobachtet worden.
N e u g e b a u e r demonstriert aus dem Ambulatorium
Oppenheim einen Fall einer Sklerose der rechten
M a mill a.
In der rechten Achselhöhle eine etwa nußgroße, derbe
Drüse, am Stamm und Extremitäten ein aus ziemlich großen
Flecken sich zusammensetzendes Exanthem ; Papeln am Genitale,
lieber das Zustandekommen der Infektion kann Pat. keine An¬
gabe machen.
Sc herber stellt aus der Klinik Finger 1. ein Sjähriges
Mädchen mit Lichen s c r o p h u 1 o s o r u m vor; das Krank¬
heitsbild erscheint in voller Deutlichkeit, da die Patientin unter
der Wirkung einer Injektion von Alttuberkulin Koch (O’OOOß) steht.
Die Haut des Stammes zeigt besonders in der unteren ßauch-
gegend, in der Kreuzbeingegend und auf den Nates zahlreiche, meist
einzelstehende grieskorn- bis stecknadelkopfgroße Knötchen von
gelblicher bis braungelber Farbe mit kleinen Schuppen bedeckt.
Interessant sind die zahlreichen kleinsten, follikulär stehenden
Knötchen, an der seitlichen Thoraxwand, die erst auf die In¬
jektion hin aufgetreten sind. Auf den Nates findet man ziemlich
zahlreiche kleine, atrophische Grübchen und mehr flache, scharf¬
begrenzte bis kleinlinsengroße Narben. Als weiteres Zeichen der
Skrofulöse des Kindes ist eine starke Schwellung der sub-
maxillaren und submentalen Drüsen zu bezeichnen.
Finger: Der Fall ist interessant durch die Verteilung.
Gewöhnlich finden sich die Knötchen in Plaques am Stamme,
während hier die Mehrzahl der Knötchen gleichmäßig über Stamm
und Extremitäten zerstreut ist.
2. Ein lOjähriges Mädchen mit einer Prurigo ferox;
die Haut der Extremitäten besonders, in geringerem Grade die
des Stammes bedeckt von zahlreichen meist zerkratzten Knötchen ;
sekundär ist es zur Bildung zahlreicher Impetigines und durch
das Kratzen zur Lichenifikation der Haut, besonders an den Beinen
gekommen.
3. Eine 25jährige Patientin mit P i t y ri a s i s lichenoides
chronica; knötchen- und fleckförmige Effloreszenzen setzen
das Krankbeitsbild zusammen; an der seitlichen Thoraxwand
stehen die jüngsten Effloreszenzen in Form kegelförmiger, frischroter
ziemlich scharfbegrenzter Knötchen, wie sie Jadassohn und
J u 1 i 11 s b e r g beschrieben haben. Neben diesen Effloreszenzen
finden sich etwas größere, flachere, blässere Knötchen ; ferner
finden sich besonders am Rücken in der Scbulterblattgegend
mehr fleckförmige Effloreszenzen, ebenfalls scharf begrenzt,
von lachsroter bis blaßgelber Färbung; an einzelnen findet
man eine dieselbe völlig deckende Schuppe. Einzelne der fleck¬
förmigen Effloreszenzen erscheinen wie plattgedrückt und sind
nur wenig über das Hautniveau erhaben. In der Unterbauch¬
gegend sieht man in Rückgang befindliche Herde als gelbbräun¬
liche Flecke, wie sie Rille beschrieben hat. Die Affektion nimmt
den Stamm und die angrenzenden Partien der Extremitäten ein;
an den Oberschenkeln sind die Effloreszenzen mehr dunkelrot
gefärbt.
4. Einen Mann, bei welcbem es bei bestehendem Panaritium
des Mittelfingers der linken Hand zum Ausbruch einer Psori as i s
vulgaris kam. In auffälliger Weise sind die Psoriasisefflores-
zenzen besonders dicht auf diesem Finger lokalisiert. Die
Lokalisation entspricht genau den Druckstellen des Verbandes.
]\lüller stellt aus der Klinik Finger einen 11 Jahre
alten Patienten mit T r i c h o p h y t i a capillitii vor, an der
der Patient seit einem Jahre leidet.
Auf der Haut des Scheitels, besonders des mittleren und
seitlichen Teiles, sowie am Hinterhaupte, spärlicher an den
übrigen Teilen des behaarten Kopfes finden sich linsen- bis bohnen¬
große, selten größere, ovale oder schlitzförmige, meist parallel
der Längsachse gestellte Hautstellen, in denen die Haare ganz
oder teilweise zu fehlen scheinen. Auf den ersten Blick erinnert
das Bild an das bekannte der Alopecia liietica. Bei näherer
Betrachtung sieht man die meisten dieser Hautstellen mit kleinen,
derben, grauweißen Schüppchen bedeckt, da und dort mit Krusten
vermengt. Unter den Schuppen erscheint die Haut leicht rötlich
verfärbt und infiltriert. An manchen Stellen des Kopfes sieht
man solche Schuppen und Krusten, ohne daß die Haare dieser
Gegend auffällig vermindert wären.
Am Hinterhaupte befindet sich eine fünfkronengroße Stelle,
die aus Konfluenz mehrerer schlitzförmiger Alopezien entstanden
ist, zwischen denen Büschel erhaltener Haare sichtbar sind.
Stümpfe kurz abgebrochener Haare lassen sich auch bei Lupen¬
betrachtung nicht nachweisen und es finden sich meist in den
beschriebenen Gegenden noch einzelne von normaler Länge. Da¬
gegen haben viele Haare, besonders in der Umgebung der Plaques,
ihren normalen Glanz verloren und zeigen unter der Lupe eine
hellbraune bis weißliche Färbung. Epiliert man ein Haar aus einer
der beschriebenen Stellen oder deren Umgebung, so sieht man es
durchsetzt von zahlreichen Gonidien. Auch in den Schuppen finden
sich solche nebst zahlreichen verzweigten Myzelfäden.
Präparate sind im Mikroskope eingestellt. Gegen Mikrosporie
kommt differentialdiagnostisch in Betracht, daß bei dieser Affektion
die befallenen Stellen wenigstens zum Teile größer und schärfer
begrenzt sind und daß bis zu mehreren Millimetern lange Haar-
stünipfe in den Kreisen sichtbar sind, die wie der Haarboden
von grauer Farbe sind und eine Scheide von Sporen tragen.
Oppenheim demonstriert aus der Klinik Finger zwei
Fälle von Syphilis:
Der eine Fall betrifft einen 25jährigen Mann, der sich im
Mai 1906 infizierte, eine Hg-Kur machte und jetzt ein Rezidiv¬
exanthem in Form der Syphilis corymbosa zeigt. Handbreit unter
der Skapula findet sich ein fünfkronengroßer Plaque, dessen
Zentrum von einer leicht infiltrierten braunroten Papel gebildet
wird. Auf diese folgt ein. Ring normaler Haut, dann eine stark
infiltrierte, schuppende, braunrote, elevierte Zone, die sich an der
Peripherie in hirse- bis hanfkorngroße Knötchen auflöst. Am be¬
haarten Kopf sind ähnliche, doch weniger deutlich ausgeprägte
analoge Effloreszenzen.
Wesentlich anders sind die Effloreszenzen bei dem zweiten
Fall. Es ist dies eine rezente Syphilis ulcerosa praecox. Man
sieht an der Haut, speziell der des Rückens, alle Uebergänge
von der Papel über die Akne und Variola syphilitica zur
Rupia ; eine besonders große, über talergroße Effloreszenz ist
an der rechten Schulter. Hier bedeckt eine mächtige, schmutzig¬
braun gefärbte, geschichtete Krustenauflagerung ein tiefes Ge¬
schwür, dessen Rand lebhaft rot' eleviert und infiltriert sich an
der Peripherie in hanfkorngroße, braunrote Knötchen auflöst.
Also hier sieht man keine normale Hautzone wie in dem ersten
Fall, sondern die Erscheinungen nehmen an Intensität von der
Peripherie gegen das Zentrum hin ab. Es gibt also keine immune
Hautzone, wie beim Rezidivexanthem. Bei diesem Fall sieht man
auch sehr schön lebhaft rote Entzündungshöfe um die einzelnen
Effloreszenzen. Diese entsprechen jenen Effloreszenzen, die
Finger und Landsteiner bei ihren Inokulationen von
syphilitischem Virus auf Syphilitische erhalten, wo auch bei Pat.,
die Gummata cutanea oder ulzeröse Syphilide hatten, zuerst um¬
schriebene lebhafte entzündliche Rötungen an den Inokulations¬
stellen entstanden, die zentral zerfielen und analoge Effloreszenzen
erzeugten, wie sie die Patienten kraft ihrer eigenen Syphilis
aufwiesen. Es spricht dies dafür, daß bei geeigneter Gewebs-
disposition der Spirochaete pallida auch entzündungserregende
Eigenschaften zu kommen können.
E h r m a n n : Die Rötung um die Papel kann man leicht
zum Schwinden bringen, wenn man die Kruste abhebt und den
akuten Prozeß ablaufen läßt. Die krustösen Papeln lassen einen
roten Hof sehen, was bei Lues nicht der Fall ist. Tatsache ist,
daß es genügt, das Sekret zum Abfluß zu bringen und die Rötung
verschwindet.
Finger hält den unbedingten Zusammenhang der Rötung
mit Krustenbildung nicht für richtig, weil ja Effloreszenzen ohne
Krusten sichtbar sind mit einer entzündlichen Zone. Dagegen
ist auffällig, daß alle jene Fälle, die ulzeröse Formen haben,
seien es Spät- oder Frühformen und die der Ausdruck einer be¬
sonderen Disposition sind, eine Dermatitis bekommen, gleich¬
gültig, ob mit eigenem oder fremdem Virus geimpft wird, auf
deren Boden sich erst Papeln bilden. Er bringt diese Wirkung
mit einer entzündlichen Reaktion in [Zusammenhang, die der
Tuberkulinreaktion vergleichbar ist.
Nr. 14
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
^tucha konnte in diesem Falle reichlich Spirochäten
nachweisen, was hervorzuheben ist, weil die Befunde bei ulzerösen,
malignen Formen noch sehr divergieren. ^
Weidenfeld stellt einen 24jährigen Zuckerbäcker vor.
Im Gesichte befinden sich u. zw. über beiden Waugen und
am Nasenrücken über kreuzergroße Lupus erythematodes - Herde
mit den charakteristischen Komedonen, Narben und Schuppen.
Außerdem finden sich daselbst linsengroße Eftloreszenzen, die
mit festhaftenden Schuppen bedeckt sind. Auch der Rand der
größeren Herde zeigt eine polyzyklische Begrenzung und besteht
im wesentlichen gleichfalls aus linsengroßen Effloreszenzen, von
denen jede einzelne die typische Umwandlung im Zentrum zeigt.
An beiden Vorderarmen u. zw. an der Ulnarseite, besonders an
der Tub, ulnae, am Dorsum manus, finden sich linsengroße, tief
eingesprengte Knötchen und auch höher sitzende Knötchen,
welche isoliert sind oder in Gruppen bis zu drei oder fünf zm
sammenstehen. Die einzelnen Knötchen zeigen entweder zentral
ejne Schuppe oder eine Kruste, die festhaftet. Nach Ablösen der
Kruste findet sich ein kleines, oberflächliches, scharf umrandetes
Geschwürchen. Außerdem findet sich noch eine Anzahl größerer
Knoten von Erbsengröße. Zwischendurch finden sich kleine
Narben nach Abheilung solcher Effloreszenzen. Die Frage, zu
welcher der Fall anregf, ist die, ob die als Tuberkulid am Vorder¬
arm anzusprechenden Effloreszenzen die gleiche Dignität haben,
wie die Lupus erythematodes-Effloreszenzen im Gesichte.
Ehrmann schreibt dem Fall historisches Interesse zu.
Derselbe wurde von ihm vor drei Jahren in der Gesellschaft der
Aerzte vorgestellt und von Strasser als akneiformes Tuber¬
kulid mit Lupus erythematodes publiziert. Man sieht eine ganze
Reihe von Närbchen ; das waren früher Knötchen, mit nekroti¬
schen Krusten bedeckt. Hier waren die Knötchen teilweise kon-
fluiert, teilweise waren weiße dicke infiltrierte Plaques vorhanden,
die er auch als Lupus erythematodes auffaßte. Diese waren ein¬
gesäumt von Tuberkuliden. Lupus erythematodes des Gesichtes und
der Ohren war damals ebenso wie heute vorhanden, außerdem sehr
große Drüsenschwellungen in der Suh- und Retromaxillargegend, sie
sind inzwischen auf Lebertranbehandlung zurückgegangen. Es war
also ein typischer Fall von nodulärem Tuberkulid und Lupus erythe¬
matodes. Später beschrieben auch R ona in Budapest und Magnu.s
I\t o e 1 1 e r in Stockholm ähnliche Fälle. Was nun den Lupus
pernio betrifft, so gibt es zweierlei Fälle. Hutchinson hat
einen Chilblain-Lupus beschrieben, dann Tennneson und
Besnier einen Lupus pernio. Diese beiden Formen sind ganz
verschieden. Die letztere äußert sich in lividen blauen dicken
Knoten auf den Händen und im Gesichte, die von J a r i s c h in
einem Falle für Sarcoma idiopalicum gehalten worden sind.
Jadassohn wies darauf hin, daß es sich um Lupus pernio
Tenneson-Besnier handle. Mikroskopisch findet man Alveolen,
Nester von Zellen, epitheloiden Zellen, Riesenzellen. Die zweite
Form ist die von Kaposi als Lupus pernio bezeichnete. Es gibt
somit zweierlei Formen von I.vupus pernio, darunter eine dem
Lupus vulgaris ähnliche, die von B e s n i e r. Flier handelt es sich
um den H u t c h i n s o n sehen, um einen Impus erythematodes
auf Basis von Tuberkuliden.
U 1 1 m a n n betont die Zusammengehörigkeit gewisser
Formen, die klinisch Lupus erythematodes sind, mit den papulo-
nekrotischen Tuberkuliden. Er erinnert an die positive Tuberkulin-
reaktion ; der Fall ist wichtig nicht nur als besondere Form,
sondern dafür, daß alle diese Formen eine Art Tuberkulose sind,
die auch Kaposi als Lupus erythematodes disseminatus be¬
zeichnet hat. Ob dies gerade für diesen Fall zutrifft, weiß er
nicht, weil die Effloreszenzen hier nicht schuppen; es ist auch
möglich, daß es sich um eine lymphangioitische Infektion handelt.
Finger erwidert, daß nur in ca. 30 ’/o der Fälle Tuber¬
kulose gefunden wird. Was die Tuberkulinreaktion betrifft, betont
er den Unterschied zwischen Allgemeinreaktion und Lokal-
rcaktion. Wenn bei einem Individuum mit Lupus erythematodes
luberkulose vorgefunden und Tuberkulin injiziert wird, tritt
Allgemeinreaktion auf (Fieber). Wenn die Reaktion zur Hyperämie
der ganzen Hautdecke führt, kann sie auch den Lupus erythema¬
todes beeinflussen. Daß aber eine lokale Reaktion am Lupus
erythematodes-Herd auftritt — Sukkulentworden, Schwellung —
das ist nicht der Fall und auch iin vorgestellten Falle nicht be¬
obachtet worden.
Ul 1 mann glaubt, daß in seinem Falle lokale Reaktion
bestanden hatte. Auf Grund seiner Statistik und Kasuistik be¬
steht in 70Vo der Fälle positiver Ausfall der Tuberkulinreaktion
und gleichzeitig Koinzidenz mit Tuberkulose, Drüsenschwellungen.
Daß nicht in allen Fällen die verlangte lokale Reaktion auftritt,
ist begreiflich, weil der Lupus erythematodes oft schon ab¬
geheilt ist. Der Lupus erythematodes kann aber typisch stark
reagieren.
Weiden fold. Für ihn ist die Frage, ob fiupus erythema¬
todes und Tuberkulid in einem klinischen Zusammenhang steht
oder ob es sich um Lupus erythematodes b e i einem Tuberkulid
handelt. Er selbst findet kein positives Symptom an den
fländen füi Lupus erythematodes, aber im Gesichte Effloreszenzen,
die solchen an der Hand ähnlich sind, also Manifestationen der¬
selben Krankheit, lieber den Zusammenhang von Lupus ery¬
thematodes und Tuberkulose sind die Akten nicht geschlossen.
Ehr mann hat für den genetischen Zusammenhang der
beiden Affektionen an der Hand und im Gesichte den Beweis
durch histologische Präparate, die er in der nächsten Sitzung zu
demonstrieren gedenkt.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 13. Februar 1907.
Vorsitzender; Physikus Dr. Liehmann.
Schriftführer; Dr. Schwein bürg.
Assistent Dr. Meixner demonstriert einen Fall von
Chlorom, der am Vortage in der Prosektur der Laiideskranken-
anstalt zur Autopsie gekommen ist. Es handelte sich um eine
31jährige Frau, die an der Abteilung des ,Prim. Brenner eine
Zeitlang unter Erscheinungen beobachtet worden war, die zur
Diagnose ,, Skorbut“ führten. Terminal hatten sich Zeichen einer
Gehirnblutung eingestellt. Die Sektion hat zunächst die letzt¬
genannte Teildiagnose bestätigt. Die inneren Organe ergaben außer
den Zeichen einer hochgradigen Anämie keinen besonderen Be¬
fund. Die Milz zeigte eine Schwellung mäßigen Grades mit sehr
reichlicher, gleichmäßig dunkelroter, wenig ausstreifbarer Pulpa.
Auffallende Veränderungen fanden sich am! Knochensystem. Sämt¬
liche Knochen, soweit sie der Untersuchung .zugängnch gewesen
sind, also Schädeldach, Sternum, Rippen, Wirbel, Becken, Femora
und Humeri, waren in ihrem Marke von grasgrünen, weichen Ge-
schwulstmassen durchsetzt. In den Diaphysen der langen Röhren¬
knochen hoben sie sich meist in Form kleiner bis kirschkern¬
großer Knoten, die aber stellenweise zu größeren konfluierten,
von dem dunkelroten (lymphoiden) Marke ab. In den proximalen
Epiphysenteilen infiltriert die grüne markige Masse diffus die
Spongiosa und rarefiziert sie stellenweise ein wenig. An zahl¬
reichen Stellen, ;so am Schenkelhals des linken Femur lind vor
allem an den Wirbelkörpern, wuchert sie durch die Kortikalis.
Hier sah man nach dem Ausweiden der Leiche ilie grüne Ge¬
schwulstmasse, die in einzelnen Flerden die prävertebrale Mus¬
kulatur und das Zellgewebe im kleinen Becken infiltrierte, pracht¬
voll zutage treten. Rippen, Sternum und Darmbeine sind voll¬
ständig von dem gi-ünen Älarke erfüllt.
Besondere Beachtung verdient der ITmstaml, daß das ganze
übrige lymphatiische System von ähnlichen V'^eränderungen voll¬
ständig frei gewesen ist. Bloß; einige Lymphdrüsen zeigten eine
ganz unbedeutende Vergrößerung, waren jedoch, derb und grau¬
weiß. Die Follikel des Dickdarmes waren gleichmäßig leicht ver¬
größert.
Demnach geht das Chlorom in diesem Falle vom Knochen¬
mark aus. Es handelt sich also entweder um einen seltenen
Fall von Chloroleukosarkomatose, ausgehend ausschließlich vom
lymphoiden Gewebe des Knochenmarkes, oder um eine Chloro-
myelo'sarkomatose, was erst die histologische Untersuchung klar¬
stellen muß. (Der Fall wird ausführlich in dieser Zeitschrift
mitgeteilt werden.)
Dr. Jul. Stein berichtet über den post mortem erhobenen
Blutbefund; intra vitam wurde eine Blutuntersuchung nicht vor¬
genommen. Da das Blut in der Wna femoralis schon größten¬
teils geronnen war, sind die Präparate nicht besonders brauch¬
bar und kann über das Zahlenverhältnis der weißen zu den
roten Blutkörperchen, sowie der einzelnen Leukozytenarten unter¬
einander nichts ausgesagt werden. In den verschiedenen Prä¬
paraten fanden sich Normo- und Megaloblasten, einzelne neutro¬
phile Myelozyten und große, einkernige, anscheinend ungranu-
lierte Ijcukozyten vom Charakter jener Zellen, wie sie bei Leuko-
sarkomatosen im Blute regelmäßig gefunden werden.
Priv.-Doz. Prosektor Dr. C. Sternberg hält den dritten
Vortrag; Ueber moderne Immunitätslehre, und bespricht die An¬
wendungen derselben in der ärztlichen Praxis, so die Serotherapie
der Diphtherie, des Tetanus, der Dysenterie und des Scharlachs,
ferner die Schutzimpfung gegen Wut, die prophylaktischen Im-
lifungen bei Diphtherie und Tetanus, das Haffkinesche Ver-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 14
lalireji, das Tiibeikulin, sowie die verschiedenen Behringschen
Präparate etc. und streift schließlich in Kürze die Metschni-
k off sehen Versuche zur Ahschwächung des Syphilisvirus (durch
Passage durch Affen) und die neuesten Versuche Ehrlichs
und seiner Schüler, sowie englischer Forscher üher Innnunisie-
rung von IMäusen gegen Karzinom.
Die Diskussion wird wegen vorgerückter Stunde vertagt.
Sitzung vom 20. Fehruar 1907.
Vorsitzender: Physikus Dr. Lielrmann.
Schrift führer : Dr. Schwei n h u r g.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. Sternherg demonstriert anato¬
mische Präpara te von H i r n t u m o r e n.
Fall I hetraf ein elfjähriges Mädchen, hei welchem klinisch
durch lange Zeit Symptome eines Hirntumors hestanden. Bei der
Ohduktion fand sich zunächst ein ganz enormer Hydrozephalus. Die
rechte Kleinhirnhemisphäre war heträchtlich vergrößert und ent¬
hielt am Durchschnitt eine üher apfelgroße, glattwandige, mit
klarem Serum gefüllte Zyste, die nur durch eine papierdünne
Schichte von Hirnsuhstanz vom vierten Ventrikel geschieden war.
An einer Stelle wird die Wand der Zyste von einem grauroten,
feuchtglänzenden Gewebe gebildet, das in einen zum Teil außer¬
halb der Zystenwand liegenden, ziemlich harten Geschwulstknoten
übergeht. Es handelt sich mithin um ein Gliom mit ausgedehnter
Erweichung.
Fall 11 betraf ein ISjähriges Mädchen. Bei der Ohduktion
erwies sich das linke Stirnbein mächtig aufgetriehen und vor-
gewölht, auf der Sägefläche von einer Geschwulst durchwachsen,
die mit der Dura mater und dem Gehirn in innigem Zusammen¬
hang stand. Die Sektion des Gehirns ergab, daß die linke
Hemisphäre, die etwa doppelt so groß war wie die rechte, größten¬
teils von einer Geschwulst eingenommen war, die vorne und
oben fast his an die Oberfläche des Gehirnes und nach rück¬
wärts etwa bis zum hinteren Ende des Hinterhornes reichte,
zum Teil sehr hart und nur mit der Säge zu xlurchschneiden war;
diese Geschwulst hing, wie erwähnt, innig mit der Dura mater
zusammen und griff auf das Stirnbein über. Es handelt sich
in diesem Falle um ein Endotheliom (Psammom) der Dura mater.
Auch in diesem Falle bestand ein mächtiger Hydrozephalus.
Im Falle IH handelte es sich um einen 14jährigen Knaben.
Bei der Obduktion erwies sich das Schädeldach sehr groß, nament¬
lich in den rückwärtigen Anteilen beiderseits wie ausgebuchtet;
der Umfang des knöchernen Schädels betrug 55 cm. Es bestand
eine hochgmdige Erweiterung, der rechten Seitenkammer, während
die linke, die gleichfalls sehr beträchtlich erweitert ist, fast in
ihrer ganzen Ausdehnung (mit Ausnahme der Spitze des Hinter¬
hornes) von einer mächtigen Geschwulst ausgefüllt ist, die den
Ventrikelwandungen innig anliegt, ohne auf sie überzugreifen
und nur mit der medialen Wand in festerem Zusammenhang zu
stehen schien. Bei histologischer Untersuchung erwies sich die
Geschwulst als ein großzelliges ependyrnales Gliom.
Reg. -Rat Prof. Riedinger: Ueber Extrauteringra¬
vidität.
Vortr. schickt voraus, daß er bei dem großerr Umfange
des Tbernas nirr über die Ergebnisse der neueren Forschungeir,
sowie über einige wichtigere Tatsacherr arrs der Symptomatologie
und Therapie sprechen wolle. Er erörtert zunächst die durch
die nerreren histologischen Untersuchungen gewonnenerr Kennt¬
nisse über die Eieinbettrrng in der Tube und erklärt aus diesen
Verhältnissen den klinischen Verlauf der Tubargravidität im Ver¬
gleich zur normalen (uterinen) Gravidität, die Gefährlichkeit der
ersteren und ihre häutigsten Ausgänge, die Tubarruptur (vorzugs¬
weise im isthmischen Anteil der Tube) und den Tubarabort.
Nach Besprechung der klinischen Symptome und der für
die Aetiologie in Betracht kommenden Momente, wobei Vortr. er¬
wähnt, daß nach seinen Erfahrungen sehr häufig in den Anam¬
nesen keine Angaben über durchgemachte Erkrankungen des Geni¬
talapparates vorliegen, entwickelt er seine eigenen Anschauungen
über die Entstehung der Extrauteringravidität. Seine Auffassung
berührt sich, wie Vortr. bei nacliheriger Durchsicht der Literatur
fand, mit der von H i t s c h m a n n und L i n d e n t h a 1 vor meh¬
reren Jahren aufgestellten Theorie. Er meint nämlich, daß das
Ei zwar an der gewöhnlichen Stelle befruchtet werde, daß aber
eine Tubargravddität dann zustande komme, wenn die Wanderung
des befruchteten Eies verlangsamt ist und so das Ei früher
nidationsfälng wird, ehe es noch in dem Uterus anlangt.
Bei Besprechung der Therapie der Extrauteringravidität
trennt Vortr. sein Material in zwei Gruppen. Die erste betrifft
jene Fälle, in welchen Vortr. vorwiegend konservativ behandelte
luid nur relativ wenig Fälle operierte. Diese Gruppe umfaßt
42 Extrauteringraviditäten und 79 Hämatokelen, die nach dem
heutigen Stande unseres Wissens ja wohl durchwegs auf Extra¬
uteringraviditäten zinaickzuführen sind. Die zweite Gruppe um-
faß;t jene Fälle, in welchen Vortr. ausnahmslos operativ vorge¬
gangen ist. Diese Gruppe betrifft 21 Fälle, die seit Mitte De¬
zember 1905 zur Beobachtung gelangten. Die Resultate waren:
Von der ersten Gruppe starben 5 Ehlle, von der zweiten Gruppe
0 Fälle; alle diese Fälle werden eingehend besprochen.
Vortr. kommt zu dem Schlüsse, daß anscheinend auch die
konservative Behandlung sehr gute Residtate aufzuweisen hatte.
Trotzdem tritt er warm für die operative Therapie der Extra¬
uteringravidität und auch der Hämatokelen ein, da die Heilung
viel rascher und glatter vor sich geht; die Patientinnen erholeai
sich fast bereits in dem Moment, da der Operateur die blutende
Tube mit der Klemme faßt. Auch glaubt Vortr., daß jene schweren
Fälle, wie er sie in der letzten Zeit sah, wo die Frauen fast
pulslos und ausgeblutet in die Anstalt kamen und durch die
sofortige Operation ausnahimslos in der kürzesten Zeit .gerettet
wurden, früher nicht in seine Beohachtung kamen, da es nicht
vorstellbar wäre, daß solche Frauen ohne Operation noch durch¬
kommen könnten.
Zum Schlüsse demonstriert Vorlr. eine größere Zahl durch
Operation gewonnener anatomischer Präparate von Extrauterin¬
graviditäten.
Medizinischer Verein in Greifswald.
Sitzung vorn 10. Dezember 1906.
Vorsitzender: Strübing.
Schriftführer : J u n g.
Minkowski: 1. Fall von Alkaptonurie, hei (öinern
Patienten mit chronischem Gelenksrheumatismus, der schon seit
Jahren ein Dunkelwerden des Harns beim Sonnenlichte bemerkt
hat. Es werden die charakteristischen chemischen Reaktionen
an dem Urin demonstriert und die Beziehungen der Alkaptonurie
zu den Spaltungsprodukten der Eiweißkörper erörtert.
2. Fall von progressiver atrophischer Muskel¬
lähmung bei einem 20jährigen Mädchen, entstanderr vor zwei
Jahi’en, nach starker Durchnässurig. Zunehmende Schwäche der
Extremitätenmuskehl und Entartungsreaktiorr. Der unaufhaltsam
fortschreitende Fall ist unter die spinalneurotischen Muskelatro¬
phien zu rechnen.
T i 1 1 m e y e r : Pulsierender Exophthalmus i n f o 1 g cs
von Schädelhasisf raktur.
Es besteht doppelseitige Abduzenslähmung, linksseitige
Lähmung des Levator und Tensor veil palatini und der Pharynx¬
muskeln, Verminderung der Speichelsekretion, Aufhebung der
linksseitigen Tränensekretion. Die Fraktur war also durch Türken¬
sattel und linkes Schläfenbein erfolgt. Vor vier Jahren
Unterbindung der linken Karotis, ohne Erfolg. Auch Kompression
der rechten Karotis bringt die Gehörgeräusche und das Kopf¬
sausen nicht zum Verschwinden.
J.oeffler: Ein neues Färb ever fahren. (Erschien in
der Deutschen medizinischen Wochenschrift.)
Bleib treu: Die Lipämie der Fettgänse. Bleib¬
treu berichtet über Versuche, die er an Mastgänsen angestellt
hat. Es wurden die Tiere teils mit fast ganz fettfreiem (Gersteu¬
schrot), teils mit sehr fettreichem (Butter) Futter gemästet. Es
zeigte sich kein großer Unterschied im Fettgehalte des Blutes,
die Lipämie war sogar hei einem der Gerstenschrottiere höher
als bei den Buttertieren. Auf Grund von chemischen Untersu¬
chungen über die Jodzahlen der verabfolgten Fette und der Blut-
fette, glaubt Bleib treu, daß das Blutfett nicht unverändertes
Nahrungsfett sei, sondern daß eine pathologische Lipämie vor¬
liege.
Diskussion: Grawitz.
Ritter zeigt Atypische Epithelwucher u ngen, die
durch Injektion von S c h a r 1 a c h ö 1 a. m K a n i n c h e n o li r
hervor gern! eil worden sind.
Ritteirhat die Versuche Fischers nachgeprüft und be¬
stätigt deren Resultate.
(Fortsetzung folgt.)
Wiener med, Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 8. April 1907, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums, I., Rolenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Dl-. Ein. Frank stattfindenden
ivisseuscliaftlichen T ersniniulung.
Dr, Th. 11. Offer: Ueber Abführmittel.
Y«r»ntwortlichfr Rfdakt«ur: Adalbert Karl Trupp. Vtrlag you lYilhelm Hraamüller m Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien, XVIII., XheresientaBBe 3.
rr . — ^
Die
,, 'Wiener klluisctie
■Woclieiisclirift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0* Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. Y. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
rr ^
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land weiden von allen Buch¬
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handlung übernommen. —
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Redaktion:
Telephon Nr. 16.282.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 17.618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang.
Wien, 11. April 1907.
Nr. 15.
INH
1. Originalartikel: 1. Aus der Prosektur der mährischen Lancles-
krankenanstalt in Brünn. (Vorstand; Priv.-Doz. Dr. Carl
Sternberg.)! Zur Kasuistik der „Kolloiden Degeneration der
Haut im Granulations- und Narhengewebe“ (Juliusberg). Von
Dr. Ignaz S a n d e k.
2. Aus dem Ambulatorium für Magen- und Darmkranke des
Priv.-Doz. Dr. Emil Schütz (Allgem. Krankenhaus in Wien).
Ueber Achylia gastrica. Von Dr. Ludwig Brauner, gew.
Assistenten des Ambulatoriums, derzeit Sanatoriumsleiter in
Meran und Aussee.
3. Aus der deutschen dermatologischen Klinik in Prag. (Vorstand:
Prof. Dr. K. Kreibich.) Ueber Reinfectio syphilitica. Von Doktor
Karl Oplatek, Sekundararzt.
4. Aus der I. medizinischen Klinik (Prof. Dr. v. Noorden) und
dem Röntgenlaboratorinm (Vorstand: Doz. Dr. Holzknecht) in
Wien. Ueber radiologische Motilitätsprüfung des Magens. Die
Schlußkontraktion. Von Dr. Gottwald Schwarz am Röntgen-
ALT:
laboratorium und Dr. Siegmund K r e n z f u c h s an der I. medi¬
zinischen Klinik.
5. Brauchbare Abänderung des Sayreschen Schlüsselbeinbruch-
Verbandes. Von Dr. Franz Riedl, Bad Ullersdorf, Nord mähren.
II. Referate: Die Tuberkulose. Von Prof. G. Cornet. Ref:
V. W e i 3 m a y r. — Lehrbuch der Haut- und Geschlechts¬
krankheiten für Studierende und Aerzte. Von Prof. Doktor
Edmund Lesser. Beiträge zur Kenntnis der venerischen
Erkrankungen in den europäischen Heeren, sowie in der
militärpflichtigen Jugend Deutschlands. Von Dr. Heinrich
Sch wienin g. Ref. : Finger. — Die akute Trunkenheit und
ihre strafrechtliche Begutachtung. Von Dr. Ewald Stier. Ref.:
Mattausche k.
III. Aus verscliiedenen Zeitschriften.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichteu.
VI. Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßherichte.
Aus der Prosektur der mährischen Landeskraukenanstalt
in Brünn. (Vorstand : Prosektor Priv.- Doz. Dr. Carl
Sternberg.)
Zur Kasuistik der „Kolloiden Degeneration der
Haut im Granulations- und Narbengewebe‘‘
(Juiiusberg).
Von Dr. Ignaz Saudek.
In den Arbeiten der letzten zehn .Jahre finden sich
mehrere Fälle von Ilautveränderimgen beschriehen, deren
(Iriindlage eine Degeneration des elastischen Gewebes ist.
Darier zeigte auf dem III. internationalen Dermatologen¬
kongreß in London 1896 an einem Falle eine Dermatose,
die er mit Rücksicht auf ihre klinische Aehnlichkeit mit dem
Xanthoma als Pseudoxanthoma elasticnm bezeichnete. Es
handelte sich um eine Hauterkrankimg, deren Wesen in einer
Degeneration des elastischen Gewebes bestand, die zu Zer¬
reißung, Scliwellimg und Zerfall der elastischen Fasern
führte und von Darier als Elastorhexis bezeichnet wurde.
Der franzüsische Autor lieht hei dieser Gelegenheit
hervor, daß schon im Jahre 1884 Balz er einen hieher
gehörigen Fall heschrieh, ohne ihn als selbständiges Krank-
hoilshild erkannt zu liabeu. Es wurden daim in den näclisien
Jahren ähnliche Fälle tieschriehen, so von Bodin 1900,
von V. Tannenhain 1901, von Werter 1904, von Gutt-
mann 1905 und ein Fall von Emma Düben dort er 1903,
dessen Zugehörigkeit in diese Gruppe jedocli später he-
sproclieu wm'den soll.
I In allen diesen Fällen handelt es sich um klinisch
dem Xanthoma sehr ähnliche, zum Teile einzeln stehende,
zum Teile konfluierende Plaques und Flecken, welche am
Stamme und den Beugeflächen der Extremitäten lokalisiert
sind, die Streckseiten der Gelenke und insbesondere das
Gesicht frei lassen; im Falle Dariers, Bodins und von
V. Tannenhain war eine genaue Symmetrie der Lokalisa¬
tion auffällig. Der histologische Befund zeigt übereinstim¬
mend eine Zerreißung, Verbreiterung und Schwellung der
elastischen Fasern, welche zu dichten Knäueln oder Nestern
angeordnet sind ; stellenweise finden sich auch homogene,
scholligu Gebilde, die die gleiche Farbreaktion zeigen, wie
die elastischen Teasern. Im Falle Dariers wurden diese
Veränderungen des elastischen Gewebes allenthalben im
Korium an getroffen, im Falle von v. Tannenhain nur in
den oberen Schichten der Kulis, in allen übrigen Fällen mehr
in den mittleren und unteren Kntisschichten. ,Von Allgemein-
hefimden, die ätiologisch zu verwerten wären, fanden sich
im Falle Dariers bei einem dOjährigen Manne, welcher
früher an Malaria gelitten hatte, bei der Sektion tuberkulöse
Veränderungen der Lunge, im Bodinschen Falle bei einem
53jährigen Manne Lungentuherknlose, im v. Tannenhai n-
schen Falle bei einer 74jährigen Frau hochgradige Alters¬
veränderungen, Marasmus und vorgeschrittene Arterio¬
sklerose, im Falle Werters hei einer 28jälirigen Frau chro¬
nisches Magenleiden und Chlorose, im Falle Giittmaniis
hei einem 23jährigen Mädchen Chlorose und Syphilis; in
den lieiden letzten Fällen halten je zwei Geschwister seit
ihrer Jugend dieselbe Affektion.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
1.
*■
Eine dem PseudoxanUioma elastic niii nahestehende
Hautaffektion wurde iin Jahre 1892 von Juli ns h erg in
drei Fällen beobachtet.
In dem ersten Falle fand sich bei einer 54jährigen Frau,
die mit Lues behaftet war, auf der linken Seite des Halses,
vorne voni Musculus sternocleidomastoideus ein etwa dreimaik-
stückgroßer Plaque, der aus einzelnen, teils isolierten, teils kou-
fluierenden, gelben Flecken bestand. Die histologische Unter¬
suchung ergab nebst unwesentlichen Nebenbefunden, wie eine
reichere Pigmentation der Pallisadenschicht und der angrenzenden
lletezellen, sowie einer unbedeutenden zelligen Infiltration der
Kutis, erhebliche Veränderungen des elastischen Gewebes und
zwar in verschiedenem Ausmaße, entsprechend den Schichten
der Kutis. In der unter dem Epithel gelegenen Zone waren die
elastischen Fasern zu einem Netz mit stellenweise auffallend
dicken Fasern angeordnet, die an einzelnen Partien kompakte,
blockartige Streifen bildeten, welche parallel zur Epithel grenze
verliefen. Die meisten Veränderungen zeigt das elastische Ge¬
webe in der unter dieser Schichte gelegenen Zone. Hier stellt
es ein sehr dichtes Filzwerk von bizarr geformten Fasern dar,
welches fast alles übrige Kutisgewebe ersetzt hat. Eine Zahl der
Fasern fließt zu Knotenpunkten zusammen, auf diese Weise un¬
regelmäßige, knollenartige Massen bildend. In den tiefsten Schich¬
ten der Kutis schließlich bilden die plumpen, elastischen Fasern
dicke, parallel verlaufende Streifen.
Der zweite Fall betraf einen 45jährigen Mann, der wegen
eines Syphilides auf dem linken Vorderarm in die^ Berner Klinik
auf genommen wurde. Wälirend die genannte Affektion heilte,
bildeten sich u. a. im Narbengewebe zwei intensiv gelb gefärbte
Flecke, bei denen die mikroskopische Untersuchung nebst Be¬
funden, wie sie den sogenannten lupoiden Herden J a d a s-
sohns entsprechen, wesentliche Veräuderungen des elastischen
Gewebes ergab. Dieses war in den Randpartien vollständig oder
sehr wesentlich reduziert. Im Zentrum aber war das Netz der
elastischen Fasern so reich entwickelt, daß es bei schwacher
Vergrößerung blockartige Bildungen darbot. Die gehäufte elastische
Substanz befand sich besonders in den obersten Kutisschichten
stellenweise dicht unter dem Epithel außerhalb und innerhalb
der Infill rationsherde. Die Fasern selbst zeigten die verschie¬
densten Formen.
Im dritten Falle fand sich bei einer 48jährigen Frau, die
an einem Lupus vulgaris litt, auf der rechten Wange eine pfennig¬
große, etwas deprimierte Narbe von glatter Oberfläche und gelb¬
licher Verfärbung. Nach xVngabe der Patientin hatte dort früher
ein eitriger Knoten bestanden. Zwei leicht gefärbte, etwa linsen¬
große, ebenfalls leicht narbig aussehende Stellen fanden sich
vor dem linken Ohre.
Im histologischen Bilde zeigten sich vor allem Veränderungen
des elaslischen Gewebes, die unmittelbar unter dem Epithel noch
gering waren, während in den tieferen Schichten ein sehr dichtes,
unregelmäßiges Geflecht von elastischen Fasern erkennbar war.
Wie aus der Uebersiclit dieser Fälle ersichtlich ist,
handelte es sich um sehr ähnliche Veränderungen des ela¬
stischen Gewebes in Herden, die einmal am Halse, das
andere Mal inmitten eines heilenden Syphilids am Vorder¬
arm, das drittemal in einer Narbe im Gesichte lokalisiert
waren. Klinisch präsenlierten sich die Erscheinungen als um¬
schriebene hell- bis intensiv gelbe Herde, deren Farbe weder
auf Pigmentierung, noch auf Einlagerung von Zellmassen
beruht, sondern ausschließlich in degenerativen Verände¬
rungen des elastischen Gewebes ihre Begründung hat.
Juliusberg schlägt für diese Dermatose mit Rücksicht
auf die sehr ähnlichen histologischen Befunde am elasti¬
schen Gewebe, welche sich beim Golloidoma miliare finden,
den vorläufigen Namen vor: Kolloide Degeneration der
Haut im Granulations- und Narbengewebe.
Er erwähnt auch eine Reihe von Beobachtungen von
Prof. Jadassohn, der innerhalb narbiger Veränderungen,
die teils nach Schnittwunden, teils nach Granulations¬
prozessen sich bildeten, gelbe Flecken fand, welche den
in den früheren Fällen geschilderten klinisch sehr ähnlich
sahen. Hiezu gesellt sich ein freilich nicht völlig klar¬
gelegter Fall von Ja risch, den dieser als Golloidoma
ulcerosum bezeichnete, bei dem gleichfalls histologisch eine
Kombination von kolloider Degeneration und Entzündung
jnil Riesenzellen vorliegt.
Im folgenden soll nun über zwei einschlägige Be¬
obachtungen berichtet werden.
Der erste Fall betraf eine 58jäbrige Frau, die wegen
eines Tumors an der rechten Wange die chirurgische Abteilung
des Prim. Dr. Katholicky aufsuchte; die klinische Diagnose
lautete airf Epithelioin. Die in der Prosektur vorgenommeno histo¬
logische Untersuchung des exstirpierten Tümors ergab folgenden
Befund :
In den mit Hämalauneosin gefärbten Präparaten findet sich
eine beträchtliche Wucherung des OberfläcbenepiLbels, welches
in Form breiter Knollen und Zapfen tief in das Koriuni hinein¬
ragt. Stellenweise erfüllen solche Zapfen und Nester einzelne
Lympbwege, an anderen Stellen, so namentlich gegen die seit¬
liche Umgrenzung zu, findet sich in der 'Umgebung der Zapfen
und Nester eine dichte, kleinzellige Infiltration.
In der unmittelbaren Umgebung dieser Geschwulst zeigen
der Papillarkörper, sowie die oberflächlichen Schichten des Ko-
riums Einlagerungen unscharf begrenzter Herde (Abb. l), <he meist
den Raum zwischen zwei Retezapfen vollständig ausfüllen und
die bei Hämalaun-Eosinfärbung aus blaßrot gefärbten, oft wie
krümmelig oder körnig aussehenden Massen oder aus l)laß ge¬
färbten Knäueln bestehen. Innerhalb dieser Herde sieht man
vereinzelte Blutgefäße. Die Herde liegen, wie beschrieben, in
Fig. 2.
der oberen Schichte des Koriums, oberhalb der Knäuel- und Talg¬
drüsen. Sie reichen beiderseits hart an den Tumor heran. Bei
Elastikafärbung erscheinen alle diese Herde intensiv braun¬
schwarz, bzw. schwarz gefärbt und zeigen die gleiche Tingibili-
tät, wie die elastischen Fasern der Haut. Bei starker Vergrößerung
zeigt sich, daß* diese Herde zusammengesetzt sind aus vielfach
verschlungenen oder zusammengerollten, ziemlich breiten Fasern,
die meist nur am Rande der Knäuel als solche erkennbar sind,
wälirend sich im Innern derselben einzelne Fasern nicht mehr
untersclieiden lassen.
Zwischen diesen Fasern sieht man auch unregelmäßig ge¬
formte, wie schollige, mehr braunrot gefärbte Gebilde, sowie
kantige, wie zerbrochen aussehende Stücke, welche die gleiche
Färbung darbieten. Allenthalben gehen aus dem umgelienden
Korium elastische Fasern von gewöhnlicher Form und Färbbar¬
keit in die eben beschriebenen Knäuel und Nester über und
verlieren sich in denselben. Der Tumor ragt an seiner Peri¬
pherie iir derartige Nester hinein (Abb. 2), so daß einzelne Epitliel-
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
437
zapfen allseits von Teilen solcher Knäuel umgeben sind. Kleinere
Reste finden sich auch innerhalh der Greschwulst zwischen den
einzelnen Epithelzapfen und auch hier zeigt sich vielfach ein
inniger Zusainnienhang mit den elastischen Fäseru des Koriums,
Es hatte somit die histologische Untersuchung de¬
generative Verändemiigen des elastischen Gewebes der
Haut ergeben, welche diesen Fall zu der vorhin beschrie¬
benen Gruppe von Dermatosen in Beziehung bringt und es
erschien daher notwendig, den klinischen Status in dieser
Richtung zu ergänzen. Die klinische Untersuchung, die
durch das freundliche Entgegenkommen des Herrn Primarius
Katholicky ermöglicht wurde, ergab folgenden Befund :
Kräftige Frau von gut entwickeltem Fettpolster, Haut etwas
faltig (senil), im Gesichte leichte Hypertrichosis.
Unterhalb des rechten Auges eine der Nasolahialfalte, parallel
verlaufende, 3 cm lange Operationsnarbe, unterhalb des rechten
Schlüsselbeines ein linsengroßes Angiom. Ueber der rechten
Glutäalhälfte, 2V2 cm vom Tuber ischii, befindet sich ein hell¬
gelber, kreisrunder, derb sich anfühlender, glatter, etwa 2 mm
prominierender Tumor, welcher bei histologischer Untersuchung
sich als Fibrom erwies.
Im zweiten Falle handelte es sich um eine 65jährige
Frau, bei der sich auf der rechten Wange unterhalb des rechten
Augenlides ein nußgroßer, schwarzer, höckeriger Tumor vorfand;
auf der linken Wange, entsprechend dem aufsteigenden Kieferast,
ein linsengroßer, blauschwarzer Herd. Der große Tumor wurde
exstirpiert und der histologischen Untersuchung zugeführt.
Diese ergab den typischen Befund eines melanotischen
Spindelzellensarkoms, ln der Umgebung desselben finden sich
in der Haut unmittelbar unter dem Epithel, umfangreiche, meist
untereinander konfluierende Herde, welche aus krümmelig-körnigen
mit Eosin braunrot gefärbten Massen bestehen, die im allgemeinen
den Papillarköiimr volliständig einnehlmen, während das übrige
Koriuni das gewöhnliche Verhalten darbietet. Bei Elastikafärbung
erscheinen diese Herde intensiv braunrot oder braunschwarz ge¬
färbt und bestehen aus dichtgewundenen Knäueln verschieden
breiter, oft sehr breiter Fasern, die wie im vorigen Falle, nur
an der Peripherie noch erkennbar sind, sich eine Strecke weit
in die Geschwulst hinein erstrecken, so daß kleine Inseln der¬
artiger Knäuel noch im Bereiche der Geschwulst erkennbar sind.
In solchen Inseln sind die eiirzelnen Fasern im allgemeinen
besser erkennbar; hier finden sich verschieden lange und breite,
oft sehr breite, gerade gestreckte, starre Bänder, die die gleiche
Färbung zeigen wie das übrige elastische Gewebe der Haut und
oft mit scbarfen, wie kantigen Enden plötzlich abbrechen; zwischen
denselben finden sich vereinzelt zarte, meist gestreckte, doch
ab und zu noch geschlängelte Faserchen vom Charakter der
normalen elastisdien Fasern.
Wenn wir die Ergebnisse der Untersuchung beider
Fälle zusammenfassen, so handelt es sich um degenerative
Veränderungen des elastischen Gewebes in der unmittel¬
baren Nachbarschaft maligner Tumoren. Das elastische Ge¬
webe bildet daselbst dichte Knäuel, in welchen nur in der
Peripherie einzelne Fasern erkennbar sind, wälirend sich
diese Knäuel im Zentrum nicht mehr in ihre Bestandteile
auflösen lassen. Diese Herde sitzen, wie erwähnt, in den
obersten Koriumschichten, während die tieferen Lagen der
Kutis frei sind.
Es erinnern diese Veränderungen sowohl an die beim
Pseudoxanthoma elasticum als auch an die von Julius¬
berg beschriebenen Befunde. Bei der großen Aehnlichkeit
der histologischen Bilder der in Rede stehenden Haut¬
erkrankungen verursacht die Einreihung unserer beiden
Fälle einige Schwierigkeit. Wir müssen nach histologischen
und klinischen Merkmalen suchen, um diese yomehmen
zu können.
Bei den als Pseudoxanthoma elasticum beschriebenen
Fällen sitzen die Veränderangen im Fälle Dariers in der
ganzen Ausdehnung der Kutis, im Falle von Tannenhain
in den oberen Schichten derselben, in allen übrigen Fällen
in den mittleren und unteren Kutiszonen. In den Julius-
bergschen Fällen saßen im ersten Falle die Veränderungen
in allen Schichten der Kutis, wobei insbesondere die mitt¬
leren Lagen die bedeutendsten Alterationen aufwiesen; im
zweiten Falle war die Degeneration der elastischen Fasern
dicht unter dem Epithel im Papillarkörper zu finden, im
dritten Falle mehr in den tieferen Lagen. Es gestatten mit¬
hin weder die Art, noch die Lokalisation der histologischen
Veränderungen eine sichere Unterscheidung zwischen den
in Rede stehenden Prozessen.
Ziehen wir nun die klinischen Eigentümlichkeiten
beider Krankheitsbilder in Erwägung, so sehen wir, daß
die Effloreszenzen beipi Pseudoxanthoma elasticum vor¬
nehmlich am Stamme und an den Beugeflächen der Ex¬
tremitäten lokalisiert sind und das Gesicht ausnahmslos
fr'eilassen; nebstdem war in den Fällen Dariers, v. Tan¬
ne nhai ns und Bo dins eine auffällige Symmetrie der
Krankheitsherde bemerkenswert, ln den Fällen Julius¬
bergs hingegen, sowie in den unseren war die Affektion
nur an einer Körperstelle entwickelt u. zw. in einer Beob¬
achtung Julius bergs und in unseren beiden Fällen im
Gesichte.
Wenngleich von einem typischen Verhalten bei der
geringen Zahl der bisher publizierten Fälle nicht gesprochen
w;erden kann, so ist die ganz verschiedene Lokalisatioji
vielleicht doch ein genügend hervorstechendes Unterschei¬
dungsmerkmal, um die Ju liusber gscheii Fälle gegen das
Pseudoxanthoma elasticum abgrenzen zu können und mit
Rücksicht auf eben diese Lokalisation würden wir auch
unsere beiden Fälle den Julius be rgschen anreihen.
Aehnliche Schwierigkeiten betreffs der Beurteilung bot
der von Emma Dübendorf er als Pseudoxanthoma elasti¬
cum beschriebene Fall.
Es handelte sich um einen siebenjährigen Knalmn, hei dem
auf der linken Glutäalfläche ein Plaque sich vorfand, der aus
bald dichten, bald lockeren Anhäufungen und Netzen elastischer
Fasern bestand. Das histologische Bild war ein den früher be¬
schriebenen sehr ähnliches. Der Hauptsitz der Affektion waren
die mittleren und tiefen Kutisschichten. Schon Werter äußerte
seine Bedenken gegen die Zugehörigkeit dieses Falles zum Pseudo¬
xanthoma elasticum und auch wir möchten ihn mit Rücksicht
auf die Lokalisation der Affektion den J u 1 i u s b e r g sehen
Fällen anreihen.
Was nun die Entstehungsursache der in Rede stehen¬
den Veränderungen des elastischen Gewebes betrifft, bieten
weder die Anamnese, noch der klinische und anatomische
Befund sichere Anhaltspunkte. Wenn in den Juliusbe rg¬
schen Fällen die Degeneration des elastischen Gewebes in
Granulationsgeweben sich vorfand, so ist in unseren Fällen
die unmittelbare Nachbarschaft voii malignen Tumoren her-
vprzuheben. Es ist möglich, daß älmliche Momente, welche
Juliusberg zur Erklärung der Veränderungen des elasti¬
schen Gewebes im Granulations- und Narbengewebe heran¬
zieht, in unseren Fällen durch das Wachstum der Ge¬
schwülste gegeben sind.
Es lag auch die Vermutung nahe, daß sich ähnliche
Veränderungen öfters in der unmittelbaren Nachbarschaft
von Tumoren finden, da dieselben ja leicht der Beachtnng
des Untersuchers entgehen können. Anderseits liegt aber
bereits eine Reihe von Untersuchungen über das Verhalten
der elastischen Fasern in Tumoren und in deren Umgebung
vor, ohne daß über das Auftreten der hier beschriebenen
Veränderungen berichtet worden wäre. Auch in der kürz¬
lich erschienenen Arbeit Wal j aschkos, welcher an einem
reichen Material das .Verhalten des elastischen Gewebes
in Tumoren studierte, findet sich keine analoge Beobachtung.
Die beiden untersuchten Fälle boten auch Gelegen¬
heit, das Verhalten der Tumoren zu derartigen Anhäufungen
elastischer Fasern zu studieren, da ja mehrfache Angaben
in der Literatur vorliegen, daß kompakte Nester elastischer
Fasern das Vordringen maligner Tumoren aufhalten oder
veiiangsamen (vgl. auch Waljaschko). Es wurde daher
das Präparat des ersten Falles in Serienschnitte zerlegt
und hiebei gefunden, daß die Zapfen des Epithelioms in
die elastischen Massen eindringen und von denselben Inseln
abschnüren, die immer kleiner werden, bis schließlich nur
wenige, vereinzelte elastische Fasern mitten im Tumor¬
gewebe übrig bleiben. Es war also, der Krebs, wie auch
sonst beobachtet wird, schrankenlos in seine Umgebung
liineingewachsen, ohne in seinem .Vorwärtsdrängen durch
das verdichtete elastische Gewebe, bzw. durch elastische
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Kr. 1
4;i8
Knäuel oder Nester behindert, geschweige denn auFgehalten
zu werden.
Die hier besprochenen Affektionen bieten nur ein ge-
linges praktisches lideresse dar. In unseren Fällen standen
iin klinischen Bilde selbsti'edend die malignen Tumoren im
A'ordergnmd ; auch bei dem Pseudoxanthoma plasticum und
den Juliusliergschen Fällen handelt es sich höchstens
um eine kosmetische Störung, welche der Therapie wenig
zugänglich ist. Immerhin beanspruchen derartige Fälle ein
gewisses Interesse, da, Beobachtungen dieser und ähnlicher
Art die Bausteine zu einer derzeit noch feagmentarischen
Pathologie des elastischen Gewebes liefern.
Literatur:
E, Bodin, Pseudo-Xanthome ölaslique. Annates de dermat. et de
syphil. 1900, S. 1073. — J. Darier, Pseudoxanthoma elasticum. Monats¬
hefte für prakt. Dermatologie 1896, Bd. 13, S. 609. — E. Dübendorfe r,
Heber Pseudoxanthoma elasticum und kolloide Degeneration in Narben
Archiv für Dermatol, und Syphil., Bd. 64, S. 175. — C. Gutmann, Heber
Pseudoxanthoma elasticum (Darier). Archiv für Dermatol, und Syphil.,
Bd. 75, S. 317. — V. Tannenhain, Zur Kenntnis des Pseudoxanthoma
elasticum. Wiener klin. Wochenschrift 1901, Nr. 42, S. 1038. —
G. A. Waljaschter, Heber das elastische Gewebe in Neubildungen.
Virchows Archiv, Bd. 187, H. 2, S. 286. — Wert her, Heber Pseudo¬
xanthoma elasticum. Archiv für Dermatol, und Syphil., Bd. 69, S. 23. —
Juliusberg, Kolloide Degeneration der Haut ira Granulations- und
Narbengewebe. Archiv für Dermatol, und Syphil., Bd. 61.
Aus dem Ambulatorium für Magen- und Darmkranke
des Priv.-Doz. Dr. Emil Schütz (Allgem, Krankenhaus
in Wien.)
lieber Achylia gastrica.
Von Dr. Ludwig Brauner^ gew. Assistenten des Ambulatoriums, derzeit
Sanatoriumsleiter in Aleran und Aussee.
Die Achylia gastrica ist seit den grundlegenden Pnbli-
kationen von Einhorn^) und Martins^) wiederholt Gegen¬
stand eingehender Erörterungen gewesen. Die Ansichten
über diese Erkrankungsform mußten im Laufe der Jahre
vielfache, zum Teil sehr wesentliche Modifikationen erfahren,
und auch heute harren noch zahlreiche, diesen Gegenstand
betreffende Fragen einer allseits befriedigenden Beant¬
wortung.
Mit der nachfolgenden Besprechung der in den Jahren
1904 und 1905 in unserem Ambulatorium durch längere Zeit
genauer beobachteten Fälle von Achylia gastrica glaube ich
zur Klärung einiger dieser Fragen beitragen zu können.
In dem genannten Zeiträume wurden l)ei 420 Patienten
mit Beschwerden von seiten der Verdauungsorgane Magen¬
inhaltsuntersuchungen vorgenoinmen ; hierunter boten
31 Fälle den Befund der Achylie. Von den letzteren sind
14 von der nachfolgenden Besprechung ausgeschieden
worden, da eine ,x4nzahl darunter Fälle von Magenkarzinom
l)etraf, die übrigen infolge ungenügend langer Beobachtungs¬
zeit für die nachfolgende Mitteilung nicht verwertet werden
konnten.
Die übrig bleibenden 17 Fälle betragen allein 4 To
der obigen 420 Kranken.
E. Schütz^) fand unter 830 chemisch untersuchten
Fällen 3-6 To nicht karzinomatöser Achylien; auch die
meisten anderen Autoren heben die relative Häuiigkeit der
Achylie hervor; nur Bourget^; (Lausanne) gibt an, er
habe sie im Laufe der letzten 20 Jahre unter einem reichen
Beobachtungsmaterial höchstens vier- oder fünfmal zu sehen
Gelegenheit gehabt. (Seltenheit durch territoriale Verhält¬
nisse bedingt?)
Unsere 17 Fälle betrafen Personen im Alter zwischen
21 und 59 Jahren. Bei keinem derselben sollen Besebwerden
seitens des Verdauungsapparates vor dem 19. Lebensjahr
aufgetreten sein. Betreffs der Literaturangaben in bezug auf
(las jugendlichste Alter, in welchem Achylie gefunden wurde,
beschränke ich mich auf folgende kurze Uebersicht: Unter
den 16 Fällen von M artiu s") ist der jüngste Patient 26 Jahre
(Einsetzen der ersten Verdauungsbeschwerden im 25. Lebens¬
jahre). Bo sen heim''’) fand Achylie bei einem 18jährigen
Patienten. Unter Einhorns^) 15 Fällen ist der jüngste
21 Jahre alt (erste \Brdauungsbeschwerden im 19. Lebens¬
jahr). Einhorn berichtet hier aber auch über einen Mann,
der bis zum 20. Lebensjahre an Durchfällen litt, hierauf
keinerlei Beschwerden seitens des Verdauungsapparates
hatte; durch eine gelegentliche Mageninhaltsuntersuchung
im 52. Lebensjahre wurde iVchylie festgestellt. Einhorn
glaubt, daß hier die Saftlosigkeit des Magens schon aus der
Kindheit datierte. Riegels^) jüngster Patient war 17 Jahre
alt. Wegele^) hat schon bei Zwölfjährigen Achylie gefunden
und, wie ich einer mündlichen Mitteilung entnehme, jüngst
sogar bei einem fünfjährigen Knaben, welcher gleichzeitig
an Albuminurie litt, eine durch dreimonatliche Beob¬
achtung sichergestellte Achylie konstatiert. Dagegen fand
L. Kuttner,®) der den Mageninhalt einer sehr großen An¬
zahl magendarmkranker oder rachitischer Säuglinge und
Kinder aller Altersklassen untersuchte, niemals einen voll¬
ständigen Ausfall der Saftsekretion. — Hier sei schließlich
nochmals Martins^) angeführt, der die Vermutung aus¬
spricht, Achylia gastrica oder die Anlage zu derselben seien
angeboren. Die bisherigen Untersuchungsergebnisse sprechen
wenig zugunsten dieser Annahme.
Ueber das Vorkommen von Achylie (sowie über die
Aziditätsverhältnisse des Mageninlialtes im allgemeinen) im
höheren Lebensalter geben nachfolgende Beobachtungen Auf¬
schluß. In den letzten drei Jahren wurden in unserem
Anibulatorium ■ — nach Abzug von 26 Magenkarzinom¬
kranken — bei 69 Personen, welche im Alter von 50 bis
81 Jahren standen und durchwegs über Verdauungsstörungen
klagten, Mageninhaltsprüfungen vorgenommen.
Es zeigten :
Hyperazidität (A über 70)
15
Normale Azidität
32
Hypa^idität (A unter 40)
12
Achylie
10.*
Die Achyliker machten im Triennium 1904/6 15To **)
der über 50 Jahre alten (nicht an Magenkarzinom leidenden)
Verdauungskranken aus. (Ich möchte hier erwähnen, daß
die Gesamtazidität bei den 15 Fällen mit Hyperazidität Werte
bis 107 erreichte.)
Mit den Aziditätsverhältnissen im höheren Lebensalter
befassen sich die neueren Arbeiten von Seidelin ^) und
Li fs ch ü tz.^®) Ersterer hat den Magensaft von 70 Patien¬
ten, welche das 50. Lebensjahr überschritten hatten, unter¬
sucht. Es wurden nach Möglichkeit Patienten gewäldt, bei
denen das klinische Bild die Eventualität eines Magenkarzi¬
noms mit absoluter Sicherheit ausschloß. In 40To der Fälle
fehlte freie Salzsäure, die Gesamtazidität betrug 5 — 15 — 39.
Lifschütz fand bei der Untersuchung yondO über öOJalire
alten Kranken 25mal Achylie, fünfmal darunter bei Magen¬
karzinom. Nach Abzug der Kranken letzterer Kategorie ver¬
bleiben 20 Achyliker, entsprechend 33 To der Patienten.
Wie Seidel in und Lifschütz konnten auch \\tir
eine bedeutende Zahl von Achylikern im höheren Lebens¬
alter konstatieren. Anderseits aber fanden wir bei der Hälfte
unserer über 50 Jahre alten Kranken normale, bei einer
beträchtlichen Anzahl zum Teil hohe Hyperaziditätswerte.
Wir können daher Lifschütz nicht zustimmen, wenn er
zur Schlußfolgerung kommt, daß die Magensekretion bei
Personen jenseits des 50. Lebensjahres eine ziemlich deut¬
liche Tendenz zur Verringerung zeigt.
Was das Geschlecht anbelangt, fanden sich unter
unseren 17 Fällen von Achylie 11 Männer und 6 Frauen.
ln bezug auf die Krankheitsdauer ließ sich feststellen,
daß alle Patienten in Behandlung kamen, nachdem ihre
Beschwerden nionate- oder jahrelang bestanden hatten. In
drei Itiillen ging der letzten Erkrankung, welche Anlaß zur
Untersuclumg gab, eine oder mehrere Erkrankungsperioden
*) Hilter diesen war bei vier Fallen mit Rücksicht auf die
ungenügend lange Beobachluiigszeit das Bestehen eines Magenkarzinoms
nicht mit Sicherheit auszuschließen. Ich zähle sie hier zu den Achylien,
um keinesfalls zu niedrige Zahlen zu bekommen.
**) Ira Bifimium 1904 bis 1905 20®/(,.
Nr. 15
439
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
voraus, die mit ein- l)is vierzelmjährigeii Intervallen voll-
sländigen Wohlliefindens alnveclisellen.
Unsere Patienten rekrutierten sich ans dem Arbeiter-
nnd niederen Beamtenstand. Wir fanden keine Anzeichen,
daß hei ilmen bernfliche Schädlichkeiten für die Eidstehnng
der Krankheit, hzw. für das Auftreten subjektiver Be¬
schwerden verantwortlich gemacht werden konnten. Potus
wurde von allen Kranken in Abrede gestellt.
Anhaltspunkte für eine familiäre Disposition konnten
wir aus den Angaben der Kranken nicht gewinnen; eine
Reihe von Patienten gab mit Bestimmtheit an, daß Eltern
und Geschwister nie an länger dauernden Verdauungs¬
beschwerden gelitten hatten; nur einer, der gleichzeitig seit
Jahren Diarrhöen hatte, teilte mit, daß sein Vater gleichfalls
an einem ähnlichen Zustande gelitten habe. (Nebenbei sei
hier der Befund bei einem 29jährigen Kranken erwähnt,
dessen an Achylie erkrankte Mutter zwei Jahre hindurch in
unserer Beobachtung stand; gleich letzterer klagte er über
Aufstoßen, Alagendrücken und Schlaflosigkeit. Pötus und
Tabakmißbrauch wurden negiert. Mageninhaltsprüfung nach
Probefrühstück ergab A -= 91 , freie Salzsäure 68.)
Wir kommen nun zur Besprechung der subjektiven
Beschwerden unserer Patienten. Nur drei Kranke hatten
guten Appetit, bei den übrigen war er verschieden stark
herabgesetzt. Von fünf Patienten wurde über Luftaufstoßen
geklagt. Zwei Achyliker hatten häufiges saures Aufstoßen,
eine Patientin klagte über Sodbrennen; bei einem weiteren
Fall kam seit anderthalb Jahren ein bis zwei Stunden nach
den Mahlzeiten geschmacklose Flüssigkeit hoch. Ein Kranker
hatte seit mehreren Monaten kontinuierlich anhaltendes,
durch Nahrungsaufnahme unbeeinflußtes, im allgemeinen
mäßiges, zeitweise jedoch solir heftiges Brennen im Verlaufe
der ganzen Speiseröhre. Fünf Fälle klagten über zeitweises
Erbrechen, das ein bis mehrere Stunden nach den Mahl¬
zeiten auftrat; bei einem derselben stellte es sich immer
nur im Verlaufe einer Migräne ein. Dreimal bestand Gefühl
von Völle im Magen nach den Mahlzeiten. Lieber Druck
im Magen klagten zehn Kranke. In sieben Fällen trat dieses
Symptom nur im Anschluß an die Mahlzeiten auf u. zw. bald
rasch, bald ein bis zwei Stunden nach denselben; es war
von kurzer bis mehrstündiger Dauer, blieb zeitweise für
Tage und länger aus. In einem Fall bestand seit dem Krank¬
heitsbeginn kontinuierliches, durch Nahrungsaufnahme ver¬
stärktes Magendrücken.
Eigentliche Mageinschmerzen, bzw. -krämpfe wurden
nur von zwei Patienten angegeben. Bei dem einen, der
auch an heftigen Durchfällen litt, wurden sie durch Darm¬
koliken vorgetäuscht, welche unmittelbar nach den Mahl¬
zeiten auftraten.
Bei einem weiteren Falle, einem 43jährigen Schrift¬
setzer, hatten acht und sechs Wochen, bzw. einen Tag vor
dem IJehandlungsbeginn sehr intensive, 24 Stunden an¬
haltende, mit heftigem Erbrechen und starker Diarrhoe ein¬
hergehende Magenkrämpfe bestanden. Außer leichter An¬
deutung des Rhomb er gscheii Symptoms war und Idieb
der Nervenbefund negativ. Pat. stellte eine luetische In¬
fektion entschieden in Abrede; ein Bleisaum war nicht
vorhanden. Am naheliegendsten war es, diese Anfälle
als Bleikoliken oder gastrische Krisen nervösen Ursprunges
aufzufassen. Einige Wahrscheinlichkeit hat jedoch auch die
Aimahme für sich, daß grobe Diätfehler, welche bei be¬
stehender Achylie um so verhängnisvoller für den ganzen
Verdauungstrakt werden mußten, die Anfälle verschuldeten ;
denn während einer viermonatlichen, der Achylie ent¬
sprechenden Behandlung traten diese nicht wieder auf und
Pat. erholte sich ganz vorzüglich.
Ueber Schmerzen anderer Art klagte ein weiterer
Patient. Sie traten im linken Hypochondrium oder hinter
dem Brustbein auf, strahlten zuweilen gegen den Rücken
und in die Oberarme und Beine aus; sie waren bald reißend,
l)ald ziehend, hielten konstant an, waren jedoch von wech¬
selnder Stärke, manchmal recht intensiv. Alit ihnen ver¬
gesellschafteten sich häufig Brennen im Verlaufe der ganzen
Speiseröhre und Würgen in der Keblkopfgegend.
Ein Kranker klagte über beständiges Wundgefühl im
Abdomen.
Zeichen von Neurasthenie (leichte nervöse Erregbar¬
keit, rasches Ermüden, unrubiger Schlaf usw.) fehlten nur
bei wenigen Kranken, doch waren diese Symptome iti keinem
Falle so hervorstechend, daß sie das Krankheitshild be¬
herrschten.
Die subjektiven Beschwerden unserer Patienten zeigten
mithin große Mannigfaltigkeit, keineswegs aljer charakteri¬
stische Eigentümlichkeiten.
Der Ernährungszustand unserer Kranken war im all¬
gemeinen schlecht, nur zwei zeigten mäßige Fettleibigkeit.
.Yusnahmslos war anämisches Aussehen vorhanden.
Sechs Patienten hatten normale Stnhlentleerungen,
sieben litten an Diarrhoen oder großer Neigung zu solchen,
vier an Verstopfung. — Stuhhmtersuchungen wurden nicht
vorgenommen.*)
Bei keinem unserer Kranken fanden wir eine wesent¬
liche Druckschmerzhaftigkeit der Magengegend. Einen Tief¬
stand der unteren Magengrenze (in Nabelhöhe) konstatierten
wir zweimal; hier war vor der Ausheberung ausgedehntes
Plätschern im Bereiche der Magengegend zu erzeugen. In
allen anderen Fällen ließ sich die große Kurvatur durch
Perkussion drei Finger bis handbreit über dem Nabel fest
stellen.**)
Wir kommen nun zur Besprechung der Mageninhalts¬
befunde. Einhorn^) und Martins^) hatten die seither
vielfach bestätigte Angabe gemacht, daß der Mageninhalt
der Achyliker eine Stunde nach Verabreichung des Ewald-
Boas sehen Probefrühstückes abnorm gering sei ; Kuttner®)
und Elsner^^) haben dies als für viele Fälle nicht zu¬
treffend bezeichnet und als Gründe für die obige Annahme
die Tatsache angeführt, daß der meist sehr dicke Semmel¬
brei nur sehr schwer die Sonde passiere. Nach Angabe
dieser beiden Autoren müsse man, um sich über die Menge
des festen flückstandes zu orientieren, an die Ausheberung
eine Spülung anschließen. Unsere Untersuchungen, hei
denen wir diese Umstände berücksichtigten, ergaben in bezug
auf die Menge des Mageninhaltes die verschiedenartigsten
Resultate; wir fanden alle Uebergänge von recht spärlichen
bis zu sehr reichliclien (Jus 250 enU) Inhaltsmengen; bei ein¬
zelnen Krajiken, die wir wiederholt imlersnchten, fanden wir
zuweilen auch keinen Inhalt mehr. A m h äu f i g s te n 1 i e ß e n
sich normale Quantitäten feststellen. Der expri-
inierte Mageninhalt bestand entweder nur aus Semmel¬
brocken oder enthielt daneben eine geringe Menge Flüssig¬
keit. Nur selten betrug diese ])is ein Drittel der Gesamt-
inenge. Bei einem Falle, wo wir drei Expressionen
mit nachfolgender Spülung machten, fanden wir zweimal
sehr viel Flüssigkeit und nur geringe Semmelreste und ein¬
mal eine normale Flüssigkeitsmenge; ebenso bekamen wir
bei der ersten Ausheberung (und Spülung) eines anderen
Kranken reichlich Flüssigkeit und minimale Semmelreste,
während bei der nächsten Untersuchung das Verhältnis
zwischen Flüssigkeit und festen Bestandteilen sich als normal
erwies.
Diese Ergebnisse können folgendermaßen gedeutet
werden. Die Flüssigkeit wird bei Achylie rascher als gewöhn¬
lich in den Darm überführt, da sie durch Magensekret gar
nicht oder zumindest weniger als unter normalen Verhält-
*) Nachträglich entnehme ich einer Mitteilung des Herrn Dozenten
E. Schütz, daß er in zwei hier nicht angeführten Fällen von Achylie
Stuhluntersuchungen genau nach den Vorschriften, welche Ad. Schmidt
für die Funktionsprüfung des Darmes angab, gemacht hat und in keinem
dieser Fälle wesentliche Abweichungen vom normalen Verhalten, ins¬
besondere keine nennenswerten Bindegewebsreste vorfinden
konnte.
**) Einen unserer Kranken haben Herr Dozent Holzknecht
und ich röntgenologisch untersucht'®) (Fig. 23) und dabei eine Magen¬
form gefunden, die sich von der von uns als normal bezeichneten (Fig. 16)
durch etne mäßige Dehnung des kaudalen Teiles (Fig. 13 a) unterschied.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
nissen vermehrt wird*) und ihre schwach saure, neutrale
oder alkalische Reaktion einen rascheren Abfluß durch den
Pförtner bedingt. Dagegen ist die Passage der groben
Semmelbrocken durch den Pylorus mehr minder verlang¬
samt. Die Achylie an sich beschleunigt also die Fortschaf¬
fung der Flüssigkeit beträchtlich und yerzogerf die der festen
Anteile des Probefrühstückes. Bei normaler Funktion der
Muskulatur wird der achylische Magen eine Stunde nach
dem Probefrühstück nur wenig oder keine Flüssigkeit und
verschieden große Chymusmengen, bei gesteigerter Aktion
auch keine Semmelreste mehr enthalten. Um letzteren Effekt
zu erzielen, braucht die Steigerung sicherlich nicht wesent¬
lich zu sein. Ist die Muskelkraft des achylischen Magens
herabgesetzt oder besteht ein sonstiges Motilitätshindemis
am Pylorus, dann wird die Retardation in bezug .auf den
festen Inhalt eine Steigerung erfahren, die Beschleunigung
der Flüssigkeitsabfuhr aufgehoben werden, eventuell in eine
Retardation übergehen. In den seltenen Fällen, wo der Magen
reichlich Flüssigkeit und wenig Semmel enthält, handelt es
sich vielleicht um intensive Verdünnungssekretion. '
Bei neun Patienten haben wir auch den nüchternen
Magen exprimiert und gespült; nie fand sich Stauungs¬
inhalt, einmal 30 - cm^ einer farblosen, stark alkalischen,
leicht fadenziehenden Flüssigkeit und einmal etwas dicker
Schleim. !
Der charakteristischen Schilderung von Martins:^)
„die Expression drei Viertelstunden bis „eine Stunde nach
dem Probefrühstück fördert Semmelbrocken zutage, die völlig
unverändert, wie eben gekaut und ausgespien, höchstens
wie etwas zerrieben aussehen“, möchten wir noch hinzu¬
fügen, daß in einigen unserer Fälle infolge sehr sorgfältigen
Kauens eine leidliche Chymifikation vorgetäuscht wurde.
Der Semmelbrei war ziemlich gleichmäßig feinbröckelig. Daß
es sich nur um eine mechanische Zerkleinerung handelte,
war daraus zu schließen, daß, wie die Ausbreitung des
Mageninhalts auf der Glasschale ergab, feinere Flöckchen
fehlten.**)
Der eine Stunde nach dem Ewald-Boas sehen Probe¬
frühstück exprimierte Mageninhalt reagif^rte in vier Fällen
schwach sauer (A bis 7***) in fünf neutral,t) in vier
alkalisch. Bei weiteren vier wiederholt untiersuchten Kranken
war die Reaktion zu verschiedenen Zeiten meist verschieden
und zwar bald schwach sauer, bald neutral, bald schwach
alkalisch.
Sechs von unseren Fällen haben wir V2 bis 1^/4 Jahre
lang beobachtet und während dieser Zeit bei ihnen wieder¬
holt den Mageninhalt untersucht. Niemals konnten wir
während dieser Beobachtungszeit das Auftreten von Salz¬
säure konstatieren, während andere Autoren (Einhorn^)
und Wegele^) bei einzelnen Fällen schließlich wieder Salz¬
säure fanden.
Die Pepsinuntersuchrmg (nach Hammerschlag) er¬
gab unter zehn Fällen (bei sieben weiteren Kranken er¬
hielten wir nicht genügend Magensaft) nur einmal ein nega-
niNach Rot h:und£StraußU)Ikann_ trotz Achylie selbst ener¬
gische Verdünnungssekrelion auftreten. - - - ^
**)Muf einfache Weise kann dies auch folgendermaßen festgestellt
werden: Läßt man ein Probefrühstück von hinreichender Azidität im
Glaszylinder stehen, so schichtet sich schon nach^kurzer Zeit der Ghymus
in der Weise, daß zu unterst die gröbsten Brocken liegen, während zu
oberst eine nie fehlende, grauweiße, homogen aussehende ' Schichte ab¬
schließt, welche aus feinsten Semmelflockchen besteht.
***) Betreffs der Reaktionsprüfung des Mageninhaltes möchte ich
auf folgendes aufmerksam machen: Auch bei neutraler oder alkalischer
Reaktion des Ausgeheberten — geprüft durch Einlauchen des'Reagenz-
papieres in die Flüssigkeit oder Cbymusmasse — wird blaues *Lackmus-
papier schwach gerötet, wenn man an dasselbe eine der Semmelbrocken
fest andrückt. Dieselbe Reaktion geben aber auch ungekaute Semmelbrocken
welche man etwas mit Wasser angefeuchtet hat. ’
t) Während mari bisher annahm, daß der Mageninhalt bei einer
maximalen Gesamtazidität von 7 keine Salzsäure enthalte, vertritt Leo
in seiner jüngsten Arbeit (len Standpunkt, daß trotz neutraler oder
schwach saurer Reaktion eine Salzsäuresekretion stattgefunden haben
müsse, da er ausnahmslos die Fermente nachweisen konnte, welche
sich bekanntlich nur bei Gegenwart von Salzsäure aus dem Profer¬
menten bilden können.
fives Resultat,*) in den übrigen Werte zwischen 5 und
370/0 Pepsin.
Der Mageninhalt von neun Kranken wurde auch auf
Lab untersucht ; **) die Proben fielen nur dreimal positiv
aus u. zw. zweimal bei zehnfacher, einmal bei 40facher
Verdünnung. Bei unseren Fällen fehlte mithin das Lab oder
war nur in sehr geringer Menge vorhanden.
Die von den meisten Autoren erwähnten und als häufig
bezeichneten Beimengungen von Blut und Schleimhaut¬
stückchen zum Mageninhalt konnten auch wir, allerdings
nur in der Minderzahl der Fälle, beobachten. Dieses Vor¬
kommnis wird allgemein als eine Folge Mer leichten Vulnera¬
bilität der achylischen Magenschleimhaut angesehen; ich
glaube jedoch, daß dasselbe zum nicht geringen Teil auf
die forcierten Expressions- und Aspirationsversuche zurück¬
zuführen ist, zu denen man sich aus früher erwähnten
Gründen bei der Untersuchung solcher Kranker veran¬
laßt sieht.
Die Untersuchung des ausgeheberten Mageninhaltes
und der Spülflüssigkeit auf Schleim, sowie die mikro¬
skopische Untersuchung der Schleimhautstückchen hat
Herr Dozent E. Schütz vorgenommen und die Ergeb¬
nisse inzwischen publiziert.^®) Ich lasse die hiehergehörigen
Stellen seiner Arbeit wörtlich folgen :
,,Die mikroskopische Untersuchung der gehärteten Schleim-
hautstückclien ergab in allen Fällen das Vorhandensein auffallend
reichlicher Becherzellen, sowie Zylinderzellen mit Stäbchensaum,
sowohl auf der Schleimhautoberfläche, als innerhalb der ge¬
wucherten Vorräume. Der schleimige Inhalt der Becherzellen
zeigte fast regelmäßig deutliche Metachromasie bei der Färbung
mit Toluidin, sowie Färbbarkeit mit den übrigen spezifischen
Schleimfärbemitteln. Dieser Befund steht in Einklang mit den,
Angaben anderer Autoren, welche insbesondere bei atrophischen
Prozessen der Magenschleimhaut derartige darmepithelähnliche
Bildungen vorgefunden haben, sowie mit den Mitteilungen von
Lu ha risch, Avelcher unter elf Fällen von Achylie in den aus¬
geheberten Schleimhautstücken fünfmal ein solches Vorkommnis
beobachtet hat. Ich will noch bemerken, daß es mir nicht gelang,
in den von mir untersuchten Präparaten entzündliche oder degene¬
rative Prozesse nachzuweisen.“
„Der Schleimgehalt des Speisebreies war in der Regel ein
minimaler. Die Brocken schwammen entweder in einer dünnen,
farblosen Flüssigkeit, oder sie waren in eine schleimige, glasr
helle, fadenziehende Masse eingehüllt, die alle Charaktere des
Speichels zeigte. Auch der mikroskopische Befund des Schleims
bestätigte die Annahme, daß es sich vonviegend um Mund¬
schleim handelte; es fanden sich zahlreiche wohlerhaltene Leuko¬
zyten, Schleimkörperchen, sowie reichliche Pflasterepithelien,
ferner Stäbchen und Kokken in großer Zahl. Nebstdem waren
in einzelnen Fällen teils isolierte, teils gruppenweise zusanimen-
liegende Becherzellen, sowohl am frischen Präparat (Färbung
mit Bismarckbraun), namentlich aber im gehärteten Präparate
nachweisbar.. Auch ergab die Anwendung der Schleimfärbemittel
regelmäßig ein positives Resultat. Auch bei der Untersuchung
nach Reinwaschung des speisehaltigen Magens, sowie im nüch¬
ternen Zustande war nur wenig Schleim nachweisbar.“
Man kann also aus diesen Beobachtungen wohl den Schluß
ziehen, daß bei Achylie keineswegs eine erhlebliche MagensChleirn-
'sekretion stattfindet. Diese Tatsäche ist bemerkenswert, da sie,
wie ich schon früher angedeutet habe, beweist, daß ein reich¬
liches Voiko'm'men von Becherzollen durchaus nicht mit einer
Steigei’ung der IMaigenscbleiimiabsonderung einhergehen müsse.“
Hier sollen auch noch die Befunde von Kund F aber^”^)
mitgeteilt werden. Derselbe untersuchte, wie er in seiner
letzten Arbeit berichtet, zehn bei der Sektion entnommene
Magen von Achylikern. In allen Fällen waren starke Ent¬
zündungserscheinungen (starke diffuse Rundzelleninfil-
tration der oberflächlichen und tiefen Schichten und der
Drüsenschichte) und Atrophie der Drüsen verschiedenen
*) Um in diesem Falle vollständiges Fehlen von Pepsin behaupten
zu können, wäre die Kontrollprobe mit der Karminfibrinflocke nötig
gewesen.
**) Wir machten nur selten die Labprobe nach Leo“), meistens
die Bo as sehe Labzymogenprobe mit der Modifikation nach Cohn heim.“)
Bei derselben wird die erste Untersuchung mit dem zehnfach verdünnten
Magensaft angestellt; auf diese Weise können sehr geringe Labmengen
übersehen werden. — Leo “) behauptet, daß mittels Chlorkalzium nicht
das Labzymogen, sondern Labenzym naebgewiesen werde.
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. ül
Grades zu konsdatioreii. Den gleichen Befund erhob er bei
der Untersuchung von zehn anderen Achylikern, bei denen
kleine Schleimhautstückchen mit der Sonde aufgebracht
worden waren. — Aus diesen Untersuchungen geht lieiwor,
daß heträchtliche Veränderungen an der Schleimhaut bei
der Achylie zur Regel gehören.
Betreffs der in unseren Fällen eingeschlagenen
Therapie kann ich mich kurj^ fassen. Wir verordneten in
allen Fällen Salzsäure, meist mit Pepsinzusatz. Großes Ge¬
wicht legten wir natürlich auf eine weiche Zubereitung
aller Speisen, besonders des Fleisches und ließen Gemüse
und Kartoffeln nur in Püreeform nehmen. Der Genuß des
Fleisches wurde möglichst eingeschränkt; einige Patienten
hatten dies spontan getan, da sie nach Fleischspeisen die
stärksten Beschwerden verspürten; ein Patient klagte über
direkten Widerwillen gegen Fleisch. Bei Durchfall ver¬
ordneten wir außer Salzsäure eine entsprechende Diät, im
Bedarfsfälle außerdem Taiinalbin. Selbstverständlich fand
auch eine vorhandene Neurasthenie oder Anämie eine ent¬
sprechende therapeutische Berücksichtigung. Unter diesem
Regime konnten wir in den meisten Fällen in relativ kurzer
Zeit eine erhebliche Abnahme der Beschwerden und eine
Besserung des Ernährungszustandes beobachten.
Am Schlüsse meiner Arbeit komme ich zu folgendem
Resümee :
1. Die Achylia gastrica stellt einen Sy mp torn en-
komplex dar, der durch den Ausfall oder hoch¬
gradigste Reduktion (Leo^^) der Salzsäuresekre¬
tion charakterisiert ist.
Auch die Lahsekretion ist bei der Achylie in der Regel
bedeutend vermindert, weniger gilt dies im allgemeinen für
das Pepsin; ein vollständiges Versiegen des letzteren bei
der Achylie ist bisher nicht einwandfrei nachgewiesen
worden.
Dieser Sekretionsdefekt der Magenschleimhaut kann
bedingt sein durch nervöse Einflüsse, durch veränderte Blut¬
beschaffenheit, am häufigsten wohl durch krankhafte Ver¬
änderungen der Magenschleimhaut.
2. Nach dem Ewald -Bo as sehen Prohefmhstück zeigt
der Magen der Achyliker die verschiedensten Füllungs¬
zustände; er ist entweder leer oder enthält nur geringe
oder (in der Mehrzahl) normale, selten große Inhaltsmengen.
3. Die Achylie scheint vor der Pubertätszeit sehr selten
zu sein; jenseits des 50. Lehensjahres findet sie sich weit
häufiger als in den vorangehenden Dezennien. Eine, wie
mehrfach angenommen wird, im höheren Lebensalter be¬
stehende Tendenz zur Abnahme der Salzsäuresekretion läßt
sich jedoch nach unseren Beobachtungen nicht erkennen.
4. Das Bestehen einer chronischen Diarrhoe oder einer
Neigung zu Diarrhöen ist, wie auch schon andere Autoren
hervorgehoben haben, als ein achylieverdächtiges Symptom
anzusehen.
Herrn Dozenten E. Schütz danke ich an dieser
Stelle verbindlichst für die Anregung zu der vorliegenden
Arbeit, sowie für seine Unterstützung bei Ausführung
derselben.
Literatur:
b M. Einhorn, Zur Achylia gastrica. Archiv für Verdauungs
krankheiten, Bd. 1, Heft 2. — ^)Martius und Lubarsch, Achylia
gastrica, ihre Ursachen und ihre Folgen. Wien 1897. — 3) E. Schütz,
Ueber Hyperazidität. Wiener med. Wochenschrift 1906, Nr. 46 bis 49. —
*) L. Bourget, Die Krankheiten des Magens und ihre Behandlung.
J. F. Bergmann. Wiesbaden 1906. — ®) Th. Rosenheim. Berliner
klin. Wochenschrift 1892, Nr. 26 und 27. — ®) F. Riegel, Die
Erkrankungen des Magens in Nothnagels Handbuch, Wien 1897.
— 0 0. Wegele, Die Therapie der Magen- und Darmerkrankungen.
3. Auflage, G. Fischer, Jena 1905. — ®) L. Kuttner, Zur Frage
der Achylia gastrica. Zeitschrift für klin. Medizin, Bd. 45, Heft 1
und 2. — ®) Seidelin, Untersuchungen des Mageninhaltes bei
älteren Individuen. Berliner klin. Wochenschrift 1904, Nr. 36, zitiert
nach Lifschütz *®). — M. J. Lifschütz, Achylia gastrica und Beschaffen¬
heit der Magensekretion in höherem Lebensalter. Archiv für Verdauungs¬
krankheiten, Bd. 12, Heft 5. — “) Elsner, Die Motilität des Magens
bei Achylia gastrica. Deutsche med. Wochenschrift 1904, Nr. 42. —
Roth und Strauß, Untersuchungen über den Mechanismus der
Resorption und Sekretion im menschlichen Magen. Zeitschrift für klin.
Medizin, Bd. 37. — H. Leo, Zur Kenntnis der Achylie des Magens.
Münchener med. Wochenschrift 1907, Nr. 27. — “) H. Leo. Berliner
klin. Wochenschrift 1888, Nr. 49. — P. G o h n h e i m, Die Krank¬
heiten des Verdauungskanals. S. Karger, Berlin 1905. — **) E. Schütz,
Untersuchungen über den Magenschleim. Archiv für Verdauungskrank¬
heiten, Bd. 11, Heft 5. — Knud Faber, Die chronische Gastritis.
Medizinische Blätter 1906, Nr. 48. — G. Holzknecht und
L. Brauner, Grundlagen der radiologischen Untersuchungen des
Magens. Mitteilungen aus dem Laboratorium für radiologische Diagnostik
und Therapie im k. k. Allgemeinen Krankenhause in Wien, G. Fischer,
Jena 1906, Bd. 1, Heft 1.
Aus der deutschen dermatologischen Klinik in Prag
(Vorstand; Prof. Dr. K. Kreibich.)
Ueber Reinfectio syphilitica.
Von Dr. Karl Oplatek, Sekundararzt.
In seinem Vortrag : Ueber Reinfectio hei Syphilis, ge¬
halten in der Sitzung des Wiener Doktorenkollegiums, will
Nobl nur jene Fälle als Reinfectio bezeichnet wissen, bei
welchen der Symptomenkomplex der Syphilis vom Initial¬
affekt bis zu de.n Allgemeinerscheinungen, u. zw. beide Male
nach der entsprechenden Inkubatioiisdauer zur Entwicklung
gelangt und zwischen den Allgemeinsymptomen, bzw. Rezi,-
diven der ersten Infektion und der Neuhifektion ein der
erfahrungsgemäßen Dauer des irritativen Stadiums ent¬
sprechender Zeitraum verflossen ist. Bereits früher ver¬
langten mehrere Autoren, wie Caspar y, Horowitz und
Heller, später Baurowicz und Marshall, daß:
1. die erste Infektion vollständig abgelaufen, also auch
keine tertiären Symptome mehr vorhanden seien,
2. der Primäraffekt, welcher allein zur Diagnose Re¬
infectio nicht genüge, von deutlichen sekundären Symptomen
(Adenitis, Haut- oder Schleimhauterscheinungen) gefolgt sei,
3. auf Angaben des Patienten auf eine bereits über¬
standene Syphilis nicht soviel Wert zu legen sei, als viel¬
mehr auf Beobachtungen durch einen einwandfreien l^ach-
manin, am besten beide Male durch einen und denselben Arzt ;
hauptsächlich sollten jedoch klinische Krankengeschichten
maßgebend sein.
Dazu muß noch nach dem jetzigen Stande der Syphilis¬
forschung der sichere Nachweis der Spiirochaeta pallida in
den Effloreszenzen geliefert werden.
Tatsächlich wird man erst dann von einer Reinfectio
syphilitica sprechen dürfen, wenn alle diese Bedingungen
erfüllt sind, andernfalls dürften viele der heschriebenen Fälle
nicht als Reinfectio anerkannt oder müßten zumindest in
Zweifel gezogen werden, was auch bei Durchsicht der —
mir zugänglich gewesenen — Literatur bei einer großen An¬
zahl von Fällen zutrifft.
Fälle, bei denen beim Erscheinen eines indu-
rierten Geschwüres noch tertiäre Symptome einer
Lues vorhanden sind, kann man wohl kaum als Reinfectio
syphilitica bezeichnen. Freilich wollen Köbner und Gas-
coyen dies tun und daraus den Schluß ziehen, daß das,
was man tertiäre Syphilis nennt, nicht als solche, sondern
als Nachkrankheit einer bereits überstandenen Syphilis auf¬
zufassen sei; ähnlich Ducrey, der eben, weil eine neue
Infektion zu einer Zeit auftrift, wo noch tertiäre, also sicher
luetische Symptome von der ersten Infektion nachweisbar
sind, die Reinfectio- nicht als einen Beweis für die Heilbar¬
keit der Syphilis ansieht, welche Ansicht Ogiloie mit ihm
teilt, während Cooper, Fournier, Goldenberg und
Mracek -sich folgendermaßen äußern: Es gebe unzweifel¬
hafte Fälle von Reinfectio syphilitica, also auch von ge¬
heilter Syphilis ; die erste Infeidion sei ohne Einfluß auf den
Verlauf der zweiten, der leichter -oder schwerer sein könne;
die Tatsache, daß die meisten Fälle von Reinfectio mit
Quecksilber behandelt worden seien, weise auf die Wichtig¬
keit und den Nutzen der Qaecksilberhehandlung bei der
Syphilis hin. Von demselben Standpunkt sind auch die Fälle
von Rabitsch-Bey und Broeq zu betrachten, welche
beide über Reinfectio hei noch bestehenden tertiären Er¬
scheinungen berichten, wobei jedoeb letzterer im Zweifel ist,
ob es sich um eine tatsächliche Reinfectio handelt, oder oh
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCIIRIET. 1007.
Nr. 15
dieselbe mir vorgeläusclit wird. Ducrey berichtet sogar
über das Auftreten einer llcinfectio mit neuen Manifesta¬
tionen bei noch vorhandenen Syiiiptomen einer sekundären
Sypliilis.
Der Zeitraum zwischen der ersten Infektion,
])zw. den letzten Symptomen derselben und der Neu¬
in fektion darf nicht allzu kurz sein, um keinen Zweifel
über die Heilung der ersten Syphilis aufkommen zu lassen
uud über den Zusamtnenhang letzterer mit den frischen
Symptomen. Wenn Hehr a einen Falt beschreibt, bei dem
fünf Monate nach Ablauf der letzten Symptome eine neue
Infeklion auf trat, so mub man sich unbedingt seinem Zweifel,
ob hier eine Reinfectio stattgefunden hat, anschließen, um •
so mehr, als die diesem Geschwür folgenden Sekundär¬
symptome sich später, als man hätte erwarten müssen, cin-
stellten und daher eben als ein Rezidiv der ersten Infek¬
tion anzusehen waren. Ebensolchem Zweifel begegnet man
bei von Neumann, D amp er ow, Fisichella und
Du dley-Tait beschriebenen Fällen, von denen die letzteren
um so mehr auffallen, als bei beiden kurze Zeit nach Ab¬
lauf der letzten Symptome die Neuinfektion durch eine
äußere Verletzung herbeigeführt wurde, das eine Mal durcli
Riß in die Wange, das andere Mal durch eine Sclinittwunde
mittels eines Rasiennessers.
Daß ein induriertes Geschwür allein — bei posi¬
tiver Anamnese ■ — nicht genügt, um eine Reinfectio zu
konstatieren, erhellt schon daraus, daß selbst nach einem
längeren Intervall fast ein jedes weiche Geschwür nach
überstandener Lues induriert erscheint (als ,,ulcera in
luetica“) ; daß es in vielen Fällen schwierig ist, ein ex-
ulzeriertes Gumma am Penis mit Restimmtheit von einem
Primäraffekt zu unterscheiden, wird wohl ebensowenig
jemand bezweifeln. Man wird also nach einem solchen ver¬
dächtigen Geschwüre stets die Sekimdärerscheinungen ab-
warten müssen, bevor man mit Sicherheit eine Reinfectio
wird annehmen können, so verhält es sich denn auch bei
einer ganzen Reihe von Fällen, die von Neum ann, Fei be s,
Thompson, Campbell, Schirren, — welch letzterer
selbst die Redingung nach Sekundärsymptomen stellt und
auch über einen zweiten Fall von unzweifelhafter Reinfectio
syphilitica berichtet — sowne auch weiters noch von Heller,
Rrandl, Neisser und Rurgsdorff beschrieben wurden.
Sal sotto allerdings sieht in dem Ausbleiben der Sekundär¬
symptome nur eine Folge der Abschwä.chuiig des Virus und
meint daher, es genüge das Auftreten einer deutlichen
Initialmanifestation, i unabhängig ob konstitutionelle Sym¬
ptome folgen oder nicht. In ähnlichem Sinne berichtet Lang
über einen Fall (Mediziner), bei welchem die deutlich ent¬
wickelte Sklerose mit dem Päquelin -zerstört wurde, ohne
daß sich später — in der rechten Leiste war nur eine erbsen¬
große Drüse — Sekundärerscheinungen einstellten; vier
Jahre später neuerliche Infektion; das harte Geschwür war
jetzt von Sekundärsymptomen gefolgt.
Fast selbstverständlich erscheint es, daß man den
Angaben der Patienten betreffs einer früheren Infek¬
tion nicht viel Glauben wird schenken dürfen, falls man die¬
selben nicht durch ärztliche oder noch besser durch
klinische Beobachtungen wird erhärten können. Molenes
berichtet über einen Fall, bei welchem man auf Grund der
Anamnese eine Reinfectio syphilitica diagnostizierte und
bei dem es sich später herausstellte, daß der Mann keine
Lues duichgemacht hatte und der vom Patienten für Syphilis
gehaltene Ausschlag ein Antipyrinexanthem war, welches
auf Antipyrineinnahme jedesmal wieder aufirat. E,l)enso
wurde ein von Pauly vorgeslellter Fall wegen ungenauer
Anamnese angezweifelt. Hingegen fand Raurowicz bei
('inem IManne mit frischer Infeklion und Sekundärsymptomen
narbige Veränderungen ini Rachen, welche der Verfasser als
nur von gummösen Prozessen herrührend hezeichnet ; Patient
negiorl jedoch jede syphilitische Infektion, wie auch die
übrige Anamnese vollständig negativ war, so daß Rauro¬
wicz im Zweifel ist, ob es sich um Narben nach akcpiirierter I
odei- hereditärer Lues handelt, welch letztere er auch an¬
nimmt.
Die Mehrzahl der überhaiii)t als Reinfectio syphilitica
Ijeschriebenen Fälle (siehe Literat urangabe) entsprechen
jedoch den oben angeführten Dedingungen und müssen daher
als unzweifelhafte Reinfektionen bei Syphilis angesehen
werden. Desonderes Interesse verdient die Reobachtung
Pellizaris, nämlich Reinfectio bei einem Ehepaar, wo
bei beiden, u. zw. zuerst beim Manne, zehn Jahre nach der
ersten Infektion eine neue auftrat, obzwar der Mann vorher
überhaupt keine Rehandlung durchgemacht hatte, während
die Frau nach wiederholten Rezidiven rnehreremals und
gründlich behandelt worden war, woraus Pellizari der
Rehandlung jeden Einfluß auf die Reinfektion abspricht.
Im Anschlüsse daran möchte ich über eine unzweifel¬
hafte Reinfectio syphilitica bei einem Alaune berichten, der
beide Alale an der hiesigen Klinik behandelt wurde und
über dessen Erkrankungen ausführliche klinische Kranken¬
geschichten vorliegen.
H. K., 47 Jahre alter, verheirateter Gohlarlieiter, sucht Avegen
einer seit einigen Tagen bestehenden Genitalaffektion, (tie drei
Wochen nach einem außerehelichen Koitus entstanden sein soll,
klinische Hilfe nach. Alan findet rechts neben dem Frenufum
im Sulcus glandis einen zirka erbsengroßen, leicht belegten, glän¬
zenden Suhstanzvertust mit Induration des Grundes und der
Ränder und Infiltration in der Umgebung. In der rechten Leiste
eine fast haselnußgroße, derbe, nicht schmerzhafte Drüse. Die
Diagnose lautet: Initialaffekt. Therapie: Graues Pflaster. Sechs
Wochen später zeigte sich am Stamme ein spärliches, papulöses
Syphilid, das einige Tage später deutlicher Avurde und sich über
den ganzen Stajnm und das Genitale aushreitete. Im Aufstrich¬
präparat aus dem Serum einer geschlossenen Papel am Penis
fanden sich Amreinzelte Spirochaetae pallidae (Färbung nach
Giem.sa, modifiziert von Hof fmann-Halle.)
Darauf Einleitung einer Quecksilherbehaudlung (Injektionen
Amn 3°/'oigem Sublimat), AAmrunter das Exanthem verschwand.
Die Anamnese ergab, daß Pat. bereits vor sieben Jahren iriit
Syphilis in Behandlung hiesiger Klinik stand, Avelche Angaben
durch Krankengeschichten aus den Jahren 1900 und 1901 be¬
stätigt werden.
Im Dezembei' 1900 akquirieile nämlich Pat. drei Wochen
nach einem außicrehelichen Koitus ein hartes Geschwür am Penis
u. zw. in der dorsalen Alitte des Sulkus, welches mit grauem
Pflaster behandelt Avurde. Im Januar 1901 kam Pat. mit einem
makulösen Syphilid und allgemeiner Skleradenitds Avieder in Be¬
handlung. Damals Avurde Pat. mit Einreihungen ä 4 g Quecksilber¬
salbe und später, als diese nicht vertragen AVurden, mit Ö'V'uigen
SublimaUnjektionen behandelt, liii Laufe der Behandlung schwand
das Exanthem, später stellten sich Rachenerscheinungen, nässende
Papeln am Genitale und eine Iritis luetica ein. Seither Avar
Pat. bis zum Auftreten der neuen Infektion frei Amn Erecheinungen.
Pat. ist seit 25 Jahren Amrheiratet, die Frau ist gesund, hat
dreimal geboren, alle drei Kinder, das jüngste 18 Jahre :dt,
leben. Vor 15 Jahren ein Abortus im dritten Älonat aus unbe¬
kannter Ursache. Seit der ersten Infektion enthielt sich Patient
des Beischlafes mit seiner Frau.
Aus der Anamnese, dein klinischen und schließlich
aus dem mikroskopischen Befunde darf der Beweis, daß
in diesem Falle eine Reinfektiion staltgefunden hat, als mit
Sicherheit erbracht angesehen werden.
Literatur;
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Arch. f. Dermatol, u. Syphilis 1883, Bd. 15. — Aschner, Reinfectio
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Aus der I. mediz. Klinik (Prof. Dr. v. Noorden) und dem
Röntgenlaboratorium (Vorstand : Doz. Dr. Holzknecht)
in Wien.
lieber radiologische Motilitätsprüfung des
Magens. Die Schlußkontraktion.
Von Dr. Gottwald Schwarz am Röntgenlaboratorium und Dr. Sieg'iiiuiid
Kreuzfuclis an der I. mediz. Klinik.
Wir hatten uns zur Aufgabe gestellt, den Einflußi der
Salzsäure und der Alkalien, der Kohlehydrat- und der Eiwei߬
diät auf den Ablauf der Magen- und Darrnhewegung zu
studieren. Diesen Untersuchungen mußte eine, unter phy¬
siologischen Verhältnissen vorgenommene, exakte Motililäts-
prüfung zugrunde gelegt werden, über die wir an dieser
Stelle deshallj schon berichten wollen, weil sie auch für
andere derartige Untersuchungen von Wert sein kann.
Rieder hat in seiner Ijekannten Arbeit^) die Grund¬
züge einer radiologischen Motilitätsprüfung entworfen, ohne
jedoch anzugeljen, ob sich der Untersuchte zur Zeit der
Verdauung in Ruhe oder in Bewegung befand und ferner,
welche Körperhaltung er während derselben einnahm. Diese
l)eiden Faktoren sind aber, wie der eine von uns^) aus-
geführt hat, von groß;em, ja oft entscheidendem Einflüsse
für die Entleerung des Magens.
Daher gestalteten wir unsere Motilitätsprüfung nach
folgendem, einheitliche m Modus :
1. Ingesta. Der zu Untersuchende erhält morgens
nüchtern 200 cm^ mit 30 0 g Bismut versetzten Milchgries.
2. Körperhaltung. Der zu Untersuchende befindet
sich während der ganzen Beobachtungsperiode in auf¬
rechtem. Sitz (cf. 1. c.).
Die Durchleuchtungen werden in Zwischenräumen von
einer Stunde vorgenommen.
Diese Art von Motilitätsprüfung halten wirfür die einzig
exakte : 1. weil sie sich unter vollkommen physiologischen
Verhältnissen abspielt; 2. weil man gleichzeitig einen Ein¬
blick in die Form und die Lage des Magens — ■ zwei
für die Enüeerungszeit wesentlich in Betracht kommende
Momente — gewinnen; 3. weil man die motorisclie Funktion
(Peristaltik) des Magens während der Austreihungszeit direkt
mittels des Auges verfolgen kann.
Nach diesem Schema haben wir eine Reihe von Fällen
mit normal gefomitem und normal gelagertem Magen unter¬
sucht und haben — im großen und ganzen übereinstimmend
mit Rieder — eine Entleerungszeit von 2Vi bis 3 Stunden
gefunden. Unter pathologischen Verhältnissen ergaben sich
charakteristische Abweichungen, üljer die wir an anderer
Stelle berichten werden.
Hier wollen wir ein Phänomen beschreilien, das wir
bei der systematischen Untersuchung der verschiedenen
Pliasen der Magenentleerung beobachtet haben und dasselbe
an einem typischen Beispiele demonstrieren:
Wir verahreichten einem 15jährigen Mädchen nüchtern
einige Schluck einer Bismutwasseraufschwemmung ontl
fanden hei der unmittell)ar darauf vorgenonimenen Röntgen¬
durchleuchtung .den unteren Magenpol in Nabelhöhe. Die
Bestimmung geschah orthodiagraphisch. Hierauf ließen
wir das Mädchen das oben besprochene Frühstück —
200 cnN Milchgries mit 30-0 Bismut versetzt — nehmen,
durchleuchteten wieder und fanden den unteren Pol des
nunmehr gefüllten Magens an derselben Stelle ; die Be¬
lastung hatte also keine iDehnung der Vlagenwände zur Folge
gehaht. Dies entspricht der Norm, die wir an der Mehr¬
zahl der Fälle feststellen konnten; nur in einer geringen
Anzahl ergab sich durch die Belastung eine Dehnung des
Magens um 1 bis IV2 cm (in vertikaler Richtung gemessen).
Bei der nach einer Stunde hei dem Mädchen vorge¬
nommenen neuerlichen Untersuchung zeigte es sich, daß
sich der Magen zur Hälfte entleert hatte und daß der —
wieder orthodiagraphisch bestimmte — untere Magenpol
noch immer dieselbe Stelle einnahm. Jedoch eine Stunde
später hatten sich die Verhältnisse wesentlich geändert:
der Magen war bis auf einen kleinen Rest entleert, der
untere Magenpol stand 4 an höher als hei den vorhergehen¬
den Untersuchungen.
Nach einer weiteren Stunde fanden wir keine Bismut-
ingesta im Magen, die Magengrenzen waren also nicht mehr
erkennbar. Um uns nun von dem Shmde des unteren Magen-
poles zu überzeugen, ließen wir das Mädchen wieder einige
Schluck Bismutwasser trinken. Wir 'fanden genannten Punkt
in derselben Höhe wie bei der letzten Untersuchung.
0 H. Rieder, Beiträge zur Topographie des Magendarmkanales
beim lebenden Menschen, nebst Untersuchungen über den zeitlichen
Ablauf der Verdauung. Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen.
A Ibers -Schönberg, 1904/5.
Dr. Gottwald Sch warz, Radiologische Methode zur Prüfung
der Magenfunktionen. Zeitschrift für ärztliche bortbildung 1906, Nr. 2.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
Diese Deobachlung,^) die wir an einer größeren An¬
zahl (12) von Fällen in ganz analoger Weise inacliten, iuliren
also zu dem einigermaßen merkwürdigen Frgehnis, daß ein
von Ingesten freier Magen hei einer und der¬
selben 1’ e r s o n ein verschiedenes Volumen a n f-
weist, je nachdem er sigh längere Zeit in Ruhe
befand oder kurz vorher eine motorische Arbeit
zu leisten hatte, daß also ein Unterschied
zwischen dem nüchternen und dem entleerten
Magen besteht.
Der besprochene Unterschied ist offenbar bedingt durch
einen Kontraktionszustand, in welchen — unabhängig von
der Peristaltik die Magenwandung gegen Schluß der
Austreihungszeit verfällt.
Diese Erscheinung, die wir als ,,Schlußkontra.k-
tion“ hezeichnen, dürfte dem Zwecke dienen, die Peristaltik,
welche die Austreihung der Ingesta besorgt, zu unterstützen,
indem sie das Volumen des Organs verkleinert. Sie bildet
zugleich ein objektiv nachweisbares Substrat des ,, Magen¬
tonus“.
Wir halten dafür, daß dieses leicht feststellbare
Symptom in der Frage der Magenatonio von Bedeutung
sein dürfte, zumal wir in manchen (pathologischen?) Fällen
Abweichungen von der geschilderten Norm fanden.
Brauchbare Abänderung des Sayreschen
Schlüsselbeinbruch-Yerbandes.
Von Dr. Frauz Riedl, Bad Ullersdorf, Nordmähren.
Bei Anlegung eines Verbandes zwecks Heilung von
Knochenbrüchen haben wir die verschiedensten Gesichts¬
punkte ins Auge zu fassen, um einen möglichst günstigen
Erfolg zu erzielen.
Zuerst muß es uns gelingen, die Bruchenden möglichst
aneinander zu bringen, um das frühere Gefüge des Knochens
und damit das Gerüst der Muskulatur und den Hebel der
Bewegung wieder herzustellen; wir müssen dem wieder zu¬
sammengefügten Knochen die möglichst beste Richtung
gehen, um nach der Heilung auch wieder die dem normalen
Zustande annäherndste Funktion zu erzielen; wir müssen
aber auch auf die begleitenden Umstände, Nachbarorgane
und dergleichen, auf was mshesondere in der neuzeitlichen
Behandlung sehr viel \Vert gelegt wird, bedeutende Rück¬
sicht nehmen, damit wir nicht nur nicht durch den Verband
Schädigungen setzen, indem wir andere mitbetroffene Organe
zu wenig bedenken, sondern die Funktion aller mit dem
Knochenbruche und den zur Heilung nötigen Maßnahmen
zusammenhängenden Körperteile wenigstens in der best¬
möglichen Funktionstüchtigkeit erhalten. Darum legen wir
bei der Anwendung von Verbänden zunächst das Gewicht
auf die möglichst genaue Angliederung der gebrochenen
Knochenstücke aneinander, aber auch auf die möglichst
unbeeinflußte und am l)esten zu gewinnende und auch
am besten zu erhaltende Gel)rauchsfähigkeit des betroffenen
Körperteiles.
In letzterer Beziehung haben wir auf alle Gewebe von
der Oberhaut bis auf den Knochen Rücksicht zu nehmen
und dies nicht nur im unmittelbaren Gebiete des Bruches,
sondern auch in seiner oft weiteren Umgebung, wenn durch
Nichtberücksichtigung obiger Umstände eine Beeinträchti¬
gung der Gebrauchsfähigkeit verursacht werden könnte. Die
Haut, das Unterhautzellgewebe, die Muskulatur, die Nerven,
die Gefäße, die Gelenke, alles dies muß bei einer ziel¬
bewußten Behandlung, soweit es die Heilung des Knochen¬
bruches zuläßt, Berücksichtigung finden, sonst kann man
von schön geheiltem Knochenbruche, aber verlorener oder
verminderter Gehrauchsfähigkeit enttäuscht sein und darüber
ratlos werden. Deshalb sehen wir an den modernen Ver-
h Ein Hinweis auf dieses Verhalten findet sich bereits in der
Arbeit von Rieder, der auf zwei seiner Radiogramme ein Links¬
und Höherrücken des Pylorus gegen Ende der Verdauung konstatieren
konnte.
bänden die großen, allzu steifen Hüllen oftmals fallen und
durch leichte bewegliche Vorrichtungen ersetzt, die bei häufi¬
gem Wechsel sowohl der Nachsicht als auch Erhaltung
der Funktionstüchtigkeit aller Organe Raum, Gelegenheit
und Zeit bieten.
Im allgemeinen wird sich im gegebenen Falle derjenige
Verband am besten eignen, der bei günstigster Heilungs¬
aussicht des Knochenbruches möglichst wenig irgendwelche
Beteiligung nachharlicher Gewebe bedingt.
Im besonderen Falle, mit dem ich mich in folgendem
beschäftigen will, .sehen wir l)eim Schlüsselbeinhruch obige
Rücksichtnahmen nötig.
Gerade das Schlüsselbein ist infolge seiner Lage im
Skelette einer jener Knochen, der bei der Beweglichkeit
beider Köpfchen und hei der fast unmöglichen Feststellung
des abstehenden Endes eine vollkommene Ausbesserung der
Bruchendenlage fast unmöglich macht, wie die große Anzahl
von Ratschlägen und Verbänden zur Heilung solcher
Schlüsselbeinbrüche bezeugt. Ja, D a gr on schlägt daraufhin
bei den meisten Schlüsselbeinbrüchen nur Mitella und Mas¬
sage vor. Tatsächlich finden wir mit Hinsicht auf das oben
Gesagte die umfangreichen Verbände, wie den Desault-
schen oder Velpeauschen Verband, weit seltener ange¬
wendet wie früher; gie werden durch leichtere, wie die alte
Stella thoracis posterior oder die Verbände von Länderer,
Moore, Büngner, Heus ne r, Sayre u. a., ersetzt. Manche
von ihnen sind je nach ihrer besonderen Eigenschaft der
Anpassung der Bruchenden bald in dem einen, bald in dem
anderen Falle brauchbar, nehmen auch mehr wie die ganz
starren vorgenannten Verbände Rücksicht auf die mit in
Betracht kommenden Organe, wobei schwere und stark ver¬
schobene Brüche erst noch die sehr unbequeme und aucli
nicht zuverlässige Extension nach Bardenheuer er¬
heischen.
Trotzdem gibt, was den Gesamterfolg betrifft, kein
Knochen bruch als solcher so ungünstige Heilungsergebnisse
als gerade der des Schlüsselbeines, wo im Verhältnis zur
Kleinheit des Knochens und Geringfügigkeit der Erschei¬
nungen die Heilung so unangenehm, so ungenügend und
unbefriedigend erfolgt und wo bei der Häufigkeit des Vor¬
kommens, der verhältnismäßigen Umständlichkeit des Hei¬
lungsverfahrens und der dadurch bedingten Allgemein¬
störung und Beeinträchtigung einbezogener Körpergebiete
eine Vereinfachung bei gleich günstiger oder eher besserer
Heilungsaussicht nottut.
Wie schon erwähnt, ist es im geraden Verhältnis zur
Verschiebung außerordentlich schwierig, das Schulterende
des Schlüsselbeines bei der Beweglichkeit der Schulter und
der Stärke der Schultergürtel- und Oberarmmuskulatur und
ihrer durch den hängenden Arm und seine Gebraiichs-
notwendigkeit bedingten Bewegungen derart festzustellen
und selbst in eine so günstige Lage zu bringen, daß eine
solche Heilung mit möglichster Wiederherstellung erfolgen
kann. Wenn aber gleichzeitig eine Ruhestellung nicht nur
der Schulter- und Briistmuskulatur, sondern auch des Armes
Platz greifen soll, bedeutet dies für den Kranken nicht
nur einen quälenden Zustand, sondern auch durch Schädi¬
gung der verschiedenen Gewebe und Bewegungen eine Ge-
brauchsfähigkeitsherabminderung, die schließlich neben dem
ohnehin nicht ganz zureichenden Ergebnis der Knochen¬
heilung erst recht nicht anmutet. Oft genug sicht der ge¬
wandteste Arzt den ungenügenden Erfolg achselzuckend
voraus.
Wenn wir uns vorstellen wollen, was für eine Stel¬
lung das Schlüsselbein durch seinen Bruch hervorruft, so
vergegenwärtigen wir uns folgende Merkmale: Herabsinken
und \ orwärtsfallen der Schulter, Nebeneinanderlagerung
oder Nebeneinanderschiebung der Bruchenden, fast immer
des distalen Endes hinter das proximale, mit entsprechenden
Folgen, Schmerzen bei jeder Bewegung des Armes und
der Schulter, mitunter auch bei der des Brustkorbes bei
feststehender Schulter.
Nr. 15
WIENER KLINISCHE
Das Herabsinkeii erfordert zur Verbesserung ein Auf-
vvärtsdrängen, das Vorfällen ein Rückwärtsscliieben der
Scbulter und schließlich Feslstcllung in dieser Lage, damit
die derart aneinander gebracditen Enden bewegungslos
bleiben, daher rasch und schmerzlos knapp aneinander heilen
können. Deweglichkeit schmerzt, behinderl die Heilung und
verscblechiert das Ergebnis ; schlechte Heil nng beeinträchligl
oft die Schulter- und Armgebrauchsfähigkeit.
Die Rückwärtsschiebung der Schulter begegnet nicht
so vielen Schwierigkeiten, da sie auf mannigfache Weise
durch Verbapd oder Heftpflaster erzielt werden kann, wo¬
bei Ernst und Rücken als' Angriffspunkte, die Schulter als
Widerlager benützt werden können; ein eingeschobenes
Gummiband vermag überdies einen beständigen Zug zur
Verhütung der Verschiebung der Bruchenden auszuüben;
doch bewirkt dabei eine Teilkraft gleichzeitig Herabdrückung.
Günstiger wählt man den einen Angriffspunkt statt an der
Brust am Oberarm (Sayre).
Anders schon verhält es sich mit der Aufwärts-
drängung der Schulter. Sie ist, einen ohnehin höchst¬
liegenden Körperteil betreffend, mangels eines Widerlagers
durch Zug nicht so leicht ^ möglich ; und auch das Auf¬
wärtsdrücken durch Hebung des Ellbogens, was doch die
sicherste Korrektur Jyedeuten würde, ist nicht immer in
genügendem Maße und mit genügender Beharrlichkeit und
Dauerhaftigkeit möglich.
Die Feststellung der Schulter in der verbesserten
Stellung bietet überhaupt Schwierigkeiten, da der Verband
entweder zur Schonung von Geweben und Funktionen nicht
so fest angelegt werden kann oder der Stärke der Mus¬
kulatur weicht und dadurch das Heilungsergebnis beein¬
trächtigt.
Da wir bei Schlüsselbeinbrüchen neben der Schulter
auch noch den daran hängenden Arm bei der Verbands-
anlegimg zu berücksichtigen haben, wobei überdies große
und starke Gelenke mit in Betracht genommen werden
müssen, die zur Erhaltung der Bewegungsfäbigkeit mög¬
lichst wenig in den Verband einbezogen werden sollen und
deren Ruhigstellung wieder in Hinsicht auf die glatte
Schliisselbeinheilung von Belang ist, müssen wir uns bei
der Anlegung eines Verbandes nach dessen auch in dieser
Hinsicht größten Brauchbarkeit umsehen.
Die stets notwendige Bückwärtsdrängung der Schul¬
tern führt uns sofort jenen schon alten Achterverband vor
Augen, der als Stella thoracis posterior bekannt ist und
der wohl die größte Verschiebungsmöglichkeit bietet. Ibm
müssen wir noch andere Maßnahmen im Verbände an¬
lügen, um neben der Bückwärtsdrängung der Schultern
den anderen nötigen Verschiebungen, insbesondere der
nach oben und der Feststellung zu genügen.
Da verfallen wir wieder auf einen der einfachsten
Verbände, der überdies dem Armgelenk eine größtmögliche
Freiheit läßt u. zw. auf den Verband von Sayre. Ins¬
besondere scheint uns an letzterem die Grund tour, die
schraubenförmig am Oberarm beginnt, von Wichtigkeit.
Derart habe ich mir theoretisch, an einer Reihe von
Fällen auch praktisch bewährt, einen aus obiger Achter¬
tour und dem Sayre sehen Verbände vereinigten Schlüssel¬
beinbruchverband zusammen gestellt :
Vorerst wird durch einen Gehilfen die Stellung der
Schulter in der für die Feststellung erforderlichen Weise
gerichtet gehalten. Es ist jedoch nicht notwendig, da bei
nicht allzugroßer Bruchendenverrückung die im folgenden
beschriebenen Touren, auch wenn sie einzeln nacheinander
ohne vorherige Feststellung angebracht werden, immerhin
nach richtiger Anlegung eine gute, zur möglichst folgen¬
losen Heilung dienliche Stellung bewirken.
Dann führe ich als erste Tour die Sayresche
G r u n d t o u r s o, d aß i c h, sch r a u b e n f ö r jn i g a m
0 1) e r a r in beginnend, von diese m weg — n i c h t v o n
der Schulter — hinten schräg über das Scbulter-
blatt, abweichend von Sayre, nach oben über die
WOCHENSCHRIFT. 1907. 44.5
gegenüber liegende Schulter und nach vorne
gegen die Achselhöhle einen 3 bis 4 cm breiten,
stark klebenden Heftpflasterstreifen lege.
Dabei wird also, da diese Tour nicht über die kranke
Schulter führt, sondern unmittelbar vom Oberarm schräg
aufwärts über die gegenüber liegende Schulter auf die Brust
läuft, die zweite Schulter als Widerlager benützt, gegen
das der oberste Teil des Oberarmes und damit die kranke
Schulter aufwärts gehoben wird, um auf der Vorderseite
allenfalls auch unter der Achsel der gegenüber liegenden
Seite eine genügende Feststellung zu erhalten. Der Hohl¬
raum zwischen beiden Schulterblättern in der Mittellinie
des Rückens soll sogar überspannt werden, ohne daß
der Heftpflasterstreifen klebt, damit durch Loslösung des¬
selben der Zug am Oberarm nicht nachlassen kann; dies
um so mehr, als man ja beide Schultern ohnehin rückwärts
stark einander nähern muß, um eine möglichst große
Hebung der kranken Schulter zu ermöglichen. Eine allen¬
falls dadurch verursachte gleichzeitige Bückwärtsdrängung
ist ja nur förderlich.
Es tut dabei überdies gut, wenn man die verschieb¬
liche Haut von vornhinein, ehe man das Heftpflaster auf¬
legt, in der Richtung zur erkrankten Schulter verschiebt,
was jedoch bei der nach verschiedener Richtung bestehen¬
den, sich daher teilweise aufhebenden Verschiebbarkeit der
in Betracht kommenden Hautgebiete nicht gar zu schwer
in die Wagschale fällt.
Die zweite Tour lege ich ebenso sehr au be n-
f ö r m i g a m 0 b e r a r in b e g i n n e 11 d ü b 0 r d a s S c b u 1 1 e r-
e n d e des Schlüsselbeines und den 0 b e r a r m k 0 p f,
1) e i d e m ö g 1 i c h s 1 11 a c h r ü c k w ä r t s d r ä. 11 g e n d, s c h r ä g
ü be r die erste To u r n a c h a b w ä r t s u 11 1 e r d i e g e g e n-
über liegende Achsel derart am Rücken die
Touren der Stella thoracis posterior kennzeich¬
nend. Betreffs i\nlegung sind auch hier die obengenannten
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
iiß
Maßnahmen nötig, insbesondere die Verschiebung der Haut
am Rücken der gesunden Seite.
Es ist weiters zur Feststellung der erkrankten Schulter
noch wünschenswert, aber oft nicht nötig, eine dritte
'lour anzulegen, die in einem weniger gewundenen
Sch rauhengang gleichfalls am Oberarm ])eginnt, einer ütmr
den Oherarmkopf und über die Kreuzungsstellen der ersten
beiden Touren am Rücken verläuft und am Oberarmkopf
oder in der Achselhöhle der anderen Seite endet.
Diese letztere entspricht ungefähr der eigentlichen
ersten Sayre sehen Tour. Bezüglich ihrer Anlegung sind
wieder obige Winke in Betracht zu ziehen. Erforderlichen¬
falls kann die Reihenfolge der Touren geändert und dem
betreffenden Falle angepaßt werden.
Es ist erstaunlich, was man mit diesem einfachen,
scheinbar schwachen Verbände für eine starke Feststellung
in einer möglichst günstigen Lage trotz der großen Beweg¬
lichkeit der Schulter und deren kräftigen Muskulatur zu
erzielen vermag. Diese Festigung hält, wenn man ein gutes,
breites Kautschukheftpflaster, das falteidos liegt, zur Ver¬
wendung hat, genügend laug an, bis eine einigermaßen
ausreichende Festwachsung der Knochenenden aneinander
Blatz gegriffen hat. Dieser Verband läßt aber üljerdies den
Arm — nur im Schultergelenk teilweise beschränkt — in
der Bewegung frei, so daß wir nicht nur eine vollständige
(iebrauchsfähigkeitserhaltung der Geleidve erwarten können,
sondern selbst darauf rechnen dürfen, daß der Kranke
seinen Arm baldigst nach der Verletzung zu Arbeiten be¬
nützen kann. Letzleres um so eher, als durch die in guter
Lage und genügend stark erfolgte Feststellung der Knochen-
bmchstellen Sclimerzlosigkeit nach Anlegung des Verbandes
nahezu gewährleistet werden kann.
K., Fabriksnachtwächter, fiel von einem Zwetschkenbaum
auf die linke Schulter und brach das Schlüsselhein in der Schulter-
liälfte mit Verschiebung des abstehenden Teiles nach hinten und
oben. Nach Anlegung des Verbandes ergab sich sofortiges Schwin¬
den der Schmerzen und Bewegungsfreiheit des Armes mit Aus¬
nahme der durch den Verband bedingten Behinderung der Schulter.
Der Kranke versah noch .am selben Tage und auch weiterhin
ohne Störung seinen Nachtdienst, ja er schöpfte sogar schon
am dritten Tage mit eineui gestielten Schöpfer die Fahriksjauch-
grube aus, eine Beschäftigung, hei der eine ziemlich ausgiebige
Betätigung der Arme notwendig ist. Trotzdem hielt der Verband
bis zu seiner Abnahme nach drei Wochen unverrückt und die
stets ühersichtliche, auch für den Kranken seihst der Beurteilung
zugängliche Bruchstelle heilte mit einer geringfügigen Auf¬
treibung vollständig glatt und folgenlos ah.
Eine Ermüdung der Muskulatur oder Schmerzen in¬
folge abnormer Stellung von Körperteilen sah ich nicht auf-
treten; ebenso habe ich eine Druckerscheinung durch die
Anlegung der Touren auf den Üherarm nicht beobachtet.
Auch Schädigung der Haut durch das Pflaster ist mir nicht
zu Gesicht gekommen, trotzdem ich solche Verbände auch
bei Säuglingen angelegt habe.
B., Kaufmauuskind, 14 Tage alt, wui’de bei der Geburt
(Steißgeburt hei Erstgehärender) bei Hilfeleistung anderwärts daS
linke Schlüsselbein gebrochen und der gleichnamige Kopfnicker (zu
gewärtigender Schiefhals) verletzt. Durch das immerwährende
Schreien veranlaßt, das durch die Schmerzen verursacht war,
die sich wieder durch die Unruhe des Kindes verschlimmerten,
wurde ich von seiten der Eltern befragt und legte nach Ge¬
winnung obigen Befundes den Verband an u. zw. nur in den
ersten zwei Touren. Die Schmerzen und damit die Unruhe und
schlechte Beeinflussung des Gesamtorganismus ließen sofort nach,
die Heilung trat glatt nach 14 Tagen ein.
Die Dauerhaftigkeit eines solchen Verbandes kann, so¬
fern eine gute Pflastermasse zur Verfügung stand, hei gar
nicht zu großer Vorsicht wochenlang anhalten. Die Ueber-
sichtlichkeit der Bruchstelle ist stets vollkommen; sie ist
auch für den Kranken zugänglich, der vorkommende Mängel
oder imgünstige Veränderungen vielleicht gelbst ersehen
und dem Arzte berichten kann, so daß eine stetige leichte
Beanfsichtigung ermöglicht erscheint.
Im ganzen habe ich diesen Verband innerhalb
2 Vs .lahren ])ei acht Schlüsselbeinbrüchen in verschiedenem
Aller der Kranken erprobt und war damit stets bestens
zufrieden.
{Referate.
Die Tuberkulose.
Von Prof. G. Cornet.
Zweite, vollständig umgearbeitete und im Umfang verdoppelte Ausgabe.
Wien 1907, Alfred Holder.
Die erste Auflage der Cornetschen Monographie, die als
Teil des H a n d h ii c he s der Speziellen Pathologie und
Therapie v(jn Nothnagel erschienen war, hat in dieser Zeit¬
schrift im .Tahrgang 1899, Ni'. 42, seitens des Gefertigten eine
eingehende Besprechung erfahren; eS' sei daher auch heute auf
dieses Referat hingewiesen.
Allei'dings hat sich seither in der Tuherkulosenfrage manches
geändert, eine wahre Hochflut von Neuerscheinungen hat sich
über uns ergossen. Erwähnt doch Cornet selljst, daß im Laufe
der seithei' vergangenen sieben .fahre nicht weniger als 13.000
(sic!) diesbezügliche Publikationen das Licht der Welt erblickt
haben. Schon das allein ist Erklärung genug für die Tatsacln',
daß die Cornetsche Mo}K)grai)hie von rund 050 Seilen in der
ersten Auflage nunmehr auf ca. 1400 Seiten angeschwollen ist.
Der Tenor des Werkes hat sich in keiner Weise
geändert; und das war auch für jeden, der Cornet kennt,
zu erwarten. Der bakteriologische Teil wird nach wie
vor aufs allerschärfsle betont. Neu in diesem Kapitel ist die
Besprechung der dem Tuherkelbazillus verwandten Mikroorganis¬
men, der Binder-, Hühner-, Kalthlüter-Tuherkelhazillen, der Le[)ra-
nnd Pseudotnh('rkelhazillen. Bezüglich des Typus hovinus und
seiner Infektiosität für den Menschen, nimmt Cornet die ver-
miltelnd(‘ Stellung ein, daß die Gefahren für den Menschen zwar
existieren, ai)er nicht überschätzt werden dürfen. Hinsichtlich
447
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
der Eiilstehung der Lungentuberkulose vindiziert er mich wie vor
der Inhalation der Tuherkelhazilleii die allergrüßitc lledentnng,
ohne aber die gegnerischen Ansicliten zu verschweigen.
Auch in liezng auf die Disposition liat Cornet seinen
ahlelinenden Standpunkt nicht 'verlassen. Er gibt bezüglich der
Heredität zwar zu, daß „solche Abkonnnlinge tulierkulöser Geni-
toren, wenn sie nicht schon abortiv abgehen, sehr häufig, je nach
dein Grade der elterlichen Tuberkulose, mit dem Stempel körper¬
licher Minderwertigkeit zur Welt kommen, oft schon in cter ersten
Kindheit an Lebensschwäche, Atrophie etc. zugrunde gehen, oder
daß sie, durch sorgsame Pflege aufgezogen, zwar in späteren
Jahren sich kräftigen können, hin und wieder aber ihr ganzosi
Dasein als Enterbte völliger Lebensfrische und Lebenskraft ver¬
bringen, aber eine spezifische Disposition zur Tuberkulose ist
(von der vermehiäen Familieninfektion natürlich abgesehen) da¬
mit nicht erwiesen“.
Ebenso sieht er in den meisten akquirierten Dispositions-
momenten in erster Linie eine gesteigerte Infektionsge¬
fahr, so daß er also die scheinbare Disposition auf extraindivi¬
duelle Verhältnisse, d. h. also auf vermehrte Exposition'
zurückführt.
Die Besprechung der pathologischen Anatomie und
Symptomatologie sind gegenüber der ersten Auflage ziemlich
unverändert geblieben.
Im Kapitel über die Perkussion ist eine bildliche Darstellung
der Krönigschen Spitzeiqierkussion neu aufgenommen. Bei der
Besprechung des Verlaufes erwdihnt Cornet die Lungonhaut-
fistel und den Gasabszeß als Folgen des seltenen Durchbruches
der adhärenten Lunge durch oder unter die Haut (Referent hat
einen solchen lufthaltigen Abszeß, der sich durch Kompression
in die Kaverne zurück entleeren ließ, zweimal über der Klavi-
kula gesehen, während der zweite Interkostalraum als Prädilek¬
tionsstelle eines solchen Durchbruches angegeben wird).
Neu im Kapitel Diagnose ist die Inoskopie, die Serum-
reaklion, deren Wert aber heule noch ein problematischer ist
und die zytologische Untersuchung der Exsudate. Eine wesent¬
lich eingehendere Besprechung erfährt die Temperaturniessung in
ihrer diagnostischen Bedeutung. In dem Kapitel über die Diffe-
renlialdiagnose, das in allen Teilen ausführlicher geworden ist,
ist diesmal auch die Pseudotuberkulose (Streptotrichose, Schimmel¬
pilzerkrankung etc.) aufgenommen.
Eine wesentliche Erweiterung hat die Darstellung der pro-
p h y 1 a k t i s c h e n M a ß r e g e I n erfahren, bei der T h e r a p i e ist be¬
sonders die aktive Immunisierung eingehender besprochen als in
der ersten Auflage. Ganz neu ist der dritte Abschnitt, in dem
Cornet die t u b e r k u 1 ö s e n K o m p 1 i k a t i o n e n (Haut, Ver¬
dauungsorgane, obere Luftwege, Ohr, seröse Häute, Urogenital¬
apparat etc.) kurz bespricht.
Viel ließe sich noch über Cornets Werk sagen, was aber
den engen Rahmen eines Referates überschreiten würde. Eines
aber muß ausdrücklich betont worden: mag man die Ansichten
des Verfassers, vor allem seinen extremen Infektionsstaiulpunkt,
seine überscharfe Kritik der Leistungen der Volkshoilstätten und
dergleichen mehr teilen oder nicht; unbeschränkt muß anerkannt
werden, daß Cornet bei Verfechtung seines Standpunktes nie¬
mals persönlich wird und daß er in gewissem Sinne auch den
Gegner zu Worte kommen läßt. Dadurch wird die xMonographie
zu einer Darstellung des gesamten Standes der Tüberkulosen-
frage von heule, der allerdings die Kritik Cornets (ünen per¬
sönlichen Stempel aufgedrückt hat. Die enorm reichhaltigen Lite¬
raturverzeichnisse, die dies'mal, was die Uebersicht wesentlich
erleichtert, nicht am Schluß des Werkes, sondern jedem einzeluen
Kapitel angefügt sind, werden allen ein sehr willkommenes Hilfs¬
mittel für weitere Arbeiten sein. v. Weismayr.
*
Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten für
Studierende und Aerzte.
Von Prof. Dr. Edmimd Lesser, geh. Medizinalrat, Direktor der Univer¬
sitätsklinik und Poliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin
H. Teil. Geschleclitskrankheiteu.
Leipzig 1906, F. C. W. Vogel.
Die Tatsache, daß die Vorlage in zwölfter Auflage erscheint,
die früheren Auflagen in dieser Zeitschrift bereits angezeigt wurden.
macht eine genaue Analyse des ja mit Recht allgemein beliebten
und anerkannten Werkes überflüssig. Ref. will also nur heivor-
heben, daß das Syphilisvirus, die Spirochaeta ipallida, au deren
Enldeckutig ja bekanntlich Lessors Klinik einen hei’vorragendeii
Anteil nahm, in diesei' Auflage bereits in Woiä und llild eiugelieud
veJ'wertet wird, Aeliologie und Pathologie auf Basis dieser und
der Errungenschaften der neuen Experimentalforschungen bear¬
beitet sind, lui übrigen begrüßen wir in dem Buche einen lieben
alten Bekannten.
*
Beiträge zur Kenntnis der venerischen Erkrankungen
in den europäischen Heeren, sowie in der militär¬
pflichtigen Jugend Deutschlands.
Von Dr. Hciuricli Sclnvieniiig, Stabsarzt und Hilfsreforent bei der
Medizinalabteilung des Kriegsministeriums.
Verötfentlichungen aus dem Gebiet des Militär-Sanitätswesens.
Herausgegeben von der Medizinalabteilung des königl. preußischen
Kriegsministt riums.
Heft 36.
Berlin 1907, A. H i r s c h w a l d.
Verf. bespricht zunächst an der Hand offizieller Berichte
die Häufigkeit der venerischen Krankheiten in den europäischen
Heeren seit Mille der Sechziger- oder Anfang der Siebzigerjahre
des vorigen Jahiliunderts. Hervorgehoben sei, daß während dieses
ganzen Zeitraumes die preußische Armee, einschließlich des
würllembergischen und sächsiischen Kontingents mit am
günstigsten steht. Den nächst igünstigen Platz mit Id-BVoo nimmt
die französische, dann die belgische Armee mit 14'9"/o(). Ihr folgen
die niederländische (lßü%o), dänische (lG-9°/oo), russische
(2M Voo) Armee. Mit einem beträchtlichen Abstande folgen
Oesterreich-Ungarn (3U70’uo), Italien (47-97(H)), England (604*\/ni))-
Das Verhältnis der einzelnen venerischen Erkrankungen ist
ein recht vei'schiedenes. Die Häufigkeit ,der Syidiilis schwatdd in
den verschiedenen Armeen zwischen lö'6'’/o und 38'^/'o, .des Trippers
zwischen 37-3To und 77G'’/'o, des weichen Schaidvers zwischen
2(U/o und 33To. Für die österreichische Armee stehen (tie drei
Erkrankungen im Verhältnis von 324‘V» : 50'2“/" : 17-GT", im preußi¬
schen Heere im Vej'hältnis von 21-5To : G5'3To : 13-2",'o. Es ist also
ini preußischen der Ti'ipper wesentlich häufiger (G5-3To : 5ü-2'’,u),
die Sypliilis wesentlich seltener (21-5% : 324“/o) als im öster¬
reichisch-ungarischen. Im preußischen Heere verhält sich der
Tripper zur Syidiilis wie 10:3-3, im osterreichischen wie 10:G-2.
Verf. vergleicht nun die Häufigkeit insbesondere der Syphilis
und des Triiipers bei den iieucingestellten Rekruten und kommt
zu dem Schlüsse, daß die venerischen Krankheiten unter (hu-
männlichen Zivilbevölkerung des militärpflichtigen Atters übei'-
haupt bedeutend stärker verbreitet sind als im Heere selbst,
woraus folgt, daß der Haupfinfektionsherd der venerischen Krank¬
heiten in den meisten Fälten mit Sicherheit in der Zivilbevölke¬
rung zu suchen ist. ,,Es ist somit nicht das Militär, welchem
an der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten die Hauptschuld
beigeniessen werden kann; vielmehr wird die Häufigkeit der
venerischen Krankheiten in der Armee durch deren Verbreitimg
in der Zivilbevölkerung bedingt.“ Finger.
♦
Die akute Trunkenheit und ihre strafrechtliche
Begutachtung.
Von Dr. Ewald Stier.
153 Seiten.
Jena 1907, Verlag von Gustav Fischer.
Stier hat in der vorliegenden iVrbeit, gestützt auf die
neuere einschlägige Literatur (Heilhronncr, Gramer usw.)
und auf Grund persönlicher Erfahrung die äußerst wichtige Frage
der Beurteilung akuter Rauschzustände von den verschieilenen
Gesichtspunkten aus, in einer, allen beteiligten Kreisen verständ¬
lichen, umfassenden und praktischen Weise beleuchtet.
Der erste Abschnitt behandelt die Wirkung des iVlkohols
auf das Seelenlehen und ihre Bedeutung für die Armee. Es werden
in diesem Teile, ausgehend von den bekannten experimentell
fesigestellten Alkobolwirkungen auf die psychischen Funktionen
im allgemeinen, die Begriffe der Intoleranz, sowie der pathologi¬
schen Rauschzustände, deren Ursachen und Erscheinungsformen
in entsprechender Klarheit dargestellt, ferner nach eigenen und
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
jremdcn Statistiken der Einfluß des Alkoholgcnusses, respektive
.Mißbrauches auf die Begehung von Verbrechen und Vergehen
beim Heere erörtert.
Ini) zweiten Abschnitte werden die seit altersher bestehenden
Bestiininungen über Alkoholgenuß und Trunkenheit besprochen
und ausführlich die heute in Gültigkeit bestehenden Strafgesetze,
welche Alkoholdelikte betreffen, angeführt, insbesondere das
deutsche M.-St.-G. erläutert.
Sehr eingehend und mit großer Sachkenntnis behandelt der
Autor Im dritten Abschnitte das Wissenswerte für die zur foren¬
sischen Begutachtung von Trunkenheitszuständen berufenen Ex-
peiten und enthält dieses Kapitel eine reiche Fundgrube prak¬
tischer Winke und Anregungen für den Gerichtsarzt und Straf¬
richter. Selbstverständlich legt Stier großes Gewicht auf die
Untersuchung des Täters AViährend, bzw. möglichst bald nach
Begeliung des Deliktes (Leider nur selten durchführbar. Es wird
sogar die Wichtigkeit dieser Maßnahme mitunter auch von Militär¬
ärzten in vollkommener Verkennung ihrer Aufgabe als unwürdig
angesehen. Bef.), sowie auf eine sorgfältige Aufnahme der An¬
gaben des Beschuldigten bald nach der Tat, besonders mit Berück¬
sichtigung des Verhaltens der Erinnerung.
Recht gut und zweckmäßig ist das vierte Kapitel über die
juridische Bewertung der Rauschzustände und hebt Stier mit
berechtigtem Nachdrucke die Notwendigkeit hervor, daß der in
foro tätige Sachverständige nicht nur die betreffenden Gesetzes-
stellen genau kennen, sondern auch mit den bezüglichen juristi¬
schen Begi'iffen vollkommen vertraut sein muß. Die ausführliche
Kommentierung der bezüglichen deutschen Gesetze gehört un¬
streitig zu den besten Teilen der Arbeit, wenn auch Stier,
wie mir scheint, bezüglich der forensischen Bewertung der Rausch¬
zustände mit krankhaften Symptomen bei komplizierter und
dauernder einfacher Intoleranz einen etwas zu liberalen Stand¬
punkt einnimmt.
Den im fünften Abschnitte vorgebrachten psychiatrischen
Wünschen — Verbot der Mitnahme alkoholischer Getränke zu
militärischen Uehungen, Vermeidung der Verabreichung solcher
Getränke aus Staats- und Privatmitteln, Verbot des Branntwein¬
verkaufes in militärischen Räumen und Kantinen, strenge Be¬
lehrung, energische Bestrafung jedes Alkoholexzesses in und außer
Dienst und dergleichen — wird wohl jedermann, der persönliche
Erfahrung und klares Urteil hat, gewiß aber jeder sachkundige
Militärarzt heipflichten. Bedauerlicherweise sind wir von der
Erfüllung dieser Wünsche noch ziemlich weit entfernt, da sich
die Erkenntnis von der Schädlichkeit der obengenannten Mi߬
bräuche und Unsitten nur langsam Bahn bricht und deren ener¬
gische Beseitigung einerseits an der Leichtfertigkeit, anderseits
an der bei 'strengem Auftreten gegen diese tief eingewurzelten
Gewohnheiten notwendigen Unbequemlichkeit der Selbstzucht
große Hindernisse findet. '
Wenn auch die vorliegende Arbeit in erster Linie für
deutsche Verhältnisse geschrieben ist, so wird sie jedoch allen
Militärärzten zum Studium wärmstens empfohlen und werden
auch engere Fachkollegen des Autors, sowie Juiisten und Offi¬
ziere des Soldatenstandes vielfach Anregung und Belehrung er¬
fahren. Mattauschek.
Aus versehiedenen Zeitsehfiften.
17t). Aus der psychiatrischen Klinik in Freiburg i. B. tPro-
fessor Dr. Hopp e). Von der p r o t o p 1 a s m a t i s c h e n u n d
f a s (> r i g e n S t ü t z s u b s t a n z des Z e n t r a 1 n e r v e n s y s t e m s.
Von Dr. W. Spielmeyer, Assistenzarzt tier Klinik. Die Frage
nach dem Verhalten der zentralen Stülzsubstanz hat durch die
Untersuchungen Heids über den Bau der Neuroglia akluelles
Intt'resse gewonnen. Die Untersuchungen Heids haben nicht
nur (‘ine rein anatomische Bedeutung, sie sind auch für die Histo-
])alh(dogie des Gehirnes und speziell für die Erforschung der
Bindenerkiankung von hohem Interesse. Nun hat es Spielmcyer
in vorliegender .\rheit versucht, aus der Histopalholugie der Hirn-
)'inde (tas Wesen! liebste zusammenzuslellen, um einesteils die seit
den l'nlersuchungen Heids viel eiörterle Frage mach den Bo-
zi(‘hungen zwischen Gliazelle und Gliafaser zu klären und andern-
teils der Lehre Heids von der diffusen .Vusdelmung der proto¬
plasmatischen Stütz- und Füllsubslanz, dem Gliasynzylium und
Gliaretikulum näherzutreten. — (Archiv für Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, Band 42, lieft 2.) S.
*
180. Influenza und Nasenbluten. Von 11. Swar-
brick Brown, Goring a. d. Themse. \erf. beobachtete in drei
Fällen von Influenza nach Abklingen der akuten Erscheinungen
Nasejibluten, welches in einem Falle besonders heftig war. Es
handelte sich um drei Geschwister, die der Reihe nach er¬
krankten und früher nie an Nasenbluten gelitten hatten. Verfasser
läßt die Frage unentschieden, ob es sich um eine Wirkung des
Influenzagiftes oder um eine Art Chininvergiftung handelte, da
die Kinder mit Chinin behandelt wurden, neigt jedoch der ersteren
Ansicht zu. Nach Ansicht des Referenten sind die rnitgetcilten.
Fälle deshalb von besonderem Interesse, Aveil sie einen Beitrag
zur Frage von der Familiendisposition liefern. Denn welcher
x\rt immer das Gift geAvesen war, äußerte es einen Teil seiner
Wirkung bei allen drei Geschwistern an derselben Stelle und
auf dasselbe Organsystem — die Gefäße. — (British medical Jour¬
nal, 9. Februar 1907.) J. Sch.
*
181. Aus der Universitätsfrauenklinik Erlangen (Direktor
Prof. Dr. IMenge). Eine Geburt bei vorgeschrittener
Tabes dorsalis. Von Dr. P. Zacharias, Oberarzt der Klinik.
Eine 43 Jahre alte Kutschersfrau, V. Para, Avird am 5. November
vorigen Jahres als Kreißende von der chirurgischen Klinik, avo
Pat. Avegen einer rechtsseitigen Schenkelhalsfraktur in Behand¬
lung Avar, in die P’rauenklinik verlegt. Aus der sehr ausführliclum
Krankengeschichte sei kurz erwähnt, daß die Frau seit Jieun
Jahren unzAveifelhaft tabische Symptome gezeigt hat, sich zurzeit
im ataktischen Stadium nahe dem Uebergang zum paralytischen
befindet Die Schwangerschaft verlief ohne besondere Beschwer¬
den, vor allen Dingen konnte Pat. ein rapideres Fortschreiten
ihrer Nervenerkrankung Avährend der Gravidität nicht beobachten.
Die Geburt Avar in vier Stunden spontan beendigt, bei völliger
Schmerzlosigkeit der W'ehen und Untätigkeit der Bauchpresso
bis auf den Schlußakt beim Ein- und Durchschneiden des Kopfes.
Schon die vorhergehende Gehurt vor sechs Jahren scheint be¬
züglich der Empfindung der Wehen anormal verlaufen zu sein.
Das W^ochenbett verlief ganz normal. Verf. findet abgesehen von
der Schmerzlosigkeit der Wehen die Kürze der Geburtsdauer,
die auch andere Autoren hervorheben, auffällig. Ob diese x\b-
kürzung dem (furch die Schmerzlosigkeit bedingten Nichteintreten
reflektorischer Zusammenziehungen der sonst Widerstand leisten¬
den, Aveichen Geburtswege oder dem Fehlen zerebrospinaler, hem¬
mender Einflüsse zuzuschreiben ist, Avill Verf. nicht entscheiden.
Dagegen gibt er zu bedenken, ob die kurze Geburtsdauer nicht
etAva dadurch, daß die Kreißende vom Beginne der Gebarts¬
tätigkeit gar nichts Aviißfe, nur vorgetäuscht Avurde. Als inter¬
essante Beobachtung in diesem Falle erwähnt Verf. ganz besonders
die Zeichen der drohenden Uterusruptur. Die Conj. vera betrug
hier 9Vi cm, der biparietale Durchmesser des kindlichen Kopfes
9V2 cm. Dieses geringe Mißverhältnis, Avelches bei einer gehörigen
und durch die Bauchpresse unterstützten Wehentätigkeit kaum
eine Rolle spielen Avürde, führte hier zur Ueberdehnung des unteren
uterinen Segmentes, Aveil die Kraft der Kontraktionen des Uterus
allein nicht ausreichte, um den Kopf durch den Beckeneingang
zu treiben und Aveil auch die Wand des Uterus an den schlaffen
Bauchdecken kein Widerlager fand. Auf die Geschlechtsfunktionen
der Frau hat die Tabes in diesem Falle nicht ungünstig eingewirkt.
Die Frau hatte regelmäßige Menstruationen, ZAveirnal in der neun¬
jährigen Krankheit konzipiert und ohne eingreifendere Kunst¬
hilfe zwei lebende und gesunde Kinder geboren. Vereinzelte Be¬
obachtungen scheinen auf eine EiiiAvirkung der Gravidität auf
die Tabes hinzuAveisen. So sah Thies in einem Falle eine
deutliche Besserung im Wochenbett, dagegen berichtet Fried-
richsen über ein sehr rapides Fortschreiten der tabischen Er¬
krankung nach Eintritt der SchAvängerung. ln diesem Falle ist
die Tabes . durch die Schwangerschaft und das Wochenbett in
ihrem Verlaufe nicht ungünstig beeinflußt worden. xVehnliche Be¬
obachtungen machten Remak, Bernhardt und v. llößtin.
Die Einleitung der künstlichen Frühgehurt, bzw. die vorzeitige
Unterbrechung der Schwangerschaft überhaupt hält Verf. hei Tabes
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
449
nielli. imIizitM’t. — (Münchener rnedizinische Wochen schrill 1907
Nr. 7.) a. ■
Xc
182. Uehercin rczi<l i vicrondes, sk a r 1 a li n i I'o ]• in e s
Ei'ylhem med ik amen 1 Ösen Ursprunges. Von A. Berge.
Bei dem Palienlen Iral im Laufe eines Jahres nacli Anwendung
desselben Medikamenles ein intensives, generalisiertes, skarlalini'-
formes Erylhem mit Abschuppung auf. Bemerkenswert war die
günstige Einwirkung des Erythems auf die gleichzeitig bestehende
hartnäckige Bronchitis, wegen welcher das betreffende Medika¬
ment verabreicht worden war. Der Patient halte vor Jahren eine
typische Skarlatina durchgemacht und später im Frülijahr und
Herbst wiederholt an einem juckenden, urlikariaähnlichcn Aus¬
schlag gelitten, was auf eine gesteigerte Empfindlichkeit der Haut
hinweisl. Als der Patient wegen einer Bronchitis ein Medikament
erliielt, in welchem neben Aqua Laurocerasi eine geringe Menge
von Opium enthalten war, trat schon nach den ersten Dosen
unter einem Gefühl von Prickeln eine lebhafte Rötung der Haut
auf und es entwickelte sich ein generalisiertes, skarlatiniformes
Exanthem mit nachfolgender großblätteriger Abschuppung. Die
bis dahin sehr hartnäckige Bronchitis bildete sich während des
Erythems in wenigen Tagen fast vollständig zurück. Als nach
einem Jahre sich neuerlich eine Bronchitis einstellte und wieder
das opiumhaltige Medikament gegeben wurde, entwickelte sich
wieder sehr rasch unter Hitzegefühl und Temperatursteigerung)
bis 38'’ ein generalisiertes, skarlatiniformes Erythem mit Ab¬
schuppung in Form großer Lamellen und die Bronchitis zeigte
wieder unter dem Einfluß des Erythems einen auffälligen Rück¬
gang. Wahrscheinlich ist das intensive Erythem durch die an
sich geringfügige Opiumdosis hervorgerufen worden, doch be¬
steht auch die Möglichkeit, daß die andere Komponente des an¬
gewendeten Medikamentes, Aqua Laurocerasi, für die Entstehung
des Erythems von Bedeutung war. In der Literatur findet sich
eine Mitteilung über den Rückgang einer hartnäckigen Bron¬
chitis unter dem Einfluß eines medikamentösen Erythems, wo¬
durch ein Licht auf die AVirksamkeit der namentlich frülier in
der Behandlung der Bronchitis gebräuchlichen revulsiven Me¬
thoden, Sinapismen etc., geworfen und deren Wirksamkeit ver¬
ständlich wird. — (Bull, et Mem. de la Soc. med. des hop. de
Paris 1907, Nr. 7.) a. e.
♦
183. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Uni¬
versität Leipzig (Direktor: Prof. Flechsig). Ueber die
psychisch bedingten Einengungen des Gesichts¬
feldes. Von Priv.-Doz. Dr. H. Kien. In der Auffassung des
Wesens der ,, funktionellen“ Sensibilitätsstörungen bestehen Diffe¬
renzen, die sich namentlich in der Lejlire von der konzentrischeii
Gesichtsfeldeinengung offenbaren, von der gerade am ehesten
eine Aufklärung über das Wesen dieser Funktionsstörungen zu
erwarten wäre. Entsprechen den verschiedenen funktionell-
nervösen Erkrankungen, welche mit konzentrischer Gesichtsfeld-
einengung einhergehen, verschiedene Typen der letzteren, kann
man aus diesen Typen und aus der Art der 1 Allgemeininfektion auf
den Entslehungsmod'us der Gesichtsfeldeinengung: rückschließen?
Diese und andere sich auf Symptomatologie, klinische Stellung,
Simulierbarkeit beziehende Fragen, sind noch nicht gelöst und
die Entwicklungsgeschichte der Lehre von der konzentrischen
Gesichtsfeldeinengung, welche Kien in der Einleitung seiner
Arbeit skizziert, zeigt, wie weit die Meinungen in der Frage
über das Wesen und die klinische Bedeutung der konzentrischen
Gesichtsfeldeinengung noch aüseinandergehen. Nach einem Hin¬
weis auf einige Eigenschaften des normalen Gesichtsfeldes, die
für den Vergleich mit dem konzentrisch , eingeengten von Belang
sind, bespricht Kien zunächst die Formen der konzentrischen
Gesichtsfeldeinengung bei zentral - neiwösen Erkrankungen. Ein
weiteres Kapitel behandelt die Formen von konzentrischer Ge¬
sichtsfeldeinengung, welche durch nackte Simulation entstehen
können und diejenigen Gesichtsfeldeinengünigen, bei welchen die
Entstehung aus der Vorstellung des Schlechtsehens wahrschein¬
lich ist oder in Frage kommt. Aus den besonderen Eigenschaften
der Gesich Isfeldeinengungen, wie sie bei den verschiedensten Er¬
krankungen Vorkommen, versuchte Kien Rückschlüsse zu ziehen
auf die Art ihrer Genesis, um Mann auf den Entstehungsmodus
der konzentrischen Gesichtsfeldeinengung bei Hysterie überzu¬
geben. In einem speziellen Falle von Hysterie ließ sich mit
Sicherheit sagen, daß die konzentrische Gcvsicditsfeldeinengung auf
dem Wege über die Vorstellung des Schlechtsehens zustamh' ge¬
kommen war. Im weiteren finden sich in der Arbeit Kiens Be¬
merkungen über „bysterisebe“ konzentrische Gesichlsfeldeinen-
gung bei Unfallskranken und bei Kriminellen in Untersuchungshaft
und Strafvollzug und über konzentrische Gesichtsfeldeinengung
bei Hysterie, unter Ausschluß krimineller und Unfallkranker, ln
einem Schhißkapilel zeigt der Verfasser, daß für Beurleilung einer
psychogenen konzentrischen Gesichtsfcldeineingung nur die psycho¬
logische y\nalyse des ganzen Falles maßigehend sein kann. Die
Frage, ob in einem speziellen Falle Autosuggestion oder Simu¬
lation vorliegt, kann nur durch die psychiatrische Beurteilung
des gesamten Bewußtseinszustandes des Kranken gelöst werden.
— (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Band 42,
Heft 2.) S.
*
184. (Aus dem Victoria - Kinderhospital Chelsea.) liehe r
H ä m a t u r i e d u r c h d e n G e h r a u c h von s a 1 i z y 1 s a u r e m
Natron. Von J. D. Marshall. Ein zehnjähriges Alädchen, in
dessen Familie einige Fälle von Gelenksrheumalismus, Iieziehungs-
weise Chorea vorgekommen waren, erkrankte an typischer Poly¬
arthritis rheumalica und akuter Endokarditis. Nach dem Gebrauch
von Natrium salicyiic'um (erst dreimal täglich 15, dann dreimal
täglich 7 Gran) stellten sich Erbrechen, Delirien und Hämaliuii!
ein. Gleichzeitig bestanden starke Schmerzen in der linken
Lumbalregion, die nach Verf. Nierenkoliken ähnelten. Vor Beginn
der Krankheit waren die Nieren völlig gesund gewesen. Nach
Ausselzen der Medikation verschwanden alle Erscheinungen
prompt. — (Lancet, 2. Februar 1907.) J. Sch.
*
185. Ueber Radiotherapie bei der spastischen
Spinal paralyse. Von .1. Babinski. Der Verfasser berichtete
bereits vor einigen Monaten über einen il5jährigen Knaben, bei
welchem anschließend an einen Automobilunfall eine generali¬
sierte Kontraktur am Halse, Rumpfe und allen vier Extremitäten
aufgetreten war. Es wurde eine Kompression des Halsmarkes
durch Bluterguß oder Pachymeningitis diagnostiziert. Die sechs
Monate nach dem Unfall begonnene Radiotherapie bewirkte citie
deutliche Besserung. Die Kontraktur des Halses, des Stammes
und der rechtsseitigen Extremitäten ging zurück, während linker¬
seits die Zeichen einer sekundären Degeneration der Pyramideii-
hahnen fortbestanden. Die Motilität ist vollständig zurückgekehrt
und der früher ganz immobile Patient ist gegenwärtig imstande,
zu laufen. Auch bei Malum Pottii und Syringomyelie wurden
Erfolge der. Röntgenbehandlung beobachtet. Der Verfasser hatte
gleichfalls Gelegenheit, eine Spinalaffektion mit Rönlgenstrahlen
zu behandeln. Die 32jährige Patientin, bei iwelcher Lues anam¬
nestisch nicht nachweisbar ist, erkrankte mit Parästhesien in den
Füßen und Schwäche in den Beinen, die sich bis zur vollständigen
Lähmung steigerte. Injektionen von Jodquecksilber waren nutzlos
und es gesellten sich zu der Lähmung der unteren Extremitäten
Kontraktur, sowie unwillkürliche Krämpfe. Die Selmenreflexe
waren gesteigert und es bestand das Bild der spinalen Epilepsie.
Vorübergebend Avurden auch leichte Störungen der Blasenfunktion
beobachtet. Unter Behandlung mit Einreibungen von grauer Saht'e
und interner Darreichung von Jodkali zeigten sich Spuren zu¬
rückkehrender Motilität an den Zehen. Es wurde nunmehr die
Behandlung mit Röntgenstrahlen eingeleitet und das Rückenmark
in Bauchlage wiederholt bestrahlt. Es gingen die Kontrakturen
unter dem Einfluß der Behandlung zum Teil zurück und die früher
unbewegliche Patientin kennte, entsprechend unterstützt, sich he-
Avegen. Die Untersuchung der Zerehrospinalflüssigkeit ergab
Lymphozytose als Zeichen einer Reizung der Meningen. Hysterie,
Syphilis und Malnin Pottii konnten ausgeschlossen werden und
es blieb die Diagnose ZAvischen einer Hordsklerose des Rücken¬
markes und einem das Rückenmark komprimierenden Tumor offen.
Eine so rasche spontane Besserung Avird außer bei Malum Pottii
und spinaler Syphilis nicht beobachtet, so daß mit einer geAvissen
Berechtigung eine WTrkung der Röntgenslrahlen angenommen
werden kann, welche übrigens bei der Annahme eines inter¬
vertebralen Sarkoms besonders Amrständlich AAÜire. — (Bull, et
Mem. de la Soc. med. des hop. de Paris 1907, Nr. 8.) a. e.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
18(5. Aus tier sUidtisclieii Heil- mul PflegeanstalL zu Dresden.
Zur Behtindluug des Delirium tremens. V'on (Jberarzt
Dr. S. Hans er. Verf. kritisiert zunächst die üblichen Behand-
lungsmelhotkm mul gebt dann auf seine eigenen Erfahrungen
über. Diese erstrecken sich auf 1051 Fälle von Delirium tremens,
die in IG .Jalu'en in der Dresdener städtischen Pflegeanstalt unter
seiner Leitung behandelt wurden. Verf. teilt das Material in zwei
Hälften: die eine Hälfte, tlie sich über die ersten acht Jahre und
48(5 Kranke erstreckt, weist 31 Todesfälle, also eine Mortalität
von (5-37°/ü auf. Die andere Hälfte, die die folgenden acht Jahre
und 565 Deliranten umfaßt, weist nur fünf Todesfälle auf, also
eine Mortalität von 0-88To. Woher nun die Besserung der Mor¬
talitätsziffer? Die allgemeinen Grundsätze der Behandlung, ab¬
solute Abstineiiz, möglichst weit durchgeführte Bettbehandlung,
sorgsame Wartung, sind die gleichen gehlieben wie früher; nur
in einem Punkte hat Verf. die Behandlung wesentlich verhessert.
Von der Beobachtung ausgehend, daß die Deliranten sehr häufig
an Herzlähmung sterben, hat Verf. diesem Urgane seine ganze
Aufmerksamkeit zugewendet. Es wird ausnahmslos jedem Alkohol¬
deliranten von der ersten Stunde seines Anstaltsaufenthaltes
1-5 g Digitalis im Aufguß pro die verabreicht und je nach dem
Fall zwei- bis dreimal wiederholt. Bei Schwierigkeiten der Auf¬
nahme per OS, wird das Mittel zweistündlich per Klysma ge¬
geben. Verf. hat niemals einen schädlichen Einfluß-, niemals
eine kmmdative W'irkung wahrgenommen. Kommt es trotz dieser
Behandlung zu Anzeichen von Herzschwäche, wird Kampferöl
viertelstündlich, später stündlich injiziert, bis der kritische Zu¬
stand überwunden ist. In seltenen Fällen läßt Verf., so strenge
er auch sonst die Deliranten alkoholfrei hält, dem Kranken
eßlöffelweise eisgekühlten Sekt verahreichen. ln der Annahme,
daß das Delirium tremens auf einer Vergiftung mit abnormen
Stoff Wechselprodukten beruht, befördert Verf. die Auswaschung
der Gewebe durch eine möglichst starke Flüssigkeitszufuhr und
Diurese. Die Deliranten erhalten ein Getränk, ein „Natronwasser“,
bestehend aus einer l®/oigen Lösung von Natrium aceticum in
Wasser und Syrup, commun. — (Münchener rnediz. Wochenschrift
1907, Nr. 3.) G.
187. D i e Be h a n d lung der diphtherische n u n d hl e n-
n 0 r r h o i s c h e n Erkrankungen des Auges. V on Dr. Bruno
Sy 11a in Bremen. Schon Ende der Achtziger- und Anfang der
Neunzigerjahre hat Sy 11a im Bremer Kinderkrankenhaus die
di])htheritische Erkrankung der Augen mit schwachen Höllenstein-
lösungen, welche heiß appliziert wurden, mit Erfolg: behandelt.
Die VsToige Lösung von Argentum nitriciun wurde im Warm-
wasserhad heiß gemacht und damit getränkte Leinwand-, res]K*k-
tive Gazeläppchen auf die Lider gelegt. Die Umschläge wurden
anfangs Tag und Nacht mit Unterbrechungen (nach je drei Stunden
eine Stunde Panse) appliziert. Nach etwa drei Tagen waren die
speckigen Auflagerungen enveicht und kleiner geworden, nach
fünf bis sechs Tagen waren sic geschwunden und auch die In¬
filtration der Augapfelhindehaut war gewichen. Vom vierten Tage
an wurden größere Erholungspausen eingeschohen, aber auch
nachts wurden die llmschläge nie ganz ausgesetzt. ,Man applizierte
also später die besagte Lösung dreimal täglich je eine halhe
bis eine Slunde hindurch. War die Bindehaut normal, so -wurden
lauwai'ine Umschläge mit Lösungen von Hydrargyrum oxycyami-
tum (1:5000) etwa zwei Tage lang angewandt, welche dieScliwär-
zung der Lider und des Gesichtes, sowie eine etwaige Mazeration
der Lidhaut beseitigten. Der Verfasser beschreibt eingehend den
günstigen Einfluß dieser Behandlung, zeigt, unter Mitteilung
neuerer Krankengeschichten, daß jetzt, da man allenthalben Heil¬
serum injizicrl, diese örtliche Behandlung keineswegs überflüssig
s('i. Die durch Unlcrs’uchung als virulent erwiesenen Diphtheiie-
hazillen und ihre Produkte schwänden l)ei dieser Behandlung
(auch ohne Heilseruminjektion) von der Bindehaut, die örtlichen
Diphtherieerscheinungen werden damit allein wirksam hekämpft.
Auch hlennorrhoische Erkrankungen der Neugehorenen hehandelte
der Verfasser, sobald die Lider stark geschwollen und bretlhart
gespannt waren, in derselben Weise. Heiße Umschläge mit V.'5%iger
Silberlösung bei Tag und Nacht mit einigen Fnterbrechungen.
bis die derbe Infiltration der Lider zurückgiug, das Sekret ein
eitriges wurde. Die Gonokokken waren meist schon nach 48 Stun¬
den geschwunden, das Kind öffnete nach 24 bis 48 Stunden
die Augen; jetzt wurden die Umschläge seltener appliziert, am
fünften Tage waren die Lider abgeschwollen, so ilaß nunmehr
zur Beinigung derselben wieder lauwarme Umschläge mit Hydrar¬
gyrum oxycyanatum (1:5000), dreimal am Tage eine halbe Stunde
Inndurch, zur Anwendung kamen. Damit schwanden auch die
durch die heiße Höllensteinlösung bedingte starke Mazeration
und die schwarze Färbung der Lider, das Abstoßen schwarzer
Epiderrnisfetzen hörte auf. ln der Zwischenzeit wmrden die kranken
Lider mit Lanolin, rosp. mit Feltronsalbo bestrichen. Die Ge-
schwdire der Kornea reinigten sich rasch, das Hypopyon schwand,
wenn notwendig, wurde ein Tropfen Eserin morgens und abends
eingeträufelt. Der Verfasser macht noch aufmerksam, daß er, um
jeden Druck zu vermeiden, ein an Blennorrhoe erkranktes Kind
mit entzündlich geschwollenen und brettharten Lidern so behan¬
delt, daß er die Kornea gar nicht besichtigt, sofort heißa Höllen-
sLeinlösungen machen, sowie prophylaktisch jeden Morgen einen
Tropfen Eseriniun salicylicum einträufeln läßt und erst später,
w^enn die Lider abgeschwollen sind, die Hornhaut besichtigl.
Die Spaltung des Canthus externus der geschwollenen Lider wird
nicht gemacht. Bei gleichzeitiger gonorrhoischer Naseneiterung
wurden jeden zweiten Tag einige Tropfen VsToiger Höllenstein, -
lösung in die Nase eingelräufelt; bei gonorrhoischer Mundeiterung
wurde der Mund mit Borwasser ausgewischt oder die ^vundon
Stellen mit Vs^/^iger Lapislösung bepinselt. Auch die Conjuncti¬
vitis gonorrhoica der Envachiscnon wurde in gleicher Weise er¬
folgreich behandelt. Für das Ulcus serpens corneae wäre diese
Behandlung, solauge das Geschwür noch nicht durchgebrochen
ist, ebenfalls zu empfehlen. Er applizierte in einigen Fällen mil
Erfolg morgens und abends je eine bis zwei Stunden lang die
heiße Lapislösung und gab Eserin zur Herahsetzung des Innen¬
druckes. Bei Durchbruch des Geschwüres folgte ein fester Ver¬
band mit Airoleinpuderung. — (Therapeutische Monatsbefle,
März 1906.) E. F.
*
188. Aus der kgl. neurologisch-psychiatrischen Universitäts¬
klinik zu Halle a. d. S. (Prof. Dr. Anton). Ueber explora¬
tive H i r n p u n k t i o n e n nach S c h ä d e 1 b o h r u n g z u r D i a-
gnose von Hirntumoren. Von Dr. B. Pfeifer, Assistenzarzt
der Klinik. Die häufigen Mißerfolge bei der Gperation von Hirn¬
tumoren sind zweifellos darin bogründot, daß letztere nur
selten frühzeitig diagnosliziert werden können, so daß sie, wenn
sie auch an chirurgisch erreichbarer Stelle liegen, erst zur Ope¬
ration gebraebt werden, wenn ein Dauererfolg nicht mehr er¬
zielt werden kann. Die Statistiken ergehen, ^tlaß in 20 bis ßO^/o
der Fälle eine falsche Lokaldiagnose gestellt wurde. In vielen
anderen Fällen aber wurde letztere richtig, aber zu spät gestellt,
zu einer Zeit eben, als eine, Radikalope ration nicht mehr rnög:-
lich war. Die chirurgische Behandlung der Hirntumoren liegt
also hauptsächlich in den Fortschritten der Diagnose. Einen
solchen Fortschritt erkennt Pfeifer in der Hirnpunktion, durch
welche er in find' Fällen eine genaue Lokaldiagnose an chirur-
giscli erreichbarer Stelle mit Aussicht auf Dauererfolg zu stellen
vermochte. Sie muß sich stets auf eine sorgfältige neurologische
Untersuchung und auf eine möglichst genaue klini.sche Lokali¬
sation des Tumors stützen. Dann ist sie ein hervorragendes,
relativ ungefährliches diagnostisches Hilfsmittel, wmlches in zweifel¬
haften Fällen die klinische Allgemeindiagnose eines Hirntumors
gegenüber anderen Hirnkrankheiten bestätigen oder verwerfen,
insbesondere durch den Nachweis eines Hydrocephalus internus
und externus die Frage der Herderkrankung ilurch lIii'natrophi(;
klären kann. Die Hirnpunktion vermag auch die klinische Lokal¬
diagnose eines Hirntumors zu modifizieren, die Erfolge der opera¬
tiven Behandlung zu fördern und durch Entleerung von Zysten-
und Ventrikelflüssigkeil hirndruckvermindernd, also direkt thera¬
peutisch zu wirken. — (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank¬
heiten, Bd. 42, H. 2.) S.
♦
- 189. (Aus dem physiologischen Laboratorium der Universität
Edinburgh.) Ueber den Einfluß exzessiver Fleisch-
n a h rung auf die F r u c h 1 b a r k e i t und die Ergiebigkeit
d e r M i 1 c hd r ü s e. Von B. P. Watson. Durch statistische Daten
wurde nachgewiesen, daß in England der Fleischkonsum in den
Nr. 15
451
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
lelzicii 50 Jahren — auf den Kopf berecluiet — eine enorme
Sleigernng: erfahren hat. Parallel daniil, lieiJ sich ein konlinuiei'-
liches Ahsinken der Gehui-fsziffer konslatieren. Zur Entscheidung
der h’rage, oh die Fleischnahrung einen Einfluß auf die Frucld-
harkeii hahen könne, nnternahni Verf. folgende Versuche: Zwei
Serien Ratten, Älännchcn und Weibchen, wurden in der Weise
gefüttert, daß die einen Fleisch, die anderen Milch und Brot
erhielten, unter sonst ganz gleichen VersUchshedingungen. Es
zeigte sich, daß von zwölf Brot-Milch-Ratten alle Junge warfen,
von 17 Fleisch-Ratten aber mir acht. Dnrch Kontrollversuche
wurde fesfgestellt, daßi die Ursache der Unfruchtbarkeit zum Teil
auch den IMännchen zuzuschreiben war. Die Versuche, welche
über die vergleichsweisen Größen- und Gewichtsverhältnissc der
Brustdrüsen beider Serien mitgeteilt Averden, klingen — mangels
genügend großer Ausschläge — nicht sehr üherzeugend. Da¬
gegen zeigt das DurchschnittsgeAvicht der Jungen' der Fleisch-
Ratten im Vergleiche mit dem Durchschnittsgewicht der Milch-
Brot-Ratten einen deutlichen Ausschlag zugunsten letzterer. —
(British medical Journal, 26. Januar 1907.) J. Sch.
190. Di e K r o k o d i 1 h a n d, eine d u r c h Beschäftig u n g
m it K a s tani en h 0 Iz h er vor gern fe ne Ber uf s de r in a to se.
Von B. Hör and in Lyon. Bei einem 55jährigen Landmann,
der zum ZAvecke der Operation einer beiderseitigen Hernie das
Krankenhaus aufsuchte, Avurde eine charakteiistische Veränderung
an beiden Händen beobachtet und festgestellt, ^daß diese durch
berufsmäßigen Kontakt mit dem Holze des .Kastanien haumes zu¬
stande kam. Die Hände erschienen Amrdickt .und lamzelig, die
einzelnen Finger, insbesondere der kleine Finger, voneinander
entfernt. Das Bild der Hände erinnerte an die Haut eines Kroko¬
dils ; hemerkensAAmrt waren in der verdickten Haut zahlreiche, fein
verästelte Fissuren, die in der Tiefe eine inbensiA^ scliAvarze Färhung
zeigten. An den Nägeln fanden sich keine trophischen Störungen,
die ScliAveißsekretion zeigte keine Veränderung. Die feineren Hand-
beAvegungen Avaren herabgesetzt, die Sensibilität zeigte leichte
Abstumpfung. Es Avurde festgestellt, daß alle Holzhauer, Avelche
Kastanienbäume fällen, diese Veränderung an den Händen auf-
Aveisen u. zav. treten diese Veränderungen um so rascher und
intensiver auf, je feiner die Haut früher Avar. Durch Kälte Avird
das Fortschreiten der Dermatose anscheinend begünstigt. Die Haut
zeigt zunächst das Bild des Erythems, .später Avird die Haut
ekzematös, es entAvickeln sich an Zahl und Tiefe zunehmende
Fissuren mit sclnvarzem Grunde. Die Haut seihst ist braun o.ler
scliAvarz, hart und dem Bilde der Hyperkeratose entsprechend.
Die lintenschwarze Färbung des Grundes der Fissuren läßt sich
auch durch Waschung mit heißem Wasser aind Seife nicht be¬
seitigen. Die Erkrankung überschreitet niemals die Ellbogengegend
und ist Avenig schmerzhaft. Als Träger der irritierenden Eigen¬
schaften ist der Saft der Kastanienrinde zu betrachten. Das ab¬
geschälte Holz schAvärzt sich an der Luft sehr rasch, namentlich'
Avenn es mit Eisen in Kontakt .gebracht wird. Die irritierende
Substanz ist ein Derivat des Tannins, ,von Avclch letzterem das
Kastanienholz 8”'o enthält. Auch bei Beschäftigung ^niit anderen
Holzarten, z. B. Teckholz, sind Dermatosen ,an den Händen be¬
obachtet Avorden. — (Gaz. des hop. 1907, Nr. 22.) a. e.
191. Aus der königlichen dennatologische]i Universitätsklinik
in Breslau (Direktor: Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Neisi^er). Zur
experimentellen Uebertragung der Syphilis auf
Kaninchen au gen. Von Dr. Artur Schucht, Assistent der
Klinik. Verf. hat 51 Augen von 26 Kaninchen mit syphilitischem
Material geimpft. Für vier Augen Avnrde als Material benützt
Organemulsion eines syphilitischen Affen, für fünf Augen Condy-
lomata lata. Diese Impfungen Avaren erfolglos. In allen anderen
Fällen benutzte Verf. frisch exzidierte Inguinaldrüsen von
Patienten mit primärer oder sekundärer Syphilis. Aus den Resul¬
taten geht hervor, daß Amn 51 geimpften Augen ZAvei durch
Panophthalmie zugrunde gingen. Iiü'olge Eingehens von drei
Tieren am 12., 14. und 16. Tage nach der Impfung sind nach
Verf. die negativen Residtate bei diesen sechs Augen nicht in
Ihdracht zu zicdien. Von den übrigen Angen erkrankten 13 an
Keratitis parenchymatosa. Drei Augen zeigten ausschließlich das
Bild der Iritis. In einem Falle folgte der Iritis nach ihrem Ab¬
lauf (‘ine Keratitis, ln einem Auge, wo das Material in den Glas¬
körper injiziert war, trat nacli Ablauf der anfänglichen Iritis
eine Iritis gummosaähnliche Affeklion, gleichzeitig mit einer Kera¬
titis parenchymatosa auf. Die Inkubationszeit bis znm Auftreten
der Kei'atitis parenchymatosa dauerte 19 bis 43, im Mittel
29 Tage, bis zum Auftreten der Iritis condylomatosa 11 bis 23,
im Mittel 16 Tage. Der Nachweis der Spirochaete pallida in der
Kornea gelang in fünf Fällen von Keratitis parenchymatosa.
llei keinem der bisher gestorbenen Tiere ergab die Sektion in
den inneren Organen ähnliche Befunde (Guminata. der Leber),
wie sie Haensell 1881 beschrieb. Fi'ir eine Generalisierung
der Syphilis beim Kaninchen ergab auch die serodiagnostische
Blutnntersuchung keine Anhaltspunkte. Es ergeben also diese
Versuche nach des Verfassers Ansicht eine Bestätigung der Tat¬
sache, daß das Syphilisvirns imstande ist, auch hei Tieren, die
weit unter dem Affen stehen, spezifische Erscheinungen hervor¬
zurufen. Gleichzeitig erscheint es als sehr Avahrscheinlich, daß
die Virulenz des Syphiliserregers bei dieser Uebertragung eine
starke AbscliAvächung erfährt. Sonst Aväre es nicht recht ver¬
ständlich, daß bei den meisten Autoren die Impfungen Tuit
Kaninchensyphilisprodukten, die zahllose Spirochäten enthalten,
auf Affen bisher keinen unzAveideutigen positiven Impferfolg er¬
geben haben. Der Ablauf der spezifischen Reaktion in zwei
Fällen von Impfung in den Glaskörpern läßt auf die Möglichkeit
schließen, daß der Glaskörper ganz besonders günstige Bedin¬
gungen für die Konservierung und Vermehrung der Spirochäten
bietet. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 3.) G.
*
192. (Aus der Klinik des Professors: Dr. Finger in Wien.)
Ueber experimentelle Keratitis parenchymatosa bei
Kaninchen. Von Schuber. Mit einer Tafel. Der Vortragende
berichtet über die Resultate der im Vereine mit Dr. v. Benedek
angestellten A'ersuche, Kaninchen durch Einbringung luetischen
Materials in das Auge zu infizieren. Es gelang den Autoren,
durch Einbringung kleiner Partikel luetischen GcAvebes in die
vordere Augenkammer nach Eröffnung mit der Ijanze, bei gleich¬
zeitiger traumatischer Schädigung der Iris eine klinisch Avie histo¬
logisch der menschlichen Keratitis parenchymatosa vollständig
gleiche Keratitis heim Kaninchen zu erzeugen. Die Keratitis ent¬
steht nach einer Inkubation von ungefähr fünf bis sieben Wochen
in einer bis zum Ausbruch der Erkrankung völlig freien Kornea.
Die Trübung entsteht in den tiefsten Schichten meist in Streifen¬
form, ist feinst gekörnt, Avird immer dichter, so daß die Kornea
grauAveiß erscheint, schließlich Avachsen vom Limbus Gefäße ein,
so daß dann das vollendete Bild der menschlichen Keratitis
parenchymatosa vorliegt. Histologisch zeigen sich genau die¬
selben AArhältnisse, Avie sie El sehnig in seiner ^Monographie
für die menschliche Keratitis parenchymatosa beschreibt. Die
Spirochaete pallida konnte in Querschnitten solcher Bulhi nur
in einem Falle und auch da nicht in voller Deutlichkeit nach-
geAviesen Averden. Dagegen können die Autoren über einen ZAvar
abortiven, aber klinisch ziendich deidlich ausgesprochenen Inipf-
erfolg bei einem Rhesus berichten, der nach Impfung mit Teilen
einer Kornea eines Kaninchens mit Keratitis parenchymatosa auf¬
trat. Direkte Impfung der Kornea verlief bei sieben Fällen bis
auf einen Fall, in Avelchem ein rasch abheilendeS' Ulkus auf trat,
negativ. Aus der Zusammenfassung zAveier ausgedehnter Ver-
suchsi'eihen Averden die Schlußsätze gezogen, daß das syphili¬
tische Virus sich im Kaninchenauge lange Zeit erhält und ver¬
mehrt und bei einer bestimmten Art 'der Impfung in das Auge
eine der menschlichen Keratitis parenchymatosa völlig gleiche
Keratitis entsteht. — (Verhandlungen der Deutschen Dermatologi-
sclum Gesellschaft in Bern 1906, IX. Kongreß.) Pi.
*
193. U e b e r d a s V o r kommen von Sch av e r h ö r i g k e i t
und deren Ursachen bei Schulkindern. Von Dr. Hugo
Laser, Schularzt in Königsberg i. Pr. Es begegnete dem Ver¬
fasser, daß Kinder, Avelche der Klassenlehrer als schwerhörig
bezeichnete, Flüsterstimmen auf etwa sechs Meter Entfenmng
vernahmen, Avährend anderseits Kinder an einer Gehörstörung
litten, ohne daß sie seihst oder der Klassenlehrer etwas davon
wußten. Er unlersuchte daher alle ihm uuterstellh'n Kinder
auf ihre Hörfähigkeit und bediente sich hiebei des Pollitzer-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
scheu Ilörprüfers (iin Original beschrieben und abgebildet). Die
Obren wurden einzeln geprüft, <lie als schwerhörig befundenen
Kinder wurden von Prof. Dr. Gerber und seinen Assistenkdi
spezialisüsch untersucht. Fand man als Ursache der Schwer¬
hörigkeit ein Leiden, das Aussicht auf Desserung oder Heilung,
bol, so wurden die Eltern verständigt. Eine Anzahl der Kinder
ließ sich auch behandeln; es wurden adenoide Rachenmandeln
und vergrößerte Gaumenmandeln entfernt, Ohrenschmalz])fröpfe
beseitigt etc. Nach einem halben Jahre will Verf. diese Fälle
noch einmal überprüfen. Die Tabellen zeigen, daß in drei Schulen
(Volks- und Bürgerschulen) die Schwerhörigkeit ziemlich gleich
oft, in 17-4 bis 19-3°/o, konstatiert wurde. In den unteren Klassen
sind die Zahlen fast durchwegs höher als in den oberen Klassen.
Die kleineren Kinder machen ihre Angaben eben schlechter als
die größeren. Schwerbörigkeit bestand rechts 107mal, links 92mal,
beiderseits llömal. Bei der Untersuchung der 315 Schwerhörigen
wurden gefunden : Bachenmandeln 153, chronische Otitis 34,
schon abgelaufene 34, Thrombus 31, Katarrh 12, normale Ver¬
hältnisse 51 mal. — (Deutsche medizinische Wochenschrift 1907,
Nr. 5.) E. F.
*
194. (Aus dem Londoner Charing-Cross und dem Evelina
Kinderspital.) Ueber einen tödlichen Fall von Myxödem
mit Veränderungen in den N e he n s c h i 1 d dr ü s e n. Von
D. Forsyth. Verf. beschreibt den Obduktionsbefund bei einer
58jähr. Frau, die unter seiner Beobachtung an Älyxödem starb. Die
Schilddrüse zeigte makro- und mikroskopisch Zeichen weitgehender
Atrophie und Fihrose. Bei der mikroskopischen Untersuchung
der Nebenscliilddrüsen fiel zunächst auf, daß die Zellen an vielen
Stellen azinöse Anordnung zeigten. Die einzelnen Zellen für
sich genommen, zeigten keinen Unterschied gegenüber den Zellen
aus normalen Nebenschilddrüsen. Sehr auffallend war die An¬
wesenheit großer Mengen von Kolloidsubstanz. Verf., der einige
Hundert von Nebenschilddrüsen untersucht hat, kann sich nicht
erinnern, je eine derartig starke Produktion von Kolloid gesehen
zu haben. Es zeigte sich eine mäßige Vermehrung des inter¬
stitiellen Bindegewebes gegenüber der Norm. Verf. erklärt den
Fall in der Weise, daß er die Fibrose der Thyreoidea als die
primäre Erkrankung ansieht, welche zu Funktionsuntüchtigkeit
der Schilddrüse führte, worauf die Nebenschilddrüse — aller¬
dings in nicht ausreichendem Älaße — die Punktionen der
Thyreoidea übernahm. — (Lancet, 12. Januar 1907.) J. Sch.
*
195. Der Zustand der Reflexe in paralysierten
Körperteilen bei totaler D u r c h t r e n n u n g d e s R ü c k e n-
markes. Von Prof. Michael Lapinsky in Kiew (Rußland).
Die Untersuchungen Lapinskys führen zu dem Schlüsse, daß
das Gesetz Bastians von den schlaffen Paralysen bei totaler
Durchtrennung des Rückenmarkes beim Menschen den bestehen¬
den physiologischen Ansichten nicht Aviderspricht. Unbewiesen
ist, daß in solchen Fällen von schlaffer Paralyse die Reflex¬
bögen der paralysierten Körperteile vollständig normal seien.
Der reflexanregende Einfluß des Kleinhirns ist bisher noch nicht
bewiesen. Daher ist auch die Behauptung nicht gerechtfertigt,
rlaß das Verlöschen der Reflexe im paralysierten Körperteil bei
totaler Durchtrennung des Rückenmarkes dem Verluste des j eflex-
anregenden Einflusses des Kleinhirns zuzuschi’eiben ist. Viele
Fälle von schlaffer Paralyse finden in einer organischen Affektion
der Bestandteile der Reflexbögen ihre eigentliche Ursache, in
manchen Fällen muß das Fehlen der Reflexe bei totaler Durch¬
trennung <les Rückenmarkes durch dynamische Ursachen erklärt
werden. Die Besonderheit hochliegender Durchtrennungen des
Rückenmarkes, von einer Depression <ler Reflexe gefolgt zu
werden, erklärt sich dadurch, daß die einzelnen im Erregungs¬
zustand hefindlichen Etagen des Rückenmarkes die Funktionen
der Zentr('n in den unterhalh liegenden Segmenten hemmen und
dies um so stärker, je größer die Anzahl der höher liegenden,
im Erregungszustand hefindlichen Segmente ist. Je entfernter
ein bestimmtes Beflexzentrum vom gereizten Segment und je
stärker der Beiz ist, desto intensiver ist die Depression des
Reflexzentrums. Bei totalen Durchtrennungen der obeixui Teile
dos Bückenmarkes nun liegen die vei’wundeten Segmente weit
von den Reflexbögen des Lendenmarkes entfernt. Vielleicht liegt
auch darin dei' Grund, daß derartige Traumen von einem se scharf
ausgesprochenen, deprimierenden Effekt gefolgt sind. — (Archiv
für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 42, H. 2.) S.
♦
196. Ueber die Abschälung der Nierenkapsel als
Behandlung d e r E k 1 a m p s i e. Von R. de B o v i s. Die Schwere
der Eklampsie rechtfertigt eine eingreifende Therapie und in diesem
Sinne Avurde Amn Edebohls außer bei Nephritis, auch bei
Eklampsie die Abschäluug der Nierenkapsel empfoblen und aus¬
geführt. Der Verfasser hat das Verfahren bei einer 19jährigen
Patientin durchgeführt, Avelche schon während der Gravidität Al¬
bumen im Harn aufAvies und bei der sich vier Stunden nach der
Entbindung der erste eklamplische Anfall einstellte, nach Avelcbem
in rascher Folge weitei’o Anfälle auftraten. Da trotz Chloral-
klysmen, soAvie Cblorofonn- und Sauerstoffeinatmung Bewußt¬
losigkeit auftrat, Avurde rech'tsseitig die Abschälung einer Nieren¬
kapsel vorgenornmen. Die Blutung beim Eingriff Avar minimal,
die Kapsel ließ sich leicht ablösen und es Avurde eine ausgedehnte
Ekchymose in der Niere konstatiert. Die Niere Avurde reponiert,
die MTiiide Amrschlossen und ein kleines Drain eingelegt. Bald
nach der Operation erwachte die Patientin aus der Bewußitlosigkeit
und es stellte sich eine beträchtliche Zunahme der Harnsekretion
ein. Ueber die SchAvere der post partum auftretenden Eklampsie
sind die Ansichten geteilt, doch spricht die Statistik für die
größere ScliAvere dieser Form. Außer dem mitgeteilten Falle sind
bisher in der Literatur fünf Fälle von DekapSulation der Niere
Avegen Eklampsie mitgeteilt, darunter ein Fall, avo auch auf einer
Seite nephrotoniiert Avurde. Unter diesen Fällen is,t nur ein un¬
günstiger Ausgang durch Lungenödem zu verzeichnen. Da die
Mortalität der Eklampsie mit 20Vo berechnet Avird, kann aus der
vorliegenden Statistik kein sicherer Schluß zugunsten der Operation
gezogen AA^erden. Es ist aber zu berücksichtigen, daß vorwiegend
sehr sclnvere Fälle, darunter solche mit Urämie, Amaurose und
Anurie zur Operation kamen, so daß Erfolge der Operalion
höher eingeschätzt Averden inüssen. Allerdings Avird der Wert
der Operation dadurch eingeschränkt, daß bei ,der Eklampsie nicht
die Niere das einzige erkrankte Organ pst; ebenso läßt sich für
die Wirkung der Nephrolyse eine befriedigende (Erklärung nicht
geben. Der Blutverlust bei der Operation pst so gering, daß
eine AderlaßAAurkung zUr Erklärung nicht herangezogen Averden
kann; ebensoAvenig trifft die Annahme einer .Strangulation der
Niere durch die Kapsel durchaus zu. Aleist dürfte die einseiügie
Nephrolyse bei Eklampsie ausreichen; falls dies .nicht zutrifft,
Aväre die Nephrolyse doppelseitig auszuführen. Nephrotomie ist
nur bei hochgradiger Oligurie oder iVnurie pndiziert. — (Sem.
med. 1907, Nr. 10.) a. e.
*
197. (Aus der Universitätsaugenklinik zu Marlnirg.) Diffe¬
rentia 1 di a g no se z Avis dien reflektorischer und ab¬
soluter Pupi llcnstarre. Von Prof. L. Bach. Die reflekto¬
rische und absolute Starre müssen rücksichtlich ihres diagnosti¬
schen Wertes strenge auseinander gehalten Averden. Denn die
reflektorische Starre ist geradezu pathognomonisch für Tabes oder
Taboparalyse (95%), Avährend der diagnostische Wert der ab¬
soluten Starre ein relativ geringer ist, denn sie kommt aus allen'
möglichen Ursachen vor. Bei Paralyse und Taboparalyse kommt
die absolute Starre auch vor, besonders dann, Av^enn der Paralyse
Gehirnlues^ Amrausging oder neben ihr besteht und in Fällen,
AVO die Differentialdiagnose ZAvischen Hirnlues und Paralyse
scliAvankt, kann das Vorhandensein einer absoluten Starre in
Vei'bindung mit Lähmung des Akkonimodationsmuskels für die Dia¬
gnose Hirnlues verAvertet Averden. Viele Autoren vertreten die
Auffassung, daß die absolute Starre bei der progressiven Paralyse
ein vorgeschritteneres Stadium der reflektorischen Starre dar-
stelliund sprechen dann von einer ,, totalen reflektorischen Starre“.
Nach dem Verfasser fehlt jeder BeAveis, daß der absoluten Starre
eine reflektoiiscbe vorausging, aber selbst Avenn dies der Fall
Avar, beAveist das Hinzutreten der absoluten Starre nicht Gleich¬
artigkeit dei’ Ursache und Lokalisalion beider Störungen. Ver¬
fasser hält es daher für notAArendig, beide Pupillenanomalien
streng auseinander zu ballen. Denn AA'eder dje anatomischen Be¬
funde und experimentellen Ergebnisse, noch die klinischen Be¬
obachtungen stützen die Verschmelzung der reflektorischen mit
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
453
der absoluten Starre. Das typische Bild der reflektorischen Starre
— Erloschensein der direkten und indirekten Lichtreaktion,
Miosis, Fortbestehen einer prompten und ausgiehigen Konvergenz¬
reaktion — kann viele Jahre unverändert bestehen. Es ist niclit
die Regel, daß an Stelle der reflektorischen Starre schließlich
eine absolute Starre — Erloschensein sämtlicher Reaktionen der
Pupille bei meist bestehender Erweiterung der Pupille — tritt.
Es kommt vor, daß zu einer doppelseitigen, reflektorischen Starre
sich eine ein- oder doppelseitige Lähmung aller äußeren und
inneren Augenmuskeln gesellt, welche nach einiger Zeit sich
wieder zurückbildet, während die reflektorische Starre fortbesteht.
Ebenso kann umgekehrt zu einer Ophthalmoplegia externa totalis
oder partialis eine reflektorische Starre hinzutreten. Nach des
Verfassers Erfahrungen kommt es nicht so selten vor, daß eine
absolute Starre sich zurückbildet und früher oder später eine
reflektorische Starre auftritt. Sehr häufig wird eine im Rückgang
begriffene absolute Starre mit der reflektorischen verwechselt.
Es tritt nämlich dabei ein Stadium ein, das der reflektorischen
Starre oft ganz gleicht. Die Differentialdiagnose kann da die
größten Schwierigkeiten bereiten. Sie wird ermöglicht, wenn man
den Fall einige Zeit beobachten kann, da bei der zurückgehenden
absoluten Starre allmählich auch die Liclitreaktion wiederkehrt
und die Konvergenzreaktion normal wird, während ein Wieder¬
auftreten der Lichtreaktion bei der reflektorischen Starre zu den
allergrößten Seltenheiten gehört. — (Münchener medizinische
Wochenschrift 1907, Nr. 8.) G. •
*
198. (Aus dem städtischen Krankenhaus zu Nowerossijk.)
Zur Frage der Hämophilie. Von W. \V. Lesin. Nach Ver¬
fasser besteht das Wesen der Hämophilie nicht in einer leichten
Lädierbarkeit. der Gefäße, sondern in einer abgeschwächten Ge¬
rinnbarkeit des Blutes. Hämophiliker können jahrelang als voll¬
kommen gesund gelten, bis dann eines Tages gelegentlich eines
Traumas, ein schwer stillbarer Blutaustritt aus den Gefäßen kon¬
statiert wird. Das Trauma spielt hierbei scheinbar die Rolle
einer auslösenden Ursache. Verf. führt zur Illustration zwei Fälle
aus seiner Praxis an. In dem einen handelte es sich um einen
gesunden, sehr kräftigen Sicherheitswachmann, bei dem sich nach
einem Dolchstich die Symptome von fast unstillbaren, sich inuner
vmn neuem wiederholenden Blutungen entwickelten, die nach
einer zweiwöchentlichen, von Zeiten fast vollkommenen W^ohl-
befindens unterbrochenen, Krankheitsperiode zum Tode führten.
Der zweite Fäll genas nach einer Krankheitsdauer von fast drei
Monaten. Es handelte sich um einen jungen gesunden Mann
mit einer Stichwunde. Die Blutungen kehrten trotz sorgfältigster
Behandlung immer wieder. Das Bild wurde um so bedrohlicher,
als der Kranke bald anfing, alle Nahrung zu erbrechen, so daß
er in einen Zustand äußerster Inanition geriet. Erst die Dar¬
reichung von eisgekühlter Milch brachte, da dieselbe vertragen
wurde, eine Wiederherstellung des Ernährungszustandes uml
damit die Heilung herbei. Einen charakterislischen Befund ])ietet
die Wundheilung: bei den Hämophilen, indem die Granulationen
leicht bluten und die Tendenz zeigen, schmierig zu zerfallen.
Dieser Zerfall kann so weit gehen, ,daß ganze Muskelstücke ne¬
krotisch zerfallen. Ein solches Verhalten beobachtete Verfasser
im zweiten von ihm beschriebenen Fälle, wo nach der Genesung
eine beträchtliche Narbenkontraktur des Bizeps zurückblieb. Ver¬
fasser kommt zu dem Schlüsse, daß das Blut des Hämophilen
wieder spontan seine Gerinnbarkeit zurückgewinnen kann, daß
wir jedoch derzeit der Erscheinung der Hämophilie machtlos
gegenüberstehen. Selbst die Unterbindung großer Gefäßstämme
kann wirkungslos bleiben (König, Lesin). Die Machtlosigkeit
der therapeutischen Maßnahmen kann manchmal Veraidassung
dazu bieten, daß dem Arzte der Vorwurf mangelnder Sorgfalt
oder Sachkenntnis gemacht wird.) — (Russkij Wratsch 1906,
Nr. 52.) J. Sch.
Therapeutisehe ]^otizen.
Zur internen Behandlung der Akne. Von Dr. Josef
Kapp in Berlin. Es sind hauptsächlich intestinale Vorgänge,
welche die Disposilion zu (Akne schaffen. Daneben spielen viel¬
leicht auch andere, in der Pubertätsperiode so häufige patholo¬
gische Zustände, wie Chlorose, bzw. Anämie, eine Rolle.
Eine schlecht durchhlutete, mangelhaft ernährte Haut setzt einer
Einnislung von Bakterien (Unnas Aknebazillus oder gewölm-
licher Eitererreger oder Misebinfektion) sicherlich weniger Wider¬
stand entgegen als eine normale, von gesunden Säften durch¬
strömte Haut. Für die Wahrscbeiidichkcit der intestinalen Ur¬
sache sprechen die Untersuchungen Kapps. Er fand nämlich
bei 33 juvenilen Aknekranken 33mal den Gehalt des Harnes
an Indigoschwefelsäurc, 31mäl an Phenolkresol, sowie 30mal an
aromatischen Oxysäuren deutlich vermehrt und auch der Indikan-
gehalt des Harnes- erwies sich in allen Fällen deutlich erhöht.
All dies spricht dafür, daß in diesen Fällen in der überwiegenden
Mehrzahl (fast 95 "/o) eine erhöhte Eiweißfäulnis im* Darme vor¬
lag. Gerade in den Pubertätsjahren ist Trägheit der Peristaltik
häufig anzu treffen. Die Therapie hewegte sich also in der Rich¬
tung, eine antifermentative und die Darmtätigkeit leicht beschleimi-
gende Medikation einzuleiten. Er gab also sublimierten Scliw-efel
und Menthol in Kombination u. zw. 1 g Sulfur, praecipit. und
0-25 g Menthol zwei- bis dreimal täglich. Er ließ auch ,, Akne-
Dragees“ von dieser Zusammensetzung in angenehmer Form dar¬
reichen. Der Erfolg war ein günstiger. Alle Formen der Akne
(Akne simplex, pustulosa, indurata) wurden nach drei bis vier
Monaten Avesentlich gebessert, in mehreren Fällen vollkommen
geheilt. Breiige Stuhlentleerungen, Abnahme der Phenolausschei¬
dung etc. Daneben wurde eine Lokaltberapie eingeleitet: Inzision,
Applikation von Quecksilberkarbol-Pflastermull, Waschen mit For¬
malinseifenspiritus zur Verhütung der Infektion benachbarter Fol¬
likel. Trotz der günstigen therapeutischen Erfolge verhehlt sich
Kapp nicht, daß er damit den Beweis für den Zusammenhang
zwischen Darmfäulnis und Talgdiüsen-, resp. Follikelentzündung
noch nicht ganz erbracht hat. — (Therapeutische Monatshefte,
iMärz 1907.) E. F.
V^ermisehte Kaehriehten.
Ernannt: Oberbezirksarzt Dr. Johann Fortwaengler
zum Landessanitätsinspektor und Bezirksarzt Dr. Ernst Offner
zum Oberbezirksarzt in Schlesien. — Dr. Biondi zum a. o.
Professor der gerichtlichen Medizin in Cagliari. — Dr. Melle
zum ordentlichen Professor für Dermatologie und Syphilis in
Messina. — Dr. Tedeschi zum ordentlichen l^rofessor der
Kinderheilkunde in Padua.
*
Verliehen: Dem praktischen Arzte Dr. Kajetan Freiherrn
V. Hör och in Wien das Ritterkreuz des Franz- Joseph-Ordens.
— Dem Oberbezirksarzt, kais. Rat Dr. Heinrich Husserl in
Jägemdorf das Ritterkreuz des Franz- Joseph-Ordens und dem
Bezirksarzt Dr. Alexander v. Rositzky in Troppau das Goldene
Verdienstkreuz mit der Krone. — • Dem Primarius der chirurgischen
Abteilung am Franz- Joseph-Bürgerspital in Hermannsladt, Doktor
Wilhelm Otto, der Titel eines kgl. Rates.
*
Hahilitiert: Dr. Frontini für Kinderheilkunde in Bo¬
logna. — Dr. Lucibelli für innere jMedizin in Neapel. —
ln Pavia Dr. Cal a und Dr. Rossi für Neurologie und Psy¬
chiatrie. — Dr. Frassi in Pisa für Hygiene.
*
Gestorben: Dei‘ Privatdozent für Geburlshilfe und Frauen¬
heilkunde Dr. Glöckner in Leipzig. — Der ehemalige Professoi“
der operativen Medizin in Toulouse Dr. Labeda.
*
In der am 20. März 1907 abgehaltenen Generalver¬
sammlung des Wiener medizinischen Doktoren¬
kollegiums wurden gewählt: Zum Präsidenten auf ein Jahr:
Dr. Josef Heim; zu Vizepräsidenten auf ein Jahr: die Doktoren
Reg.-Rat Wilhelm Svetlin und Anton Khautz v. Eu Inn¬
thal sen.; zu Mitgliedern des Geschäftsrates auf drei Jahre:
die DDr. Moritz Bauer, Anton Bum, Ludwig Klein, Max Kn er,
Josef Krips, kais. Rat Alexander Lerch, Direktor Thomas
V. Resell, Adolf Zemann; zum Mitglied des Geschäftsrates auf
zwei Jahre: Dr. Ludwig Sk or sc he ban; auf ein Jahr: Doktor
Adolf Klein.
*
Unter dem Vorsitz der Proff. Dr. E. v. Leyden, Dr. Be eli¬
te reff- St. Petersburg und Dr. Hildebrand -Berlin hat sich
eine Russisch-Deutsche JMedizinische Gesellschaft
zu Berlin konstituiert. Die neue medizinische Gesellschaft, die
einen internationalen Charakter trägt, bezweckt die Förderung
der wissenschaftlichen und kollegialen Beziehungen und einer
innigeren Verbrüderung zwischen den russischen und deutschen
Aerzten. Diesem Zwecke sollen persönliche Zusammenkünfte, so-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
’t
wie Wanderversamniliiiigen dienen. Die Mitgliederzahl der Ge¬
sellschaft helrägt bereits inehrei'e Hundert und es gehören ihr
Aerzte (hn- drei großen Nachharreiche Deutschland, Rußland und
Oesterreich an.
*
Die diesjährige W a n d e r ve r s a in in 1 u n g der süd west¬
deutschen Neurologen und Irrenärzte wird am 1. und
2. Juni in Baden-Baden statlfinden.
♦
L e h r h u ch der P s y c h i a t r i e, bearbeitet von A. C r a in e r,
A. Boche, A. Westphal, R. Wollenherg und den lleraus-
geliern 0. Binswanger und E. Sienierling. Das Lehr-
hiich, welches in Nr. 34, 1904, dieser Wochenschrift eine aus¬
führliche Besprechung erfahren hat, ist in zweiter Auflage im
Vmlage von G. Fischer in Jena erschienen. Sie hat, abgesehen
von mannigfachen Verhesserungen, einen Abschnitt über foren¬
sische Psychiatrie neu angefügt erhalten. Preis Mk. 0-50.
*
Vorläufiges Ergebnis der S a n i t ä t s s t a t i s t i k hei
d e r M a n n s c h a f t d e s k. u. k. Heeres i m .1 a n u a r 1907.
Krankenzugang 25.461 Mann, entsprecliend der durchschnilllichen
Kopfstärke 927üo; an Heilanstalten abgegeben 11.837 Mann, ent¬
sprechend der durchschnittlichen Kopfstärke 42°/oo; Todesfälle
27 Mann, entsprechend der durchschnittlichen Kopfstärke OlOVoo.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
prweiterten G e m e i n d e g e b i e t. 11. Jahreswoche (vom 10. bis
16. März 1907). Lebend geboren, ehelich 658, unehelich 302, zu¬
sammen 960. Tot geboren ehelich 69, unehelich 28, zusammen 97.
Gesamtzahl der Todesfälle 798 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 2P2 Todesfälle), an Bauchtyphus 0,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 12, Scharlach 7, Keuchhusten 0,
Diphtherie und Krupp 12, Influenza 1, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 7,
Lungentuberkulose 140, bösartige Neubildungen 46, Wochenbett¬
fieber 3. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 34 ( — 5), Wochen¬
bettfieber 3 ( — 5), Blattern 0 (0), Varizellen 68 (— 1), Masern 409
(-)- 108), Scharlach 89 ( — 4), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 1 ( — 3),
Ruhr 0 ( — 1), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 106 (-f- 10), Keuch¬
husten 32 ( — 5), Trachom 2 (-j- 2), Influenza 0 ( — 6).
Freie Stellen.
Mehrere Sekundararztesstellen in der öffentlichen all'
gemeinen Landeskrankenanstalt in Czernowitz (Bukowina) mit dem
Bezüge jährlicher K 1440 und dem Naturalquartier in der Anstalt nebst
Beleuchtung, Beheizung und Verpflegung nach der ersten Klasse aus der
Anstaltsküche. Die Dienstzeit der Sekundarärzte ist auf zwei Jahre be¬
stimmt und kann vom Landesausschusse von je zwei zu zwei Jahren
bis zu sechs Jahren verlängert werden. Kompetenten um diese Stelle
haben nachzuweisen: a) die österreichische Staatsbürgerschaft; b) das
nicht vollendete 40. Lebensjahr; c) den Besitz des Grades eines Doktors
der gesamten Heilkunde und die bisherige praktische Verwendung und
d) die Kenntnis der deutschen und mindestens einer der Landessprachen
(rumänisch oder ruthenisch). Die gehörig instruierten Kompetenzgesucho
sind beim Bukowinaer Landesausschusse, u. zw. von Bewerbern, die
sich bereits in dienstlicher Stelle befinden, im Woge ihrer Vorgesetzten
Dienstbehörde, bis zum 25. April d. J. zu überreichen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Eiben-
schitz (Israelitongemeinde) Padochau (Mähren), umfassend die Ge¬
meinden Eibenschitz (Israelitengemeinde) mit 583, Alexowitz mit 227
und Padochau mit 640 Einwohnern. Silz des Arztes ist Eibenschitz. Die
Bezüge betragen K 412-82 an Gehalt und K 100 Fahrpauschale. Bewerber
um diese Stelle haben ihre im Sinne des Gesetzes vom 10. Februar 1881,
L.-G. u. V.-Bl. Nr. 28, instruierten Gesuche bis zum 14. Mai d. J. an
den Obmann der Sanitäts-Delegiertenversammlung, Herrn Eduard
P 0 w 0 1 n y, Bürgermeister in Padochau, einzubringen.
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 28. Februar 1907
(siehe Nr. 9 der Wiener klinischen Wochenschrift 1907)
für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
in Empfang genommen. Nr. 1.
Geschenke.
Itlascliko A., Syphilis und Prostitution. Berlin 1893. 8”. Von Herrn
Prof. V. Z e i s s 1.
Blocher Eugen, Lebensdauer und Alkohol nach der Statistik von
Isambard Owen. Basel 1906. 8“. Von der Redaktion der Wiener
klinischen Wochenschrift.
Hammarsteii 0., Lehrbuch der physiologischen Chemie. Fünfte völlig
umgearbeitete Auflage. Wiesbaden 1904. 8“. Von Herrn Doktor
R. Türkei.
Herzfeld Karl August, Praktische Geburtshilfe. Zweite verbesserte Auf¬
lage. Leipzig und Wien 1907. 8®. Vom Autor.
Herz Max, Heilgymnastik. Stuttgart 1907. 8®. Von der Wiener klinischen
Wochenschrift.
Miudes J. Manuale der neueren Arzneimittel. Fünfte neubearbeitete
Auflage. Leipzig und Wien 1907. 8®. Von der Wiener klinischen
Wochenschrift.
Politzer Adam, Geschichte der Ohrenheilkunde. Stuttgart 1907. 8®. Vom
Autor.
Verhandlungen des Kongresses für innere Medizin. 23. Kongreß,
München 1906. Wiesbaden 1906. 8®. Im Aufträge des Kongresses
von der Verlagshandlung J. F. B e r g m a n n.
XV. Congres international de Medecine, Lisbonne 19.— 26. Avril
1906. Lisbonne 1906—1907. Section: Physiologie,
Pathologie generale et Bacteriologie, Medecine,
Pediatrie, Dermatologie et Syphiligraphie,
Chirurgie. Von Herrn Dr. Oskar v. H o v o r k a.
*
Geschenke und Ergänzungen von Herrn Dr. Hans Salzer
aus dem Nachlasse weil. Prof. Fr. Salzer.
Ohernethy John, Surgical and physiological Essays. London 1793 bis 1797.
8®. 2 Vol.
Amann J., Zur mechanischen Behandlung der Versionen und Flexionen
des Uterus. Erlangen 1874. 8®.
Bantock G. G., On the treatment of rupture of the female perineum.
London 1878. 8®.
Boner Carl, Topographische Anatomie der Leistengegend. J. D. Wien
1844. 8®.
Bryaulh Th., Hunterian Lectures on tension, as met with in surgical
practice. Inflammation of bone and on cranial and intracranial
injuries. London 1888. 8®.
Curling T. B., Die Krankheiten des Mastdarmes. Erlangen 1853. 8®.
Esmarch, Verbandplatz und Feldlazaret. Berlin 1868. 8®.
Fresenius C. B., Anleitung zur qualitativen chemischen Analyse. Fünfte
Auflage. Braunschweig 1847. 8®.
Groß S. 1)., Memorial Oration in honor of Euphraim McDowell »The
Father of Ovariotomy«.
Hartinauu H., Ueber die Aetiologie von Erisypel und Puerperalfieber.
München. (Preisschrift.)
Harlmaun F. X., Primarum linearum institutionum botanicarum claris-
simi viri Crantzii. Editio altera continens characterislica omnium
classium icones, additamenla novarum generum et specierum in
necessarium institutionum reiherbariae supplementum. Lipsiae
1767. 8®.
Hilton John, On the influence of mechanical and physiological rest.
London 1863. 8®.
Hewitt F., Select methods in the administrations of nitrons oxide and
ether. London 1888. 8®.
Magendle JT, Vorlesungen über organische Physik. Deutsch bearbeitet
unter Red. des Dr. F. J. B e h r e n d. Leipzig 1836. 8®.
Mayer J. C. A-, Beschreibung des ganzen menschlichen Körpers. Berlin
und Leipzig 1788 bis 1794. 8®. Bd. 5 bis 8.
Middeldorpf A. Tli., Die Galvanokaustik. Breslau 1854. 8®.
Müller H., Ueber die Entwicklung der Knochensubstanz. Leipzig 1858. 8®.
Pereira Jou., Vorlesungen über Maler,ia medica. Deutsch bearbeitet von
Dr. F. J. B e h r e n d. Leipzig 1838 bis 1839. 8®. 2 Vol.
Scliimko Joh. G., Die homöopathische Heilmethode in mathematisch
und chemisch-geologischer Hinsicht betrachtet und widerlegt. Zweite
vermehrte Auflage. Teschen 1829. 8®.
Scott John, Chirurgische Beobachtungen über die Behandlung von
chronischer Entzündung in verschiedenen Gebilden. Aus dem
Englischen. Weimar 1829. 8®.
Wilde W. R., Praktische Bemerkungen über Ohrenheilkunde. Aus dem
Englischen von Dr. E. v. Haselberg. Göttingen 1855. 8”.
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie. Herausgegeben von
C. Schröder, L. Mayer und H. F a s b e n d e r. Stuttgart 1877
bis 1878. Bd. 2 und 3.
The American Journal of the meilical sciences. New series, Vol. 60.
Philadelphia 1870. 8®.
Wochenblatt der k. k. Gesellschaft der Aerzle in Wien. Jahrgang
1861 und 1862.
Von Herrn Prof. Dr. L Unger.
Der Neubau des Jennerschen Kinderspitales in Bern. Vierund¬
dreißigster medizinischer Spitalbericht über die Jahre 1901, 1902
und 1903. Von Prof. Dr. M. S t o o ß. Bern 1904. 8®.
Kinderspital in Basel. Jahresbericht, erstattet von Prof. E. Hagen-
bach-Burckhardt. Jahrgang 41, 42 und 43 (1903 bis 1905).
Basel 1904 bis 1906. 8®.
Angekauft wurden:
Jahresbericht über die Ergebnisse der Innnnnitätsforschung. Heraus¬
gegeben von W e i c h a r d. Stuttgart 1906-ff.
Biophysikalisches Zentr.alblatt. Vollständiges Sammelorgan für Biologie,
Physiologie und Pathologie. Herausgegeben von Dr. Karl Oppen¬
heimer und Priv.-Doz. Dr. L. Michaelis. Berlin 1907-ff.
Nr. 15
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
455
Verhandlangen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
IN HALT:
80. Kongreß der deutschen Gesellsch.aft für Chirurgie zu Berlin.
1. Sitzungstag 3. April 1907.
Medizinischer Verein in Greifswald. Sitzung vom 12. Januar und
2. Februar 1907.
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin.
Referent : Dr. Max Litt li a u e r.
1. Sitzungstag 3. April 1907.
Unter sehr großer Beteiligung der Chirurgen Deutschlands
wurde der Kongreß durch den derzeitigen Vorsitzenden Herrn
Riedel-.lena eröffnet.
Die Eröffnungsrede des Vorsitzenden begann mit einem tief¬
empfundenen Nachruf auf Ernst v. Bergmann, das Ehren-
milglied der Gesellschaft, indem er noch einmal die Bedeutung!
V. Bergmanns hervorhob und insbesondere seine Verdienste
um die deutsche Gesellschaft für Chirurgie rühmte.
Er gab dann ein kurzes Resümee der ICi’ankengeschichte
V. Bergmanns und erwähnte, daß die Sektion eine Pankreas¬
nekrose aufgedeckt habe und zugleich eine Verwachsung und
Abknickung an der Flexura coli lienalis. v. Bergmann wurde
zweimal, beide Male durch Schlau ge -Hannover, operiert, er¬
lag aber der Peritonitis.
Auch der übrigen Toten wurde in ehrenden Worten gedacht.
Dann gab der Präsident der Versammlung Kenntnis davon, daßi an
.Tosef Lister zu seinem bevorstehenden 80. Geburtstag eine
Tabula gratulatoria ahgesandt worden sei, deren Text Herr Körte
verfaßt habe. Dann erstattete Herr Fischer den Bihliotheksbericht.
Hienach wurde in die Tagesordnung eingetreten. Die Reihe der
Vorträge eröffnete
Re hn- Frankfurt a. M. : Die Chirurgie des Herzens,
respektive des Herzbeutels. i
Er wies zunächst darauf hin, daß. er vor zehn .fahren zu¬
erst auf dem Kongreß über einen Fall von Herznaht berichtet
hätte. Damals hatte es sich um einen Einzelfall gehandelt; jetzt
sei es Gemeingut der Chirurgen, daß Herzverletzungen opera¬
tiv anzugreifen seien, daß wenigstens der Versuch gemacht werden
müßte, den Verletzten zu retten. Wenn hingegen das Verlang('n
gestellt würde, daß jeder praktische Arzt ebensogut wie er eine
eingeklemmte Hernie operieren müsse, auch die Herzwunden
nähen müsse, so sollte dagegen unbedingt Einspruch erhoben
werden. Das könne von den Praktikern nicht verlangt werden,
dazu seien die Operationen zu groß.
Die Erfahrung habe dann gelehrt, daß es zwar durchaus
nicht gelänge, alle Fälle von Herzverletzungen zu retten, daß
mancher Kranke selbst während der Operation an tier Verhlntimg
starb; daß aber die eigentlichen chirurgischen Manipulationen,
die mit dem Herzen vorgenommen worden seien, keinen Herz¬
stillstand herheigeführt hatten. Auch physiologische Untersuchun¬
gen haben dargetan, daß das Herz nicht so empfindlich gegen
Eingriffe sei, wie man .a priori hätte vermuten müssen.
Die Diagnose der Herzverletzung sei nicht immer leicht.
Die äußere Inspektion führe nicht viel weiter. Wohl aber kann
die Röntgenuntersuchung Aufklämngen bringen. Im übrigen müsse
man die Lage der Wunde berücksichtigen, den fast immer vor¬
handenen Shock, das Zeichen der inneren Blutung; eventuell
kann man durch eine vorsichtig eingeführte Sonde ergründen,
oh die Wunde in der Richtung nach dem Herzen sich in die
Tiefe fortsetzt. Endlich sei durch die Perkussion festzustellen,
oh der Herzbeutel mit Blut gefüllt sei. Die Füllung des Peri¬
kards mit Blut habe auch noch eine weitere, sehr wesentlicho
Bedeutung. Das- Perikard kann nämlich eine gewisse Menge von
Blut — ca. 200 cm'^ — aufnehmen, ohne daß schädliche Wirkungen
auf das Herz aiiflreten. Darüber hinaus vermag das Perikard sich
nicht zu dehnen, es tritt dann ein Druck auf das Herz — „Herz¬
druck“ — ein. Dadurch ermüde das Herz und schließlich stehe
das Herz still; der Herzstillstand erfolgt durch die sogenannte
Herztamponade Rosers. Die subjektiven Klagen der Kranken
beziehen sich auf Atemnot, ein Gefühl von Oppression, Schwäche.
Auch treten gelegentlich Schmerzen im Leibe auf.
Befinden sich im Herzen Fremdkörper, Messerklingen, Nadeln
und so weiter, so solle man womöglich das Herz erst freilegeti
und dann die Fremdkörper entfernen, da die Fremdkörper als
Tampons wirkten und die Wunde verstopften; nach ihrer Ent¬
fernung fange es erst recht an zu bluten, deswegen sei es zweck¬
mäßig, das Herz freigelegt zu haben. Bei der Frage der opera¬
tiven Behandlung müsse man auch berücksichtigen, daß auch
spontane Heilungen Vorkommen. Doch kommen auf solche Spon¬
tanheilungen häufiger sekundäre Todesfälle durch Nachgeben der
Narbe vor. Freilich seien solche Spättodesfälle auch nach Opera¬
tionen beobachtet worden. Doch kämen die Todesfälle viel sel¬
tener vor und wenn sie vorgekommen wären, so seien sie durch
ein unzweckmäßiges Nahtmaterial verschuldet gewesen.
Was nun den Eingriff selbst anbelangt, so sei als erste
Regel festzuhalten, daß das Herz auf möglichst schonende Weise
freizulegen sei. Deswegen wäre yes durchaus falsch, zu fordern,
daß für alle Fälle eine bestimmte Methode der Schnittführung
anzuwenden sei. Vielmehr müsse durchaus individualisiert werden
und in der Regel werde mau von der vorhandenen Wunde aus
die Operation beginnen und den Schnitt je nach der Lage des
Falles größer oder kleiner gestalten. Ueher das Verhalten der
Pleura gegenüber bestehen noch keine einheitlichen Anschauungen;
Reim ist der Meinung, daß die Pleura, wenn möglich, zu schonen
sei. Von großer WTchtigkeit sei die Tamponade des Perikards,
von der man fordern müsse, daß sie am tiefsten Punkt heraus¬
geleitet werde.
Wenn man berücksichtige, daß 44 aller Todesfälle nach opera¬
tiver Behandlung der Herzverletzungen durch die Blutung be¬
dingt seien, so leuchte es ein, daß blutsparendes Operieren von
der größten Bedeutung sei. Wie solle das aber beim Herzen
ausgeführt werden ? Da kämen uns die Erfahrungen mit den Tier¬
experimenten zu Hilfe. Solche Experimente Gottliebs hatten
nämlich gezeigt, daß eine völlige Kompres'sion des rechten Vor¬
hofes von dem Tierherzen ca. IV2 Minuten ertragen wurde, eine
unvollkornmene zirka vier Minuten. Gottlieb glaubt, daß auch
ein menschliches Herz eine solche Kompression und die da¬
durch bedingte Absperrung des Blutes vom! Herzen eine Zeitlang
ertragen könnte. Reim rät daher, bei den Operationen zunächst
die Cava inferior zu komprimieren, eventuell auch weiter hinauf
Cava superior und Vorhof zu komprimieren. In der Zeit, wo
durch die Kompi'ession die Blutung geringer würde, müsse die
Naht angelegt werden. Was die Technik derselben anbelangt,
so sei Catgut als Nahtmaterial zu verwerfen, da es zu leicht nach¬
gebe; man solle mit feiner Seide und drehrunden Nadeln nähen
u. zw. mit Knopf naht.
Was nun die Resultate der Operationen anbelangt, so sind
im ganzen 124 Fälle operiert worden. Von diesen sind 40Co
geheilt worden, 60°/o sind gestorben.
lOOmal habe es sich um Stichverletzungen gehandelt, in
den übrigen Fällen um Schußverletzungen. Die Prognose beider
Arten sei ungefähr gleich. Die Verletzungen der linken Ventrikel
geben bessere Resultate als die der rechten.
Ueber die Nachbehandlung sei zu bemerken, daß diejenigen
Fälle, bei denen Perikard und Pleura offen behandelt worden
seien, die meisten Heilungen aufzuweisen hatten; fast ebensogut
waren die Residtate, wenn Perikard und Pleura vollkommen ge¬
schlossen wurden; am schlechtesten waren die Erfolge beim
Schlüsse des Perikards und Offenlassen der Pleura.
Von den Gestorbenen seien i44Co der Blutung, 48Co intek-
t lösen Prozessen erlegen.
Sauerbruch-Greifswahl: Die Verwendbarkeit des
U n t e r d r u c k v e r f a h r e n s bei tl e r H e r z c h i r u r g i e.
Da bei ca. 80“/« der Herzwunden die Pleura unverletzt
sei, so wäre es von größter Bedeutung, zu wissen, ob die Er¬
öffnung der Pleurahöhle den .Verlauf der Herzverletzung irgend¬
wie beeinflußt. Deswegen habe er sich an die experimentelle
Lösung der Frage gemacht. Er habe einer großen Reihe von
Tieren Herzwunden beigebracht und gleichzeitig bei den Tieren
eineji Pneumothorax erzeugt. Dann wurde untersucht, ob die
Anwendung des Unterdruckverfabrens einen 'EinfhdJi ausübt. Es
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 15
hat sicii nun gezeigt, daß die Blutungen aus Herzwunden, in
welchem Herzabschnitt sie auch gelegen sein möchten, erheblich
nachlassen, sowie der Pneumothorax liinzutritt. Anderseits bemerkt
man, wenn durch Unterdrück eine Aufblähung der Lunge her¬
vorgerufen wird, daß dann diese Aufblähung eineu mächtigen Reiz
auf das Herz ausübt. Beim Fortbestehen des Pneumothorax da-
gCigen läßt die Herzkraft allmählich nach. Es wurden nun Ver¬
suche angestellt, um festzustellen, bei welchem Grade von Unter¬
drück in der Pleura die Blutung aus den Herz wunden sich iu
mäßigen Grenzen hält und zugleich die geringste Schädigung
des Herzmuskels erfolgt. Es zeigte sich, daß das Optimum nachl
beiden Richtungen bei einem Unterdmck von 3 mm Quecksilber
liegt. Bei diesem Unterdrück ist auch die Herzmuskulatur schlaff
und die Anlegung der Naht gelingt leichter, als wenn die Lunge
voll aufgebläht ist. Später läßt man dann einen stärkeren Grad
von Unterdrück wirken und idie Herzkraft erhält dadurch einen
mächtigen Impuls.
Der Pneumothorax könne auch noch andere Folgen haben,
nämlich die Infektion der Pleurahöhle. Die Experimente haben
Sauerbruch nun gelehrt, daß bei dem Arbeiten unter Unter¬
drück die Infektionsgefahr vermindert sei.
Endlich könne er bestätigen, daß, die Kompression der Cavae
einen eklatanten Erfolg auf die Blutung habe, die sehr wesen't-
lich durch dieses Manöver verringert würde. Die Tiere hatten
eine solche Kompression bis zehn Älinuten vertragen.
(Fortsetzung folgt.)
Medizinischer Verein in Greifswald.
Sitzung vom 12. Januar 1907.
Vorsitzender; Bleib treu.
Schriftführer : J u n g.
Haecker berichtet über einen Fall von Fremdkörper
im Oesophagus. Es war ein Gebiß mit zwei Zähnen verschluckt
worden und steckte im ganzen vier Monate im Oesophagus, mit
langsam zunehmenden Schluckheschwerden. In der Höhe der
Kreuzung des Oesophagus und des linken Bronchus war bereits
Perforation und Kommunikation mit dem Bronchus eingetreten.
Extraktion mit Oesophagoskop gelang nicht, es wurde deshalb
Oesophagotomia externa zur Heilung der Bronchialfistel und
Gastrostomie ausgeführt, worauf erstere rasch heilte. Baldige
IN' i e derhe rs tel 1 un g .
Diskussion: Friedrich gibt im Anschluß an diese
Demonstration einen Ueberhlick über Oesophago-Trachealfisteln,
erklärt den Nutzen der direkten Ernährung durch Magenfistel
und zieht zum Vergleiche andere in Heilung ausgegangene Beob¬
achtungen der Greifswalder Klinik heran.
Peter zeigt isolierte Harnkanälchen von Mensch
und Vlaus, teils vollständig, teils auf große Strecken hin erhalten.
Die Präparate zeigen Form und Verlauf der einzelnen Abteilungen,
insbesondere, daß entgegen den Angaben von Stoerk, der dünne
Schenkel der Henl eschen Schleife der absteigende, der dicke
der aufsteigende ist, wie frühere Beobachter beschrieben haben.
Friedrich zeigt: 1. Mehrere Fälle von schweren Stück-
b r ii c h V e r 1 e t z u n g e n an den Gelenken der oberen Ex¬
tremität und erörtert die Indikationen für blutiges Vorgehen,
für Knochennaht und operative Nearthrosenbildung.
2. Schildert Friedrich sein Vorgehen bei ausgedehnter
Osteoplastik mit totem Knochen bei großen Operations-,
Diaphysen- und Symphysendefekten, wie sie bei Entfernung von Tu¬
moren entstehen. Er betont den Vorteil dieser „inneren Schienung“
für die bestmögliche Funktionserhaltung der betreffenden Glied¬
maßen und demonstriert an einem Patienten den Nutzen dieser
Methode für die Richtung neuer Knochenbildung von dem zurück¬
gebliebenen Periost aus.
Hoennicke: Demonstration experimentell er¬
zeugter Mißbildungen.
Hoennicke hat auf Grund einer großen Reihe experi¬
menteller Untersuchungen die Ueberzeugung gewonnen, daß die
Rachitis eine auf Insuffizienz der Schilddrüse be¬
ruhende Entwicklungshemmung is t. Er hat dann ver¬
sucht, durch Einverleibung von Giften in schwangere Kaninchen
experimentell solche Hemmungsbildungen zu erzielen. xMs Gift
wurde meist Alkohol gewählt, doch ist jedes andere Eiweißgift
diesem prinzipiell gleich, es kommt nur auf die Schädigung der
Eiweiße an sich, nicht auf das betreffende Gift selbst an.
Hoennicke hat u. a. Mangel der Schneidezähne, Gaumen¬
spalten, Mangel von Zeheft, Stellungsanomalien der Schneide¬
zähne, Agenesie einer Niere, Kolobom der Milz, Cataracta con¬
genita beobachtet. Irgendwelche Anhaltspunkte für ' mecha¬
nische Ursachen dieser Mißbildungen waren nicht aufzufinden.
(Die sehr interessanten Untersuchungen Hoennickes eignen sich
nicht zu einem kurzen Referat.)
Sitzung vom 2. Februar 1907.
Vorsitzender: Dr. Bleib treu.
Schriftführer: Dr. Jung.
V. Voss: Ueher die Hypnose in der allgemeinen
Praxis (mit Demonstrationen). Nach einer kurzen Uebersicht
über die Entwicklung der Hypnose definiert Vortr. diese als
schlaf ähnlichen Zustand verminderten Bewußt¬
seins, in dem die kritiklose Annahme gewisser Vor¬
stellungen erleichtert ist. Es werden die charakteristi¬
schen Symptome an einer Patientin demonstriert. Für die Therapie
kommt nur die oberflächliche Hypnose in Betracht. Als In¬
dikationen sind Schlaflosigkeit, Enuresis, Masturbation, Asthma
nervosum und Alkoholismus hervorzuheben; bei Hysterie da¬
gegen bleiben Erfolge meist aus.
Die Hypnose ist in den Händen des Arztes ungefähr¬
lich und es wäre sehr zu wünschen, 'wenn sie mehr zu Heil¬
zwecken geübt würde, da sie oft Erfolge zeitigt, wo jede andere
Therapie versagt.
Diskussion: Friedrich fragt, ob Vortr. bei hysteri¬
scher Kontraktur mit Hypnose Dauererfolge erzielt habe und
ob dieses einfache Verfahren des Hypnotismus auch bei Enuresis
nocturna dauernd erfolgreich sei. ‘
V. Voss betont, daß die Anwendung der Hypnose l)ei Fällen
schwerer Hysterie und zu diesen seien die Kontrakturen wohl
meist zu rechnen, nicht viel Erfolg verspreche.
Hingegen hat er bei Enuresis nocturna in einigen Fällen
Dauererfolge erzielen können.
Programm
der am
Freitag: den 12. April 1907, 7 IJlir at^endSy
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Professor Chrobak stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Primarius Dr. Moszkowicz ; Ersatz des Glutäus durch Sehnen¬
plastik.
Einen Vortrag hat angemeldet Herr Primarius Dr. Latzko.
Bergmeister, Paltauf.
Um die rechtzeltlgre Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer uocb atii Sltzuugfsabeiid zu übergeben.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der Pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Eschericli Donnerstag den 11. April 1907, um 7 Uhr
abends, statt.
Vorsitz; Dozent Dr. Zappcrt.
Pr ogramm:
1. Demonstrationen angemeldet Dr. R. Neurath : Gleichzeitiges
Vorkommen von Myxödem und Mongoloid.
2. Dr. K. Zuppinger: Zur Therapie der Larynxpapillome im
Kindesalter.
Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 15. April 1907, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Hofrat Prof. Obersteiner stattfindenden
wissenschaftlichen Versammlung.
Doz. Dr. J. A. Hirschl : Die Behandlung der Epilepsie.
V#rantwortUch«r R#dakt«ur: Adalbert Karl Trupp. Vtriag Ton Wilhelm Rraumäller in Wien.
Draok von Bruno Bartelt, Wien, XVIII., TberesiengasBe 3.
r?— ■ - .
Die
,,'Wleuer kllulscbe
WoctaeiiscUrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
. ^
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H, Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrott er und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redaktion:
Telephon Nr. 16.282.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
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land werden von allen Bucli-
handlungen und Postämtern,
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
XX. Jahrgang. Wien. 18. April 1907. Nr. 16.
IN H ALT:
1. Origmalartikel: 1. Aus der II. internen Klinik der Bndapester
königl. Ungar. Universität. (Direktor: Hofrat Professor Doktor
Karl V. Ketiy.) Die Zersetzung des Wasserstoffsuperoxydes durch
das Blut. Von Dr. Zoitan v. Dalmady, Badearzt in Tatrafiired,
gew. Praktikant der Klinik und Dr. Ärpäd v. Torday, Assistent.
2. Ueber die Funktionsprüfung des Herzens nach Katzenstein
und über die dabei beobachteten Veränderungen der Puls¬
kurve. Von Priv.-Doz. Dr. W. Janowski, Piimararzt iin
„Kindlein Jesu“-Hospital in Warschau.
3. Aus der Abteilung für Nerven- und Geisteskranke des
k. u k. Garnisonsspitales Nr. 1 in Wien (Chefarzt: Stabsarzt
Dr. Bruno Drastich.) Zur Epidemiologie der Tetanie. Von
Regimentsarzt Dr bJmil M a tt a u s c h e k.
4. Aus der psychiatrischen Klinik in Prag. (Vorstand : Prof. A. Pick.)
Zur Frage der Abgrenzung der ideatorischen Apraxie. Von
Dr. Alexander Margulies, erstem Assistenten der Klinik.
11. Referate: ’AaxXrjraoj xat, ’AaxXTjrasta. Von A. P. Aravantinos.
Ref. : Max N e u b u r g e r. — Ueber die Gehirne von Th. Mommsen,
R. W. Bunsen und Ad. v. Menzel. Von D. v, Hansemann.
Ref. : K a r p 1 u s.
III. Ans yerschiedeueu Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
y. Yerhandlnngeii ärztlicher Gesellschaften nud Eongreßberichte.
Aus der II. internen Klinik der Budapester königl. ungar.
Universität. (Direktor Hofrat Professor Dr. Karl v. Kötly.)
Die Zersetzung des Wasserstoffsuperoxydes
durch das Blut.
Von Dr. Zoltäii v. Dalmady, Badearzt in Tätrafüred gew. Praktikant
der Klinik und Dr. Ärpäd v. Torday, Assistent.
Die weisen Alchymislen des Mittelalters machten die
Nacht zum Tage, um mit vielem I^Teißo und unermüdlichem
Kifer das ,, kalte Feuer“ zu entdecken, in welchem trotz
niederer Temperatur die Materie sich verwandle; docli
fruchtlos blieh ihr heißes Bemühen, kein Erfolg lohnte ihre
Bestrebungen, denn in weiter Ferne suchten sie nach der
wundertätigen Kraft, dabei das am nächsten Liegende über¬
gehend.
Denn cs gibt ein ,, kaltes Feuer“! Heimlich glimmt
es im lebenden Organismus und Heraklil hatte wahrlidi
recht, als er behauptete, das Leben und das Feuer seien
Blutsverwandte — Geschwister!
Tatsache ist, daß wir, die Verwandlung der verschie¬
denen Stoffe während des Stoffwechselprozesses bcobacli-
tend, solche finden werden, die außerhalb des Organismus
keine Oxygenverhindungen oingehen, im Organismus selbst
jedoch verbrennen, leiclit, ohne jedes Hindernis, bei niederer
Temperatur! Hier alsO' — in jeder einzelnen Zelle jener
Milliarden, die den Organismus bilden und deren Funk¬
tionen ihn erhalten — hier ist das ,, kalte Feuer“ zu suchen!
So könnten wir nämlich mit einem gemeinsamen Namen
die oxydierenden Fermente neimen, die es verursachen, daß
im lebenden Organismus eine Menge solcher Stoffe, die
an der freien Luft erst bei höherer Temperatur verbrennen,
im Organismus selbst bei der dem betreffenden Organismus
eigenen Temperatur oxydiert werden. Diese so große biolo¬
gische Wichtigkeit der Fermente ist wohl genügende Ver¬
anlassung, daß man selbe kennen zu lernen versuche und
sich mit ihren Funktionen eingehend befasse.
Die Fermente sind es, die das ans der Luft in den
Organismus gelangende Oxygen aklivieren, sie sind also die
Organe der inneren, der Zellenatmung. Die Oxydierungs-
tähigkeit des ans dem Hämoglobin sich ausscheidenden
Oxygens ist nicht größer als die des in der atmosphärischen
Luft enlhaltenen, wie dies Hoppe-Seylcr schon im Jahre
1866 bewies ; daß aber im Organismus dennoch eine er¬
höhte Oxydation vor sich geht, kann man einzig und allein
nur so erklären, wenn man dieses Plus den Fermenten zn-
schreibt (C 1 a. u d e - B o r n a r d).
'Schon lange hatte man Beweise dafür, daß einzelne
Teile eines tierischen Organismus oder ans denselben her-
gestellte Extrakte itie Fähigkeit besitzen, verschiedene Stoffe
zu oxydieren.
Schon im J,ahre 1819 fiel es Taddey auf, daß, wenn
er gewisse Ptlanzenstjoffe auf Guajaklinkt.nr einwirken ließ,
selbe sich blau färbte und ein Jahr darauf — 1820 —
machte Planche eine ganze Serie von Versuchen, um dieser
Erscheinung auf den Grund zu kommen; im Verlaufe dieser
Untersuchnngen stellte es sich niin heraus, daß das eigent¬
liche Agens thermolabil sei.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 16
158
Schüiibein war derjenige, der die katalytische Natur
dieses Vorganges erkannte und es als erster versuchte, für
die geradezu wundersame Oxydierungsfähigkeit des Orga¬
nismus eine wissenschaftliche Erklärung zu gehen.
Seither bildete diese unergründliche Funktion des
lebenden Organismus den Gegenstand eindringlichster Stu¬
dien ; die vorzüglichsten Autoren versuchten es damit, und
wenn wir die wohl nach Tausenden zählenden, veröffent¬
lichten Daten aneinanderreihen, sO' müssen wir am Ende
zu der Erkenntnis dessen gelangen, daß wir noch sehr,
sehr weit davon entfernt sind, die Wafirheit zu wissen !
Erst neuestens beginnt sich eine bestimmte Richtung in
der Auffassung dieser vielen, oft ganz verschiedenen Mit¬
teilungen geltend zu machen.
Bestimmt ist, daß die Fähigkeit des Organismus, so
energisch zu oxydieren, an das Vorhandensein gewisser,
voneinander verschiedener Stoffe gebunden ist, deren einige
katalytisch wirken und der heute maßgebenden Anschauung
gemäß zu den Fermenten gehören; obzwar die Einflüsse,
die diese verschiedenen Stoffe auf die Lehensfunktion des
Organismus ausühen, selbstredend verschiedene sind, so
bilden sie in ihrer Gresamtheit dennoch ein einheitliches
System.
Auf Grund von in vdtro durchgeführten Versuchen
fand man es für angezeigt, diese Stoffe in drei Gruppen zu
scheiden :
1. Solche Stoffe, die mit aus der Luft oder aus Hämo¬
globin stammendem, molekularen Oxygen Verbindungen ein-
gehen und eventuell die Oxydation eines mit ihnen verbun¬
denen Stoffes, der sonst niclit oder nur schwer oxydiert wird,
befördern. Dies wären die Oxy genasen (Bach und
Chodat), chemische, thermolabile Verbindungen von bis¬
her unhekannter Zusammensetzung, von denen wir bloß
wissen, daß sie autoxydabel, d. h. ungesättigt sind und
sich mit einem Atompaar Oxygen zu einer superoxydartigen
Verbindung vereinigen und als solche sodann ihr Oxygen
oder wenigstens einen Teil desselben an andere Stoffe, auf die
inerten, geschlossenen Oxygenmoleküle, wirkungslos bleiben,
leicht abgeben. Nach der Nomenklatur von En gl er und
Weißberg und der anderer Autoren hieße der Oxygen-
atompaare bindende Stoff Oxydase und der infolge dieser
Verbindung entstehende Moloxyd oder Superoxydase.
iZweifelsohne ist ihre oxydierende Wirkung im Orga¬
nismus von großer Wichtigkeit; ihre Tätigkeit könnte man
Autoxydation oder Autoxykatalyse nennen.
2. Stoffe, die, auf Superoxyde einwirkend,' Oxygen
aktivieren; dies wären die Peroxydasen, welche fähig
wären, die energischesten Oxydationen heiworzurufen. Sie
wirken auf die aus den autoxydabilen Stoffen entstandenen
superoxydartigen Verbindungen und auf .die im Organismus
selbst sich bildenden Superoxyde, aktivieren Oxygen aus
denselben, welches sodann geeignet ist, sonst sehr schwer
zu verändernde Stoffe zu oxydieren.
Höchstwahrscheinlich gehören in diese Gruppe haupt¬
sächlich katalytisch wirkende Stoffe, wirkliche Fermente.
3. Ein Stoff, welcher das Wasserstoffhyperoxyd zer¬
setzt, welches bei dieser Gelegenheit inertes, molekulares
Oxygen produziert. Dies wäre die Katalase (Loew),
allem Anschein nach ebenfalls ein Ferment.
Ferner existieren bisher nur sehr wenig bekannte und
bezüglich ihrer Eigenschaften noch sehr wenig erforschte
Stoffe, eventuell Fermente, die, indem sie ein einfaches
Oxyd reduzieren. Oxygen aufnehmen, um selbes an eine
sonst schwer oxydierende, chemische Verbindung abzu¬
geben. Dies wären die Oxy doreduktasen (Abelous
und Aloy).
Schließlich wären noch Stoffe vorhanden, deren be-
slimmte Aufgabe darin bestünde, zu reduzieren; einen Teil
derselben bildeten gleichfalls Fermente. Dies wären die Re¬
duktasen (Prototypen: Philothion Bey-Paihade). Nach¬
dem aber speziell die in diese Gruppe gehörigen Stoffe
kaum bekannt sind, so wollen wir uns diesmal mit ihren
Funktionen nicht befassen.
Einzig und allein jenen Stoffen, denen bei der Oxy¬
dation irgendeine Rolle zufällt, wollen wir im weiteren
unsere Aufmerksamkeit zuwenden und den Verlauf der Oxy¬
dation — gestützt auf die in der Literatur vorhandenen
Daten — in folgendem .zusammenfassen:
Das inerte, molekulare Oxygen nimmt die autoxy-
dahlen Stoffe, die Oxy genasen auf, indem sie zu Super¬
oxyden werden (Moloxyd); manche von ihnen übertragen
ihr Oxygen eventuell .auf oxydierbare Stoffe, so als Autoxy-
katalysator wirkend; treten dann solche superoxydartige
Verbindungen mit Wasser in Berührung, so kann es zur
Wasserstoffhyperoxydbildung kommen.
Die Peroxydase wieder wirkt katalytisch auf die
aus den autoxydablen Stoffen entstandenen Superoxyde
(Oxygenase) und auf das Wasserstoffhyperoxyd und zwar
in der Weise, daß sie ein sogenanntes aktives, sehr intensiv
oxydierendes Oxygen von ihnen löst.
Die Katalase schließlich zersetzt das aus Super¬
oxyden und Wasser oder unter der Einwirkung von reak¬
tionsfähigem Hydrogen entstandene Wasserstoffliyperoxyd
und macht wieder frei in dieser Art jenes Oxygen, das zu
den früher erwähnten Vorgängen ‘notwendig ist; von ihrer
sonstigen Bestimmung soll später die Bede sein.
Deutlicher denn alle Beschreibung mag vielleicht das
folgende Schema den eigentlichen Sachverhalt erklären:
Es ist wohl selbstverständlich, daß obige Skizze nicht
Anspruch darauf erheben kann, ein Bild sämtlicher Oxy¬
dationsvorgänge zu geben, schon deslialb nicht, weil ja das
molekulare Oxygen, das Wasserstoffhyperoxyd und das unter
dem Einfluß der Katalase entstehende Oxygen in statu
nascendi viele und wichtige Verbindungen im Organis¬
mus eingehen. Ueberdies ist es höchstwahrscheinlich, daß
es mehrere Arten von Oxygenase und Peroxydase gibt, deren
Oxydierungsfähigkeiten von verschiedenem Werte sind und
ebensowenig wie irgendeine bestimmte Peroxydase auf jedes
beliebige Superoxyd wirkt, wird eine gewisse Peroxydase
und Oxygenasekombination oder die eines anderen Super¬
oxydes eine beliebige Oxydation hervorrufen können. Oft
stehen wir der überraschenden Tatsache gegenüber, daß
die oxydierenden Fermente irgendeines Tier- oder Pflanzcn-
surrogates an schwerer oxydierbare Stoffe ihr Oxygen rasch
abgeben und auf solche, die vom theoretischen und tech¬
nischen Standpunkt aus als leichter oxydierbar gelten, ab¬
solut wirkungslos bleiben.
yjir sind eben noch sehr weit davon entfernt, jene
Affinitäten zu kennen, denen bei der fermentativen Oxyda¬
tion wahrscheinlich die Hauptrolle zufällt, insbesondere, da
uns weder die einzelnen oxydierenden Fermente, noch jene
Stoffe näher bekannt sind, die im lebenden Organismus
einander beeinflussen.
Diese Erklärung der obenerwähnten Vorgänge und das
skizzierte System weichen etwas von der heute noch sehr
verbreiteten und allgemein anerkannten älteren Auffassung
ab, in derem Sinne drei Gruppen von oxydierenden Fer¬
menten zu unterscheiden wären:
1. Stoffe, welche das molekulare Oxygen aktivieren.
(Oxydase nach Linossier, «-Oxydase nach Grüß, direkte
Oxydase nach Abelous und Biarnes, Aerooxydise nach
B ou rquelo t.) Als charakteristisches Merkmal galt ihre
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
459
Fähigkeit, Guajakliiiktur ohne
lärben.
Hilfe anderer Stoffe blau zu
2. Fermente, die nur im Beisein eines Superoxydes eine
Oxydation hervorzurufen imstande sind, also die Guajak-
tinktur nur unter Hinzufügung von Wasserstoffhyperoxyd,
aktivem Terpentinöl oder ähnlichen Stoffen blau färben
können. Diese würden am ehesten unserem Begriff von Per¬
oxydase entsprechen. (Peroxydase nach Linossier, Bach
und Chodat, Anaerooxydase nach Bourquelot, ß-Oxy-
dase nach Grüßi, indirekt Oxydase nach Abebous und
Biarnes, Translator nach En gl er und Weiß b erg, Lep-
tomin nach Raciborski.)
3. Die Katalase.
Der Unterschied zwischen den beiden Auffassungen
liegt ihauptsächlich' in der Erklärung der sogenannten direkten
Oxydation. Wenn nämlich animalische oder vegetabilische
Surrogate selbständig ohne jedes Superoxyd gewisse Oxyda¬
tionen (Quajakonsäure, Pyrogallol, Hydrochinon usw.) her¬
vorriefen, so scthrieb man dies der Funktion eines speziellen
Fermentes zu.
Bach und Chodat und von diesen unabhängig Bour¬
quelot und Marchadier bewiesen, daß diese Erklärung
irrig sei, da in Fällen wo nach der älteren Auffassung die
„Oxydase“ das molekuläre Oxygen der Luft aktiviere, es
sich eigentlich um eine Peroxydasewirkung handle, bei; der
das aktive Oxygen den durch Autoxydation zu Superoxyden
gewordenen, in dem Surrogate selbst vorfindlichen Stoffen
entzogen würde. Die oxydierenden Fermente wirken also
stets auf Superoxyde — wirkliche Oxydasen gäbe es dem¬
nach nicht.
Es ist jedoch nicht ausgeschlossen — wie wir dies
in unserem Sdhema veranschaulichten — daß die Oxyge-
nasen selbst sich zu gewissen Oxydationen eignen; even¬
tuell auf katalytischem Wege. Kastle und Loevenhart
bezweifeln zwar, und mit vollem Rechte, die fermentative
Natur der Oxygenasen, doch ist es unserer Ansicht nach
widersinnig zu behaupten, daß unter denselben einer
Autoxykatalyse fähige Stoffe nicht vorhanden sein könnten.
Für uns speziell ist die genaue Kenntnis dieser oxy¬
dierenden Fennente wichtig, weil wir nur auf dieser Basis
an das Studium der den eigentlichen Gegenstand unsereß
Arbeit bildenden Katalase schreiten können.
Scihönbein erkannte im Jahre 1803, daß aus Teilen
von Tieren oder Pflanzen hergestellte Extrakte Wassers to ff-
hyperoxyd zerlegen und daß die hier tätigen Stoffe therhio-
labil sind. Das Ganze wäre als katalytischer Vorgang zu
betrachten, den Cyanwasserstoff hindere, und ein Ueber-
schuß von Wasserstoffhyperoxyd von störendem Einfluß
sei. Seither zeigten die Untersuchungen, daß jede Zelle
einen Wasserstoffhyperoxyd zersetzenden Stoff enthalte,
weshalb auch jeder animalischen und vegetabilischen Sub¬
stanz und jedem .Fermente diese Fähigkeit eigen ist; auch
S ch ö n 1j e i n betrachtete sie noch als eine allgemeine Enzym-
realition.
Fi echter lenkt die Aufmerksamkeit schon im Jahre
1872 auf jenen Umstand, daß Cyanwasserstoff die Fähigkeit
der Fermente, Wasserstoffhyperoxyd zu zersetzen, viel stärker
beeinflusse als die spezifische Tätigkeit und Eigenschaften
derselben. Jakobson bewies hierauf im Jahre 1892, daß die
spezifische Tätigkeit eines Fermentes unabhängig sei von
jenem Einflüsse, den es auf die Zersetzung des Wasserstoff¬
hyperoxydes übe, ja daß es erstere einstellen könne, ohne
dabei seine Wirkung auf das Wasserstoffhyperoxyd einzu¬
büßen. Die katalysierende Wirkung glaubt er jenen fremden
Stoffen, die den Fermenten stets beigemengt sind, zu¬
schreiben zu können.
Lepinois, der verschiedene Versuche mit Extrakten
einzelner Organe machte, sprach im Jahre 1899 die Ansicht
aus, daß in solchen Extrakten mindestens zwei Fermente
enthalten sein müssen, die auf das Wasserstoffhyperoxyd
eirfwirken, von denen das eine einfach katalytisch, das
ar'd6re hingegen — mit Hilfe des aus dem Wasserstoffhyper¬
oxyd gewonnenen Oxygen — intensiv oxydierend wirke.
Im Jahre IGOO weist Loew zuerst mit Bestimmt¬
heit auf die Existenz eines Fermentes hin, dessen Aufgabe
ausschließlich die Zersetzung von Wassers toffhyperoxyd sei,
bei gleichzeitiger Produktion von inertem Oxygen — und
dieses Ferment nannte er: Katalase.
Im folgenden soll bloß von den Katalasen des mensch¬
lichen, resp. tierischen Organismus und speziell von denen
des Blutes die Rede sein.
Das Blut zersetzt das Wasserstoffhyperoxyd sehr vehe¬
ment; gibt man in eine Eprouvette einige Tropfen ver¬
dünnten Blutes und mengt diesem Wasserstolfhyperoxyd bei,
so füllt in wenigen Minuten ein dichter, harter, weißer
Schaum die etwas warm gewordene Eprouvette — die Blut¬
lösung selbst verblaßt gewöhnlich wälirend dieses Prozesses.
Die Reaktion ist ungemein empfindlich, so daß Schilling
sie zu klinischen Zwecken empfiehlt, Richter und Pal¬
les ke hingegen sie in den Dienst der gerichtsärztlichen
Wissenschaft zu stellen wünschen. Tatsache ist, daß diese
Reaktion in bezug auf die Empfindlichkeit weit alle ge¬
bräuchlichen chemischen Blutreaktionen übertrifft, doch be¬
währt sie sich in der Praxis nicht, weil eine Unzahl ver¬
schiedener Stoffe nicht nur ebenfalls Wasserstoffhyperoxyd
katalysiert, sondern gerade jene Katalase enthält, der auch
das Blut diese seine Fähigkeit verdankt; sO' daß in ernsten
Fällen diese qualitative Blutreaktion nicht anwendbar ist.
Auch von uns wurden Untersuchungen angestellt, um den
Wert der S chilli ngschen Probe zu erforschen, doch zeigte
sich wiederholt, daß selbe klinischen Zwecken absolut nicht
entspricht.
Lange Zeit glaubte man die Zersetzung des Wasser¬
stoffhyperoxyds mit Recht dem Hämoglobin zuschreiben zu
können u. zw. dem darin befindlichen Eisen. Trotzdem
Kober t und Schmidt schon im Jahre 1822 behaupteten,
daß Hämoglobin, wiederholt kristallisiert und gereinigt, suk¬
zessive seine Fähigkeit, Wasserstoffhyperoxyd zu zersetzen,
verliert, so war es dennoch erst Bergen grüii im Jahre
1888, der dem Stroma diese Wirkung zuschrieb und nicht
dem Hämoglobin; auch Cotton, Ville und Moitessier
(1901) gelangten zu ähnlichen Resultaten. Kobert junior
fand, daß das reine Hämoglobin nicht katalysiere, sondern
im Gegenteil von Wasserstoffhyperoxyd zerstört werde.
Schließlich erschien S enters Mitteilung, der 1903 das kata¬
lysierende Ferment des Blutes ,,rein“ herstellte und bewies,
daß das Stroma der roten Blutkörperchen einzig und allein
den katalysierenden Faktor bilde.
Die spezielle Wirkung der Katalase ist die Zersetzung
des Wasserstoffhyperoxyds und zugleich die Ausscheidung
eines inerten Oxygens (O2). Jedes einzelne Wort dieser De¬
finition ist von Wichtigkeit und kann eine Außerachtlassung
dieser Begriffe zu sehr traurigen Irrtümern oder Mißver¬
ständnissen führen.
Die Katalase wirkt ausschließlich auf das Wasserstoff¬
superoxyd; so ist sie 1 z. B. dem Aethylhydroperoxyd
(dem einfachsten Subslitutionsprodukt) gegenüber ' gänz¬
lich indifferent und ebenso Oxygenase gegenüber, die ja
im Grunde genommen ebenfalls als Superoxyd zu betrachten
ist: dies zeigten Untersuchungen von Bach und Chodat.
Diese Umstände verdienen speziell dann besondere Be¬
achtung, wenn wir den Unterschied zwischen Katalase und
Peroxydase feststellen wollen.
Die Katalase scheidet inertes molekuläres Oxygen aus ;
reine Präparate — wie z. B. Senters Hämase — wnrken
sehr energisch auf Wasserstoffhyperoxyd, ohne eine Blau¬
färbung der gleichzeitig beigegebenen Guajaktinktur oder
Entfärbung von Indigolösungen hervorzurufen. Solche Oxy¬
dationen, welche durch Oxygen in statu nascendi zustande
kommen, kann auch die Katalase verursachen, jedoch nur
indirekt, quasi als Nebenwirkung.
Die Katalase ist — wie wir schon betonten
— nur in Zellen, und zwar in jeder Zelle zu
finden und deshallD bedarf es keiner weiteren Er¬
klärung jenes Umstandes, daß in Substanzen, die keine
Zellen enthalten, auch keine Katalase vorhanden sein kann;
460
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 16
CS ist daher leicht begreiflich, weshalb z. B. Blntsenim
uhiie Blulkürpercheii, Exsudate und Transsudate, Galle,
Tränen, Urin usw. nicht katalysieren. Früher schrieb man
auch der Milch katalylische Fähigkeiten zu, doch man
vermutet, daß sie ihre Wirkung auf das Wasserstoff-
hyperoxyd den in ihr enthaltenen Bakterien verdanke
(H e f f t e r, S e 1 i g m a n n).
Jener Umstand, daß man in allen Lebewesen, in jeder
animalischen und vegetabilischen Zelle auf Katalase stieß,
spricht dafür, daß dieses Ferment im Chemismus des Lebens
eine bedeutende Rolle spiele ; die physiologische Funktion
desselben ist uns wohl noch nicht bekannt, doch können
wir durch theoretische Folgerungen wenigstens einiges Licht
auf ihre biologische Aufgabe werfen.
Die Katalase hat speziell auf das Wasserstoffhyperoxyd
Einfluß u. zw. so, daß sie inertes Oxygen aus demselben
scheidet. Sie selbst scheint demnach nicht oxydierend zu
wirken, höchstens indirekt, durch das Oxygen in statu nas-
cendi. Loew, Bach und Chodat, Kobert, S enter und
andere glaubten, daß die Aufgabe der Katalase darin be¬
stehe, das im Organismus allem Anschein nach fortwährend
entstehende, also dort unbedingt vorhandene Wasserstoff¬
hyperoxyd zu entfernen. Bei Autoxydationen, die im Beisein
von Wasser verlaufen entsteht fast ausnahmslos Wasser¬
stoffhyperoxyd, doch kann anderseits auch zu dieser Reak¬
tion geeigneter Wasserstoff die Bildung von Wasserstoff¬
hyperoxyd herbeiführen. Im lebenden Organismus ist es
sehr schwer, Wasserstoffhyperoxyd zu finden, wenigstens
führten die diesbezüglichen Versuche von Pfeffer und
Bokorny zu keinem positiven Resultate; anderseits be¬
haupten jedoch Clairrnont, Wurster, Bach und Bau¬
mann mit Hilfe sehr empfindlicher Reaktionen dennoch
die Spur von Superoxyden gefunden zu haben. Bach und
Chodat wiesen sogar auf die intrazelluläre Entstehung der
Superoxyde hin. Auf keinen Fall ist ein negatives Resultat
der Versuche ein Beweis gegen die Entstehung von Wasser-
stotfhyperoxyd, da ein rasches Verschwinden desselben im
Beisein von Katalase nur selbstverständlich wäre.
Das Verschwinden und die Zersetzung des im Organis¬
mus, resp. in der Zelle entstehenden Wasserstoffhyperoxyds
ist von Bedeutung. Wir teilen die Ansicht jener, die aus den
nach intravenöser Anwendung des Wasserstoffhyperoxyds
eintretenden Vergiftungssymptomen auf die Schädlichkeit
desselben schließen, da es begreiflich ist, daß auf solchem
Wege in den Organismus gelangtes Wasserstoffhyperoxyd
unter der Einwirkung der Katalase leicht Luftembolien ver¬
ursachen kann. Anderseits sind wir geneigt anzuerkennen,
daß auch das i n t r a z e 1 1 u 1 ä r entstehende Wassers toffhyper-
oxyd seine schädlichen Wirkungen haben kann. Allenfalls
wird das intrazellulär entstehende Wassersloffhyperoxyd
andere Einflüsse ül)en, als das die Zelle von außen an¬
greifende ; und sehen wir, wie in einer Zelle, die wir in
Wasserstoffhyperoxyd von ganz geringer Konzentration pla¬
zieren, eine Plasmolyse vor sich geht, so können wir uns
der Annahme, daß. ein im Inneren der Zelle befindliches
Wassersloffhyperoxyd noch irdensiver wirken wird, kaum
verschließen.
Daraus, daß nach Bach und Chodat gewisse
Schimmelarten, z. B. die Myzelien der Sterigmalocystis nigra,
auf einem 1 "/eigen, Wasserstoffhyperoxyd enthaltenden Nähr¬
boden zugrunde gehen und andere wieder in einer Wasser-
stoffhyperoxydlösung von geringerer Konzentration als l"/o,
ohue Plasmolyse zu erleiden, existieren können, folgt noch
nicht, daß ein im Zelleniimern entstehendes Wasserstoff¬
hyperoxyd von viel hundertmal geringerer Konzentration
keine Störungen hervorzurufen imstande wäre. Infusorien
tötet es bereits in Verdünuungen von 1 : lO.OÜO (Pauotli),
Algen sterben in l'Vooigen Lösungen ab (Bokorny), trotz¬
dem in diesen Fällen das Wasserstoffhyperoxyd nicht intra¬
zellulären Ursprunges ist. Bei jenen Versuchen, die Bod-
länder an Fröschen (Narkose mit l"/oiger Lösung) und
Capranica und Colasauti an Hunden (25 ciW 4"/oige
Wasserstoffhyperoxyd-Lösung führten den Tod herbei)
machten, mag — unserer Ansicht nach — die schädliche
Wirkung einer anderen Ursache zuzuschreiben sein.
Das Whisserstoffhyperoxyd kann seiner jutensiven Oxy-
dierungs- und Reduktionsfähigkeit halber im Protoplasma
selbst unberechenbare Verwüstungen anrichten und nur allzu
wahrscheinlicb ist es, daß es in gewisser Konzentration
das Gleichgewicht chemischer üxydationsvorgäuge schon
merklich stört, ja den Vorgang sogar umkehren kann, wenn
es aus dem betreffenden System nicht rechtzeitig ausge¬
schieden wird. Ohne uns zu einer teleologischen Auffassung
zu bekennen, müssen wir jene Tatsache, daß das Proto¬
plasma das entstehende Wassers toffhyperoxyd sofort in statu
nascendi zersetzt, als zweckmäßige Einrichtung anerkennen.
Das WAsserstoffhyperoxyd steht unter Einfluß zweier
Enzyme : nämlich der Peroxydase und der Katalase. Nach
der Ansicht von Bach und Chodat würde die Katalase ihre
Wirkung auf den von ^der Peroxydase verschont gebliebenen
Teil des Wasserstoffhyperoxyds ausüben ; vS e nte r hingegen
verleiht jener Anschauung Ausdruck, wonach die beiden
Reaktionen gleichzeitig nebeneinander vor sich gingen und
zwar so, daß beide im Verhältnis ihrer Reaktionsgeschwindig¬
keiten zur Zersetzung des Wasserstoffhyperoxyds beitrugen.
Die letztere Auffassung scheint uns plausibler, wobei wir
hinzufügen müssen, daß die jeweilige Reaktionsgeschwindig¬
keit der Peroxydase unbedingt davon abhängt, ob und wie¬
viel oxydabile Stoffe sie vorfindet und in welcher Konzen¬
tration dieselben sind. Die Zersetzung des Wasserstoffhyper¬
oxyds durch die Katalase birgt einen direkten Nutzen für
den Organismus, resp. für die einzelne Zelle in sich: erstens
verschwindet hiedurch jener Teil des W^asserstoffhyper-
oxyds, den die Peroxydase nicht verändern konnte und der
persistierend, nicht nur überflüssig, sondern sogar schäd¬
lich würde, — zweitens bleibt dem Organismus das frei
werdende Oxygen erhalten, indem selbes in nützlicher, un¬
schädlicher Form wieder gebunden ^wird (Oxygenase, Oxyda¬
tion, Oxygen in statu ,nascendi) und schließlich kommt es
infolge d' r exo thermischen Reaktion, zu bedeutender Wärme-
und Energieproduktion (H2O2ACIU = H2O Acpi + 0 + 231 K.,
J. Thomsen).
Die Katalase übt ihren Einfluß, stets im Zellinnern
aus; dafür spricht, daß ' in jeder Zelle sich Katalase findet
nnd daß Katalase nur im Zellinnern aufznfinden ist.
Es wäre hieraus zu schließen, was aber ein großer
Teil der Autoren bestreitet, daßi die Katalase ausschließlich
im Dienste jener Zelle stehe, deren Bestandteil sie bildet.
Das Weitere wird zeigen, wie wichtig die aus dieser Behaup¬
tung sich ergebenden Schlußfolgerungen sind.
Wieviel Dinge auch unter physiologischen Umständen
die Tätigkeit der Katalase beeinflussen, wurde durch Ver¬
suche von Battelli und Stern klargelegt, indem sie
zeigten, daß die Katalasevvirkung ein ganzes System anderer
Stoffe, eventuell Fermente reguliert. Es exisliert eine Anli-
katalase, welche die Katalasewirkung hemmt, eine Pliilo-
katalase, welche den Einfluß der Antikatalase zunichte
machen kann, indem sie die durch dieselbe gebundene Kata¬
lase wieder befreit und schließlich ein ,,Activeur de la philo-
katalase“, welcher die Philokatalase zu potenzierter Tätig¬
keit anspornt.
Ob spätere Resultate diesen , ähnliche Besultate zutage
fördern werden, ob die Antikatalase, die Philokatalase und
deren Aktiveur tatsächlich speziell wirkende Stoffe seien,
darüber heute zu urteilen, wäre verfrüht, doch ist anzu¬
nehmen, daß die Antikatalase sich zum Schlüsse dennoch
nur als irgendeine Peroxydase entpuppen wird. Noch ist
vorsichtshalber bei Versuchen mit (1er Möglichkeit, daß die
Katalasewirkung beeinflussende Stoffe vorhanden sein
könnten, stets zu rechnen.
Die Katalase kennen wir, wie eben jedes Ferment, aus
ihren Wirkungen. Die qualibitive Analyse muß sich daher
damit hegnügen, festzustellen, daß ein die Katalyse
bewirkender Stoff ein thennolahiler, organischer Stofl
sei, der ausschließlich nur Wasserstoffhyperoxyd kata¬
lysiert und hiebei inertes Oxygen produziert. Das Resultat
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
461
dur (luaiititaliveri Analyse hingegen kann beim lieuligen
Stande der Wissenscliaft nur ein relatives sein; sie gehl
nändich von dem Prinzip ans, daß von zwei Stol'fen, ceteris
l)aril)ns, immer derjenige wirksamer sei, der ein größeres
(Jüan tum Fermente enthält.
Der Weg, den zu vertolgen zweckmäßig wäre, ist durch
die spezifische Tätigkeit des I'Annentes gegeben: ln unserem
Falle würde es sich also um die Größe der Zersetzungsfähig-
keit des Wasserstoffhyperoxyds handeln, die so zu be¬
stimmen wäre, daß wir, die Anfangskonzentration dos
Wasserstoffhyperoxyds als bekannt annehmend, entweder
die Fndkonzentration oder die Menge der entstandenen Pro¬
dukte messen; und, vorausgesetzt, daß die Anordtmng des
Experimentes derart getroffen wurde, daß die einzige unab¬
hängige Variable die Katalasekonzentration sei, so können
für den Vergleich geeignete Daten gewonnen werden.
Doch ist die technische Durchführung dieser Unter-
siicdnnigen lange nicht so einfach.
Wir haben die gegenseitige Wirkung von so labilen,
leicht zerfallenden, variierend konzentrierten und nicht
reinen Stoffen zu beobachten, daß die gewonnenen Resultate
vom ahsoluten Standpunkt betrachtet eigentlich wertlos ge¬
nannt werden können.
Das Wasserstoffhyperoxyd ist unendlich leicht zer¬
setzt, von selbst zerfällt es leicht auf H2O + O, das Sonnen-
licbl, die Wand des Glasgefäßes, in dem es sich befindet,
das Rütteln usw., kafalysieren es; eine ganze Reihe der
verschiedensten Stoffe zerlegt es energisch und rasch, und
man kann niemals wissen, ob jene Fermentlösung, mit der
wir arbeiten, nicht den einen oder den anderen dieser
Stoffe enthält und so wie jedes Ferment die Gegenwart
fremder Stoffe fühlt, so ist auch die Katalase solchen gegen¬
über außerordentlich empfindlich; Säuren, Rasen, Alkalien,
oxydierende und reduzierende Stoffe, all diese können ihre
Tätigkeit beeinflussen, und daß solche Stoffe in jenen, den
Gegenstand der Untersuchung bildenden animalischen Or¬
ganen und Surrogaten vorhanden sind, das haben Rattelli
und Stern zur Genüge bewiesen. All dies zeigt, mit welchem
Vorbehalt Vergleiche zwischen Untersuchungsresultaten an-
_zustellen sind, wenn selbe von verschiedenen Individuen/
oder von verschiedenen Organen eines und desselben Indivi-
fluums stammen.
Die Methodik selbst kann sehr verschieden sein.
Wir können die Wassers toffhy peroxydmenge, welche nach
einer eine bestimmte Zeit lang währenden Einwirkung unzer-
setzt hleibt, entweder auf chemischem oder auf physikali¬
schem Wege messen: Wir bestimmen das Quantum des
produzierten Oxygens u. zw. mit einem Manometer oder
mit einem Eudiometer. Die genaueste Methode ist bis jetzt
unbedingt die mit dem von Lieb erma nn konstruierten
Manometer durchzuführende.
Daß wir dieses Instrument nicht benützten, hat seine
Ursache darin, daß dessen Eeschreilning zur Zeit, als wir
unsere Untersuchungen machten, noch nicht publiziert war,
doch hätten wir auch sonst von seiner Anwendung abge¬
sehen, da wir uns der im Laboratorium zur Verfügung
stehenden Instrumente bedienen wollten, schon aus dem
Grunde, um zwischen den von uns erlangten Resultaten
und solchen, die anderweitig mit ähnlichen Hilfsmitteln er¬
reicht wurden, Vergleiche anstellen zu können.
Die titrimetrische Bestimmung des Wasserstoffhyper-
oxycls kann durch Reduktion voi\Kaliumhypermanganat oder
durch Zersetzung von .lodalkalien erfolgen.
Bei Anwendung einer oder der anderen dieser Me¬
thoden war das Resultat stets folgendes:
Verschiedene Zellen besitzen verschiedenen Katalase¬
gehalt. Boi den meisten Tieren — Ausnahmen bilden Hasen
und Schlangen — ist es die Leber, die am meisten davon
enthält. Von starker katalytischer Wirkung sind Fett- und
Speckextrakte, schwächer wirken Nieren, Blut, Herz, Lunge,
am schwächsten Milz, Muskeln, Hirnsubstanz. Doch erhalten
wir verschiedene Werte, für den Katalasegehalt eines be¬
stimmten Organes, wenn wir..es aus verschiedenen Gattungen
aiigehörcnden Tieren nehmen; so katalysieren Surrogate
für Organe von Säugetieren, resp. warmblütigen Tieren
relativ stärker, als solche für Fische, Reptilien, Amphibien.
Doch bildet Schlangenblut eine Ausnahme, indem es stärker
katalysiert.
Battelli und Sterns Versuche zeigten, daß embryo¬
nale Organe oder solche von Neugeborenen weniger Katalase
enthalten, als die des Erwachsenen, doch wächst der Kata¬
lasegehalt nach der Geburt sO' rapid, daß er nach einigen
Tagen den normalen Verhältnissen entspricht. Ein Aus¬
hungern ändert nichts oder wenigstens nicht bed'eutend an
dem bestehenden Katalasegehalt, ebensowenig als eine akute
Phosphorvergiftung. Jo lies bewies, daß Kohlenoxyd und
Kohlendioxyd den Einfluß der Katalase nicht vermindern,
wohl aber Säurevergiftungen (z. B. Salzsäureinjektion in
die Bauchhöhle).
All diese Daten beweisen aber nur, daß die Fähigkeit
der Organe und deren Extrakte, Wasserstoffhyperoxyd zu
zerlegen, meßbar ist und daß die gewonnenen Resultate den
Gegenstand von Vergleichen bilden können; sie liefern da¬
gegen keinen Beweis für ein ähnliches Verhalten der Quan¬
tität der Katalase.
Es gehört nicht immer zu den leichtesten Aufgaben, die
das Untersuchungsresultat bildenden Zahlen richtig zu
deuten, was wir anläßlich der genaueren Anführnng der
Untersuchungsmethode auch beweisen wollen.
Wählen wir zum Gegenstand unserer Ausführungen
das Blut, was um so vorteilhafter ist, als die Resultate even¬
tuell von klinischem Werte sein können.
Bei unseren Versuchen hielten wir uns an die jodo-
mctrische Methode von Julies und Oppenheim, die im
wesentlichen in folgendem besteht: Aus einer vorher sorg¬
fältig sterilisierten Fingerkuppe gewinnen wir durch Nadel¬
stich einen Tropfen Blut, den wir mit einer Kapillarpipette
aufsaugen und sodann davon 0-05 enU abmessen. Dieses
Quantum diluieren wir mit 50 cm^ einer OJU/oigen Kochsalz¬
lösung. Von dieser MiscJnmg nehmen wir 10' cm'^, welche
Menge al&o 0-01 cm^ Blut enthält und nun befassen wir uns
des weiteren damit, zu bestimmen, wie groß die Fähigkeit
dieser Blutlösung, Wasserstoffhyperoxyd zu zerlegen, eigent¬
lich sei.
Zu diesem Zwecke mengen wir 10 enU dieser Blut-
snspension mit 30 cm^ einer Vs-normalen Wasserstoffhyper¬
oxyd-Lösung, welch letztere aus einem neutralen, 30”/oigen
Merckschen ,,Perhydrol“ gewonnen wurde. Titriert wurde
mit ^/10-normalem übermangansaurem Kalium, welches
jedesmal vor Gebrauch frisch bereitet wurde. Die zu unter¬
suchende Mischung hielten wir zwei Stunden lang auf
Zimmertemperatur (18*^ C) und nach Ablauf dieser Zeit
wurde die Reaktion durch Fliiizuset^img von einigen Kubik¬
zentimetern konzentrierter Salzsäure unterbrochen. (Minera¬
lische Säuren heben die Katalase Wirkung auf.) Sodann
schritten wir an die Bestimmung des nicht zersetzten Wasser¬
stoffhyperoxyds, indem wir 20 bis 25 enU 10®/oiges Jodkalium
hinzimiengten, immer beoliachtend, daß ein Jodkaliuniüber-
scliuß bestehe. Nach einigen Stunden titrierten wir mit
10-normaler Na2S203-Lösung.
Der Unterschied zwischen unserem Verfahren und dem
von Jo lies bestand nur darin, daß wir statt einer l®/oigen
eine Va-normale, also weniger konzentrierte Lösung be¬
nützten und nach Unterbrechung der Katalasereaktion das
ausgeschiedene Jod nicht nach einer Stunde, sondern erst
nach längerer Zeit titrierten. Zieht man nmi die so gewonnene
Zahl (Jod-Titer) von dem dem verwendeten Wasserstoff¬
hyperoxyd-Quantum entsprechenden Titer (bei 30 enU
V2-normaler Wasserstoffhyperoxyd-Lösung = 150) ab, und
multipliziert die Differenz mit 0-0017, so* erhält man die bei
Anordnung des Experimentes zersetzte Wasseretoffliyper-
oxydmenge in Grammen ausgedrückt.
Vorausgesetzt, daß die einzige, unabhängige Variable
der Katalasengebalt des Blutes wäre, so kann man die ge¬
wonnenen Resultate vergleichen und wird linden, daß selbe
nnt dem realen Katalaseciuantum in gewissem Nexus stehen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
In Wirklichkeit steht die Sache so, daßi wir nicht im¬
stande sind zu beweisen, daß die einzige unabhängige
Variable ausschließlich der Katalesegehalt des Blutes wäre,
weshalb wir eben nur yom Vergleichen der Katalysierungs-
fähigkeiten, jedoch auf keinen Fall vom Vergleichen des
Katalasegehaltes sprechen können. Wenn wir nun auch an-
iiehmen, daß die Fähigkeit des 001 cm^ Blutes, Jod zu
binden, verschwindend klein, die Schwankungen ihrer Ge¬
ringfügigkeit halber ganz zu vernachlässigen wären, so ver¬
hinderten eventuell vorhandene Stoffe unbekannter Natur,
welche die Wirkung der Katalase, gleichgültig ob vorteilhaft
oder nachteilig, aber immerhin beeinflussen, eine richtige
Deutung der erlangten Daten. Aus den erlangten Daten
darauf schließen, wie weit die Katalysierungsfähigkeit des
Blutes im Organismus selbst geht, wieviel und wie stark;
es Wasserstoffhyperoxyd zerlegt, kann man unserer An¬
sicht nach kaum.
Zu bedenken ist, daß die Intensität der fermentativen
Wirkung immer von der Konzentration abhängt; einige
unserer Versuche beweisen, daß, wenn wir bei unserem'
obenerwähnten Verfahren als unabhängige Variable die Kon¬
zentration des Blutes annatimen, wir verschiedene Resul¬
tate bekamen. Es zeigte sich, daß die anfängliche Verdün¬
nung des Blutes (1 : lOOO) unvergleichlich größere Abwei¬
chungen verursachte als die später folgenden Verdünnungen,
woraus der Schluß zu ziehen ist, daß das Blut in der zu
allererst angewandten Konzentration anders katalysiere. Die
physikalischen Verhältnisse scheinen durch die Verände¬
rung der Dissoziation und Verteilung der Salze sowohl als
der hier anscheinend eine Rolle spielenden Kolloide wesent¬
lich andere zu werden und mit ihnen die Katalysierungs--
fähigkeit. Ferner ändert die Oberflächenspannung und die
Viskosität, denen unter allen Umständen auch ein gewisser
Einfluß zugestanden werden muß (Herzog). Daßi durch
Verdünnung der Wirkungsgrad der Katalase sich ändert,
das wissen wir, doch wird eine Konzentrationsverminderung
immerhin auch die Tätigkeit jener die Katalyse fördernden
oder eventuell hindernden Stoffe beeinflussen und viel¬
leicht anders als die Katalase selbst; diese Stoffe können
sogar gänzlich verschwinden oder indifferent werden, wäh¬
rend sie im Organismus selbst sehr intensiv wirken. Wir
untersuchten auch, ob der osmotische Druck der zur Di¬
lution verwendeten Flüssigkeit keine Aenderung der Kat^-
lysierungsfähigkeit hervorrufe, konnten aber dergleichen
nicht konstatieren.
Alles bisher Gesagte begründet wohl unsere Ansicht,
daß es zumindest verfrüht sei, Konklusionen direkt aus
solchen Versuchen ahzuleiten, deren Resultate sich auf die
Katalysierungsfähigkeit verschiedener Surrogate, verschie¬
dener Organe beziehen und daß man auf solcher Grundlage
Theorien oder gar therapeutische Verfahren nicht basieren'
kann. Die physiologische W^irkung der Katalase kennen wir
nicht, wie könnten wir aus den Resultaten der verschie¬
denen Versuche auf ihre pathologische Bedeutung schließen!
'Es ist wohl wahr, daß die meisten Autoren, wie
Spitzer, Lepinois, Abelous, Battelli, Stern und
Jolles gerade in jenen Organen die größte Katalysierungs¬
fähigkeit fanden, in denen unserem Wissen nach die Lebens¬
funktionen am lebhaftesten vor sich gehen. So katalysieren
z. B. Organe von Säugetieren, Vögeln etc. viel intensiver
als die von Fischen oder Fröschen, doch läßt sich hieraus
noch nicht folgern, daß dort, wo die Katalysierungsfähigkeit
gering ist, auch minimäle Lebeiisfunktionen, vorauszusetzen
wären. Die Katalase spielt bei den Oxydationsvorgängeii
bloß indirekt eine Rolle und auch diese mag vielleicht von
anderen Femienten reguliert werden. Die Hypothese eines
Kausalnexus zwischen der eventuell nachweisbaren Ab¬
nahme des Stoffwechsels und der gleichzeitig einlretenden
Herabminderung der Katalysierfähigkeit erscheint gewagt.
Wir teilen auch die Ansicht Jolles nicht, der die
Katalase als Haupt Faktor der Oxydationsvorgänge, die Ka¬
talysierfähigkeit des Blutes hingegen als Maß der Oxyda-
tionsvorgänge betrachtet. Mit unseren Ansichten steht zum
Beispiel seine hier folgende Aeußerung, daß ,,die prompte
und intensive Oxydation des Wasserstoffhyperoxydes uns
ja ein Maß für die Raschheit und Vollständigkeit der Oxy¬
dation der Gewebe und deren ausgeschiedenen Produkte gibt,
ob diese nun inner- oder außerhalb der Kapillaren erfolgt“
(Virchows Archiv 1905, Bd. 180, S. 219} im Widerspruch.
Die Katalase nennt er ohne weiteres ,, Sauerstoffüberträger“.
Ebenso müssen wir gegen seine in folgendem ausgedrückte
Meinung Stellung nehmen; er sagt: „Die Abspaltung von
Sauerstoff aus dem Oxyhämoglobin ist in gewisser Beziehung
analog jener aus dem Wasserstoffsuperoxyd“ und später:
„Es ist eine ziemlich wahrscheinliche Annahme, daß die
Katalasen die Abspaltung des Sauerstoffes aus dem Oxy¬
hämoglobin . bewirken“ (Münchener mediz. Wochen¬
schrift 1904, Nr. 47, und Wiener medizinische Wochen¬
schrift 1905, Nr. 12 bis 14).
Diese Auffassung ist irrig, denn ihr widersprechen
unzählige physiologische Tatsachen. Wir wissen, daß das
Oxyhämoglobin sein Oxygen im allgemeinen nicht abgibt,
sondern es wird ihm von oxydabilen, reduzierenden Stoffen
entzogen. Bei Kranldieiten, während welcher die Kata¬
lysierfähigkeit des Blutes auf ein Minimum reduziert
erscheint, wie bei Karzinom, Kachexie, Tüberkulose,
Urämie etc., müßte das venöse Blut sehr reich an
Oxyhämoglobin sein, was aber nicht zutrifft. Wenn
es nur von dem Katalasengehalt des Blutes abhängen
würde, wieviel Oxygen das Oxyhämoglobin abgibt, so
wäre es ganz unbegreiflich, warum das Blut funktio¬
nierende Organe besser mit Oxygen versieht als ruhende;
warum es seinen Oxygengehalt in vitro leichter verliert,
wenn man ein Stückchen irgendeines Organes hineinwirft;
und wenn die Katalysierfähigkeit des Blutes Schritt hielte
mit der Lebhaftigkeit des Stoffwechsels, wie käme es dann,
daß der Stoffwechsel eines vollständig ausgebluteten
Frosches ein ebensolcher ist als bei normaler Blutzirkula¬
tion? (Pflüger und Oertmann.) Mit einem Worte: wir
sind anderer Meinung über den Wert und die Deutung jener
Versuchsresultate, die bei Erforschung der Katalysierfähig¬
keit des Blutes bisher erlangt wurden!
Die Katalase ist ein intrazelluläres Eerment. Jede
lebende Zelle hat ihre Katalase, die deren speziellen Zwecken
dient ; dies gilt selbstredend auch für die lebenden und Stoff¬
wechsel besitzenden Blutzellen. Möglicherweise ist der
Zweck dieser Katalase, das Häm'oglobin vor der ihm durch
das Wasserstoffhyperoxyd drohenden Oxydation zu
schützen.
Battelli und Stern glaubten nach Entfernung der
Leber oder Herabminderung ihrer Funktion durch Phosphor¬
vergiftung eine erhöhte Katalysierfähigkeit bei den anderen
Organen des betreffenden Versuchstieres zu bemerken. Doch
läßt sich hier nur bedingungsweise eine Kompensation vor¬
aussetzen, nachdem in beiden der obenerwähnten Fälle ein
so wichtiger und folgenschwerer Eingriff in den betreffen¬
den Organismus geschah, daß man sich nicht wundern kann,
wenn darunter der ganze Organismus leidet, wenn jede
einzelne Zelle teil daran nimmt; und ändert sich der Stoff¬
wechsel der einzelnen Zelle, so ändert sich auch ihre
Fermentproduktion, aber an eine Kompensation von seiten
des ganzen Organismus ist kaum zu denken.
Unsere Ansicht ließe sich demnach in folgendem zu¬
sammenfassen: Die Messung der Katalysierfähigkeit des
im Blute enlhaltenen Wasserstoffhyperoxydes ist mit den
uns bisher zur Verfügung stehenden Instrumenten durch¬
führbar und sind die Resultate dazu geeignet, daß. man
unter ihnen Vergleiche anstelle; anderseits gelangen wir
in den Besitz gewisser Angaben, die ein neues Licht auf den
Charakter des Blutes werfen, doch dürfen wir uns dadurch
nicht verlocken lassen, auf solcher Grundlage wichtigere
biologische Hypothesen oder Theorien aufzustellen, denn
dazu sind wir an diesbezüglichen Erfahrungen noch lange
nicht reich genug!
♦
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
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Den_ .Gegenstand der klinischen Wisisenschaften bildet
das Stndinni jener Ahweiclmngen, die zuweilen . von den
den normalen, ,, gesunden“ Zustand des Organismus charak¬
terisierenden Lebensfnnktionen beobachtet werden können.
Der „normale“ Zustand jedoch ist nicht ein durch sich
selbst gegebenes Etwas, sondern ein zweckmäßiges Zusam¬
menwirken der verschiedenen Zellenfunktionen, wofür sich
die ]\Ienschen auf Grund von vielen Erfahrungen und Unter¬
suchungen dedukliv ein gewisses Bild, eine Art von Ge¬
setz machten. Wollen wir also die Lebensfnnktionen von
einem neuen Standpunkt aus betrachten, so müssen wir von
den als „normal“ angenommenen Verhältnissen ausgehen,
lim so für Vergleiche und Ableitungen eine Basis zu ge¬
winnen.
Vergleichen kann man aber nur gleichartige Dinge,
d. h. Arten solcher Untersuchungen, deren — um uns quasi
mathematisch auszudrücken — unabhängige Variable die
gleiche ist. ; . i
Wie aus all dem bisher Gesagten hervorgeht, kann man
— bei gewisser, zweckentsprechender Einrichtung bezüg¬
lich der Zersetzungsfähigkeit des im Blute befindlichen
Wasserstoffliyperoxydes — solche gleichartige Resultate
erlangen, wenn man nämlich bei strikter Beibehaltung der
Versuchseinrichtung nur die Blutsorten ändert, wodurch
sich dann eine Versuchsreihe ergibt, deren einzige unab¬
hängige Variable tatsäclilich das 'Blut bildet. Das Blut und
nicht die Katalase !
Unsere Versuche bestimmen, in welchem Grade das
Blut verschiedener Individuen Wasserstoffhyperoxyd zer¬
setzt (bei stets gleichbleibender Versuchseinrichtung!); doch
geben die so gewonnenen Daten keinen Aufschluß über
den Zustand des betreffenden Organismus. Sie charakteri¬
sieren nur in gewisser Hinsicht das verwendete Blut, was
natürlich zu klinischen Zwecken eventuell ausgenützt wer¬
den kann, doch bildet dies den einzigen Wert dieser Ver¬
suchsresultate, wobei noch zu bemerken ist, daß' das Studium
dessen, wie groß die Fähigkeit des Blutes, Wasserstoff¬
hyperoxyd zu zersetzen, sei, noch sehr im Anfangsstadium
sich befindet.
Die ersten Versuche in dieser Richtung machte Bar¬
riere im Jahre 1899. Er suchte zu erforschen, wieviel Kubik¬
zentimeter Oxygen eine gewisse Blutmenge unter gegebenen
Verhältnissen produzieren könne und fand, daß in zwei
Fällen von Urämie und in einem Falle von Vitium cordis
das Blut weniger Wasserstoffhyperoxyd zerlegte als nor¬
mal, doch hatte er vorher die normale Zersetzungsfähig¬
keit des Blutes auf Grund sehr weniger Versuche bestimmt.
Ihm folgten Mo:sse und Tautz im Jahre 1901. In Ver¬
bindung mit einer Berberinvergiftung untersuchten sie bei
Tieren, wieviel Kubikzentimeter Oxygen 20 mm^ Blut aus
5 cm^ einer IVoigen Wasserstoffhyperoxydlösung in 24 Stun¬
den produzieren und bestimmten, daß die auf Berberin oder
W ittesches Pepton eintretende Leukozytose die Katalysier¬
fähigkeit nicht verändere.
Raudnitz wollte im Jahre 1903 dieses Verfahren
zu klinischen Zwecken verwendbar machen; zu diesem
Ende mengte er 0-01 cm^ Blut mit 2 ciW einer ^/lo-normalen
Wasserstoffhyperoxydlösung und rührte diese Mischung
sechs Minuten lang bei einer Temperatur von 20*^ C. So¬
dann setzte er 5 cnU verdünnte Schwefelsäure hinzu, wo¬
durch die Realction unterbrochen wurde und bestimmte
mit Hilfe einer ^/lo- normalen Mangankaliumlösung das
Quantum des intakt gebliebenen Wasserstoffliyperoxydes.
Seine Bestrebungen krönte jedoch nicht der gewünschte
Erfolg, da trotz größter Mühe und Aufmerksamkeit die Er-
gebuisse nicht einheitlich waren, weshalb er auch von wei¬
teren Versuchen abstand.
Mit einer großen Anzahl sehr genauer Untersuchungen
strebten Jo 11 es und Oppenheim^ nach dem gleichen Ziele.
Ihre Versuche bilden den Ausgangspunkt einer ganzen Serie
derartiger Untersuchungen und wenn ihre Resultate unseren
Intentionen auch nicht entsprechen, isind sie dennoch als
balmbrechende auf diesem Gebiet zu betrachten. Ihre oben¬
erwähnten Versuche hatten den Zweck, zu eruieren, wie¬
viel von 30 cnU lo/oigem, neutralen Wasserstoffhyperoxyd
im Verlaufe von zwei Stunden bei Anwendung von OT cm^
Blut, das sie in 10 cm^ 0-9o/oigen Kochsalzes lösten, zerlegt
werde. Die Autoren empfehlen, als Endresultat nicht den
so erhaltenen Bruch zu akzeptieren, sondern jene Zahl,
die man bekommt, wenn man aus dem Versuchsergebnis den
1 g Blut entsprechenden Wert ausrechnet. Zum Beispiel
0 01 cm^ Blut hätte 0-234 g Wasserstoffhyperoxyd zersetzt,
so beziehen wir den Wert der Katalysierfähigkeit des be¬
treffenden Blutes auf 1 cm^ d. h. wir bestimmen das End¬
resultat mit 23-4 und nennen diese Zahl „Katalasenwert“.
Wir würden empfehlen, diesen 'Ausdruck ebensowenig
zu benützen als die ebenfalls gebräuchliche „Katalasen¬
zahl“, da das so gewonnene Resultat doch gar nicht den
Katalasengehalt des betreffenden Blutes angibt, sondern nur
die Katalysierfähigkeit desselben, welche trotz großen Kata¬
lasengehaltes sehr gering sein kann, wenn irgendein Um¬
stand die Wirkung stört. Es wäre demnach viel logischer,
„Ivatalysenzahl“ oder ,, Katalysenwert“ zu sagen.
Jo lies und Oppenheim untersuchten auch eine
ganze Reihe von mit Haut- und Geschlechtskrankheiten be¬
hafteten Patienten und fanden, daß das Blut solcher Indi¬
viduen viel oder wenig Wasserstoffhyperoxyd zersetzen
kann; die in diesen Fällen erlangten Werte variieren zwi¬
schen sehr weiten Grenzen.
ßie untersuchten ca. 100 Personen und bekamen Kata¬
lysenwerte zwischen 18-5 und 30-8; da jedoch 20 und 26
in der Ueberzahl waren, so- ergibt dies einen Durchschnitt
von 23.
Wir finden es für notwendig, speziell hervorzuheben,
daß diese Untersuchungen an Haut- und Geschlechtskranken
gemacht wurden und die iVutoren sprechen sich nicht dar¬
über aus, in welchem Stadium und in welchem Grade die
Krankheit der einzelnen Individuen war und ob selbe in
ärztlicher Behandlung standen oder nicht. Man kann doch
nicht a priori annehmen, daß z. B. Syphilis die Katalysier¬
fähigkeit des Blutes nicht verändere, ganz abgesehen da¬
von, daß die Quecksilbereinreibungen und die per os ge¬
nommenen Jodpräparate ihre diesbezügliche Wirkung ganz
gewiß haben werden. Diese Stoffe besitzen nämlich selbst
einen gewissen Grad von Katalysierfähigkeit und es gibt
Autoren, wie Schade und Düring, die eben darin den
Hauptfaktor ihrer spezifischen Wirkung zu erblicken glauben.
Unsere Versuche unterscheiden sich von denen von
Jolles und Oppenheim darin, daß wir etwas mehr ver¬
dünntes (V2-normales) Wasserstoffhyperoxyd verwendeten
und das Quantum des ausgeschiedenen .Jodes erst nach Ab¬
lauf einiger Stunden bestimmten. Eine Aenderung in der
Konzentration des Wasserstoffhyperoxydes genügt, um den
Wert der Katalysenzahl zu verändern.
Jolle s und Oppenheim mengten gewöhnlich zu
0 01 cm^ Blut 30 ciW einer 0-280 bis 0-345 g reines Wasser¬
stoffhyperoxyd enthaltenden Lösung, während wir unter den
gleichen Verhältnissen 0-243 bis 0-288 g Wasserstoffhyper¬
oxyd verwendeten. Wenn wir nun die durch diese Konzen¬
trationsunterschiede verursachte Abweichung in Betracht
ziehen, so sind unsere Resultate gleich denen der oben¬
erwähnten Autoren, wovon wir uns so zu überzeugen such¬
ten, daß wir es mit der von ihnen angeigebenen Konzen¬
tration versuchten und in solchen Fällen ihren Daten voll¬
ständig entsprechende Werte erhielten.
Wir gingen in der Weise vor, daß wir von einer aus
0-05 cm^ Blut und 50 cni^ 0-9o/oiger Kochsalzlösung be¬
stehenden Mischung zwei Proben zu 10 cm^ und eine zu
20 cm^ nahmen. Zu jeder dieser Proben gaben wir 30 cm^
Wassers toffhyperoxyd pnd verfolgten unser schon früher
angegebenes Verfahren. Mit zwei unserer Proben bestimm¬
ten wir also die Katalysierfähigkeit von 0-01 enU, mit einer
hingegen die Katalysierfähigkeit von 0-02 enU Blut bei
gleicher Versuchseinrichtung. Die Umrechnung der Resul¬
tate auf 1 enU Blut zeigte sich als sehr vorteilhaft. Wir
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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iieliiiien also an, daß ü-ül cni^ Blut 1 iig Wasserstoffhyper¬
oxyd zerlege, daher 1 cin^ Blut lÜÜ iig Wasserstoffhyper¬
oxyd katalysiert; nennen wir diesen Wert Ki. Wenn 0 02cm^
Blut 1 hig Wasserstoffhyperoxyd zersetzen, so wird 1 cin^
Blut 50 mg Wasserstoffhyperoxyd Oxygen aktivieren;
Dieser Wert mag mit K2 bezeichnet werden. Als Ki nahmen
wir stets den Mittelwert der aus den beiden parallel laufenden
Versuchen erlangten Resultate an. Wir zogen nur jene Werte
in Anbetracht, die bei parallel durchgeführten Versuchen
einander so ziemlich deckten. W.enn zum Titrieren der einen
Brohe uni 6 bis 7 cm=^ mehr \/io-norm. Na2S203 notwendig
war, als zum Titrieren der anderen, so- verwarfen wir das
Besultat als wertlos, weil dieser Umstand in der Katalysezahl
auch schon einen wesentlichen Unterschied verursacht hätte.
Doch kommt es bei der größten Sorgfalt vor, daß die Re¬
sultate paralleler Versuche nicht stimmen, das ist. eben der
Fehler der mit kleinem Ouantum durchgeführten, überaus
empfindlichen Reaktionen.
Kl verglichen wir stets mit K2 u. zw. ihr gegenseitiges
Verhalten in bezug auf den Verlauf ihrer Differenzen und
ihrer Quotienten, was sich sehr interessant gestaltete.
Das Material zu unseren Untersuchungen lieferten die
Krankensäle und die Ambulanz der II. internen Klinik, wes¬
halb man zwar nicht behaupten kann, daß wir unsere Beob¬
achtungen an durchaus normalen Individuen machten, ob¬
zwar man an chronischen Nerven- und Ohrenleiden laborie¬
rende Personen, von unserem Standpunkte aus wenigstens,
als normal und zur Bestimmung des normalen Katalyse-
werles vollständig entsprechend annehmen kann. Auch bei
uns, wie bei Jo 11 es und Oppenheim, zeigte der ,, normale“
Katalysewert große Schwankungen: Grenzwerte: Ki 13-3 bis
25-7, K2 9-5 bis 144; am meisten vorkommende Werte : Ki 18
bis 21, K2 11-5 bis 12-5; Mittelwerte: Ki 19, K2 12. Ki zeigte
größere Schwankungen, K2 kleinere. K2 war bei gesunden
Personen stets kleiner als Ki. Die Differenz ist daher immer
positiv; was nur natürheh ist.
Es ist wohl wahr, daß nur 0-02 cin^ Blut mehr Wasser¬
stoffhyperoxyd zemetzen als 0-01 chU, jedoch auf 1 enU Blut
umgerechnet, zeigt sich im ersteren Falle eine weniger in¬
tensive Katalyse, was wieder der charakteristischen Eigen¬
schaft der Fermente entspricht, indem ein doppeltes Quan¬
tum' derselben niemals eine genau zweifache Wirkung aus¬
übt, weshalb auf einen Teil weniger Effekt entfällt, als wenn
dieser eine Teil in dem gleichen System allein gewirkt hätte.
Die Werte von Ki — ^1x2 variierten stets zwischen 2 und
10'8; meistens betrugen sie 5 bis 8, weshalb man als Durch¬
schnittswert 7 annehmen kann. Die Katalysewerte zeigen
zuweilen hei ein und demselben Individuum ebenfalls
Schwaidcungen ; tägliche Schwankungen beobachteten wir
nicht (vielleicht, daß der Katalysewert abends etwas ge-
geringer war als tagsüber). Die Nahrungsaufnahme und das
All er (Kinder und Greise ausgeschlossen) spielen — wie es
scheint — keine Rolle.
Bevor wir auf die durch einzelne Krankheiten ver¬
ursachten Unterschiede übergehen, wollen wir noch über
jenen Teil unserer Versuche referieren, der sich mit der
Bestimmung jenes Verhältnisses befaßte, in dem die klinisch
nachweisbaren Eigenschaften des Blutes, wie: Anzahl der
roten und weißen Blutkörperchen, Hämoglobingehalt, spezi¬
fisches Gewicht, zur Katalysierfähigkeit desselben stehen.
Wie es scheint, besteht zwischen dem Kafalysewert und
dem Ilämoglohingehalt einerseits und der Anzahl der roten
und weißen Blutkörperchen anderseits irgendein Nexus. Der
Wert von Ki ist niemals kleiner als 12, wenn der Hämo¬
globingehalt über 50 Vo beträgt. Bei mehr als 50°/o Hämo-
glohin eidhallendem Blute ist Ki fast immer mehr als 16,
obzwar es bei manchen Individuen vorkomml, daß Ki auch
b('i kleinerem Ilämoglohingehalt größer ist als obiger An¬
nahme entspräche. Alit der Anzahl der Blutkörperchen
scheint die Katalysezahl nur indirekt zusammenzuhängen,,
W(m1 sie z. B. bei Chlorose lief hinabsinkt, wenn auch die
Bl ulkörperchenzahl normal bleibt. Die Anzahl der weißen
Blutkörperchen scheint überhaupt ganz ohne Einfluß auf die
Zersetzungsfähigkeit des Blutes Wassers! offhyperoxyd gegen¬
über zu sein; ein Umstand, der den iMitteilungen von Mosse
und Tautz entspricht.
Der Wert von K2 ändert gewöhnlich parallel mit dem
des Kl, nur daß die Schwankungen in beiden Richtungen
kleinere sind. Ja, es kann sogar der nicht leicht erklärbare
Umstand eintreten, daß K2 größer wird als Ki. Unter
300 Fällen waren 15, in denen derartiges eintrat. Wir fanden
bei solchen Anlässen immer, daß der Wert von Ki sehr ge¬
ring war; der kleinste, den wir im Verlauf der sämtlichen
Versuche für Ki fanden (er blieb stets unter 10). Anderseits
aber gibt nicht immer ein kleiner Wert des Ki zwischen Ki
und K2 eine negative Differenz. Den eigeiil liehen Charakter
dieser Vorgänge konnten wir nicht eruieren. Doch zeigt
jene Eigentümlichkeit, daß — nämlich Ki — K2 = negativ,
wie bei unserer Versuchseinrichtung — 0-02 cm^ Blut inehr
als doppelt so viel Wasserstoffhyperoxyd < zersetzten, als
unter gleichen Verhältnissen 0-01 cm^ Blut zerlegen könnte.
Dies aber widerspricht den Gesetzen der fermentativen Wir¬
kungen.
Als Erklärung dieser interessanten Erscheinung könnte
man vielleicht annehmen, daß die besondere Dilution für
den Verlauf der Katalyse ein Hindernis bildete, welches in
Fällen, in denen die Katalysierfähigkeit sehr gering ist, even¬
tuell so störend wirken kann, daß in einer Lösung von
höherer Konzentration ein ebenso großes Quantum viel
größeren Effekt erzielen kann. Dagegen aber spricht jene
Tatsache, daß nicht in allen Fällen bei kleinerem’ Ki die
Differenz zwischen Ki und K2 negativ war. Man könnte
auch meinen, daß ein die Katalyse hindernder Stoff im Zu¬
stand stärkerer Dissoziation größeren Einfluß haben könnte,
wogegen sich wieder einwenden ließe, daß wir diese Er¬
scheinung bei mit verschiedenen Leiden Behafteten fanden,
bei von der gleichen Krankheit befallenen Individuen nicht
immer.
Diese hier zum Ausdruck gebrachten Ideen erheben
absolut keinen Anspruch darauf, als Hypothesen zu gelten
— sie würden ja auch höchstwahrscheiulich den Anforde¬
rungen, die man an solche stellt, daß sich nämlich sämt¬
liche Erscheinungen mit ihrer Hilfe erklären lassen, nicht
entsprechen; wir müssen uns demnach — vorläufig wenig¬
stens — mit dem Gedanken befreunden, daß wir eine ein¬
wandfreie Erklärung nicht besitzen.
Aus dem Bruche läßt sich nichts anderes er-
1^2
klären, als was wir aus der Differenz zwischen Ki und K2
nicht schließen könnten. Ist Kj — Kj negativ, so ist
K,
K.
ein echter Bruch.
Wir wollen nun auf jene Abweichungen übergehen,
die sich in Fällen von ganz gewissen Krankheiten kon¬
statieren lassen. Wir machlen unsere Untersuchungen an
solchen Kranken, die sich behufs ambulanter Behandlung
oder zur Aufnahme an die Klinik meldeten, also an Indivi¬
duen, denen bis dahin Medikamente nicht gereicht wurden.
Wir teilten das uns zur Verfügung stehende Material
auf Grund der diagnostizierbaren Krankheiten in entspre¬
chende Gruppen und beobachleten im Bereich jeder einzelnen
Gruppe sogar bedeutende Schwankungen. Die meisten Krank¬
heiten haben ein Sinken des Wertes der Katalysenzahl zur
Folge, weshalb ' sowohl als auch K^ — Kg dementspre-
eilend ändern werden.-
Wir wollen nun jene Erfahrungen, die wir hei Beob¬
achtung der einzelnen Krankheiten sammelten, im folgenden
kurz zusammenfassen :
Bei Anämie finden wir des öfteren normale, bei Anae¬
mia gravis und nach größeren Blutverlusicm manchmal sehr
kleine Katalysenzahlen. Ein konstanter Nexus zwischen flein
Grade der Blutarmut und der Katalysenzahl ist nicht vor¬
handen.
Nr. 16
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Niercnkranklieilci) setzen im allgemeinen die Kata-
lysierlähigkeit des ßliiles herab ; ein starkes Sinken des
Katalysierwertes tritt jedücli nur in sehr schweren Fällen ein.
Bei. Krankheiten der Atmungsorgane ändert sich die
Fähigkeit des Blutes, Wasserstülfhyperoxyd zu zersetzen,
kaum, a])gesehen von solchen Fällen von allgemeiner Tuber¬
kulose oder Tuberculosis pulmonum, welciie schon zur
Kachexie lührten.
Von Krankheiteh der Verdauungsorgane verursachen
nur diejenigen eine größere Abnahme der Katalysieriahig-
keit, welche, wie Carcinoma ventriculi oder Cholämie zu
hedeutenderer Kachexie oder wie Ulcus venlriculi zu
größeren Blutverlusten führten.
Die Katalysierfähigkeit des Blutes sinkt fast immer
hei solchen Krankheiten, die mit Fieber, Eiterungen und
wichtigeren Störungen des Stoffwechsels verbunden sind.
Aus obigem ergibt sich von selbst, daß das Sinken des
Katalysewertes für gar keine Krankheit eigentlich als charak¬
teristisch gelten kann. Obzwar der größte Teil unserer Ver-
suchsresullate die Ansicht von J oll es und Opp enheim,
daß eine Herahminderung der Katalysierfähigkeit speziell
bei den zu Koma führenden Krankheiten zu beohachten
wäre, bestärken, so können wir diese Aulfassung dennoch
nicht akzeptieren. Wir konnten eher den Eindruck gewinnen,
als wäre zwischen dem Sinken des Katalysewertes und der
Kachexie ein Kausalnexus, auf den aber die Aetiologie der
Kachexie, also die sie hervorrufende Krankheit, keinerlei
Einfluß nähme. Die Herabminderung der Katalysierfähig¬
keit des Blutes nach größeren Blutverlusten muß natürlich
von anderem Standpunkt aus beurteilt werden.
Es scheint uns zweckentsprechend, an dieser Stelle
noch einer weiteren Serie von Versuchen Erwähnung zu tun.
In neuester Zeit befaßt man sich sehr eingehend damit,
Medikamente, die — in den Organismus gelangt — kataly¬
tisch wirken sollen, zusammenzustellen. Diese Medikamentd
sollen nicht nur — wie dies Düring plante — in kleineren
Dosen verahreicht, einer ,, allgemeinen Desinfektion“ des he¬
lreffenden Organismus dienen,- sondern den Zweck haben,
die eventuell unzulänglich wirkenden oxydierenden' Fermeute
in ihrer Tätigkeit direkt zu unterstützen.
Die Wirkung des Kollargols hält man für eine kata¬
lytische (Wenkebach), das Poehlsche Spernnn steht im
Rufe eines ,, künstlich oxydierenden Fermentes“ und fran¬
zösische Autoren streben mit einer ganzen Serie von Ver¬
suchen dahin, kolloidalen Metallen oder einer Mischung,
eventuell chemischen Verbindung derselben nnt mehr Lschen
Salzen eine gewisse Rolle in der modernen Therapie zu
sichern (T r i 1 1 a t, L u m i e r e und C h e v r o 1 1 i e r , R o h i n
und Bardet usw.). Garrigon z. B. will die Wirkung der
Mineralwässer auf die Katalysierfähigkeit 'der in denselben
gelösten Salze zurücklühren.
Diese neuesten Mitteilungen erweckten auch in uns
den Wunsch, mit einigen Versuchen vielleicht ebenfalls etwas
zur Beleuchtung dieser Frage beizutragen, indem wir unter¬
suchten, wie und in welchem Maße einzelne Medikamente
den Katalysewert beeinflussen.
Wir verabreichten Amrerst Jod. Es ist schon von jeher
bekannt, daß .lod-Ionen Wasserstoffhyperoxyd sehr intensiv
katalysieren und es entging uns auch nicht, daß das mit
dem Urin ausgesctiiedene Jod demselben in überraschend
hohem Maße Katalysierfähigkeit verleihe. '
Es zeigte sich, daß 2-5 bis 3 g Jodkali pro die oder
Jodipin (4 g einer 25°/oigen Lösung) die Katalysierfähigkeit
des Blutes nicht in auffallender Weise verändere. Jene
Daten, die wir aus den Untersuchungen solcher in Jod¬
behandlung stehender Personen sammelten, zeigten wohl
Schwankungen, jedoch nur solche, wie sie stets zu konsta¬
tieren sind, wenn man ein und dasselbe Individuum wieder¬
holt untersucht, wobei aber in Betracht zu ziehen ist,
daß ein so kleines Jodquantum als in dem zum Versuche
verwendeten 0-01 enU Blut Amrhanden sein kann, vielleicht
in seiner Wirkung gar nicht zu konstatieren ist.
Einreihungen mit Kollargol erhöhten iu geringem Maße
die Katalysierfähigkeit des Bildes, doch können wir uns dies¬
bezüglich nur auf eine so geringe Anzahl von Versuchen
berufen, daß wir uns auf Grund dieser zu irgendeiner
Stellungnahme nicht berechligt halten.
Jener Teil unserer Versuchsresullate, die sich mit denen
von J olles und Oppenheim decken, beweisen, daß jene
Messungen, die sich auf Bestimmung der Zersetzungsfähig¬
keit des Blutes Wasserstoffhyperoxyd gegenüber beziehen,
wertvolle imd zu klinischen Zwecken eventuell verwend¬
bare Daten liefern. Wie hei allen quantitativen klinischen
Untersuchungen kämpfen wir auch hier mit den mit dem
Anfang verbundenen Schwierigkeiten um so mehr, als wir
die normalen Grenzwerte niclit genau kennen und die Größe
der physiologischen Schwankungen uns ebenfalls nicht be¬
kannt ist. Die Bestimmung und Erkenntnis dieser momentan
noch nicht fixierten Begriffe ist bloß eine Frage der Zeit,
vieler Mühe und aufmerksamer Arbeit, doch wäre ein Erfolg,
eine richtige Erklärung dieser für uns noch in mystisches
Dunkel gehüllten Vorgänge wohl noch ma,nches Opfer wert.
Es ist ein sehr wichtiger Unterschied zwischen diesen
und den sonstigen klinischen Untersuchungen, da es sich
in diesem Falle um die Beobachtung der Tätigkeit eines endo-
zellulären Fermentes handelt. Es geschieht zum erstenmal,
daß wir nicht ein im Sekrete befindliches, ein extrazellulär
wirkendes Ferment untersuchen, sondern daß wir mit ver¬
hältnismäßig derben Mitteln an die Eruierung von Erschei¬
nungen schreiten, die, sich im Innern einer winzigen Zelle
zeigend, nicht zu trennen sind von deren Leben und Funktion.
Die Erkenntnis dessen, wie wichtig die Wirkung der
inlrazellulären Enzyme ist, halte bisher noch keinen Ein¬
fluß auf die Entwicklung der klinischen Wissenschaften; die
großen, das innere Leben der einzelnen Zelle erklärenden
und beleuchtenden biologischen Lehrsätze haben den Weg
zum Krankenlager noch nicht gefumlen, doch kann der Tag
nimmer ferne sein, an dem auch der Kliniker erkenneir
wird, inn wieviel präziser ihr Chemismus die Zelle charak¬
terisiert, denn ihre äußere Form 1
L i l e r a L u r;
Aus der ausgcbreileten Literatur der Kalulasrn und der oxydierenden
Fermente im allgemeinen wollen wir — als mit unserem Gegenstände
am nieisleu zusammenhängend — die folgenden Werke erwähnen:
Carriere, Sur la presence d’oxydas's dans les liquides normaux
et pathologiques de l’hornme. (G. R. Soc. Riol. 1902, S. 561) J olles,
Beiträge zur Kenntnis der Blutferrnenlo. (München, med. W othenschr. 1904,
Nr. 47, S. 2083.) Heber Katalysatoren vom physiologisch-chemischen
Standpunkte (Wiener med. Wochenschr. 1905, Nr. 12 bis 14). Jo 11 es und
Oppenheim, (Virch. Arch. 1905, Nr. 180, S. 219). M o s s e u. T a u m,
Untersuchungen über Berberin (Zeitsr hr. f. klin. Med. 1901, S. 25/).
R a u d n i t z. Klinische Methode die Wasserstoffsuperoxydzersetzung durch
Blut zu messen. (Zentralbl. f. innere Med. 1903, S. 1121.) Ein großer Teil
der Literatur ist übrigens zu finden in See, Les oxydases. (These de
Paris 1905). _
Ueber die Funktionsprüfung des Herzens nach
Katzenstein und über die dabei beobachteten
Veränderungen der Pulskurve.
Von Priv.-Doz. Dr. W. Janowski, Primararzt im »Kindlein Jesu«-
Hospital in Warschau.
Es gibt bekannlerweise Personen, deren Herz unter ge¬
wöhnlichen Lebensbedingungen normal funktioniert, die aber
sofort Symptome von Herzinsuffizienz darbieten, wenn an
ihre Herztätigkeit gesteigerte Ansprüche gestellt werden (In¬
fektion, Narkose), d. h. wenn ihr Herz seinen Energievorrat
aufweisen muH. Da die gewöhnliche klinische Herzunter¬
suchung mittels Perkussion und Auskultation nicht imstande
ist nachzuvveisen, ob dem Herzen ein Energievorrat zur Ver¬
fügung steht und wie groß dieser eventuell ist, so ist es eine
der wichtigsten Aufgaben der funktionellen Herzdiagnostik,
eine Methode zu finden, welche diese Lücke der gewölmlichen
klinischen Untersuchung ausfüllen möchte. Die bis jcizt von
Romberg'), Christ, Gräupner-) und anderen vor¬
geschlagenen Metlioden sind deshalb nicht befriedigend, da
bei ihnen das Verhalten des Pulses und des Blutdruckes
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
4()b
unter dem Einflüsse von Muskelarbeit, welche eine Aenderung
der Körperlage nötig macht, untersucht werden. Diese beiden
Momente und sogar jedes einzelne für sich ändern aber
(Donnel, Win tern itz^), CybulskD) den Pulsrhytmus
und die Tiefe der Atmungsbewegungen und diese üben wieder
ihrerseits selbständig einen Einfluß auf die Erniedrigung (tiefe
Inspiration) oder Steigerung (tiefe Exspiration) des Blut¬
druckes. Daraus folgt, daß auch die durch diese Methoden
ermittelten Schwankungen des Blutdruckes von der Summe
der Bedingungen abhängig sind, welche den Blutdruck das
eine Mal in einer, das andere Mal in entgegengesetzter
Dichtung beeinflussen und so im konkreten Falle keine exakten
Schlüsse über den vorhandenen Energievorrat zulassen.
Die Prüfung des Herzens mittels Ergostat, welche auf
dem Prinzip beruht, daß die geleistete Arbeit genau in Kilo-
grammetern ausgedrückt werden kann und für alle Unter¬
suchten gleichartig ist, entscheidet die Frage ebenfalls nicht,
da 1. hier ebenfalls die von der Vertiefung der Atmungs¬
bewegungen abhängigen Schwankungen des Blutdruckes mit-
wirken ; 2. Personen, die an Muskelarbeit nicht gewöhnt
sind, bei Uebungen am Ergostaten viel rascher ermüden als
solche, die an physische Arbeit gewöhnt sind; 3. die Art
der Arbeit ist bei solchen Experimenten bei den ersteren
verschieden von der Arbeit der Personen der zweiten
Kategorie. Hiezu kommt noch ein vierter äußerst wichtiger
Umstand, daß solche Plxperimente für schwache Herzen, wo
die Bestimmung des Energievorrates die größte klinische Be¬
deutung hat, keineswegs gleichgültig ist und zuweilen sogar
gefährlich werden kann. Es sind ja Fälle von letalem Exitus
nach solchen Untersuchungen bekannt.
Aus diesem Grunde verdient die von Katzenstein
”), ®), ^) im Jahre 1904 veröffentlichte Methode der Prüfung
des Energievorrates des Herzens besondere Aufmerksamkeit
der Kliniker, da bei dieser weder eine Aenderung der
Körperlage nötig ist, noch dem Kranken irgend welche Gefahr
droht und der Atmungsrhytmus unverändert bleibt.
Als theoretische Grundlage dieser Methode der Prüfung
des Energievorrates des Herzens hat Katzenstein eine
empirisch von ihm an Tieren festgestellte Tatsache ver¬
wendet, daß nämlich bei gesunden Versuchsobjekten mit
ganz suffizientem Herzen nach Unterbindung größerer Arterien¬
stämme eine Steigerung des Blutdruckes ohne Zunahme der
Pulsfrequenz zustande kommt, welche sich allmählich (im
Laufe von 2 bis 2'/2 Monaten) parallel der Ausbildung eines
kollateralen Kreislaufes ausgleicht. Bei schwachen Tieren
wird die Unterbindung großer Arterienstämme nicht von Blut-
drucksteigerung gefolgt, sondern dieser fällt oder bleibt
höchstens auf der früheren Höhe, wobei der Puls frequenter wird.
Bei Menschen führt Katzenstein die Funktionsprüfung
des Herzens auf folgende Weise aus: er berechnet bei den
Patienten die Pulsfrequenz und bestimmt den Blutdruck mit
dem Tonometer von Gärtner; danach drückt er mit beiden
Händen beide A. crurales auf der Höhe des Big. Pouparti
während 2 bis 5 Minuten an den Knochen an ; nach dieser
Zeit prüft er wieder ohne die Kompression zu unterbrechen
den Pulsdruck und die Pulsfrequenz. Eine gewisse Zeit vor
dem Versuche muß der Patient ruhig liegen bleiben und
ruhig atmen. Die Kompression der A. crurales soll gleich¬
mäßig sein und darf nicht Schmerz hervorrufen.
AufGrund einer derartigen Untersuchung von 128 Personen
gelangt Katzenstein zu folgenden Schlüssen:
1. Bei gesunden Personen (63) steigt der Blutdruck
nach seinem Versuche um 5“‘ bis 15“' und der Puls bleibt
unverändert oder wird seltener. Bei sieben anscheinend ganz
gesunden Personen, bei welchen der Blutdruck nach dem
Versuche unter die Norm gesunken war, hat eine genauere
Anamnese Alkoholismus ergeben.
2. Bei Personen mit Hypertrophie des linken Ventrikels
steigt der Blutdruck um 15'“ bis 40'“. Erhalten wir bei
Subjekten mit Hypertrophie des linken Ventrikels Zahlen
unter 15'“, so bedeutet das, daß das Herz insuffizient ist.
In der Regel wird der Puls dann fre(|uenter.
3. Bei geringfügiger Herzinsuffizienz ruft der Druck auf
die A. crurales keine Blutdrucksteigerung hervor. Je frequenter
der Puls dabei wird, um so größer ist der Grad der Herz¬
insuffizienz.
4. Bei höheren Graden von Herzinsuffizienz ruft der Druck
auf die A. crurales eine Blutdrucksenkung hervor, die um
so größer ist, je beträchtlicher der Grad der Insuffizienz.
Der Puls wird dabei immer frequenter. So ein Verhalten des
Herzens hat Katzen st ein bei Myokarditis '(4 Fälle), Fett¬
herz (2 Fälle), Herzfehlern bei Rekonvaleszenten (7 Fälle),
nach schweren allgemeinen Krankheiten und vor allem bei
chronischen Alkoholikern beobachtet.
Auf Grund seiner Untersuchungen äußert Katzen-
stei'n die Ansicht, daß Kranke nach schweren Infektions¬
krankheiten so lange das Bett hüten müssen, bis die erwähnte
Prüfung noch Blutdrucksenkung und Zunahme der Puls¬
frequenz ergibt. Wenn bei solchem Ergebnisse der Funktions¬
prüfung eine schwere Operation nötig ist, rät Katzenstein
diese teilweise auszuführen aus Furcht, so ein Herz würde
eine länger dauernde Narkose nicht vertragen.
Und schließlich in seiner letzten Arbeit (7) behauptet
Katzenstein, daß, obwohl man klinisch die Prüfung unter
gleichzeitigem Beobachten des Blutdruckes und der Puls¬
frequenz ausführen soll, für rein praktische Zwecke schon
die bloße Berechnung der Pulsfrequenz während der
Kompression der A. crurales genüge, ergibt nämlich die
Zählung des Pulses unter diesen Bedingungen eine bedeutende
Zunahme der Frequenz, so genügt schon dies allein um be¬
haupten zu können, das Herz besitze nicht den genügenden
Energievorrat, d. h. es sei physiologisch insuffizient.
Diese in praktischer Hinsicht so eminent wichtige Arbeit
wurde bis jetzt nur von Levy nachgeprüft. Dieser hat bei
fünf gesunden Individuen Blutdruckzunahmen um 14'“, 7“',
2“' bis 6‘“, 22“' bis 18'“ und 8“' gefunden, wobei in vier
Fällen die Pulsfrequenz um 2 bis 8 Schläge in 1' abgenommen
und in einem um 8 Schläge zugenommen hat.
Bei Hypertrophie des linken Ventrikels im suffizienten
Herzen nahm der Blutdruck in einem Falle um 22'“ bis 26'“
und in einem zweiten um 20'“ bis 30'“, während in vier
Fällen von Hypertrophie des linken Ventrikels bei insuffizientem
Herz der Blutdruck beim Druck auf die A. crurales in einem
Falle (Pleuritis exsudativa) um 4‘“ bis 6'“ und die Puls¬
frequenz ^ 8, im zweiten (vor Entwicklung der Perikarditis)
um 8“' bis 16'“, Pulsfrequenz 4, im dritten (zwei Tage
ante exitum) um 0“' bis 5“', Pulsfrequenz -[- 14 und im
vierten (Trauma der Beine) um 4‘“ bis 10“', Pulsfrequenz -j- 16
zugenommen haben. Bei allen anderen (zusammen 10) Kranken
mit insuffizienten Herzen fand Levy eine Abnahme des Blut¬
druckes bei Zunahme der Pulsfre((uenz.
Besonders interessant waren zwei Fälle von Herztrauma :
in einem ergab die gewöhnliche Untersuchung und die Skia-
skopie nichts Abnormes, die Prüfung nach Katzenstein
aber an verschiedenen Tagen eine Abnahme des Blutdruckes
um 7“' bis 23“' und Zunahme der Pulsfre(|uenz um 2 bis
10 Schläge in 1'. Im zweiten analogen Falle vermißte man
bei der Prüfung eine Steigerung des Blutdruckes; es wurde
eine schlimme Prognose gestellt ; nach sieben Monaten kam
der Kranke wieder in die Klinik mit Symptomen der Herz¬
insuffizienz. In zwei Fällen von Infektionskrankheiten (Typhus
abdominalis und Rheumatismus articul. mit Perikarditis und
Pleuritis) bestätigte Levy die Schlüsse von Katzen stein,
indem er mit zunehmender Besserung eine Steigerung des
Blutdruckes und Abnahme der Pulsfrequenz feststellen konnte.
In drei weiteren Fällen von Infektionskrankheiten waren die
Prüfungsergebnisse nicht so deutlich.
Sofort nach der Durchsicht der Arbeit von Levy (im
August 1906j habe ich mir vorgenommen, die Katzen stein sehe
Methode der Prüfung des Energievorrates des Herzens einer
Nachprüfung zu unterwerfen. Ich habe meine Beobachtungen
an 49 Individuen durchgeführt, bei denen ich insgesamt 88 Ver¬
suche mit Kompression der A. crurales ausgeführt habe. Ich
habe die Versuche immer zwischen 10 bis 12 Uhr früh folg¬
lich vor Mittag ausgeführt. Alle Kranken blieben längere
467
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Zeit vor der Prüfung ruhig im Bette liegen ; während des
Versuches hatten sie drei Polster unter dem Kopfe und die
Hände waren auf der Höhe des Herzens gelagert. Bei den
ersten 20 Kranken führte ich die Prüfung genau nach
Katzensteins Angaben aus, d. h. ich drückte beide A. crurales
fest an den Knochen mittels des dritten und vierten Fingers
an und kontrollierte mit dem zweiten Finger das völlige Ver¬
schwinden des Pulses unterhalb der Kompressionsstelle. Schon
nach einigen Experimenten gelang es, die Kompression schmerz¬
los für die Patienten auszuführen. So eine Kompression ist
aber für denjenigen, der die Arterie komprimiert, sehr er¬
müdend, besonders bei Versuchen an Personen mit hohen
Blutdrucke und deshalb fällt es sehr schwer, länger als vier
Minuten zu komprimieren. Und außerdem forderten die Ver¬
suche bei meinen unten besprochenen Versuchsbedingungen
drei Gehilfen. Aus diesem Grunde habe ich auf Rat des
Herrn Kollegen M. Eiger, der sich für diese Versuche
interessierte, den Fingerdruck durch Anlegen zweier festen
Esmarch sehen Gummischläuche möglich hoch am Ober¬
schenkel vertreten. Die Schläuche muß man fest zusammen¬
ziehen und durch Bedecken der Genitalien mit der Wäsche
das Zubinden der 'Haare vermeiden, denn sonst verursacht
man den Kranken Schmerz und dieser ruft schon für sich
allein eine Steigerung des Blutdruckes hervor. So eine Kom¬
pression vertragen alle Kranken und klagen nicht über
Schmerz. Vor dem Anlegen der Gummischläuche hielt ich
beide untere Extremitäten 7-2' bis P möglichst hoch bei
gleichzeitigem Massieren der Venen von oben nach unten.
Auf diese Weise hemmte ich möglichst den Blutzufluß zu
den unteren Extremitäten und komprimierte diese nach größt¬
möglicher Entleerung des Venensystems. Bei drei Personen
führte ich den Versuch so aus, daß ich einmal mit den
Fingern komprimierte und nach einigen Minuten mittels der
Gummischläuche und die Ergebnisse waren in beiden Fällen
dieselben. Aus diesem Grunde führte ich später die Kom¬
pression nur mittels der Esmarch -Binden aus, denn diese
Modifikation garantiert uns das ruhige Verhalten des Kranken
während des Versuches, was für die Ergebnisse äußerst
wichtig ist. Wenn ich mich nur auf jene Untersuchungen
beschränkt hätte, welche Katzenstein und Levy aus¬
führten, d. h. mit der Blutdruckbestimmung nach Gärtner
und Pulszählung, könnte ich bei den Versuchen einen Ge¬
hilfen gänzlich entbehren. Da ich aber die Rahmen meiner
Untersuchungen erweitert hatte, hatte ich immerhin zwei
Gehilfen nötig. *) Ich führte nämlich den vollständigen Ver¬
such so aus, daß ich auf dem rechten Vorderam die
Sahlische Modifikation des Jacquetschen Sphygmochrono-
graphen anlegte, auf dem rechten Arm das Tonometer von
Biva-Rocci und auf dem dritten Finger der linken Hand
das Gärtnersche Tonometer.
Nachdem ich die Pulskurve aufgezeichnet hatte, be¬
stimmte ich gleichzeitig auf der linken Hand den Blut¬
druck mit dem Tonometer von Gärtner und auf der rechten
bestimmte ich mittels des Biva-Rocci sehen Tonometers
den maximalen und minimalen Blutdruck. Dasselbe wieder¬
holte ich während der Kompression der Arterien, u. zw. drei
und sechs Minuten nach deren Beginn, und nach der Be¬
seitigung der Kompression, nämlich nach 3, 6, 10, 15 und
manchmal 20 Minuten, bis die Pulsfrequenz und der Blut¬
druck sowohl nach Gärtner wie nach Biva-Rocci be¬
stimmt, zur Norm zurückkehrten.
Länger als 20 Minuten nach Abnehmen der Schläuche
habe ich meine Beobachtungen nie fortgesetzt. So was ist
auch äußerst selten notwendig, denn in der Mehrzahl der
Fälle kehrten der Blutdruck und die Pulsfrequenz schon
nach 5 bis 10 Minuten zur »Norm«, d. h. zu dem Zustande
vor dem Beginne des Versuches zurück.
Durch so eine Versuchsanordnung erreichte ich gleich¬
zeitig mehrere Zwecke.
*) Ich spreche an dieser Stelle allen auf meiner Abteilung
arbeitenden Kollegen meinen besten Dank aus, denn ohne ihre Hilfe,
wäre mir die Durchführung der zu besprechenden Versuche ganz unmög¬
lich gewesen.
1 . Ich prüfte die Versuche von Katzen stein und
li.evy durch Beobachten der Blutdruckschwankungen des
Gärtn ersehen Tonometers nach. So ging ich in 37 Fällen,
in welchen ich 72 Versuche ausführte, vor.
2. Ich prüfte in denselben Fällen nach, ob die Voraus¬
setzung von Katzenstein, wenn diese Versuche, mittels des
R i V a - R 0 c c i sehen Tonometers ausgeführt würden, zu den¬
selben Schlüssen führen, wie die Blutdruckmessungen nach
Gärtner, richtig ist. Außerdem habe ich in zwölf Fällen
16 Versuche ausschließlich mit dem Riva-Rocci sehen
Tonometer ausgeführt, da das Gärtnersche Instrument
zeitweise gebrauchsunfähig war.
3. Durch genaues Beobachten der Pulskurve während
der Kompression und nach deren Beendigung konnte ich
nicht bloß Aenderungen der Pulsfreciuenz, sondern auch
Störungen seines Rhytmus, der Größe einzelner Wellen, seines
Charakters und seiner Spannung feststellen.
4. Da der gegenwärtige Stand der funktionellen Herz¬
diagnostik sich nicht mit der Feststellung des Blutdruckes
nach Gärtner und des sogenannten maximalen Druckes
nach Riva-Rocci begnügt, so bestimmte ich mittels des
letztgenannten Instrumentes den maximalen und minimalen
Blutdruck und berechnete den Unterschied zwischen diesen
— den Pulsdruck (PD), den Quotient, welcher aus der
Multiplikation von PD mit P resultiert (PD X L) und nach
den neuesten Untersuchungen Fellners Q Aufschluß über
die Geschwindigkeit der Blutzirkulation geben soll, und
schließlich durch Division
PD
Mx
berechnete ich den soge¬
nannten Widerstandskoeffizient von Straßburger “).
Die auf diese Weise ermittelten Resultate werde ich aber
erst in einer späteren Arbeit verwenden.
Das für jeden Fall gesammelte Material brachte ich in
umstehenden Tabellen unter, deren Schema ich anführe.
In einer Reihe von auf diese Weise zusammengestellten
Tabellen sammelte ich mein ganzes über 4000 Zahlen um¬
fassendes Material, auf dem die folgenden Schlüsse be¬
gründet sind.
Der Kürze wegen werde ich Blutdrucksteigerung bei der
Untersuchung mit dem G är t n e r sehen Tonometer und Blut¬
druckabnahme mit PG -|- und PG — bezeichnen, die ent¬
sprechenden Blutdruckänderungen nach Riva-Rocci: mit
PRr-j-, bzw. PRr— . Die Zunahme der Pulsfre(iuenz be¬
zeichne ich mit p -j-, die Abnahme mit p — .
Schon die Ergebnisse der Prüfung von sieben Personen
im Alter von 18 bis 29 Jahren, die ich nach der gewöhn¬
lichen Untersuchung und Anamnese als gesund zu betrachten
berechtigt war, stimmten mit dem Katzenstein sehen
Schema nicht vollständig überein. Ich fand nämlich bei
zweien pO, bei PG -j- 12‘“ und -|- 15‘“, und PRr 15‘“
und 22"‘, bei zwei anderen fand ich analog PG-j- und PRr-j-»
bei p — 4 und — 8, aber bei dem fünften fand ich p — 10,
bei PG = 0‘“ und PRr -f- 8“‘ und bei zwei weiteren fand
ich p — 6 PG — 8‘“, PRr — 5"‘ und p = 0, PG — 5“' und
PRr --13'".
Ich wäre selbstverständlich nicht berechtigt, auf so
spärliches Material über gesunde Individuen (K a t z e n s t e i n
hat bis jetzt mehrere Hunderte untersucht) gestützt, mein
Urteil zu äußern, um so mehr, da ich, obwohl die zwei
letzten Fälle nicht Zahlen, wie man sie nach Katzen¬
steins Angaben erwarten konnte, geliefert haben, sowohl
in diesen zwei Fällen, wie bei den ersten zwei, wenigstens keine
Gegensätze zwischen PG und PRr — bei unvermeidlichem
Unterschiede der diesbezüglichen Zahlen — gefunden habe.
Meine weiteren Untersuchungen an Kranken haben
mich aber zum Schlüsse geführt, daß die K a t z e n s t e i n sehe
Methode nicht immer erlaubt, die Funktionsfähigkeit des Herz¬
muskels richtig zu würdigen, resp. über das Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein eines Energievorrates zu urteilen.
468
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
Tabelle I.
«
S
b£)
cc
Q
C
o
bb
5
C/
g
(H
cq
Pulä
>
m ]
<ü to 1
-’.S'
ü
C Ö
S to
Ta
.03
o
Ci
a
0^
C3
.03
CJ
JO
Q
C3
P. 20
Stau.
Gesund Kompres¬
sion mit
der Hand
Ganz
gesund
Kompres¬
sion mit'
tels
Gummi-
schläuchc
Ganz
gesund
72
72
72
72
72
3'
64
Tonometer
nach Gärtner
Tonometer nac
Maximum
h Riva-Rocci
Minimum
Pulsdruck
(PD)
PDxP
PD
: Mx
j
des Versuches
Vor dem Versuche
Während des Ver¬
suches
Nach, dem Versuche
Differenz während
des Versuches
Vor dem Versuche
1 Während des '\’'er-
1 suches
Nach dem Versuche
Differenz während
des Versuches
Vor dem Versuche
Während des Ver¬
suches
Nach dem Versuche
Differenz während
des Versuches '
Vor dem Versuche
j Während des Ver-
i suches
i Nach dem Versuche
Differenz während
des Versuches
; Vor dem Versuche
Während des Ver¬
suches
1 Nach dem Versuche
Differenz während
des Versuches
Vor dem Versuche
Während des Ver¬
suches
j Nach dem Versuche
Differenz während
des Versuches
3'
3'
3'
3'
1
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
0
110
125
105
15
115
137
136
+22 84
92
98
+8 3T 45
38
+14
2232
3240
2736
+1008
0-27
0-33
0-28
o
ö
+
8'
6'
6'
6'
6'
6'
105
130
97
33
2376
025
10'
10'
10'
10'
10'
10'
110
127
87
40
2880
0-31
20'
20'
20'
20'
20'
20'
110
116
83
33
2376
0-28
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
3'
0
110
125
115
+15
116
138
120
+22
84
92
95
+8 33
46
25
+14
2376
3312
1600
+1008
0-28
0-33
0-20
+0-0G
6'
6'
6'
6'
6'
6'
6‘
6'
6'
6'
6'
6'
6' .
6'
6'
6'
115
115
+5
121
116
+5
85
90
36
26
+3
2592
1716
+216
o
CO
ö
0-22
+0-02
8'
10'
8'
8'
10'
8'
10'
8'
10'.
8'
8'
10'
8'
10'
125
115
+15
121
116
+5
85
83
36
33
+3
2592
2376
+216
0-28
Das von mir gesammelte Material stellt sich nach Gruppen
folgendermaßen dar:
1. Infektionskrankeiten.
Ich beginne mit a) Pneumonia crouposa.
Tabelle II.
Bemerkungen Puls PG PRr
22. VIII. : Temp. 39'^. Rost¬
farbenes Sputum +4 + 5'" d- 5'“
30. VIII. : 5 Tage nach der
Entfieberung -G +14“‘+22‘“
Allgemeinzustand ausge¬
zeichnet.
14. IX. : Allgemeinzustand
außerordentlich schlecht.
Achtmal untersucht, erst
am 4. XI. —2 0"' + 8'“
Arteriosclerosis praecox.
Allgemeinzustand schwer.
1. XII.: Temp. 39ü“ 0 — 5'" + 15"'
G. XII. : 3 Tage nach der
Krisis 0 — 3'“ + 4‘"
17. XII. : 14 Tage fieberlos.
sehr blaß 0 — 10'“ + 5"'
a) Aus der angeführten Tabelle folgt, daß bei den ersten
zwei Kranken mit Pneumonia crouposa die Prüfung des
Energievorrates bei Anwendung des Gärtnerschen urid
Riva-Rocci sehen Instrumentes Ergebnisse geliefert hat, die
zwar nur annähernd aber schließlich doch mit den Angaben
Katzensteins übereinstimmen. Im dritten Falle haben
wir wiederholt trotz schlechten Allgemeinzustandes unver¬
änderte Pulsfrequenz während der Kompression der Femoral-
arterien beobachtet und außerdem trat ein prinzipieller Unter¬
schied zwischen PG und PRr zutage, den man weder durch
Vergleichen von PG mit maximalem PRr, noch durch Ver¬
gleichen von PG mit minimalem PRr oder dem sogenannten
Mitteldruck (Durchschnittszahl von maximalem und minimalem
PRr) erklären konnte. Schon dies eine Beispiel beweist, daß
der Puls bei der Katzenstein sehen Prüfung trotz des
schlechten Zustandes des Kranken unverändert bleiben kann
und daß, trotz Erwartung von Katzenstein, PG und PRr
inanchmal keine analogen Ergebnisse liefern können.
b) Bei Typhus abdominalis, von dem ich drei Fälle beob¬
achtet hatte (ich lasse einen nicht vollendeten weg) — im
ersten wiederholte ich im Laufe von 40 Tagen die Prüfung
fünfmal, im zweiten und dritten dreimal im Laufe von 18,
bzw. 20 Tagen — stimmten meine Ergebnisse mit dem
K a t z e n s t e i n sehen Schema ebenfalls nicht überein. Denn
obwohl in einem Falle bei einem typhösen Rekonvaleszenten
(in gutem Zustande entlassen) die Prüfung p — 12, PG-[-5“‘
Name
1. S. Michel
2. K. Viktor
3. ,J. Joseph
und PRr -[-4"' ergeben hat, so waren die Ergebnisse 18 Tage
früher bei sehr schlechtem Zustande des Kranken folgende
p 0, PG — 10"' und PRr-j-O'". Das Verhalten des Pulses war
folglich gut, was dem Allgemeinzustande widersprach und
PG und PRr wiesen der Voraussetzung von Katzenstein
entgegen Widersprüche auf.
Im zweiten Falle ergab' die Prüfung im Anfänge p-f-lO
trotz PG-|-20"‘ und PRr-[-22‘"; nach neun Tagen waren
die Zahlen bei schlechtem Befinden des Kranken ; p — 8,
PG_|_5'«^ PRr — 12‘" und in den folgenden Tagen ergab die
Prüfung bei gutem Befinden : p 6, PG — 20“ aber PRr -j- 22'" ;
mit anderen Worten Unterschiede im Verhalten der Puls¬
frequenz und des Blutdruckes, welche den ganzen Wert der
Methode in Frage stellen.
Im dritten Falle habe ich zwar konstant (fünfmal im
Laufe von 40 Tagen) bei schlechtem Befinden des Kranken
p -f- 2 bis -f- 26 bei PG — 5‘" bis — 15"' gefunden, aber in
PRr war gar keine Regelmäßigkeit zu finden : -f- 3'", — 3"',
-f 3 ", — ll"‘ und -f 7'".
c) Bei Rheumatismus mit sekundären Affektionen des
Endokards (fünf Fälle und 10 Prüfungen) habe ich ebenfalls
verschiedene Widersprüche beobachtet. Ich fand z. B. in einem
Falle p — 6 bei PG — 5'" und PRr — 11'", in einem anderen
p — 8 bei PG — 5'" und. PRr — 1'", während der schlimme
Allgemeinzustand des Kranken vorausselzen ließ, daß wir
neben der Abnahme von PG und PRr eine Zunahme der
Pulsfrequenz anstatt der Abnahme beobachten werden. Im
dritten Falle fand ich p-|-4 trotz PG -[-20'", bzw. 30'"
und PRr 5"', resp. -^20'"; im vierten aber: p-l“^^ f^otz
PG-|-5'" und bei PRr — 5'". Im fünften Falle fand ich p 12,
PG 0, PRr — G'" und später p -[- 5, PG — 20'", PRr — 1'", mit
anderen Worten PG und p verhielten sich in diesem Falle
zwar gemäß dem Katzenstein sehen Schema, aber PRr
wies ziemlich beträchtliche Unterschiede von PG auf.
2. Bei der Untersuchung von Kranken mit verschiedenen
Herzfehlern, Herzinsuffizienz und weit vorgeschrittener Arterio¬
sklerose (zusammen 14 Kranke) stimmten die Ergebnisse
ebenfalls miteinander nicht überein. Ich fand nämlich in
vier Fällen p 4, -1-4, -|- 6, -[-14, bei PG-^5'", -j-
-|- 10'" und -F 5'" und PRr -|- 6'", -f- 2'", -j- 22'", und 19'",
d. h. Zunahme der Pulsfreijuenz trotz einer Steigerung des
Blutdruckes.
In drei weiteren Fällen fand ich bei p = 0 einmal
PG — 15'" und PRr — 1"‘, das zweite PG -[- 2'" und PRr-j- 2'"
und das dritte PG-[-5'" und PRr — 4'". In anderen vier
Fällen fand ich zweimal bei p -j- 2 und -|- 4 PG — 15'" und 0,
dafür aber PRr -|- 10'" und 6'" und zweimal ganz umge¬
kehrt; bei p-F^ 4“ 12 war PG-F8‘" und -F 10'",
Nr. 16
469
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
dafür PRr — 1 und — 7. Nur in zwei Fällen beobachtete
ich bei der Abnahme der Pulsfrequenz eine Steigerung des
Blutdruckes, u. zw. bei einem p — 12, PG -j- 5“' und PRr -j- 15‘"
und bei dem zweiten p — 20, PG -|- 10'“ und PRr 2‘“.
Aber sogar in dem letzteren Falle traten im weiteren Verlaufe
der Krankheit gewisse Abweichungen von dem Katzen¬
stein sehen Schema hervor. Denn " nachdem sich der Zu¬
stand des Kranken bedeutend gebessert hatte, stieg zwar
PG von 10'“ auf -{- 17“' und PRr von 2 auf 20'“,
aber anstatt p — 20 fanden wir nur p — 8.
3. Nicht minder groß waren die Widersprüche in den
Ergebnissen der Prüfung Nierenkranker, unter welchen zwei
junge Leute waren und vier gleichzeitig an weit vorgeschrittener
Arteriosklerose litten. Nur bei zweien habe ich gemäß dem
K a tze n s t e in sehen Schema eine Abnahme des Blutdruckes
neben einer Zunahme der Pulsfrequenz, nämlich ; p -f- 4,
PG — 5'", PRr — 8'“ und p + 3, PG — 5'“, PRr — 12'“ fest¬
gestellt. Bei den anderen waren die Widersprüche verschieden.
Bei dreien fand ich Steigerung des Blutdruckes neben einer
Zunahme der Pulsfrequenz, u. zw. bei einem p 6, PG -j- 5“',
PRr -f- 8'“, beim zweiten p 7, PG -j- 7“', PRr -(- 8“' und
beim dritten p -|- 14, PG -j- 2'“, PRr -}- 15“' ; bei einem
anderen Abnahme des Blutdruckes ( — 5'“) neben einer Ab¬
nahme der Pulfrequenz ( — 4). Noch bei einem anderen
Kranken mit beträchtlicher Albuminurie fand ich im Anfang
p-[-18, PG-|-5“‘, PRr 0“'; während der Besserung fand ich
p -j- 14, PG 0'“ und PRr — 12“' und während einer abermaligen
Verschlimmerung p -f- 14, PG-]-19''', PRr -|- 13'“. In allen
Fällen waren also die Ergebnisse ganz verschieden von dem,
was wir nach Katzenstein erwarten sollten,
4. Unter Fällen chronischer Vergiftung des Organismus
habe ich nur in zwei Fällen von chronischem Alkoholismus
Ergebnisse erhalten, welche mit dem K a t z e n s te i n sehen
Schema für schwaches Herz übereinstimmen, u. zw. bei einem
Kranken p -)- 14, PG — 7'“, PRr — 14'“ und bei dem zweiten
p 10, PG — 25'“, PRr — 15'“. Bei anderen Kranken traten
in dieser Hinsicht verschiedene Widersprüche hervor. Bei
Bleivergiftung beobachtete ich z. B. Abnahme von PG bei
unveränderter Pulsfrequenz und dazu PRr -j- 4'“. Die Prüfung
von zwei ikterischen Kranken ergab bei einem Zunahme der Puls¬
frequenz bei unverändertem PG und PRr -{- 13“' und bei dem
zweiten unveränderte Pulsfrequenz bei PG — 5'“ und PRr 6'“.
Außerordentlich dem Katzenstein sehen Schema
widersprechende Ergebnisse erhielt ich in einem Falle von
Diabetes mellitus. Ich habe nämlich bei 7-57o Zucker im
Harn p — 5, PG-}-8'“, PR -[-13''', d. h. ein scheinbar funk¬
tionsfähiges Herz gefunden. Nachdem der Zuckermangel im
Harn auf 2’57o gefallen war und gleichzeitig Azeton im
Harne erschien, waren die Zahlen p -[-5, PG-j- 13'“ PRr — 6“',
mit anderen Worten PG würde eine Besserung aber p und
PRr eine Verschlimmerung anzeigen. Und nachdem der Azeton
aus dem Harn verschwand und die Zuckermenge = 4'57o5
ergab bei gutem Allgemeinzustande die Prüfung der Puls¬
frequenz (p — 20) eine Besserung der Herzfunktion, während
die Ergebnisse der Pulsdruckprüfung bestimmt dagegen
sprachen (PG — 19'“ und PRr — 10'“).
In Anbetracht der erwähnten zahlreichen Widersprüche
zwischen den ermittelten Ergebnissen werde ich die bei einer
Reihe anderer Kranken erhaltenen Zahlen nicht mehr resü¬
mieren und die Einzelheiten des Verhaltens von p, PG und
PRr nach der Unterbrechung der Kompression der Krural-
arterie nicht näher analysieren. Ich bemerke nur, daß ich
auch in dieser Flinsicht keine Gesetzmäßigkeit in dem ge¬
sammelten Material gefunden habe. Ich muß also den Schluß
äußern, daß die Katzen st einsche Methode, deren Wert
geradezu unabschätzbar wäre, wenn man der Prüfungsergeb¬
nisse sicher sein könnte, nicht zur klinischen Anwendung
als immer sichere Methode der Funktionsprüfung des Herzens
empfohlen werden kann. Man kann nämlich das Herz weder
als funktionsfähig betrachten, wenn die Ergebnisse mit dem
Katzenstein sehen Schema übereinstimmen, noch als
insuffizient, wenn die Ergebnisse diesem Schema wider¬
sprechen.*) Es unterliegt keinem Zweifel, daß K a t z e n s t e i n
uns auf eine klinisch sehr wichtige Tatsache aufmerksam
gemacht hat, und es kann sein Verdienst in dieser Hinsicht
absolut nicht unterschätzt werden, aber es ist bei dem gegen¬
wärtigen Stande der klinischen Untersuchungstechnik unmöglich,
irgendwelche Gesetzmäßigkeit darin zu ergründen. Es findet
nämlich bei diesen Proben ein sehr lebhaftes Spiel der
Vasomotoren statt, welches das Resultat der Puls- und Blut¬
druckschwankungen sehr beträchtlich beeinflußt und uns
richtige klinische Schlußfolgerungen über den Herzzustand in
einer Reihe von Fällen unmöglich macht. — Einen materiellen
Beweis des bei diesen Proben vorkommenden Vasomotoren¬
spiels stellen uns zahlreiche dabei beobachtete Pulskurven¬
veränderungen. Ich will hier die letzten näher besprechen,
da dies bis jetzt weder von Katzenstein, noch von
F. Levy gemacht wurde.
Die Veränderungen der Puls kurve sind verschieden
und beziehen sich sowohl auf Rhytmus wie Größe, Span¬
nungsgrad einzelner Wellen und Zelerität oder Tardität. Es
scheint mir unmöglich, sie näher zu erklären. Da sie aber
bei unveränderter Lage des Sphygmographen, bei gleicher
Einstellung des Schreibhebels und Exzenters und bei möglichst
derselben Haltung der Hand während der ganzen Versuchs¬
dauer auftreten, so muß man sie, meiner Ansicht nach,
von raschen, während dieser Versuche vorkommenden Ver¬
änderungen des Blutdruckes in Abhängigkeit bringen. Ein
Verhältnis zwischen dem Grade der Richtung der Blutdruck¬
schwankungen im Laufe des Versuches einerseits und dem
Grade und dem Charakter der beobachteten Aenderungen
der sphygmographischen Kurve anderseits festzustellen, scheint
mir zurzeit unmöglich. Es ist z. B. nicht klar genug, warum
bei diesen Aenderungen des Blutdruckes im Laufe des Kom¬
pressionsversuches bei gewissen Kranken nur Aenderungen
des Spannungsgrades der Welle Vorkommen, bei andern nur
in ihrer Größe oder in einer Abrundung des Gipfels, bei
anderen nur im Rhytmus und schließlich bei noch anderen
gleichzeitig in einigen dieser Richtungen. Denn wir sind ja
zurzeit nicht imstande, den Zusammenhang zu ergründen,
welcher zwischen dem Blutdrucke einerseits und den Ver¬
änderungen der in ganz analogen äußerlich-mechanischen
Bedingungen aufgenommenen Pulskurve anderseits existiert.
Wenn wir aber aus diesem Grunde nicht zugeben wollten,
daß das lebhafte Spiel der Vasomotoren allein die fort¬
während beobachtete Pulskurve unmittelbar beeinflußt, so
hieße das eine zweifelsohne existierende Tatsache nur des¬
halb verneinen wollen, weil wir ihre Entstehung noch
nicht erklären können. Ohne also irgendwelche Erklärung
der unten angeführten Tatsachen geben zu wollen, führe
ich nur objektiv dasjenige an, was ich sicher beobachtet habe.
Was den Pulsrhytmus betrifft, so habe ich außer
den mehrmals in dieser Arbeit erwähnten Aenderungen der
Frequenz, verhältnismäßig oft beobachtet, daß ein ganz
regelmäßiger Puls sofort nach dem Anlegen der komprimie¬
renden Binden arrhytrnisch wurde, wobei diese Arrhytmik
in gewissen Fällen schon zu Ende der Kompression ver¬
schwand (z. B. bei einem Pneumoniker) manchmal aber nicht
nur während der ganzen Dauer der Kompression anhielt,
sondern diese sogar um 10 bis 15 Minuten übertraf (z. B. in
einem Falle von arteriosklerotischer Nephritis). In einem
anderen Falle (Pneumothorax) wurde ein rhytmischer Puls,
welcher nur respiratorische Schwankungen aufwies, während
der Kompression gänzlich arrhytrnisch.
Nach der Unterbrechung der Kompression wurde der
Puls nach 2' ganz rhytmisch nur hyperdikrot, während er
früher hypodikyot war. In einem Falle wurde eine vorüber¬
gehende Bigeminie des Pulses während der Kompression
konstant, um nach der Unterbrechung der Kompression
wieder wie vorher zu werden. Bei einem Kranken, dessen
Pulsfrequenz vor dem Versuche 68 in 1' betrug, wurde diese
*) Ich beobachtete z. B. einen Phthisiker mit septischen Symptomen,
bei dem die Prüfung nach Katzenstein 30 Stunden vor dem Tode
p — 4, PG und PRr -j- 10'" ergab.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
bald im Beginne des Versuches 110 und blieb auf dieser
Höhe während des ganzen Versuclies und sogar eine Stunde
nach der Kompression.
^Vas die Aenderungen der Pulsspannung betrifft, so
habe ich einige Male den Uebergang eines normal gespannten
Pulses in dikroten während der Kompression beobachtet,
wobei der Puls beim Nachlassen der Kompression manchmal
nach einigen Minuten zur Norm zurückkehrte, manchmal
aber auch nach dem Versuche dikrot blieb.
In einigen Aveiteren Fällen wurde ein nur mäßig weicher
Puls während der Kompression der Kruralarterien deutlich
dikrot. In einem Falle (Endocarditis subacuta) wurde ein
dikroter Puls für die ganze Dauer des Versuches deutlich
gespannt.
Im fieberhaften Stadium der kruppösen Pneumonie
habe ich einmal beobachtet, daß der normale Puls während
der Kompression sehr gespannt wurde. Zweimal habe ich
eine entgegengesetzte Veränderung der Pulsspannung be¬
obachtet: in einem Falle von Nephritis wurde der stark ge¬
spannte Puls während der Kompression der Kruralarterien
deutlich dikrot und kehrte erst 15 Minuten nach der Ent¬
fernung der Binden zu seiner ursprünglichen Form zurück.
In einem anderen ganz analogen Falle, wo der stark ge¬
spannte Puls während der Kompression dikrot wurde, gewann
dieser im weiteren Laufe des Versuches seine ursprüngliche
Form nicht zurück, sondern wurde was die Spannung und
andere Eigenschaften betrifft, ganz normal. In einem dritten
Fall von Nephritis beobachtete ich, daß ein rhytmischer
stark gespannter Puls während der Kompression der Krural¬
arterien ganz arrhytmisch wurde und die einzelnen Wellen
verschieden gespannt und nach der Entfernung der Binden
wieder rhytmisch dikrot, was erst nach 10 Minuten der
ursprünglich beobachteten starken Spannung Platz machte.
Kurzum im Laufe der Katzen st ein sehen Versuche
hatte ich wiederholt Gelegenheit, verschiedene Aenderungen
der Pulsspannung im Laufe von einigen oder mehreren
Minuten zu beobachten. Die Richtung dieser Aenderungen
der Pulsspannung entsprach, wie schon bemerkt, keineswegs
immer der Richtung der beobachteten Blutdruckschwankungen.
In einem Falle wurde der Puls mehr gespannt, während der
Abnahme des Blutdruckes, in anderen — und das viel
öfter — wurde der Puls weniger gespannt, resp. dikrot eben
dann, Avann der gleichzeitig gemessene und verzeichnete
Blutdruck um 15“' bis 20'“ und mehr stieg. Diese Disharmonie
zwischen den Aenderungen der Pulsspannung und den ver-
zeichneten ScliAvankungen des Blutdruckes gelten, sowohl für
die Ergebnisse des Gär tn ersehen Avie des Riva-Rocci-
schen Tonometers.
In einigen Fällen nahm gleich im Beginne der Kompression
der Kruralarterien die Größe der aufgezeichneten Pulswellen
deutlich aber vorübergehend zu.
Was schließlich den eigentlichen Charakter des Pulses
betrifft (seine Zelerität und Tardität), so habe ich in vielen
(aber nicht in allen) Fällen bemerkt, daß schon das Zurück¬
führen des Blutdruckes in der A. brachialis bei der Bestimmung
des Minimaldruckes mittels des Riva - R o c ci sehen Instrumentes
zur' Norm dieses bewirkt, daß die der normal aussehenden
Welle vorausgehenden deutlich mehr tardus sind, als jene,
d. h. einen viel mehr abgerundeten Gipfel haben. Dies Avar
mir besonders in zwei Fällen Amn Aorteninsuffizienz auf¬
gefallen.
ZuAveilen treten die Veränderungen der Form der Puls¬
kurve erst nach der Entfernung der komprimierenden Binden
hervor. Auch hier können sie in verschiedenen Richtungen
sich äußern, obwohl sie in den meisten Fällen nur die
Spannung betreffen. Ich habe dabei z. B. den Uebergang
eines normalen Pulses in hypodikroten (bei drei Kranken)
oder hyperdikroten — bei einem Pneumoniker fünf Tage
nach Amllendeter Krisis — beobachtet. Bei einem anderen
Kranken Aviirde ein geAvöhnlicher »Aveicher« Puls hyperdikrot.
Schließlicl; Avurde in einem Falle von Nephritis der Puls,
welcher vor der Kompression der Kruralarterien und Avährend
derselben sehr stark gespannt Avar, plötzlich nach der Unter¬
brechung der Kom[)ression Aveich, dann im Laufe Amn drei
Minuten normal und erst nach Aveiteren zehn Minuten so
stark gespannt Avie im Anfänge. ObAvohl ich schon früher
verzeichnet habe, daß die Richtung der Aenderung der
Arterien, bzAV. Pulsspannung in meinen Versuchen von der
Richtung, bzAv. von dem Grade der BlutdruckschAvankungen
ganz unabhängig Avar, so war doch das zuletzt beschriebene
Verhalten der Pulsspannung von einem beträchtlichen Fallen
des Blutdruckes bald nach dem Entfernen der Binden,
nämlich von PG 183'“ auf PG 139 oder — 44'“ und von
PRr 193'“ auf PRr 166“' oder — 27'“, begleitet. Seinen
früheren stark gespannten Charakter nahm dieser Puls (bei
immer gleich bleibender Pulszahl) erst bei der Steigerung
von PG um 24'“ und PRr um 8'“, Avodurch PG seine ur¬
sprüngliche Höhe (vor dem Beginn der Kompression) erreicht
hat und PRr noch hinter dieser um 6“' blieb.
Ebenso Avie alle anderen Avährend der Versuche nach
Katzenstein scher Methode zu beobachtenden Erscheinungen
am Puls und Blutdruck bei dem gegenwärtigen Stande der
klinischen Technik der funktionellen Herzprüfung nicht ganz
verständlich sind, bleibt für sich auch diese Tatsache dunkel,
Avarum bei geAvissen Kranken die Veränderungen der Puls-
form Avährend der Kompression Vorkommen und bei anderen
erst nach der Unterbrechung derselben. Anfangs glaubte ich,
daß man irgend ein Verhältnis zAvischen diesen Veränderungen
und dem Zustande des Herzens AA^erde ergründen können,
nach eingehender Analyse des gesammelten Materials über¬
zeugte ich mich aber, daß dies vorderhand unmöglich ist.
Li teratur:
9 Romberg, Nach Nr. 5 und 8. — Gräupner, Ebenda. —
9 Winternitz, Verhandlungen des K. V. f. inn. Med. 1886. —
Cybulski, Sl. Petersb. med. Woch. 1878. — Katzenstein,
Deutsch, med. Woch. 1903, Nr. 22 und 23. — ®) Katzen st ein,
Deutsch. Zeitschr. f. Chirurgie, Ed. 77. — 9 Katzen stein, Medizinische
Klinik 1906, Nr. 40, S. 1035. — 9 Levy Fritz, Zeitschr. f. klin. Med.
1906, Bd. 60, S. 74. — ®) Fellner Br., Deutsch. Arch. f. klin. Med.
1906, Bd. 88, S. 1 bis 35. — Straßburger J., Zeitschr. f. klin.
Med. 1904, Bd. 54, H. 5 bis 6, S. 375 bis 407. — ”) Straßburger J.,
Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1905, Bd. 82, H. 5 bis 6 S. 459 bis 494. —
’9 Senator, Deutsch, med. Woch. 1903, Nr. 4. — '9 Krehl, Deutsch,
med. Woch. 1905, Nr. 47.
Aus der Abteilung für Nerven- und Geisteskranke des
k. u. k. Garnisonsspitales Nr. 1 in Wien. (Chefarzt
Stabsarzt Dr. Bruno Drastich.)
Zur Epidemiologie der Tetanie.*)
Von Regimentsarzt Dr. Emil Mattauschek.
Ueberblickt man die Lileraiur der Tetanie in den letzten
zehn Jahren seit v. Frankl-IIochAvarts^) erschöpfender
Bearbeitung, so ist unstreitig dank des regen Interesses,
welches die Forschung dieser Kranldieit zugeAvendet hat,
eine reiche Erweiterung unserer Kenntnisse über das Wesen
derselben und insbesondere über die Pathogenese des
genannten Leidens erreicht worden. Die experimentellen
Arbeiten von Vassale und Generali,^) Je ande 1 i z e,^)
Mac Callum,'^) Biedl,^) Pineies, Lundborg,^) Erd¬
heim,®) Alciuier,^) etc. führten zur Erkennlnis der patho¬
logischen Grundlage gewisser Formen der Tetanie, als
einer durch Funktionsstörung der Glandula parathyreoidea
im Sinne einer Ausfallserscheinung der inneren Sekretions-
Avirkung dieser Drüse bedingten Erkrankung des Nerven¬
systems.
Von chirurgischer Seite fand diese Erklärung
ihre volle Bestätigung und Avitl ich diesbezüglich nur auf
Kochers^®) neuestens ausgesprochene Erfahrungen und
Anschauungen über die thyreopriAmn und thyreotoxischen
E rkrankungen verAveisen.
Bezüglich der direkt a u s 1 ö s e n d e n U r s a c h e n
i. e. der Aetiologie der nicht operativ bedingten Formen
des Leidens konnte jedoch eine einheitliche Auffassung bis
jetzt nicht platzgreiteii und- di'irfte eine solche überhaupt
*) Vorläufige Mitteilung, erstattet in der Gesellschaft für innere
Medizin und Kinderheilkunde in Wien am 21. Februar 1907.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 190?.
471
kaum erreichbar sein. Wir kennen die Tcianie Ijei Magen-
nnd Darinaffektionen, bei akiden Infektionskrankbeilen, Ver-
giftnngen, die Kindertetanie, die Tetanie der Maternität nnd
als größte Clrnppe die sogenannte idiopatbiscbc, endeiniscbe,
beziebnngs weise endemische Form nnd bat. speziell Pi-
neles*) auf Grund des bei all diesen Arten zu beob-
acbtenden epidemischen Auftretens in den Frübjahrs-
monaten, sowie der klinischen Uebereinstimmnng der Krank-
beitsbilder nenerdings die Annahme einer gemeinsamen
. p at h 0 1 o g i s c h - p h y s i o bo g i s c h e n B a s i S’ in Form eines
znr Wirksamkeit gelangenden Tetaniegiftes für gerecht¬
fertigt ansgesprochen.
Dnrcli welches endogene oder exogene Agens dieses
Gift wirksam wird, oder bei der von Lundborg**) und
von Chvostek jun.^^) postulierten angeborenen oder
erworbene n, im Individuum gelegenen D i s p o s i t i o n z ii r
spezifisch tetanischen Reaktion die Krankheitser¬
scheinungen manifest werden, ist noch immer unbekannt.
i!Am schwierigsten liegen die Verhältnisse bei der ende¬
misch-epidemischen Form, bei welcher jene unljekannte
Noxe an Ort und Zeit gebunden zu sein scheint nnd wo
zur Erklärung, wa!rum dieselbe fast nnr Individuen aus dem
Proletariate, insbesondere gewisse Arbeiterkategorien schä¬
digt, durch die Haltung bedingte Zirkulationsstö¬
rungen (Lundhorg***), hygienische Verhältnisse,
(Kasso witz,^^) unbekannte Vorgänge im menschlichen Or¬
ganismus zur Zeit des Frühjahres (Clivostekf) herange¬
zogen werden. Vollends dunkel ist aber der Zusammenhang
individueller Disposition mit dem unregel¬
mäßigen e n d e m i s c h e n V o r k o m m e n der Tetanie a n
ganz bestimmten Orten. Nach v. F r a n k 1 - H o c h w a r t s
Angaben über die Verl)reitung der Tetanie in Europa ist die¬
selbe in England, Frankreich sehr selten, in Deutschland
nur in Heidelberg häufiger, wogegen die Arbeiten von
Krau shar,^^) Voss,^^) Wermel^'^) über das ziemlich plötz¬
liche endemische, resp. epidemische Wiederauftreten der
Erkrankung in Rußland, speziell in Warschau, Petersburg
und Moskau Aufsebluß geben. So beriebtet Wermel über
sieben Fälle, bei Arheitern einer Abteilung in einer Gummi¬
fabrik in Moskau, Voss über auffallend häufige Erkran¬
kungen bei Bleiarbeitern (49 Fälle in 15 Jahren) in
Petersburg.
In Oesterreicli war bisher Wien als Hauptherd be¬
kannt, wo die Tetanie, ebenso wie in Budapest (Jacobi,^*’)
Fe ren c z i,^’^) wenn auch in geringerem Grade, endemisch
ist und in manchen Jahren epidemieartig auftritt.
Um in die geographische Verteilung der Tetanie in der
österreichisch-ungarischen Monarchie einen Einblick zu ge¬
winnen, habe ich das mir zu Gebote stehende Material ge¬
sammelt und einer genaueren Sichtung unterzogen.
Von den Kranken, welche in das Garnisonsspital
Nr. 1 in Wien in den letzten zwölf Jahren (1895 bis 1906
inklusive) aufgenommen wurden und deren Zahl 56.000
übersteigt, habe ich die Krankengeschichten selbst ausge¬
hoben, von den übrigen 26 Garnisons- und größeren Truppen¬
spitälern der Monarchie die wichtigsten Daten der letzten
zehn .lahre (1896 bis 1905 inklusive) dureb Aussendung
von Fragebogen eingeholt.
[Wenn ich mir auch dessen bewußt bin, daß bei ein¬
zelnen Zahlen absolut genommen Fehler anhaften dürften,
so gestattet doch die Verwertung eines dem Alter, der Re-
schäftigung, Lebensweise und Rüstigkeit nach so homogenen
Materiales manche vergleichende Schlüsse.
Beleuchtet man die bezüglichen Verhältnisse der Gar¬
nison Wien, deren Kopfstärke mit ca. 21.000 Mann an¬
genommen werden kann, zunächst gesonderl, so ergibt sich,
(laß in zehn Jahren in den beiden Garnisonsspitälern
(Nr. 1 und Nr. 2) 16 + 5 = 21 Fälle zur Aufnahme
kamen, von denen 14 +> 2 -- 16 auf die bekannten Monate
*) Pineies, 1. c.
**) Lundborg, I. c.
***) Lundborg, I. c.
t) Lundborg, 1. c.
Februar, März, iVpril fallen, und 3 + 2 = 5, also 15%,
respektive 10%, Schuster mul Schneider Ijetrafeii.*)
Im allgemeinen glaube ich annelnnen zu dürfen, daß
die Daten der zivilen Krankenanstalten untere
Grenzen darstellen, da dort doch nur scliwerere Fälle
zur Aufnahme gelangen, während meine Zahlen als obere
Grenzen gelten können, weil beim Militär auch leichte Fälle
zur Spitalsabgahe kommen.
Tabelle I.
Vorkommen der Tetanie nach Garnisonen und Jahren:
Ort
1896
1897
1898
1899
1900
1901
1902
19031904
1905
Summe
Wien . . .
9
1
—
1
1
2
2
2
2
1
21
Brünn . . .
—
—
—
1
—
2
2
3
1
2
11
Olmütz . . .
1
1
—
—
—
—
—
1
2
4
9
Przemysl . .
—
2
—
—
1
2
1
—
l
1
8
Lemberg . .
—
—
1
1
1
—
—
—
2
2
7
Krakau . . .
—
—
—
-
—
—
—
2
2
—
4
! Jaroslau . .
1
2 ■
—
—
—
— -
—
—
1
1
—
4
Prag. . . .
—
2
—
—
1
—
—
—
—
1
4
1 Poszony . .
2
1
—
1
—
—
—
—
—
—
4
Laibach . .
—
—
—
—
—
1
2
—
—
—
3
Budapest . .
—
—
—
—
1
—
1
—
1
—
3
! Graz ....
1
—
1
—
—
—
—
—
—
—
2
j
Klagenfurt
1
1
2
Szombathely .
—
—
—
—
—
1
—
1
—
—
2
Bruck a. L. .
—
—
—
—
—
—
—
—
1
1
i Theresienstadt
—
—
—
—
—
—
—
1
—
—
1
Sarajevo . .
—
—
—
—
—
1?
—
—
—
—
1?
Kecskemet
—
—
—
—
—
—
—
-
1
—
1
Görz ....
—
—
—
—
—
—
—
1
—
—
1
Eger ....
—
—
—
—
—
1
—
—
—
—
1
Summe
16
7
2
4
5
10
8
12
13
13
* 90
1 1
Bei der Durchsicht der Zusammenstellung der Daten
für die ganze Monarchie fällt vor allem auf, daß auf eine
Kopfzahl von rund 400.000 Mann nur 90 Tetanie fälle
in zehn Jahren — und zwar ausschließlich bei Per¬
sonen des Mannschaftsstaiides — erhoben werden konnten.
Von diesen 90 Fällen kommen auf Wien allein 21, auf
Brünn 11, Olmütz 9, Przemysl 8, Lemberg 7, Preß-
burg, Prag, Krakau, Ja ros lau je 4, wogegen die übrigen
zum Teile gleich großen Garnisonen nur vereinzelte Fälle
auswiesen. Auffallenderweise und im Gegensätze zu den
Angaben Jacobis**) und Ferenczis***) berichteten die
beiden großen Garnisonsspitäler in Budapest zusammen
nur über drei Fälle, wofür ich keine rechte Erklärung finden
kami. Von der größeren Anzahl von Garnisonen, speziell
von den südlichen und am Meere gelegenen Sta¬
tionen (Triest, Zara, Cattaro, Ragusa), sowie aus den
bosniscli-herzegowinischen Orten liefen Fehl¬
berichte ein.
Xleberblickt man die Vergleichszablen in ibrer An¬
ordnung nach .Jahren zwischen der neuesten Aidstellung
V. Frankl-Hochwar tsf) und meiner Statistik, so ist dar¬
aus ersichtlich, daß der gemeinsame Gipfelpunkt in
das Jahr 1896 fällt, in welchem .Jahre nach Loewenthal
und Wie brecht^®) in Breslau gleichfalls ein stärkeres,
epidemisches Auftreten der Tetanie festgeistellt wurde. Dann
*) Es soll gleich hier bemerkt werden, daß teim Militär die ge¬
nannten Berufe gewiß nicht intensiv in ihren Professionen ausgenülzt
werden.
**) Jacobi, 1. c.
***) F e r e n cz i, 1. c.
f) V. Franki- Hoch wart, 1. c.
f ■
'ä:s -
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
Tabelle II.
Vorkommen der Tetanie nach Garnisonen und Monaten :
Ort 1
Jänner
r£>
ID
Sl
s
April
Mai
1 Juni
Juli
1
Aug.
Sept.
iS
o
Nov.
1 1
c.
E
m
' CO
Bruck a. L. .
—
—
1
—
-
—
—
—
—
—
—
1
Brünn . . .
3
6
1
—
—
—
—
—
—
—
1
11
Budapest . .
—
—
—
—
2
1
—
—
—
—
—
—
3
Eger ....
—
1
1
Graz. . . .
—
1
1
—
—
—
—
—
—
—
—
—
2
Kecskemet. .
—
—
1
—
—
—
—
—
—
—
—
1
Görz ....
1
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1
Klagenfurt
1
—
—
-
—
—
—
—
—
—
—
1
2
Krakau . . .
1
—
2
—
—
—
—
—
—
—
1
—
4
Jaroslau . ..
—
—
1
1
1
1
—
—
—
—
—
—
4
Laibach . .
—
2
—
1
—
—
—
—
—
—
—
—
3
Olmütz . . .
I
3
4
1
—
—
—
—
—
—
—
—
9
Lemberg . .
1
—
4
1
—
—
—
—
—
—
1
—
7
Poszony . .
—
2
1
—
—
—
—
—
—
—
—
1
4
Prag ....
2
—
1
—
1
—
—
-
—
—
—
—
4
Przemysl . .
1
1
4
1
—
—
—
—
—
1
—
—
8
Sarajevo . .
—
—
—
—
—
—
—
—
1?
—
—
—
1?
Szombathely .
—
1
—
1
—
—
—
—
—
—
—
—
2
Theresienstadt
—
—
—
—
1
—
—
—
—
—
—
—
1
Wien . . .
2
6
5
5
2
—
—
—
—
1
—
—
21
Summe
!i3
!
23
26
11
7
2
—
—
1
2
3
2;
i
90
V e r g 1 e i c h s k u r V e n.
V. Frankl-
H ocliwart
1ÖÜ7
Allgeiii.
Kranken-
liaus
k. u. k.
Heer
zeigt sich ein Abfall and Tiefstand bis zu den Jahren
1901, 1902, von welchen angefangen wieder ein gleich¬
mäßiger Anstieg bis zum Jahre 1905 stattfand. Was
die Verleilung der Källe auf die verschiedenen Monate des
Jahres l)etrifft, so kommen 12 auf den Januar, 23 auf
den Februar, 26 auf den März, 11 auf den April,
während die anderen Monate zusammeiigenommen nur
18 Fälle aufweisen. Das Verhältnis der verschiedenen
Berufe, Schneider : Schuster ; Sonstige, stellt sich wie
2:3: 10. Vergleicht man dam i t v. F r a n k 1 - H o c h w a r t s A n-
gahe, daß die Schuster 41mal, die Schneider IGinal so viel
Krkrankungsfälle liefern, als diesen Berufen ihrem relativen
Zahlenverhällnisse nach zukärae, so fällt eine erhebliche
Differenz auf. Beim Militär kann man 2®/o Schuster,
respektive Schneider rechnen, woraus sich ergibt, daß hier
die Prävalenz der genannten Professionisten un¬
gleich geringer ausgesprochen ist, indem nur sechs¬
mal soviel Schneider und siebenmal soviel
Schuster erkrankten, als ihrem Prozentsätze entsprechen
würde. Dies dürfte seine Erklärung in allgemeinen Mo¬
menten finden, auf die ich später noch zurückkommen
möchte, sowie in dem Umstande, daßi die berufsmäßige
Ausnützung der genannten Leute heim Militär eine we¬
niger exklusive und weniger intensive ist.
Um schließlich auch die Frage nach einer vorläufigen
Prognosestellung und der Neigung zu Rezidiven
zu berühren, möchte ich, als den Erfahrungen v. Frankl-
Hoch wart entsprechend, hervorhehen, daß 50 Heilungen
40 Fälle gegenüberstehen, hei welchen die Dienst¬
tauglichkeit für längere Zeit verloren ging, sowie, daß
unter den 90 Fällen 23 wiederholte Erkrankungen-
festgestellt werden konnten. Diese 23 Fälle betrafen teils
Leute, welche bereits in Zivil einmal an Tetanie erkrankt
waren, teils während ihrer aktiven Dienstzeit mehrmals er¬
krankten und wobei die Rezidive kurze Zeit nach der
ersten Entlassung aus der Behandlung nicht gerechnet,
sondern nur Neuerkrankungeu frühestens nach Jahresfrist
ins Kalkül gezogen wurden.
Zieht man aus diesen statistischen Daten das Re¬
sümee, so ergibt sich vor allem, daß die Tetanie im
Heere eine nicht häufig vorkommende Erkrankung ist
und gewiß seltener beobachtet wird, als im Zivil. Da
die fragliche Infektionsmöglichkeit von außen für
sämtliche in einer bestimmten Gegend lebenden Individuen
so ziemlich die gleiche ist, refrigeratorische Schäd¬
lichkeiten für den Soldaten gewiß häuf i ger und inten¬
siver in Betracht kommen, so ist die Erklärung dafür wohl
nur zu suchen einerseits in der für den Soldaten notwen¬
digen guten Körperkons fitution, in der regelmäßigen
Lebensweise, anderseits aber auch zweifellos in den
hygienischen Verhältnissen, welche gegenüber den
Lebensbedingn Ilgen des größeren Teiles des Proletariates
als recht günstige anzusehen sind. '
Die Verteilung der Fälle auf die verschiedenen
Garnisonsorte läßt ersehen, daß in der Monarchie außer
in Wien auch in Mähren (Brünn, Olmütz) und in Ga¬
lizien (Przemysl, Lemberg, Krakau) Tetanieherde sind,
während die südlichen, insbesondere die am Meere gelegenen
Stationen tetaniefrei, Tirol und Steiermark, wo der
Kropf endemisch ist, auffallend tetaniearm sind. Auf
letzteren Umstand hat bereits v. Frankl-Hochwart
verwiesen und jüngst erst wieder Chvostek*) aufmerk¬
sam gemacht und nimmt speziell letzterer für das gehäufte
Auftreten der Tetanie an bestimmten Orten ähnliche Vor¬
gänge an den Epithelkörpern an, wie sie für das analoge
Verhalten des Kropfes supponiert sind. Erwägt man,
daß in der Vlonarchie trotz des Wechsels einzelner
Heeresteile, welche sich aus den verschiedensten Orten
rekrutieren, die Tetanieherde die gleichen bleiben,
so würde dies wohl den Schluß rechtfertigen, dt^ß die Ur¬
sache für das besonders häufige Auftreten der Tetanie
mehr an den Ort, als an eine im Individuum gelegene
Disposition gebunden scheint.
Anhangsweise möchte ich noch einige bemerkens¬
werte Details und Krankengeschichten der in den
Jahren 1895 bis 1906 inklusive im Garnisonsspitale
Nr. 1 in Wien beobachteten 22 Fälle anführen. Soweit
überhaupt auslösende Ursachen eruierbar waren, bezie-
Imngsweise angegeben sind, fand sich in fünf Fällen eine
vorausgegangene Erkältung, in zwei Fällen begann die
Tetanie im Verlaufe eines heberhaften Bronchialkatarrhes,
in einem Falle schien starke körperliche Anstrengung die
Erkrankung hervorgerufen zu haben; einmal war dieselbe
mit Epilepsie, welche bereits acht .Tahre vorher bestanden
hatte, kombiniert, einmal mit Hysterie, einmal trat die Te¬
tanie gleichzeitig mit Gelenksrheumatismus, einmal mit
Morbus maculosus Werlhoffii auf.
1. Infanterist A. L. Aufnahme 1. Mai 1896. 1895 Tetanie.
Seit drei Woclien leichte, mit Parästhesien einher.cehende Krampf¬
anfälle. Gleichzeitig Auftreten von Blutaustritten
unter die Haut. ->■
Status: Chv. + beiderseits, Tr. — , Erb gering. .'\n Stirne,
Augenlidern, Brust und Hals zahlreiche feinste, bis linsengroße,
*) Chvostek jun., I. c.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
■m
unregelmäßig gcsiallefo Hluhuisf ri( le uiUer die Haut. 20. i\lai
geheilt.
2. Whiclisoldat 11. II. Aufiialinio 3. April 1900. Eiti Jahr in
Göi'z gedient hei der Infanterie, gesund gewesen, nach Wien
transferiert. 2. April während des Wachdienstes an Tetanie er¬
krank I.. Schwere und häufig- auf tretende, typische Krampf¬
anfälle mit Trismus, Beteiligung der Lider; ini Intervall fihril-
I ä r e Z u c k u n g e n u n d spastische Ve r e n ge rung de r L i d-
und Mundspal te.
Status: Cliv. 1 +, Tr. -|-, nach 30 Sekunden, Plrb +,
Schnitze +. 25. April auf Urlauh entlassen.
3. Ulane A. W. Aufnahme 26. Februar 1905. Drei Tage im
Freien im Dienste, viel zu Pferd Imi großer Kälte, bald danach
Schwellung der Knie- und Fußgelenke, dann schmerz¬
hafte tonische Krämpfe in den Beinen.
Status: Chv. 1 +, Tr +, Erb +, Schultze +. Spontan,
hei Bewegungen, Reflcx])i'üfimg treten heftige tetanische Krämpfe
in den Beinen mit starker Plantarflexion auf. 20 bis 25 Anfälle
täglich, später auch Beteiligung der Arme und der Gesichts-
muskulat.ur. Langsame Besserung. 10. Juni 1905 superarhitriert.
4. Wartmann G. T. Aufnahme 2. l\Iärz 1906. Ein Bruder
und eine Sclnvester litten ebenfalls an Tetanie. Er
seihst leidet seit dem 18. Lebensjahr nach einer mit Schüttel¬
frost und Kopfschmerzen einhergehenden Erkrankung in wech¬
selnder Intensität daran. Seit einem Monat Verdauungsstörungen,
gleichzeitig häufiger auftretende Krämpfe, sieht abends wie
durch einen Schleier.
Status: Schilddrüse etwas vergrößert, weich, Bronchitis,
Apizitis. Chv. 1 +, Tr. +, links nach 15 Sekunden, rechts nach
23 Sekunden, Krampferscheinungen an den Beinen jiach Kom¬
pression der Arteria femoralis, rechts nach 28 Sekunden, links
nach 63 Sekunden. Im Verlaufe schwindet zuerst Chv. links,
dann Tr. Langsame Besserung. ‘2. Juli 1906 superarbitriert.
5. Gefreiter P. U. Aufnahme 8. April 1906. Seit zwei
]\Ionaten typische, aber noch selten auf tretende Krämpfe in den
Ai'inen und Beinen, Parästhesien ; Anfälle, mit starkem
Schweißausbruch und Tachykardie (150 bis 200 Pulse)
verbunden.
Status: Chv. 1 Tr. +, an den obei'en Extremitäten
rechts nach 14 Sekunden, links nach 17 Sekunden, an den unteren
rechts nach 42 Sekunden, liidcs nach 35 Sekunden; Beklopfen
des Erb sehen Punktes gibt Zuckung der Armmusku¬
latur. Protrahierter Verlauf. 23. Mai 1906 beurlaubt.
Zum Schlüsse erlaube ich mir, Herrn Prof. v. Frankl-
H och wart für seine vielfache Anregung und Unterstützung,
sowie den Kameraden für ihre Beihilfe bei der Sammlung
des Materiales und für die Ueberlassung der Krankenge¬
schichten meinen ergebensten und besten Dank aus¬
zusprechen.
Benützte Literatur:
ha. V. F r a n k 1 - H 0 c h w a r t, Die Tetanie. Nothnagels Hand¬
buch 1897, Bd. 11, 11. Teil. — b. Die Schicksale der Tetaniekraiiken.
Wiener med. Wochenschrift 1906, Nr. 7. — c. Die Prognose der Tetanie
der Erwachsenen. Nenrol. Zentralbl. 1906, Heft 14 u. 15, S. 6-12 und 694.
— d. Die Tetanie. 2 Auflage. (Tabelle I.) Erscheint im Druck 1907. — -
a. Vas s al e, Tetania da allatamento in una caguaparzialmente paraliroidecto-
mizzata. Riv. sper. di freniat., Tome 23, ref. Neurol. Zentralbl. 1899, S. 170.
— b) Vassale et Generali, Fonction parathyreoid. et fonction thyreoid.
Arch.Ital.de Biol., Tome 33, fase. 1, ref. Neurol. Zentralbl. 1900, S. 811.
— c. Vas sale, Funzione paratiroid. et funz. tiroid. Riv. sper. di freniat.
et med. leg., Tome 27, fase. 3 u. 4, ref. Neurol. Zentralbl. 1903, S. 309.
— 3) t 6 ^ ® t i z Insuffisance thyreoid, et parathyreoid. Rev. neurol. 1903,
Nr. 5. — h Mac C a 1 1 u m. Die Beziehung der parathyreoid. Drüsen zur
Tetanie. Zentralbl. f. allgem. Pathol, u. pathol. Anat., Bd. 16, Nr. 10. —
D B i e d 1, Innere Sekretion, Wien 1904, — ®) Pi n e 1 e s. Zur Pathogenese
der Tetanie. Deutsches Archiv f. klin. Med., Bd. 85, Heft 5 und 6. —
b Lundberg, Spielen die Gland, parath. in der menschl. Pathologie
eine Rolle? Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilk., Bd. 27, Heft 3 ii. 4. —
®) E r d h e i m, lieber Tetan. parathyreopr. Wiener klin. Wochenschrift 1906,
Nr. 23 bis 26. Mitt. a. d. Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie, Bd. 16,
Heft 4 und 5. — ®) Alquier, lieber die Beziehung d. Gland, parathyr,
zum Auftreten von Konvulsionen. Gaz. des höpit. 1906, Nr. 128. —
‘h Kocher-Kraus, lieber die Pathologie der Schilddrüse. Münchener
med. Wochenschrift 1906, Nr. 18. — “) C h v o s t e k jun,, Bemerkungen
zur Aetiologie der Tetanie. Wiener klin. Wochenschrift 1905, Nr. 38. —
K a s s o w i t z, Diskussion zu Erdheims Vortrag. Wiener klin. Wochen¬
schrift 1906, S. 779. — 'h Kraus har, lieber die manifeste und laivierte
Tetanie bei Kindern. Medycyna 1900, ref. Neurol. Zentralbl. 1901, S. 999.
— Voß, lieber Tetanie und myoton. Störungen bei dieser Erkrankung.
Monatsh. für Psychiatrie und Neurologie 1901, 8; Bemerkungen zur
Genese der Tetanie. Psych, neur. Wochenschrift 1903, Nr. 50. —
’D Wermel, Tetanusepidemie. Gesellschaft der Neurologen und Irren¬
ärzte in Moskau. Oktober 1900, ref. Neurol. Zentralbl. 1902, S. 136. —
Jacobi, Struma und Tetanie. Wiener klin. Wochenschrift 1904,
S. 768. — Ferenczi, Mitteilungen in der psych, und neurolog.
Sektion des Aerztevereines in Budapest, 27. Februar 1905, ref. Neurol.
Zentralbl. 1905, S. 927. — '*) Löwen thal und Wiebrecht, lieber
Behandlung der Tetanie mittels Nebenschilddrüsenpärparaten. Deutsche Zeit¬
schrift für Nervenheilkunde, Bd. 31, S. 415 u. 434.
Aus der psychiatrischen Klinik in Prag. (Vorstand:
Prof. A. Pick.)
Zur Frage der Abgrenzung der ideatorischen
Apraxie.
Von Dr. Alexander Margulies, erstem Assistenten der Klinik.
Die neue Entwicklung der Lehre von Störungen des
Handelns hat die Frage der Abgrenzung der Apraxie von der
Agnosie in den Vordergrund gerückt und es ist Liepmanns
großes Verdienst durch seine feinsinnige Analyse eines Falles
von motorischer Apraxie^ und weiter daran geknüpfte all¬
gemeine Ausführungen Uber Störungen des Handelns-) den
festen Ausgangspunkt für derartige Untersuchungen geschaffen
zu haben. Allerdings hebt auch Fiep mann das Unsichere
aller Einteilungen gegenüber dem Fluß der Erscheinungen
hervor und in praxi dürfte die Unterscheidung gewiß oft
viel mehr Schwierigkeiten bereiten, als man es vorweg
theoretisch annehmen sollte. Ganz besonders gilt dies für
jene Form von Störungen, die im engsten Grenzgebiete
liegen, d. h. bei der Apraxie, deren genauere Kenntnis wir
Pick verdanken®) und die man nach Liepmanns Vorschlag
als ideatorische bezeichnen kann. Während Liepmann
geneigt ist, diese ideatorische Apraxie als den Ausdruck all¬
gemeiner Funktionsstörung anzusehen, möchte ich doch in
Uebereinstimmung mit Heilbronner ’) glauben, daß auch
hier der mühsame und vielleicht oft ungangbare Weg be¬
treten werden muß, der durch eine sorgfältige Zerlegung und
Wertung aller in Betracht kommenden Ausfallserscheinungen
zu einem Verständnis der einzelnen Komponenten führt und
damit neben einem Einblick in den Aufbau der Idee einer
Handlung auch in diesem Gebiete lokalisatorische Gesichts¬
punkte eröffnet. Ich möchte dies noch ganz besonders mit
Rücksicht auf eine Bemerkung Liepmanns^) hervorheben,
die den Gegensatz von lokalisatorischer und rein psycho¬
logischer Betrachtungsweise betrifft und die aus den Zusammen¬
hang gerissen, gewiß meines Erachtens leicht zu einer falschen
Problemstellung führen kann. Jede durch einen Herd bedingte
Hirnläsion läßt den Versuch einer Lokalisation an sich be¬
gründet erscheinen, zumal wenigstens im Beginn wohl nie¬
mals schon wegen der Nachbarschaftswirkung irgendwie an¬
gedeutete Herdsymptome vermißt werden. Nur liegt es in der
Natur der Sache, daß, wenn der Ausfall eine einfache
Handlung oder Fähigkeit betrifft, das lokalisatorische Moment
im Vordergründe steht, bei komplizierten Störungen aber
die psychologische Betrachtung im weitesten Sinne den
Lokalisationsbestrebungen erst die Wege weisen muß. Ein
solcher Vorgang ist schon aus dem Grunde unvermeidlich,
weil in der Regel der Kern der Erscheinungen erst heraus¬
geschält werden muß, da wirklich reine Fälle niemals
zur Beobachtung kommen, so daß selbst der Fall von Re¬
gierungsrat Liepmann, der wohl für das Gebiet der
Apraxie das höchste an Eindeutigkeit und Klarheit darstellt,
nicht ganz frei ist von Symptomen, die nicht ohneweiters
als motorisch apraktisch gedeutet werden können. In selbst¬
verständlich noch gesteigertem Maße gilt dies für die idea¬
torische Apraxie und wiederholt, ganz besonders auch bei
Besprechung der Lokalisation, hebt Liepmann*^) das Daneben¬
bestehen motorisch apraktischer Symptome hervor. In dem
an dieser Stelle ausgeführten Sinne, daß sich eine allgemeine
b Liepmann, Das Krankheitsbild der Apraxie. Berlin 1900. S. Karger.
Liepmann, Heber Störungen des Handelns bei Geisteskranken.
1905. S. Karger.
b Pick, Studien über motorische Apraxie. Leipzig und Wien
1905. F. Deuticke.
b Heilbronner, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der
Sinnesorgane. Bd. 39, S. 190.
Liepmann, 1. c., S. 38.
®) Liepmann, 1. c., S. 144.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
ideatorische Schwäche, z. B. besonders zwischen Erfolgs¬
vorstellungen und Teilzielvorstellung geltend machen wird,
wenn nebenbei eine Beimischung von, wenn auch leichter,
motorischer Apraxie sich vorfindet, möchte ich den Stand¬
punkt Eiepmanns ganz allgemein akzeptieren. Es hat
schon Pick^j bei Besprechung des Falles Salamoun auf
die Bedeutung der gestörten Aufmerksamkeit in, wie ich
glaube, überzeugender Weise hingewiesen und gleichzeitig
auch das Partielle der Erscheinung hervorgehoben. Es kann
gerade dieser letzte Punkt gegenüber der Bolle von allgemeinen
Symptomen wie Gedächtnis-, Aufmerksamkeitsstörungen und
ähnlichem nicht scharf genug betont werden und ich möchte
auch hier zum Vergleiche die von Pick®) angeführte Analogie
mit Fällen sogenannter lokalisierter seniler Atrophie heran-
zichen; denn hier zeigt sich die allgemeine Gedächtnis¬
störung zunächst ganz besonders im Sprachgebiete als
amnestische Aphasie und später sprechen der vollkommene
Sprachverlust und der entsprechende Sektionsbefund dafür,
daß auch schon zu Beginn der atrophische Prozeß besonders
in der Sprachregion eingesetzt hat. Dieser Analogie zufolge
würde sich ungezwungen die Annahme ergeben, daß im Ge¬
biete des Handelns allgemein psychische Symptome in der
Form der ideatorischen Apraxie dann besonders manifest
werden, wenn entweder eine unvollständige oder durch Nach¬
barschaftswirkung hervorgerufene, partielle, funktionelle,
motorische Apraxie oder eine unvollständige Agnosie, oder
aber beide zusammen nebenbei vorhanden sind. Diese Auf¬
fassung gewinnt noch eine Stütze in dem Umstand, daß man
gewöhnlich ideatorische Apraxie entweder als anfallsweises,
der Rückbildung fähiges Symptom oder als Episode einer
progressiven, zu voller Herabsetzung aller psychischen Tätig¬
keit führenden Erkrankung beobachtet. Im Lichte dieser
Auffassung erscheint auch das, was an der ideatorischen
Apraxie lokalisierbar ist, umschrieben und wenn ich nun
daran gehe, meinen Fall in dem Sinne zu deuten, so ver¬
hehle ich mir die Schwierigkeiten, die sich dem entgegen¬
stellen, ganz und gar nicht; denn viele Erscheinungen sind
mehrdeutig, manche Auffassung der pathologischen Komplexe
läßt sich mehr vermuten als aussprechen. Trotzdem glaube
ich, daß die Mitteilung eines weiteren einschlägigen Falles
und der Versuch einer weiteren Abgrenzung der dabei be¬
obachteten Erscheinungen nach ihrer eigentlichen Natur nicht
ohne Wert ist, einmal, weil der im vorliegenden Falle
beobachtete, wenn auch nur für kurze Zeit sich steigernde
Symptomenkomplex mehrfache präzisierbarc Anhaltspunkte
gerade für die Beziehungen zur Agnosie und motorischen
Apraxie bietet und dann, weil es uns an der Hand der er¬
weiterten Lehre möglich war, die Untersuchungen beim
Kranken von vornherein in diesem Sinne anzustellen.
Ich will nun, bevor ich in meinen Ausführungen weiter¬
schreite, die bezüglichen Beobachtungen aus der Kranken¬
geschichte vorausschicken.
Der Kranke L. B., 34jäliriger Zahntechniker, wurde am
18. Juni 1906 an der Klinik aufgenommen. Von seiner früheren
Krankengeschichte erwäline ich nur kurz zum Verständnis, daß
er vor tnehreren Jahren luetisch infiziert war. Seit Anfang
Fehruar 1906 fühlte er sich schwach, matt und hatte gelegentlich
Parästhesien der rechten Körperhälfte. Am 4. Mai hatte er einen
Anfall mit rechtsseitigen epileptischen Krämpfen, mit nachfolgen¬
dem Sprachverlust und Desorienlieriheit. Die rechtsseitigen epilep¬
tischen Anfälle wiederholten sich noch einige Male, am 9. Mai und
besonders intensiv am 14. Mai.
Seither und ebenso Ijei .seiner Aufnahme, sowie in der Folge-
z(“it zeigt Pat. <lauernd vonviegend folgende Symptome:
Spastische Parese des rechten Armes, rechtsseitige Zungen-
und Fazialisparese, Hautsensihilitätsstörungen der rechten Körper-
scite in allen Qualitäten, hochgradige Störungen des Jjagegefühles
und der Stereognose des rechten Armes, Steigerung der rechts-
.seitigen Sehnenreflexe und endlich eine amnestische Agraphie;
dieser Zustand wurde auch während seines Aufenthaltes' an der
Klinik durch das wiederholte Auftreten streng rechts lokalisierter
epilei)lischer Anfälle unterbrochen, nach denen regelmäßig eine
Verstärkung der Parese, sowie der Einiritt zunäcdist nahezu voll-
") l’ji c k, 1. c., S. 92.
«) P; c k, 1. c., S. 120.
ständiger motorischer Aphasie und Worttauhheit konstatiert
werden konnte, die nach kurzem, in transkortikale Störungen
übergehend, sich immer wic'der z,urückhildeten. In den letzten
Tagen des Februar und in den ersten Tagen des März traten
wiederum Anfälle auf, in deiien sich allmählich vollstämlige
Aphasie und in bezug auf Störüngen des Handelns nachstehende
Symptome entwickelten :
Während sich im Krankenprotokoll noch am 21. Fehruar
die Notiz findet, daß Pat. in seinem Handeln ungestört ist, sich
z. B. seine Wäsche seihst flickt, bietet er am 26. Fehniar nach
einem Anfall folgenden Befund: Pat. vei’steht AufforderungiMi
nicht, haidiert zunächst mit einzelnen Gegensläuden (kleine Säge,
Trompete, Zwicker, Bleistift) mit beiden Händen, rechts entspre¬
chend den dauei’nden Störungen ungeschickt, richtig. Einen Feder¬
halter ninmd er richtig in die Hand, will aber, ohne einzutauchen,
schreiben; es wird ihm eine Kußhand vorgemacht; Pat. winkt
zunächst mit der linken Hand, macht es erst dann korrekt; mit
der rechten macht er zuerst einige unverständliche Bewegungen,
bevor er es entsprechend zustande bringt. Als ihm hierauf ein
Schlüssel gereicht wird, macht er die entsprechende Bewegung
damit; mit Zündholz und Kerze hantiert er folgendermaßen:
er inaclit die Schachtel richtig auf und nimmt ein Zündholz
heraus, gibt cs in die rechte Hand und nähert es unangebrannt
der Kerze, wirft cs fort, nimmt ein zweites heraus, macht damit
ähnliche Bewegungen wie vorher mit dem Schlüssel, .führt es
hierauf (vielleicht an der Vorstellung der Kußhand klebend) zum
Munde, versucht es an seiner linken Hand anzureiben, weist
die ihm entgegengehaltene Zündholzschachtel zurück, und als
ihm das Zündholz angezündet in die Hand gegeben wird, löscht er
es aus. Auf neuerliche Aufforderung nimmt er wieder ein Zünd¬
holz in die rechte Hand, versucht es an der Hand, an der Kerze
und am Leuchter anzureiben, und als es ihm jetzt brennend in die
Hand gegeben wird, zündet er die Kerze an. Grußbewegung,
Drohen, Händefalten macht er richtig nach; eine lange Nase
ebenfalls, aber nur mit der linken Hand, mit der rechten dagegen
vollführt er einige ganz unverständliche Bewegungen, lacht aber
immer, sobald ihm die lange Nase vorgemacht wird, entsprechend
schalkhaft dazu. Vorgemachte, im Kreise -drehende Bewegungen
imitiert er im umgekehrten Sinne entsprechend dem Spiegelbild,
sowohl rechts als links. Als ilim eine Trommel und Schlägel
gereicht werden, trommelt er mit der linken Hand richtig, mit
der rechten Hand macht er ganz sinnlose, stoßende und drehende
Bewegungen und pfeift dazu ein Lied.
Beim nächsten Examen nimmt er eine Zahnbürste mühsam
in die rechte Hand und fährt sich damit rasch über den Schnurr¬
bart. Auf ein ünwilliges Kopfschütteln setzt er ab und bürstet
sich das Kopfhaar; genau das Gleiche wiederholt sich, als ihm
die Zähnhürste in die linke Hand gegeben wird. Hierauf setzt er
den Hut richtig auf die Stirne, legt einen Kragen um den Hals,
verwendet nach kurzem Nachdenken einen Schlüssel richtig,
ebenso eine Kleiderbürste ; als ihm dann nochmals die Zahn¬
bürste gereicht wird, fährt er wieder damit über sein Kopfhaar.
In den nächsten Tagen bessert sich der Zustand zusehends,
Fehlreaktionen werden nur ganz selten beobachtet.
Am 3. März neuerlich einige Anfälle, worauf am nächsten
Tage wieder folgende Fehlreaktione]i bemerkbar werden:
Eine Pfeife steckt er mit der linken Hand ganz ungi'schickt
in den Älund und brennt sie, trotzdem ihm ein Zündholz gegeben
wird, nicht an ; einen hierauf gereichten Schlüssel führt er zu¬
nächst ebei) falls zum Mund, merkt anscheinend dann selbst, daß
es falsch sei, wiederholt aber trotzdem einige Älale die gleiche
Bewegung, bis er plötzlich, v/ie erleuchtet freudig aufblickt und
die entsprechende Bewegung macht; hieratif gebraucht er einige
Gegenstände richtig; einen ihm später gereichten Bleistift nimmt
er wie eine Zigarre saugend in den Mund und verwendet ihn
erst richtig, als ihm ein Papier hingehalten Avird. Mit einem
Trommelschlägel reiht er einfach auf der Trommel und macht die
richtige Bewegung erst dann, als es ihm viermal vorgezeigt wurdi*;
einen Hammer dreht er zunächst mit der linken Hand peruhd-
artig hin und her, nimmt ihn dann iu die i-echte und jeibl
auf der linken Handfläche herum, trotztlem ilnn die .richtige
Bewegung wiederholt vorgezeigt wird; eine Schere nimmt er
soAVohl rechts als links richtig in die Hand, macht erst einige
unzAA^eckmäßige, dann die richtigen BcAA-egüngen ; mit einem Löffel
macht er ganz unverständliche drehende BeAvegungen.
Am 6. März hat Pat. wieder Ader Anfälle, nach denen eine
Verstärkung der rechtsseitigen Parese und eine nahezu voll¬
kommene motorische und sensorische Aphasie in die Erscheinung
traten. Auch bezüglich des Handelns ist der Zustand schlechter
als vorher; eine Schere nimmt er in die linke Hand und ver-
Avendet sie richtig; die Zahnbürste vei’Avendet er Avieder Avie eine
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Kopfbürsle, einen K;unni hält er iiaclKlenklicli vor den Angen.
und legt ihn dann weg; einen Löffel ninnnt er richlig in die
llanil, denkt dann anscheinend nach und macht hierauf eigentüm¬
liche drehende Bewegungen, auch dann, als ihm der (tehranch
des Löffels vorgemacht wird und führt ihn erst richtig an den
Alund, nachdem ihm seine Hand zn dieser Bewegung geführt
wurde. Einen Hammer hetrachtet er nachdenklich von allen Seiten;
als ihm eine Klopfhewegung vorgemacht wird, nimmt er den
Hammer, faßt ihn wie einen Löffel und legt ihn weg.
Eine ihm hierauf gereichte Brille, kleine Handsäge, Schere,
gehrancht er richtig, mit einem Kamm und Hammer jedoch macht
er auch jetzt wieder Schöpfhewegungen ; als ihm wieder die
richtige Anwendung des Hammers vorgezeigt wird, macht er zu¬
nächst einen Ansatz, als oh er klopfen wollte, denkt dann nach
und reiht sich mit dem Hammer an der Stirne.
Bei allen diesen Versuchen fällt auf, daßi Pat. jede ihm
vorgemachte Bewegung mit der größiten Aufmerksamkeit l)eoh-
achtet und während der Ausführung seiner eigenen Handlungen
gespannt auf den Ausdruck der Zustimmung oder des Wider-
spnichcs hlickt Und dementsprechend seine Handlung entweder
fortsetzt oder unterhricht; dahei tritt die große lUnsicherheit schon
darin zutage, daß er auch eine richtige Handlung unterhricht,
wenn er einen Widerspruch zu erkennen glauht.
Einfache ihm vorgemachte Be.Avegungen imitiert er in fol¬
gender Weise : Kreisbewegungen, die ihm vorgemacht werden,
macht er sowohl rechts wie links ziemlich genau, aber wieder,
wie schon früher, in umgekehrter Richtung nach. Grußhewegung
mit der Hand macht er rechts und links richtig, nach. Auf ihm
wiederholt vorgemachtes Salutieren antwortet er durch rhythmisch
Auf- und iVhhewegen der rechten Hand und verfällt dann in
die ihm früher vorgemachten Kreisbewegungen. Es wird ihm
,, Drohen mit der Faust“ vorgezeigt; er macht zunächst mit der
rechten Hand wieder Drehbewegungen und setzt diese mit der
linken fori, als ihm die rechte Hand gehalten wird, und dreht
dann noch weiter, als ihm überhaupt nichts vorgemacht wird. Als
ihm hierauf die rechte Hand gehalten und nochmals die drohende
Bewegung gezeigt wird, macht er sie richtig nach und dann auch
richtig mit der rechten Hand, als ihm diese losgelassen ward.
Ein Glas Wasser führt er richtig: zum Munde. Als ihm ein Leier¬
kasten entgegengehaltcn Avird, lächelt er und pfeift eine Melodie
dazu, läßt aber die Kurbel ganz unbeachtet, trotzdem seine Auf¬
merksamkeit wiederholt hingelenkt wird. Wie ihm nun die Hand
an die Kurbel gelegt und die enlsprechende Bewegung in der
Luft vorgezeigt ward, dreht er im Sinne der früheren Versuch©
in umgekehrter Richtung und spielt erst, nachdem ihm die Hand
vmrher richtig geführt wurde, Aveiter.
Ein offenes Täschenmesser und einen ungespitzten Blei¬
stift nimmt er beide richtig in die Hand, setzt das Messer an
das eine Ende des Bleistiftes an, und versucht dann, indem er
das Messer senkrecht auf den Bleistift stellt, das Messer an¬
zudrücken, setzt diese Bewegung fort, als ihm das richtige Spitzen
v'orgezeigt Avird, und auch daun, als ihm seine eigene Hand
entsprechend geführt wird.
Es werden ihm ein Kuvert, Siegellack, eine brennende Kerze
und ein Petschaft vorgelegt; er nimmt tlasi Siegellack und fährt
damit am Papier hin und her; hält es dann, nachdem ihm die
Kej'ze auffällig ent, gegengeführt Avird^ längere Zeit, an der Flamme,
zieht es zurück, hält es längere Zeit in der Luft und drückt es
erst an das Kuvert, nachdem es ganz trocken gcAvorden ist.
Eine Schreibtafel und ein Stück Kreide hält er ganz ratlos
in den Händen und macht erst einen Strich auf der Tafel,
nachdem ihm die linke Hand., in der er die Kreide hält, auf die
Tafel gedrückt und zu Schreibbew'egungen _geführt wurde. Einen
vorgezeicbnelen Kreis und Viereck^ zeichnet er soAvohl .jnit der
rechten als mit der linken Hand .ganz unkenntlich nach.
Es ward ihm ein Brett mit eingeschlagenem Nagel und
ein Hammer gereicht; er nimmt letzteren in die Hand und schabt
damit am Rande des Brettes herum; als ihm hierauf das Ein¬
schlagen des Na.gels Amrgezeigt Avird, faßt er Avieder den Hammer
mit der linken Hand, schlägt dann einige Male an eine ganz
andere Stolle des Brettes und schaht dann Avie früher am Rande
des Brettes.
Solche und ähnliche Fehlreaktionen AAUirden ungefähr in
der gleichen Weise nocti in den folgenden drei Tagen beobachtet,
dann klingt der Zustand ziemlich plötzlich über Nacht ab, so daß
in der Folgezeit nur noch gelegentlich Verfehlungen, manchmal
auch noch im Sinne der Perseveration notiert erscheinen.
Ich glaube, mich bei der Besprechung des Falles von
einer Lokalisation des vorhandenen Herdes enthalten zu
sollen, zumal derselbe noch eingehend von anderen Gesichts¬
punkten publiziert werden soll und will nur bemerken, daß
die ziemlich lange vorhergehenden prämonitorischen Er¬
scheinungen, sowie die schubweise auftretenden Exazerba¬
tionen eine progressive Erkrankung als Grundlage des ganzen
Prozesses wahrscheinlich machen.
Bezüglich der Beurteilung der Storungen des Handelns
werden sich ungezwungen eine ganze Reihe von Störungen
als ideatorisch auffassen lassen und dies gilt ganz besonders
von jenen, die sich wieder in eine Reihe aufeinanderfolgender
Teilhandlungen zerlegen lassen, wie z. B. das Verhalten des
Kranken beim Rauchen, beim Anzünden einer Kerze, Siegeln
des Briefes u. dgl.
Dagegen werden eine ganze Reihe von Fehlreaktionen
bei einfachen Handlungen nur als motorisch-apraktisch ge¬
deutet werden können, namentlich dann, wenn man Agnosie
als Grundlage ausschließen kann. Nun ist gerade dieser
Punkt ganz besonders schwierig entscheidend sicherzustellen,
da schon die durch die Sprachstörung geschaffene Unmöglich¬
keit einer Verständigung die Beurteilung sehr erschwert und
überdies die Worttaubheit an sich schon gewissermaßen eine
agnostische Störung darstellt. Ich muß mich einfach darauf
beschränken, hervorzuheben, wie ungemein gering die An¬
forderungen an das Verständnis bei einer vorgezeigten ein¬
fachen Handlung sind und daß ein so hoher Grad von
Agnosie, der den Ausfall dieses Verständnisses bedingen
könnte, unmöglich Vorhandensein kann, wenn einzelne kom¬
pliziertere Leistungen gelingen, ja wenn überhaupt das klinische
Bild der ideatorischen Apraxie hervorgerufen werden kann.
Ich will damit sagen, daß ich das Vorhandensein agnostischer
Störungen nicht in Abrede stelle, ja daß, wie ich später aus¬
führen will, bestimmte Erscheinungen ihr Bestehen nahelegen,
daß aber ihr Grad nicht ausreicht, alle Fehlreaktionen zu
erklären.
Als motorisch-apraktisch fasse ich z. B. die Unmöglich¬
keit vom Nachzeichnen einfacher geometrischer Figuren, das
fehlerhafte Nachmachen von einfachen Ausdrucksbewegungen,
ganz besonders das in der Richtung verfehlte Nachmachen
vorgezeigter Kreisbewegung und endlich das häufig ganz un¬
zweckmäßige Hantieren mit Gegenständen auf. Bei letzterem
Punkte dürfte allerdings die Frage, inwieweit Nichterkennen
eine Rolle spielt, schwieriger zu entscheiden sein. Zunächst
spricht gegen einen absoluten Grad von Agnosie der Umstand,
daß einzelne Reaktionen, die nicht als Kurzschlüsse im Sinne
L i e p m a n n s aufgefaßt werden können, gelingen ; allerdings
schließt dieser Umstand auch einen absoluten Grad von
motorischer Apraxie aus, aber ein vollständiges Versagen
beider läßt sich ja auch gar nicht erwarten, da sonst das
häufige Auftreten ideatorischer Störungen a priori entsprechend
meinen früheren Ausführungen ausgeschlossen wäre. Interessant
ist auch der Umstand, daß fast alle Gegenstände, auch wenn
sie in der Folge falsch verwendet, doch zunächst richtig an¬
gefaßt werden. Hier handelt es sich offenbar um Kurzschlüsse
innerhalb der senso-motorischen Sphäre ; trotzdem die frühere
Untersuchung das Bestehen von Störungen der tiefen und
oberflächlichen Sensibilität ergeben, faßt auch die rechte Hand
die meisten Gegenstände richtig an, ist also auch hier die
gliedkinästhelische Komponente, wenigstens zum Teil wirksam.
Uebrigens war auch trotz der Sensibilitätsstörung in der
rechten Hand die Ataxie nicht so hochgradig, daß sie im
besonderen Maße zur Erklärung der gestörten Handlungen
hätte herangezogen werden können. Im ganzen wird auch die
Erklärung bei den Verfehlungen der früher genannten ganz
einfachen Handlujigen als motorische Apraxie kaum einem
Widerspruch begegnen, da z. B. das Nachmachen von Kreis¬
bewegungen in umgekehrter Richtung nur als motorische
Störung gedeutet werden kann, weil die infolge der Wort¬
taubheit dem Patienten nur optisch kenntlich gemachte Auf¬
forderung aufgefaßt, das Bild des Kreises verstanden und nur
die Bewegung falsch ausgeführt wird ; dazu kommt noch der
Umstand, daß auch besonders im Beginne und angedeutet in
der späteren Zeit die Erscheinungen rechts stärker ausgeprägt
erscheinen als links u. zw. im höheren Grade als der vor¬
handenen Parese und Ataxie der rechten Hand entspricht.
H i
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
Eine weitere wichtige Frage ist nun der Einfluß der
unvollständigen motorischen Apraxie auf jene Störungen,
die uns als ideatorisch imponieren.
Besonders lehrreich ist in dieser Beziehung der Versuch
beim Spitzen des Bleistiftes ; hier zeigt sich zunächst die Ziel¬
vorstellung im großen und ganzen ungestört, auch die Zerlegung
in die einzelnen Teilhandlungen erfolgt zunächst richtig, das
Messer wird entsprechend an das Ende des Bleistiftes ange¬
setzt, aber gerade vor dem entscheidenden Akte versagt Pat,
indem er das Messer senkrecht zur Richtung des Bleistiftes
hält und einzudrücken versucht; dieses Versagen kann nur
als durch Unterbrechung der Uebertragung der Idee in die
Innervation, bzvv. das Nichtauftauchen der motorischen Vor¬
stellung erklärt werden und es würde sich die ganze Störung
dann so erklären, daß einfache Akte, wie z. B. das Anselzen
des Messers an das Ende des Bleistiftes noch durchführbar
sind, kompliziertere wie das Spitzen selbst, aber unmöglich
werden. Unterstützend mag dabei der Umstand sein, daß
entsprechend der zeitlichen Reihenfolge der kompliziertere
Akt später erfolgt und daß vielleicht die Intensität der Haupt¬
zielvorstellung, die ohnehin durch auch anders kenntliche
Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen als geschwächt
angesehen werden muß, immer weniger ausreicht, den ver¬
größerten Widerstand zu überwinden.
Besonders lehrreich auch für die Rolle der agnostischen
Störungen ist das Verhalten des Kranken bei dem Versuche
mit dem Leierkasten ; hier beweist zunächst der Umstand,
daß der Kranke bei seinem Anblick ein Lied pfeift, daß er
den allgemeinen Begriff desselben als etwas, was mit Musik
zusammenhängt, erfaßt, auch ohne daß er imstande wäre,
den Gegenstand zu benennen und ihn entsprechend zu ge¬
brauchen. Nun ist auch schon von Liepmann'*) darauf
hingewiesen worden, daß zwischen dem Nichterkennen eines
Dinges und dem Nichtauftauchen der Vorstellung von seinem
Gebrauch nur ein Gradunterschied bestehe und daß gerade
das letztere die ideatorische Apraxie charakterisiert. Nun
läßt unser Versuch ohneweiters die Deutung zu, daß optisch
wenigstens so viel von dem Leierkasten wahrgenommen und
verstanden wird, daß die Begriffassung, es handle sich um
etwas mit Musik Zusammenhängendes, möglich ist. Bei dem
Einsetzen der entsprechenden Handlung sehen wir nun eine
Störung zunächst dadurch bedingt, daß die Kurbel nicht be¬
achtet und dann als die Hand des Patienten direkt hin¬
geführt wird, die Vorstellung der entsprechenden Bewegung,
also der Kurbeldrehung, nicht in Aktion tritt ; als diese durch
Vorzeigen endlich geweckt wird, versagt der Kranke im
letzten Moment noch immer dadurch, daß er entsprechend
früheren Erfahrungen die Kurbel in verkehrter Richtung dreht.
Es liegt in dem Auftauchen des Begriffes eines Dinges,
ohne daß seine einzelnen Qualitäten an irgendeiner Stelle
soweit zu Bewußtsein kommen, daß auch der Gebrauch er¬
möglicht würde, ein Hinweis dafür, daß auf sensorischem
Gebiete sich ähnlich ein stufenweiser Aufbau vollzieht, wie
es in umgekehrter Richtung in treffender Weise L i e p m a n n
für das Zustandekommen einer Handlung nachgewiesen.
Wenn aber der einfache Begriff eines Gegenstandes im Be¬
wußtsein auftauchen kann, ohne daß alle seine Qualitäten
bewußt werden, so werden dadurch die Formen der assozia¬
tiven Apraxie B o n n h ö f f e r s unserem Verständnis näher
gerückt und dadurch auch manclie ihnen, wie Liepmann
und Pick hervorgehoben, wesensverwandte Erscheinungen
der Perseveration erklärlich. Allerdings sind solche rein
assoziative Verfehlungen und eine ihpen entsprechende
Perseveration nur in Fällen möglich, wo, nicht wie bei
unserem Kranken, die Sta,tionen Störungen zeigen, welche,
wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, unterhalb dem
eigentlichen begrifflichen Denken liegen ; nur dann ist es
möglich, daß z. B. ein Kranker eine Pfeife wie eine Zigarre,
oder eine Violine wie eine Trompete gebraucht, aber sonst
bis auf die verfehlte Zielvorstellung ideatorisch und motorisch
L i e p m a n ii, 1. c. S. 65.
»D B 0 II n h ö f f e r, Arch. f. Psych., Bd. 37.
richtig. Einer ähnlichen Auffassung dürfte auch eine Reihe
fehlerhafter Reaktionen bei Hysterischen zugänglich sein, von
denen ich einige Beispiele an anderer Stelle beschrieben
habe. Für die Auffassung der ideatorischen Apraxie erscheint
mir nun von ganz besonderer Bedeutung die Zerlegung der
Hauptzielvorstellung Z in die verschiedenen z und ihr gegen¬
seitiges Verhältnis. Liepmann vergleicht diese Teilung
mit einer physikalischen, so daß entsprechend Molekülen jedes z
die gleichen Eigenschaften hat wie Z.
Nun dürfte aber die Annahme gerechtfertigt erscheinen,
daß ebenso wie die Handlung von der ganz allgemeinen
Willensintention unter allmählicher Gliederung bis zur Inner¬
vation einzelner Muskelgruppen fortschreitet, ähnlich auch
die Wahrnehmung sich aufsteigend immer mehr der begriff¬
lichen Auflösung nähert und daß die einzelnen Stationen
der Wahrnehmung und der Handlung wieder mit einander
in Verbindung stehen. Dann würde allerdings der Fall ein-
treten, daß die z nicht nur die Eigenschaften des Z haben,
sondern noch neue u. zw. durch die direkte Verbindung mit
niederen Wahrnehmungszentren solche mit mehr sinnlicher
Schärfe begabte besitzen; dies entspricht ja auch dem Ver¬
lauf der zum Vollzug fortschreitenden Idee und der Beein¬
flussungen der Handlung während des Vollzuges durch das
Objekt, auf das sie gerichtet ist. Ein ganz besonders wesent¬
licher Faktor scheint mir vor allem jene das Gedächtnis be¬
einflussende Komponente zu sein, die Liepmannn^-) als
Dauerverknüpfung der Innervationen bezeichnet. Leider hat
Liepmann die Besprechung der Bedeutung dieser Inner¬
vationsempfindungen und Erinnerungen nicht weiter aus¬
geführt und doch sind sie meines Erachtens ganz außer¬
ordentlich wichtig für das Verständnis der Bewegungsformel.
Es ließe sich denken, daß sie neben den allgemein-kinesthä-
tischen und ähnlichen, z. B. den optischen Raumvorstel¬
lungen u. dgl. den wesentlichen Bestandteil der Richtungs¬
vorstellungen, des W der Bewegungsformel L i e p m a n n s
bilden. Ihre Abspaltung von z aber würde jene ideatorische
Apraxie bedingen, die Pick ’3) beschrieben und als ideomo¬
torische bezeichnet hat.
So zusammenfassend sehen wir, daß sich entsprechend
einem Parallelismus zwischen der bis zum Begriff fort¬
schreitenden Wahrnehmung und der von der allgemeinen
Idee bis zur Ausführung eilenden Handlung an allen Stationen
Störungen entwickeln können. Auf der einen Seite die mo¬
torische Apraxie, die entsprechend Liepmanns Anschauungen
einer Abtrennung der Innervation von der Idee entspricht,
auf der anderen Seite die begrifflichen Störungen für die wir
in Bonnhöf fers assoziativer Apraxie und einzelnen hy¬
sterischen Störungen Beispiele besitzen und zwischen mo¬
torischer und assoziativer die ideatorische Apraxie. Diese
aber ist außer durch allgemeine, z. B. Gedächtnis- oder Auf¬
merksamkeitsstörungen, bedingt durch eine partielle Agnosie
und motorische Apraxie. So entspricht es agnostischen
Störungen, wenn der Kranke die Kurbel des Leierkastens
übersieht, oder wenn er, trotzdem ihm ein brennendes Licht
entgegen gehalten wird, das trockene Siegellack auf das
Papier legt. Hieher dürften somit, auch ähnlich wie die
letztere, eine ganze Reihe abgekürzter Reaktionen zu rechnen
sein. Zu den motorischen Störungen gehört z. B. das Nicht¬
inbewegungsetzen der Kurbel des Leierkastens, das falsche
Spitzen eines Bleistiftes, das Nichtanstreichen eines Zünd¬
holzes an der Reibfläche und die ganzen von Pick als
ideomotorisch bezeichneten Störungen. Für die Beurteilung
der Frage, ob eine Störung im einzelnen Fall als motorisch-
apraktisch oder als ideatorisch aufzufassen ist, d. h. ob sie
durch Abtrennung der Innervation von der Idee oder durch
Nichtauftauchen motorischer Innervationsempfindungen be¬
dingt ist, besitzen wir allerdings ein sicheres Kriterium nur
in der Einseitigkeit oder Doppelseitigkeit der Störung.
") Marguli^s, Heber hysterische Psychosen nach Trauma.
Prager med. Wochenschr. 1907.
1'*) Liepmann, 1. c. pg. 77.
13) Pick, 1. c.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
477
Ich möchte noch auf einen Versuch aufmerksam machen,
der mir in Hinblick auf Liepmannns Ausführungen über
»die linke Hemisphäre und das Handeln« nicht ohne Interesse
erscheint; ich meine das Nachmachen einer Drohbevvegung
mit der Faust. Hier zeigt sich, daß zunächst rechts und dann
auch links die Bewegungen mißlingen, dagegen als die rechte
Hemisphäre zur Eigenleistung gezwungen wird — durch
Festhalten der rechten Hand — die Bewegung zuerst links
und dann auch rechts gelingt. Das spricht dafür, daß durch
entsprechende Hebung der rechten Hemisphäre nicht nur,
wie Fiep mann annimmt, eine Vervollkommnung der Mo¬
tilität der linken Hand möglich ist, sondern auch die Be¬
dingungen für eine Beeinflussung der rechten gegeben sind.
Ueberblicke ich zum Schluß die Resultate meiner Aus¬
führung, so sehe ich, wie berechtigt meine eingangs ge¬
äußerten Bedenken waren, denn manches ist ungeklärt,
vieles dunkel geblieben ; aber bei der Kompliziertheit der
Verhältnisse und der Schwierigkeit der in Betracht kommenden
Fragen ist meines Erachtens jede Mitteilung berechtigt und
kann jeder Versuch einer Deutung nutzbringend werden.
’AaxXrjTvCos zai ’AaxA'/jTüLsia.
Von A. P. Aravautinos.
Leipzig 1907.
Das vorliegende, neugriechisch geschriebene Werk erweitert
oder berichtigt in ganz bedeutender AVeise unsere Kenntnisse
über das Wesen der (hellenischen Teinpehnedizin und über den
Zusamnienhang derselbe)i mit der wissenschaftlichen Heilkunde.
Gestützt auf die einschlägige Literatur und auf eigene, wie
fremde archäologische F o r s c h u n g e n an Ort und Stel le,
faßt der gelehrte Veii'asser alle, die Asklepiadenmedizin herüliren-
den Tatsachen in übersichtlicher, auch die kleinsten Einzellieileii
berücksichtigender Darstellung zu einem klaren Bilde zusammen,
ln der sicheren Erwartung, daß das Buch durch Uebersetzuiig
in eine der AVeltsprachen ohnedies bald Gemeingut aller Freunde
der Geschichte der Medizin werden wird, darf sich Referent
einstweilen auf eine bloße Anzeige und auf die Hervorhebung
der Hauptmomente aus dem überreichen Inhalt beschränken.
Dns Werk ist von Hrof. Pagel eingeleitet und zerfällt in
drei Teile. Iin ersten (wird eingiehendst die Einrichtung und der
Betrieb der Asklepieien auf Grunid antiker Li beraturangaben und
der letzten archäologischen Untersuchungen (Epidauros, Kos,
Athen) geschildert, der zweite Teil analysiert vom rein medizini¬
schen Standpunkt sämtliche epidaurische Tempelinschriften, der
dritte verfolgt die Spuren des Asklepios durch Sage, Geschichte
und Kunst. Auf allen diesen Gebieten bringt Aravantinosl
neue, wichtige Tatsachen oder neue, geistvolle Deutungen, ohne
sich in Spekulationen zu verirren ; wenn man seinen Erörterungen
folgt, erscheint die Gestalt des griechischen Heilgottes und die
historische Bedeutung seiner Anhänger und Nachfolger in ganz
anderem Lichte als bisher, ja es wird das sonst so eigentümliche
Faktum klar, weshalb die griechischen Aerzte mit der Tempel¬
medizin in durchaus freundlichen Beziehungen stehen konrden.
Gewöhnlich glaubt man, daß^ der sogenannte Tempelschlaf,
die Inkubation und somit die Mystik, das Um und Auf der in
den Asklcpiosheiligtümern betriebenen Medizin bildete. Aus den
Darlegungen des Verfassers ergibt sich aber überraschenderweise,
daß die rein ärztliche Behandlung der Inkubation vorauging,
daß der IMystizismus des Tenipelschlafes nicht einmal in jedem.
Falle zur Anwendung kam und wenn dies der Fall war, melir
eine unterstützende, suggestive Bedeutung besaß. Uider
den 42 epidaurischen Kurberichten erwähnen mehr als zehn
gar nichts von der Inkubation und wir hören von 33 Fällen
(8 interne, 5 gynäkologische, ,6 augenärztliche, 4 neurologische,
3 dermatologische, 7 chirurgische), bei denen eine vollkommen
zweckmäßige, nüchterne Therapie die Hauptrolle spielte, näm¬
lich Massage, Schwitz-, Brech- und Abführmittel, Wurmmittel,
lokale Blutentziehung, Bäder, Gymnastik, Salben, Kollyricu,
Liepmann, München, med. Wochenschr. 1905.
Räucherungen, Kataplasrnen, Pflaster etc. und, was <un bemer¬
kenswertesten ist, kunstgemäß ausgeführte operative Eingriffe,
wie Extraktion von Fremdkörpern, Behebung von Luxalionen
und Ankylosen, Inzision von Abszessen (Aidegung von Nähten,
Verbände), Kauterisation, Steinextraktion u. a. Daß hygienisch-
diätetische Maßnahmen die Grundlage der Kuren, die Vorberei¬
tung bildeten, daß die im religiösen Gewände auflretende Sug¬
gestion für die Ausführung und den Dauererfolg der Beband-
lung klug ausgenützt wurde, können wir auch vom modernsten
Standpunkt nur anerkennen. Aravantinos zeigt* an der Hand
topographischer Aufnahmen, daß die langen Arkadengänge der
Asklepieien ihrem Zwecke nach den Kufräumen eines Sanato¬
riums entsprachen, nicht, wie die Archäologen meinten, dem
Kult dienten, und daß die Inkubation in einem kleinen, engen,
labyrinthartig angelegten Raume zur Ausführung kam, eine An¬
sicht, die uns sehr plausibel erscheint. Wae eng die Relation
der Asklepieien zur rationellen Medizin und ihren Vertreteru
war, beweisen unter anderem die Vorgefundenen Reliefdaj’stet-
lungen von Schröpfköpfen und chirurgischen Bestecken (Atlien),
die Aufstellung von Statuen hervorragender Chirurgen in den
Heiligtümern, anderseits aber die Teilnalnne der Aerzte am
Asklepioskult. Höchst werlvoll ist es, daßi Aravantinos sogar
die Uebereinstimmung des Inhaltes von TempelinschrifLen (Kur¬
berichten) mit entsprechenden Stellen in den hippokratische ti
Schriften nachweist 1 So wird es immer klarer, daß in den
Asklepios tempeln, lang vor Hip pok rates, eine relativ hoch ent¬
wickelte Medizin herrschte und aus sich den Hippokratismus
hervorgehen ließ, welcher dann den anhaftenden Mystizismus
abstreifte.
Der Verfasser belehrt uns über viele Einzelheiten der
Tempeleinrichtungen in bewundernswerter Weise, ja sogar über
den Modus des Honorars, ^welches die Patienten nach der Kur
an der Kasse entrichteten und zeigt, daß die Patienten in deu,
in gesündester hygienischer Lage befindlichen, Anstalten eine
Zeitlang vor und nach der Behandlung verweilten, ln der As¬
klepiosmythe selbst kam die Lhizulänglichkeit der Heilkunst zum
Ausdruck, stammte der Heilgot.t doch von einem Unsterblichen
(Apollon) und einer Sterblichen (Koronis) ab — dieses Gottmensch-
tum symbolisiert das unbegrenzte Streben und zugleich die oft
nur unvollkommenen Erfolge der Medizin. Priester und Aerzte
leisteten in dieser Erwägung Hilfe unter der frommen Devise:
Bsös TU/ a ayaiTa.
Der reiche Bilderschmuck, welcher dem Buche auch künst¬
lerischen Wert verleiht, illustriert auf das anschaulichste die
Ausführungen des Verfassers.
Aravantinos erweist sich durch die eben erschienene
Arbeit als glänzender Vertreter der medizinischen Archäologie
und verjüngt den Ruhm, welchen sich seine Landsleute Kabba-
dias. Lamp r os, Anagnostakis u. a. erworl)en haben. An
einzelnen eifrigen Pflegern der Geschichte der Medizin hat es
im modernen Griecheidand nie gefehlt, denn wo gäbe cs auch,
mehr Anregung, mehr Forschungsmittel, als im Vaterland der
wissenschaftlichen Heilkunde, wo auf Schritt und Tritt die Zeugen
einer glorreichen Vergangenheit entgegenragen ! Gerade aber
wegen dieser in ihrer Art einzig günstigen Umstände und wegen
der Vorteile, welche dadurch der historisch-metlizinischen For¬
schung allerorten zugute kämen, ist die Schaffutig einer Zentral¬
stätte, die Begründung einer Lehrkanzel für das Fach an der
Athener Fakultät ein Postulat, dem ehestens entsprochen Averden
sollte; denn sind auch die Fortschritte einer WTssenschaft nicht
ausschließlich an Lehrkanzeln geknüpft, so wird doch die Kon¬
tinuität der Forschung durch sie allein erhalten. Den Gruß aus
Hellas erwidern wir mit diesem WRinsche !
Älax Neuburger.
*
lieber die Gehirne von Th. Mommsen, R. W. Bunsen
und Ad. V. Menzel.
Von D. V. Hausemaun.
Mit 6 Tafeln.
Stuttgart 1907, Sch weiz er hart sehe Verlagsbuchhandlung.
Die Gehirne einer Reihe von hervorragenden Männern sind
bereits beschrieben; nun bereichert der Autor unsere diesbezüg¬
lichen Kenntnisse durch einen neuen, Avertvollen Beitrag.
478
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
Monunscii Avunle 8(5 Jaliie, Huuseii 88 Jalire, ^leiizel 8'J Jahre
alt. Die llirngeAvichte waren 1425, 1295, 1298 g. Demerkens-
wert ist, daß Müinmsens und Bunsens Geliirne ausgesprochene
senile Atrophie zeigten, Avährend diese Männer bis in die aller¬
letzte Zeit ihres Lebens imstande AA’aren, mit größter Geistes¬
schärfe zu handeln und zu denken. Menzels Gehirn zeigte keine
senile Atrophie.
Die Untersuchung der Gehirnfurchen ergab bei IMommscn
auf beiden Hemisphären relatiAm Einfachheit der Projektions-
(Bewegungs- und Sinnes-)sphären, ausgiebige Gliederung der Asso¬
ziationssphären u. ZAA". ganz besonders derjenigen Abschnitte,
die dem Stirn- und Hinterhauptlappen angebören. Bei Bunsen
AAUir die große hintere Assoziationssphäre beiderseits stärker ent-
AAÜckelt, die linke Hemisphäre aauu' ini Stirn- und Parietalhirn
reicher gegliedert als die rechte. Menzels Crchirn bot eine be¬
sonders starke EntAAÜcklung der Assoziationssphären beiderseits,
die Zentralwdndungen AAUiren rechts viel stärker gegliedert als links.
Eine starke Gliederung der Gehirnoberfläche bietet keine
GeAAuihr dafür, daß die betreffenden Individuen von besonderer
Intelligenz sind. Bei dem Versuch, aus der anatomischen Be¬
trachtung der Gehirne geistig hervorragender Menschen Umstände
abzuleiten, Avelche gleichsam die verstärkte Funktion dos vor¬
handenen anatomischen Materials erklären könnten, stieß man
Aviederholt auf pathologische Erscheinungen an den Gehirnen und
Schädeln. So Avurde das unverhältnis'mäßig häufige Vorkommen
eines leichten Hydrozephalus bei geistig hervorragenden Menschen
von Perls und von E dinger hervorgehoben und von dem
Aidor seinerzeit bei Helmholtz und nun bei Menzel wieder
gefunden. Der Autor stellt sich vor, daß von dem Hydrozephalus
ein Reiz ausgehen könne, der die besondere auatomiscbe Ver¬
anlagung zu entsprechender Funktion anrege.
Eine Erörterung über das Genie führt den Autor zu der
Annahme, man müsse bei den auf instinktiven Fähigkeiten be¬
ruhenden Genies eine von der gewöhnlichen abweichende Ge¬
hirnfiguration erAvarten, Avas bei Helmholtz und Menzel in der
Tat stimme. Für Studien über Beziehungen zAvischen Geistes¬
kräften und Gehirnbau wären aber die Gehirne im allgemeinen
mittelmäßig begabter, aber nach einer bestimmten Richtung hin
besonders ausgezeichneter Menschen ein verheißungsvolleres
Material als die kompliziert gebauten Gehirne geistig besonders
heiworragender Menschen.
Eine Tafel mit Porträts und fünf Lichtdrucktafeln mit Ge-
hirnabl)il(lungen erhöhen den Wert der interessanten Arbeit.
K a r p 1 u 3.
Aus versehiedeneft Zeitsehriften.
199. Untersuchungen und Be tr a c b l,u n ge n zur
A e t i o 1 o gi e u n d The r ap ie der Lu n ge n tu b e rk u 1 o s e. Von
Dr. A. Dünges. . Verf. befaßt sich mit der Frage nach der
Ursache der vorwiegenden Spitzendisposition, erörtert bekannte
Anschauungen und bringt neue Erklärungen, fordert aber auf
j(Mler Seite der Arbeit zur Kritik heraus. Bei den eigenen Er¬
klärungsversuchen begeht er, abgesehen von deren sehr hypo¬
thetischem Charakter, den Fehler, zu übersehen, daß einer gene¬
rellen Eigenschaft auch generelle Ursachen zugrunde liegen
müssen. Mag sein, daß für eine große Zahl von Menschen die
li'aumatische Exponiertheit der Lungenspitzen, insbesonilere das
innere Trauma im Sinne Geßners (besonders starke Dj'uck-
(lifferenzen in den Lungenspitzen bei plötzlicher Steigerung des
iidrathorakalen Druckes, Avie beim Husten etc.) oder Erkältungen
der oberen Partien als disposiüonssteigei'ude Momente Avirken,
unmöglich könjien sie berangezoigen Av^erden zur Erklärung der
überAviegenden Empfänglichkeit der Lungenspitzen für die tuber¬
kulöse Erki'ankung beim erAvachsenen Alenschen und im Jüng¬
lingsalter. Bei Avie vielen INkmschen tiifft Aveder das innere
Trauma, noch ein äußeres, noch eine Erkältung der oberen Thorax-
parlien zu. Wenn Verf. beispielsAA'eise daran denkt, ob nicht die
Gewohidunt, beim Schlafen die Arme und damit die oberen Thorax¬
partien außerhalb der Bettdecken zu halten, die Lungenspitzen
Nacht für Nacht Tem])eralurs(diwankungen aussfdze, so muß doch
Avenigstens für den besser situierten Teil der Bevölkerung, unter
dem ilie Tuberkulose doch auch sehr verbreitet ist, und der ge-
AViohnl ist, in gut temperierten Zimmern zu schlafen, diese Er¬
klärung als unAvabi-scheinlich angesehen Averden. Ebenso hypo¬
thetisch ist der Versuch, aus Experimenten Gr ober s, der in
die Gaumenmandel eingespritzte Tuscheimdsionen bis in die
Lungenspitzen verfolgte, abzuleiten, die Spitzenerkrankung hänge
mit einer primären Tonsillarinfektion zusjtmmen. Die Möglich¬
keit dieses Infektionsweges selbst für viele Fälle zugegeben, für
die Erklärung der generellen Spitzendisposition ist damit nichts
geleistet. Diese ist uns bis heute nur verständlich gemacht durch
ebenso generelle Erklärungsmomente, deren Widerlegung Verfasser
doch etAvas zu leicht nimmt: die geringeren respiratorischen
Volumschvvankungen der oberen Lungenpartien (Tendeloo), die
Behinderung der Exspiration durch den senkrecht abgehenden
Spitzenbronchus, welche beiden Momente Aviederum eine Ver¬
langsamung der Blut- und Lymphzirkulation bedingen, Avas durch
schlechtere Ernährung eine verminderte Widerstandsfähigkeit der
Spitzen und anderseits eine leichtere Ansiedlung eingednmgener
Keime im Gefolge hat. Wahrscheinlich hat auch die durch die
aufrechte Körperstellung verursachte Verlangsamung der Zirku¬
lation ihren Anteil an der mangelhaften Ernährung der Lungen¬
spitzen. Neben diesen generellen Momenten sind sicher zahl¬
reiche, die Disposition steigernde Faktoren in den einzelnen
Fällen von Belang. Verfassers Theorie \mn der traumatischen
Exponiertheit der Lungenspitzen führt ihn zu einer neuerlichen
Empfehlung des Heftpflasterverbandes. Der systematische Wert
desselben bei Schmerzen, Hämoptoen, sei nicht in Zweifel ge¬
zogen. Für die allgemeine Anwendung desselben bei Lungen¬
tuberkulose sprechen aber weder die theoretische Grundlage, die
ihm Verf. gibt, noch in größerem Umfange vorliegende praktische
Erfahrungen. — (Beiträge zur Klinik der Tuberkulose, Bd. 7,
Heft 1.) J. S.
*
200. (Aus dem Veterinärinstitut der Universität in Leipzig.)
Z Av e i Fälle von erfolgreicher U e b e r t r a g u n g tuber¬
kulösen AI a te rials von an Lungenphthise gestor¬
benen erAvachsenen Ale ns dien auf das Rind. Von Pro¬
fessor Dr. A. Eber, Institutsdirektor. Der Verfasser hat früher
nachgeAviesen, daß es leicht gelingt, mit tuberkulösem Material aus
dem Verdauungskanal von Kindern, bei Einhaltung eines be¬
stimmten Infeklionsmodus, bei Versuchsrindern typische Tuber¬
kulose zu erzeugen. Nun Avollte er Amrsuchen, ob auch durch
Ueberimpfung tuberkulösen Materials von erAvachsenen Menschen,
insbesondere Amn an Phthise zugiauide gegangenen, dasselbe Re¬
sultat zu erzielen Aväre. Er erhielt ein Stück Lunge eines an
Lungenphthise gestorbenen 17jährigen Alannes, später ein Stück
Hirnhaut eines ebenfalls an Lungenphthise gestorbenen 50jährigen
Alannes und übertrug dieses Alaterial auf zAvei Kälber. Maßgebend
für die Auswahl des Impfmaterials Avar lediglich saubere Ge-
Avinnung und möglichste Frische desselben. Durch gleichzeitige
subkutane und intraperitoneale Einverleibung Amn mit Boidllon
verriebenen, tuberkulösen Organteilen eines Aleerschweinchens,
welches mit tuberkulösem Alateriale des 17jährigen Alannes in¬
fiziert Avar, gelang es bei einem auf Tuberkuli]! nicht reagierenden,
etwa vier Wochen alten, gesunden Kalbe eine chronische Bauch-
und Brustfelltuberkulose (Perlsucht) zu erzeugen. Im zAveiten
Falle gelang es, durch Infektion eines AleerschAveiiichens mit tuber¬
kulösem Material von einem an Lungenphthise und frischer Hirn¬
hauttuberkulose Amrstorbenen 50jährigen Alaune und Ueberimpfung
auf ein sonst gleich gesundes Kalb, eine akute Aliliartuberkulose
der Lungen, Alilz und Nieren, und eine disseminierte Bauchfell-
tuberkulöse zu erzeugen, Avelche innerlialb 34 Tagen unter Fieber¬
erscheinungen zum Tode führte. Der Verfasser steht auf dem
Standpunkte, daß die beim Menschen und beim Rinde A'or-
konnnenden Tuberkulosefoiinen eine einheitliche U r s a c h e
haben, er Avar also von <lom Ausfall dieser Versuche nicht über¬
rascht. Wenn aber Koch und seine Scluder behaupten, daß alle
beim Alenschen gefundenen Veränderungen, Avelche sich bei Ueber¬
impfung auf das Rind für dieses virulent ei'AA’eisen, auf das Rind
als Infektionsquelle hiiiAveisen, so sei diese Behauptung
nicht erAviesen. Es sei nur bewiesen, daß man bei Uelxu'impfuug
tuberkulösen Alalerials A’om Rinde auf das Rind verhällnisiuäßig
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
479
leiclit eine Allgemeininfeklioji erzeugen könne, wälirend man bei
\'er\veiuliing luljerkulösen Alalerials von Mensclien in einer großen
Anzahl von Fällen nur einen auf die Impfstelle and die regio¬
nären Lymphdrüsen sich beschränkenden Prozeß erhalle, der ni(dü
selten nach kurzer Zeit völlig ausheilt, lii den seltenen Fällen, in
denen einmal eine Uebertragung der Tuherkulose vom Pindc
auf (len Menschen stattgefunden hat, kann hei den Krankheils¬
produkten, respektive ihren Bazillenreinkulluren eine hohe Rinder¬
virulenz erwartet werden, für den Schluß aber, daß in jedem
Falle, in welchem menschliches tuberkulöses Material, oder die
Reinkulturen daraus, für das Rind virulent sind, notwendigerweise
früher eine Uebertragung der Tuberkulose vom Rinde auf den
Menschen (Perlsuchtinfektion) angenommen werden müsse, liege
kein zwingender Grund vor. Schließlich habe er bei üeberimpfuDg
tuberkulösen Materials vom Menschen auf das Rind eigentlich
alle Uebergangsformen (lokale tuberkulöse Infiltration an der Impf¬
stelle, dann beschränkt bleibende chronische Bauchfell tuberkulöse
— Perlsucht — endlich akute Miliartuberkidose, in 34 Tagen
zum Tode führend) beobachtet, was auch nicht dafür spreche,
daß die Säugetiertuberkulose in zwei ätiologisch voneinander ver¬
schiedene Tuberkuloseformen (Koch) zu scheiden sei. — Re¬
gierungsrat Dr. A. Weber in Berlin knüpft an diese Mitteilung'
Ebers sofort einige Bemerkungen an. Er habe im Vorjahre
behauptet, daß bis jetzt kein einziger einwandfreier Fall von
Lungenphthise, beruhend auf Perlsuchtbazillen (Bazillen des Typus
bovinus), nachgewiesen sei. Eber glaubt nun, durch obige Mit¬
teilung diese Behauptung widerlegt zu haben. Er (Weber) stehe
auf Grund langjähriger Untersuchungen über Tuberkulose auf
dem Standpunkte, den mit ihm Smith, Kos sei, Raven el
und andere teilen, daß man zwei Typen der Säugetiertuberkulose¬
bazillen (Typus humanus, Typus bovinus) unterscheiden müsse.
Die Frage, ob man es in einem gegebenen Falle mit einer In¬
fektion von Bazillen des Typus humanus oder des Typus bovinus
zu tun habe, lasse sich sicher nur durch Arbeiten mit Rein¬
kulturen und dabei auch nur bei Einbaltung eines mühsamen
Untersuchungsganges entscheiden. Die forcierte Impfmethode,
welche Eber in den beiden Fällen anwandte (gleichzeitige intra¬
peritoneale und subkutane Impfung junger Kälber mit großen
Älengen tuberkulösen Materials in Aufschwemmung) ist von vorn¬
herein ungeeignet, die Frage, oh eine Infektion mit Bazillen des
einen oder des anderen Typus vorliege, zu entscheiden. Bei einer
solchen Impfmethode wird man schließlich bei Kälbern mit jedem
tuberkulösen Material Veränderungen hervorrufen, die unter Um¬
ständen eine gelungene Infektion Vortäuschen können. Im ersten
Falle Ebers scheint der Typus bovinus nicht Vorgelegen zu
haben, denn Eber teilt auch mit, er habe mit dem einem Meer¬
schweinchen überimpften Material auch eine Ziege zu infizieren
gesucht, was aber mißlungen sei. Ziegen sind aber für die Ba¬
zillen des Typus bovinus aucb bei subkutaner Impfung sehr em¬
pfänglich. Im zweiten Falle Ebers wunle das Material nicht
der ])hthisischen Lunge, sondern der Hirnhaut entnommen. Nun
gibt es Doppelinfektionen mit beiden Typen; selbst wenn also
in dem Stückchen Hirnhaut Bazillen des Typus bovinus über¬
tragen worden wären, so ist damit noch nicht bewiesen, tlaß
die bei demselben Menschen vorhandene Phthise ebenfalls auf
Infektion mit Bazillen des Typus bovinus beruhten. Schließlich
habe Eber gesagt, daß Webers Ansicht, daß alle Fälle von
Tuberkulose des Menschen, bei welchen als Krankheitserreger
der Bacillus typi bovini gefunden wurde, als Fälle von Ueber¬
tragung der Rindertuberkulose auf den Menschen (Perlsucht¬
infektion) anzusehen sei, lediglich eine — Hypothese sei. Nun
hahen exakte Untersuch ungen in den verschiedensten Ländern
von den verschiedensten Forschern übereinstimmend Bazillen des
Typus bovinus gerade iu solchen Fällen menschlicher Tuherkulose
nachweisen lassen, in denen die Infektion augenscheinlich vom
V^erdauungskanal ausgegangen ist und in der ganz überwiegenden
Mehrzahl bei Kindern. Das könne kein bloßer Zufall sein. —
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 10.) E. F.
*
201. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik ' zu Kiel
(Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Sie mer ling). Untersuchungen
der Zerebrospinalflüssigkeit bei Geistes- und
Ne r ve nk i’a n k h e i te n. Von Dr. Henk<“l, I. Assistenzarzt. Bei
pr(jgrcssiver Paralyse, Tabes, Lues cerebri und cerebrospinalis,
bei de-u verschiedensten Formen der Meningitis fand Henkel
regelmäßig im Liquor cerehrospinalis erhebliche Zellvermehrung,
Vorhandensein von Serumalbumin und Vermehrung des Serum¬
globulins. Im geringeren Grade, jedoch zeigen sich konstant die¬
selben Befunde bei Tumor cerebri. Bei iMyelitis war die Eivveißi-
vej'mehrung intensiv, die Zeilenzahl relativ gering. Inkonstant
waren die Befunde bei Erkrankungen auf arteriosklerotischer
Grundlage, bei der multiplen Sklerose und bei Syringomyelie.
Negative Befunde lieferten die Fälle zerebraler Kinderlähmung
und funktioneller Erkrankungen. Wie die Zellvermehrung im
Liquor zustandekommt, ist noch fraglich, wahrscheinlich ^wirken
entzündliche Vorgänge der verschiedensten Art mit. Die Lumbal¬
punktion muß zu diagnostischen Zwecken in Kombination mit
allen anderen Symptomen herangezogen werden. Die diagnostische
Bedeutung der Lumhalpunktion liegt besonders in der Möglichkeit,
aus der Art und dem Grade der Veränderungen der Zerebrospinal¬
flüssigkeit auf die Natur des Leidens Rückscblüsse zu ziehen.
— (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Band. 42,
Heft 2.) S.
*
202. Ueher zwei F alle von Muskel tu berkulose. Von
Cornil. Der erste Fall, bei einer 32jährigen Frau heobachtet,,
präsentierte sich als sklerosierende Tuberkulose im rechten
Masseter. Andeiweitige tuberkulöse Herde waren nicht vorhanden,
dagegen hatte die Patientin vor längerer Zeit an einer Koxalgie
gelitten. Im rechten Masseter war ein ^haselnußigroßer, unscharf
abgegrenzter Tumor eingelagert, welcher exstirpiert wurde. Es
zeigte sich, daß Fortsätze des Tumors zwischen die einzelnen
Muskelbündel eingeschoben waren. Auf dem Durchschnitt erwies
sich der Tumor als grau und hart, er war zum Teil schlecht
färbbar, in der Umgebung verkäster Stellen fanden sicii typische
Tuberkel mit Riesenzellen. Das Sarkolemm zeigte entzündliche
Reizung mit starker Kernvermehrung, auch waren die Muskel¬
fasern auf dem Querschnitt von zahlreichen Kernen umgehen, wo¬
durch das Bild von Riesenzellen vorgetäuscht wurde. Um die
Gefäße war Bindegewebswucherung und Leukozytenanhäufung
nachweisbar. Da sich nirgends Zeichen von Eiterung fanden,
so ist der beschriebene Tumor der fibrösen Tuberkulose zuzu¬
rechnen. Im zweiten Falle lag eine vereiterte tuberkulöse Myo¬
sitis mit Bildung eines kalten Abszesses an der äußeren Fläche
des Oberschenkels bei einem 25jährigen schwächlichen Mädchen
vor, welches Lymphdrüsenschwellungen am Halse und einen
suspekten Lungenhefund hatte. Der Abszeß wurde durch einen
kleinen Einschnitt eröffnet und es zeigte sich, daß die iVbszeß-
wand durch den Musculus vastus extemus Igebildet wurde. Die
Affektion verlief schmerzlos und es war keine Verbindung mit
dem Knochen nachweisbar. Im Eiter fanden sich degenerierte
Vluskelfasern und es ergab die Uebejimpfung auf Meerschweinchen
ein positives Resultat. — (Bull, de TAcad. de nmd. 1907, Nr. 8.)
203. (Aus der Augeidmilanstalt zu Wiesbaden.) Zur Kennt¬
nis des En Ophthal mus. Von Dr. Adolf H. Pa gen steelier.
Augenarzt in Wiesbaden. Der Enophthalmus, das Zurücksinken
des Auges in die iOrhita, kommt bei Schwund des Fettgewebes
in der Orbita vor, nach retrobulbären Blutungen, als Teilerschei¬
nung der neurotischen Gesichtsafro[)hie, nach Exstirpation retro¬
bulbärer Gescliwülste, nach si>ontaner Rückbildung des pulsie¬
renden Exophthalmus, bei intermittierendem Exophthalmus und
endlich nach Traumen. Verf. hatte in letzter Zeit Gelegenheit,
zwei Patienten mit traumatischem Enophthalmus zu beobachten.
Der erste Patient, ein 27jähriger Fuhrknecht, wurde am 31. Mai
vorigen Jahres an der linken Wange durch einen Hufschlag ver¬
letzt. Er blutete aus Nase und Mund und war zwei bis drei
Minuten bewußtlos. Bei Vernähung der Wunde zeigte sich die
Highmorshöhle eröffnet. Seit dem Unfall steht das linke Auge
tiefer in der Orbita (5-5 mm); der Patient klagt über Doppelt¬
sehen, Schwindel und Kopfschmerz heim Bücken. Kurz nach der
Verletzung bestand nach Mitteilung des erst behandelnden Arztes
der Enophthalmus nicht. Das Auge hat jetzt einen starren Aus¬
druck wie ein Glasauge, ophthalmoskopisch ist alles normal, nur
allseits starke Gesichtsfeldeiuscliränkung. Der zweite Patient, ein
-f
ibU WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. Nr. 16
48j;Un'iger Klempner, wurde am 27. Mai 1906 durch einen Stein¬
wurf an der rechten Wmige verlietzt. Nach .seclis Wuchen Heilung
der Wunde. Erst sah Fat. mit dem Auge gar nictiLs, es hat ein
Bluterguß im Auge bestanden; das Sehvermögen ist aber auch
jetzt noch sehr schlecht. Auch hei diesem fällt der starre Aus¬
druck des Auges auf, das 5 mm tiefer in der Orbita liegt als
das linke. Auch hier ist allseits eine Ctesichtsfeldeinschränkung.
Doppeltsehen tritt erst hei stärkerer Seitwärtswendung des Blickes
auf. Beide Fälle sind nach Verf. für den Enophthalinus charak-
lej’islisch. Meist und so auch hei diesen zwei Patienten ist der
Vorgang folgender; Durch ein Trauma werden der Orbitalrand
und die die Augenhöhle umg^djenden Knochen gebrochen. Splitter
dringen in die Orbita und rufen hier Zerreißungen des Gewebes
und Blutungen hervor. Später tritt dann Narbenhildung ein, wo¬
durch das retrobulbäre Gewebe schrumpft und der Bulbus zurück¬
gezogen wird. Wenn der Enophthalinus schon kurz nach der
Verletzung heobachtet Avird, zu einer Zeit, wo von Narben¬
bildung noch nicht die Rede sein kann, so nimmt man an, daß
durch das Trauma eine Orhitalwand, meist der Orbitalboden
zertrümmert wurde, daß das Orbilalfett dann ausweichen kann
und der Bulbus zurücksinkt. Die Prognose ist — quoad resti-
tulionem — sehr schlecht. Für den ei'sten Patienten ist auch
das Doppeltsehen sehr störend. Verf. berichtet zum Schlüsse
noch über einen dritten Fall von Enophlhalmus. Ein Ißjähriges
Mädchen kam mit der Angabe, vor zwei Jahren habe es beijn
Bücken im Garten einen Schmerz hinter dem rechten Auge ge-
gespürt, dann sei das Auge etwas vorgetreten. Bald darauf waren
die Lider blutunterlaufen. Nach einiger Zeit ging die V^ortreibung
des Auges zurück und dasselbe stand tiefer in der Augenhöhle
als das linke. Auf Befragen erfuhr Verf. von der Mutter, daß
die ersten Menses sich einige Tage nach dem Hervor treten des
Auges eingestellt hätten. Die üntersuclrung ergab, daß das rechte
Auge 2 mm tiefer in der Orbita stand als das linke. Bückte sich
Pat., so trat es in dieselbe Stellung wie das andere, um nach
dem Aufrichten in drei Sekunden wieder in seine alte Lage
zurückzusinken. Augenhintergrund normal, Sehvermögen beider¬
seits gleich. Es handelte sich hier um eine retrobulbäre Blulung
in der Pubertät, kurz vor der ersten Menstruation. Sie ist den
Netzhaut- und Glaskörperblutungen gleichzustellen, die bei ge¬
störter oder erschwerter Menstruation oder vor Eintritt der
ersten Menses beobachtet worden sind. Durch die Blutung wur¬
den Narhenbildungen und geringe Schrumpfrmgen im Orbital¬
fett hervorgerufen, die eine Ahnahnie des Volumens und ein
Zurücksinken des Bulbus zur Folge hatten; beim Bücken sclnvollen
die Venen der Orbita an und das Auge trat wieder etwas mehr
hervor. Verf. möchte diesen Fall am ehesten dem intermittierenden
Exophthalmus zur Seite stellen, 'bei dem in gebückter Stellung, das
Auge hervortritt, oder den Beobachtungen von intermittierendem
Ex- und Enophthalinus, AAmhei die Protrusion des Bulbus mit
Zurücksinken in die Orbita wechselt. — (Münchener medizi¬
nische Wochenschrift 1907, Nr. 10.) G.
204. (Aus dem St. BartholonieAv-Hospilal in London.) lieber
einen Fall von Sarkom der Skapula bei einem vier¬
jährigen Kinde. Von Louis B. Bawling. Bei einem Tier-
jährigen Kinde entwickelte sich eine Geschwulst der rechten Ska¬
pula, welche rapid wuchs, so daß bereits zwei Monate, nachdem
die i\Iutter die ersten Anfänge einer Schwellung bemerkt halle,
eine Operation aussichtslos erschien. Die Geschwulst, die ein
Sarkom Avar, ergriff in schnellem Weiterwachsen das Schulter¬
gelenk und die umgebende äluskulatur und setzte Metastasen in
die rechte Lunge. Das Kind starb nach einer Gesamtkrankheits-
dauer Amn SVa Mon. \'erf. hat im Anschluß an diesen Fall aus der
Literatur 23 Fälle von Knochensai'komen im Kindesalter zusamrnen-
gestellt. Das jüngste der Kinder AvarßlVochen alt. Was die Chancen
dei- Operation betrifft, so kommt Verf. zu dem Schlüsse, daß eine
zu sehr frühem Zeilimnkte ausgeführle Operation von dauern-
d(*m Erfolge begleitet sein kann. Bei einigermaßen vorgeschritten
nein Prozeß hält Verf. die Operation für nutzlos. — (Lancet,
9. Februar 1907.) J. Sch.
♦
205. Hyperemesis gravidarum. Von Dr. Karl Baisch,
Privatdozenten und 1. Assistenzarzt der königl. Universitälsfrauen-
klinik in Tübingen (Prof. Dr. A. D öder lein). Es gibt, Avahr-
scheinlich mehrere Ursachen der Hyperemesis, vornehmlich sind
drei Quellen in Betracht zu ziehen, sie liegen im Uterus, in den
Zentralorganen und im Magen. „Eine quantitative Ueherproduktion
oder riualitative Alteration der supponierten chemischen
Stoffe im Uterus erklärt uns die Hyperemesis bei Zwillingen
und Blasenmole, bei Endometritis und Retroflexio; eine abnorme
Erregbarkeit der Zentren läßt uns verstehen, Avarum
Neurasthenische und Hysterische ein so großes Kontingent zu
diesen Kranken stellen und eine durch frühere IMagenerkrankungen
oder sonstAvie erworbene Reizbarkeit dos Magens erklärt
uns die Hyperemesis bei Frauen mit schAvachen, empfindlichen
Verdauungsorganen.“ Die schw'ere Hyperemesis ist eine seltene
Erkrankung. Bei etwa 20.000 ambulanten Kranken und 2500
ScliAvangeren, Avoiche Avährend der letzten fünf Jahre an ob¬
genannter Klinik beobachtet Avurden, kamen 20 Fälle von schwerer
Hyperemesis Amr. Es ist dies eine prozentualiter große Zahl,
da Pick an der Klinik Schauta bei 30.600 Sclnvangeren nur
23 Fälle beobachtet hat. In prognostischer Hinsicht ist die Hyper-
omesis der neurasthenischen und hysterischen, der ,, nervösen“
Frauen eine günstige Form, ihre Behandlung ist meist erfolgreich.
Die Suggoslionskraft des koiisultierten Spezialisten erzielt hier
oft raschen und anhaltenden Erfolg. Bei der zentral bedingten
Hyperemesis empfiehlt sich die Verordnung absoluter Boitruhe,
AAms durch Applikation eines Thermophors auf die Magengegond
oder einer Eisblase auf den Unterleih plausibler gemacht Avird.
Bei ernsten und bereits länger bestehenden Erkrankungen. Avird
sodann die Nahrungs- und hdüssigkeitszufuhr für mindestens
24 Stunden vollständig sistiert. Gegen den quälenden Durst Averden
einige subkutane Transfusionen physiologischer Kochsalzlösungen
appliziert. Sodann (in leichteren Fällen ohne Fasten) erhält die
Kranke in Eis gekühlte Milch kaffeelöffelwoise, am Tage danach
elAvas ZAvieback und Tee oder Kaffee mit Milch, dann Bouillon,
Schleimsuppe, leichten Brei. Also in den ersten Tagen flüssige
Kost in kleinen Portionen ,in nicht zu kurzen ZAvischenräunien.
Hungergefühl ist das erste sichere Zeichen der beginnenden Ge¬
nesung. Peinliche Vorsicht bei der täglichen Steigerung des Er¬
laubten und sorgfältige Rücksicht auf die Geschmacksrichtung der
Kranken, kein sprunghafter Uobergang zu derberer Kost, da sonst
Rückfall eintritt. Versagt diese Therapie, so entferne man die
Kranke aus der bisherigen Umgebung und überführe sie ins
Krankenhaus. Diese Maßregel führt oft zum Erfolg. Die zentral
bedingte Hyperemesis stellt zweifellos die häufigste Form dar,
von den 20 Fällen der Tübinger Klinik Averden 15 in diese
Kategorie eingeiuiht. Die Spitalsbehandlung ist auch bei der
stomachalen Hyperemesis angezeigt; streng geregelte Diät, Be-
schräidamg auf flüssig -breiige Kost, die erst allmählich reich¬
haltiger zu gestalten ist. Für die uterine Form (gesunder Magen,
normal erregbares Brechzentrum, aber .^Avahrscheinlich Ueberpro-
duktion von Erbrechen bewirkenden Substanzen im Ei oder
Uterus) Avird die Kur durch Verabreichung A-on Medikamenten
unterstützt, AA-elche die Herabsetzung der Erregbarkeit des Brech-
zentimms zum Ziele haben. Verf. empfiehlt zu diesem ZAvecke
Skopolamin in Dosen Amn 0-3 bis 0-5 mg ein- bis zweimal täglich.
Sodann diätetische Behandlung. Dringend empfiehlt ei' ferner die
Anregung stärkerer Diurese und gründliche Entleerung des Darms
durch Avicderholte reichliche Einläufe zum Zwecke einer Aus¬
waschung des Organismus. In fünf Fällen war man gezwungen,
die ScliAvangerschaft zu unterbrechen, um dem fortsciireitenden
Kräfteverfall zu gebieten. Die Indikation für diese radikale
Therapie gibt die Wage: zeigt die zAA^eimal Avöchentlich Amrzu-
nehmende Wägung, daß der GeAvichtsverlust Linaufhaltsam fort¬
schreitet, so ist der Abort einzuleiten. Verf. Avarnt, hier länger
zuzuAvarten, die Frau ja nicht in die äußerste Gefahr zu bringen.
Fritsch erlebte es einmal, daßi eine Frau das unstillbare Er¬
brechen simulierte, um einen Abortus herbeiführen zu lassen.
Die mit scliAverem Erbrechen oft gepaarte profuse Hypersalivation
kann aber nicht simuliert Averden. Wird das Ei entfernt, so
sistiert sofort das Erbrechen, es sistiert auch die Salivation.
Die Ausräumung des Uterus soll in einer Sitzung erfolgen. Aheiuls
Amrher wird nach Sondendilatation ein dicker Laminariastift in
die Zervix eingeschoben, am folgenden Morgen Avird mit d<‘r
Winter sehen Eizange in Avenigen Minuten das Ei entfernt.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
481
Blutung und lul'ektiousgcfalir sind liiubei gering, A'arkosc oder
Lumbalanästhesie sind in der Kegel entbebrlicb. Die Kraidve,
die wochenlang alles erbrochen batte, ist am Abend der Operation
schon imstande, mit Ai)petil ein substanzielles Abendbrot zu ge¬
nießen. — (ib'rliner klinisclie Woebensebr. 1907, Nr. !i.)
E. F.
♦
20G. Gibt cs eine akute Ilerzd ila t a 1 io n? Von
L. Cbeinisse. In verschiedenen Armeen wurde eine progressive
Zunabnie der Ilerzaffektionen festgestellt und zum Teil auf über¬
triebene spoi’tlicbe Uebungen zurückgefübrt. Es ist auch sieber-
gestellt, daß gesteigerte Äluskelanstrengung namentlich während
der Waebstumsperiode idiopatbisebe Ilerzbypertroplde liervor-
zurufen vermag. Es entsteht nun die Frage, ob eine beftigje
Muskelanstrengung auch imstande ist, eine akute Herzdilatatioii
bervorzurufen. Es liegen verschiedene Bericbfc über das Auf¬
treten einer dureb Dyspnoe, xVrrbytbmiie des Pulses, Tachykardie
und Verlrreiterung der Herzdämpfung gekennzeichneten akuteji
Herzdilatatioii nach Bicyclefabrlen, sowie nach Bingkämiifen und
forciertem Laufen vor, zum Teil ist der Befund der Vergrößerung
der Herzdämpfung radiograpbiscb gestützt. Es wurde aber her-
vorgeboben, daß die liloße Könt.gendurcbleucbtuug: hier keine
sicheren Aufschlüsse zu geben vermag und die mit dem Hilfs¬
mittel der Orthodiagraphie anges'tellteii Untersuchungen fielen hin¬
sichtlich der Frage des Vorkommens einer akuten Herzdilatation
negativ aus. Die Verbreiterung der Herzdämpfung kann durch
Hebung des Zwerchfelles und Verstärkung der Diastole vorgeläuscbt
werden. Die mit Hilfe der Orthodiagraphie angestellten Unter¬
suchungen führten zu dem Ergebnis, daß sellist die heftigste,
IMuskelanstrengUng bei gesundem Myokard nicht imstande, ist,
eine akute Herzdilatation bervorzurufen. Da für die Herztätig'-
keit nicht nur das Myokard, sondern auch das Verhalten des
Nervenaiiparates maßgebend ist, so fragt es sieb, oh heftige Ge¬
mütsbewegungen, namentlich wenn sie plötzlich eintreteu, im¬
stande sind, eine akute Herzdilatation bervorzurufen. Tatsäch¬
lich sind Fälle von akuter Herzdilatation unter dem Einfluß
heftiger Gemütsbewegungen, namentlich bei neurastbenisclKMi
iMännern und nervösen Frauen beobachtet worden. Zur Erklärung
ist ein verbreiterter Gefäßspasmus, noch mehr die direkte Sbock-
wirkung auf die Innervationszentren des Herzens heranzuziehen.
Jedenfalls vermag die plötzliche Einwirkung eines heftigen
Schreckens die Atlaptationsfähigkeit des Herzens zeitweilig auf-
zuhehen. — (Sem. ined. 1907, Nr. 9.) a. e.
. i ♦
207. Ueber den Untei-schied im p by sikal sehen
Verhalten bei d er Lungenspitzen. Von Friedrich S e u f f e r-
held. xVuf Grund der Angal)en anderer Autoren und basierend
auf eigenen Untersüchungen scheinbar lungengesunder IMenseben
kommt Verf. zu dem Schlüsse, daß die rechte Lungenspitze häufig
tiefer steld als die linke, der Schall über derselben leiser und
dann meist auch etwas tympaniitisch und in diesem Falle regel¬
mäßig verbunden ist mit verschärftem, dem bronchialen sich
nälu'rndein Atmungsgeräuscli, verstärktem Pektoralfremitus und
Bronchoplionie. Als Ursache für das Tieferstehen der lechten
Spitze macht Verf. hauptsächlich leichte Skoliosen der unteren
Hals- und oberen Brustwirbelsäule und das Hängen des rechten
Schultergürtels gellend. Die übrigen auskultatorischen Erschei¬
nungen sind zurückzuführen auf die stärkere Bronchialversorgunig
der rechten Lungenspitze, die größere xVuzahl subpleural gelegener
Bronchiallumina, den höhercui Abgang des rechten Hauptbronchus
und des eparteriellen Bronchus, wodurch weitere Bronchiallumina
in gi'ößere Nälie der Spitzen gerückt sind. Verf. glaubt daher,
daß den erwälnden perkutoriscb-auskultatoriscben Erscheinungen
üi)er der rechteii Sj)itze erst dann eine entscheidende diagnostische
Bedeutung beizumessen sei, wenn gleichzeitig andere für Tuber¬
kulose sprecbende Symptome, wie Basselgeräusche, Fieber, Drüsen,
vorhanden seien. Oh das geschilderte Vei'halten iler rechten
Lungenspitze tatsächlich so lütufig ist, wie Verf. annimmt (er
fand Tiefstand der rechten Spitze in 75‘Vo, verschärftes Exspirium
in 80T') der uidersuchten, anscheinend gesunden Individuen), sei
dahingestellt, da immer die Frage erlaubt ist, ob die rechte
Spitze bei den fraglichen Individuen auch wirklich ganz frei
von Tuberkulose gewesen sei. Immerhin verdienen die Ausfüh*
rungen des Verfassers die größte diaignostische Bc'achtung. Man
wird aber doeb in vielen Fällen, auch ohne daß Kasselgei'äustdie.
Fieber oder Drüsen vorlianden sind, aus der Stellung, der beiden
Scbultergürtel, aus dem Vorbandensein oder Fehlen skolioiischer
Abweichungen der oberen Brust- und Halswirbelsäule imslamle
sein, die abnormen pbysikalischen Erscheinungen richtig zu deuten,
abgesehen von den übrigen tuberkuloseverdächtigen Sym])tomen
und xVngaben der Kranken. — (Beiträge zur Klinik der Tuljer-
kulose, Bd. 7, H. 1.) J. S.
♦
208. Aus der psychiatrischen und Nervenkllnik zu Kiel
(Geh. Med. -Rat Prof; Dr. Sie nierliüg). Die p a Lh o 1 o g i s ch e
Anatomie des senilen Rückenmarkes. Von Dr. Kinicki
Naka. Der xVrbeit liegt die mikroskopische Untersu(dmng des
Rückenmarkes 17 seniler Individuen zugrunde. Zur Untersuchung
kamen von jedem Rückenmark der obere und der untere Teil
des Hals- und Bitistmarkes und die Lemlenanschwellung, zur
Färbung wurden die Marchi-, v. Gieson-, Weigert- und Tbionin-
methode angewendet. An den Zellen fand sich mehr oiler weniger
in allen Fällen pigmentöse Degeneration, zuweilen fand siclJ ein¬
fache Atrophie der Zelle ohne Pigmentanhäufung, ln einigen
Fällen war leiclde Degeneration in den Wurzeleintrittszonen einer
oder mehrerer Rückenmarksabschnitte Zu koiistatiereii; In den
Ilintersfrängoii zeigten sich in fast allen Fällen Veränderuu<|en 1
diffuse, gcu'inggradige Degeneration im Lendenmark, eine schmale
Degeneration im unteren Brustmark, auf beiden Seiten des vor¬
deren Teiles der hinteren Längsfurche oder in deren ganzer Ausl-
dehnung, in der Halsanschwellung eine leichte Veränderung in
den Gotischen Strängen, ln den Vorder- und Seitensträugen
fand sich meist keine deutliche Veränderung im Sinne einer
Degeneration, nur in vereinzelteJi Fälleti erschienen die Seiten¬
stränge diffus gelichtet, ln allen Fällen waren die Gefäße ver¬
ändert: stellenweise vermehrt (am wenigsten in den V^order-
strängen), die Wandungen verdickt, tter Verlauf geschlängelt, peri¬
vaskuläre Gliawucherung (am ausgesprochensten in den Hinter¬
strängen). Der Zentralkanal war in den meisten Fällen ohliteriert.
— (Ai'chiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. -42, II. 2.)
I S.
Vermisehte l^aehriehten.
Ernannt: Oberstabsarzt Dr. Fritz W i 1 1 i n g e r zum außer¬
ordentlichen Professor für Chirurgie in der Zahnheilkunde an
der Berliner Universität. — Der außerordentliche Professor Doktor
Oskar de 1 a Camp in Marburg zum ordentlichen Professor
der Kinderheilkunde und Pharmakologie in Erlangen. — Doktor
V i 1 1 a r zum Professor der operativen Medizin in Bordeaux. —
Dr. T a m b u r i n i in Modena zum ordentlichen Professor der
Psychiatrie in Rom. — Dr. Mir to zum außerordentlichen Pro¬
fessor der gerichtlichen Medizin in Siena.
*
V e r 1 i e h e n : Dem Marinestabsarzt Dr. Jaroslaw 0 k u-
niewski und dem Stabsarzt Dr. Franz Pick in Wien das
Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens. — Das goldene Verdienstkreuz
mit der Krone den Regimentsärzten: Dr. Josef Zizala, Doktor
Wenzel Fischer und Siegmund Fersten. — Dem Ober¬
bezirksarzt Dr. Karl Wagrowski in Czortkow der Titel eines
Landessanitätsinspektors. — Dem außerordentlichen Professor
Dr. A. Wassermann in Berlin der Charakter als Geheimer
Medizinalrat.
*
Habilitiert: Dr. Ad. Becker für Chirurgie in Rostock.
— Dr. C o n d u 1 m e r für interne Pathologie in Bologna. —
Dr. Bru g n o 1 a in Sassari für interne Pathologie. — In Turin :
Dr. All aria für Kinderheilkunde; Dr. Donati für allgemeine
Pathologie.
♦
An Stelle des verstorbenen Regierungsrates Dr. Tilkowsky
wurde der niederösterreichische Landessanitätssekrelär in Wien
Dr. Wilhelm Lorenz vom niederösterreichischen Landesaus-
schusse als ordentliches Mitglied in den n i e d o r ö s t e r r e i c h i-
schen Landessanitätsrat für das laufende Triennium
1907 bis 1909 entsendet.
*
lu Nr. 15 der D<'ulschen medizinischen Wochensebrift vor-
ölfentJicht Prof. H. Schl an gc-Ilaunover den ausführlichen Be¬
richt über di(* Krankheil von Ernst v. Bergmann. FiS winl
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
duj'cJi diese von bei'ufensler Seite gegelicne Darslellung die finnid-
losigkeiL der sich hartnäckig l)eluui[)tcnden (ierüctile von der
Krebskrankheit v. Bergmanns endgültig festges teilt, ebenso,
daß die auf Jahre züriiekdatierten zcilweiligen Darinstörungen,
sowie die kurz vor dem Tode aufgetretenen Ileuscrscheinungen
im letzten Gnmde auf eine im russiscli- türkischen Feldzuge
durcbgemachle Dysentenc mit konsekutiver Bildung von Ad-
bäsionen an der Flexura lienalis zurückzuführen waren. Die noti-
wendig gewordenen, von Prof. Schlange ausgeführlen Opera¬
tionen, die Anlegung einer Darmfistel, zunächst auf der rechten
und schließlich auf der linken Seile, konnten bei dem schon vor
dem Auftreten der Ilcussyinptome äußerst ungünstig gewordenen
Allgemeinzustand, keine Rettung mehr bringen. Die Bauclisektion
ergab außer Stenosis flexUrae lienaJis adhaesiva. Necrosis pan-
creatis und Peiitonilis diffusa pnrulenta.
*
Wir erhalten folgende Zuschrift : Die k. k. niederöster¬
reichische Statthalterei hat mit dem Erlasse vom 10. März 1907,
Z. XI — 437, nachstehendes anher eröffnet ; „Seit längerer Zeit
werden nicht nur in Tagesblättern, sondern auch in Kalendern
die vom Apotheker Josef Schneider in Resicza in Ungarn
erzeugten Arzneizubereitungen : Granatkapseln, Antebeten
gegen Trunksucht und S a n t o 1 k a p s e 1 n, sowie das in der
,AposteP - Apotheke in Budapest hergestellte Mittel Haiapis
Tub er in in höchst aufdringlicher Weise angekündigt. Das
königl. ungarische Ministerium des Innern hat den Vertrieb dieser
Präparate nicht zur Kenntnis genommen. Da diese Artikel
auch beim k. k. Ministerium des Innern zur Zulassung nicht an¬
gemeldet worden sind und ihre Zusammensetzung nicht bekannt
ist, sind sie als Geheimmittel anzusehen, deren Vertrieb nach
den bestehenden Vorschriften verboten ist. Von diesem Verbote
erfolgt hiemit die Verständigung. Der Bezirksamtsleiter.“
*
Dr. Adolf Wilhelm Schmidt hat die ärztliche Leitung
des (im September zu eröffnenden) Kurmittelhauses der Stadt
M e r a n (Anstalt für die gesamte physikalische Therapie) über¬
nommen, im Sommer aber die Leitung der ,, Heilanstalt Kurpark
mit dem Bulling-Inhalatorium“ in Bad Ischl behalten.
*
Der Roman ,,Aerzte“ von Heinrich v. Schullern ist
nun auch in italienischer Uebersetzung u. zw. bei F. H. S chimp ff
in Triest erschienen.
*
Im Protokolle über die Sitzung der k. k. G-esellschaft der
Aerzte, vom 22. Alärz d. J. (Wiener klinische Wochenschrift
Nr. 13) ist folgendes richtigzustellen:
Seite 397, Zeile 44 (Spalte H) soll es heißen: „VorAvölbung
der rechten“, statt linken; Seite 398, Zeile 37 (Spalte I) fehlt
ein Wort, es soll heißen: ,, wegen der Seltenheit dieses Vor¬
kommnisses“; Seite 398, Zeile 46 (Spalte II) soll es heißen:
„Spiralen“ statt „Spie gier“; Seite '>398,' Zeile 4 und b von
unten (Spalte II) soll der Satz lauten: ,,daß aber bei einer Aus¬
dehnung des Prozesses auf die gröberen Aeste nach längerem
Bestehen des Asthmas, oder Ifalls dies von vornherein eintritt.“
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 12. Jahreswoche (vom 17. bis
23. März 1907). Lebend geboren, ehelich 605, unehelich 300, zu¬
sammen 905. Tot geboren ehelich 47, unehelich 27, zusammen 74.
Gesamtzahl der Todesfälle 813 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 2P6 Todesfälle), an Bauchtyphus 0,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 17, Scharlach 3, Keuchhusten 3,
Diphtherie und Krupp 17, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 4,
Lungentuberkulose 139, bösartige Neubildungen 48, Wochenbett¬
fieber 2. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 52 (-U 18), Wochen-
bellfieber 1 (—2), Blattern 0 (0), Varizellen 49 (— 19), Masern 383
( — 26), Scharlach 105 (-}- 16), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 0 ( — 1),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 81 ( — 25), Keuch¬
husten 52 (-|- 20), Trachom 4 (+ 2), Influenza 14 (-|- 14).
13. Jahreswoche (vom 24. bis 30. März 1907). Lebend geboren,
ehelich 725, unehelich 298, zusammen 1023. Tot geboren, ehelich 52,
unehelich 21, zusammen 73. Gesamtzahl der Todesfälle 855 (i. e. auf
1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden 227 Todesfälle), an
Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 19, Scharlach 5, Keuch¬
husten 3, Diphtherie und Krupp 7, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0,
Rotlauf 6, Lungentuberkulose 143, bösartige Neubildungen 55, Wochen¬
bettfieber 3. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 37 ( — 15),
Wochenbettfieber 2 (-}- 1), Blattern 0 (0), Varizellen 50 (-}- 1), Masern
280 ( — 103), Scharlach 97 ( — 8), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus
9 (“h 9), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 88 (-]- 7)
Keuchhusten 29 ( — 23), Trachom 0 ( — 4), Influenza 2 ( — 12).
Freie Stellen.
Oherbezirksarztesstelle für Oberösterreich mit den system'
mäßigen Bezügen der VIH. Rangsklasse, sowie eine, eventuell zwei, Sani¬
tätskonzipistenstellen mit den Bezügen der X. Rangsklasse. Bewerber
haben ihre Gesuche unter Nachweisung ihres Alters, der wichtigeren
Personalverhältnisse, des Zeitpunktes der Promotion und der abgelegten
Physikatsprüfung bis 30. April d. J. im vorgeschriebenen Dienstwege bei
dem k. k. Statthaltereipräsidium in Linz einzubringen.
Stelle eines Hilfsarztes (Sekundararztes) im öffentlichen
städtischen Krankenhause in Steyr (Oberösterreich). Mit dieser beiderseits
ein vierteljährig kündbaren Dienstesstelle ist ein jährliches Adjutum von
K 1600, der Anspruch auf volle Verpflegung, bestehend in Frühstück,
Mittagessen, Jause und Abendessen im Spitale und freies Quartier daselbst,
verbunden. Bewerber deutscher Nationalität haben ihre mit dem Doklor-
diplome, dem Geburtsscheine und dem Heimatscheine, sowie den Zeug¬
nissen über ihre bisherige praktische Verwendung belegten Gesuche bis
längstens 30. April d. J. bei der Stadtgemeindevorstehung Steyr einzu¬
bringen. Auf sofortigen Dienstantritt wird besonders Gewicht gelegt,
bzw. es werden Bewerber, die den Dienst so gl e i ch antreten können,
bevorzugt.
' Stelle eines Landes-Sanitätsinspektors für das Küstenland
mit den systemmäßigen Bezügen der VII Rangsklasse, eventuell eine
Oberbezirksarztesstelle mit den systemmäßigen Bezügen der VIH.
Rangsklasse. Bewerber um diese Stellen haben ihre mit den erforderlichen
Belegen und den Nachweisen über ihre Sprachkenntnisse versehenen
Gesuche im Wege ihrer Vorgesetzten Behörde bis 30. April d. J. bei
dem Statthaltereipräsidium in Triest einzubringen.
Aufruf.
Mit Schluß des Sommersemesters 1907 tritt Herr Hofrat Professor
Dr. Adam Politzer nach Erreichung der durch die österreichischen
Gesetze bestimmten Altersgrenze von der Leitung der k. k. Universitäts¬
klinik für Ohrenkranke in Wien und nach 46jähriger ruhmreicher aka¬
demischer Tätigkeit vom Lehramte zurück.
Angesichts des weltumfassenden Rufes Politzers und der all¬
gemeinen Verehrung, die er ganz besonders im Kreise seiner Schüler
und engeren Fachgenossen genießt, ist es überflüssig, hier auf seine Be¬
deutung für die Ohrenheilkunde und die Gesamtmedizin hinzuweisen.
Die Gefertigten glauben daher, dem Wunsche der zahlreichen
Schüler und Freunde Prof. Politzers zu entsprechen, wenn sie den
Zeitpunkt, an welchem der gefeierte Meister die Stätte seiner langjährigen
Wirksamkeit verläßt, für geeignet erachten, den Gefühlen der Verehrung
und Dankbarkeit ihm gegenüber Ausdruck zu verleihen.
In voller Uebereinstimmung hatte das gefertigte Komitee ursprüng¬
lich für diesen Tag eine solenne Feier beschlossen, an welcher die in-
und ausländischen Kollegen und Abordnungen der otologischen Gesell¬
schaften zur Teilnahme eingeladen werden sollten. Prof. Politzer, der
davon Kenntnis erhalten, hat jedoch, mit Rücksicht auf mehrere in der
letzten Zeit in seiner engeren Familie vorgekommene Todesfälle dringend
gebeten, von dieser geplanten Feier abzusehen.
Es wurde daher beschlossen, eine von Meister Teles entworfene
Plaque tte prägen zu lassen, die das Porträt Politzers tragen und
allen an dieser Kundgebung Teilnehmenden zur bleibenden Erinnerung
an seine Person und an den denkwürdigen Tag dienen, dem Gefeierten
selbst aber, in Gold ausgeführt, am Tage seines Abschieds vom Lokal¬
komitee überreicht werden soll.
Zugleich mit der Plaquette wird dem Meister eine Adresse über¬
reicht werden, die die Namen aller derjenigen enthalten soll, welche
sich an dieser Kundgebung beteiligen werden.
Wir laden demnach sämtliche Kollegen ein, insbesondere die
gewesenen Schüler Politzers und die Vertreter des otologischen
Faches, ebenso aber auch alle, die dem berühmten Wiener Gelehrten
Interesse entgegenbringen, ihre Anmeldungen zum Bezüge einer
Plaquette an den Schatzmeister des gefertigten Komitees einzu¬
senden. Gleichzeitig mit der Anmeldung, welche den deutlich ge¬
schriebenen Namen, die Titel und die genaue Adresse enthalten muß,
wird gebeten, den Betrag von K 24 (M. 20, Fres. 24) für eine silberne,
oder von K 12 (M. 10, Fres. 12) für eine Bronzeplaquette an den Schatz¬
meister Herrn Dr. D. Kaufmann in Wien VI., Mariahilferstraße 37 ein¬
zusenden.
Aus dem Ueberschuß der Beträge, der nach Deckung der Her¬
stellungskosten verbleiben dürfte, soll ein Fonds gebildet werden, der
Herrn Hofrat Politzer zur Errichtung einer Stiftung zur Verfügung
gestellt werden soll.
Wir bitten, die Anmeldungen sobald als möglich, längstens aber
bis zum 15. Mai 1907 einzusenden, u. zw. nur an die angegebene
Adresse.
Für das Komitee:
Prof. Dr. Josef Po Hak- Wien
Doz. Dr. Hugo Frey- Wien Doz. Dr, G. Al exander- Wien
Dr. D. Kaufmann- Wien VI., Mariahilferstraße 37.
Prof. Dr. Böke-Budapest, Prof. Dr. D e m e t r i ad i s - Athen, Professor
Dr. Gr ade nigo - Turin, Dr. C. L a g er lö f - Stockholm, Geheimrat
Prof. Dr. A. Lu c ae - Berlin, Prof. Dr. Urban P r i t ch a r d -London,
Prof, Dr. S ch m i e ge lo w - Kopenhagen, Dr. S t a n c ul e an u -Bukarest,
Dr. S e g ura- Buenos Aires, Prof. Dr. D e 1 s ea u x - Brüssel, Professor
Pi. F 0 rn s - Madrid, Prof. Dr. II. K n a p p - New-York, Dr. M. Lermoyez-
Paris, Prof. Dr. Okada-Tokio, Prof. Dr. Rohrer-Zürich, Prim. Doktor
S ehr aga- Belgrad, Prof. Dr. St. v. S te i n - Moskau, Prof. Dr. Zwaar-
demaker-Utrecht.
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
483
Verhandlangen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT;
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellscliaft der Aerzte iu Wien,
Sitzung vom 12. April 1907.
36. Kongreß der deutschen Gresellschaft für Chirurgie zu Berlin.
1. Sitzungstag 3. April 1907.
Medizinischer Verein in Creifswald. Sitzung vom 2. März 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 12. April 1907.
Vorsitzender: Hofrat Prof. R. Chrobak.
Schriftführer: Prof. R. Paltauf.
Präsident Hofrat R. Chrobak dankt in seinem Namen,
sowie in dem der Mitglieder des Präsidiums für die erfolgte
Wiederwahl; er sei sich der großen Ehre bewußt und gestützt
auf das Vertrauen der k. k. Gesellschaft empfinde er cs leicht,
die Leitung zu führen. Hofrat Chrobak erklärt ferner, die
Gelegenheit benützen zn wollen, zur Verhinderung des unlieb¬
samen Vorkommnisses, daß das Sitzungsprograimu durch die An¬
meldung zahlreicher Demonstrationen, am Sitzungsabende selbst
nicht erledigt werden kann, die Mitglieder zu erinnern, daß
die Auffassung des § 7 der Geschäftisordnung, jede Demonsti-alioh
müsse zehn Minuten dauern, unr’ichtig sei; oft läßt sich alles
Bemerkenswerte in einigen Minuten sagen; auch liegt es im
Interesse der Erhaltung des Usus, daß> die Diemonstrationen nach
einer gewissen Würdigkeit angereiht werden; zunächst die Demon¬
stration von Krankheitsfällen, die Vorführung von Apparaten,
Instrumenten soll später stattfinden, nach der Tagesordnung, even¬
tuell auch auf die nächste Sitzung verschoben werden. Es liegt in
der Macht des Vorsitzenden und ist seine Pflicht, durch Regelung
der zulässigen Zeit für die akzeptierten Demonstrationen und
Mitteilungen, außerhalb der Tagesordnung die Durchführimg der
letzteren aufrecht zu halten.
Priv.-Doz. Dr. Ferdinand Alt demonstriert einen geheilten
Fall von otitischem Schläfelappenabszeß.
Die 38jährige Patientin A. M. erkrankte Mitte Januar 1907
an Influenza und einer rechtsseitigen akuten Mittelohreiterung. Vor¬
her soll sie nie ernstlich krank gewesen sein. Sie stand im Ohren¬
ambulatorium des Krankenhauses Wieden in Behandlung. Nach¬
dem Schmerzen und Fieber geschwunden waren und nur eine
Otorrhoe zurückgeblieben war, entzog sie sich der ambulatorischen
Behandlung. Ich sah die Kranke erst nach Wochen am 8. März
wieder, als sie vom Hausarzt mit der Diagnose Meningitis ex
otitide in das Krankenhaus Wieden eingeliefert und auf der Ab¬
teilung des Primarius Schnitzler aufgenommen wurde. Die
Kranke klagte über heftige Kopfschmerzen, war etwas benommen,
es bestand leichte Nackensteifigkeit, die Temperatur war 39 bis
39 ’8“, Puls 84. Rechts war profuse Otorrhoe vorhanden, das
entzündete Trommelfell war hinten unten perforiert, der Warzen¬
fortsatz war aufgetrieben und sehr druckempfindlich. Das linke
Ohr war normal. Rechts wurde Flüstersprache auf 1 m gehört,
der We bersche Versuch wurde nach rechts lateralisiert, der
Rinne sehe Versuch war rechts negativ, mit verlängerter Knochen¬
leitung, es wurden hohe Töne besser gehört als tiefe. Ich nahm
sofort die Trepanation des rechten Warzenfortsatzes vor. Schon
nach den ersten Meißelschlägen entleerte sich sehr putrider Eiter,
die Zellen im ganzen vertikalen Teile des Warzenfortsatzes waren
erkrankt, die Spitze mußte entfernt werden, im Antrum waren
schlaffe Granulationen. Am Tage nach der Operation war die
Patientin bei sehr gutem Befinden, der Kopfsemmerz war ge¬
schwunden, die Temperatur erreichte als Maximum 38‘1“.
Bis zum 15. März war die Patientin lebhaft und gesprächig,
bei bestem Wohlbefinden und normalen Temperaturen. Am Abend
klagte sie über sehr starke Kopfschmerzen, wurde somnolent, es
trat Fazialisparese links auf. Temperatur 38“, Puls GO.
Am 16. März war die Kranke schwer somnolent, Temperatur
38'4 bis 39'6“, Puls 84, leichte Nackensteifigkeit, Fazialislähmung
links, der Augenhintergrund links normal, rechts erweiterte, ge¬
schlängelte Gefäße, der temporale Anteil der Papille verwaschen.
Die Patientin ließ Stuhl und Urin unter sich. Die wenigen objek¬
tiven Symptome sprachen zweifellos für eine intrakranielle
Komplikation und die linksseitige Fazialislähmung ließ bei rechts¬
seitiger Otitis an eine Erkrankung des rechten Schläfelappens
denken.
Ich schritt an die Exploration des rechten Temporallappens
und meißelte zunächst von der früheren Operationswunde aus
das T c g m e n a n t r i m a s t o i d c i ab. Der Knochen war hart
und wurde schichtweise abgetragen, bis die Dura der mittleren
Schädelgrube in über Kronengröße freilag. Die Dura war äußerlich
unverändert und zeigte keinerlei Pulsation. Durch die harte Hirn¬
haut hindurch punktierte ich mit der Punktionsnadel den Schläfe¬
lappen. Die 11 cm® fassende Spritze füllte sich mit grünlichem
Eiter; es wurde an die Nadel eine zweite Spritze angesetzt und
neuerlich 11 cm® Eiter aufgezogen. Sodann machte ich einen
Kreuzschnitt in die Dura. Das Gehirn war gespannt und pulsierte
nicht, Ich inzidierte mit einem langen schmalen Skalpell das
Gehirn und mochte kaum iVa cm eingedrungen sein, als sich
jauchiger Eiter und krümelige Massen in ungewöhnlicher
Menge, etwa 25 cm^, entleerten. Ich brachte durch eine einge¬
führte Kornzange das Inzisionslumen wiederholt zum Klaffen und
immer wieder entleerte sich neuer Eiter. Das in die Abszeßhöhle
eingeführte Drain war sogleich mit Eiter gefüllt und mußte
wiederholt mit physiologischer steriler Kochsalzlösung gereinigt
und neuerlich eingeführt werden. Der Abszeß war sicherlich mehr
als kleinapfelgroß. Kaum war ein Teil des Eiters entleert, als das
Gehirn zu pulsieren begann. Die Operation wurde, da die Patientin
vollkommen somnolent war, ohne Narkose ausgeführt. Die Patientin
gerhielt sich während des Eingriffes, als ob sie tief narkotisiert
Gewesen wäre. Sofort nach der Entleerung des Eiters aus dem
Gehirn begann sie zu reagieren und richtete Fragen an mich.
Die weiteren Manipulationen am Gehirn und die Einführung des
Drains in die Abszeßhöhle wurden nicht schmerzhaft empfunden.
Die bakteriologische Untersuchung des Eiters (Prosektor Dr. Z e-
m a n n) ergab im nativen Präparat Stäbchen und Kokken. Kultu¬
rell wurden nur Stäbchen nachgewiesen, die sich wie Bacterium
coli verhielten. Am Tage nach der Operation war die Kranke bei
gutem Befinden, Kopfschmerz, Nackensteifigkeit und F azialislähmung
waren geschwunden, das Sensorium war vollkommen frei, die
Patientin konnte heim Verbandwechsel selbständig vom Bett, das
in den Operationssaal geschoben wurde, auf den Operationstisch
steigen. Durch 3V2 Wochen wurde die Abszeßhöhle, die immer
weniger sezernierte, drainiert. Gegenwärtig besteht nur noch eine
kleine granulierende Wundhöhle im Knochen, die in einer Woche
vollkommen geschlossen sein dürfte.
Dr. Emil Glas: Meine Herren! Ich erlaube mir, Ihnen einen
Fall vorzustellen, der in mehrfacher Beziehung Ihr Interesse er¬
wecken dürfte. Aus der Anamnese des 19jährigen Pat. wäre bloß
anzu führen, daß er als Kind ein Trauma (Fall auf die Nase) er¬
litt. Im Juni V. J. erkrankte er an einer Pleuropneumonie, im
Anschluß hieran an Peritonitis. In der Rekonvaleszenz nach
dieser Erkrankung konstatierte Pat. zuerst im Oktober v. J. übel¬
riechendes Aufstoßen, welches sich häufig wiederholte, hie und
da von Brechen gefolgt war, wobei fötide jMassen aus dem
Magen herausbefördert wurden. In dieser Zeit will Pat. auch
einige Schüttelfröste gehabt haben. Am 13. März a. c. suchte er
die Ambulanz der Klinik v. Noorden auf, wo eine abgelaufene
linksseitige Pleuritis diagnostiziert wurde. Als dem Pat. zur Bestim¬
mung der Magengröße Acidum tartaricum und Soda gereicht
worden war, erbrach er gelblich-grünliche Massen von sehr üblem
Geruch, weshalb er zur genaueren internen Untersuchung anf-
genommen wurde. Weder die Ausspülungen bei nüchternem Magen,
noch die Ausheberungen nach Probefrühstück, noch die genaue
Untersuchung der Fäzes, des Sputums und des Blutes und die
röntgenologische Untersuchung des Abdomens ergaben irgend¬
welchen positiven Anhaltspunkt. Am 24. März wurde der Pat.
an die Klinik Chiari geschickt, da die Vermutung geäußert
wurde, es könnte sich eventuell um verschlucktes Sputum handeln.
(Dr. Wechsberg.) Pat. hatte jedoch mit Ausnahme geringen
Nasenblutens in seiner Kindheit niemals irgendwelche Erscheinungen
von seiten seiner Nase und des oberen Respirationstraktes und
sträubte sich auch anfangs gegen die rhinoiogische Untersuchung,
da er keinerlei nasale Beschwerden zu haben angab. Die Bhino-
skopie ergab nun folgenden interessanten Befund : Unter der
u n t e r e n N a s e n m u s c h e 1, z u m T e i 1 e auch zwischen
mittlerer Muschel und S c p t u m h i n t e n (F i s s u r a
olfactoria) fanden sich jauchig zersetzte, übel
riechende, leicht zerreißliche bröckelige Massen,
welche auch per rhinoscopiam posteriorem choanalwärts zu
I sehen waren. Ein Befund, wie wir ihn nur bei drei Prozessen
in der Nase zu finden gewohnt sind: 1. bei Fremdkörpern, die
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
lange endonasal lagerten ; 2. bei jauchig zerfallenden malignen
Naseutumoren ; 3. bei durchbrechenden seciuestrierenden Antritiden
(Antritis perforans atque exnlcerans). liier war mit Rücksicht
auf die völlige Symptonienlosigkeit von seiten der Nase der
erste Prozeß a priori am wahrscheinlichsten. Nach Entfernung
der fütiden, an einzelnen Teilen der Muschelschleimhaut fest¬
anhaftenden Massen kam es zu einer stärkeren Blutung, weshalb
nach Sondierung, wobei ein rauher fester Körper in der Tiefe
gefühlt wurde, tamponiert wurde. Am nächsten Tage Entfernung
des Tampons sowie weiterer zerbröckelnder fötider Massen. Zum
Schlüsse wurde ein R h i n o 1 i t h entfernt, der unterhalb
der u 11 1 e r e 11 M u s c h e 1 g e s e s s e n w a r und sich nach
längerer Reinigung als E c k z a h n erwies. Die Unter¬
suchung des Gebisses ergab tatsächlich, wie Sie an dem Pat.
sehen können, Fehlen des linken Eckzahnes, ohne daß eine Zahn¬
lücke vorhanden wäre, indem der erste Prämolaris dem linken
lateralen Schneidezahn sich anreiht. Es handelt sich also jeden¬
falls um einen sogenannten invertierten um 180'^ gedrehten
in (1 i e N a s e g e w a c h s e n e n Z a h n, welcher dann (viel¬
leicht durch das Trauma?) g e 1 o c k er t und hei
seiner Wanderung unter den hinteren Teil der
u n t e r e 11 M u s c h e 1 z u 1 i e g e n k a m, w o er zur R h i n o-
1 i t h e 11 h i 1 d u 11 g Anlaß gab. Nach Entfernung des Nasen¬
zahnes trat völliges Wohlhefinden des Pat. ein, das monatelang
stinkende Aufstoßen und Erbrechen verschwand momentan. Die
Punktion der linken Kieferhöhle, die ich vornahni (da hei einem
von Ha u m g a r t e 11 vor kurzem heschriehenen ähnlichen Fall
das entsprechende Antrum fehlte) gelang leicht, ergab klare Siiül-
flüssigkeit. Das Röntgenhild, für dessen Herstellung ich Herrn
Dozenten Holzknecht danke, ergibt keine sonstigen Ver¬
änderungen, nur daß die linke Kieferhöhle kleiner erscheint als
die rechte. Der Fall erscheint demgemäß von folgenden Gesichts¬
punkten interessant: 1. Als anatomische Merkwürdig¬
keit, welche außerordentlich selten ist (vgl. Zuckerkandis
Anatomie der Nasenhöhle, sowie S c h e f f s Handbuch der Zahn¬
heilkunde und Seifert in H e y m a n n s Handbuch). Der erste
diesbezügliche Fall ist, wie schon Kahler in einer Publikation
über einen überzähligen Zahn in der Nase anführt, beschrieben.
Doch sind invertierte und locker in der Nasenhöhle liegende, zu
Bbinolithenbildung führende Eckzähne erst zweimal beschrieben.
2. Weil diese Anomalie dem Pat. jahrelang keine Beschwerden
verursachte, um schließlich nach Zersetzung der den Rhinolithen
umgebenden Massen eine schwere innere Erkrankung vorzu¬
täuschen.
Im Anschluß hieran demonstriert Glas einige auf der
Klinik C h i a r i extrahierte Rhinolithen mit verschiedenen Kernen,
darunter einen, den er bei einem an schwerer Infraorbitalneur¬
algie leidenden Patienten entfernen konnte, bei dem nach Ex¬
traktion völlige Heilung eintrat. Gleichzeitig mehrere anatomische
Präparate, deren Demonstration er Herrn Hofrat Z u c k e r k a n d 1
verdankt, darunter invertierte Eckzähne, einen in die linke Nasen¬
höhle ragenden rudimentären zentralen Inzisivus der rechten
Seite und einen frontal gestellten, im unteren Nasengang steckenden
Bikuspis der linken Seite.
Priv.-Doz. Dr. Leopold Freund; Das Mädchen, welches ich
mir vorzustellen erlaube, wurde vor einem Jahre an der Klinik
meines Chefs, Herrn Prof. Finger, wegen Lupus vulgaris
exulcerans der Nasenspitze, beider Nasenflügel und der
Nasenscbleimbaut mittels Röntgenstrahlen behandelt. Die Kranke
erhielt innerhalb zweier Monate im ganzen 12 Sitzungen. Seit
Mai 1906 ist sie geheilt. Im Oktober 1906 stellte sie sich mit
schön vernarbten Geschwüren vor. Mehr aus prophylaktischen
Gründen erhielt sie damals noch sechs Sitzungen. Man sieht
eine Narbe, die in kosmetischer Hinsicht nichts zu wünschen
übrig läßt. Solche Fälle sind hier schon wiederholt demonstriert
worden. Ich halte es jedoch für wichtig, solche Fälle vor¬
zustellen, um die an manchen Stellen herrschende Anschauung
zu zerstören, daß Lupus vulgaris durch Röntgenstrahlen nicht
radikal heilbar sei.
Bei der rationellen, die normale Heilungstendenz anregenden
und unterstützenden nur ganz geringe Dosen verwendenden
Methode, welche ich seit Jahren empfehle, gelang es mir noch
mit jedem Falle, der genügend lange zur Behandlung kam, fertig
zu werden. Allerdings dauert es oft ein Jahr und länger, bevor
der Prozeß vollständig ausheilt. Immerhin sind auch Fälle, wo
dies rascher erfolgt, nicht selten, wie der demonstrierte Fall
lehrt. Dieser Fall zeigt auch die günstige Wirkung der Röntgen-
strahlenhehandlung bei Formen des Lupus, wo man mit Einsen
nicht viel leisten kann.
In Anbetracht des Umstandes, daß Röntgenapparate schon
weit verbreitet sind, daß selbst entlegene Provinzspitäler über
solche Instrumentarien verfügen, was bezüglich der Finsenein-
richtungen nicht der Fall ist und nie sein bann, verdient die
Tatsache, daß Lupus mit Röntgen radikal heilbar ist, nach-
drücklichst betont zu werden, um Lupuskranken, welche sonst
der Wohltaten der Lichtbehandlung nicht teilhaftig werden
könnten, die Möglichkeit einer leicht durchführbaren erfolgreichen
Therapie zu bieten.
Primarius Dr. Moszkowicz demonstriert einen siobeiijäbrigcn
Knaben, d('r infolge von Lähmungen an den untcu'en Extremi¬
täten weder gehen noch stehen konnte und sich wie ein Vier¬
füßler foi'tbewegte. Die rechte untere Extremität war vollkommen
schlaff und gelähmt, am linken Beine waren die Aluskeln des
Unlerscheiikels normal bis auf den Tibialis a.nticus, die Äluskeln
des Oberschenkels waren ganz normal. Dagegen waren beider¬
seits die Glutaei gelähmt, der lleoi)soas beiderseits intakt. Das
rechte 'Bein wurde durch Arthrodese des Kniegelenkes und des
Hüftgelenkes, ferner Selmenverkürzung an den Aluskeln des Fußes
in einen bi'auchbaren Stelzfuß verwandelt. Doch konnte das Kind
noch immer nicht stehen, da die Extensoren des Hüftgelenkes,
die Glutaei maximi, fehlten.
Es wurde nun links der Glutaeus maximus durch die
Beuger des Kniegelenkes in der Weise ersetzt, daß .der
Au’salzimnkt dieser Muskeln (Semileiidinosus, Semimembranosus,
Bizeps) vom Tuber ischii auf das Darmbein verlegt wurde. Seit¬
dem kann das Kind mit zwei Stöcken gehen und kann auch
frei stehen. (Erscheint ausführlich in der Zeitschrift für Ib'il-
kunde.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin.
(Fortsetzung.)
Referent: Dr. Max Litthauer.
1. Sitzungstag 3. April 1907.
G lu c k - Berlin : Zur Chirurgie des Herzbeutels.
Gluck glaubt auf Grund anatomischer Erwägungen, daß
es zweckmäßig ist, die Punktion des Herzbeutels Jiiöglichst nach
außen von der Älamillarlinie vorzundlmien, weil man dadurch
sich am besten gegen die unbeabsichtigte Verletzung des Herzens
selbst schütze. Ferner berichtet Gluck über zwei Fälle von
Perikarditis. Der erste Fall betraf ein Kind mit Rnäkarditis.
Die gefundene Dämpfung zeigte die Eigentündichkeit, tlaß man
einen Bezirk intensiverer Dämpfung von einem Bezirk weniger
ausgeprägter Dämi)fung trennen konnte. Die intensiver gedämpfte
Partie wurde als dem Herzen enlsprechend angenommen und
auf die Zone hellen Schalls im vierten Interkostali'aum einge¬
schnitten. Der Eiter wurde im Perikard gefunden und entleert.
Das Kind erholte sich zunächst, starb aber später an allgemeiner
Sepsis. Im zweiten Falle, der kürzlich operiert, wurde, erzielte
er einen vollen Erfolg.
T h i e m a n n - Jena bel ichtet über einen 23jährigen Alann,
der sich durch einen Unfall eine Nadel in die linke Brustseite
gestochen hatte. 3V2 Stunden nach der Verletzung kam («r in die
Jenenser Klinik. Der Mann war sehr anämisch, es bestand ein
sehr starker Kollaps; die Herzdämpfung war stark verbreitert;
die Herztöne waren sehr leise. Daraus wurde auf eine Herz¬
verletzung geschlossen. Die vorhandene Wunde wurde erweitert
und von liier aus das Herz freigclegt. Nach Eröffnung des Herz-
lieutels wurden ca. 100 cm^: Blut enileert. Es fanden sich nun
ein Loch im rechten Ventrikel von 1 cm Länge und ein zweites,
größeres, im rechten Vorhof. Beide Wunden wurden mit Catgut
genäht. Nach Ausräunumig der iBlutkoagula aus dem Herzbeutel
wurde des'hall) bis auf einen herausgeleiteten Tampon geschlossen.
Auch die bei der Gperalion eröffnete Pleura wurde tamponiert.
Der Verlauf war gut, die Wunde heilte. Nach einigen Wochen
bildete sich noch ein linksseitiges Empyem aus, das durch Ripiien-
resektion eröffnet wurde. Darauf völlige, bis jetzt andauernde
Heilung.
Diskussion: Su 1 1 an-Alainz bespricht zunächst die
Schwierigkeiten der Diagnose bei Herz Verletzungen und berichtet
dann weitei', daß der von ihm auf dem vorigen Kongreß vor¬
gestellte, wegen Herzverletzung operierte Patient vollkommen ge¬
sund gebliehen sei, auch von seiten des Herzens bällen sich
keinerlei krankhafte Erscheinungen ^gezeigt.
Goebell-Kiel meint, daß man bei den Herzoperationen
.sehr wohl ohne Sa uerb ruchsche Kammer auskommen könne.
Er näht die Pleura wieder zu. Die bei der Operation oder s(dion
vorbei’ eingedrungene Luft entleei’t er dann durch .\nsaugen
mit dem D i e u 1 a f o ye sehen Apparat. Dann berichtet er über
experimentelle Untersuchungen, über den Heilungsvorgang bei
Nr. 16
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Herzwiindon. Er liat, die Tiere mit experimeiilell angelegten Herz-
wimden l)is zii 8U0 Tagen beoliachtet. Als Jlesuilat diesen'
periniente ergibt sieb, daß die Nabt jeder Mei'zwnnde mit der
Seluuligung des llei'znuiskels einbergebl. Es entsteht zimächsl
eine x\rt Infarkl; späler wandelt sich dieser in Ibndegeweljc nm;
es Inldet sich die Herzschwieie. Ferner fand er, daßi Ijei der
Anwendung von Catgut die Narbe leichter insuffizient wurde als
bei der Naht mit Seide. Für die Praxis ergibt sich daraus, daß
man so wenig Herzmuskel für die Naht heranziehen soll, als es
der (dnzelne Fall gestatlet, daß man als Nahtmaterial Seide ver¬
wenden solle; daßi die strengste Asepsis die Vorbeditigung für
das Gelingen der Herznabt sei.
K ü 1 1 n e r- Marljiirg stellt einen Patienten vor, der infolge
einer iMediastinoperikarditis in einen .desolaten Zustand versetzt
woi'den war. Er hat durch Resektion der Thoraxwand die Kardio-
lysis vorgenommen und damit bei dem Kranken einen ausgezeich¬
neten Erfolg erzielt.
H e 1 1 e r- Stetlin bat sechs Fälle [von Herzverletzung beob¬
achtet, von denen fünf Slichverletzungen waren, während es
sich in einem Falle um eine Schußverletzung: gehandelt hat. In
drei von diesen sechs Fällen waren die Symptome so eindeutig,
daß die Diagnose Herzverletzung ohne weiteres gestellt werden
konnte; in den drei anderen Fällen war die Diagnose nicht
absolut sicher. Trotzdem wurde auch in diesen Fällen das Herz
freigelegt. Bei dieser Operation empfiehlt auch Heller ein indi¬
vidualisierendes Vorgeben, man dürfe sich nicht eine bestimmte
Schnittfübrung festlegen. Bezüglich des Pneumothorax bemerkt er,
daß ein Pneumothorax, der erst bei den Operationen gesetzt wird,
von den Kranken leichter überwunden wird als ein bei der
Verletzung entstandener. In einem Falle, der einen Tag nach
der Operation an Schwäche zugrunde ging, zeigte sieb, daß eine
Catgutnäbt im Begriff war, sich zu, lösen. Deswegen rät er eben¬
falls von der Anwendung des Catgnts ab. Außer diesen hat er
noch zwei Fälle am dritten, bzw. fünften Tage nach der Operation
an Pleuritis und Perikarditis verloren; deswegen plädiert er für
die Drainage des Herzbeutels und der Pleuraböhle.
Küm me 11 -Hamburg: Zur Frage, wie lange, nachdem Herz¬
stillstand eingetreten ist, noch die Möglichkeit einer Erholung
des Herzens vorliegt, bringt Küm mell einen Beitrag. Er hat in
zwei Fällen, bei denen in Narkose Herzsynkope eingetreten war,
nach Erschöpfung der sonstigen Mittel das Herz freigelegt und das
Herz massiert. Bis zur Freilegung des, Herzens waren zirka drei
Viertelstunden vergangen. Er war erstaunt, zu sehen, wie schnell
das Herz auf die Massage reagierte. Schon nach wenigen Massage-
stößen begannen die Herzen, wieder zu schlagen und schlugen
auch eine geraume Zeit spontan weiter. Trotzdem gelang es
schließlich nicht, den Tod abzuwenden.
Francke-Braunschweig tritt für die Punktion der Herzen
ein auch bei den Fällen von Herzvorletzungen, wo die Diagnose
nicht' ganz sicher ist. Die Herzpunklion muß ausgefidirt werden,
um die Gefahren des Herzdruckes abzuwenden. Sie könne be¬
sonders in der Zeit ausgeführt werden, bevor der Kranke in die
Behandlung eines Fachebirurgen gelangt,
Riedel- Jena hat in einem Falle, in dem während einer
Laparotomie während der Narkose Herzstillstand eintrat, vom
Bauche aus durch Stöße gegen das Zwerchfell die Herzmassage
ausgefühi't. Es gelang, das Herz wieder zum Schlagen ’/a\ bringen,
so daß der Patient Tebend vom Operalionstiscb gebracht wurde.
Doch starb der Kranke wenige Stunden nach der Operation.
Reh n - Frankfurt a. M. erwälint, daß in einigen Fällen die
Herzmassage auch einen dauernden Erfolg gobabt liabe.
Le X e r - Königsberg : Die ideale Operation des ar¬
teriellen und des a r t e id o - v en ö se n yVneurysmas.
Die Uiderbindung der großen Gefäßstämme an den F,xtremi-
lälen bringt die große Gefahr der Gangrän mit sich, insbesondere
ist die gleichzeitige Unterbindung der Arterie und Vene für das
betreffende Glied gefährlich. Daher müßten die Oi)erateuro darauf
tx'dacht .sein, bei der Operation von Aneurysmen die Zirkulation
in der betreffenden Extremität zu erhallen. Aus diesen Erwä¬
gungen habe er sich entschlossen, angesichts der guten Resultate,
welche die Gefäßnaht bei den Versuebstieren ergeben habe, die
MetJiode der Gefäßnaht auch beim Menschen anzuwenden und
zwar habe er das in zweierlei Weise getan; er habe sowohl
die zirkuläre Vereinigung der Gefäße gemacht, als auch die Ge¬
fäßtransplantation. Er stellt sodann einen Mann vor, der nach
einem Stich in die Kniekehle ein Aneurysma arterio- venosuni
der Vasa poplitea .akquiriert hatte. .Es bestanden alle Symptome
des Aneurysmas und zugleich eine deutliche Peroneuslähmung.
Trotzdem war der Mann für einen Simulanten gehalten wortlen.
Bei der Operation wurde der aneurysmatische Sack frei.gelegt,
und ebenso die verletzten Stellen an den Kniekehlengetäßen.
Die Wundränder der Wunde der Arteria poplitea waren von so
schlechter Hes(duiftenbeit, daß an eine seitliche Naht tier Arterie
nicht gedacht werden konnte. Die llnlerbinduiig der .\rte!'ie und
der Vene wollte; er wegen der Gefalu' der Gangrän vermeiden.
Deswegen resezierte er das kranke Stück dei- Arteria poplitea,
so daß das peripherische und das zentrale Ende ca. ö cm weit
voneinander entfernt waren. Bei rechtwinklig gebeugtem Knie
wurde die ziiLuläre Naht der Arteria poplilea ausgeführt, die
Vene Avurde doppelt unterbunden. Nach Lrösung des Schlau(di(;s
war der Puls sofort in den Arteilen des Fußes fühlbar. Das Knie
wurde in recbtwiiüHiger Beugung verbunden und vier Wochen
in dieser Stellung belassen. Nach Abnahme des Verhandes zeigt;*
sich, daß die Peroneuslähmung nicht, geheilt war. Sonst aber
konnte der Kranke sein Bein gebrauchen. Es sind niemals Zir-
kulationssttlrungen beobachtet Avorden.
In einem zAveiten Falle Avar bei einer Luxatio subcoracoidea,
die nicht sogleich erkannt Avorden Avar, hei dem Versuch, die
schon drei Wochen bestehende Luxation zu repoiiiererq eine
Zerreißung der Arteria axillaris mit nachfolgendei' Aneuiysma-
bildung zustande gekommen. Neun Wochen nach der Verletzung
kam Pat. in die Klinik. Es bestand eine sehr erhebliche Arterio¬
sklerose. Bei der Operation Avollte Lexer Avegen der Brüchig.-
keit des Gefäßes die seitliche Naht nicht machen, die einfache
Unterbindung unterblieb Avegen der Gangrängefabr. Es wurde
das erkrankte Stück der Arterie reseziert, so daß eine Diastase
von 7 cm resultierte. Da die beiden Gefäßienden auf keine Weise
zusammenzul)ringen Avaren, entschloß, sich Lexer, ein Stück aus
einer Saphena, zu resezieren und dasselbe in die Axillaris zu
transplantieren. Es Avurde dann zunächst das zentrale Ende tier
Axillaris mit dem Saphenastück zirkulär Amreinigt, darauf die
provisorisch angelegte Subklaviaunterbindung momentan gelöst
und festgestellt, daß der Blutstrom durch die eingenähte Saphena
passierte. Darauf Avurde die temporäre Subklavialigalur wieder
geschlossen und das peripherische Ende des transplantierten
Saphenastücks mit dem distalen Ende der Axillaris vereinigt,
dann die AVunde geschlossen. Pat. starb im Delirium drei Hige
nach der Operation. Die Zirkulation in der Extremität blieb
gut bis kurz vor dem Tode. Kurz vor der Katastroi)ihe trat eine
forlscbreitende Blaufärbung der Hand ein. Bei der Sektion fand
sich in dem transplantierten Saphenastück und an der Ueber-
gangsstolle zur Arteria axillaris nichts von Tliromben; Avold al)er
hatte sich an der Stelle, wo die provisorische Sul)klavialigalur
gelegen hatte, trotz aller angeAvandten Vorsicht ein kleiner, Avaud-
ständiger Throndnis entAvickelt.
Becker-Koblenz: Traumatisches Aneurysma ar-
terio-venosuni der Carotis cerebralis und Exoph¬
thalmus pul Sans.
Becker stellt einen Patienten mit Exophthalmus pulsans
des linken iAuges vor. Derselbe Avar durch ein GewebrfragmenI
verursacht, Avelches bei einer Explosion einem Soldaten in das
Schädelinnere gedrungen Avar. Das Böutgenbild ei’gal), daßi dei'
Fremdkörper in der Nähe der Sella turcica gelegen wai'. Kom¬
pressionsversuche zeigten, daß bei Druck auf die linke Karotis
die Pulsation des lirdvon Auges Avesentlich geringer Avurdix Nach
einem vergel)lichen Versuch, durch fortgesetzte Konijiression der
lijiken Karotis das Leiden zu heben, wurde die linke Karotis
unterbunden. Zunächst verscliAvanden alle Symptome. Nach
einiger Zeit jedoch trat ein Rezidiv ein. Jetzt Avurde, Avie ein
Versuch ergab, der Blutzufluß zu dem Aneurysma arteido - venosum
ZAvischen Karotis und Jugularis durch die rechte Karotis vermittc'il.
Da die Unterbindung durch die rechte Karotis uicbt angängig war,
Avurde die Kompressionsbebandfung eingeleitet u. zav, wurde ein¬
mal die Karotis komprimiert, dann aber Avurde auch auf cbm
Exophthalmus direkt eingewirkt. In ein zylindrisches Rohr, das
durch eine Membran verschlossen Avar, dessen ver.scblossenes
Ende den Konturen des erkrankten Auges angepaßt Avar, Avurde
so Adel Quecksilber ge.gossen, daß der leichter dem Auge zu¬
sagende Druck auf dasselbe ausgeübt Averden konnte. Durch diese
Behandlung wurde eine sehr Avesenlliche Besserung: erziedt. kdiie
Pulsation Avar nicht mehr nacliAveisbar und die Protrusio bulbi
fast ganz geschAvunden. Subjektive Klagen bestanden nicht mebr.
Kü t tne r- Marburg : Beitrag zur M i 1 z c li i r u r gi e.
Küttner bc'iicbtet zunächst über zwei Fälle von seepu*-
strierendem Milzabszeß*, welcher dadureb charakterisiert ist, daß
die eitrige Entzündung der Milz zur Sequestrierung größerer Milz¬
stücke führt. Er hat von die.ser seltenen Krankheit ZAAmi fälle
beobachtet. In dem einen Falle Avar der Abszeßi in die Pleura
durchgebrochen und als Empyem operiert. Mit dem Eiter entleerten
sich größere GeAvebsstücke, die auch mikroskopisch niebt idc'uli-
fiziert AAmrden konuten. Erst bei der Sektion stellte sich heraus,
daß es sich um einen Milzabszeß handelte. Im zAAmiten f.ille
gelang: die Diagnose bereits Avährend des Lebens, der fall wurde
geheilt.
486
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 16
iJic Acliologic der dissezicreudeii ]V]ilzal)Szesise ist keine eiii-
heiüiehc. Ein Teil dereelben dankt seine Entslelmng einem Trauma,
eine xViizald ist bei septischen Erkrankungen beobachtet worden,
weitere Fälle sind im Verlaufe eines Typhus, andere bei Malaria
zur Beobachtung gelangt. Bei einer letzten Gruppe von Ab¬
szessen konnte ein ätiologisches Moment nicht festgestellt werden.
Bei allen diesen Arten nimmt die Abszeßbildung ihren iVusgang
von einem Infarkt der Milz; und es gelang auch, experimentell
einen solchen Milzinfarkt hervorzurufen.
Das Vorhandensein von großen Gewebsstücken im Eiter
eines subphrenischen, linksseitigen Abszesses hält Küttner für
pathognomonisch für Älilzabszeß auch dann, wenn die Gewebs-
stücke nicht als Milz verifiziert wei'den können.
Im Anschluß an diese Erörterungen stellt er noch zwei
Fälle vor. In dem einen Falle handelt es sich um eine Zertrümme-
nmg der Milz durch eine Schußiverletzung, die durch Operation
geheilt Avurde. Bei der zweiten Palientin bestand Leukämie und
zugleich ein sehr erheblicher Tumor bei gleichzeitig vorhandener
Wandermilz. Wegen der sehr großen Beschwerden, welche die
Milzgeschwrdst verursachte, entschloß sich Küttner zur Milz¬
exstirpation, welche von der 'Kranken gut vertragen wurde. Die
Patientin, Avelche niemals eine hämorrhagische Diathese vor der
Operation gezeigt hatte, blutete auch Avährend und nach der
Operation nicht stärker als normal. Die Kranke ist wieder arbeits¬
fähig geworden, auf die Leukämie hat die Milzexstirpation keinen
Einfluß gebäht.
Borchardt-Posen erwähnt zunächst einen Fall, bei dem
ebenfalls eine mit fast vollkommener Zerlinmmerung des Organs
und sehr schwerer intraabdomineller Blutung durch die Laparo¬
tomie und die Alilzexstirpation Heilung erzielt wurde. Dann be¬
spricht er einen Fall von Hernia duodeno - jejunalis mit Meckel-
schem Divertikel. Der Patient kam vier Tage nach Beginn der
Ileuserscheinungen in Behandlung. Bei ider Operation fand sich
eine Hernia duodeno - jejunalis. Der Verlauf war zunächst gut.
Nach vier Wochen von neuem stürmische Ileuserscheinungen,
wegen deren noch einmal laparotomiert wurde; Avenige Stunden
später starb der Patient.
Bei der Sektion zeigte sich, daß ein.Meckelsches Divertikel
die Abschnürung eines Darmstückes an der Pforte der Fossa
duodeno- jejunalis besorgt hatte.
(Fortsetzung folgt.)
Medizinischer Verein in Greifswald.
Sitzung vom 2. M ä r z 1907.
Vorsitzender: Dr. Bleib treu.
Schrififührer : Dr. Jung.
A. Martin zeigt: 1. Eine Patientin, bei welcher vor IVa
Jahren der Uterus Avegen Carcinoma abdominal, ent¬
fernt Avar; damals keine vergrößerten Lymphdrüsen zu koji-
statieren. Jetzt AAmgen starker Schmerzen Avieder Laparotomie
bei der sonst blühenden Frau. Adhäsionen Avurden gelöst, außer¬
dem aber auf beiden Seiten der Lendenwirbelsäule große Drüsen¬
pakete gefunden, Avelche entfernt Avurden; es ließ sich das Kar¬
zinom in ihnen nicht nachweisen.
A. Martin bespricht im Anschluß an diesen Fall die
Häufigkeit der Drüseninfiltration bei Uteruskarzinom und die Ge¬
setze der Entfernung derselben.
2. Eine Patientin, Avelche mit totalem Defekt der Scheide
kam. Auch Uterus und ÜAmrien fehlen. Pat. aaüII heiraten und
Avurde deshalb eine künstliche Scheide durch Spaltung des Septum
rectovaginale und Einnähung je eines Hautlappens von der inneren
Oberschenkelfläche gebildet. Eine dabei entstandene Blasen¬
scheidenfistel Avurde in einer ZAveiten Sitzang vernäht und ge¬
heilt. Pat. kann jetzt ein ZAvei Finger dickes Badespeknlum in
den gebildeten Raum einführen.
GraAvitz zeigt Präparate Amn Ader seltenen teratoiden
Tumoren und kommt bezüglich der Frage ilirer Entstehung zu
dem Schlüsse, daß Aveder die Theorie Amn W i 1 m s, noch
die Blastomerentheorie von March and -Bonnet, noch die
Annahme einer bigerminalen Inklusion zum Teil durch
tatsächliche Befunde als zutreffend sichergestellt Averden kann.
Meist lassen sich alle drei Begründungen anführen, ohne daß
eine bestimmte Entscheidung möglich ist.
Von den Ader dieser beschriebenen Tumoren ist besonders
der dritte von Wichtigkeit, Aveil bei ihm sich maligne Rletastasen,
nicht von karzinomatösem oder sarkomatösem, sondern drei-
hlätterig terratoiden Bau fanden.
Diskussion: Bonnet legt seinen Standpunkt in der
Frage der Aetiologie der Embryome dar. Pathogenetische Enit-
stehung (Wilms) und GeAv^ebsversprengung vom Wolff sehen
Gange (Band 1er) AAurden unter eingehender Begründung ab¬
gelehnt und nochmals die Blastomerentheorie erörtert, aber mit
aller Reserve und unter Anerkennung auch anderer Möglichkeiten,
z. B. fötaler Inklusion, deren Entscheidung der Pathologie über¬
lassen bleiben muß.
GraAAÜtz kann einen Widerspruch dieser Ausführungen
Bonnets gegenüber den seinen nicht finden. Er hat das Haupt-
geAA'icht auf die mitgeteilten Tatsachen gelegt und betont, daß
eine bestimmte Entscheidung für eine oder die andere Hypothese
schlechterdings zurzeit nicht gegeben Averden könne.
Jung dem onstriert ein sehr junges me n Schliches E i .
lebensfähig eingelegt, Größe 2-6: 2-2:1 mm; hat erhaltene Fötal¬
anlage mit Keimscheihe, geschlossenem Amnion, Dottersack und
Haftstiel, aber noch ohne Spur A^on Gefäßentwicklung, die auch
in den Zotten natürlich noch fehlt. Es AAmrden an dem Objekt
eine Umlagerungszone, der Einbruch des fötalen Gewebes in
materne Gefäße und das Auf fressen maternen GeAvebes durch
fötale Elemente gezeigt. (Erscheint ausführlich.)
E. Hoffmann zeigt einen tadellos erhaltenen Schädel eines
Orang-Utan. Vergleich mit dem menschlichen Schädel, avo-
hei vor allem die Kleinheit der Hirnkapsel und die außerordent¬
lich starke EntAAÜcklung der Kiefer und Zähne auffällt. Es be¬
steht starke Asymmetrie des Schädels, dessen linke Hälfte stärker
entAvickelt ist und das Gesicht nach rechts Avendet.
Hoennicke zeigt im Anschluß an seine Demonstration ex¬
perimentell erzeugter Mißbildungen und an seinen Vortrag über
Rachitis (Sitzungen vom 12. Januar 1907 und 2. Februar 1907)
folgende positive Befunde :
1. Zweimal doppelseitiges I r i s k o 1 o b o m ; 2. abgesprengten
Nehennierenkeim ; 3. linksseitiges Koloboma der linken Niere.
Hoennicke zeigt ferner eine experimentell erzeugte.
Struma. Nach halbseitiger Resektion der Schilddrüse in früher
Jugend können drei Möglichkeiten eintreten: 1. Bestehenbleiben des
jetzigen Zustandes, 2. Reslitutio ad integrum, 3. Ueberregeneration.
Hoennicke zeigt ein Präparat, avo eine Vergrößerung des restie-
renden Lappens nicht eingetreten ist, und eines, in dem der¬
selbe deutlich vergrößert ist. Letzteres Tier starb elf Monate
post operationem, hatte sich bis dahin kräftig entAvickelt, kein
Thyreoidismus. Es besteht aber funktionell Restitutio ^ad integrum,
moi’phologisch unzAveifelhaft eine Ueberregeneration, Struma paren-
chymatosa des restierenden Lappens.
Programm
der am
Freitag den 19. April 1907, 7 Flir abends^
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Prof. a'. Ebner stattfindenden
0
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Hofrat V. Eiseisberg: Demonstration.
Dr. Y. Frisch: Ein seltener Fall von Skoliose.
Einen Vortrag hat angemeldet Herr Primarius Dozent Dr. Latzho.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Neiisser Donnerstag
den 18. April 1907, nin 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz: Hofrat Professor y. Nensser.
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Dr. Karl Gläßner: Ueber die Funktion der normalen und
pathologischen Leber.
3. Doz. Dr. Al. Strasser und Dr. Blumenkranz: Zur physiolo¬
gischen Therapie der Nephritis. Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 22. April 1907, 7 Uhr abends, im Silzungs-
saale des Kollegiums, I., Rolenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Primarius Dozent Dr. Lotheisen stattfindenden
wissenschaftlichen Versammlung.
Prof. Dr. J. Englisch: Erkrankungen der Harnorgane bei Typhus.
Wiener Dermatologische Gesellschaft.
Einladung zu der am 24. April 1907 (Mittwoch) um V26 Uhr abends
im Hörsaale der Klinik Biehl stattfindenden Sitzung.
Tagesordnung:
Demonstrationen von Kranken.
Brandweiner. Finger.
Vcrantwortlichtr BidakUur: Adalbert Karl Trapp. Verlag von Wilhelm Branmiiller in Wien.
Drnok von Brnno Bartelt, Wien, XVIII., ThoresiencaBee 8.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v, Noorden, H. Obersteiner, R. Faltauf,
Adam Politzer, G. Riehl, Arthur Schattenfroh, F. Schauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. Y. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Eedigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
Verlagshandlung :
Telephon Nr. 17 .618.
Redaktion :
Telephon Nr. 16.282.
XX. Jahrgang.
Wien, 25. April 1907.
Nr. 17.
INH
1. Originalartikel: 1. Beiträge zur Lehre von der Tetanie. I. Die
mechanische üebererregbarkeit der motorischen Nerven bei
Tetanie und ihre Beziehung zu den Epithelkörpern. Von Pro¬
fessor Dr. F. Chvostek.
2. Klinische Beobachtungen über den Wiener Abdominaltyphus.
Von Prof. Hermann Schlesinger.
3. Aus der k. k. Universitäts-Kinderklinik in Wien. (Vorstand;
Professor Escherich.) Vorschlag einer klinischen Prüfung der
Fettresorption. Vorläufige Mitteilung von Dr. Adolf F. Hecht.
4. Gutachten der Wiener medizinischen Fakultät. Referent: Pro¬
fessor Wagner v. Jauregg.
II. Referate: Das System der Skiaskopie und Ophthalmoskopie
vom Standpunkt der physischen, physiologischen und geometri-
Beiträge zur Lehre von der Tetanie.
I. Die mechanische Üebererregbarkeit der motorischen Nerven
bei Tetanie und ihre Beziehung zu den Epithelkörpern.
Von Prof. Dr. F. Chvostek.
Das Aktiiellwerdeii der Frage der hysterischen Pseudo-
tetanie und die Versuche, ihre Abgrenzung auf Grund der
Wertigkeit der einzelnen Tetaniesymptome durchzuführen,
sowie der Umstand, daß ich in letzter Zeit wieder mehrere
Fälle von Tetanie zu sehen Gelegenheit hatte, boten geeig¬
neten Anlaß, einzelnen strittigen Fragen neuerdings näher
zu treten, ln einer früheren Mitteilung^) wurde zu zeigen ver¬
sucht, daß die bisher übliche Einteilung der Tetanie in ver¬
schiedene Formen: die idiopathische Tetanie die sympto¬
matischen Formen, wie sie nach Exstirpation von Kröpfen, bei
Magen-Darmaffektionen, bei verschiedenen Infektionen und
Intoxikationen, hei Schwangeren, bei anderen Nervenkrank¬
heiten usw. beobachtet wurden, nicht zu Recht besteht und
daß die Tetanie als eine einheitliche typische Erkrankung,
der eine Funktionsstörung der Glandulae paraüiyreoideae
zugrunde liegt, aufgefaßt werden müsse. Zweck der folgen¬
den Mitteilungen soll es nun sein, neue Argumente, welche
diese prinzipiell wichtige Auffassung zu stützen geeignet
sind, anzuführen und anderseits von diesem geänderten Ge¬
sichtspunkte aus Stellung zu nehmen zu einzelnen bisher
noch offenen Streitfragen.
Als eine solche muß die nach der Wertigkeit der ein¬
zelnen Kardinalsymptome der Tetanie für die Diagnose dieser
Erkrankung angesehen werden. Denn trotz der zalilreichen
sich mit diesem Gegenstand befassenden Mitteilungen kann
ALT:
sehen Optik. Von Dr. Hugo Wolff. Die Chirurgie des Auges
und seiner Adnexe. Von Dr. Felix Terrien. Mitteilungen aus
der Augenklinik des Karolinischen medico-chirurgischen
Institutes zu Stockholm. Von Prof. J. Widmark. Ueber Augen¬
erkrankungen sexuellen TTrspriings bei Frauen. Von Dr. Emil
Berger und Dr. Robert Loewy. Ref.; Salzmann.
III. Ans vergekiedeueu Zeitschrifteu.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßherichte.
die definitive Entscheidung noch nicht als erbracht ange¬
sehen werden. Und wenn von der Mehrzahl der Autoren
heute der Standpunkt vertreten wird, daß die elektrische
Üebererregbarkeit der Nerven an diagnostischem Werte
gegenüber den übrigen Symptomen, namentlich der mechani¬
schen Üebererregbarkeit der Nerven in einem solchen Maße
prävaliert, daß trotz Fazialis- und Trousseanschem, Phä¬
nomen die Diagnose einer Tetanie nicht gestellt werden
kann und einzig und allein nur die An- und Abwesenheit
des Erb sehen Phänomens für die Diagnose ausschlaggebend
sein soll, so ist dies unserer Auffassung nach ein durchaus
einseitiger und nicht recht begründeter Standpunkt.
Durch den Nachweis, daß jedes der drei Kardinalsym¬
ptome der Tetanie auch bei anderweitigen krankhaften Zu¬
ständen, wie ja a priori anznnehmen war, angetroffen
werden kann, verloren sie ihre patho-gnoniOnische Be¬
deutung. Es wäre demnach logisch, nur die Kombina¬
tionen dieser Symptome auf ihre Wertigkeit für die Diagnose
zu prüfen und aus der Anwesenheit eines Symptonies
allein keinen Schluß zu ziehen. Aber keinesfalls ist
es folgerichtig, einen Fall, in dem z. B. das Fazialis-
imd Trousseau sehe Phänomen gefunden wird, aus dem
einzigen Grunde, weil das Erbsche Phänomen fehlt, von
dem es erwiesen ist, daß es einerseits bei anderweitigen
Affektionen angetroffen werden, anderseits bei Tetanie
fehlen kann; z. B. der Hysterie zuzuweisen. Wir müßten
denn dem Erb sehen Phänomen eine exzeptionelle Stellung
zusprechen können und dies scheint uns, wenigstens in
dem Maße, als man es in letzter Zeit zuzuerkennen ge¬
neigt ist, durchaus nicht der Fall zu sein.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
Am wenigsten Wert legen die meisten iVutoren dem
Vorhandensein der meciiaiiischen UeJjererregbarkeit der
iXerven lür die Diagnose einer Tetanie i)ei. Als Argumente
lür diese AutTassung gelten die Ueobaelitungen des Dazialis-
phänomens bei einem Tumor des Rückenmarks (Scliultze),
lerner die Bcobaclitung desselben Autors in zwei Fällen
von nicht an Tetanie leidenden Kranken, das Auftreten
in der Hypnose (Charcot), das Vorhandensein bei Pellagra
(iXeusser), bei alten im vollkommen geheilten Fazialis¬
lähmungen (Hitzig) und vor allem die Untersuchuiigsergeb-
nisse von v. Frankl-Tlochwar t und Schlesinger, die
erweisen, daß das Fazialisphänomen auch außierhalb der
Tetanie gar nicht so selten zu finden ist.
V. Frankl-Hochwart^) untersuchte eine große An-
zaid von nicht an Tetanie leidenden Personen und konnte
bei über 30 Menschen mechanische Uebererregbarkeit des
Fazialis- und der übrigen Nerven nachweisen, ohne daß sonst
irgendwelche Frscheinungen der Tetanie zu beobachten ge¬
wesen wären; nur bei vier Fällen konnte er eine gewisse;
entfernte Reziehung zur Tetanie finden. Bei an ander¬
weitigen nervösen Erkrankungen leidenden Personen fand
er das Fazialisphänomen nur in zwei Fallen von Epi¬
lepsie, in einem Falle von Hemikranie und bei zwei
Neurasthenikern. An einem anderen Orte bemerkt er, daß
das Fazialisphänomen bei iiicht an Tetanie Erkrankten un¬
gleich seltener vorkomnit als bei letaniekranken Individuen,
daß es selten ganz gesunde Menschen sind, welche die
mechanische Uebererregbarkeit auiweisen (slcrofulöse Indi¬
viduen, an Tuberkulose Leidende, Kinder mit Darjnkrank-
heiten usw.), daß aber gar kein Zweifel besteht, daß auch
völlig Gesunde, welche weder irgend andere Tctaniesym-
ptome bieten, noch überhaupt andere nervöse Erscheinungen
aufweisen, das Fazialisphänojnen haben. „Auch was den
Grad des Phänomens betrifft, so sieht man es auch bei
nicht au Tetanie Erkrankten in seiner höchsten Entwicklung,
jedoch ist es sehr selten: gewöhnlich sind es die mittleren
und leichteren Grade, die da eine Rolle spielen.“
Schlesinger^) untersuchte 53 vollkommen gesunde,
nicht nervöse Personen und konstatierte bei diesen zweimal
das Fazialis].)hänomen : „einmal deutlich bei einem 25jähri-
gen Kollegen, der mitteilte, daß er bei Bewegungen ungemein
leicht von Krämpfen befallen werde, der aber nicht an
Tetanie litt; ein zweites Mal bei einem 24jährigen Manne
eben angedeutet“. Er schließt daraus, daß selbst die ge¬
ringen Grade des Fazialisphänomens bei Gesunden ver¬
hältnismäßig selten zu finden sind. Bei Kranken dagegen
konnte er es sehr häufig konstatieren: in 480 untersuchten
Fällen fand es sich IGTnial vor (33-5To). Von den positiven
Fällen wurde es in 48-1 To bei Tuberkidose der Lungen, in
23-0 To bei anderweitigen Lungenatfektionen, in 45-5To bei
Chlorose, in G2-9To bei Hysterie und Neurasthenie, in 23-GTo
hei anderen Nervenkrankheiten und in 20-9 To bei Magen-
Darmaffektionen angetroffen. Bezüglich der Intensität des
Phänomens gibt Schlesinger an, daß die höchsten Grade
bei Tetanie, Hysterie, Neurasthenie und der Tuberkulose
angetrolfen wurden, er sah bei diesen Erkrankungen einige
Male so hochgradige Fazialisphänomene, wie man sie nur
bei T'etanie sieht. Im ganzen war es bei den IGl positiven
Fällen 32mal hochgradig (Zucken von Mundwinkel und
Nasenilügel), 82mal deutlich (mit Zucken des Mundwinkels)
und 49mal eben merkbar (nur Muskelkontraktionen im
Lippenrot ohne Zucken des Mundwinkels). Das sind aller¬
dings imponierende Zahlen, die die diagnostische Wertig¬
keit des Symptomes für die Diagnose der Tetanie wesent¬
lich heralisetzen müßten.
Ganz anders allerdings sind die Zahlen, die Hoff¬
mann'^) auf Grund seiner Untersuchungen gibt. Er fand
bei 100 nicht Tetaniekranken nur dreimal eine- leichte Stei¬
gerung der mechanisdien Erregbarkeit des Nervus facialis,
doch reichte die Zuckung, was Raschheit und Stärke be-
Irilfl, lang(' nicht an diejenige hei Tetanie heran.
Füg(' ich dem meine eigenen Erfahrungen an, die ich
im Verlauf der .fahre gewonnen habe, während welcher
Zeit nahezu jeder Kranke, der unter meine Hände kam,
aut das Fazialisphänomen untersucht wurde, so kann ich,
ohne zahlenmäßige Belege für diese Zeit erbringen zu
können, in Kürze folgendes anführen: Eine so hoch¬
gradige mechanische Uebererregbarkeit der Nerven, wie
sie bei der Tetanie gefunden werden kann, indem oft schon
einfaches leichtes Streichen mit der Fingerkuppe über den
Faziaiisstamm äußerst heitige, blitzartige, über das ganze
Fazialisgebiet sich erstreckende Zuckungen auslöst, oder
ein leichtestes Beklopfen- eines Nerven und Streichen der
Haut über demselben zu intensiven Zuckungen führt, mehr¬
maliges stärkeres Kloijfcn auf denselben zu kurzen tonischen
Krämpfen führen kann, habe ich außer au Tetanie leiden¬
den Kranken nie angetroffen. Eine deutliche Uebererreg¬
barkeit, die wir bei Tetanie ungemein häufig beobachten
können, indem vom Faziaiisstamm und von der Stelle unter
dem Processus zygomaticus kurze, blitzartige Zuckungen
im Lippenrot, im Mundwinkel, am Nasenflügel und auch
vielleicht im Stirnnmskel hervorgerufen werden, sind bei
Gesunden oder anderweitigen Kranken zum mindesten sehr
seltene Yorkonnnnisse. Bei der weitaus überwiegenden Zahl
dieser letzteren Fälle konnten, wie später noch angeführt
werden soll, immer Erscheinungen angetroffen werden, die
ihre Zugehörigkeit oder wenigstens engere Verwandtschaft
mit der Tetanie nahelegen mußten. Nur in ganz vereinzelten
Fällen waren solche Beziehungen nicht auffindbar und
blieben uns diese Fälle bis aui die letzte Zeit unverständlich.
Leichte Grade, bei welchen ein Beklopfen unter dem Pro¬
cessus zygomaticus nur ein Verziehen des Mundwinkels
und leichtes Zucken im Lippenrot hervorruft, wie wir es
auf der Höhe der Erkrankung w ohl äußerst selten, häufiger im
Abklingen der Erscheinungen, ferner hei den chronisch rezi¬
divierenden Formen in den intervallären Phasen, als Latenz¬
symptom der Tetanie, beobachten können, kamen bei ander¬
weitigen Erkrankungen relativ häufiger, wenngleich unge¬
mein selten gegenüber der Häufigkeit bei Tetanie, vor.
Leichteste Grade, wo bei Beklopfen dieser Stelle nur eine
geringe Kontraktion im Lippenrot wahrnehmbar ist, habe
ich bei Tetanie, wenn überhaupt, so nur ganz selten im Ab¬
klingen der Erscheinungen gesehen, wohl aber nicht so
selten hei nicht tetaniekranken Personen. Daß das Fazialis¬
phänomen bei Tetanie überhaupt fehlt, ist meiner Erfahrung
nach eine große Seltenheit. Wie ich a. a. 0.^) ausgeführt habe,
zeigt jedes der Kardinalsymptome der Tetanie eine gewisse
Selbständigkeit und können mannigfache Schwankungen in
dem Auftreten und der Intensität derselben vorhanden sein.
Auch in Fällen, bei welchen das Fäzialisphänornen scheinbar
fehlt, gelingt der Nachweis desselben meist bei wiederholten
Untersuchungen im Verlauf der Erkrankung. Nur in äußerst
seltenen Fällen fehlt das Fazialisphänomen auf die Dauer.
Vollständiges Fehlen auch der mechanischen Uebererregbar¬
keit der übrigen Nerven konnte icTi im Verlauf der Er¬
krankung überhaupt nicht beobachten. In den Latenzperio¬
den der rezidivierenden Formen von Tetanie ist das Fazialis¬
phänomen zumeist das einzige Anzeichen, daß die Erkran¬
kung nicht erloschen. Es bleibt oft die ganze intervalläre
Zeit bestehen, während welcher weder das Trousseausche
Phänomen nachweisbar ist, noch die elektrische Unter¬
suchung der Nerven Resultate ergibt, die im Sinne einer
erhöhten Erregbarkeit gedeutet werden können.
Ein Umstand verdient noch der Erwälmung. Im Laufe
der .Jahre konnte ich die Beobachtung machen, daß mit dem
selteneren Auftreten der Tetanie in den letzten Jahren auch
die Fälle, die keine ausgesprochene Tetanie hatten, wohl
aber mechanische Uebererregbarkeit aufwiesen und sonst
Anklänge an die Tetanie zeigten oder nicht, gleichzeitig sel¬
tener wurden, so daß ich in den letzten Jahren, wo ich
nach solchen Fällen suchte, Mühe hatte, einen oder den
anderen aufzutreiben. Erst wdeder in der letzten Zeit,
in welcher ich wdeder mehrere Fälle von Tetanie zu sehen
bekam, konnte ich auch solche Formen wieder häufiger beob¬
achten. Auch V. Frankl -Ho chwart^) konstatiert, daß
er gerade im Frühjalir 188G, wo so viele Tetaniefälle vor-
I
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
489
kamen, so oft das Fazialisphänomen bei iiiohi tetaiiiekraiiken
Individuen gefunden hat, d. b. bei solclien, die nie Krämpfe
gehabt haben, kein Tro u s s e au scJies und Erbsches Phä¬
nomen zeigten und nicht an Paräsihesien litten. Eine solche
Häutung von isoliertem Eazialispliänomen hat er seither
nicht mehr gesehen.
Um zahlenmäßige Belege zu erhalten, habe ich in
letzter Zeit Aufzeiclmungeii über die Häufigkeit der positi¬
ven Befunde des Eazialispliänomens geführt. Voraus geschickt
mag gleich hier werden, daß diese Befunde in eine Periode
talle]i (Februar, März), in der die Zahl der Tetaniefälle
zimimmt und zu welcher Zeit ich wieder einmal meh¬
rere Tetaniefälle in einem kurzen Zeitraum zu beob¬
achten Gelegenheit hatte. Es muß dieses Moment be¬
tont werden, da die Statistik Schlesingers, die in Vergleich
zu ziehen ist, in einem tetaniereichen .fahre, aber zu einer
Zeit aufgestellt wurde, zu welcher in Wien keine Häufung
von Fällen beobachtet wird (heiße Sommermonate).
Bemerkt mußi hier werden, daß bei den Kranken des Arn-
hulatoriums nur auf deutliche Fazialisphänoinene Rücksicht ge-
nonmien und nur diese notiert wurden, während l)ei den Kranken
der Aldeilung auch die leichtesten Grade Berücksichtigung
fanden. In den Zahlen beider Gruppen für deutliches
Phänonien sind hier zunächst alle Fälle mitgezählt, bei
welchen die Diagnose Tetanie nicht sofort gestellt werden konnte.
Wir bemerken aber hier gleich, daßi bei den ambulatorischen
Kranken von den fünf positiven Fällen zwei auszuscheiden sind,
da ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Tetanie, wie später gezeigt
werden soll, sehr wahrscheinlich ist. Von den fünf Fällen mit
Fazialisphänomen 2 und 3 der zweiten Gruppe erwies sich einer
später als Tetanie, ein zweiter Fall als der Tetanie zugehörig.
Auch diese Fälle sind hier zunächst miteinbezogen. Bei Aus¬
schaltung dieser Fälle ändern sich natürlich die Zahlen noch
beträchtlich, wie dann noch angeführt werden soll.
Von den im Laufe der Monate Februar und März im
Ambulatorium der Abteilung untersuchten 667 Kranken
(Gruppe 1) konnte ein deutlich nachweisbares Phänomen
(nach V. F r a n k 1 - H o c h w a r t 2 und 3) in fünf Fällen notiert
werden. Von den an einem Tage untersuchten 173 nicht
an Tetanie leidenden Kranken der internen und chi¬
rurgischen Abteilung des Spitales (Gruppe II) fand
sich ein deutlich nachweisbares Fazialisphänomen in
fünf Fällen u. zw. dreimal in der Intensität nach v. Fr an ki¬
ll och wart 2 (deutliches Heben des Nasenflügels und des
Mundwinkels bei Beklopfen der Stelle unterhalb des Pons
zygomaticus) und zweimal die Intensität 3 (nur leichte
Zuckung am Mundwinkel und im Lippenrot). In 32 Fällen
war das Phänomen gerade angedeutet (Zucken nur im
Lippenrot, ohne deutliches Zucken des Mundwinkels, 1. Grad
nach den Angaben Schlesingers).
Summieren wir sämtliche positiven Befunde (ange¬
deutet und deutlieh) der Gruppe 11, so findet sich nach
diesen Ergebnissen ein Fazialisphänomen in 37 von
173 Fällen, das ist ca. 21-2o/o der untersuchten Fälle.
Eine Differenz in der Häufigkeit bei chirurgisch und intern
Kranken konnte nicht konstatiert werden, indem die posi¬
tiven Fälle bei 97 internen Patienten 20, das ist 20'6o/o,
bei 76 chirurgischen Kranken 17, das ist 22-MTo, betragen.
Eine geringe Differenz ergibt sich in bezug auf die Häufig¬
keit des Vorkommens nach dem Geschlecht, indem von
den untersuchten 96 Frauen 24, das ist 25 To, von 77 unter¬
suchten Männern 13, das ist 16-8 To, positiven Befund er¬
gaben. Von den 37 positiven Fällen haben nur 5, das ist
13-5_To, ein deutliches Phänomen (2 und 3 nach v. Fr an ki¬
ll och wart), während bei 32, das ist 86-5 To, das Fazialis¬
phänomen nur angedeutet ist. Auf die Summe der
untersuchten 173 Personen bezogen, findet sich ein
deutliches Fazialisphänomen in 2-8To der untersuchten
Menschen, ein angedeutetes in 18-4 To.
Halten wir diese unsere gefundenen Zalilen den Be-
lunden Schlesingers gegenüber, so finden wir bemerkens¬
werte Differenzen. Am wenigsten auffallend ist die Diffe¬
renz, wenn wir die Summen der positiven Befunde ohne
Rücksicht auf die Intensität des Phänomens gegenüber¬
stellen. Während Schlesinger in 33-5 To positive Befunde
erheben kann, also zirka jeder dritte Kranke das Fazialis¬
phänomen hat, findet sich in unseren Fällen nur in 2L2To
der Fälle das lazialispbänomen, also bei zirka jedem fünften
Kranken. Das sind verhältnismäßig geringfügige Differenzen.
Anders aber stellt sich die Sache, wenn wir die Intensität
berücksichtigen. Während Schlesinger nur in 30-4 To der
positiven Fälle das Phänomen angedeutet findet, es in 50-9 To,
deutlich und in 19-8 To hochgradig nachweisen kann, also in
über 70 To der positiven Fälle deutliches und hoch¬
gradiges Phänomen, finden wir nur in i3-5To deut¬
liches, dagegen in 86-5 To angedeutetes Phänomen. Auf die
Totalität der untersuchten Personen bezogen, findet Schle¬
singer in 23-7 To hochgradiges und deutliches Fazialis¬
phänomen (6-6 To hochgradig, 17-1 To deutlich) und nur in
10 To angedeutetes, während nach unseren Erhebungen nur.
in 2-8To. ein deutliches Phänomen vorhanden ist. Es würde
demnach zur Zeit der Untersuchungen Schlesingers jeder
zirka vierte Kranke ein deutliches und hochgradiges Fa¬
zialisphänomen auf gewiesen haben, während dies zur Zeit
unserer Erhebungen nur mehr bei jedem ca. 35. Kranken
der Fall ist.
Diese in die Augen springende Differeuz der Häufig¬
keit deutlicher Fazialisphänomene, die um so schwer¬
wiegender ist, als Schlesingers Untersuchungen in einem
tetaniereichen Jahre, aber zu einer Zeit gemacht wurden, wo
wir in Wien eine größere Häufung von Tetaniefällen nicht
sehen, während unsere Beobachtungen in eine relativ
letaniearme Zeit, aber in die Monate Februar und März
lallen, wo die Fälle gewöhnlich häufiger in Beobachtung
gelangen und seit langer Zeit wieder einige Tetaniekranke
in Spitalsbehandlung standen, können auf eine Ver¬
schiedenheit der Untersuchungsmetlioden nicht zurückge¬
führt werden, da in beiden Untersuchungsreihen unter An¬
wendung derselben Methodik und Berücksichtigung aller
Kantelen gearbeitet wurde. Diese Differenz läßt wohl nur
einen Schluß zu: Schwindet konform der Abnahme
von Tetanie fällen auch die Zahl jener Kranken,
die sonst keine Tetanie Symptome bieten und nur
das Fazialisphänomen zeigen, so müssen diese
letzteren Fälle doch mit der Tetanie in irgend¬
welchen Beziehungen stehen. Es müssen somit
jene Momente, die für das Auftreten der Tetanie,
die Zu- und Abnahme der Fälle in Betracht
kommen, auch in jenen Fällen mit im Spiele sein,
die nur die mechanische Ueberregbarkeit der
Nerven aufweisen.
Eine Stütze findet diese Auffassung auch in der Beob¬
achtung von Boral,^) daß das Fazialisphänomen bei nicht
tetaniekranken Kindern in den verschiedenen Monaten
gleichzeitig mit dem gehäuften Auftreten der Tetanie häufiger
wird, um mit Abnahme derselben in den Wintermonaten
wieder zu schwinden. Auch Ganghofner^) konstatiert,
daß die mechanische Uebererregbarkeit der Nerven — ohne
daß sonst Zeichen von Tetanie vorhanden waren — • häufiger
in der Zeit, zu welcher Tetanie gewissermaßen epidemisch
herrscht, im Winter und Frühjahr angetroffen werdeji
kann. In diesem Sinne spricht auch die längere Zeit dauernde
Beobachtung solcher Personen mit Fazialisphänomen ohne
.ausgesprochene Tetaniesymptome. Solche Kranke sind aus
begreiflichen Gründen selten zu finden. Doch konnte ich an
einem Kollegen in den Neunzigerjahren, zu welcher Zeit
die Tetanie bei uns in Wien in einer großen Anzahl von
Fällen endemisch vorhanden war, ein Fäzialisphänomen
konstatieren. Es konnte weder das Trousseau sehe, noch
das Erbsche Phänomen, trotz wiederholter Untersuchung
nachgewiesen werden und nur zeitweilig geringfügige
Parästhesien und vielleicht eine gewisse Neigung zu Waden¬
krämpfen waren vorhanden. Jahre hindurch konnte ich
diese Erscheinungen in wechselnder Intensität beobachten
und erst seit vielleicht fünf Jahren sind dieselben
vollständig geschwunden, während die sonstigen iiervösen
Erscheinungen, die eventuell als Ursachen der Uebererreg¬
barkeit hätten gedeutet werden können, gewiß keine
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
Besserung erfaiireii liabv'ii. Ein wesenlliches Beweis-
iiiomeiit ist eiidlieli in den Beobaclitungen der Klinik
gegeben, die erweisen, dail fließende Uebergäiige von
jenen einfacben Formen mit allein vorhandener mecha¬
nischer Uebererregbarkeit, ohne sonstige Erscheinungen,
zu solchen mit gleichzeitigen Parästhesien, Neigung zu
Krämpfen, dann zu solchen, bei welchen außerdem
noch leichtere ■ elektrische Ansprechbarkei t der Nerven
konstatiert werden kann, bis entllich zu den ausgesprochenen
Fällen von Tetanie, existieren, ln diesem Sinne spricht aucli
die sicher konstatierte Tatsache, daß bei vielen Fällen
von Tetanie, nach dem Schwinden der übrigen Er¬
scheinungen, das Fazialisphänomen als einziges Latenz-
symptom durch Jahre hindurch bestehen kann, Fälle, die
olme Kenntnis des V'orhergegangenen schwer einer Deutung
zugänglich wären.
Es scheint daher die von v. Frankl-Hoch wart
geäußerte Annahme, ,,daßi tatsächlich manchmal das iso¬
lierte Fazialisphänomen mit der Tetanie eine gewisse Be¬
ziehung hat“, nicht ganz den Verhältnissen Rechnung zu
tragen. Die ganz auffallende Differenz in der Häufigkeit
isolierter Fazialisphänomene zu tetaniereichen und tetanie-
armen Zeiten beweist, daß die große Mehrzahl dieser
Fälle mit der Tetanie in irgendwelchen Bezie¬
hungen stehen muß, daß sie denselben Verände¬
rungen ihre Entstehung verdanken, die den aus¬
gesprochenen Fällen von Tetanie zugrunde
liegen. Zugegeben muß werden, daß in einer ganz geringen
Anzahl von Fällen mit isoliertem Fazialisphänomen derartige
Beziehungen zur Tetanie derzeit sich nicht erweisen lassen,
für einen gewissen Bruchteil derselben auch nicht zu er¬
warten sind, indem die mechanische .Uebererregbarkeit der
Nerven, respektive des Faziaiis auf andere ursächliche Mo¬
mente zurückzuführen ist, als dies bei der Tetanie der
Fall ist. I
Jeder motorische Nerv reagiert auf den mechanischen
Reiz mit einer Zuckung der von ilun versorgten Muskeln, das
ist ein physiologischer Vorgang. Die Intensität des Reizes, die
Ansprechbarkeit des Nerven und die Reaktionsfähigkeit des
IMuskels wird für den Effekt maßgebend sein. Für den nicht
freigelegten Nerven kommt nocli die Lagerung in Betracht;
der oberflächlich auf einer knöchernen Unterlage auf¬
liegende Nervus ulnaris wird leichter zu erregen sein als
der Nervus facialis. Eine erhöhte mechanische Erregbarkeit,
für uns erkennbar in dem größeren motorisclien Effekt, kann
daher in verschiedenen Veränderungen ihren Grund haben.
\'eränderungen der Muskelelemente, durch die mannig¬
fachsten Ursachen bedingt, können bewirken, daß auf den
zufließenden Reiz eine stärkere Reaktion erfolgt; auf solchen
Veränderungen beruhen vielleicht zum Teil die häufigen
Fazialisphänomene bei Tuberkulösen, bei Typhösen, in
welchen Fällen gleichzeitig auch eine gesteigerte, idiomus-
kuläre Erregbarkeit nachgewiesen werden kann, vielleicht
die Fälle von Fazialisphänomen bei alten Fazialislähmungen,
mit der Neigung ihrer Muskulatur zum krampfen, wenn
auch, wie Strümpell nachgewiesen hat, hiebei reflek¬
torische IMomente mit im Spiele zu sein scheinen.
Ebenso können leichte neuri tische Veränderungen im
Nerven, die einen gewissen Reizzustand desselben bedingen,
eine leichtere mechanische Erregbarkeit setzen; hieher zu
rechnen sind die Fälle von erhöhter mechanischer Erregbar¬
keit der Nerven l)ei leichten Formen von Neuritis, beileichten
Fazialislähmungen im Beginn der Erkrankung, vielleicht
auch einzelne Fälle von Fazialisphänomen bei vorgeschrit-
tener Tuberkulose. Läsionen, die den pontinen Anteil des
Faziaiis oder seinen Kern itj Mitleidenschaft ziehen, können
zu demselben Effekt führen ; die Beobachtung von Fazialis-
.phäiionien bei Bulbärparalyse (Hitzig) würde in diesem
Sinne^ sprechen. Unterbrechung der supranukleären Bahn
des Nervus facialis ist durch den Wegfall der kortikalen
Hemmung die Ursache des Auftretens des Fazialisphänoinens
bei Hemiplegien auf der gelähmten Seite, wenn hier
nicht vielleicht Aenderungen der Reflexerregbarkeit mit im
Spiele sind. Ebenso werden Reizzustände der verschie¬
densten Ursachen im Kortex zu denselben Effekt führen
können. Die kortikale Schwäche und die dadurch bedingte
Prävalenz der subkortikalen Zentren (Meynert) kann als
die Ursache der mechanischen Ueberregbarkeit des Faziaiis
bei Neurasthenie, Hysterie und in der Hypnose angesehen
werden.
So mannigfach diese verschiedenen Momente sind,
die eine mechanische Uebererregbarkeit des Faziaiis bewirken
können und obwohl in diesen Fällen selten ein Moment allein,
sondern meist mehrere gleichzeitig mit im Spiele sind, so
ist doch ein deutlich ausgesprochenes Fazialisphänomen hier
eine ungemeine Seltenheit. Meist sind es kaum angedeutete
oder eben noch erkennbare Phänomene (Schlesinger I;
nur Zucken im Lippenrot, ohne Zucken des Mundwinkels).
Für diese Gruppe ergibt auch unsere Statistik gegen¬
über der Statistik von Schlesinger keine wesentliche
Differenz, jedenfalls keine so in die Augen springende Ab¬
nahme wie die ausgesprochenen Fazialisphänomene. Auf die
Summe der Untersuchten bezogen, findet Schlesinger
das Fazialisphänomen angedeutet in 10®/o (49 Fälle von
480 Untersuchten) während wir es in 18-4 % (32 Fälle von
173 Untersuchten) finden. Wenn wir berücksichtigen, daß
in den Fällen Schlesingers mit ausgesprochenem Fä-
zialisphänomen sicher auch solche Personen eingeschlossen
sind, die an und für sich aus einer oder der anderen der
früher angeführten Momente, Andeutung von Fazialisphä¬
nomen gehabt haben, das dann aus denselben Ursachen, die
den Tetaniereichtum des Jahres der Untersuchung bedingten,
eine Steigerung erfahren hat, Ursachen, die jetzt in der
tetaniearmen Zeit wegfallen, so wird die Differenz natürlich
eine noch geringere. Berücksichtigen wir dann noch, daß
gewisse Differenzen vielleicht durch die ungleiche Anzahl
der untersuchten Fälle und die Verschiedenheit des unter¬
suchten Materiales bedingt sein können, so resultieren
komparable Zahlen.
Diese verhältnismäßige Konstanz der Zahlen und ihre
Unabhängigkeit von den Schwankungen in der Häufigkeit
der Tetanie, im Gegensatz zu den ausgesprochenen Fazialis-
phänomenen, zeigt uns, daß die Gruppe der angedeuteten
Phänomene in der überwiegenden Mehrzalil der Fälle in
anderweitigen Ursachen begründet sein muß, als solchen,
die der Tetanie zugrunde liegen, daß sie mit der Te¬
tanie nichts zu tun haben. Dieser aus den Zahlen
der Statistik zu ziehende Schluß stimmt vollständig
überein mit den empirisch gefundenen Tatsachen, die
wir eingangs mitgeteilt haben, nach welchen Andeutung
von Fazialisphänomen bei der Tetanie, wenn überhaupt,
nur ganz selten und da meist nur im Abklingen der Erschei¬
nungen, zur Beobachtung gelangt. Es mag ja in dieser
Gruppe vielleicht ein oder der andere hieher gehörige Fall
mit inbegriffen sein, das sind aber gewiß die Ausnahmen,
das Gros der Fälle sind keine Tetanie und stehen zu
der Tetanie in gar keiner Beziehung. Ein Wert für die
Diagnose der Tetanie kommt diesen geringsten Graden von
Fazialisphänomen niclit zu. Diese Annahme , steht auch in
Einklang mit der ersten Beschreibung der mechanischen
Uebererregbarkeit der motorischen Nerven bei Tetanie, wo¬
bei nur deutliche Veränderungen in Betracht gezogen wurden.
Erst durch die späteren Untersucher wurden auch die ge¬
ringsten Grade in den Bereich der Erwägungen gezogen und
dadurch die diagnostische Verwertbarkeit der mechanischen
Uebererregbarkeit in Mißkredit gebracht.
iGanz anders gestalten sich die Dinge für die deutliche
mechanische Uebererregbarkeit, selbst in den geringeren
Graden. Wenn wir hier zunächst die leichteren Grade
(Schlesingers deutliches Phänomen, nach v. Frankl-
H och wart, Chvostek 3, wo bei Beklopfen unter dem
Pons zygoma ticus nur der Mundwinkel und nicht die Nasen¬
flügel mitzucken) in das Auge fassen, so mag vorher betont
werden, daß wenigstens für die Tetanie eine scharfe Son¬
derung von der nächsthöheren Gruppe (mit Zucken auch des
Nasenflügels) nicht gut durchführbar ist, da bei ein und
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
491
demselben Kranken bei ’'vioderliolten Untersucliungen, in
ganz kurzen Intervallen oft sehr große Intensitätsschwan¬
kungen des Fazialisphänomens beobachtet werden können.
Es haben daher die in Statistiken für diese beiden Gruppen
getrennt angegebenen Ziffern nur relativen Wert und ent¬
sprechen die Zahlen beider Gruppen summiert mehr den tat¬
sächlichen Verhältnissen. Wenn wir hier von einer solchen
Zusammenfassung absehen und die Gruppen getrennt be¬
trachten, so geschieht das aus dem Grunde, weil, so weit
unsere Erfahrungen reicheu, ein solches Schwanken in der
Intensität des Phänomens bei anderweitigen Erkrankungen,
wie bei Tetanie nicht beobachtet werden kann und weil die
getrennte Betrachtung zeigt, daß je intensiver das Fazialis-
phänomen wird, es desto seltener bei anderweitigen Erkran¬
kungen zu finden ist. Sch legi nger findet die leich¬
teren Grade dieser beiden Gruppen in 50-9 ®/o der positiven
und in 17T®/o der untersuchten Fälle, die nächsthöheren
Grade nur mehr in 19-8 o/o, respektive 6-6 o/o. Wenn wir
auch anzunehmen gezwungen waren, daß in Schlesingers
Resultate die Tetanie mit hineinspielt und dieselben daher
zu Schlüssen nach dieser Richtung hin nicht gut geeignet
sind, so stehen sie doch in Einklang mit unseren Ergeb¬
nissen und sind insofern verwertbar. Wir fanden von 173
untersuchten Kranken der Abteilung nur zwei Fälle (ein
Mann mit Tuberkulose der Lungen und eine Frau nach
Abortus) mit Fazialisphänomen leichteren Grades (3) und
drei mit Phänomen der größeren Intensität (2) (eine Frau
mit Haemorrhagia spinalis, ein Mann mit Miliartuber¬
kulose, ein Mann mit Hämorrhoiden). Bei genauerer Unter-
suchimg erwiesen sich aber zwei dieser letzteren Fälle als
wahrscheinlich zur Tetanie gehörig, jedenfalls aber zu dieser
in nahen Beziehungen stehend. Bei dem einen Falle, einem
Manne von 35 Jahren, bestehen • seit einigen Monaten
häufig Parästhesien in den Händen, eine Neigung zum
Einschlafen derselben und öfter Krämpfe in den Beinen.
Trousseau negativ. Die elektrische Untersuchung konnte
in dem Falle leider nicht gemacht werden, da der Patient
entlassen werden müßte. Bei der Frau, bei welcher
eine Blutung in das Rückenmark angenommen werden
mußte, fand sich neben dem ausgesprochenen Fazialis¬
phänomen eine gesteigerte elektrische Erregbarkeit, jedoch
nie Krämpfe, kein Trousseau. Von diesen Fällen müssen wir
füglich absehen. Es bleiben also von unseren 173 Spitals¬
patienten nur mehr drei Fälle mit positivem Phänomen
(2 und 3), für die wir keine Beziehungen zur Tetanie auf¬
finden können. Von unseren 667 ambulatorischen Patienten
müssen wir ebenfalls zwei Fälle ausscheiden, so daß drei
Fälle verbleiben. In einem Falle, mit Insuffizienz der Aorta,
findet sich ebenfalls Neigung zu Krämpfen bei negativem
Trousseau, während in dem zweiten Falle, mit Pleuritisl
obsoleta, häufige. Krampferscheinungen in Händen und
Füßen auftreten. Summieren wir, so finden wir bei unseren
840 untersuchten Kranken nur in sechs Fällen ein
positives Fazialisphänomen (2 und 3), bei welchen
irgendwelche Anklänge an die Tetanie fehlen. Davon
notierten wir zweimal Phänomen 2, viermaUd?hänonien 3.
In Zahlen ausgedrückt, findet sich 2 und 3 in 0-5 ^/o der
untersuchten Fälle, d. h. jeder 200. Kranke bietet ein Fazia¬
lisphänomen leichteren Grades, wovon ca. 0-4 ^/o auf 3
und 0-2°/o auf 2 entfallen, d. h. jeder 250. Kranke hat ein
Phänomen leichten Grades, jeder 500. Kranke erst ein Phä¬
nomen mittleren Grades, ohne daß sich Erscheinungen von
Tetanie in irgendeiner Form bei ihm nachweisen lassen.
Spricht sdion, wie wir früher angeführt haben, die
Differenz in der Häufigkeit dieser Fälle in den Unter¬
suchungsergebnissen Schlesingers und unserer zugunsten
der Auffassung, daß die überwiegende Mehrzahl dieser Fälle
Tetanien sind, oder wenigstens der Gruppe dieser Störungen
zugehörig sein müssen, so liegt in der extremen Seltenheit
ausgesprochenerer Fazialisphänomene bei anderweitigen Er¬
krankungen gegenüber der Konstanz dieses Phänomens bei
Tetanie ein Beweismoment für die diagnostische Bedeutung
der mechanisclien Uebererregbarkeit selbst dieser Grade für
die Tetanie. Ein weiteres Beweismoment finden wir in einer
Untersuchungsreihe v. Frankl -Hoch war ts,^) die dieser
aus anderen Gesichtspunkten angestellt hat. Um sich ein
Urteil über die Prognose der Tetanie zu bilden, hat v. Frankl-
Hoch wart seine sämtlicheji Fälle nach Jahren einer neuer¬
lichen Untersuchung unterzogen, ln seiner I. Gruppe der
Fälle, in denen die Tetanie chronisch oder sehr häufig
rezidivierend geworden war, bleibt das Fazialisphänomen
persistent. In allen sieben untersuchten Fällen konnte es
konstatiert werden. In der H. Gruppe, bei welcher die
Krämpfe erloschen waren, aber Parästhesien oder krampf¬
artige Gefühle und Begleiterscheinungen, die der Trias an¬
gehören, bestehen blieben, fand sich das Fazialisphänomen
zur Zeit der ersten Untersuchung im akuten Stadium der
typischen Tetanie in allen 19 untersuchten Fällen bei der
Nachprüfung, wo sich nur die früher angeführten Erschei¬
nungen fanden, ist das Fazialisphänomen nur fünfmal
negativ. In der HI. Gnippe von Fällen, in der Krämpfe und
verwandte Zustände nicht mehr zu konstatieren waren, bei
welchen sich aber ein gewisses Siechtum vorfand, von dem
er annimmt, daß es möglicherweise mit der Tetanie im
Zusammenhang steht, findet sich in sechs untersuchten
Fällen, zur Zeit der ersten Untersuchung mit ausgespro¬
chenen Tetanieerscheinungen das Fazialisphänomen in allen
Fällen, bei der Revision nur mehr in zwei Fällen. Und end¬
lich bei der letzten Gruppe, welche die Fälle umfaßt,
die als geheilt befunden werden konnten, findet
sich in fünf untersuchten Fällen das Fäzialisphäno-
men, das früher in allen positiv war, nur mehr in
einem Falle. Die Bedeutung der mechanischen Uebererreg¬
barkeit gegenüber den übrigen Symptomen, worüber noch
ausführlich an anderem Orte gesprochen werden soll, tritt
ebenfalls klar aus diesen Aufzeichnungen v. F rankl -Hoch¬
war ts hervor. Wir haben eingangs schon hervorgehoben,
daß das Fazialisphänomen in vielen Fällen von latenter
Tetanie oft als einziger Indikator des Bestehenbleibens der
krankhaften Veränderungen angetroffen wird. Ueberein-
stimmend damit findet sich in v. Frankl -Ho ch warts
I. Gruppe mit chronischer Tetanie (sieben Fälle), bei sieben
positiven Fazialisphänomenen bereits dreimal fehlendes
Erbsches Phänomen, zweimal angedeutetes und nur zwei¬
mal deutliches Phänomen, dreimal negativer Trousseau. In
der H. Gruppe mit 19 Fällen findet sich bei der Revision
gegenüber 14 positiven Fazialisphänomenen nur achtmal er¬
höhte elektrische Erregbarkeit und da sechsmal angedeutet,
einmal kaum angedeutet und nur einmal deutlich, während
das Trousseau sehe Phänomen überhaupt nur einmal nach¬
gewiesen wurde.
Nach dem bisher Angeführten können wir
der in den letzten Jahren immer deutlicher zu¬
tage tretenden Auffassung, daß dem' isolierten
Fazialisphänomen für die Diagnose der Tetanie
keine Bedeutung zukomme, seihst für die leich¬
teren und mittleren Grade nicht bei pflichten. Die
Konstanz dieses Symptomes bei Tetanie, die große Selten¬
heit desselben bei nicht Tetaniekraiikeii, spricht in posi¬
tiven Fällen mit größter Wahrscheinlichkeit für die
Anwesenheit einer Tetanie, deren Diagnose auch zu¬
meist dann durch die Anamnesen oder die übrigen Sym¬
ptome sichergestellt werden kann. Je intensiver das Phä¬
nomen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß im ge¬
gebenen Falle Tetanie vorliegl. Ausgesprochene Grade von
Fazialisphänomen (nach v. F rankl- Ho c h w art I und l)
konnten wir in unseren Fällen überhaupt nicht nach¬
weisen und muß ihr Vorkommen bei nicht an Tetanie
leidenden Kranken oder angeblich gesunden Menschen jeden¬
falls als eine extreme Seltenheit angesehen werden. Für
die intensivsten Formen (l) kann wohl aus den Phänomen
allein schon die Diagnose gestellt werden; sie sind unseren
Erfahrungen nach für die Tetanie beweisend.
Es erübrigt uns noch, jene Fälle ins Auge zu fassen,
in denen wir leichtere und mittlere Grade des Fazialisphä-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
nomens konstatieren können, ohne daß wir irgendwelche
Beziehungen zur Tetanie aufzufinden in der Lage sind und
die sich bislier unserer Erkenntnis entziehen. In einem
oder dem anderen dieser Fälle mögen ja vielleicht Momente,
wie wir sie früher in Veränderungen des Nervensystems
der verschiedensten Art angeführt hahen, mit im Spiele
sein, für die übenviegende Mehrzahl dieser Fälle trifft aber
diese Annahme gewiß nicht zu. Die Deutung dieser Fälle
wird uns aber wesentlich erleichtert, wenn wir von der
Tatsache ausgehen, daß im Tierexperinient durch Exstir¬
pation der Epithelkörper dieselben Erscheinungen, die wir
bei der Tetanie des Menschen beobacliten, auftreten und
daß eine Reihe gewichtiger Tatsachen dafür spricht, auch _
die Tetanie des Menschen auf eine Insuffizienz der Epithel- ’
körper zurückzuführen. Die Konstanz der mechanischen
Uebererregbarkeit der Nerven bei Tetanie muß uns den Ge¬
danken nahelegen, auch für jene unklaren Fälle von Fäzia-
lisphänomen, für welche irgendivelche nervöse Störungen
ursächlich nicht angenommen werden können, nachzusehen,
ob ihnen nicht Störungen in der Funktion der Epithelkörper
zugrunde liegen, oder oh sie wenigstens durch die
Annahme einer solchen eine ungezwungene Erklämng
finden können. Bei der Lagerung der Epithelkörper
zur Schilddrüse und der Möglichkeit der Beeinflussung
ihrer Funktion durch krankhafte Veränderungen oder
operative Eingriffe an letzterer sind uns die Fälle olme
weiteres verständlich, wo bei Strumen (Wölfler^®), Myx¬
ödem (Kraepelin^^), Kretinismus (v. Eiselsberg^^) iso¬
liertes Fazialisphänomen zur Beobachtung gelangte. Ein-
deidig ist auch die Beobachtung von v. Frankl-FIoch-
wart, bei der nach totaler Strumaexsfirpation neben Wachs¬
tumstörungen von Tetaniesymptomen nur das Fazialis¬
phänomen in ausgesprochener Weise vorhanden war.
Wenn wir von der Annahme ausgehen, daß Störungen
in der Funktion der Epithelkörper der mechanischen Ueber¬
erregbarkeit zugrunde liegen, werden uns auch jene
Fälle verständlich, bei welchen Frauen zur Zeit der Gra¬
vidität, der Menstruafion, Frauen mit Genitalaffektionen,
Mädchen mit Chlorose das Fazialisphänomen zeigen. Es
wäre natürlich naheliegend, in diesen Fällen nervöse Störun¬
gen, die ja audi bei diesen Veränderungen so häufig an¬
getroffen werden, für die mechanische Uebererregbarkeit
der Nerven verantwortlich machen. Daß solche vielleicht
irgendwie mit im Spiele sein können, wollen wir nicht in Ab¬
rede stellen. Aber schon die Inkongruenz der Erscheinungen :
oft hochgradige nervöse Erscheinungen mit dem Fazialisphä¬
nomen, anderseits ausgesprochene Uebererregbarkeit der
Nerven ohne irgendwelche nachweisbare nervöse Erschei¬
nungen, muß a priori gegen die Verallgemeinerung einer
solchen Annahme sprechen. Nun ist es erwiesen, daß die
Genitaldrüsen zu den übrigen Blutdrüsen in nahen Bezie¬
hungen stehen und daß bei Veränderungen der Genital¬
drüsen Erscheinungen angetroifen werden, die für eine ana¬
tomische oder funklioneile Störung anderer Blutdrüsen
sprechen. Wir verweisen hier nur auf die Häufig¬
keit des Auftretens von Strumen zur Zeit der Gra¬
vidität, bei Eintritt der Geschlechtsreife und bei dem
Schwinden der Geschlechtsfunktionen, auf das Anschwellen
der Schilddrüse zur Zeit der Menstruation, auf die Häufig¬
keit des Vorkommens von Morbus Basedowii in Abhängig¬
keit von Aenderungen im Bereiche der Geschlechtssidiäre des
Weibes. iViicli bei der Chlorose, für die Störungen in der
Funktion der Geschlechtsdrüsen des Weibes als ursäch¬
liches IMoment für die krankhafte Tätigkeit der blutbereiten¬
den Organe angenommen werden müssen, finden sich nicht
so selten Intumeszenzen der Schilddrüse und worauf wir
an anderer Stelle hingewiesen haben, mehr weniger ausge-
si)rochene Erscheinungen von Morbus Basedowii, die in
direktem Abhängigkeitsverhällnis zur Chlorose stehen. Es
ist also in allen diesen Fällen die Möglichkeit gegeben,
daß Schwellungen der Schilddrüse auf rein mechanischem
Wege oder durcli Aenderungen in der Zirkulation Funktions¬
störungen der Epithelkörperchen hedingen oder daß, wie
bei anderen Blutdrüsen, Störungen der Genitaldrüsen auch
zu Veränderungen in dem Bau und in der Funktion der
Parathyreoidea führen. Wenn letztere Annahme auch bisher
nicht erwiesen ist, so spricht doch die Analogie mit dem
Verhalten von Erkrankungen anderer Blutdrüsen sehr zu¬
gunsten dieser Auffassung. Pineles^'O äußert sich rui-
läßlich der Besprechung der bei Akromegalie vorkommenden
Erscheinungen von Myxödem, Morbus Basedowii etc. : „Es
scheint also zwischen vielen Blutdrüsen ein inniger anato¬
mischer und physiologischer Zusammenhang zu bestehen,
der sich in klinischer Beziehung vor allem darin äußert,
daß bei Erkrankungen einer Blutdrüse klinische Symptome
auftreten, welche auf eine Funktionsstörung einer anderen
Blutdrüse bezogen werden können.“
Auch das Verständnis einer anderen Gruppe von posi¬
tiven Fazialisphänomenen wird uns ermöglicht, wenn wir
auf eine Funktionsstörung der Epithelkörper als ursäch¬
liches Moment rekurrieren : dus Fazialisphänomen bei Tuber¬
kulose. Schlesinger, der auf die Häufigkeit der mecha¬
nischen UebereiTegbarkeit des Nervus facialis bei Tuber¬
kulose aufmerksam macht, kommt zu dem Schlüsse, daß
weder in den nervösen Störungen, noch in der Anämie und
Kachexie und im Fieber die Ursache der Häufigkeit dieser
Erscheinung bei Thberkulose gelegen sein kann, obwohl das
absolut und relativ häufige Vorkommen und das Auftreten
des Phänomens bei Leuten in blühendem Ernährungszustand
und Affektionen der Lungenspitzen ihm zugunsten der Auf¬
fassung spricht, daß eine ätiologische Beziehung zwischen
Tuberkulose und mechanischer UeheFerregbarkeit der Nerven
bestehen muß. Die Tatsache allerdings ist richtig. Auch in
unseren Fällen von positivem Fazialisphänomen bei
nicht Tetaniekranken finden wir in den von 840 Kranken
konstatierten sechs positiven Fällen viermal Tuberkulose.
Der Deutung der Erscheinung aber, die Schlesinger gibt,
können wir nicht ganz* jjeipflichten. Er meint, daß wegen
des Fehlens anderweitiger ätiologischer Momente ,,in man¬
chen Fällen des Fäzialisphänomens bei Tuberkulose anato¬
mische Veränderungen im Nerven oder in der Umgebung
des Nerven zu erwarten wären. Diese Veränderungen des
Nerven wären den bei Tuberkulose ziemlich häufig beob¬
achteten Erkrankungen peripherer Nervenabschnitte gleich¬
zustellen.“ Spricht schon die Seltenheit, mit der wir bei
Erkrankungen des Gesichtsnerven das Fazialisphänomen be¬
obachten, im Gegehsatz zur Häufigkeit des Phänomens bei
Tuberkulose gegen diese Annahme, so sprechen die Beoh-
achtungen, die Schlesinger selbst anführt und die auch
wir bestätigen können, daß das Fazialisphänomen mit dem
Beginn der tuberkulösen Spitzenaffektion einsetzen kann,
strikte gegen eine solche Auffassung. Die Ursache dieser
Erscheinung ist vielmehr, wie wir glauben, in
dem Umstand zu suchen, daß die Prädilektions¬
stelle der tuberkulösen Affektionen der Lunge
eben die Lungenspitzen sind und daß durch diese
Lokalisation des Prozesses die Epithelkörper
ungemein leicht in Mitleidenschaft gezogen
werden können. Wenn die Epithelkörijer auch
nicht durchaus eine konstante Lage haben und
manche Varianten Vorkommen, so ist ihre Lagerung
doch im allgemeinen sO' ziemlich gegeben. Wenn wir
hier den Angaben von Erdheim^^) folgen, so findet sich
normalerweise auf jeder Seite ein oberer und ein unterer
Epithelkörper. Sie liegen im allgemeinen an der hinteren
Fläche der Schilddiiisenseitenlappen, das obere, meist
kleinere, in der Mitte, das untere, meist größere, tiefer gegen
den unteren Pol zu. Das obere Epithelkörperchen kann
aber dem oberen Schilddräsenpol aufsitzen oder sich mehr
dem Unterhorn nähern, das untere kann die Schilddrüse
ganz verlassen und 1 bis 2 cm tiefer herunlerrücken, wobei
es an der Thymusspitze seinen Platz findet. Bei dieser Lage¬
rung der Epithelkörperchen in unmittelbarer Nähe der
Lungenspitze können natürlich Prozesse, die sich in dieser
abspielen, ungemein leicht tlie Epithelkörperchen in Mit¬
leidenschaft ziehen und so wird es uns verständlich, warum
Nr. 17
493
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
gerade bei Tuberkulose der Lungen so häufig ein Fazialis-
pbäiiomeii angetroffen werden kann.
Von Ledeutnng für die Deutung isoliert vorkonimender
Fazialispliänoinene scheint mir eine Beobachtung der Klinik
Höchen eggs, die demnächst veröffentlicht wird und deren
Benützung mir gestattet wurde. Bei einem Falle von Morbus
Basedowii mit ausgesprochenem Fazialisphänomen ohne son¬
stigen Erscheinungen von Tetanie wurden bei der histologi¬
schen Untersuchung des bei der Kropfexstirpation mit¬
genommenen Epithelkörpers in demselben tuberkulöse Ver-
änderimgen nachgewiesen. Sind wir auch der Anschauung,
daß negative histologische Befunde nicht so ohne weiteres
Schlüsse auf die Integrität der Funktion der Epithelkörpcr
zulassen, so zeigen solche positive Befunde, daß manchen
Fällen von isoliertem Fäzialisphänomen tatsächlich Stö¬
rungen in der Funktion der Epithelkörper zugrunde liegen.
Bei darauf gerichteter Untersuchung dürfte sich die Zahl
derartiger positiver Befunde weiterhin vermehren und sich
so die Zahl jener Fälle init deutlicher mechanischer Ueber-
erregbarkeit ohne Zusammenhang mit den Epithelkörpern
noch mehr verringern, als dies jetzt ohnehin schon der
Fall ist. i
Zusammenfassend können wir sagen :
Das Tierexperiment zeigt, daß Entfernung der Epithel¬
körper mechanische Uebererregbarkeit der motorischen
Nerven hedingt. Die Tetanie des Menschen, für die wir
aus mehrfachen Gründen einen Funktionsausfall der
Epithelkörper zu supponicren gezwungen werden, weist
konstant dieselbe mechanische Uebererregbarkeit auf.
Die mechanische Uehererregbarkeit der Nerven, in
erster Linie das Fazialisphänomen, ist das konstan¬
teste und in den meisten Fällen das einzige Symptom
der latenten Tetanie. Die Zugehörigkeit auch jener Fälle
mit nur isoliertem Fazialisphänomen zur Tetanie erweist
die Abnahme der Häufigkeit dieser Fälle gleichzeitig mit der
Abnahme der Tetanie in Wien und das gleichsinnige
Schwanken der Häufigkeit in Monaten, in welchen
Tetanie häufiger oder seltener angetroffen wird. Die Zu¬
gehörigkeit einzelner solcher Fälle zur Tetanie und ihre
Unabhängigkeit von nervösen Störungen zeigt die Inkon¬
gruenz der Intensitätsschwankungen dieses ‘Phänomens mit
den Schwankungen in der Intensität der übrigen nervösen
Erscheinungen. In weitaus den meisten Fällen von deut¬
lichem Fazialisphänomen lassen sicli überdies bei Berück¬
sichtigung der Anamnese usw. Erscheinungen finden, die
ihre Zugehörigkeit oder wenigstens nahe Verwandtschaft
mit der Tetanie dartun. Aber selbst für jene seltenen
Fälle, in welchen ein solcher Zusammenhang nicht zu er¬
kennen ist, ist die Erklärung durch eine Beeinträchtigung
der Funktion der Epithelkörper bei der Art der primären
Affektion, der Lage derselben und in Rücksicht auf die
nahen Beziehungen, in welchen die Blutdrüsen zu¬
einander stehen, am einwandfreiesten und plausibel¬
sten zu geben. Hieher gehören die Fälle von Fa¬
zialisphänomen bei Erkrankungen der ScMlddrüse und
operativen Eingriffen an derselben, die Fälle von
Fazialisphänomen bei Tuberkulose, und diejenigen bei Chlo¬
rose, Genitalaffektionen der Frauen, Menstruation usw.
Endlich sprechen in diesem Sinne die Beobachtungen,
durch welche bei isoliertem r'azialisphänomen direkte Ver¬
änderungen an den Epithelkörpern nachgewiesen werden
können. Wir glauben daher zu der Annahme berechtigt
zu sein, daß die mechanische Uebererregbarkeit
der Nerven, in erster Linie das Fazialisphäno¬
men, ein leicht nachweisbares und gewichtiges
Symptom der Erkrankung der Epithelkörper ist,
ein feines Reagens, das uns eine Funktionsstö¬
rung dieser Organe anzeigt.
Der Wert dieses Phänomens wird gewiß nicht beein¬
trächtigt durch den Umstand, daß vielleicht ein oder das
andere Mal, jedenfalls extrem selten, ein deutliches Fa-
zialisphänonien gefunden werden kann, für das eine andere
Ursache nachzuweisen ist, wenn wir darauf Rücksicht
nehmen, daß kein einzelnes Symptom für irgendeine Affek¬
tion patliognomoniscli ist. Es wird auch nicht beeinträchtigt
durch den Umstand, daß bei einer Anzahl von Fällen durcli
Beklopfen unter dem Processus zygomaticus leichtes Zucken
im Lippenrot horvorgerufen werden kann (Schlesingers
erster Grad des Phänomens), denen Veränderungen am
Nervensystem oder an den Muskeln zugrunde liegen, in
welchen Fällen wir wohl überhaupt kaum von einer patho¬
logischen Erscheinimg, von einer gesteigerten mechanischen
Uebererregbarkeit sprechen können, wenn wir darauf
Rücksicht nehmen, daß nur deutliche Fazialisphänomene
zu irgendwelchen Schlüssen berechtigen.
Nach dem früher Ausgeführten ist es aber auch ein¬
leuchtend, daß wir dem Standpunkt, der von den meisten
Autoren vertreten wird, daß dem Fazialisphänomen allein
keine Bedeutung für die Diagnose der Tetanie zu komme,
daß dieses Symptom gegenüber den übrigen Tetaniesym-
ptomen von minderem Werte sei, durchaus nicht beipflich¬
ten. Die mechanische Uebererregbarkeit der Nerven ist ein
konstantes Symptom der Tetanie, wenigstens ebenso' kon¬
stant wie das Erb sehe und Trousseausche Phänomen;
ich kann mich wenigstens keines Falles entsinnen, bei dem
im Verlaufe der Beobachtung diese Erscheinung vermißt
wurde. Wenn das Fazialisphänomen in extrem seltenen Fällen
vielleicht einmal yermißt wird, so ist doch der eine oder
der andere Nerv übererregbar. Das Fazialisphänomen ist
das konstanteste, sehr häufig oft das einzige Symptom in
den Latenzperioden der Tetanie. Die höchsten Grade
(v. F r a n k 1 - H 0 c h w a r t l) habe ich außer bei Te¬
tanie niemals gesehen und genügt das Phänomen
in dieser Intensität .zur Sicherung der Diagnose.
Auch die nächste Stufe (v. Frankl- Hoch wart l), wenn
man schon trennen will, habe ich außer Tetanie nicht ge¬
sehen. In allen solchen Fällen ist es immer gelungen, ent¬
weder sie als Tetanie zu erkennen oder wenigstens die
Gruppenzugehörigkeit und die enge Venvaiidtschaft minde¬
stens wahrscheinlich zu machen. Wenn solche nicht hieher
gehörige Fälle Vorkommen, so müssen sie wenigstens ex¬
treme Seltenheiten sein. In unseren 840 untersuchten Fällen
anderweitiger Erkrankungen konnte das Phänomen in dieser
Intensität nicht beobachtet werden. Aber selbst den mitt¬
leren und leichten Graden (v. F r an k 1 - H o cli w a r t 2, 3) muß
ein Wert für die Diagnose zugesprochen werden, wenn wir
uns einerseits die Konstanz dos Symptomes bei Tetanie und
die Seltenheit selbst dieser Grade bei anderweitigen Affek¬
tionen vor Augen halten. Wenn eine Person von 250 nicht
Tetaniekranken ein Phänomen 3, und eine Person von
500 Kranken ein Phänomen 2 aufweist, so sind das an und
für sich schon gewiß keine Zahlen, die den Wert dieses
Symptoms ernstlich beeinträchtigen können und die Auf¬
fassung rechtfertigen, daß dem Fazialisphänomen keine Be¬
deutung für die Diagnose zukomme. Um so weniger, wenn
wir bedenken, daß diese Zahlen an einem Orte erhoben
wurden, an dem die Tetanie hnmer noch heimisch ist und
daß dieselben Fälle betreffen, für die wir eine Funktions¬
störung der Epithelkörper als plausibelsten Erklärungsgrund
supponieren konnten.
Literatur.
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Tetanie im Anschluß an Kropfoperation Wien 1890, Weitere Beiträge etc.
Festschrift für Billroth 1892, S. 371. — 'h Chvostek, Wiener klin.
Wochenschr. 1893, Nr. 42, — ’*) Pineies, Volkmanns Sammlung klin.
Vorträge, N. F. Nr. 242. — Erd heim, Mitteilungen aus dem Grenz¬
gebiete d. Med. Nr. 16, S. 632.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
i94
Klinische Beobachtungen über den Wiener
Abdominaltyphus.
Von Prof. Hermann Schlesinger.*)
Eine alte Erfahrung der Aerzte besagt, daß die akuten
Infektionskrankheiten von Zeit zu Zeit ihren Cliarakter
ändern. Es treten andere Symptome in den Vordergrund der
Erscheinungen wie früher, das Krankheitsbild erscheint oft
verwischt und wesentlich von der Norm, »den Schulfällen«,
abweichend. Mit der Aenderung der Symptome geht auch
oft eine Veränderung des Verlaufes einher, die ihrerseits die
Prognose der Erkrankung in eingreifendster Weise beein¬
flussen kann. Dabei zeigen viele Epidemien Eigentümlichkeiten,
die anderen vollkommen abgehen. Die Mortalitätsziffern
weisen häufig überraschende Schwankungen auf.
Daß von diesen mehr minder für alle akuten Infektions¬
krankheiten geltenden Regeln der Typhus keine Ausnahme
macht, ist bekannt und auch öfters hervorgehoben worden.
Der Wiener Abdominaltyphus zeigt nun seit mehreren Jahren
so erhebliche Abweichungen von der Norm, daß mehrere
wichtige Symptome der Affektion eine ganz andere Dignität
aufweisen wie früher, auch das Gesamtbild und der Verlauf
der Krankheit nicht selten geändert sind. Solche Abweichungen
erschweren die Diagnose vielfach; daß namentlich die so
wichtige Frühdiagnose leidet, braucht wohl kaum hervor¬
gehoben zu werden.
Die klinischen Beobachtungen, über welche ich berichten
will, sind in den letzten fünf Jahren von mir an 155 genau
beolDachteten Fällen des Krankenhauses erhoben worden.
Dazu kommt etwa die gleiche Zahl von Beobachtungen aus
meiner Konsultativpraxis, die ich aber nur ausnahmsweise
herangezogen habe, da es sich nicht um dauernd beobachtete
Fälle handelte. Es ist diese Zahl allerdings klein, für Wiener
Verhältnisse aber relativ erheblich, da zum Glücke dieses
Leiden bei uns doch im Vergleiche zu anderen Städten
selten geworden ist. Nach offiziellen Angaben beträgt die
Zahl der gemeldeten Typhuserkrankungen für ganz Wien für
die gleiche Zeitperiode rund 1900 Fälle; allerdings dürfte
diese Ziffer hinter der Zahl der wirklich vorgekommenen
Erkrankungen erheblich zurückstehen.
Es wäre nun vorauszuschicken, daß auch in diesen
fünf Jahren nach unseren Erfahrungen das Krankheitsbild
wechselte, daß aber gewisse Eigentümlichkeiten des Leidens
während dieser ganzen Zeit mehr oder minder deutlich nach¬
weisbar waren.
Wenn wir die wichtigsten Eigentümlichkeiten besprechen,
so muß vor allem der Beginn des Typhus erwähnt werden.
Das jähe und plötzliche Einsetzen der Erkrankung
scheint häufiger geworden zu sein. Inmitten besten Wohl¬
befindens ohne vorausgegangene erhebliche Beschwerden
kündigt sich der Krankheitsbeginn durch heftigen Schüttel¬
frost oder schwere plötzlich einsetzende Allgemeinsymptome
an. Am häufigsten war nach unseren Aufzeichnungen dieses
Verhalten in der kurz währenden Häufung von Fällen im
Sommer und Herbst des Jahres 1904; in 15 von 59 Spitals¬
fällen hatte die Krankheit mit initialem heftigen Schüttel¬
fröste, in fünf anderen jähe, aber ohne Schüttelfrost be¬
gonnen, so daß etwa in dem dritten Teile der Fälle stürmische
Anfangssymptome vorhanden waren. Leichteres Frösteln, das
im Krankheitsbeginne so häufig ist, wurde bei dieser Zu¬
sammenstellung nicht berücksichtigt.
Wie ungewöhnlich ein solches Verhalten ist, geht aus
folgender Bemerkung des erfahrenen Typhuskenners Gur s ch¬
in an n hervor: »daß man da, wo eine fieberhafte Krankheit
mit einem einmaligen heftigen Schüttelfrost beginnt, meist
an alles andere als Unterleibstyphus denkt«. Jedoch ist auch
schon früher in der Literatur von Epidemien berichtet, in
welchen ein ähnlicher plötzlicher Beginn mit Schüttelfrost
häufig vorkam (J ü r g e n s e n).
*) Nach einem am 22. März 1907 in der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien gehaltenen Vortrage.
Erheblich seltener war aber dieser Beginn in den
anderen Jahren (17mal unter 96 Fällen), im abgelaufenen
Jahre nur mehr dreimal unter 20 Fällen. Gesellen sich
diesen Erscheinungen ungewöhnliche Lokalsymptome hinzu,
so können verhängnisvolle Fehldiagnosen resultieren.
Von den Krankheitssymptomen verdient das Verhalten
der für die Diagnose so wichtigen Roseola volle Beachtung.
Vor einigen Jahren war bemerkenswert, daß die Eruption
der Flecke öfters auffallend spät einsetzte. So wurde die
erste Eruption der Roseola erst in der vierten Krankheits¬
woche beobachtet ; mehrmals setzte sie sich noch in die
ersten Tage der Rekonvaleszenz fort. Mehrmals haben wir
während des Fiebers Roseola vollkommen vermißt, aber in
der Rekonvaleszenzperiode eine reichliche Eruption beobachtet.
Wir möchten auf diese verspätetenRoseolaeruptionen
besonderes Gewicht legen ; beinahe regelmäßig trat Rezidiv
ein, wenn Roseola sich erst in den letzten Tagen der vierten
Krankheitswoche, resp. nach eingetretener Entfieberung zeigte.
In nicht weniger als 15 Fällen haben wir eine solche ver¬
spätete Roseola gesehen. Völliges Fehlen der Roseola ist
zwölfmal verzeichnet, jedoch möchte ich darauf weniger Wert¬
legen, da viele Kranke erst in späten Stadien der Leidens
dem Spitale zu wuchsen. Immerhin spricht der mehrmals
festgestellte positive Befund des Gruber-Widal sehen
Agglutinationsphänomens gegen die Hypothese, daß die Ent¬
stehung der Roseola mit dem Agglutinationsphänomen und
einer Embolie agglutinierter Typhusbazillen in die Haut¬
gefäße im Zusammenhang sei.
Zweimal haben wir hämorrhagische Roseola
gesehen, einmal bei einem Typhus haemorrhagicus, der unter
schweren Zerebralerscheinungen (Hirnblutung) zugrunde ging,
einmal aber bei einer Kranken,, die trotz dieses ominösen
Zeichens genas. Die Roseola war auch mehrmals bezüglich
ihres Aussehens und bezüglich der Verteilung atypisch.
So haben wir ungewöhnlich große, papulös-erhabene
Effloreszenzen beobachtet, Flecke an den Händen, einmal
sogar im Gesichte gesehen, während sie sonst, wie bekannt,
Hände und Gesicht verschonen.
Bekanntlich ist eines der wichtigsten Merkmale, das den
Abdominaltyphus von ihm ähnlichen Erkrankungen unter¬
scheidet, das Fehlen eines Herpes labialis und es ist
dieses Verhalten so typisch, daß vorhandener Herpes den
Abdominaltyphus in der Regel ausschließt. Bisher hatten auch
unsere Beobachtungen diesen alten Erfahrungssatz immer
wieder bestätigen können, bis zu unserer großen Ueber-
raschung im abgelaufenen Jahre mehrmals auch Herpes
labialis bei unzweifelhaftem Abdominaltyphus auftrat. Er war
keines der Frühsymptome, erreichte auch nie die imponierende
Ausdehnung, welche man so oft bei den Herpeseruptionen
der epidemischen Zerebrospinalmeningitis sieht, aber er war
vorhanden und zwar in 6 Fällen unter 20. Mischinfektion mit
Influenza scheint nur ausnahmsweise beschuldigt werden zu
können, diese sonst überaus seltene Erscheinung veranlaßt
zu haben.
Schon seit einer längeren Reihe von Jahren ist es mir
aufgefallen, daß die Wiener Abdominaltyphen schwitzen;
es ist dies ein sonst so ungewöhnliches Symptom, daß nach
C urschmann »das Auftreten stärkeren und nachhaltigeren
Schweißes auf der Höhe des Fiebers sehr gegen das Be¬
stehen eines Typhus spricht«. Für den Wiener Typhus der
letzten 10 Jahre besteht dieser Satz nicht zu Recht. Die
Typhösen haben häufig profuse Schweiße sowohl im Beginne
als auch während des ganzen weiteren Krankheitsverlaufes,
ob Komplikationen bestehen oder nicht. In einem Viertel
der Fälle wurde im abgelaufenen Quinquennium dieses
Symptom beobachtet, das in früherer Zeit auch in Wien zu
den seltenen gehörte.
Hauteiterungen, zumeist von kleinen Furunkeln
ausgehend, wurden immer bei Typhusepidemien beobachtet.
In manchen Jahren, so 1904, traten sie sehr gehäuft auf,
trotzdem auf die Hautpflege peinlichst geachtet wurde und
zeigten oft ein wichtiges klinisches Verhalten. Die Eiterung
1 breitet sich in der Tiefe erheblich und rasch aus, ohne sich
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
495
durch Schmerzhaftigkeit, durch Schwellung oder Rötung der
Haut oder durch Oedem zu verraten. Erst nach Spaltung
des Furunkels entdeckt man, daß der Eiterungsprozeß oft
bedeutende Ausdehnung erreicht hat.
Mancher Todesfall dürfte auf solche übersehene Eiterungs¬
prozesse zurückzuführen sein. Wenn wir auch früher einzelne
derartige Fälle gesehen haben, kann ich mich des Eindruckes
nicht erwehren, daß sie trotz sorgfältigster Hautpflege häufiger
und schwerer geworden sind. Wir haben sie in 24 Fällen,
darunter allein 12mal im Jahre 1904 beobachtet.
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, daß bei unseren
Kranken, dank der Hautpflege, Dekubitus nur ausnahms¬
weise und nie in größerer Ausdehnung zur Beobachtung
gelangte. Unter 14 Fällen war mehr als die Hälfte mit Deku¬
bitus eingeliefert worden, bei den anderen nach Darm¬
blutungen entstanden, nach welchen man Umlagern ver¬
meiden mußte. Ich habe keine Kranken durch Dekubitus
verloren ; in der Regel war der Dekubitus vor Beginn der
Rekonvaleszenz ausgeheilt.
Die relative Puls Verlangsamung auf der Höhe
des Fiebers ist von vielen Autoren als geradezu charakteristisch
für Abdominaltyphus angesprochen worden. Hat ja Lieber¬
meister den Versuch gemacht, die Entstehung dieser rela¬
tiven Bradykardie durch Reizwirkung der Typhustoxine auf
die Medulla oblongata zu erklären. Es scheint dieses Symptom
seit einer langen Reihe von Jahren dem Typhus eigen¬
tümlich zu sein ; in früheren Jahren war es wohl seltener,
sonst hätte nicht ein so ausgezeichneter Beobachter wie
Griesinger das nur ausnahmsweise Vorkommen der Brady¬
kardie hervorgehoben. Hohe Pulsfrequenzen bei Typhus
auf der Höhe der Erkrankung gelten im allgemeinen als
signum mali ominis. In den letzten Jahren, namentlich in den
Jahren 1902 und 1904, haben wir aber zu wiederholten Malen
relative Bradykardie auch in günstig verlaufenden Fällen
vermißt. Mehr als ein Drittel unserer Kranken hatte hohe
Pulsfrequenzen, während die Mortalität nur ca. 11 7o) resp.
ca. 17% betrug.
Jedenfalls ist auch bei Wiener Typhen die Prognose
ernst zu stellen, wenn frühzeitig hohe Pulsfrequenzen er¬
reicht werden, jedoch ist nach unseren Erfahrungen häufiger
bei sonst fehlenden Komplikationen ein günstiger Ausgang
zu erwarten, als dies in früheren Jahren der Fall war.
Relativ selten und das nur in den Jahren 1902 und
1904, haben wir echte Bradykardie (nicht relative
Pulsverlangsamung) beobachtet. Es waren Kranheitsfälle, bei
denen während des ganzen Krankheitsverlaufes die Puls¬
zahlen weit unter der Norm blieben, bis auf 70, ja 60 in
der Minute sanken. Arzneiliche Beeinflussung oder erkenn¬
bare Komplikationen, die Pulsverlangsamung herbeiführen
konnten, fehlten. Jedoch möchte ich darauf aufmerksam
machen, daß in diesen Jahren auffallend oft auch andere
akute Erkrankungen mit Pulsverlangsamung verliefen und
würde am ehesten dieses Verhalten mit der Durchseuchung
mit Influenza in Verbindung bringen. Wir haben nämlich,
wie viele andere, öfters bei Influenza Bradykardie beobachtet.
Daß die charakteristischen Diarrhöen in sehr vielen
Fällen nicht zur Ausbildung kommen, ist bekannt und nicht nur
in Wien, sondern in vielen Städten beobachtet worden. Häufig
besteht während der ganzen Krankheitsdauer Verstopfung,
die so erheblich werden kann, daß ihre Behebung nur schwer
erfolgt. Wir haben in mehr als einem Viertel unserer Fälle
dauernde Obstipation vermerkt. Fast das gleiche Zahlen¬
verhältnis wurde für Typhen mit Diarrhöen ermittelt. Bei
den übrigen Fällen wechselten Durchfälle mit Verstopfungen
oder bestanden normal geformte Stühle. Auch zeigten flüssige
Stühle häufig nicht das charakteristische Aussehen der Typhus¬
entleerungen und ließen weder die ausgesprochene Farbe der
Erbsensuppe noch die sonst deutliche Schichtung, noch den
spezifischen Geruch erkennen.
Ein solches Verhalten der Typhusdejekte ist aber in
Wien nicht erst in den letzten Jahren eingetreten, sondern
schon früher beobachtet worden. Die aus diesen Beobach¬
tungen resultierenden diagnostischen Folgerungen haben viele
Wiener Praktiker schon lange gezogen. Sie lauten: Das
Fehlen von Durchfällen oder von charakteri¬
stischen Darmentleerungen, das Bestehen
dauernder Verstopfung oder die regelmäßige
Entleerung geformter Stühle sprechen durch¬
aus nicht gegen die Annahme eines Typhus
abdominalis.
In manchen Jahren überwiegen die Obstipationen, in
anderen die Durchfälle. Im abgelaufenen Jahre fehlten in
unserem Spitalsmaterial Obstipationen fast vollkommen,
während in den Jahren 1904 und 1905 ein Drittel der
Kranken verstopft war.
Noch größere Differenzen finden wir in der Häufigkeit
und der Schwere der Darmblutungen. In manchen
Jahren haben wir Enterorrhagien häufig beobachtet, namentlich
1902 und 1904, in den anderen Jahren viel seltener, im
ganzen in allen fünf Jahren 26mal unter 155 Fällen, also in
rund 17Vo- Aber im Jahre 1902 hatten ein Viertel aller Fälle,
im darauffolgenden Jahre nur 7V27o der Beobachtungen
Enterorrhagien. Weitaus der größte Teil der Kranken mit
Darmblutungen genas; auch wiederholte Blutungen führten
nur selten Exitus herbei. Allerdings schien es mir, wie wenn
die von uns konsequent durchgeführte innerliche Darreichung
von Nebennierenpräparaten bei typhösen Darmblutungen die
Gefährlichkeit der letzteren wesentlich herabgesetzt hätte.
Unter den Darmblutungen sind die mitunter im
Rekonvaleszenzstadium beobachteten Spätblutungen wegen
des anderen Ursprunges und der ganz anderen Prognose
nicht mitgerechnet. Mehrmals wurden Kranke wie Angehörige
der Patienten erst infolge einer Darmblutung auf den Ernst
des Leidens aufmerksam.
Auch Erbrechen haben wir nicht selten (21 mal) im
Verlaufe der Erkrankung beobachtet ; nie war diese Kom¬
plikation erschöpfend, sie spielte eine untergeordnete Rolle
mit Ausnahme eines Falles, der mit einer schweren Hämat-
emesis einsetzte. Aus Anlaß der Krankenvorstellung dieser
Beobachtung in der Gesellschaft für innere ' Medizin hat
Kollege Schmidt auf einen zweiten analogen Fall aus der
N e u s s e r sehen Klinik hingewiesen. Die beiden Beob¬
achtungen zeigen, daß der so ungewöhnlich
verlaufende Wiener Typhus in seltenen Fällen
und wahrscheinlich nur unter besonderen
Bedingungen mit Hä matemesis- beginnen kann.
Das überaus schwere Ereignis einer Perforations¬
peritonitis konnten wir dreimal beobachten, stets vom
Tode gefolgt und von allem Anbeginne an mit solchem
Kollaps, daß ein chirurgischer Eingriff nicht mehr vorge¬
nommen werden konnte. Es ist vielleicht nur ein Zufall, daß
zwei dieser Fälle Kinder betreffen, die sonst nur sehr selten
Perforationsperitonitis ' akquirieren (Henoch, R i e 1 1 i e z-
Barthez, G urschmann), hängt aber vielleicht doch
damit zusamen, daß in manchen Jahren (1904) gerade die
Kindertyphen unserer Beobachtung besonders schwer verliefen.
Den Symptomenkomplex einer Perityphlitis bei
Typhus haben wir mehrmals beobachtet. Ich bin überzeugt,
daß zu wiederholten Malen folgenschwere Irrtümer sich er¬
eignen können, wenn diese Erscheinungen als Frühsymptom
eines Typhus auftreten. Ich habe einen unter solcher Diagnose
operierten Fall beobachtet, von anderen gehört, in einem
Falle selbst die Diagnose auf Perityphlitis gestellt, bis andere
Erwägungen der Diagnose Typhus zudrängten. In letzterem
Falle war nach Angina tonsillaris unter heftigen Schmerzen
und jäher Temperatursteigerung eine druckempfindliche Re¬
sistenz in der rechten Darmbeingrube entstanden. Die Leuko¬
penie und relative Bradykardie, dann die positive und späterhin
empfindlicher werdende Widal sehe Reaktion ermöglichten
die Diagnose in den nächsten Tagen.
Der Milztumor war in der Regel sehr deutlich.
Recht oft war der Milztumor auffallend groß und derb, nicht
druckempfindlich. In den frühzeitig zur Beobachtung ge¬
langenden Fällen war er in der Regel schon ausgesprochen.
Cholezystitis wurde dreimal beobachtet. In keinem
Falle kam es zu schweren Komplikationen. Die Gallenblase
496
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
war als Tumor fühlbar, sehr druckempfindlich, die Körper¬
temperatur stieg erheblich an. Operative Eingriffe waren nicht
erforderlich.
Parotitis haben wir dreimal gesehen, zweimal ver¬
lief sie ohne Eiterung, einmal mit Vereiterung und kon¬
sekutiver Fazialis-llypoglossuslähmung, einem ganz exzep¬
tionellen Ereignis.
Zu wiederholten Malen haben wir Pneumonien bei
den Typhen sowie Pneumotyphen beobachtet. Beginnt
der Typhus mit einer kruppösen Pneumonie (Komplikation),
so kann deren Ablauf durch kritischen Abfall der Temperatur
sich markieren. Die übrigen Krankheitserscheinungen können
aber ihre weitere Entwicklung nehmen und auch das' Fieber
nach kürzerer oder längerer Pause neuerlich einsetzen. Die
spät einsetzenden Pneumonien sind, wie in früheren Epidemien,
die weitaus gefährlicheren.
Das Aussehen der Wiener Typhuskranken entspricht
schon seit längerer Zeit nicht dem Bilde, das man sich früher
von einem Typhösen machte. Schwere Benommenheit ist
nur ausnahmsweise vorhanden, Delirien fehlen in der großen
Mehrzahl der Fälle, der fuliginöse Belag der Lippen, die
Trockenheit der Zunge fehlen in der Regel bei wohlgepflegten
Kranken. Man kann oft im Krankenhause Ausrufe der Ver¬
wunderung über das Aussehen der Kranken von seiten er¬
fahrener Aerzte vernehmen, die Typhen anderer Städte oder
das Bild des Wiener Typhus der früheren Zeit kennen, wenn
sie unsere Typhuszimmer durchwandern.
Auffallend ist nur, daß viele Kranke Fragen nicht ver¬
stehen, da sie im Verlaufe der Erkrankung schwerhörig
geworden sind. Ich habe oft einen völligen Parallelismus der
Schwerhörigkeit mit dem Verlaufe der Erkrankung beobachtet.
Das Maximum der Schwerhörigkeit entsprach der Höhe der
Krankheit. Mit abfallendem Fieber schwand die Gehörstörung,
um mit einem eventuellen Rezidiv wiederzukommen. Ich fand
22 Fälle mit Schwerhörigkeit notiert. Die Zahl ist aber
sicher weit höher. In vielen Fällen entwickeln sich eitrige
Mittelohrprozesse zumeist unter erheblichen Schmerzen.
Ungewöhnlich kurz wie lang dauernde atypische
Fälle gelangen bisweilen zur Beobachtung. Gerade die kurz
dauernden sind praktisch sehr wichtig, da sie am ehesten
dazu beitragen können, die Krankheit zu verschleppen. Ohne
genaue Untersuchung, namentlich ohne Aufnahme des Blut¬
befundes und des bakteriologischen Befundes ist die Diagnose
solcher Fälle fast unmöglich. Den kürzest währenden bakterio¬
logisch vollkommen sichergestellten Fall haben wir im Vor¬
jahre beobachtet — Dauer des Fiebers drei Tage. Es handelte
sich um Spitalsinfektion. Der Verdacht auf Typhus war schon
am ersten Tage rege. Milztumor konnte noch während der
Fieberperiode nachgewiesen werden. Achttägigen Typhus
habe ich beobachtet, mehrere weitere Fälle wurden an
anderen Spitalsabteilungen gesehen. Die Roseolaeruption war
in diesem Falle reichlich, die Diagnose daher leicht.
In manchen Fällen dürfte, wie früher erwähnt, die
kurze Dauer, das bisweilen nur geringe Krankheitsgefühl die
Kranken veranlassen, bald wieder dem Berufe nachzugehen.
Da noch längere Zeit Bazillen mit dem Stuhl und Harn ausge¬
schieden werden, liegt die Gefahr einer Weiterverbreitung
durch solche Fälle nahe.
Selbstverständlich werden die ambulatorischen
Typhen in dieser Hinsicht und für die Kranken noch weit
bedenklicher sein. Ambulatorische Fälle hat es wohl stets in
Wien gegeben und gibt es beständig. Vor kurzem wurde in
den Tageszeitungen viel über einen solchen Fall geschrieben
und wurden für die Aerzte — wohl mit Unrecht — wenig
schmeichelhafte Kommentare zu dem Falle hinzugefügt.
Gewiß laufen viele Typhen ab, ohne daß Aerzte über¬
haupt intervenieren können, oder ohne Verdacht auf eine
schwerere Erkrankung; habe ich doch zu wiederholten Malen
sogar bei Kollegen ambulatorische Typhen beobachtet. Im
verflossenen Jahre stellte sich ein Kollege bei einer Visite
ein, machte sie mit und teilte dann mit, daß er glaube,
Typhus zu haben. Der Kollege hatte recht; es war ein Typhus
am Schluß der Fieberperiode. Der Patient hatte bis zu diesem
Tage seine sehr anstrengende Landpraxis ausgeübt.
Ein Mann, der seine an Typhus erkrankte Frau be¬
suchte, teilte mir mit, daß seine ganze Familie erkrankt sei,
nur er sei von Typhus verschont. Ich untersuchte ihn aus
Neugier und fand einen Typhus, der wenige Tage später zu
fiebern aufhörte. Dem Kranken fehlte derart das Krankheits¬
gefühl, daß er lebhaft gegen die Spitalsaufnahme protestierte.
Eine Köchin hatte sich angeblich eine Fischvergiftung
zugezogen und war mit einem scharlachähnlichen Exanthem ein¬
geliefert worden. Ich untersuchte die Patientin am angeblich
zweiten Krankheitstage. Es war ein voll entwickelter Typhus
mit sehr großer Milzschwellung ; nach zwei Tagen begann
die Rekonvaleszenz. Die Kranke war bis zur Spitalsaufnahme
ihrem Berufe nachgegangen.
Ein Kranker wurde mit subfebrilen Temperaturen und
Milztumor aufgenommen. Eine Roseolaeruption mit staffel¬
förmigem Temperaturanstieg zeigte, daß ein Typhusrezidiv
vorlag. Den Typhus selbst hatte Pat. ambulatorisch bei an¬
strengender Beschäftigung zugebracht.
Manche ätiologisch rätselhafte Typhusinfektion wird
vielleicht durch solche ambulatorische Typhen bedingt sein.
Ungewöhnlich lang dauernde Fälle haben
wir ziemlich oft gesehen, namentlich im verflossenen Jahre
und im Jahre 1904, darunter zu wiederholten Malen Patienten
mit mehrmonatlicher Dauer der Krankheit. Neunzehnmal
unter 155 Fällen fand ich längere Krankheitsdauer ver¬
zeichnet; es handelte sich um lenteszierende Fälle. Diese
Erkrankungen wiesen aber anscheinend keine wesentlich
größere Mortalität auf als die kürzer verlaufenden Typhen.
Rezidive waren nicht besonders häufig (13mal) und
zumeist auch nicht sehr schwer. Sie boten in der Regel keine
Besonderheiten dar.
Eine hämorrhagische Form gelangte nur
einmal zur Beobachtung. Dieser Fall, eine Schwester betreffend,
die sich bei der Wartung infiziert und tuberkulöse Antezeden-
tien hatte, führte in wenigen Tagen unter Blutungen aller
möglichen Organe zum Tode.
Bezüglich der Diagnose möchte ich bemerken, daß
sämtliche Fälle durch bakteriologische, Blut-, seltener Stuhl-
und Harnuntersuchung, durch die wiederholte Vornahme der
G r u b e r- Wi d a 1 sehen Reaktion, viele auch durch den
Nachweis einer Leukopenie und den positiven Ausfall der
Diazoreaktion und durch den klinischen Befund sicher¬
gestellt waren.
Wenn wir nun die sehr wichtige Frage nach der Ge¬
fährlichkeit des Wiener Typhus erörtern, so gelangen wir
zu dem bedauerlichen Resultate, daß die Erkrankung
in den letzten Jahren eine hohe Mortalität
auf weist. Ich kann mich des persönlichen Eindruckes
nicht erwehren, daß der Abdominaltyphus in Wien schwerer
geworden ist.
Unsere Kranken werden außerordentlich sorgfältig ge¬
pflegt, besondere Aufmerksamkeit wird der Ernälirung zu¬
gewendet, hydriatische milde Prozeduren gelangen fortwährend
zur Anwendung und dennoch hatte ich unter meinen 155
Kranken 22 Todesfälle (zirka 147o)- Allerdings muß berück¬
sichtigt werden, daß dem Krankenhause viele besonders
schwere Fälle mit Komplikationen überwiesen werden. Dem
stehen aber wieder jene leichten Fälle gegenüber, die nur
durch bakteriologische Diagnose sichergestellt und in der
Privatpraxis zumeist verkannt werden. Im ganzen Kranken¬
hause (in welchem drei innere, annähernd gleich große
Abteilungen mit alternierender Krankenaufnahme sich befinden)
waren in der gleichen Zeit nach einer freundlichen Mitteilung
Prof. Kretz’ 71 Todesfälle an Typhus erfolgt.
Auch die offiziellen Daten, die angezeigten Typhen von
ganz Wien betreffend, ergeben Mortalitätsprozente, die von
der Schwere der Infektionen Zeugnis ablegen. Ich berechnete
aus der amtlichen Statistik der Jahre 1902 bis 1907 für
ganz Wien eine Typhusmortalität von 18% (356 Todesfälle
unter 1950 Erkrankungen), also eine noch höhere Sterblich¬
keit als im Krankenhause, darunter das Jahr 1905 mit 20%
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
497
Gesainlmortalit.ät, während 1902 nur (!) lö'OVo MortaliläL
aufvveist.*) Dabei wird nach meinen Erfahrungen der Abdominal-
typhus in Wien durchwegs nach modernen Prinzipien be¬
handelt und es werden dadurch gewiß hunderte Kranke vor
dem Tode bewahrt.
Im Vergleich mit anderen Städten ist die Zahl der
Erkrankungen wohl relativ gering, die Schwere der Infektion
aber größer als in vielen anderen mit Typhus verseuchten
Orten. Die Mortalität erreicht oft dieselbe Hohe wie vor Ein¬
führung der jetzt allgemein üblichen Behandlungs weise des
Typhus. So ergab eine Zusammenstellung von Murchisen
aus den Vierziger- bis Sechzigerjahren des vorigen Jahr¬
hunderts für über 18.000 Fälle 18-57o Mortalität. 21.000
Wiener Fälle aus den Jahren 1846 bis 1801 hatten 22-27o
Mortalität. Die Hamburger Epidemie 1886/1887 hatte bei
10.800 Erkrankungen 8-57o Mortalität. Curschmanns
Zusammenstellung von 3600 in Berlin, Hamburg und Leipzig
behandelten Fällen ergab eine Gesamtsterblichkeit von 9-37, ,.
Er meint, daß man nach den heutigen Erfahrungen die
Mortalität auf 9 bis 12, höchstens auf 147o veranschlagen
müßte. Und wir haben in Wien zwischen 16 und
207o Mortalität! Für die sieben Jahre, 1900 bis 1907,
berechnete ich nach den offiziellen Angaben für 3060 Typhus¬
kranke eine durchschnittliche Mortalität von nahezu 187o ■
Wenn ich den Fortschritt in der Behandlungsweise in An¬
rechnung bringe, möchte ich meinen, daß der Wiener Typhus
in den letzten Jahren so bösartig, wenn nicht bösartiger ist
als vor fünfzig Jahren vor Einleitung der Hochquellenleitung.
Nur wenige unserer Kranken starben unter den Sym¬
ptomen einer allgemeinen schweren Intoxikation ; auch ver¬
loren wir nur wenige Kranke an Darmblutungen. Wir haben
nur dreimal, wie früher bemerkt, Perforationsperitonitis beob¬
achtet. Die meisten Todesfälle ereigneten sich im Gefolge
von Pneumonien, denen der geschwächte Organismus der
Kranken keinen rechten Widerstand entgegenzusetzen ver¬
mochte. Bei der geringen Zahl der Beobachtungen lassen
sich aus diesen Wahrnehmungen keine Schlußfolgerungen
ziehen.
Dies sind einige unserer Beobachtungen über die Aen-
derungen im Bilde des Wiener Typhus.
♦
Ich möchte meine Ausführungen folgendermaßen zu¬
sammen fassen:
Der Wiener Typhus weicht in den letzten Jahren oft
von dem allgemein bekannten Bilde, den Schulfällen, ab.
Besonders hervorhebenswert sind; die häufige Ver¬
spätung der Roseola bis in die Rekonvaleszenz hinein, das
Auftreten atypischer Roseola und der plötzliche Beginn mit
Schüttelfrost in vielen Fällen.
Weiters ist zu betonen, daß Herpes labialis und Schweiße
nicht zu den ganz seltenen Vorkommnissen des Wiener
Typhus gehören.
Hohe Pulsfrequenz ist nicht selten und ihr Auftreten
nicht immer ominös. Das typhöse Aussehen fehlt den meisten
gepflegten Kranken. Der Milztumor ist oft auffallend groß
und derb.
Atypische kurze und namentlich ambulatorische Typhen
sind nicht sehr selten ; ungewöhnliche Symptome werden
relativ oft beobachtet.
Die Gefährlichkeit des Wiener Typhus ist leider eine
erhebliche. Im Interesse der gesamten Bevölkerung wäre
dringend zu wünschen, daß neue, namentlich serotherapeuti¬
sche Heilbestrebungen vollen Erfolg finden möchten.
*) Herr Schirmer stellte aus den amtlichen Mitteilungen fol¬
gende Mortalitätsziffern zusammen: Mortalität im Jahre 1900 — 19'4“/o,
1901 — 18-87o, 1902 — 16-67o, 1903 — 19-l»/o, 1904 — 1717o.
Aus der k. k. Universitäts-Kinderklinik in Wien.
(Vorstand: Prof. Escherich.)
Vorschlag einer klinischen Prüfung der Fett¬
resorption.
Vorläufige Mitteilung von Dr. Adolf F. Hecht.
Nur die Bestimmung der F e ttaus n ü tz un g ist ein
brauchbarer Maßstab für die Beurteilung der Fettresorption.
Die meist für klinische Zwecke geübte Bestimmung des Ver¬
hält hisses vom Fettgehalt zum Trockenkot ist
recht unzuverlässig. Die Ueberlegung, daß vor allem eine
reichliche Sekretion von Darmsaft, dann aber auch die Zu¬
nahme von Bakterienflora und die Verschlechterung der Aus¬
nützung der übrigen Bestandteile der Nahrung geeignet sind,
den relativen Fettgehalt des Stuhles herabzudrücken,
deckt sich vollkommen mit den praktischen Erfahrungen, die
sich bei fortlaufenden Fettbestimmungen im Stuhl ergeben.
Die Forderung nach einer exakten Methode ist durch
die Bestimmung des Resorptions Verhältnisses allerdings er¬
füllt, aber die quantitative Bestimmung des gesamten in drei
Tagen entleerten Kotfettes ist besonders bei Patienten in der
frühesten Kindheit mit so großen Schwierigkeiten verbunden,
daß diese im übrigen auch sehr zeitraubende Methode gewiß
auch keinen Anspruch auf allgemeinere Verbreitung
machen kann.
Auf der Suche nach einer klinisch brauchbaren ein¬
fachen Methode der Bestimmung der Fettausnützung ging ich
von folgender Ueberlegung aus: Man setzt den Pat. auf so¬
zusagen fettfreie Kost und bestimmt nun in einer beliebigen
Stuhlportion den relativen Fettgehalt des Stuhles auf Trocken¬
kot bezogen. Dann gibt man eine fetthaltige Nahrung von
bekanntem Fettgehalte und analysiert nun diejenigen
möglichst quantitativ aufgefangenen Stuhlgänge, in denen man
nach dem makroskopischen Aussehen Verdauungsrückstände
der fetthaltigen Nahrung vermuten kann. Ihre- Zugehörigkeit
zu dieser Mahlzeit stellt sich eventuell auch bei der Analyse
heraus, indem sie einen höheren relativen Fettgehalt auf¬
weisen. Hierauf sinkt derselbe wieder ab, wenn auf die fett¬
haltige Nahrung wieder fettfreie gefolgt ist. Das Plus an aus¬
geschiedenem Fett gegenüber dem bei fettfreier Nahrung im
Stuhl gefundenen kann man nun als das aus der fetthaltigen
Mahlzeit in Verlust gegangene Fett ansehen und auf das
Nalirungsfett beziehen, um die Ausnützung desselben zu
berechnen.
Eine genaue Abgrenzung des Stuhles ist
bei d i e s e m V 0 r g e h e n nicht nötig. Es schadet nichts,
wenn ein Teil des fettfreier Nahrung entsprechenden Stuhles
hinzugerechnet wird, weil wir ja den Fettgehalt derjenigen
Stühle, die fettarmer Nahrung entsprechen, ohnehin in Abzug
bringen. Es könnte höchstens dadurch ein Fehler entstehen,
daß ein Teil desjenigen Stuhles verloren geht, welcher das
Nahrungsfett enthält. Das ist aber leicht zu vermeiden, da es
sich um ganz wenige — etwa zwei bis drei — Stuhlgänge
handelt. Man bekommt demnach fast das gleiche Resultat,
ob man einen Stuhl der fettfreien Vor- oder Nachperiode
hinzugibt oder nicht.
Als fast fettfreie Nahrung kann die Milchmalzsuppe
nach der Vorschrift Kellers gelten, die mit dem dritten
Teile ihres Gesamtvolumens Magermilch zubereitet ist. Die
durch Zentrifugieren erhältliche Magermilch hat einen Fett¬
gehalt von 0'2"/„ ; das gibt bei 1 Liter Milchmalzsuppe iin
Tage 7-2 g Milchfett. Nun enthalten aber auch das Weizen¬
mehl und der Malzextrakt Fett, so daß sich in meinem Ver¬
buche das Gesamtfett der Milchmalzsuppe doch auf 0‘297o
stellte. Es folgt nun der Bericht über eine Versuchsanordnung,
die die Durchführbarkeit der Methode beweist :
Josef S., 12 Monate alt, durch sechs Wochen Brust,
seither künstlich genährt, klein, schwächlich, mager und blaß.
Er erhält zunächst in drei Tagen zusammen 3600 g Milch von
einem Fettgehalte von 2-487o, ^Iso eine Gesamtfettmenge
von 89 28 g.
498
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
Dann wurde ihm eine Milchmalzsuppe vom Fettgehalte
0’297o durch drei Tage gereicht und so 10'2G6 g Fett zu¬
geführt.
Daran schloß sich neuerdings eine zweitägige Milch¬
periode, in der das Kind nur 1970 g Milch von einem Fett¬
gehalte von 3-05 7o trank und so 60 085 g Fett aufnahm.
In der ersten Milchperiode wog der Trockenstuhl 44'2 g,
der Aetherextrakt betrug 10'77o davon. In der Müchmalz-
suppen-Periode, in welcher täglich 5 bis 6 braune, flüssige,
sauer reagierende Stühle abgesetzt wurden, betrug das
Gewicht des trockenen Stuhles 32T2 g, der darauf bezogene
Fettgehalt nur 5'27o-
In der zweiten Milchperiode bei deutlicher Dyspepsie
wiegt der Trockenstuhl 30'4'3 g, der Aetherextrakt beträgt 10‘57o-
Wir sehen also, daß in der zweiten Milchperiode die
Ausnützung schon nach der makroskopischen Beschaffenheit
der Stühle eine schlechtere sein muß als in der ersten Milch¬
periode und doch betrug der auf den Trockenkot bezogene
Fettgehalt nur mehr 10’57o gegenüber 10‘77o der ersten
Periode, ein neuer Beweis für die Unzuverlässigkeit dieser so
verbreiteten Untersuchungsmethode.
Vergleichen wir nun die auf die Fettzufuhr in der
Nahrung bezogenen durch die Fäzes erfolgten Fettverluste, so
finden wir für die
erste Milchperiode . 5'37o Verlust
Milchmalzsuppen-Periode . . . 16‘3‘^/o
zweite Milchperiode . 6‘577o »
Nun kann man aber das im Stuhl bei fast fettfreier
Nahrung erscheinende Fett für ausgeschiedenes Fett halten
analog wie beim Hungerstuhl. Bringen wir demnach diese aus
der Milchmalzsuppen-Periode für die beiden Milchperioden be¬
rechneten Fettmengen in Abzug, "so stellen sich die korrigierten
Fettverluste wesentlich anders dar, nämlich für die
erste Milchperiode . ca. 2-77o
Milchmalzsuppen-Periode . D'07o
zweite Milchperiode . T’37o
Wir sehen nunmehr bei den so korrigierten Fettverlusten
einen erheblichen Anstieg der Fettmenge in der zweiten
Milchp eriode gegenüber der ersten, wie dies auch klinisch zu
erwarten war.
In der Milchmalzsuppen-Periode habe ich nun am
dritten Tage eine Milchmahlzeit zu 200 cm^ mit einem Fett¬
gehalte von 5'984 g eingeschaltet. Von den darauf folgenden
Stühlen war nun der erste lichter gefärbt, wog trocken
12-343 g und hatte einen Aetherextrakt von 0 849 g, also
einen relativen Fettgehalt von 6-97o- Der zweite Stuhl —
kaum mehr heller gefärbt — wog trocken 4-517 g und hatte
bei einem Aetherextrakt von 0-219 g nur mehr einen relativen
Fettgehalt von 4-97o-
Berechnet man den korrigierten Fettverlust nur aus dem
ersten Stuhle, so ergibt sich ein solcher von 3-477o- Nimmt
man aber auch den zweiten Stuhl hinzu, so beträgt der Fett¬
verlust 3-27o-
Man sieht also daraus, daß der Fehler nur sehr unbe¬
deutend ist, wenn eine zu große Stuhlmenge zur Bestimmung
verwendet wird, sowie auch, daß der Verlust — nach meiner
Methode bestimmt — dem Resultate der exakten Aus¬
nützungsversuche so nahe kommt, als dies für klinische
Zwecke notwendig ist. Denn der korrigierte Fettverlust be¬
trägt für die
erste Milchperiode . 2 7 7o
zweite Milchperiode . T-37o
und für den Intervall zwischen diesen beiden nach der in
Vorschlag gebrachten Methode 3-2, resp. 3-477o-
Gutachten der Wiener medizinischen Falkultät.
Referent: Prof. Wagner v. Jauregg-.
A 1 1 - W c i 1j e r 1 i c b e, Sadismus, t' r a g 1 i c li c r Lust m o r d.
Der in folgendem mitzuteilende Fall ist nicht mir vom
forensisch-psychiatrischen Standpunkt aus hemerkenswert, sondern
er hat aucli ein großes Interesse für die Psychopatliologie des Ge-
schlechlslehens. Und zwar in zweifacher Hinsicht.
Erstens ist es ein ausgesprochener Fall von geschlechtlicher
Hinneigung eines JMannes zu alten Frauenspersonen. Diese Ano¬
malie des geschlechtlichen Empfindens ist gewiß nicht häufig.
Einen eingehender geschilderten Falt habe ich bisher in der ein¬
schlägigen Literatur nicht auffinden können.
Krafft-Ehing hat zwar die Hinneigung zu alten Männern
als Gerontophilie heschriehen; er versteht aber darunter die homo¬
sexuelle Hinneigung zu greisenhaften IMännern. Eine hetero¬
sexuelle Neigung zu alten Personen kommt ferner u. zw. hei
beiden Geschlechtern gewiß nicht selten vor; dann handelt es
sicli aber meistens um Hinneigung zu einer bestimmten alten
Person, oh Mann oder Weih.
Das Charakteristische des vorliegenden Falles ist dagegen,
daß der geschlechtliche Reiz nicht von einer bestimmten Person,
sondern von dem alten Weibe an und für sich ausgeht. Man
könnte also diese Anomalie des geschlechtlichen Empfindens als
eine Art von Fetischismus bezeichnen; die physische Beschaffen¬
heit des alten Weihes ist hier der Fetisch.
Zweitens zeigt cler Fall in selten klarer Weise die Ent¬
stehungsgeschichte der geschlechlliclien Verkehrtheit. Er ist ein
überzeugendes Beispiel für die Richtigkeit der Theorie, die Binot
vertritt: irgendwelche Komplexe von Vorstellungen und Empfin¬
dungen, die mit dem ersten Erwachen des Geschlechtslebens Zu¬
sammentreffen, können hei Prädisponierten in eine so innige
assoziative Verbindung mit dem gescldechtlichen Empfinden treten,
daß diese Verbindung dauernd hestehen bleibt und durch spätere
Erlebnisse nicht mehr oder nur sehr schwer zu lösen ist.
R. K., von dem sogleich die Rede sein wird, ist des ersten
geschlechtlichen Verkehres durch A4rführung von seiten eines
alten Weihes teilhaftig geworden; seither fühlt er sich geschlecht¬
lich nur zu alten Weibern hingezogen.
*
Ergebnisse aus den Akten.
Am 1. Mai 1900 wurde in F . dorf in Oherösterreich die
zirka 64jährige Häuslerin Sch., auf dem Fußboden ihres AVohn-
zimmers liegend, tot aufgefunden.
Die näheren Umstände ließen keinen Zweifel aufkomrnen,
daß die Sch. eines gewaltsamen Todes gestorben war.
Um den Hals der Ermordeten war ein grobes Bauernschnupf-
tuch mit einem einfachen Knoten in der Höhe des Kehlkopfes so
fest zugezogen, daß sich um den ganzen Hals herum, entsprechend
dem geknüpften Tuche, eine ca. 2 cm breite Strangulierungs-
furche gebildet hatte. Die Obduktion ergab als Todesursache
Erstickung.
Außerdem fanden sich aber an dem Kadaver Zeichen vor,
die auf einen Kampf schließen ließen, welcher der Erdrosselung
- vorangegangen war.
Das Nasenbein Avar gebrochen und aus der Nase war ein
bedeutender Bluterguß erfolgt. Am Stirn- und Scheitelbein der
linken Seite, teilweise bis zur AATmge herablaufend, fanden sich
mehrere fingerdicke, bis 9 cm lange Striemen, die nach dem
Gutachten der Gerichtsärzte nur \mn Stockscblägen herrühren
konnten. Ferner fanden sich Hautabschürfungen und Blutunter¬
laufungen vor an Stirn- und Scheitelgegend, am Nasenrücken,
am Jochbein, am reebten Vlimdwinkel und an der linken Ober¬
und Unterlippe.
Ferner fanden sich Kratzverletzungen am Kinn und am
Halse; Blutunterlaufungen und Hautabschürfungen am rechten
Darmbein und an beiden Knien.
Der jMord mußte in den frühen Amrmittagstunden stattge¬
funden haben, denn der Sohn der Sch. hatte das Haus um VaV.Uhr
früh verlassen und man fand das Frühstücksgeschirr noch un-
abgcAvaschen vor.
AATe sich später herausstellte, hatte der unbekannte Täter
außerdem drei Paar Stiefel entwendet.
Die Einvernahme der in der Nachbarschaft der Sch. woh¬
nenden Personen ergab bald reichliche Anhaltspunkte, die zur
Eruierung des Täters beitragen konnten.
Zahlreiche Personen hatten nämlich am 1. Alai vormittags
teils in der Richtung zum Tatort, teils in der Richtung vom Tatort
gehend, einen unheimlich aussehenden Alenschen gesehen, dessen
Aeußeres und dessen Kleider sie genau und übereinstimmend
beschrieben.
Die Personen, Avelche den Täter gegen das Haus der Sch.
zu hatten gehen sehen, gaben als Zeitpunkt der Begegnung 7 bis
8 Uhr früh, diejenigen, Avelche ihn vom Tatort weggelum gesehen
hatten, 10 bis 12 Uhr vormittags an; die letzteren gaben außer¬
dem an, daß der Fremde drei Paar Röhrenstiefcl unter dem
Arme getragen habe.
Es AA'urde außerdem bald eruiert, daß am 8. Mai zwischen
3 und 4 Uhr nachmittags ein Mann, auf den die Beschreibung
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
499
<^^1’ F . (lorfcr Eiinvohner i)aß[o, (Rm; Raiionn H. in ]\I. (zirka
15 km voiii Talort eiilfenil) dan J’aar Slielel vorkanft hatte,
welche Slicl'el als die aus dem Hause der Sch. gestohlenen er¬
kannt wurden.
Tatsächlicli meldete auf Grund der erlassenen Verlaulhariing
schon am 30. Mai der Gendaiinerieposlen in Groß-R., daß die
Pcrsonbeschreihung des unbekannten iMörders der Sch. treffend
aid' einen gewissen, mehrfach vorheslraften Taglöhncr R. K. passe,
der sich auch durch eine geAvisse Scheu vor Wachorganen ver¬
dächtig mache.
Auf Grund dieser Älitteilung Avurde R. K. ausgeforscht und
am 25. Jnni 1900 in Oher-Sch. in Oherösterreich verhaftet.
Die Erhehungen ergaben bald gegen K. einen sehr be¬
lastenden IndizienhcAA'eis. K. Avurde von fast allen 30 Personen,
die dem mutmaßlichen Mörder der Sch. atn 1. Mai begegnet
hatten, ^ teils mit voller Restimmlheit, teils mit großer Wahr¬
scheinlichkeit als dieser Mann agnosziert.
Ferner mißlangen sämtliche mit großer Hartnäckigkeit an-
gestelKen Versuche des K., ein Alibi für die Zeit der Tat iiachzu-
weisen; im Gegenteil konnte feslgestellt Averden, daß K. in der
Zeit vom 30. April vormittags bis zum 1. Mai abends von nieman¬
dem in seinem damaligen Aufenthaltsort in E. gesehen AA’orden war.
Außerdenj Avecliselte K. seine ein Alibi bcAAmisen sollenden
Angaben Aviederbolt, Avoraus sich die xVbsicbt, die Richter irre¬
zuführen, offen erkennen ließ.
Dabei stellte sich auch heraus, daß K. eine falsche Ein¬
tragung in sein Arbeitsbuch, als oh er an einem bestimmten Ar¬
beitsplatz Amm 30. April bis zum 23. Juni ununterbrochen ge¬
arbeitet hätte, erschlichen hatte.
Tatsächlich Avar K. zur Zeit der Tat in keinem Arbeits-
A^erhältnis gestanden.
Dagegen Avurde festgestellt, daß K. vom 30. April früh bis
zum 1. Mai abends seinen Unterstand, resip. sein Nachtlager bei
einem Häusler in E. nicht aufgesucht hatte.
Es Avurde ferner auch erhoben, daß K., obwohl in sehr
prekären Geldverhältnissen lebend, sich Mitte Mai neue Kleider
angeschafft hatte, da er sich in seiner alten, in verschiedenen
Steckbriefen beschriebenen Kleidung nicht sicher fühlen mochte.
Daß er sich ferner in E. am 1. Mai den Bart, den er früher trug,
abrasieren ließ.
Auf das mutmaßliche Motiv der Tat des K. Avarfen Umstände
ein grelles J.jicht, die gleich bei seiner Inhaftsetzung bekannt
Avurden. K. Avurde nämlich auch vom Bezirksgericht P. Avegen
zAveier Notzuchtsdelikte verfolgt, die er sich am 16. Juli und am
8. August 1899 hatte zuschulden kommen lassen.
Die beiden Fakten trugen sich folgendermaßen zu. Am
16. Juli hatte K. tagsüber ziemlich Adel getrunken, so daß er
abends leicht berauscht Avar. Er AA'urde dabei auch geschlecht¬
lich ziemlich erregt, denn auf dem HeiniAA^eg, durch den Ort Pr,
Avollte er sich schon an zAA^ei Frauen vergreifen, die ihn aber
energisch zurückAviesen. Als er dann zum Armenhaus kam, trat
er in dasselbe ein, setzte sich zu der in der Hausflur auAvesenden
64jäbrigen Pfilindnerin ik. N., fing an, sie abzugreifen und forderte
sie zum Beischlaf auf. Da sie sich Avehrte und fortgehen Avollte,
drückte sie K. zu Boden, legte sich auf sie, hob ihr die Röcke
auf und Avollte sie gebrauchen. Er ließ erst von ihr ab, als über
ihr Schreien eine Frau ihr zu Hilfe kam.
K. verantAvortete sich bei der ersten Einvernehmung daliin,
daß er Amlltrunken gOAvesen sei und von der ganzen Sache nichts
Avisse.
Für den BeAvußtscinszustand des K. ist es von Bedeutung,
daß er zAvei Burschen, die er unmittelbar nach dieser Szene
auf der Straße traf, fragte, ob sie nicht schreien gehört hätten.
Das ZAA^eito Notzuchtsfaktum trug sich folgendermaßen zu:
K. hatte auch an diesem Tage, dem 8. August 1899, getrunken;
beim Verlassen eines Gasthauses im Orte L. an der Donau
stahl er eine Zille und fuhr mit derselben stromabAvärts bis E.;
dort landete er und ließ sich jnit der unAveit des Ufers auf einem
Felde arbeitenden, 76 Jahre alten Ausnehmerin E. in ein Ge-
S|)rä(di ein. Im Verlaufe desselben suchte er die E. unter Zu-
sichenmg einer Entlohnung von 20 Kreuzern zum Beischlaf zu
beAvegen.
Da sich die E. Aveigerte, stieß er sie zu Boden, legte sich
auf sie, nahm sein Glied aus der Hose und suchte ihren Unter¬
leib zu entblößen.
Da die E. sich Avehrte und um Hilfe rief, mißhandelte sie
K. mit Schlägen; als auf ihr Hilferufen ein Mann herbeikam,
ließ er von ihr ab, versetzte ihr noch ein paar Stöße und fuhr
dann in der Zille davon.
Auch diesmal vei'antAvorlele sich K., nachdem er dem ihn
A'erhaftenden Gendarmen zuerst gestanden hatte, daß er die E.,
ahoi' nur ans Zorn, durchgehanen habe, später dahin, daß er Amn
nichts wisse; obwohl er nicht einmal behauptete, schon bei Be¬
gehung der lat volltrunken goAvesen zu sein, sondern angab,
daß er erst nachher betrunken gCAvorden sei und sich auch an
gleich zii envähnende Handlungen, die auf das Notzuchtsattentat
folgten, erinnerte.
K. AAuir nämlich stromab\A'ärts bis U. gefahren; dort legte
er bei einem Wirtshaus an und verkaufte die gestohlene Zille
um vier Gulden, bei welchem Geschäfte er durchaus nicht den
Eindruck eines Betrunkenen machte. K. gab übrigens bei einer
späteren Vernehmung auch noch an, daß er sich an das Angebot
von 20 Kreuzern erinnere.
Längere Zeit A'orher hatte sich mit K. schon folgendes zu¬
getragen : Er war am 11. September 1894 bei einem Brande in R.
als Feuerwehrmann tätig geAvesen und hatte sich nach dem Brande
an einem von den Bauern von R. gespendeten GratisAvein gütlich
getan. Er Avar, als er mit der Feuerspritze nach seinem Heimatsort
Ro. fuhr, betrunken; doch stimmen die Aussagen über den Grad
seiner Tnuikenheit nicht überein.
K. ging dann in ein Haus in Ro., in dem nur einige Kinder
zu Hause Avaren und benahm sich dort sehr auffallend, ohne daß
der eigentliche Zweck seiner AnAAmsenlieit klar geAAmrden Aväre.
Hierauf begab er sich in die Wohnung der 64.iährigen Ko.,
die mit Zahnschmerzen im Bette lag und der sein Besuch zu
dieser Stunde auffällig Avar. Er erzählte zuerst vom Feuer, dann
verlangte er von der Ko. einen Stiefelzieher; als ihm (he Ko. er¬
klärte, daß sie einen solchen nicht besitze, zog er seine Stiefel
aus. Darauf versperrte er die Tür von innen. Nachdem er nun
im Zimmer einige IMale auf und ab gegangen Avar, faßte er die
Tuchent der Ko. an. Avoid um ihr dieselbe AAmgzuziehen. Als siO'
ihm das verwies, packte er die Ko. bei der Gurgel und fing an,
sie zu Avürgen, avovou er erst abließ, als über das G-eschrei der Ko!
eine MitbeAvohnerin des Hauses zum Fenster gekommen Avar und
den K. angeschrien hatte, Avas er denn mache.
K. ließ hierauf von der Ko. ab, öffnete die Tür und ging
nach kurzem WortAvmchsel fort.
Die Ko. hatte sich zAvar den Anschein gegeben, als ob es
K. auf ihr Geld abgesehen gehabt hätte; doch Avurde konstatiert,
daß K. den Hosenschlitz offen hatte, Avas Avohl über seine Avahren
Absichten zur Genüge aufklärt.
K. Avurde damals zu einer Arreststrafe von vier Wochen
verurteilt.
Es Avurde durch diese Fakten Avahrscheinlich gemacht, daß
auch der Mord an der Sch. einen geschlechtlichen Hintergrund
haben dürfte, eine Vermutung, die, Avie sich bald herausstellte,
begründet Avar.
K. leugnete durch lange Zeit mit der größten Hartnäckigkeit,
den Mord an der Sch. begangen zu haben.
Als es aber am 11. März 1901 zur Hauptverhandlung kam,
suchte K. anfangs noch sein Leugnen aufrecht zu erhalten, in¬
dem er sich mit ziemlicher GeistesgegeiiAvart verteidigte; nach¬
dem er aber am zAveiten Tage der Verhandlung von fast allen
Personen, die den imdmaßlichen Mörder der Sch. am 1. Mai 1900
gesehen hatten, agnosziert Avorden Avar, legte er über Aufforderung
des Vorsitzenden ein volles Geständnis ab.
Er gab an, er sei am 1. Mai morgens in das Haus der Scp.
getreten und habe etAAns zu essen verlangt, Avas er auch erhielt.
Während er bei der Sch. saß und mit ihr plauderte, Avurde er
geschlechtlich erregt und verlangte von der Sch. den Beischlaf.
Als' sich die Sch. weigerte, Avarf er sie zu Boden und schlug sie,
da sie sich Avehrte und schrie, mit der Hand ein paarmal auf
den Kopf. Als sie noch Aveiter schrie, habe er sie aus Zorn mit
ihreni Halstuch erdrosselt.
Wie er das Halstuch zugezogen, könne er nicht bestimmt
sagen, AAmil er ganz Amn Sinnen gCAvesen sei.
Nachdem er die Sch. ermordet hatte, sei er fortgegangen;
die Stiefel, die er an sich genommen, seien bei der Tür gestanden.
K. erzählt dann, Avie er die Stiefel verkauft habe, Avie er
mit der fliegenden Brücke nach E. gefahren sei und sich dort
habe rasieren lassen und Avas er noch AA^eiter am selben Tage
gemacht habe.
Ueber Antrag des StaatsanAvaltes Avurde nach diesem Ge¬
ständnis die Untersuchung des Geisteszustandes des Angeklagten
verfügt.
Bei einem am 12. März 1901 vorgenommenen Verh(")r machte
K. noch ausführlichere Angaben über seine Tat. Er habe, neben
der Sch. silzend, Geschlechtslust verspürt; er habe angefangen,
sie abzugreifen und habe an sic das xVnsinnen gestellt, sie möge
sich gebrauchen lassen. Da sie sich \A‘eigerte, habe er sie zu
Boden gCAvorfen ; er habe ihr die Kittel aufgehoben, seinen Ge¬
schlechtsteil herausgenommen, ihr die Füße auseinander getan
500
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
und sicli auf ihren Leib gelegt. Da sie immer schrie, ilm ..von
sich stieß und mit dem Körper hin und her wackelte, habe er ihr
ein Paar heruntcrgehant und sic dann am Halse gewürgt. Oh
er in ihren Geschlechtsteil eingedrnngen sei, könne er sich nicht
erinnern; ebensowenig, ob er eine Samenergießung gehabt hal^e.
Nachdem er sie gewürgt hatte (vom Halstuch erwähnte K.
bei dieser A'ernehmung nichts mehr), habe sie noch ein paar
Schnapper gemacht und war tot. Als sie tot war, habe er sich,
mit ihr nicht mehr befaßt, da er eine Scheu vor toten Menschen
habe. Er habe ihr nur noch die Kittel heruntergc geben und seinen
Geschlechtsteil wieder versorgt.
Wo er die Stiefel genommen, will er sich bei dieser Ver¬
nehmung nicht erinnern können; freilich habe er die tlrei Paar
Stiefel besessen, ohne genau zu wissen, wo er sie hergenommen
habe. Es sei ihm nämlich nach dem Morde alles im Kopfe herum¬
gegangen. Entschieden habe er nicht die Absicht gehabt, die
Frau zu töten, sondern er wollte sie nur betäuben, damit sie
nicht mehr schreie und er sie gebrauchen könne.
Einen düsteren Hintergrund erhielt die Tat des K. durch
den Umstand, daß in der Zeit von 1897 bis 1900 in Oberöster-
reich sieben Alorde an Frauen im Alter von 53 bis 68 Jahren verübt
worden waren. Sämtliche Frauen wurden im Freien erdrosselt
aufgefunden; zwei batten auch noch einen Messerstich in das
Herz erhalten. In allen Fällen bestand der Verdacht des Lust¬
mordes; in drei Fällen waren Spuren eines ausgeführten Ge¬
schlechtsaktes nachzuweisen, indem in dem einen Falle das Geni¬
tale zerrissen war, während in den beiden anderen Fällen der
Hauch vom Genitale bis zum Nabel aufgeschlitzt war, in dem
einen sogar ein Teil des Genitales fehlte.
Noch unheimlicher wurde die Situation, als am 19. März
ein Zellengenosse des K. aussagte, daß derselbe eines Nachts' K.,
der im Traume laut sprach, belauschte und hörte, wie derselbe von
der Ortschaft G. sprach (in G. war nämlich einer der oben-
envähnten Morde vorgefallen), dann von zwei Lustmorden, die
nicht an den Tag kommen dürften, sonst würden sie beide auf¬
gehängt (K. sprach nämlich so, als wenn er sich an einen Ge¬
nossen Avenclen würde); dann kam noch etwas vom Hände¬
waschen. Daim; „Schau her, was die für eine große F . . hat.“
Bezüglich des IMordes in G. stellte sich übrigens bald heraus,
daß K. denselben nicht begangen haben könne, da er zu der Zeit,
als derselbe verübt wurde, in Y. beim Bezirksgericht in Haft war.
Die weiteren Nachforschungen ergaben kein entscheidendes
Resultat, da einzelne Personen, die die mutmaßlichen Mörder ge¬
sehen hatten, wohl den K. agnoszieren zu können glaubten,
während andere wieder seine Identität bestimmt in Abrede stellten.
Als K. über diese Älorde einvernonnnen wurde, machte er
über die Zeit, seitdem er den Abschied vom Militär erhalten hatte,
ausführliche Mitteilungen, indem er Datum, Orte, Personen angab,
wann, wo und bei wem er gearbeitet hatte.
Als bei einer Vernehmung am 9. Juni 1901 energisch in
ihn gedrungen Avurde, alles zu gestehen und ihm eine gravierende
Zeugenaussage vorgelosen wurde, geriet K. in einen hochgradigen
Erregungszustand, indem er schrie und Aveinte und in etwas
konfuser Weise sich über die gegen ihn gerichteten Anschuldi¬
gungen bescliAverte.
Ueljer den früheren Lebenslauf des K. AVUrde folgendes be¬
kannt : Er ist 1873 geboren, also 29 Jahre alt; seine Eltern standen
bei seiner Geburt bereits in einem vorgerückten Alter (Fater 63,
i\l utter 40 Jahre); für eine hereditäre Belastung ergaben sich keine
Anhaltspunkte. Er hcsuchtc die Volksschule fleißig durch, acht
Jahre, doch machte er geringe Fortschritte, angehlich Aveil er
sich nichts merken konnte. Im Entlassungszeugnis der Volks¬
schule hat K. in Naturgeschichte und Naturlehrc nicht genügend,
im Rechnen und in Geographie und Geschichte kaum genügend,
Fleiß gering. Doch Avar sein sittliches Betragen zu dieser Zeit
ein ganz zufriedenstellendes.
Nach ahsolvierter Sclndzeit kam K. zu einem Bürstenl)inder
in die Lelnx>, erwies sich aher als unbrauchbar; er Avurde Stein-
bi-ucharbeiter und arbeitete seither immer als Taglöhner oder
Sch iff mann.
i\lit 20 Jahren kam er zum Militär, erreiclite in dreijähriger
Dienstzeit keine Gharge, besuchte die Mannschaftsschule mit im-
genügendem Erfolge; er erlitt beim Militär elf Strafen.
Im Zivil hatte K. folgende Abstrafungen : 1. Bezirksgericht
M., 22. September 1894, körperliche Beschädigung, vier AVochen
Arrest; 2. Landesgericht L., 20. Dezember 1897, Diebstahl, einen
Atonal Kerker; 3. Bezirksgericht M., 28. Juli 1898, Diebstahl,
14 Tage Arrest; 4. Bezirksgericht Y., 21. September 1898, Betrug'
14 Tage Arrest.
Im Seivlember Avuide K. vom Militär entlassen; seither hat
er bis zu seiner Inhaftierung ein recht nnstetes und ziemlicii
arbeitscheues Leben verbracht; er hatte in dieser Zeit, also in
nicht ganz drei Jahren, seinen in den Akten Amrstreuten Angaben
nach mindestens 15 verschiedene x4rbeitsplätze, von denen er viele
nur ganz kurze Zeit innehatle; dazAvischen Avar er viel auf
AVanderschaft. Sechsmal dürfte er im Spilal gewesen sein mit
einem Gesamtaufenthalt von etAva sieben Monaten; mindestens
ZAvei Monate brachte er im Arrest zu.
Die Arbeitsfähigkeit des K., d. h. vor allem seine Lernfähig¬
keit, scheint eine recht geringe geAvesen zu sein; er Avurde immer
nur zu den niedrigsten Taglöhnerarbeiten Amrwendet; selbst
Bauernarbeit, die eine etAvas größere Geschicklichkeit verlangte,
also erlernt Averden mußte, konnte er nicht verrichten.
Die Gerichtsärzte gaben über K. ein Gutachten ab, in dem
sie zu dem Schlüsse kamen, daß der Angeklagte im leichten Grade
mit Blödsinn behaftet erscheine und wegen der von diesem In¬
telligenzdefekt abhängigen moralischen MinderAvertigkeit nicht in
vollem Maße zurechnungsfähig, resp. für seine Tat verantwort¬
lich sei. Bei der mündlichen Verhandlung führten die Sach¬
verständigen aus, daß sie mit dem Ausdmek „Blödsinn“ nur
einen Sclnvachsinn, eine MinderAvertigkeit gemeint hätten und
zAvar einen die Zurechnungsfähigkeit nicht aufhebenden Grad
des Schwachsinns.
In bezug auf den G’eisteszustand zur Zeit der Tat gerieten
die beiden Sachverständigen in einen AAuderspruch. Dr. S. nahm
es als möglich an, daß K., obwohl Epilepsie bei ihm ausgeschlossen
sei, die Tat, die Dr. S. als Lustmord bezeichnet, in einem Zu¬
stand krankhafter BeAvußtlosigkeit ausgeführt haben könne. Er
glaubt einen teilweisen, die Zeit der Tat betreffenden Erinne¬
rungsdefekt konstatieren zu können.
Dagegen schließt Sachverständiger Dr. R. einen Zustand
krankhafter BeAAUißtlosigkeit zur Zeit der Tat aus.
Im Laufe der A^erhandlung mußte übrigens Dr. S. zugeben,
daß die Angaben des K. über mangelhafte Erinnerung erlogen
sein können, Avährend der andere Sachverständige es direkt aus¬
sprach, daß K. simuliere, d. h. sich dümmer stelle, als er Avirk-
lich sei.
Gutachten.
BeiK. AAmrden Avir zu unlersuchen haben: den Geisteszusland
vor der Tat, den BeAvußtsemszUstand bei Begehung der Tat und den
gcgenAvärtigen Geisteszus land.
Man Avird den Gerichtsärzten beistimmen müssen, Avenn sie
sagen, daß K. ein geistig minderAAuudiges oder, wie der nicht
glücklich geAvählte Ausdruck in deren Gutachten lautet, in min¬
derem Grade blödsinniges Individuum ist.
Es lassen sich zur Stütze' dieser Ansicht eine Reihe von
Tatsachen anführen.
K. hat in der Volksschule nur sehr geringe Fortschritte
gemacht, wobei allerdings der Umstand, daß er mehrere Jahre in
einer Klasse bleiben mußte, nicht viel besagt; denn die ganze
Schule hat nur drei Klassen. Aber das Abgangszengnis lautet
sehr ungünstig. K. sollte dann ein GcAverbe erlernen, das Bürsten-
bindergeAAmrbe, aber er Avar dazu unfähig. Er erreichte im drei¬
jährigen Militärdienst keine Charge; er besuchte die Mannsctiafts-
schule mit ungenügendem Erfolge. Er Avar zeitlebens nur zu den
einfachsten Taglölmerarbeiten fähig ; irgendAvelchen landAvirtscbaft-
lichen Arbeiten, die ein gewisses Maß von Geschicklichkeit er¬
fordern, Avar er nicht geAvachsen.
Selbst von den Häftlingsgenossen Avurdc K., Avie aus den
mit ihnen angestellten Protokollen hervorzugehen scheint, uiclit
als ganz voll, als geistig ebenbürtig genommen, sondern Avie ein
Schwachkopf behandelt.
Anderseits darf man auch den Grad dieser geistigen Minder¬
Avertigkeit nicht überschätzen. Derselbe war nicht so groß, um
K. bisher eine selbständige Lebensführung unmöglich zu machmi,
als einfacher Taglöhner, also in einer Lebensstellung, über die
HunderttaUsende nicht hinauskommen.
Ja, Avir sehen K. sogar einmal im Jahre 1898 in (dner Stel¬
lung, in der er, Avenn auch ganz im Jcleinen, als selbständiger
Unternehmer auftritt, dem andere ihre Arbeitskraft anverl rauen ;
die Affäre endete allerdings damit, daß K. den von ihm auf¬
genommenen Arbeitern mit dem Lohne durchging.
Wenn aber K. in dieser Stellung Schiff hruch litt, so ist daran
nicht sein intellektueller, sondern sein moralischer Defekt schuld.
Auch A'erdient beachtet zu AA'crdeii, daß K. von den Personen,
die in verschiedenen Lebensverhältuissen mit ihm zu tun hatten,
soAveit aus den Akten ersichtlich, nie als schwach- oder blödsinnig,
sondern als vollsinnig bezeichnet Avurde.
Es Avird diesen indirekten Anhaltspunkton bei der BeuiJei-
lung des früheren Geisteszustandes des K. ein größeres GeAvdeht
beizulegen sein als dem Ergebnis eines auf Erhebung seines
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Ink'll igcnzgra<1cs al)zielciHlen Examens, einer sogenannten In-
teiligenzpriifiing.
Denn erstens stellt K. gegenwärtig unter dem Verdaeld,
zu simulieren oder Avenigstens zu übertreiben; und so dumm
ist nicht leicht ein Schwachsinniger, daß er sich nicht noch
dümmer stellen könnte.
Ferner ist der gegenwärtige K. nicht der K. der V"er-
gangenheit, eine Tatsache, der die Gerichlsärzte, wie aus ihrem
Gutachten hervorgeht, nicht Rechnung getragen haben. Es ist
mit ihm, wie später auszuführen sein wird, in der Haft eine Ver¬
änderung vor sich gegangen.
Es ist daher nicht zulässig, aus dem gegenwärtigen Geistes¬
zustand des K. ohne weiteres auf seinen Zustand, vor der Tat
zu schließen.
Auch die Art, wie sich K. in der Zeit bis zur Hauptverhand-
lung verantwortete, läßt auf einen Grad von Intelligenz schließen ;
er hekundete nicht bloß einige Schlauheit, sondern auch geistige
Beweglichkeit und Voraussicht. Die lange Dauer der Untersuchung
ist ja darauf zurückzuführen, daß K. durch die Art seiner Ver¬
antwortung dem Richter nicht geringe Mühe bei der Feststellung
des Tatbestandes verursachte.
Man Avird dem einen der Gerichtsärzte beistimmen können.
AAmnn er in recht bezeichnender Weise K. als ein Individuum be¬
zeichnet, bei dem Schlüsse von mehr als zAvei bis drei Kategorien
nicht Vorkommen. Bildung von Aveit reichenden Gedankenketten
AA'ar offenlmr nicht Sache des K., aber innerhall) der seinem
Denken gesefzten engen Grenzen dachte er folgerichtig.
Es wird ferner auch die ethische Seite des Seelenlebens
des K. in Betracht zu ziehen sein.
Ein früh auftretender ethischer Defekt ist hei K. nicht nach-
zuAveisen. So mangelhaft auch seine Lernerfolge in der Volks¬
schule sind, im sittlichen Betragen erhielt er im Abgangszeugnis
die beste Note.
Beim Militär allerdings erfuhr K. elf Disziplinarstrafen, doch
befinden sich darantcr keine scliAvereren Vergehen, nur leichtere
Ucherlrelungen militärischer Vorschriften.
Nach der Militärzeit erfuhr K. jedoch eine Anzahl von Ab-
strafimgen.
M^enn Avir den weiteren Lebenslauf und die gerichtlichen
Abstrafungen des K. berücksichtigen, kommen Avir zu dem Schlüsse,
daß K. ZAAvar keine von selbst Avirksamen kriminellen Neigungen
hat; er ist kein Raufer, kein Trunksüchtiger, kein Spieler, er
ist eigentlich nicht eigentumsgefährlich, nicht in hohem Grade
genußsüchtig.
Aber er hat sehr Avenig moralischen Halt. Er braucht nur
etwas mehr Alkohol zu bekommen, den er schlecht verträgt, und
er stellt etAvas an; er braucht nur ein paar Gulden anvertraut
zu bekommen und er kann der Versuchung nicht Aviderstehen, sie
zu unterschlagen. Auf das Sexualleben Avird später einzu¬
gehen sein.
Es scheint auch, daß K. einen geAvissen Grad von Arbeits¬
scheu hat; nicht j-''nc Arbeitsscheu, die überhaupt j''de Arbeit
perhorresziert, sondern jene, die ihrem Träger Avenigstens jede
Ausdauer in der Arbeit unmöglich macht. Denn Avenn auch K.
nie Avegen Arheitsscheu oder Vagabondage bestraft ist, so hat er
doch seit seiner Entlassung vom Militär eine stattliche Reihe
von Dienstplätzen gehabt und viele Zeit ohne Arbeit und auf der
Wanderschaft Amrbracht; und es Aväre Avtmderhar, wenn er in
diesen Jahren keinen Posten gefunden hätte, avo Avenigstens die
l\Iöglichkeit \mrhanden Avar, länger als ein paar Wochen aus¬
zuhalten.
Was endlich das Geschlechtsleben des K. anbelangt, Avird
es sich empfehlen, bei demselben gleich im Zusammenhang mit
der ihm zur Last gelegten Tat zu sprechen.
Es drängt sich zuerst die Frage auf; Wie ist die Tat des K.
zu qualifizieren?
Sie als einfachen Raubmord aufzufassen, Avie es in der
Anklageschrift geschehen ist, Avar auch schon vor dem Geständnis
des K. nicht zitlässig. Die gleichzeitig in Verhandlung stehenden
Fälle N. und E., soAvie das ältere Faktum Ko. sprachen eine zu
deutliche Sprache, als daß man das dem Morde an der Sch. zu-
giTinde liegende sexuelle Motiv Amrkennen könnte. Es ist zu
klai’, daß der Stiefeldiebstahl nur eine ganz nebensächliche Rolle
spielt, daß K. die Stiefel nur nach vollführtem Morde, Avie der
vulgäre Ausdruck lautet, mitgehen ließ, ohne von vornherein
die Absicht gehabt zu haben.
Bei Berücksichtigung des sexuellen Momentes ergeben sich
aber mehrere Möglichkeiten. Es könnte sich um einen eigent¬
lichen Lustmord gehandelt haben, d. h. K. könnte ein in seinem
gescblecbllichen Empfinden so veraidagler Metiscb sein, daß er
bei der Ausübung von Grausamkeitsakten eine geschlechtliche
Erregung und Betriedigung lindet und könnte aus diesem Motiv
die Sch. ermordet haben. Oder aber es könnte sein, daß K. nur
ein Notzuchtsattentat plante und hei BcAvältigung eines Wider¬
standes, den er erfuhr, so weit ging, daß er die Sch. lötete.
Es könnte endlich in letzterem Falle auch' sein, daß erst
im Laufe des Gewaltaktus die Al)sicht eintrat., die Sch. zu löten,
indem K. die_ Sch. zuerst durch Schläge betäubt hatte und dann
im BeAvußtsein des bereits begangenen Verbrechens eine gefähr¬
liche Belastungszcugin durch Zuziehen des Halstuches definitiv
aus djem Wege zu räumen unternahm.
Vei'schiedene Momente scheinen eine der beiden letzteren
EAmnluali täten wahrscheinlich zu machen. AMr allem hat der
Fall Sch. eine gCAvisse Aehnlichkeit mit den Fällen N. und E.
Und AAumn K. die beiden letztgenannten Frauen mißhandelte,
so geschah es anscheinend bloß zu dem ZAvecke, um einen ihm
geleisteten M^iderstand zu überAvinden oder aus Aerger über den
gefundenen Widerstand.
Die Darstellung, die K. von seinem Verbrechen gibt, scheint
diese Annahme zu stützen. Er erzählt, Avie er die Sch. über¬
wältigen wollte, Avie er ihr dann, Aveil sie sich wehrte, ein Paar
herunterhaute und sie dann erdrosselte, angeblich aus iVerger,
Aveil sie ihm nicht zu Willen Avar und er fürchtete, daß man
ihr Schreien in den Nachbarhäusern hören könnte.
Es liegen aber doch auch Vlomente vor, die an die Mög¬
lichkeit eines eigentlichen Lustmordes denken lassen.
Man braucht dabei nicht die anderen Frauenmorde heran¬
zuziehen, die in derselben Zeit, in der K. die ihm nachgeAviesenen
geschlechtlichen GeAvaltlaten beging, in Oberösterreich ausgeübt
Avurden.
Der Verdacht der Täterschaft des K. konnte ja bezüglich
dieser Morde durch nichts erwiesen Averden.
Aber schon das Faktum Ko. gibt zu denken. In diesem
Falle hat K. das Opfer seiner Lüste, soviel A\mnigstens aus den
Akten zu ersehen ist, bloß geAvürgt, ohne einen eigentlichen Ge¬
schlechtsakt zu versuchen. K. stand zAvar damals unter dem Ein¬
fluß reichlich genossenen Alkohols; es ist aber bekannt, daß
krankhaft-kriminelle Triebe häufig im nüchternen Zustand unter¬
drückt AAmrden, Avährend der Alkohol diese Hemmungen hin-
Avegräumt.
Es Avird ferner notAvendig sein, näher darauf einzugehen,
Avie das Geschlechtsleben des K. überhaupt beschaffen Avar.
Wir erfahren aus den Akten von fünf Fällen, in denen
K. den Geschlechtsgenuß anstrebte, davon betreffen vier Fälle
alte Frauen zAvischen 64 Und 76 Jahren. Es ist gewiß höchst
merlcAvürdig, einem Menschen in den Jahren des K. zu sehen,
der mit Vorliebe alte Frauen zur Befriedigung seiner Geschlechts¬
lust ausAvählt. Wenn uns aber mit dem Erstaunen über diese
durch Tatsachen erhärtete Neigung abgefunden haben, Averden
Avir der Vermutung Raum geben müssen, daß diese zur Kenntnis
des Gerichtes gekommenen Fälle nicht die einzigen sein dürften,
in denen sich diese abnorme Geschmacksrichtung des K. kund¬
gab. Denn es Aväre doch zu verAvundern, Avenn K. mit seinen
Werbungen auf einem Felde, avo die Konkurrenz so gering ist,
immer nur auf energische AbAAmhr und nicht auch hie und da
auf dankbare Hingabe gestoßen Aväre.
Und das mit K. angestellte Examen bringt uns nicht nur
eine Bestätigung dieser Vermutung, sondern zugleich auch eine
Aufklärung, wieso diese abnorme Geschmacksrichtung bei K. über¬
haupt entstehen konnte.
K. hat im Laufe der von dem Gefertigten angestellten
Examina zugegeben, daß er in Aviederholten Fällen den Geschlechts¬
verkehr mit alten Frauen angestrebt und erreicht habe; ei’ hat
ferner die Avichtige und aufklärende Tatsache mitgeteilt, daß er
seines ersten, im 17. Lebensjahre erfolgten, Beischlafes durch
Verführung seitens einer alten Frau teilhaftig AAUirde.
Wer weiß, Avie Avichtig für die zukünftige Entwicklung des
geschlechtlichen Empfindens, besonders bei Psychopathen, die
Umstände sind, unter denen sich die ersten heftigen Geschlechts-
erregungen vollziehen; AAue die zufällige Verkettung der letztefen
mit bestimmten Nebenumständen, die meisten Fälle von soge¬
nanntem Fetischismus erklärt: der Avird es begreiflich finden,
daß sich bei K. die geschlechtliche Hinneigung zu alten Frauen
entAvickeln konnte.
Daß diese Neigung bei K. Avirklich besteht, dafür spricht
ein Umstand, für den zAvar K.’s eigene Aussage allein als BeAAmis
vorliegt; diese Aussage ist aber unverfänglich, da K. die Be¬
deutung dieses Umstandes nicht kennt; denn gelehrte Werke
über Psychopathie des Geschlechtslebens hat er geAviß nicht ge¬
lesen. K. gibt nämlich an, daß in seinen Träumen geschlechtlichen
Inhaltes auch stets alte Weiber eine Rolle spielen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Nelienlici sei bemerkt, daß K. eine besondere Neigung zu
jüngeren Fj’anenzinnnern überhaupt nicdd gehabt zu liaben scbeint ;
ein in den Akten nachgewiesener einmaliger Verkehr mit einer
27jährigen Dirne soll naxdi seiner Angabe der einzige (iescblecbis-
verkehr mit einer jüngeren .Person gewesen sein.
Es läßt sich ferner aus xVussagen K.’s, die er allerdings
zögernd und unbeslimmt machte, vielleicht noch etwas melir
enlmdnnen. K. gibt über Defiagen, ob er beim Gescbleclitsakt
irgendwelche Gewalt angewendet habe, zunächst nur zu, daß
er die betreffenden Weiber fest an sich gedrückt habe, wobei er
A'om Ansicbdrücken so spricht, daß darunter keineswegs eine
Idebkosung verstanden werden kann. Er gibt ferner zu, in einem
Falle, der nicht gerichtlich wurde, die Frau beim Halse gepackt
zu haben; daß er ihr wehgetan habe, leugnet er nicht, sondern
gibt nur an, er wisse es nicht mehr. In einem anderen .Falle
gibt er an, er wisse nicht mehr, ob er die ßetreftende bei
der Gurgel gepackt habe.
Er gibt ferner an, daß es auch in seinen Träumen vor-
konnne, daß er AVeiber würge, doch sei das nicht immer gleich.
Es ist also nach dem Gesagten auch mit der IMöglicbkeit
zu rechnen, daß bei K. sadistische Neigungen vorhanden sind
und es könnte der Fall Sch. doch die Bedeutung eines Lust¬
mordes haben.
Wie es sich in Wirklichkeit verhielt, ob der Fall Sch. ein
lAishnord war, oder nicht, dürfte sich heute schwerlich mehr
entscheiden lassen; denn selbst das Bestehen sadistischer Ge¬
lüste bei K. zugegeben, genügt das noch nicht zum Beweis,
daß die an Sch. verübte Tat ein Lustmord gewesen sei. Nur dann
würde die letztere Annahme fast Gewißheit werden, wenn dein K.
die Täterschaft an einem der anderen unaufgeklärten Frauenniorde
nachgewiesen werden könnte.
Es ist aber zum Glücke für die strafrechlliche Beurteilung
des Falles von geringerer Erheblichkeit, ob K. Sadist und ob
der Fall Sch. ein Lustmord ist oder nicht.
Denn sadistische Gelüste dürften zwar, wenn auch nicht
ausschließlich, so doch vorwiegend bei psycbopatbisch veran¬
lagten Individuen Vorkommen; aber man findet sie auch bei
intellektuell und moralisch hocbs teilenden Psychopathen, die der
stiuf rechtlichen Verantwortlichkeit unstreitig nicht entbehren. Und
es ist ferner zu berücksichtigen, daß den Anomalien des geschlecht-
lieben Empfindens, insofern dieselben Motive strafbarer Hand¬
lungen werden, Gegemnotive widerstreiten, die das Zustande¬
kommen solcher Handlunigen in der Regel verhindern, d.h. bei vielen
mit solchen xVnomalien Behafteten überhaupt verhindern und bei
jenen, die im Einzelfalle kriminell werden, doch auph häufig und
durch lange Zeit verhindert haben. Und auch K. hat ja sicher
seine geschlechtlichen Genüsse häufig in einer nicht kriminellen
Weise befriedigt.
Es kann also das Vorhandensein sadistischer Gelüste nicht
als ein Argument gegen die Annahme strafrechtlicher Verantwort¬
lichkeit verwertet werden, wie ja überhaupt die Verwertung krimi¬
neller Willensrichtungen als Beweisgründe gegen die strafrecht¬
liche Verantwortlichkeit ein logischer Fehler ist. Nur als mil¬
dernder Umstand könnte nachgewiesener Sadisjnus angesehen
Averden, indem er bei dem Behafteten kriminelle Impulse be¬
dingt, die dem geschlechtlich normal Empfindenden fehlen.
Was ferner den Lustmord als folgenscliAverste Aeußerung
des sadistischen Gelüstes anbelangt, so wird der Nachweis des¬
selben an und für sich auch nicht imstande sein, den Täter als
der strafi’echtlichen Verantwortlichkeit beraubt zu kennzeichnen;
sondern cs wird hiczn entweder der Nachweis einer dauernden
Geistesstörung odei‘ aber einer kraidxhaften Bewußtseinsstörung
oder aber einer krankhaften BeAvußtseinsstörung zur Zeit der
Tat notwendig sein.
Daß das erstere bei K. nicht zulrifft, würde eingangs be¬
reits ausgefübrt; es wird also jetzt zu untersuchen sein, ob
I)ei K. eine krankhafte Störung des BcAvußtseins zur Zeit der
Tat vorliegt.
Die häufigste Ursache krankhafter BeAvußtseinsstörungen,
die Epilepsie, kann ohne Averteres ausgeschlossen Averden, da
nicht dei' mindeste Anhaltspuidct dafür vorliegt, daß K. je ei)ilep-
lische Anfälle oder iigendwclchc ihre Stelle vertretende opilep-
Unde Anfälle, transitorische BeAAudMseins'störungen od. dgl. ge¬
habt babe. Ausscbließen läßt sich auch, daß K. die Tat in einem
Zustand der Berauschung begangen habe. Es liegt gar kein
Grund zu einer solchen Annahme vor; nicht einmal die eigene
Angabe des Täters, der einen der Tat unmittelbar vorangegan¬
genen Trunkejezeß sicher nicht verscliAviegen hätte.
Doch kann man die Vermutung, daß dem Alkobolgenuß ein
gewisser Einfluß auf ilie Tat zukoinme, nicht ganz von der Haiid
Aveisen.
Die früheren sexuellen Delikte des K. AAUirden alle unter
dem Einfluß des Alkohols begangen U. zav. das Faktum Ko. höchst-
Avahrschehilich im Zustand der Berauschung, die Fakten N. und
E. mindestens im angetrunkenen Zustand. Zieht man ferner in
Betracht, daß K. intolerant gegen Alkohol zu sein plausiblervvcise
(mit Rücksicht auf seine Schädeldifformität) angibt, daß K. die
Nacht vom 29. auf den 30. April nacluAmisbar durchgezccht hatte
und daß er seiner Angabe nach am 1. Älai am frühen IMorgen
vor der Tat ein Glas Schnaps getrunken hat, so muß man cs
immerhin als Avahrscheinlicli bezeichnen, daß K. die Tat unter
alkoholischem Einfluß begangen habe. Sehen Avir doch alltäg¬
lich, daß Amrbrecherische Neigungen, die im nüchternen Zustand
unterdrückt Averden können, unter dem Einfluß des Alkohols
die ihnen entgegenstehenden Hemmungen überAvinden.
Doch war der Einfluß des Alkohols im vorliegenden Falle
sicher nicht so groß, um die strafrechtliche VerantAvortlichkeit
aufzuheben. Höchstens unter den mildernden Umständen könnte
er Platz finden.
Von Aveiteren Zuständen krankhafter BeAAmßtseinsstöruhg
kann im vorliegenden Falle nur noch der pathologische Affekt
in Frage kommen. Es Avärc an die Möglichkeit zu denken, daß
infolge der sexuellen Erregung einerseits, des Zornes über den
Vorgefundenen AViderstand anderseits bei K. ein Affekt von einer
solchen Höhe entstand, daß dadurch BeAvußtsein und Ueber-
legung ganz ausgeschaltet Avurden und das Handeln ein rein
triebartiges Avurde.
Für den Grad der BeAvußtseinsstörung gibt der Zustand
des Erinnerungsvermögens den wichtigsten Anhaltspunkt und hat
einer der Sachverständigen des Landesgerichtes in L., gerade
gestützt auf einen angel)lichen Erinnerungsdefekt, die Möglich¬
keit einer krankhaften BeAvußtseinsstörung angenommen.
Es Avird also zu untersuchen sein, ob ein solcher Erinne-
rungsdefekt überhaupt vorliegt. Man ist zur Entscheidung dieser
Frage ausschließlich auf die Geständnisse des Inkulpaten an¬
gewiesen, die er bei den beiden HaupLverhandlungen und dem
Untersuchungsrichter gegenüber machte, denn anderen Personen
hat er über den IMord, soviel hekamit, keine IMitteilungen gemacht.
Man Avird sich ferner vor Augen halten müssen, daß aus
solchen Geständnissen meist nur der negative BcAveis des Er¬
innerungsdefektes geführt Averden kann, nicht aber der positive,
d. h. Avas der Untersuchte spontan mitteilt, an das erinnert er
sich; Avas er verscliAAmigt oder in Abrede stellt, kann deshalb
noch immer in seiner Erinnerung vorhanden sein.
Wenn Avir von diesem Gesichtspunkt aus die Geständnisse
des K. untersuchen, so zeigt sich, daß er allerdings in einzelnen
Geständnissen Details nicht zu Avissen vorgibt, über die er aber
in anderen Geständnissen Mitteilung machte. So' will sich, um
gleich den Avichtigsten Punkt hervorzuheben, K. vor dem Unter¬
suchungsrichter, am 12. j\Iärz, nicht daran erinnern, daß er die
Sch. mit einem Tuche erdrosselt habe, sondern nur an ein Würgen
mit der Hand; bei der ZAveiten Hauptverhandlung am 25. Sep¬
tember stellt er auch das tVürgen in Abrede; bei der ersten
Hauptverhandlung am 12. IMärz hat aber K. angegeben, daß die
Ermordete' ein Tuch um den Hals gehabt habe und daß er sie
erdrosselt habe u. zw. habe er dies aus Zorn getan, weil sie ihm
nicht zu Willen Avar. Nur setzt er hinzu, er könne nicht be¬
stimmt sagen, Avie er zugeschnürt habe.
"Wenn man auf diese Weise alle drei Geständnisse durch-
musLort, Avenn man insbesondere die detaillierten Angaben be¬
rücksichtigt, die K. am 12. März gemacht hat, so bleibt eigentlich
als Stütze fi'ir die Annahme eines Erinnerungsdefektes nur ein
Moment übrig; K. bebauptet jedesmal übereinstimmend, daß er
die Seil, nur mit der Hand auf den Kopf geschlagen habe, Aväh-
reml die obduzierenden Gerichtsärzte angeben, daß die Schläge
gegen den Schädel mit einem stockarligon Instmment geführt
sein müssen, Avobei noch zu bemerken ist, daß dieses Instrument
Aveder am Tatort, noch bei K. Amr oder nach der Tat nachgewiesen
Averden konnte.
Es ist aber sicher unzulässig, die Annahme eines Erinno-
rungsdefektes in einer zudem nebensächlichen Frage ))loß auf
die Unmöglichkeit eines gerichtsärztlichen Irrtums zu gründen;
um so mehr, als ja auch noch die Möglichkeit vorliegt, daß K.
in diesem Punkte nicht die Wahrheil spricht, eine ^Möglichkeit,
die auch der SacliA’erständige in L. zugegeben hat.
Ein Aveiteres Moment, welches gegen eine ki’ankhaflo Bc-
AViißtseinsstörung spricht, ist der Umstand, daß in dem Vorgehen
des K. noch ein geAvissor Grad von Ueberlegung bemerkbar ist.
In dieser Richtung ist z. B. die Angabe dos .Angeklagkm
sehr bemerkensAvert, daß er der Sch., naididom sie tot war, die
Röcke, ilie hinaufgeschlagen Avaren, Avieder herunterzog, um, Avie
Nr. 17
Wiener klinische Wochenschrift. i907.
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er selfjsl. allgibt, die gescblecldliehe Nadur des an der Eriuor-
delen verübten Attentates zu verheimlicben.
Es ist also ein Anbaltspnnkt für die Annahme eines patho-
logisclien Affektznstandes nicht vorhanden und ist die Angabe
des K., daß er nacti der Tat ganz außer Sinnen gewesen Tei,
wohl so aufzufassen, daß sich seiner eine durcli die Tatumstände
ganz begreifliche Aufregung liemächtigte.
Es wird ferner noch der gegenwärtige (Jeisteszustand des K.
zu charakterisieren sein. Mit K. ist im Imufe der Untersuchung
eine auffallende Veränderung vorgegangen, die sich nicht bloß
auf sein geistiges Verhalten, sondern auch auf Gang und Sprache
erstreckt.
Während die Gangart des K. früher als eine militärische
hezeichnet wird und die dem Strafakt heiliegenden Photogra¬
phien einen Mann von strammer Haltung: zeigen, bähen wir
heute einen anscheinend gehrochenen Mann vor uns, der in
zusammengesunkener Haltung mit gekrümmtem .Rücken und ge¬
knickten Beinen dasteht und, in allen seinen Bewegungen äußerst
träge, sich mit langsamen, schlürfenden Schritten vorwärts bewegt.
Und während er früher gut und zusammenhängend sprach
(Votant P.), sogar schneidig, wie eine Zeugin (Frau H.) sich
ausdrückl, spricht er heute spontan überhaupt kaum etwas ; man
muß ihm jedes Wort herausziehen; und seine Antworten er¬
folgen erst nach geraumer Zeit, wie wenn ein Widerstand zu
überwinden wäre; er spricht stotternd und stockend, meist nur
in abgerissenen W^orten oder kurzen Reden, ohne richtiges Satz¬
gefüge.
Ebenso groß ist die Veränderung, die mit K. auf geistigem
Gebiet vorgegangen ist. Es läßt sich der Unterschied zwischen
jetzt und früher besonders auf dem Gebiete des Gedächtnissea'
feststellen. W'ährend der Unlersuchung machte K. über seine
früheren Erlebnisse vielfach sehr genaue Angaben mit Anführung
von genauen Datumsangaben, von Oertlichkeiten, Personen und
Umständen.
W^enn z. B. K., der sein Leben an der Donau u. zw. teil¬
weise als Sebiffmann zugebracht hat, die Ortschaften an der
Donau zwischen L. und K. nicht aufzählen kann, erst mit Nach¬
hilfe einige nennt und die Mehrzahl ausläßt, so ist das ein Ge¬
dächtnisdefekt, der hei K. früher gewiß nicht vorhanden war.
Wenn K., um ein weiteres Beispiel anzuführen, die Monate nicht
aufzählen kann, nur acht bis neun aufzählt u. zw. hei mehr¬
facher Wiederholung immer den Juni vor dem April und Alai,
so ist das auch ein Mangel von Kenntnissen, den K. zur 'Zeit'
der Untersuchung nicht hatte; denn er hat, als es sich dos Alibi
wegen um genaue Datumangaben handelte, viele solche Angaben
bezüglich seiner Dienstplätze geliefert u. zw. mit einer Präzision,
daß sich sogar der Untersuchungsrichter einmal darüber wunderte.
Es ist das aber gleichzeitig ein Gedächtnisdefekt, von dem
es nachweisbar ist, daß er auch gegenwärtig nicht vorhanden
ist, sondern nur vorgetäuscht wird. Denn unmittelbar vor dieser
fehlerhaften Aufzählung der Monate hat er hei Besprechung der
von ihm verübten Tat und der Zeit seiner Inhäftierung den Juni
ganz richtig hinter den April und Mai lokalisiert und nicht vor
diesen Monaten, wie er es hei der umnittelhar darauf erfolgten
Aufzählung der Monate hartnäckig tat.
Wenn K. ferner den Namen der Frau nicht weiß, die ('r
umgehracht hat, die Zeit nicht, wann das geschehen ist und den
Ort nicht, wo er zu dieser Zeit gewohnt hat, so geht aus den
Verhörsprotokollen hervor, daß K. alle diese Dinge in einem
früheren Stadium der Untersuchung sehr genau gewußt hat. Es
ist überhaupt die ganze anfängliche Verantwortung des K. un¬
vereinbar mit der Annahme, daß so schwere Gedächtnisdefekte,
wie er sie jetzt darhietet, schon zur Zeit der strafgerichllichen
Untersuchung bestanden hätten.
Bei diesem Stande der Dinge werden natürlich anschei¬
nende Defekte von Kenntnissen und Erinnerungen, deren früheres
Bestehen sich gar nicht kontrollieren läßt, für die Beurteilung des
Geisteszustandes des K. zur Zeit der Tat wertlos.
K. betont übrigens von allem Anfang an dem Gefertigten
gegenüber immer wieder seine Gedächtnisschwäche, daß er sich
nichts habe merken können, so daß eine gewisse Absichtlich¬
keit nicht verkannt werden kann. Anderseits hält die angebliche
Gedächtnisschwäcbe des K. einem energischen Andiüngen nicht
immer stand; er erinnert sich dann noch an Dinge, die er kurz
vorher nicht zu wissen vorgab.
P'eber die Natur der Veränderung, die mit K. vorgegangen
ist, können uns einerseits Zeit und Umstände ihres Eintretens,
anderseits die körperliche Untersuchung einen Aufschluß ge¬
währen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die besagte Ver¬
änderung mit K. zwiseben der ersten und zweiten Hauptver¬
handlung vor si(di gegangen ist, also zwischen 12. März und
25. September 1901.
Ueber die Sprache dos K. finden wir zum erstenmal eine
Bemerkung in dem Protokoll über das nach der ersten Haupt¬
verhandlung angestellte Verhör vom 12. März, wo K. selbst sagt,
daß er nicht fließend erzählen kann. In dem .Gutachten der
Gerichtsärzte vom 3. Juni ist die Sprachstörung schon ausdrück¬
lich vermerkt. K. selbst gibt übrigens an, daß die Sprachstörung
nach der Vertagung: der Hauptverhandlung begonnen habe, daß
sie aber seithe]' immer stärker geworden sei.
Es war das in der Zeit, als K. nach seinem* Geständnis
in den Verdacht kam, auch an weiteren Frauenmorden beteiligt
geAvesen zu sein irnd die Untersuchung daraufhin ausgedehnt
wurde. Wie heftig dies auf das Gemüt des K. einwirkte, ersehen
wir aus dem heftigen Erregungszustand, den K. bei dem Verhör
am 2. Juni zeigte ; wir erfahren ferner aus den Aussagen der
Mithäftlinge, daß ihn die Sache auch im Traume beschäftigte
u. zw. so lebhaft, daß er laut dabei sprach.
Die körperliche Beschaffenheit des K. ergibt aber sichere
Zeichen von Hysterie, nämlich eine ungemeine Hyperästhesie
der Haut, so daß schon hei leichtesten Nadelstichen jedesmal
ein heftiges Zusammenzucken des ganzen Körpers stattfindet;
ferner sehr ausgesprochene Dmekhyperästhesie an verschiedenen
Körperstellen mit je nach der Stelle verschiedenen Reflex¬
zuckungen beim Drucke auf die einzelnen Punkte. Aidialtspunkte
für die Annahme irgendeines anderen organischen oder funktio¬
neilen Nervenleidens fehlen vollständig.
Es wird also die körperliche und seelische Veränderung, die
hei K. unter dem Einfluß heftiger Gemütsbewegung und in Be¬
gleitung hysterischer Stigmen aufgetreten ist, als Aeußerung der
Hysterie aufzufassen sein.
Unter dieser Vorraussetzung werden die schweren, einen
Verhlödungsprozeß vortäuschenden Gedächtnisstörungen ver¬
ständlich, denn Gedächtnisstörungen sind hei schwerer Hysterie
und besonders hei der Hysterie von Untersuchungsgefangenen ein
gewöhnliches Symptom.
Damit ist eigentlich auch die Frage der Simulation, die hei
der zweiten Hauptverhandlung aufgeworfen und von den Ge¬
richtsärzten teilweise bejahend beantwortet wurde, erledigt; denn
es gibt, insofern es sich um einfache geistige Defekte handelt,
keine scharfe Grenze zwischen Hysterie und Simulation ; das
Nichtwollenkönnen und das Nichtkönuenwollen gehen umnerk-
lich ineinander über und es wird nie zu entscheiden sein, inwie¬
weit hei dem Zustandekommen von Erinnerungsdefekten die durch
die Lage des Untersuchungsgefangenen bedingten Autosuggestionen
eine Rolle spielen.
Es ist aber unter diesen Umständen selhstverständlich nicht
statthaft, aus dem jetzigen Geisteszustand des K. einen Schluß
auf den Geisteszustand zur Zeit der Tat zu ziehen.
Die gefertigte medizinische Fakultät faßt demnach ihr Gut¬
achten in folgende Sätze zusammen :
1. K. ist ein in leichtem Grade 'schwachsinniges, psycho¬
pathisch minderwertiges Individuum ; es erreicht aber der geistige
Defekt bei ihm nicht einen so hohen Grad, daß dadurch die
strafrechtliche VeranlAvortlichkeit ausgeschlossen wdirde.
2. Es ist nicht nachweisbar, daß hei K. zur Zeit, als er
den Mord an der Sch. beging, eine patJiologische Bewußtseins¬
störung bestanden habe.
3. Gegenwärtig leidet K. an Hysterie und sind die hei ihm
jetzt vorhandene Gang- und Sprachstörung, sowie die geistigen
Defekte, insoweit nicht Willkür dabei im Spiele ist, als Aeuße-
j'ungen der Hysterie anzusehen.
Die Hysterie des K. ist ein heilbares Leiden und bebt die
Strafvollzugsfäliigkeit des Inkulpaten nicht auf, doch ist dieselbe
heim Strafvollzug zu berücksichtigen.
*
K. wurde am 10. Mai 1902 in die Strafanstalt G. und am
13. Juni 1906 in die Strafanstalt S. zur Verbüßung seiner lebens¬
länglichen Kei'kerstrafe gebracht.
Der Arzt der Strafanstalt in S. berichtet, daß K. ein in
Iciclitem Grade schwachsinniges Individuum ist; daß er wenig
spi'icht und mit den anderen Sträflingen sehr verträglich ist.
Als erwälmenswert herichtet er noch folgende Aeußerung
des K., die er, als er, am Fenster sitzend, ein altes Weih vor¬
übergehen sah und sich unheobachtet glaubte, für sich selbst
binsagte: ,,Dio wär’ noch gstelll, der könnt’ man ihn noch'
einihau’n.“
Aus den Mitteilungen des Anstaltsdirektors, der durch
3V2 Jahre in G. und S. Gelegenheit batte, K. zu beobachten,
ergibt sich noch folgendes:
öOi
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1007
Nr. 17
K. luil während Keiner Haft ein geradezu innslerhaftes Ver-
iialtcn an den Tag gelegt. Er hat sich wegen keiner einzigen
Uehertretung der Hausordnung zu verantworten gehabt und ist
— eine Seltenheit — nie disziplinär geahndet worden.
Er machte den Eindruck eines Alenschen, der genau das
Bewußtsein der Größe seines Verbrechens in sich trägt, die
Schwere der Strafe der Tat angemessen findet und sich daher
mit den bestehenden Verhältnissen abgefunden und damit seine
innere, natürlich relative, Zufriedenheit erworben hat.
Anzeichen mangelnden oder gestörten Erinnerungsvermögens,
dann Sidiwierigkeit der Sprache u. dgl. wurden nie bemerkt.
An dem Vollbesitz seiner geistigen Kräfte wurde nie gezweifelt.
Ebensowenig wurde je an ihm irgend eine sexuelle Verirrung
bemerkt.
Bei K. muß noch eine sehr große Anhänglichkeit an seine
Rtutter hervorgehohen werden; um derselben näher zu sein, resjjek-
tive von ihr besucht werden zu können, hat er mit Geldopfern
seine Versetzung aus G. nach S. durchgeführt.
{Referate.
Das System der Skiaskopie und Ophthalmoskopie vom
Standpunkt der physischen, physiologischen und
geometrischen Optik.
Von Dr. Hugo Wolff.
• Berlin 1906, S. Karger.
Der Verfasser, der sich durch seine Arbeiten über Skia¬
skopie und sein elektrisches Skiaskopophthalmometer längst einen
Namen unter den Fachgenossen geschaffen hat, legt uns in
diesem Buche die Grundzüge seiner Theorie der Skiaskopie in
übersichtlicher Weise vor. Aber nicdit bloß auf die Skiaskopie,
sondern auch auf die Ophthalmoskopie im aufrechten und um¬
gekehrten Bilde dehnt sich die Betrachtung aus, denn es ergibt
sich, daß zwischen diesen Methoden nicht so wesentliche Unter¬
schiede bestehen, wie man allgemein annimmt; vielmehr lassen
sich alle drei als Spezialfälle in der Anordnung der einzelnen
Glieder jenes komplizierten optischen Systems darstellen, das
aus dem iVuge des Untersuchten und des Beobachters mit dem
Augenspiegel zwischen beiden besteht. Der letztere spielt eine
doppelte Rolle, namentlich bei der Skiaskopie, einmal als licht¬
reflektierende Fläche, das andere Mal als Blende.
Wolff hat den einzig richtigen AVeg betreten, der zu
(dner Lösung der hier vorliegenden Probleme führt, indem er
von der Ab besehen Lehre von der Blendenwirkung ausgeht.
So allein gelangt man auch zu einem Ahu'ständnis von Einzel¬
heiten, ja es zeigt sich geradezu, • daß solche Einzelheiten von
höherer Bedeutung sind, als man ihnen bisher zugeschrieben hat.
Als solche Einzelheit wäre zunächst die zentrale graue
Scheibe zu erwähnen, mit ihrer auf den ersten Blick regel¬
widrigen Bewegung, die sich als die Zerstreuungsfigur des Spiegel¬
loches erweist. Der eigentliche Richtungswechsel in der Schalten¬
bewegung ergibt sich als ein Problem der Locbabbildung durch
den Augenspiegel iind der Moment, wo der Fernpunkt des unter¬
suchten Auges mit dem Spiegelloche zusammenfällt, ist der Mo¬
ment des Richtungswechsels.
Es wäre längst besser um die Theorie der Schattenprol)e
bestellt, wenn man nicht immer versucht hätte, das allerdings
komplizierte Ih'obleni zu vereinfachen. Solchen von vorn¬
herein eingeführlen Vereinfachungen weicht der Verfasser aus,
denn die Lehre von der Ein- und Auslrittspupille ist nicht eine
Vereinfachung, sondern ei’inöglicht nur eine klarere Darstellung.
Aber immer noch hleil)t das Problem der Schattenprohe in
dieser Form eine barte Nuß, selbst für den, der in Ei'agen
der physiologischen Optik sattelfest ist.
Es wäre im Interesse des Lesers wünschenswert, wenn
Wolff versuchte, den etwas komplizieriien Satzhau seiiun"
Sprache zu mildern. Auch nimmt Wolff allzuviel auf sein
eigenes Instninnnd, mit den ihm eigentümlichen Beleuchtungs¬
verhältnissen Rücksicht. Denn nach der allgettieinen Fassung
des 'l'itels sollte man aiich eine allgemein gültige 'l'heorie der
Schatt('nprobe erwarten; und es ist sicher, daß die Methode,
auch niil Ophlhalmoskopierlanipe und gewöhnlichem l’lanspiegel
aiisg(dührl, imnun' noch eiiu' sehr ('xakt(‘ ist.
Doch das sind Kleinigkeiten, die den Wert des Buches
nicht zu beeinträchtigen vermögen.
*
Die Chirurgie des Auges und seiner Adnexe.
Von Dr. Felix Tcriicu.
Ins Deutsche übertragen von Dr. Eugen Kauffinann.
München - Paris 1 906, Reinhardt.
Nach einer kurzen Einleitung, die von der Vorbereitung
zur Oueralion und von der speziellen chirurgischen Anatomie des
Auges handelt, schildert der Verfasser zunächst die Oimrationen
am Augapfel selbst und dann die an der Augenhöhle und den
Adnexen. Die Schilderung ist leicht faßlich und genau und wird
durch eine große Anzahl lehrreicher und, w'enn auch einfach,
aber doch sorgfältig ausgeführter Abbildungen unterstützt. Der
Verfasser legt viel AVert auf eine richtige Indikationsstellung
und ist in dieser Hinsicht exakt und vorsichtig; wie es die
Natur der Sache init sich bringt, geht er hiebei vielfach auch aut
die nicht operative Therapie ein, so daß das Buch nicht die
Chirurgie, sondern vielmehr die Therapie der chirurgischen Er¬
krankungen des Auges umfaßt. Kurz, es geht ein wohltuender
Zug von Objektivität und Kritik durch das Buch und das muß
um so mehr hervorgehoben werden, als man bei französischen
Publikationen ganz anderes zu finden gewohnt ist. Es sind auch
viel deutsche Autoren in dem Buche zitiert.
Aber wie das Buch aus dem klinischen Unterrichte hervor-
gegangen ist, so ist die Technik, die es lehrt, die einer ganz
bestimmten Schule, der Schule von Pan as. Damit soll ihm aber
nicht der Ahu'wurf der Einseitigkeit gemacht sein, denn jedem
scheint die Methode, die er seit langem übt, auch die einfachste
zu sein. Nur daß er manche Abweichungen von seiner Methode,
wie z. B. die Fixatioii am unteren Hornhautrande als entschieden
verwerflich bezeichnet, finde ich nicht gerechtfertigt. Dem Ge¬
brauche der linken Hand ist er durchaus abhold, nicht einmal
bei der Sondierung des rechten Tränennasenganges bedient er
sich der linken Hand. Auch narkotisiert er mehr, als es nach
unseren Begriffen nötig ist, doch das hängt vielleicht mit einer
größeren Empfindlichkeit seines Krankenniateriales zusammen.
Der Uebersetzer dieses im .fahre 1902 in französischer
Sprache erschienenen Buebes hat seine Aufgabe meisterhaft ge¬
löst; man merkt es bei der Lektüre gar nicht, daß man eine
Uebersetzung vor sich hat.
AAhr verdanken ferner dem Uebersetzer einige Details über
die öligen Kollyrien, die in Deutschland noch wenig bekannt sind.
Endlich sind auch übei' Veraidassung des Autors in dem Kapitel
über die Staroperation Aenderungen vorgenommen, insoferne die
Indikationsstellung zugunsten der kombinierten Methode ver¬
schoben erscheint.
Mitteilungen aus der Augenklinik des Karolinischen-
mediko-chirurgischen Institutes zu Stockholm.
Herausgegeben von Prof. J. AVidmark.
Heft 8.
Jena 1906, G. Fischer.
Dalen hatte Gelegenheit, einen sehr frischen Fall von
Tabak-Alkohol-Andilyopie zu untersuchen, der neun AVoeben nach
dem Auftreten der Krankheit durch Selbstmord endete. Es zeigte
sich, daß die Krankheit als eine primäre Degeneration des papillo¬
makulären Bündels aufgefaßt werden müsse; denn es fand sich
nur unbedeutende AVueberung der Neuroglia und keine Verände¬
rung an den bindegewebigen Septen, während der Zerfall der
Nervenfasern zwar noch nicht durch die AVei ger t sehe, w'ohl
aber durch die AI arch i sehe Färbung nachweisbar war. Einige
Details üb(U' den weiteren AUrlauf der Sehfasern bis zum äußeren
Kniehöcker beschließen die interessante und sorgfältige Arbeit.
Derselbe Autor hat ferner sehr eingehende Untersuchungen
über die Gestalt der Linse in verschiedenen Lebensaltern vorge¬
nommen. Die Untersuebungen wurden an toten Augen mit dem
Ophthalmometer gemacht. Sie bestätigen zunächst die Angabe
Tschernings von der Abflachung der vorderen Linsenfläche
gegen die I^erii)herie hin, stützen aber sonst die v. Helmholtz-
sche Akkommodationstheorie. Denn auch am toten Auge besitzt die
Zonula noch Spannung genug, um zu verhindern, daß die Linse
ihre Eigenform annebme. Nach Dnrehtrennung der Zonula tritt
besonders beim jugendlicben Erwachsenen eine beträchtliche A'^er-
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
505
kleinerung des Radius der vorderen Liiisenfläche ein, die bei
Leuten zwischen Id und 38 Jahren durchwegs' über 4 nun ])etrug.
Gertz sucht dui'ch Ermittlung der Parallaxe des umge¬
kehrten Fundushildes gegen die Reflexe der dazu verwendeten
Linse die Refraktion zu bestimmen. Die Idee ist originell und
die theoretische Begründung unanfechtbar; oh es sich aber auch
praktisch durchführen läßt, ist eine andere Frage, da die zur
Erzielung der Parallaxe auszuführenden Bewegungen, wenn sie
aus freier Hand ansgeführt werden, wohl zumeist die nötige
Priizision vermissen lassen.
Es folgt dann eine statistische Arbeit über Staroperalionen
von Lundberg, endlich ein Artikel von Widmark selbst über
das Vorko.mmen von Blindheit in den skandinavischen Lcändern
am Eingänge des XX. Jahrhunderts, aus dem sich die erfreuliche
Tatsache entnehmen läßt, daß die Blindheit in diesen Ländern,
sowohl absolut, als relativ, erheblich abgenommen bat.
♦
lieber Augenerkrankungen sexuellen Ursprungs bei
Frauen.
Von Dr. Emil Berger und Dr. Robert Loewy.
Deutsche zum Teile neubearbeitete Ausgabe, übersetzt von Dr. Beatrice
Boßbacli.
Wiesbaden 1906, Bergmann.
Die Autoren haben es sich angelegen sein lassen, alles,
was in dieses Gebiet einschlägt, aus der Literatur zusammenzu¬
tragen und haben auch viele eigene Beohachtungen in Kürze hin¬
zugefügt. Der Inhalt ist reich und das Buch wird für den, der
über dieses Kapitel arbeitet, ein wichtiges Nachschlagel)uch bilden.
x\l.)er es ist doch nur eine Kompilationsarbeit mit allen Schwächen
und Vorzügen einer solchen.
Die grobe Gliederung des Stoffes nach gehurtshilflichen
und gynäkologischen Gesichtspunkten ergibt sich von seihst ; aber
innerhalb der einzelnen Gruppen sind die Augenerkraiikungen
nur nach anatomischen Gesichtspunkten geordnet, was sicherlich
nicht dem Wesen der Sache entspricht, oder dem Verständnis
ziigute kommt. Aber das liegt zum größten Teile daran, daß wir
über den Zusammenhang der Vorgänge in der Genitalsphäre und
der Augenerkrankung noch so wenig wissen. Zwar lassen die
.\idoren noch solchen Mittelgliedern, wie Reflexe, Schwäcliezii-
stände, Anämie, funktionelle Neurosen usw. ihr Recht wider¬
fahren; die Hauptrolle aber bei der Erklärung dieses Zusammen¬
hanges spielt die Autointoxikation.
Es soll nun keineswegs geleugnet werden, daß durch die
Einführung der Begriffe: innere Sekretion und Töxinbildung, ein
Fortschritt in der Erkenntnis des Zusammenhanges pathologi¬
scher Vorgänge untereinander angebahnl. worden ist. Aber es ist
sicher nicht zu billigen, daß man zu dieser Erklärung überall
dort greift, wo andere versagen. Bequem ist eine solche Theorie'
ja allerdings, fast so bequem, wie die Erkältungstheorie, an der
die Laien noch immer mit solcher Zähigkeit festhalten. Zum min¬
desten sind uns die Verfasser den Beweis dafür, daß ilie Augeii-
erkrankung durch Toxämie entstehe, in den allermeisten Fällen
schuldig geblieben.
Es erscheint endlich der Erwähnung wert, daß auch die
Geburtsverletzungen des Kindes in das Buch auf genommen sind,
was man nach dem Titel nicht erwarten sollte.
Die Uebersetzerin bat ihre Aufgabe mit großem Geschick
gelöst. Salz mann.
Aus v/ersehiedenen Zeitschriften.
209. Heilung eines Karzinoms durch Sonnen¬
licht neljst einigen Beiträgen zur unmittelbaren
Lichttherapie. Von Dr. C. Widmer (Flims-Waldhaus), Arzt
am Lerchschen Spital in Zofingen. Bernhard hat zuerst «Ge¬
schwüre nach Peniionen, dann jene torpiden Geschwüre mit
weiter fressenden Rändern und eitrig belegtem Grunde, auf Zehen,
Fußrücken und Eußrändern der Heilkraft des Sonnenlichtes aus
gesetzt. Jede andere Behandlung; wurde vermieden; nach der
Sitzung wurde das Geschwür mit sauberem Mull bis zur nächsten
Sitzung bedeckt. Der Erfolg war ein verblüffender. Bei liöcli-
stens einer bis zwei Slunden täglicher Beslrablung waren tlie
Geschwüre sämtlich in durchschnittlich einer Woche geheilt, hi
den ersten Tagen schon säuberte sich in aiiffallejider Weise der
Grund der Geschwüre, wurde hellrot und verwandelte sich bald
in eine Epithellage. Bei Kontrollversuchen mit Perubalsam, Re¬
sorzin, Alum. acct. usw. verzögerten sich Säuberung und Heilung
meist viele Wochen lang. Viele sehen die Erfolge der Sonnen¬
lichtbehandlung eher als Austrocknung, nicht als fipezi fische
Strahlenwirkung an. Des Verfassers Beobachtungien von Sonnen¬
strahlenheilungen erstrecken sich nicht nur auf Pernionemdzera-
tionen, sondern auch auf Ulcera cruris, chronische Fisteln nach
Halsdrüseneiterungen, Fisteln nach Tuberculosis pedjs und Coxi¬
tis tuberc., auf multiplen Dekubitus bei Spinalaffektion mit
ausgedehnter Hautnekrose, auf Fälle von Herpes tonsurans,
Ekzem etc. Alle diese Fälle kamen in ungewohnt kurzer Zeit
zur Heilung. Der Verfasser berichtet aber auch über ein ge¬
heiltes Karzinom. Eine 81jährige Frau hatte an ihrem rechten
Handrücken ein Hautkarzinom. Verf. riet selbstredend zur Ope¬
ration, doch die Patientin verweigerte dieselbe hartnäckig. Im
Dezember 1905 war die Geschwulst bereits 6 cm lang, exulzeriert,
mit übelriechendem Sekret bedeckt und um die Geschwulst eine
derbe, ödematöse, boclirote Infiltration. Die ganze Hand war
geschwollen und äußerst schmerzhaft. Da Pat. auch jetzt noch!
jeden operativen Eingriff perhorreszierte, riet Verf. zur Sonnen¬
lichtbehandlung. Vom Sekret gereinigt, würde die Geschwulst
täglich eine bis mehrere Stunden der Sonne ausgesetzt. Nach
einer kontinuierlichen Reihe von hellen Sonnentagen im Januar,
während deren die kranke Hand oft vier unfl mehr Stunden der
Sonne ausgesetzt wurde, wai* die exidzerierte Oberfläche des
Tumors sauberer, <lie Sekretion geringer und die Umgebung
weniger geschwollen. Nach weiteren drei Wochen war die ganze
Geschwulstoberfläche eingesunken, hellrote Granulationen l)e-
deckten den Grund. Die entzündlich ödematösen Reaktions¬
erscheinungen Um den Tumor herum waren fast ganz weg. Nach
jeder Bestrahlung hatte die Tumorniasse, welche nun eine fast
einheitliche Granulationsfläche bildete, ein hoebrotes; glasiges
Aussehen. War die Bestrahlung nur zwei Tägie ausgeblieben,
sah die Wundfläche wieder schmierig aus und sezernierte be¬
deutend mehr. Mitte April 1906 war die Heilung perfekt und
die Geschwulst verschwunden. Eine zarte, rosarote Kinderhaut,
überall von der Unterlage abhebl)ar, bedeckte die Fläche, die
die Geschwulst eingenommen hatte und zeichnete sich scharf
von der trockenen, atrophischen Greisenhaut der Umgebung ab.
Die Heilung ist auch seither eine dauernde geblieben. Jede medika¬
mentöse oder anderweitige Jherapie l)lieb natürlich während dev
ganzen Zeit weg. Was nun die Technik der SonnenbesO'ahlung
anbelangt, so fußt sie auf den beiden Tatsachen, daß jedes Glas
und andere Medium für die physiologisch und chemisch wirk¬
samen Strahlen ein Filter bilden und zweitens, daß reflektierte
Sonnenstrabien ganz bedeutend die direkten Strahlen zu unter¬
stützen vermögen. Reflekliertes Licht wird im Hochgebii-g reich¬
lich von den ausgedehnten Schneeflächen geliefert. Um nun die
Strahlenwirkung zu verstärken, konstruierte sich VG'if. steile
Trichter von bestimmter Oeffnung ‘und Größe, welche das Licht
einer größeren Fläche auf eine 20- bis 50mal kleinere Fläche
sammeln, also auf die kleinere Trichteröffnung eine ‘öOnial größere
Lichtmenge bringen, als ihr ohne das! Instrument zukäme. Diese
Anwendungsweise hat noch den weiteren Vorteil, daßi dadurch
Strahlen von sehr verschiedenem Einfallswinkel auf die Besfrah-
lungsfläche fallen. Die Gewebselemente erhalten auf diese Weise
Licht von allen Seiten, was durch eine Linse nicht erzielt wird,
welche außerdem für viele Blaustrahlen undurchlässig; ist. Ver¬
fasser erklärt zum Schlüsse, aus seiner Einzelbeobachtung keine
allgemeinen Schlüsse ziehen zu wollen, aber er meint, es lolme
sieb, die Sonnenlicbtbehandlung anzuwenden und den so¬
genannten Naturheilkundigen ihr therapeutisches Feld einzuengen.
— (Münchener medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 13.) G.
*
210. Lieber eine Epidemie von Fleischvergiftung
im Osten Berlins. Von Med. -Rat Dr. Jakobson, Kreisarzt,
ln der Zeit vom 9. bis 11. September v. J. erkrankten in einem
engbegrenzten Stadtteil Berlins etwa 90 Personen unter Erschei¬
nungen, die auf eine akute Vergiftung oder schwere Infektion
hinwiesen. Unslillbares Erbrechen, pi'ofuse, wässerige, grüne
Stühle, verbunden mit Schwindelanfällen und Magenkrämpteu,
506
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 17
erhöhte Temperatur oder kollapsartige Tempera turernieclrigung
(his 35-8°), kalte Extremitäten, Foetor ex ore, schwere Herz¬
schwäche, in den späteren Tagen öfters Abgang von Blut im
Stuhle: das waren nach den Angaben der behandelnden Aerzte
die wichtigsten Symptome. Ein Erwachsener und ein IV2 Jahre
altes Kind starben, alle übrigen Kranken genasen nach Ablauf
einiger Tage. Es wurde bald sichergestellt, daß alle Kranken ein
vom Fleischer S. bezogenes Schabefleisch gegessen hatten. Nach
dem Genüsse des fraglichen Fleisches starb auch eine kleine
Schildkröte und mehi-ere Hunde erkrankten. Das Institut für
Infektionskrankheiten bekam die Vorgefundenen Reste des Fleisches
zur bakteriologischen Untersuchung. Dem Aussehen nach schien
das Fleisch gut und unverdächtig, Farbe, Geruch und- Kon¬
sistenz wiesen nichts Abnormes auf. Die Erkrankung setzte prompt
und ungefähr acht Stunden nach dem Genüsse des rohen Fleisches,
selbst in geringen IMengen, ein, während nach dem Genuß von
gebratenem Fleische nur vereinzelte, leichte Erkrankungen (je
nach dem Grade des Durchbratens) beobachtet wurden. Man
hatte es niit dem Bacillus paratyphosus B. zu tun, mit dem
typischen Erreger der Fleischvergiftung. Man fand diese Mikrobe
im Fleische, in den Stühlen einer Anzahl erkrankter und er¬
krankt gewesener Personen, ebenso ergab das Blutserum dieser
Personen und selbst noch einiger, in deren Stühlen der Bazillus
nicht mehr nachweisbar war, deutlich Widal sehe Reaktion auf
Bacillus paratyphosus. Etwa zwei MWeben später waren die
Bazillen in den Stühlen nicht mehr nachweisbar, wohl aber noch
in einigen Fällen im Urin zu finden. Derselbe Bazillus wurde
auch in den Organen und im Danninhalt des verstorbenen Er¬
wachsenen konstatiert. Interessant gestalteten sich die weiteren
Nachforschungen. Das Geschäft des Fleischers S., seine Arbeits¬
und Kühlräume konnten nicht beanstandet werden. Dessen Fäzes
erwiesen sich jedoch als eine Reinkultur des genannten Bazillus,
ohne daß S. etwas über eine Erkrankung anzugeben wußte. Auch
in den Stühlen des Dienstmädchens wurde der Bacillus para¬
typhosus nachgewiesen und dieses gab an, vor einigen Tagen
krank gewesen zu sein. Nun erinnerte sich auch der Fleischer S.,
sich einige Tage nicht ganz wohl gefühlt zu haben. Das Serum
beider Personen ergab die Widalsche Reaktion, nach zehn Tagen
waren ihre Stühle frei von Bazillen. Daraus schloß mau, daß
das Fleisch bereits infiziert in das Geschäft des S. gebracht worden
war. Um dieselbe Zeit kamen übrigens in Berlin noch mehrere
zerstreute Fälle von Fleischvergiftung vor, welche auf den Ge¬
nuß des Restes des fraglichen Fleisches zurückgeführt werden.
Verf. hält die Fleischvergiftung für eine Infektions- und nicht
für eine Inloxikationserkrankung, was er begründet. Dr. med.
Oster tag, Professor an der tierärztlichen Hochschule in Berlin,
gibt an, daß die bekannt gewordenen Fleischvergiftungen durch
s e p t i s c h e u n d p y ä m i s c h e E r k r a n k u n g e n d e r S c h 1 a c h t-
tiere bedingt werden. Als auffälligste klinische Merkmale der
Sepsis bezeichnet er schwere Störungen des Allgemeinbefindens
und große Hinfälligkeit der Tiere, die zu der lokalen Erkrankung
in gar keinem Verhältnis stehen. Die Behandlung der Fleisch¬
vergiftung war eine symptomatische: Ol. Ricini oder Opium mit
Koffein, Tee mit Rotwein oder KlysLiere von Acid, lannicum und
Opium, Kampfer, Kochsalzinfusion. — (Berliner klin. Wochen¬
schrift 1907, Nr. 12.)
«
211. Die Isolierung der Tuberkulösen u n d d e r
K a m p f gegen die Tuberkulose. Von M. Leon Bourgeois,
deutsch bearbeitet von Dr. Felix Blumenfeld. Bourgeois
erörtert den vom Aufsichtsrat der Assistence publicjue und der
ständigen Kommission zur Verhütung der Tuberkulose, deren
Präsident er ist, entworfenen Plan zur Bekämpfung der Tuber¬
kulose, der durch die breite Grundlage, auf der er aufgebaut
ist und das zielbewußte Streben, das er verrät, zu einer grolL
artigen Organisation sich veiwirklichen dürfte. Der Plan hat iin
Auge den Schulz der gesunden Bevölkenmg durch die Isolierung
der Tuberkulösen und sonstige prophylaktische Maßnahmen und
die weitestgehende S^rge für Tuberkulöse und Tuberkuloseverdäch-
lige durch die Tätigkeit von Dispensairen und die Aufnahme
in Heilstätten. Das Dispensaire ist als; Mittelpunkt der prophylak¬
tischen und als Ausgangsiumkt der Kraukenhauslätigkeit gedacht.
Das Dispensaire soll entscheiden, ob der Kranke hei entsprechender
Fürsorge und Obhut in häuslicher Pflege verbleiben oder in eine
der Anstalten abgegeben averden soll. Das Dispensaire umfaßt
eine täglich geöffnete Poliklinik für Tuberkulöse; einen Speise¬
saal, in dem externe Kranke eine ihrem Zustand angepaßte Ver¬
pflegung erhalten; Verteilung von Spuckflaschen und Medika¬
menten; Austeilung reiner Wäsche gegen Abliefemng gebrauchter
und regelmäßige Besuche von Helfern in den Wohnungen der
Kranken. In einer bestimmten Anzahl von Krankenhäusern sollen
eventuell durch Anfügung von Neubauten Spezials tationen für
die Behandlung Tuberkulöser eingerichtet werden. Diese Spezial-
statioiien sind sowohl räumlich als auch diinsichtlich ihres Per¬
sonales von den übrigen, Abteilungen der Krankenhäuser voll¬
ständig isoliert, sollen aber hygienisch in derselben Weise ge¬
baut und eingerichtet sein wie Lungenheilstätten. In diese SpeziaV
s tationen kommen nicht nur Schwerkranke, sondern auch solche
leichtere Kranke, für welche die Entfernung aus Paris aus irgeiub
einem Grunde nicht zweckmäßig erscheint. Endlich sollen außer¬
halb Paris Lungenheilstätten für lieilbare Fälle errichtet werden.
Die Zuweisung in diese oder jene Krankenanstalt erfolgt von
seiten der zugehörigen Dispensaire. Zur Ausführung soll zu¬
nächst die Errichtung eines Dispensaires im Krankenhaus Laennec
kommen, eine Spczialstation in demselben Krankenhaus für
250 Kranke und eine Lungenheilstätte für 500 Kranke in Brevanne.
In Aussicht genommen sind Spezialstationen in anderen Kranken¬
häusern und eine Lungenheilstätte in Jory oder Vaucresson für
1700 Kranke. Die Kosten werden aus einer Anleihe von 45 Mil¬
lionen gedeckt. Die einzelnen Gesichtspunkte sind nicht neu;
der Fortschritt liegt in dem methodisch geordneten Organisations¬
plan, der verschiedene Kampfmittel gegen die Tuberkulose zu
einem einheitlichen Ganzen verbindet. ■ — (Beiträge zur Klinik
der Tuberkulose, Bd. 7, H. 1.) J. S.
*
212. Aus der IV. medizinischen Ableilung (Prof. Dr. Fried¬
rich Ober may er) und dem pathologisch-chemischen tnstitut
(Vorstand Dr. Ernst Freund) der k. k. Krankenanstalt ,, Rudolf-
Stiftung“ in Wien. Untersuchungen über die Ausschei¬
dung von Euglobulin im Harne bei Amyloiderkran¬
kung. Von Dr. E. Zak und Dr. F. Neck er. Unter Euglobulin
wird eine Eiweißfraklion des Blutserums verstanden, welche aus
demselben bei Drittelsättigung durch Ammonsulfat ausgesalzen
wird. Wenn auch durch die Untersuchungen von E. P. Pick,
Spiro, Freund und Joachim nachgewiesen wurde, daßi diese
Eiweißfraklion sich noch in weitere Komponenten zerlegen läßt,
so ist es derzeit aus praktischen Gründen zweckmäßig, die Euglo-
hulinfraktion als Ganzes zu betrachten. Anschließend an eine
Beobachtung Joachims, der in einem Fälle von Nephritis chro¬
nica mit Amyloidose der Milz, Leber und Nieren eine bedeutende
Vermehrung der Euglobulinausscheidung im Gegensatz zu sechs
nicht mit Amyloidose vergesellschafteten Nephritisfällen konsta,-
tierte, sowie an eine ähnliche Beobachtung Wallersteins
haben sich die Verfasser der Aufgabe unterzogen, diese Verhält¬
nisse zu diagnostischen Zwecken klarzustellen. Auf Grund einer
Reihe von Fällen, die sowohl klinisch als auch mikroskopisch-
chemisch ungemein genau studiert, zum Teil auch durch die Ob¬
duktion kontrolliert wurden, kamen sie zu dem Resultat, daß
sich bei all ihren Fällen Euglobulin nachweisen ließ, wenn die
Fälle genügend lange beobachtet wurden. Die Menge des Euglo-
bidins unterliegt großen Schwankungen. Eine Beeinflussung der
Euglobulinmenge durch Temperatursteigerungen, Diarrhöe, Aende-
rung der Nahrung, zunehmende Kachexie oder vorübergehende
Besserung im Befinden des Patienten konnten die \mrfasser nicht
nachweisen. Sie fanden ferner, daß nicht nur der Eiweißquolieut
bei denselben Individuen innerhalb weniger Stunden schwankt,
sondern auch die Zahl, die das Verhältnis des Euglobulins zum
Pseudoglobulin (ein Globidin, das erst bei Halbsättigung mit
Ammoniumsnlfat aiisfällt) angibt. Die Schwankungen gehen so
weit, daß die Verfasser sich berechtigt sehen, von einer „inter¬
mittierenden Euglobulinurie“ bei Amyloidose zu si)rechen. Wenn
demnach bei fehlendem oder geringem Euglohulingehalt des
Harnes eine Amyloidose nicht ausgeschlossen werden darf, so
ist doch der N a c h w e i s einer starken E u g 1 o b u 1 i n a u s-
sclieidung ein für die Diagnose der A m y 1 o i ile r k r a n-
kung schwer in das Gewicht fallender Faktor. Ein
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
P.07
besonders schönes Beispiel hiefür bietet ein von den Verfassern
beschriebener Fall, bei welchem die Diagnose ,,Ainyloiderkran-
kung“ jVuf (Jrund der Euglolmlinausscbeidung gestellt und durch
die Obduktion unzweifelhaft bewiesen wurde. — (Deutsches
Archiv für klinische Medizin, Bd. 88.) J. Sch.
213. Aus der Nervenpoliklinik der kgl. psycbiatriscbeu
Klinik zu Königsberg (Prof. Dr. E. Meyer). lieber atypische
F 0 r ni e n der T h o m s e n s c b e n Krankheit (M y o t o ni i a con¬
genita). Von Dr. A. Pelz, eheinaLigein I. Assistenzarzt der
Klinik. Die Untersuchungen Pelz’ lassen eine überraschende
Zahl und Mannigfaltigkeit der Abweichungen vom typischen Bilde
der Thomsenschen Krankheit erkennen, Abweichungen, die sich
auf Entstehung, Verlauf, Verteilung etc., kurz auf das Gesamt¬
bild der Krankheit ebenso beziehen wie ,auf die einzelnen Sym¬
ptome. Die Störungen der mechanischen Erregbarkeit sind in
liäufigen Fällen nur partiell, in seltenen Fällen überhaupt nicht
vorhanden. Die elektiische Störung ist zuweilen nur unvoll¬
ständig vorhanden. Die zablreichsten und eingreifendsten Ab-
Aveichungen bietet die Störung der willkürlichen Beweglichkeit,
die myotonische Stöiamg, Avelche nicht nur völlig fehlen kann,
es kann sogar im Gegensatz zu jedem TönUs eine ausgesprochene
lähmungsartige Schwäche und Schlaffheit bestehen, ln manchen
Fällen, sie sind Uebergangsfälle zwischen beiden Extremen, ist
die myotonische Störung so gering, daß sie subjektiv überhaui)t
nicht, sondern erst bei sorgfältiger Prüfung bemerkt wird und
erst bei angestrengten, forcierten Impulsen erscheint. Die Fami¬
liarität und der kongenitale Beginn ' fehlen in einer großen An¬
zahl von Fällen, ln diesen handelt es sich aber nach der Meiiumg
Pelz’ nicht um ein wirklich erworbenes Leiden, sondern ent¬
weder um eine plötzliche Exazerbation der rudimentär vorhan¬
denen Kraidvheit oder um eine längere Latenz desselben und um
einen verspäteten Ausbruch bei virtueller Existenz der Krank¬
heit (Myotonia congenita adultorum). iZuweilen tritt das Leiden
in peiiodischen Anfällen auf, in manchen Fällen ergreift es nicht
den ganzen Köiimr, sondern befällt nur .einzelne Regionen, mit¬
unter nur eine Köiperhälfte. Bei verschiedenen Nervenkrauk-
heiten, besonders bei Tetanie und Neurosen treten ,,lnt3ntioiis-
krämpfe“ auf, Erscheinungen, die der Avillküiiichen myotonischen
Störung älmlich sind. Am konstantesten sind noch die Störungen
der mechanischen und elektrischen Erregbarkeit, doch gibt es-
kein einziges absolut pathognomonisches klinisches Symptom für
Myotonia congenita. — (Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank¬
heiten, Bd. 42, H. 2.) S.
*
214. U e b e r Z u c k e r a n h ä u f u n g i m B 1 u t e u n d iii d e n
Geweben bei Diabetes. Von Marcel Lab he. Wenn man
einem zuckerfreien Diabetiker eine seine Toleranzgrenze über¬
schreitende Menge von Kohlehydraten zuführt, so tritt die Glyko-
surie erst nach einigen Tagen auf und nimmt allmählich zu;
wenn man einem Zucker im Harn ausscheidenden Diabetiker
eine unterbalb seiner Toleranzgrenze liegende Kohlehydratmeuge
verabreicht, so verschwindet die Glykosurie nicht sofort, sondern
sukzessive im Verlaufe einiger Tage. Dieses Verhalten führt zu
der Annahme, daßi eine Retention und Anhäufung von Zucker im
Organismus des Diabetikers stattfindet. Man ist imstande, die
im Blut und in den Geweben der Diabetiker angebäufte Zucker¬
menge zu messen und durch Veränderuiiigen der Diät nach Be¬
lieben Retention oder Elimination des Zuckers hervorzurufeu.
Die Symptome des Diabetes stehen in direktem Zusammenhang
mit der Zuckerretenlion. Aus der Differenz zwischen der ein¬
geführten und der zur Verbrennung gelangten, sowie der mit
dem Harn ausgeschiedenen Kohlehydrate kann man die Menge
des im Blut und in den Geweben zurückgebaltenen Zuckers
bestimmen. Die Zuckerre ten lion kann bei noch nicht behandelten
Diabetikern beträchtliche Grade erreicben, so konnte diese IMenge
in einem Falle auf 5-598 g berechnet werden. Nach neueren
Bestimmungen kann ein gesunder Mensch von 60 kg Körpergewicht
bei reichlicher Ernährung einen Glykogenvorrat von 2-400 g in
seinem Organismus aufspeichern, so <lafi die Aufspeicheiamg noch
größerer Mengen bei reichlich ernährten Diabetikern nicht über¬
raschen kann. Die progressive Aufspeicherung von Kohlehydratcm
gibt sich zunächst beim Diabetiker durch Glykosurie kund, welche
eiidritt, sobald der Zuckergehalt des Blutes, 2%o übersteigt. Die
weitere Anbäufung von Zucker in den Geweben ei'fordert die
Zufulir von Wasser zur Verdünnung und es stellen sieb dann
Polyurie und Polydipsie ein. ,Die Polyphagie hängt mit der un¬
genügenden Verbrennung der Kohlehydrate und der sich daraus
ergebenden Notwendigkeit zusammen, den Bedarf des Organismus
durch reichliche Eiweiß,- und Fettzufuhr zu decken. Die übrigen
Diabetessymptome stehen mit der Sättigung der Gewebe- und
Körperflüssigkeiten durch die angehäuften Zuckermengen in Zu¬
sammenhang. Die Ausscheidung der Glykose uiitei; dem Einfluß
der kohlehydratarmen Ernährung erklärt die im Beginn dieses
Regimes beobachtete Körpergewichtsabnahme. Die mitgeteilten
Beobachtungen beweisen, daß. der Diabetes nicht auf gesteigerter
Zuckei’in’oduktion, sondern auf herabgesetzter Verbrennung der
Kohlehydrate berubt. Die Bcbandlung des Diabetes muß, danach,
streben, die Elimination des angehäuften Zuckers zu fördern,
während die Darreichung von Medikamenten, welche die Zucker¬
ausfuhr herabsetzen, z. B. Antipyrin, entschieden kontraindiziert
ist. — (Bull, et Mein, de la Soc. med. des Hop. de .Paris
1907, Nr. 5.) a. e.
*
215. Aus dem hygienischen Institut der k. k. Universität
Innsbruck (Vorstand: Prof. A. Lode). Ueber die VerAvert-
barkeit des Phänomens der K o mp 1 e m e n t abl e n k u n g
zur Differenzierung von Kapselbazillen. Von Doktor
Franz Bai ln er, k. u. k. Regimentsarzt und Dr. Hans Reib¬
mayr, Assistent des Inslitutes. Wassermann und Bruck
trachteten, das Phänomen der Komplenientbindung (von Bordet
und Gengou) klinischen Zwecken dienstbar zu machen uml
hiedurch eine Methode für die Erkennung von Infektionskrank¬
heiten zu schaffen. Sie zeigten, daßi heim Vermischen von Ex¬
trakten von Typhusbazillen, Meningokokken und SeiiAveinepest-
bazillen mit dem zugehörigen ImmUnserum das zugefügte Kom¬
plement gebunden Avird. Weiters, daß, in tuberkulösen Organen
gelöste Substanzen der Tüberkelbazillen und Anlituherkulin vor¬
handen sind. Nach ,,Leuchs“ ist die Methode auch für die
Differenzieiaing von Typhus- und Paratyphusbazillen brauchbar.
Es handelte sich nun darum, zu versuchen, ob diese Methode
auch für die Erkennung und Differenzierung von Kapselbazillen
(Friedländer- Rhinoskleromgruppe) brauchbar sei, denn mit den
gewöhnlichen serodiagnostischen Hilfsmitteln gelingt es nicht,
spezifische Kennzeichen für die einzelnen Arten der Kapsel¬
bazillen ausfindig zu macben. IDie beiden Verfasser haben nun
in ihren Studien über idle VerAvertbarkeit der Komplementablen¬
kung für die Diagnose Amn Antikörpern im Innnunserum und
für die Erkennung: der spezifischen Antigene gefunden, daß beim
Zusammenbringen voji spezifischem Immuaserum von Kapsel¬
bazillen mit den aus denselben hergestellten Extrakten tatsäch¬
lich eine Bindung des zugesetzten Komplementes erfolgt, so daß
in einem nachträglich zugefügten, hämolytischen System das Auf¬
treten der Häniolyse unterbleibt. Bei ihren Versuchen benützten
sie im allgemeinen die von Wassermann angegebene Methode.
Die Immunsera lieferten Kaninchen, die durch Aviederholte intra¬
venöse Injektionen von abgetöteten Kulturen von Kapselbazillen
vorbehandelt Avurden. Sie AmrAvendeten aber nicht allein Ex¬
trakte aus abgetöteten Kulturaufschwemmungen, sondern arbei¬
teten auch mit Extrakten von solchen BakteriensUspensioneii,
bei denen nach der Methode Amn Borges die Kapseln entfernt
AAmrden Avaien. Aus einer beigefügten Versuchstabelle geht her¬
vor, in Avelchen Konzentrationen ein Friedländerimmunserum
nach Zusatz von verschiedenen Extrakten noch eine Bindung
des Komplementes erkennen läßt. Um aber über die Spezi fizit-ät
dieser Bindung ein Urteil zu geAvinnen, Avurden von den Ver¬
fassern KontrollAmrsuche angestellt, deren Resultate in zwei wei¬
teren Tabellen niedergelegt sind. An der Hand ihrer Versuche
erörtern die Verfasser nun die Frage, ob durch die Methode der
Komplementfixation Avirklich eine verläßliche Differenzierung der
Kapselbazillen soAvohl untereinander, als auch eine Abgrenzung
derselben gegenüber anderen Bakteriengruppen zu erreichen sei.
Ihre Ueberzeugung gebt dahin, daßi eine Abgrenzung der ein¬
zelnen Arten in der Gruppe selbslt nicht mit Sicherheit durch¬
führbar ist; ab<>r auch für differeidialdiagnoslis(dic ZAAmcke zui'
Abgrenzung der Gruppe der Kapselbazillen gibt die Methode nicht
50ö
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
genügend verläßliche Ansschläge. Bei einer weiteren Versuchs¬
reihe, die die Verfasser zuin Vergleiche der Schärfe dieser Re¬
aktion mit der Agglutinalionsreaktion hei Cholera,-, Typhus- und
Koliinnnunseren anstellten, zeigte sich, daß die Älethode der Kom-
plcinenthindung zwar für den hiologischen Identitätsnachweis der
genannten Seren venverthar ist, daß aber das schärfere und be¬
quemere diagnostische Hilfsmittel die Agglutinationsreaktion zu
sein scheint. — (Münchener mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 13.)
G.
•*
216. Therapeutische Versuche mit stomachaler
u 11 (1 i n h a 1 a t o r i s c h e r D a r r e i c h u n g von Alt tu h e r k u 1 i n.
Von Dr. E. Hubs. Verf. prüfte an einer Anzahl von Fällen die
Wiitvung des stomachal beigehrachten Kochschen Alttuherkulins
und fand es durchaus wirkungslos. An sich selhsL erzielte er
mit Vao nig subkutan typische Reaktion, während die 20.000fache
Dosis innerlich ohne Effekt war. Auch Ref. hat in einer Anzahl
von Fällen weder eine Beeinflussung der J'emperatur, noch des
Allgemeinhefindens und des Luiigenprozesses auch hei hohen
Dosen sehen können. Uebrigens hat schon Koch die Wirkungs¬
losigkeit des Präparates vom Magen im Jahre 1880 betont, ln
keratinisierten Pillen hingegen scheint es nach Freiniuth in
Dosen von 5 bis 80 mg diagnostische Reaktionen hervorzurufen.
Ebenso hei inhalatorischer Darreichung, wie schon Kapralik
und V. Sehr öfter feststellten und wovon sich auch Verf. an
zw(‘i Fällen überzeugen konnte. Trotzdem ist dem Verfasser nur
zuzustimmen, wenn er wegen der Unzuverlässigkeit in der Dosier-
harkeil für therapeu tische Zwecke die inhalatorische Verahrelchung
verwirft. — (Beiträge zur Klinik der Tuberkulose, Bd. 7, H. 1.)
J. S. '
217. Ueher iirimäre Diphtherie des äußeren Ge-
hörganges. Von J. Galbraith Connal, Glasgow. Während die
sekundäre diphtheritische Infektion des äußeren Gehörganges im
Gefolge einer Diphtherie der Nase oder des Nasoplharyngealrauines
auf dem Wege der Eustachischen Tube und des Mittelohres nicht
allzu selten ist, gehört die primäre Diphtherie des äußeren Ge¬
hörganges zu den Seltenheiten. Es handelte sich in dom vom
Verfasser mitgeteilten Falle um einen 12jähi'igen Knaben, der
seit seiner Kindheit an Ohrenfluß litt. Bei der Untersuchung
zeigte sich eine Perforation des linken Trommelfelles. An der
hinteren Wand und am Boden des äußeren Gehörganges war eine
weißliche Membran zu sehen, die sehr an eine Diphtheriememhran
erinnerte. Bei der bakteriologischen Untersuchung wurden Diph-
theriehazillen nachgewiesen, während die Untersuchung des
Nasal-, Nasopharyngeal-, Pharyngeal- und Larynxsekretes auf Di}di-
theriehazillen negativ ausfiel. Nach Idtägiger Behancllung, he-
stehend in zweimal täglicher Ausspülung mit Borlösung und Ein¬
führung von Karholglyzerimvatte verschwanden die Diphtherie-
hazillen. Nach einiger Zeit wurden Symptome , einer Karies des
Felsenheines manifest, welche durch Radikaloperation und intenre
Salizyltherap.ie geheilt wurde. — (British medical Journal, 12. Ja¬
nuar 1907.) j. Sch.
*
218. Weitere Beiträge zur Poriornanie. Von Privat¬
dozent Dr. Julius Donath, Oberarzt der Nervenahteilung des
St. Stephan-Spitales in Budapest. Seine bisherigen Mitteilungen'
über Poriornanie (krankhaften Wandertrieh) ergänzt Donath in
voi'liegender Arbeit durch drei weitere Fälle. Im ersten derselben
beruht der Wandertrieh zweifellos auf Epilepsie, welche durch
ein schweres Kopftrauma hervoi'gerufen wurde. Die Wande-
i'ungen erfolgten hei tief gestörtem Bewußtsein. Im zweiten Falle
hatte dei- Kranke nie an epileptischen Krampfanfällen gelitten,
führte jedoch nach vorangeganigenen Kopfschmerzen und Sausen
eine dreitägige Wanderung aus, bezüglich deren eine vollstän¬
dige .\nmesie bestand. Es dürfte sich hier um ein epileptisches
Aecpiivalent gehandelt haben. Im dritten Falle ist die Wande¬
rung auf einen psychasthenisclien Zustand zurückzuführen, der
sich auf degenerativer Basis entwickelt hat. — (Archiv für Psy-
chiatiie und Nervenkrankheiten, Bd. 42, H. 2.) S.
*
219. l' e h e r M o r h u s B r i g h t i i u n d k o c h s a I z a r m e E r-
nährung. \on t'antineau. Die kochsalzarme Ernährung wird
wegen ihrer wasserentziehenden Wirkung vielfach zur Behandlung
der Bright sehen Oedeme angewendet. Bei einer Patientin mit
chronischer Neidiritis, welche mit helrächtlichen Oedenien, Ilerz-
dilatation und Dyspnoe in das Krankenhaus eintrat, Avurde durch
exklusive Milchdiät und Darreichung von 1-5 g 'riieohromin in
den ersten sechs Tagen ein vollständiges V^erschwinden der Oedeme
und der anderen Beschwerden erzielt, doch, wurde die Patientin
nach Aufnahme ilirer Tätigkeit und gewohnten Ernährungsweise
wieder rückfällig. Die Behandlung der mit Oedemen einhergehen¬
den Nephritis erfordert ahsolute Bettruhe, je nach der Eliminations¬
tätigkeit der Nieren, kochsalzarme 'oder möglichst kochsalzarme
Ernährung, soAvie tägliche Bestimmung des Körpergewichtes.-
Avelche deshalb sehr Avichtig ist, weil man das Auftreten der
Wasseransammlung im Körper durch die Zunahme des Körper-
geAvichtes schon zu einer Zeit erkennen kann, avo noch keine
Hautödeme vorhanden sind. Ebenso beobachtet man nach dem
Schwinden der Hautödenie eine Zeitlang noch Gewichtsahnahme.
Es ist auch notAvendig, täglich die Hammenge, sowie den Gehalt
an Chloriden und Ehveiß pro Liter und Tag berechnet, zu be¬
stimmen. Bei Morbus Brightii geht der EiAveißgehalt der Wasser-
ansanunlung in den GcAvehen parallel Und nimmt in dem Maßx',
als die Oedeme zurückgegehen, ah. Es gibt Fälle, avo die Durch-
gängigkeit der Nieren für Kochsalz derart herabgesetzt ist, daß
die Milch, Avelche im Liter . 1-6 g enthält, noch zu reich an
Kochsalz ist und die Oedeme bei exklusiver Milchdiät nicht
verschwinden. In solchen Fällen heohachtet man ein Schwinden
der Oedeme bei Ernährung mit ungesalzenem Fleisch, Brot und
Kartoffelbrei, Aveil dadurch noch Aveniger Kochsalz zugeführt Avird,
als durch die Milch. Nach Rückgang der Oedeme, welcher manch¬
mal mit enormer Körpergewichtsabnahme, in einem Fäll 28-5 kg,
einhergeht, kann man versuchsAveise die täglich eingeführte Koch¬
salzmenge steigern, Avobei man zunächst der Nahrung 3 g Koch¬
salz täglich zusetzt. Wenn das KörpergeAvicht dabei nicht zu¬
nimmt, was auf Wasseransammlung hindeuten würde, so kann
man durch allmähliche Steigerung jene Dosis erkennen, Avelche
ein Wiederauftreten der Oedeme bedingt und danach die für
die Ernährung des Patienten überhaupt zulässige Kochsalzmenge
hestimmen. In jenen Fällen, avo die kochsalzarme Ernährung
nicht ausreicht, muß die medikamentöse Behandlung zur Unter¬
stützung herangezogen Avmrden. Zu diesem Zwecke sind am besten
Theobromin in Dosen von 0-5 bis 2-0 g, das isomere Theozin
und Digitalis geeignet, Avelche man, sobald die Kochsalzelimination
durch die Nieren Avieder in Gang gekommen ist, aussetzt. —
(Journ. nied. de Brux. 1907, Nr. 5.) a. e. .
*
220. (Aus der medizinischen Klinik zu Freil)urg i. B.) Zur
Aetiologie des Erythema nodosum. Von Priv.-Doz. Doktor
W. Hildehrandt, Assistenten der Klinik. Uf fei mann Avar
der erste, Avelcher einen inneren Zusammenhang zAviseben Tuber¬
kulose und einer bestimmten Form von Urythema nodosum an-
nalmi. Er teilt im ganzen 17 Fälle dieser Art mit. Nach Uf fel¬
mann brachten Oehme, Bä um 1er, Kuhn und Abt ein¬
schlägige Beobachtungen. Auch Verf. bat sich mit dem Gegen¬
stand beschäftigt und bringt eine sehr ausführliche Kranken¬
geschichte und einen Tierversuch. Das wesentliche ist: Eine
schon als Kind tuberkulöse Person erkrankte akut an Angina
und Stomatitis und zehn bis zwölf Tage darauf an Erythem;),
nodosum. Auf der Höhe der Krankheit, zu einer Zeit, avo täglich
noch neue Eruptionen auftraten, Avar eine positive Diazoreaktion
vorhanden, außerdem gelang es, durch intraperitoneale Injektion
von Venenhlut dieser Kranken bei zAvei MeerschAveinchen ex-
])erimentelle Tuberkulose zu erzeugen, Avährend die Untersuchung
des Venenhlutes auf andere Bakterien negativ ausfiel. In der
Folgezeit traten — und das spricht dafür, daß der durch Tier¬
versuch erbrachte Befund von Tuherkelhazillen im Venenhlut kein
zufälliger Avar — nacheinander eine rechtsseitige, dann eine links¬
seitige Pleuritis und endlich eine Perikarditis auf, Avelche durch
ihren Verlauf, zusammen mit der Infiltration der rechten Lungen¬
spitze, einer tuberkulösen Drüse am Halse und nicht zum min¬
desten mit der Anamnese als tuberkulöse Veränderungen charak¬
terisiert Avurden. Es kreisten also zu der Zeit, als das Erythema
nodosuju sich ;vuf dem Höhepunkt h(‘f:md, Adrulenle Tuherkel-
1 bazillen im Blute. Was die Ursache für die hämatogene Aus-
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
509
breiUing dc^i' Tuberkulose war, ob etwa (li(; (uberkulöse Ivytnpli-
drüse, kann Veil', niedd entscheiden, da die Patientin der Krank¬
heit nicht erlegen ist. Zum Schlüsse berichtet Verf. noch ganz
kurz über vier weitere Fälle von Erythema nodosiim. Klinisch bot
der Verlauf der Hautaffektion nichts Pesonderes, nur der All-
gemeinstatus wies auf Tuberkulose bin. Verf. meint jedoch, keinen
Anlaßi zu haben, in diesen Fällen einen ursäcblicben Zusammen¬
hang zwischen der Tuberkulose und dem Auftreten des Erythema
nodosum anzimehmen. Ein Erythema nodosum, welches hei einem
Tuberkulösen auftritt, brauebt durchaus nicht mit Tuberkulose
in Verbindung zu stehen; doch hält es Verf. für sehr wohl mög¬
lich, wenn auch nicht für erwiesen, daß auch durch Tuberkel¬
bazillen eine von dem gewöhnlichen Erythema nodosum nicht
zu unterscheidende Krankheitsform hervorgerufen werden kann.
— (Münchener medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 7.) G.
221. Ueberden Nachweis von Anti tu b e rk u 1 i n. Von
Dr. H. Liidke. Wassermann und Brück gelang es, mit Hilfe
des Prinzipes des Bordet sehen Komplementbindungs Versuches
nachzuweisen, daß in den tuberkulösen Organon Antituberkulin
vorbanden sei, welches bei mit Tuberkulin behandelten Individuen
auch im Blutsei'um sich auffinden ließ. Dieses Anti tube rkulin ver¬
anlaßt nach Wassermann und Brück die Bindung des ein¬
geführten Tuberkulins. Lüdke bestätigt auf Grund seiner Nach¬
prüfungen die Angaben von Wassermann und Brück. Bei
neun von dreizehn mit Tuberkulin behandelten Fällen konnte
Antituberkulin im Serum nachgewiesen werden. Eine praktische
Bedeutung spricht Verf. dem Komplementbindungsversuch aller¬
dings nicht zu, sowohl wegen der Kompliziertheit der Versuchs¬
anordnung als auch wegen der unerheblichen Mengen von Anti¬
tuberkulin, die sich außerdem nur kurze Zeit nach erfolgter
Tuberkulininjektion naclnveisen lassen. — (Beiti'äge zur Klinik
tier Tuberkulose, Bd. 7, H. 1.) .1. S.
*
222. (Aus dem Cottage - Hospital zu Faversham.) Zur
Therapie d e s T e t a n u s. V on F. W. G a n g e, F aversham. Ein
junger Mann wurde am 18. August 1906 in das Cottage-Hospital
in Faversham aufgenonnnen. Das linke Bein wies eine Schu߬
verletzung auf, die 14 Tage alt war. Es 'bestand leichter Trismus,
sonst keine Tetanussymptome. Im Laufe der darauffolgend'ien
Woche entwickelten sich diese jedoch zu höchster Entfaltung
und in besorgniserregendster Weise. Am 29. August wurde eine
Schädeltrepanation über der linken motorischen Region aus¬
geführt und 20 enP Antitetanusserum (Borroughs, Welcome & Co.)
subdural injiziert. Die Knochenplatte wurde hierauf repouiert
und die Wunde versorgt. Heilung per primam. Am 'räge nach
der Operation waren die Spasmen bereits geringer, die Besserung
schritt allmählich fort und der Patient wurde am 10. Oktober
geheilt entlassen. Die medikamentöse Behandlung bestand in
Darreichung größerer Dosen von Brom und Clüoral vor und nach
der Serumapplikation, doch schreibt Verf. die Heilung nur letz¬
terer zu. — (British medical Journal, 12. Januar 1907.) J. Sch.
223. Aus dem physikalisch -therapeutischen Institut in
München (Prof. Dr. Rieder). Zur Frage tier Luft- und dei’
sogenannten Wasserluftduschen. Von Dr. jned. et phil.
P. Trengowski, Warschau-München. Die Wirkung ties Luft-
und Wasserluftstromes zeigte sich in der Abkühlung der Um¬
gebung der unmittelbar beströmten Stelle, wobei daselbst eine
deutliche subjektive Kälteempfindung auf trat. An der unmittel¬
bar beströmten Stelle zeigte sich Abkühlung bei Beströmung
mit dem Wasserluftstroim, mit kalter Luft und mit Luft von
Zimmertemperatur, Erwärmung bei Beströmung mit warmer Luft.
Subjektiv wurden diese Veränderungen der Temperatur nicht
empfunden. Es handelte sich also um eine Herabsetzung der
Sinnesempfindungen. Der Abkühlung folgt nach kurzer /.eit Er¬
wärmung. Die besten Resultate lieferte der Luftwasserstrom,
d. b. der Luftstrom, durch den feine Wasserpartikelchen mit¬
gerissen werden, daneben lieferten auch die Versuche mit kalter
Imft günstige Besrdtate. Die Anwerrdung des warmen Luftstrome.s
ergab ungünstige Erfolge, etwas besser waren die Wirkungen
<les Luftstromes von gewöhnlicher Temperatur. ■ — (Archiv tür
Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 42, H. 2.) S.
22-1 . D o p | ) e 1 s e i I i g e Parotitis s u p p u r a t i v a 1) o i
Magenkarzinom. Von E. Barie 'und G. Billaudet. Beob-
achtungen von Parotitis im Verlaufe von Kachexien, insbesondere
bei Magenkarziuom, sind in der Literatur nur spärlicb mitgeteilt.
Meist sind es tcianinale, in gewissem Sinne agonale Mani¬
festationen, dureb Einwanderung der Bakterien der Mundhöhle
in das absterbende Organ bedingt. Diese Formen sind mit jenen
Entzündungen der Parotis analog, welche bei Geisteskranken, Prä-
mikern, atropbischen Kindern, sowie im 'Endstadium der pro¬
gressiven, perniziösen Anämie und der amyloiden /Degeneration
auftreten. Die Beobachtung der Verff. bezieht sich auf das Auf¬
treten doppelseitiger Parotitis suppurativa im Terminalstadium
eines Magenkarzinonis. Die Infektion der Parotis erfolgt in diesen
Fällen durch die Drüsengänge infolge Einwanderung von Mund¬
höhlenbakterien, am häufigsten Staphylokokken, Pneumokokken,
Streptokokken, Micrococcus tetragenes und Fried länder sehe
Pneumobazillen. Die Infektion auf dem Wege der Blutbahn ist
bei Pyämie und Septikämie beobachtet worden. Die Infektion
mit Staphylokokken, welche besonders rasch verläuft und wenig
Allgemeinsymptome hervorruft, findet sich besonders bei solchen
Patienten, deren Ernäbrungszüstand schwer geschädigt ist. Die
Infektion auf dem Wege der Lymphbahn wird bei in der Nacbbar-
sebaft befindlichen Eiterherden beobachtet. Mischinfeklionen sind
bei den besprochenen Formen der Parotitis sehr selten. Für
das Zustandekommen der Infektion von den Drüsengängen aus
ist eine Reihe von Bedingungen erforderlich. Unter normalen
Verhältnissen ist die Parotis gegen Infektionen resistent und es
dringen die Mundhöhlenbakterien nur in den Anfangsteil des
Ductus Sterionianus ein, auch entfaltet der normale Parotisspeichel
eine antiseptische Wirkung. Die Enge der Mündung, die ter¬
minale Krümmung und der schiefe Verlauf des Ausführungs¬
ganges schaffen einen derart wirksamen Schutz gegen die In¬
fektion, daß diese auch durch eine Injektion von Staphylokokkeii
in den Ausführungsgang nicht erzeugt werden kann. Dagegen
wird das Zustandekommen der Infektion durch Störung
der Drüsensekretion und gesteigerte Virulenz der Mund¬
höhlenbakterien wesentlich begünsligt, ganz' besonders im
Terminalstadium des Magenkarzinoms. Bei besonders lang¬
dauernden schweren Krankheiten nimmt die amylolytische und
antiseptische Wirkung, sowie auch die Quantität des Speichels
ab. Das Drüsengewebe selbst wird bei Karzinom durch die
Elimination der Toxine auf dem Wege der Speichelsekretion ge¬
schädigt. Die Vennehrung der Virulenz der Mundhöhlenbakterien
ist durch die im Terminalstadium des Karzinoms auftretende
Stomatilis bedingt, welche eine saure Reaktion des Mundhöhlen¬
sekretes hervorruft. In dem mitgeteilten Falle begünstigte die
Sistierung der Ernährung per os infolge von Herabsetzung der
Speichelsekretion und Virulenzsteigerung das Zustandekommen
der Infektion. Das bezüglich der Parotis Gesagte gilt auch für
die anderen Speicheldrüsen, jedoch kommt eine Vereiterung, dieser
Drüsen im Terminalstadium mit Kachexie einhergehender Er¬
krankungen nur ausnahmsweise vor. Prophylaktisch ist besondere
Antisepsis der Mundhöhle und fleißiges Kauen angezeigt, um die
Speichelsekretion anzuregen, die Erkrankung selbst wird durch
Inzision behandelt. — (Bull, et Mein, de la Soc. med. des hop.
de Paris 1906, Nr. 34.) a. e.
*
225. Aus der medizinischen Klinik zu Straßburg (Professor
V. K r e h l). U e b e r einen Fall v o n a b u n d a n t e r Lunge n-
b 1 u t u n g bei Mitralstenose u n d hochgradiger Sklerose
d er A r t e r i a p u 1 m o n a 1 i s. Von Dr. G. Schwartz, früherer
Oberarzt der Klinik. Es handelt sich um einen 30jährigen Apo-
tbekerknecht. Kein Potus, keine Lues. Mit 24 Jahren Auftreten
von Herzbeschwerden. Im Winter 1903/1904 begann Bluthusten,
der mit Intermittenzen seither wiederholt und abundant auf¬
trat. Ein solcber Bliitsturz am 30. Mai 1905 veranlaßte den
Patienten, am nächsten Tage die Klinik aufzusuchen. Status:
Zyanose der Lippen, dabei hochgradige Anämie. Temperatur:
37-4”. Lungenbefund normal, nur in der unteren Hälfte des rechlen
Unterlappens Krepitieren. Dyspnoe bei ruhiger Bettlage Jnäßig.
Herz stark verbreitert. An der Herzspitze ein typisches, pi'ä-
systolisches Geräusch. Ueber der ^Arteria pulmonalis ein kurzes,
systolisches Geräusch und verstärkter zweiter Tön; über der
.') lU
. 'C-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCIIRIFT. 1907
Nr. 17
Trikuspidalis unreiner erster Ton. Halsvenen pulsieren deullieli.
Der Auswurf rein blutig, hellrot, schaumig, enthält Herzfehler¬
zellen, keine Tuherkelhazillen. 13. Mai. Seilher täglich starke
Hämoptoe, ln der folgenden Nacht plötzlich Parese der rechten
Körperhälfte, motorische Aphasie geringen Grades. 15. Alai. Tem¬
peratur 39-1'^; Puls schwach, 1120. Unter ahundanter Hämoi)toe,
stärkster Dyspnoe und Zyanose erfolgt am 16. Mai der Exitus
letalis. Klinische Diagnose: Mitralsteiiose und Insuffizienz, Triku-
spidalinsuffizienz, Herzfehlerlunge. Lungeninfarkte, Embolie der
linken Arteria fossae Sylvii. Anatomische Diagnose: Embolie
der linken Arteria fossae Sylvii, Mitralstenose, Trikuspidalstenose,
braune Induration der Lungen, 'Blutungen in die Bronchien, iVr-
teriosklerose der Arteria pulmonalis, Milz- und Niereninfarkte,
Blutungen in die Alagenschleimhaut. Der Fall ist interessant durch
die starke Lungenhlutung, die zu Anämie führte und dadurch
eine Lungentuberkulose vortäuschte, weiters dadurch, daß trotz
kardialer Ursache der Blutung sich hei der Sektion keine Em¬
bolien im Gebiete der Arteria pulmonalis und keine emholischen
Infarkte fanden. Von ganz besonderem Interesse war der Befund
hochgradiger Sklerose der Arteria pulmonalis. Profuse Lungen-
hlutungen sind hei Herzkranken nicht häufig und wenn die Herz¬
erscheinungen nicht sehr ausgesprochen sind, liegt die Verwechs¬
lung mit tuberkulöser Hämoptoe nahe. Französische Autoren
haben solche P’älle unter dem Namen der ,,Hemoptysie cardiaque“
oder ,,Foi'me hemoptoique des maladies du coeur“ heschriehen.
Die Sklerose der Arteria pulmonalis ist nach Bömberg kein
allzu seltener Befund bei chronischer Lungenstauung, besonders
hei Mitralstenose und bei Lungentuberkulose, sehr selten hei
endokarditischen Prozessen an den Pulmonalklappen. Tn diesen
Fällen bleibt sie klinisch symptomlos. Erst wenn sie zu starker
Verengerung der Pulmonaläste, ohne Bestehen eines Klappen¬
fehlers oder besonderer Lungenveränderungen, geführt hat, ge¬
winnt sie klinisches Interesse. Solche Fälle sind mehrfach be¬
schrieben. Als Ursache der Entstehung der Pulmonalsklerose wird
.von den meisten Autoren übermäßige Stauung und anhaltende
Drucksteigerung im kleinen Kreislauf angenommen. Einwandfreie
Fälle von Lungenblutung infolge Ruptur der Pulmonalis hat Ver¬
fasser in der Literatur nicht finden können. Auch in diesem
Päille lag es nahe, die Hämoptoe bei F’ehlen von Embolien und
emholischen Infarkten auf die hochgradige Sklerose der I^ulmo-
nalis zurückzuführen, doch konnten bei genauester Untersuchung
nirgends Zeichen der Ruptur gefunden werden. Die Blutung muß
demnach nach Verf. ihre Quelle in den Kapillaren haben, sie
muß auf Rechnung der StauungsTunge gesetzt werden, bei der
Hämorrhagien von solcher Intensität wie in diesem Falle aller-
<Iings ein sehr seltenes Vorkommnis darstellen. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 13.) G.
♦
226. Der Einfluß exzessiver Flcischdiät auf das
Knochensystem. Von Chalmers Watson, Edinburgh. Zum
Versuche kamen über 100 Ratten, welche mit Fleisch gefüttert
wurden und zum Teil von Müttern stammten, die während der
Schwangerschaft auch Fleischnahrung erhalten hatten. Das Alter
der zwecks Untersuchung des Knochensystems getöteten Tiere
betrug einen Tag bis drei Monate. 'Das Alter der meisten Tiere
betrug zur Zeit des Todes kaum xlrei Wochen. Der Befund am
Knochensystem der getöteten Tiere bestand in unvollkom¬
mener Verknöcherung, mit erhöhter Vaskularisierung und
vermehrter Zahl der roten Blutkörperchen. Außerdem fanden
sich an den knöcherneji Rippen Knötchen aus Knorpel¬
gewebe, vom Periost ausgehend, mit direkter Umwand¬
lung von Knorpelzellen in Knochen. Obgleich nun bei makro¬
skopischer Betrachtung die Veränderungen am Skelett sehr an
vorgeschrittene Formen von menschlicher Rachitis erinnerten,
so war doch das mikroskopische Bild der Epiphysenlinie der
langen Röhrenknochen von dieser völlig vemchieden. Im An¬
schluß an diese Tierversuche wird folgender, etwas abenteuerlich
klingender Fall beschrieben: Das Kind einer Mutter, welche
längere Zeit unter vorwiegender Fleischdiät gestanden hatte, er¬
hielt im Alter von einem Jahre anläßlich nicht, entspi'echender
Zahnung durch sechs Wochen rohen Fleischsaft. Das Kind wurde
stark anämisch, zeigte psychische Depression etc. und sein Zu¬
stand verschlimmerte sich immer mehr. Es wurde von anderer
Seite die Diagnose auf latente Tuberkulose gestellt. Als Ver¬
fasser das Kind sah, erinnerte er sich an ein klinisches Bild,
das er manchmal bei jungen Ratten anläßlich seiner Versuche
gesehen hatte und führte die Symptome auf eine Erschöpfung
der Funktion des Knochenmarkes, der Schilddrüse und anderer
Gewebe zurück, hervorgeiufen durch den übermäßigen Fleisch¬
genuß der Mutter. Die Obduktion ergab keine Spur von Tuber¬
kulose. Die langen Röhrenknochen waren sehr weich und die
histologische Untersuchung des Radius epgab ein ähnliches Bild
wie bei den Rippen der Ratten. — (Lancet, 8. Dezember 1906.)
J. Sch.
227. lieber die Elemente der Prognose bei der
akuten serofib rin Ösen Pleuritis. Von H. Barth. Der
prognostische Wert der einzelnen Symptome der Pleuritis ist
an sich unbedeutend, doch kann man durch Gruppierung der
überhaupt i)rognostisch verwertbaren Symptome ziemlich verlä߬
liche Aufschlüsse gewinnen. Aus der Art des Beginnes der Er¬
krankung ist für die Prognose wenig zu entnehmen; einzelne
Beobachter betonen, daß gerade die stürmisch, mit hohem Fieber
und heftigem Seitenstechen einsetzenden Pleuraergüsse eine gün¬
stigere Prognose geben, als solche mit mehr schleichender Ent¬
wicklung. Wichtiger ist die Beschaffenheit der Exsudatflüssigkeit.
Ein gelber, vollkommen transparenter Erguß von relativ hohem
spezifischen Gewicht, 1020 bis 1025, welcher ein festes, dichtes
Koagulum absetzt, ist der Ausdnick einer kräftigen Reaktion der
Pleura gegen die ursächliche Schädlichkeit und ist prognostisch
relativ günstig. Ein grünliches, seröses Exsudat von geringer
Dichte unter 1015 und geringer oder fehlender Gerinnungsfähigkeit,
weist auf Verlegung der Lymphbahnen der Pleura durch aus¬
gedehnte, tuberkulöse Lymphdrüsen hin, rezidiviert sehr häufig
und führt schließlich zu chronischer Tuberkulose. Ein stark
sanguinolentes Exsudat ist, wenn nicht bereits die ^zweite Punktion
eine Abnahme des Blutgehaltes ergibt, prognostisch ungünstig,
weil die Blutungen einen Zustand schwerer Anämie herbeiführen,
welche einen günstigen Boden für die Entwicklung von Tuber¬
kulose schafft. Die ungünstigste Prognose geben durch starken
Leukozytengehalt getrübte Exsudate, weil die daraus sich ent¬
wickelnden fibrinös - eitrigen Ergüsse der Ausdruck einer käsig¬
fibrösen Erkrankung der Pleura und der Lungen sind. Die Unter¬
suchung der unterhalb des Exsudates befindlichen Lungenpartien
vermag keine verläßlichen Aufschlüsse hinsichtlich der Prognose
zu geben. Dämpfung, feuchte Rasselgeräusche und Bronchophonie
in der Lungenspitze der erkrankten Seite, sprechen nicht unbe¬
dingt für Tuberkulose, sondern können auch durch xAtelektase
und Kongestion der durch ein großes Exsudat komprimierten
Lungenpartien bedingt sein. Von wesentlicherer Bedeutung für
die Prognose ist das Verhalten der Temperatur nach der Punktion.
In günstigen Fällen sinkt das Fieber nach der Punktion rasch
oder allmählich ab und bleibt dann vollständig aus, aber auch
die mit der Resoridion ,des Exsudates zusammenhängenden Fieber¬
anfälle machen die Prognose nicht ganz ungünstig. Auftreten
leichten Fiebers nach längerer Apyrexie deutet auf Tuberkulisation
der Lungen hin. Die Menge des Exsudates ist für die Prognose
weniger maßgebend, da oft Pleuritiden mit großen, rasch sich
entwickelndem Exsudat rascher heilen. Günstig ist es, wenn
sich an die Entleeiamg einer größeren Exsudatmenge die Resorption
des Exsudates unmittelbar anschließt. Die WTederkehr des Exsu¬
dates nach der Punktion ist prognostisch ungünstig und es er¬
scheinen nach drei- oder viermaliger erfolgloser Punktion die
Heilungsaussichten wesentlich herabgesetzt. Eine rasch und ohne
Fieber sich vollziehende Retraktion der erkrankten Thoraxhälfte
ist bei normalem Lungenbefund prognostisch günstig, bei Aus¬
bleiben der Retraktion ist Rezidiv zu befürchten, zu hoch¬
gradige Retraktion bringt die Gefahr einer Induration der Lunge
mit sich. In günstigen Fällen ist die Retraktion des Thorax
immer von Zunahme des Körimrgewichtes begleitet, Abmageruiig
während der Rekonvaleszenz deutet auf Tuberkulose. Freihd't-
kur und Ruhe sind im Rekonvaleszenzstadium sehr nützlich.
— (Journ. de Prat. 1907, Nr. 2.) a. e.
♦
228. Die Methoden der Verstärkung des Knie¬
phänomens. Von 0. Rosen hach in Berlin. In vielen Fällen
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
511
kann man durcli die gewöhnliclie Mctliodc das Knicpliänomon |
niciil zuslando bringen. Zur Al)lenkimg der Aufmerksamkeit ge¬
nügt für viele, wenn auch nicht alle Fälle der Jendrassik-
sche Kunstgriff. Man hat dann empfohlen, den LTntersuchten
rückwärts zählen zu lassen, ein Verfahren, das wenig Erfolg
hat. In letzter Zeit hat Krönig zur Ausschaltung der Auf¬
merksamkeit empfohlen, den zu Untersuchenden auf das Kom¬
mando ,, Jetzt“ rasch nach der Zimmerdecke Idicken und forciert
inspirieren zu lassen. Rosen hach weist nun prüf die von ihm
seit Jahren geübte Methode hin. Er läßt den zu Untersuchenden,
nachdem er die Beine gekreuzt hat, aus einem nicht zu kleinen
Buche oder aus einem großen Zeitungsblatt möglichst schnell
und laut vorlesen. Beim schnellen Lesen wird die Aufmerksam¬
keit vollkommen abgelenkt und günstige Bedijigungen für das
erforderliche ,, unbeeinflußte Gleichgewicht der unteren Extremi¬
täten“ geliefert. Älan kann sofort, nachdem' einige Worte ge¬
lesen worden sind, mit dem Beklopfen beginnen und wird häufig,
nach nutzloser Anwendung der übrigen Methoden,' einen sehr
deutlichen Reflex feststellen können. Dieses Verfahren kann auch
hei Kindern angewendet werden. Bei uninlelligenten oder be¬
wußtlosen Personen führen aber alle diese Verfahren nicht zum
Ziele. Unter diesen Umständen erfüllt nach Verf. Ansicht nur
die von Guttmann (Fortschritte der Medizin lß06, Nr. 21)
angegebene Methode alle Forderungen,' die in allen Fällen be¬
sonders leistungsfähig ist. Sie besteht darin; daß miau ein Bein
des zu Untersuchenden mit Hilfe von zwei Handtüchern oder
Binden suspendiert. Und zwar legt man zuerst ein Handtuch
um den Unterschenkel und hebt ihn damit etrvas in die Höhe.
Mit Hilfe eines zweiten Handtuches, das um den Üherschenkel
dicht oberhalb des Knies gelegt ist, läßl. man durch einen Ge¬
hilfen den Oherschenkel etwas schräg nach' oben ziehen, so
daß das Knie einen stumpfen Winkel bildet. Patienten mit freiem
Bewußtsein werden angewiesen, die Schenkel möglichst passiv
auf den Handtüchern liegen zu lassen. Rosen hach stimmt
dem Autor dieser Methode bei, wenn er meint, daß man erst
dann von einem Fehlen des Patellarreflexes' sprechen darf, wenn
diese Älethode keinen Aufschluß gibt. — (Münchener medizi¬
nische Wochenschrift 1907, Nr. 2.) G.
*
229. U 0 b e r die H e i 1 b a r k e it des K a r z i n o m s im
allgemeinen und die Behandlung des Zungenkarzi-
n o m s i m b e s o n d e r e n. Von C o r n i 1. Klinisch ist das Karzinom
durch fortschreitendes lokales Wachstum, Rezidive, Uebergreifen
auf die Lymphdrüsen und Metastasenbildung in entfernten Or¬
ganen gekennzeichnet. Es zeigt sich, daß hinsichtlich des histo¬
logischen Befundes identische Neoplasmen, in ihrem Verlauf und
ihrer Schwere, je nach dem Gewebe oder Organ, in welchem
sie sich entwickeln, differieren. Die malignen Tumoren werden
durch die Sarkome und Epitheliome repräsentiert. Die Sarkome
sind von den Fibromen nicht deutlich abgegrenzt. Es gibt fibröse
Tumoren der Bauchwand, welche rezidivieren, anderseits gut¬
artige Hautsarkome. Die Rund- und Spindelzcllensarkome des
Periosts und der Knochen haben eine Tendenz zur Rezidive,
während die Spindelzellensarkome mit Myeloplaxeii durch Exstir¬
pation heilbar sind. Auch das sonst bösartige Melaiiosarkom
ist in einzelnen Fällen mit langer Lebensdauer vereinbar. Unter
den Epitheliomen zeigt das tubuläre und alveoläre Epitheliom
mit polyedrischen Zellen die größte Malignität, doch wird hei
dem zu diesem Typus gehörigen atrophischen Skirrhus der Älamma
auch ohne Operation eine Krankheitsdauer von 10 bis 20 Jahren
beohachtet. Das tul)’uläre oder lohuläre Epitheliom mit Pflaster¬
epithelzellen, mit oder ohne Krebsperlen, ist bei Lokalisation
an der Zunge, Lippe, Anus, Zervix und Oesophagus sehr bösartig,
dagegen, bei gleichem histologischen Bau, auf der Gesichtshaut,
relativ gutartig. Das Zylinderzellenepilheliom ist bei Lokalisation
im Magen oder iMastdarm sehr bösartig, an der jMamma lokalisiert,
dagegen gutartig. Die Ovarialzysten, ihrem Bau nach Schleim¬
hautepitheliome von pai)illärom oder glandulärem Bau, hleiben
gewöhnlich auf das Ovarium hegrenzt, können aber manchmal
^Metastasen im Penloneum setzen. Die im allgemeinen als gut¬
artig betrachteten Cliondrome wuchern manchmal in die Venen,
hinein und erzeugen iMetastasen in entfernten Organeji. Das
Ghondrom des Hodens ist weit bösartiger als das Chondrom
der Si)ei(dieldrüsen, selbst wenn es zur zystisclien Form gehört.
Auch Ne'uhildungen analoger Struktur iUnd gleicher Ijokalisalion
zeigen niedd^ immer die gleiche Bösartigkeit; Das Plalleiu'pillielioin
der Portio verläuft rapider als das Zylinderzellenei)ithelioin des
Uteruskörpers. — (Bull, de FAcad. de Metl. 190B, Nr. 99.) a. c.
Therapeutisehe flotizen.
(Aus der Kinderabteilung der Universitätsklinik in Rostock.)
Weitere E r f a It r u n g e n mit de m amerikanischen W u r m-
samenöl (Oleum Chenopodii anthelmintici) als Anti-
a s c a r i d i a c u m bei Kinde r n. Von Priv.-Doz. Dr. Herman n
Brüning. An 20 Fällen, welche Kinder im Alter von 9 bis 19
Jahren betrafen, hat Verf. das amerikanische Wurmsamenöl er¬
probt und empfiehlt es auf das beste. Während der Kur, welche
durchschnittlich einen halben Tag dauert, blieben die kleinen
Kranken im Bette. Je nach dom Alter erhielten die Kinder, mit
Hilfe eines Tropfglases abgemessen, 8 bi» 15 Tropfen (0-5 bis
1-0 reines Oel) in Zuckerwasser verrührt und hinterher (ün Ab¬
führmittel in Gestalt von .01. Ricini, Pulv. Curellae u. dgl. und
zwar alles in einstündigon Pausen. Trat bis zum Spätnaclimitta.g
eine Wirkung nicht ein, .so wurde nochmals ein Laxans in der¬
selben Menge gegeben, ln fast allen Fällen wurden die Askariden
durch diese einmalige Kur bis zum anderen Morgen abgetrieben;
nur bei drei oder vier Kindern mußte ain nächsten Tage die
Kur wiederholt werden. Die Askariden werden durch das Wurm¬
samenöl nicht getötet, sondern nur narkotisiert, da.her das Laxans
notwendig ist; auch löst das Oel beim längeren Kont,akt mit
der Darmschleimhaut Reizwirkungen aus, Scideimbeimengimgen
zum Stuhle. Um den eigenartigen Geruch und Geschmack des
Oeles zu decken, lasse man hinterher etwas warme Milch trinken.
Aus dem Wurmsa,menöl wurde ein Körper, ein ätherisches Oel,.
gewonnen, welches dieselire Wirkung, aber keine besonderen Vor¬
züge vor dem Oele besitzt. Das Wurmsamenöl ist übrigens in
Amerika offizinell. — (Deutsche medizinische Wochenschrift 1907,
Nr. 11.) E. F.
Vermisehte l'laehriehten.
Ernannt; Der außierordentlicho Professor der Anatomie
in Bonn, Dr. M. Nußbaum, zum ordentlichen Professor. —
Dr. S. Delitz in zum ordentlichen Professor der Cliirurgie an
der militär- medizinischen Akademie in Petersburg. — Dr. Cirin-
cione zum außerordentlichen Professor der Augenheilkunde in
Palermo.
*
Die Professoren v. Leyden in Berlin, Erl) und Arnold
in Heidelberg, sind zu Geheimräten mit dem Titel Exzellenz er¬
nannt worden.
*
Verlieben: Dem Oberstabsarzt Dr. Robert Busch von
Tes sen born in Przeniysl das Offizierskreuz des Franz - Joseph-
Ordens. — Dem Zahnarzt Dr. Ph. Steinin ger in i\Iarienbad
das Ritterkreuz des bulgarischen nationalen Zivil - Verdienst-
Ordens mit der Krone. — Dem Zahnarzt Dr. E. Endlicher
in Wien der kaiserlich persische Orden für Wissenschaft 1. Klasse.
*
Hah i 1 iti c r t : In Wien: Dr. Ludwig, Wiek für Balneo¬
logie und Klimatologie und Dr. Artur Schüller für Psychiatrie
und Neurologie. — Bezirksarzt Dr. Josef. Rambo usek'für Ge¬
werbehygiene an der deutseben technischen Hochschule in Prag.
*
Gestorben: Der Universitätsprofessor und 'Vorstand des
zahnärztlicben Institutes in Graz, Dr. Anton Bleichs teiner.
In der Si tzung i les n i e d e r ö s t e r r e i c h i s c h e n L a n d e s-
sanitätsra tes vom 15. Apiil d. J. wurden folgende Gutachten
erslaltet: 1. über das Statut der neüen niederösterreichischen
Landes-Heil- und -Pflegeanstalten für Geistes- und Nervenkranke
am Steiidiofe in Wien .XHl; 2. ül)er ein Ansuchen um Bewilligung
zum Bezüge von Sacclwrin zur Herstellung diätetischer Genuß.-
mittel; 9. über ein Ansuchen um Bewilligung zur Enveiterung
einer Pj'ivaterzichiingsanstalt für schwachbetähigte Kinder in Wien.
*
A Is Ort der Tagung des näebsten Kongresses f ü r i n n e r e
Medizin wurde über Antrag, von Prof. ,1. Schwalbe-Berlin mit
großer iMajojität Wien gewählt. Hiemit scheint auch die all¬
gemeine Stimmung der Kongreßimitglieder gegen die immerwäh¬
rende Festlegung der Versammlung an einem und demselben Orte
deutlich zum Ausdruck gekommen zu sein. Daß die hiesigen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
. - - - - " . -
inler('.s.sicrloii Kreisr diosoii Beschluß ;uil' das wännsle hcgrüßcu,
bc'daii' keiner ])esondereu Versicherung.
Donnerstag den 25. April findet uni 7 Uhr abends, iin
Saale des niederösterreichischen Ingenieur- und Architeklenver-
(“incs, Wien I., Eschenbaebgasse Nr. 9, die konstituierende
V e r s a in m lung der 0 e s te r r e i c h i s c h e n Gesellschaft zur
Bekämpfun g der Ge s chl e c h tskr an k b e i te n statt. Pro¬
fessor Ebrmann wird über die Bedeutung der Gescbleclitskrank-
heiten vom sozialetbiscben Standpunkte, Prof. Stöbr über die
Bedeutung der Geschlechtskrankbeiten vom sozialhygienischen
Standpunkte und Prof. E. Finger über die Aufgalien der Oester-
reiebischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlecbtskrank-
beiten berichten.
Am Samstag den 27. April d. .1., abends G Uhr, findet im
Sitzungssaale des Wiener medizinischen Doktorenkollegiums,
Wien 1., Botenturmslraße Nr. 21, die ordentliche Generalver¬
sammlung des W' oh 1 f a h rts ve rei n e s für Hinterblie¬
bene der Aerz te N ie d e r ö s te r r e i c b s slatt. Der verdienst¬
volle Verein zählt derzeit 5 Stifter, 18 Gründer, 27 unter¬
stützende und nur 875 wirkliche Milglieder. Es wäre sehr zu
wünschen, wenn auch weitere Kreise den Bestrebungen des Ver¬
eines ein höheres Interesse enlgegenbringen würden.
*
Priv.-Doz. Dr. phil. Franz Strunz- Wien wird am 24. April
im IMatbematisch- naturwissenschaftlichen Vereine der k. k. tech¬
nischen Hochschule in Wien einen Vortrag über ,,T h e o p h r a s t u s
Paracelsus“, seine Naturforschung und sein Leben (mit be¬
sonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zu Oesterreich)
halten. Zeit: 7 Uhr. Ort: Technische Hochschule, Hörsaal XH.
*
Im Verlage der k. k. Hof- und Staatsdruckerei ist der Bericht
über die n i e d e r ö s t e r r e i c h i s c h e n L a n d e s i r r e n a n-
stalten und die Fürsorge des Landes Niederösterreich für
schwachsinnige Kinder erschienen. Der Bericht, welcher vom
Landesausschusse herausgegeben worden ist (Referent: Herr
Bielohlawek), erstreckt sich über die Zeit vom 1. Juli 1904
bis 30. Juni 1905.
*
Vorläufiges Ergebnis der S a n i t ä t s s t a t i s t i k bei
<ler Vlannschaft des k. und k. Heeres im Februar 1907.
Krankenzugang 23.285 Vlann, entsprechend der duichsclmittlichen
Kopfstärke 82Voo; an Heilanstalten abgegeben 8995 Mann, ent¬
sprechend der durcbschnittlichen Kopfstärke 32%o; Todesfälle
5G Mann, entsprechend der durchschnittlichen Kopfstärke OT9%o.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 14. Jahreswoche (vom 31. März bis
6. April 1907). Lebend geboren, ehelich 733, unehelich 348, zu¬
sammen 1081. Tot geboren ehelich 64, unehelich 31, zusammen 95.
Gesamtzahl der Todesfälle 802 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 20-9 Todesfälle), an Bauchtyphus 1,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 28, Scharlach 7, Keuchhusten 4,
Diphtherie und Krupp 6, Influenza 1, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 3,
Lungentuberkulose 143, bösartige Neubildungen 63, Wochenbett-
fieber 1. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlaur47 (-)- 10), Wochen¬
bettfieber 0 ( — 2), Blattern 0 (0), Varizellen 48 (— 2), Masern 318
(-f- 38), Scharlach 73 ( — 24), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 5 ( — 4),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 76 ( — 12), Keuch¬
husten 63 (-]- 34), Trachom 0 (0), Influenza 0 ( — 2).
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt B f e z n i t z
nördliches Gebiet, mit dem Wohnsitze in der Stadt Bfeznitz (Böhmen).
Jahresgehalt K 800, Reisepauschale K 412, zusammen K 1212. Die im
Sinne des § 5 des Landesgesetzes vom 23. Februar 1888 belegten Ge¬
suche sind bis 27. April d. J. beim Bezirksausschüsse in Bfeznitz ein¬
zubringen.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Deutsch-
Prausnitz (Böhmen) mit neun Ortschaften mit 4391 Einwohnern und
dem Amtssitze des Arztes in Deutsch-Prausnitz. Jahresgehalt K 80Ö, Reise¬
pauschale K 200, Hausapotheke. Bewerber deutscher Nationalität haben
ihre nach deu Vorschriften des § 5 des Landesgesetzes vom 23. Februar
1888 instruierten Gesuche bis Ende April d.J. beim Bezirksausschüsse
Trautenau einzubringen.
Gemeinde arztessteile für den die Gemeinden Kaczyka,
Neu-Solonetz, Oberpertestie und Unterpertestie und die aus denselben
ausgeschiedenen gleichnamigen Gutsgebiete umfassenden Sanitätssprengel
Kaczyka (Bukowina). Die mit diesem Posten verbundene Jahresdotation
beträgt K 1200. Gesuche sind binnen vier Wochen, vom Tage der ersten
Einschaltung dieser Kundmachung in die Czernowilzer Zeitung an
gerechnet, bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft in Gurahumora einzu¬
bringen.
Zwei San i t ä t s a s si s t en t en s t e 11 en bei den politischen Be¬
hörden in Mähren mit dem Adjutum jährlicher K 1200. Gehörig belegte
Gesuche sind bis 10. Mai d. J. an das k. k. Statthaltereipräsidium in
Brünn einzureichen.
Im Status der Abteilungsvorstände der Wiener k. k. Kranken¬
anstalten ist eine Primararztesstelle 2. Klasse, zugleich Vor¬
standes einer medizinischen Abteilung mit dem Range der VIII. und den
Bezügen der IX. Rangsklasse, d. i. dem Gehalte jährlicher K 2800 mit
vier Triennalzulagen zu je K 200 und der Aktivilätszulage jährlicher
K 1200 zu besetzen. Bewerber um diese Stelle haben ihren vorschrifts¬
mäßig gestempelten Gesuchen den Tauf- oder Geburtsschein, den Heimat¬
schein, das Diplom über die Erlangung des Doktorgrades der gesamten
Heilkunde an einer österreichischen Universität, sowie die sonstigen
Dienstesdokumente und die Nachweise über ihre theoretische und
praktische Vorbildung anzuschließen. Die Gesuche sind, wenn die Be¬
werber bereits im öffentlichen Dienste stehen, im Wege der Vorgesetzten
Dienstbehörde, sonst unter Anschluß eines amtsärztlichen Gesundheits¬
zeugnisses, sowie eines legalen Sittenzeugnisses unmittelbar bei der Ein¬
laufstelle der k. k. niederösterreichischen Statthalterei (I., Herrengasse 11)
bis spätestens 30. April 1907 einzubringen. Wien am 12. April 1907.
Von der k. k. niederösterreichischen Statlhalterei.
An der gynäkologischen Abteilung des St. Elisabet h-
Spi tales, Wien HL, Hauptstraße 4, kommt mit 1. Mai 1. J. die Stelle
eines Sekundararztes zur Besetzung. K 1200 jährlich und freie
Wohnung. Bewerber mögen ihre Gesuche an die Spitalsleitung senden
oder sich zwischen 9 und 10 Uhr vormittags persönlich an den Primararzt
dieser Abteilung wenden.
Aufruf.
Mit Schluß des Sommersemesters 1907 tritt Herr Hofrat Professor
Dr. Adam Politzer nach Erreichung der durch die österreichischen
Gesetze bestimmten Altersgrenze von der Leitung der k. k. Universitäts¬
klinik für Ohrenkranke in Wien und nach 46jähriger ruhmreicher aka¬
demischer Tätigkeit vom Lehramte zurück.
Angesichts des weltumfassenden Rufes Politzers und der all¬
gemeinen Verehrung, die er ganz besonders im Kreise seiner Schüler
und engeren Fachgenossen genießt, ist es überflüssig, hier auf seine Be¬
deutung für die Ohrenheilkunde und die Gesamtmedizin hinzuweisen.
Die Gefertigten glauben daher, dem Wunsche der zahlreichen
Schüler und Freunde Prof. Politzers zu entsprechen, wenn sie den
Zeitpunkt, an welchem der gefeierte Meister die Stätte seiner langjährigen
Wirksamkeit verläßt, für geeignet erachten, den Gefühlen der Verehrung
und Dankbarkeit ihm gegenüber Ausdruck zu verleihen.
In voller Uebereinstimmung hatte das gefertigte Komitee ursprüng¬
lich für diesen Tag eine solenne Feier beschlossen, an welcher die in-
und ausländischen Kollegen und Abordnungen der otologischen Gesell¬
schaften zur Teilnahme eingeladen werden sollten. Prof. Politzer, der
davon Kenntnis erhalten, hat jedoch, mit Rücksicht auf mehrere in der
letzten Zeit in seiner engeren Familie vorgekommene Todesfälle dringend
gebeten, von dieser geplanten Feier abzusehen.
Es wurde daher beschlossen, eine von Meister Teles entworfene
Plaquette prägen zu lassen, die das Porträt Politzers tragen und
allen an dieser Kundgebung Teilnehmenden zur bleibenden Erinnerung
an seine Person und an den denkwürdigen Tag dienen, dem Gefeierten
selbst aber, in Gold ausgeführt, am Tage seines Abschieds vom Lokal¬
komitee überreicht werden soll.
Zugleich mit der Plaquette wird dem Meister eine Adresse über¬
reicht werden, die die Namen aller derjenigen enthalten soll, welche
sich an dieser Kundgebung beteiligen werden.
Wir laden demnach sämtliche Kollegen ein, insbesondere die
gewesenen Schüler Politzers und die Vertreter des otologischen
Faches, ebenso aber auch alle, die dem berühmten Wiener Gelehrten
Interesse entgegenbringen, ihre Anmeldungen zum Bezüge einer
Plaquette an den Schatzmeister des gefertigten Komitees einzu¬
senden. Gleichzeitig mit der Anmeldung, welche den deutlich ge¬
schriebenen Namen, die Titel und die genaue Adresse enthalten muß,
wird gebeten, den Betrag von K 24 (M. 20, Fres. 24) für eine silberne,
oder von K 12 (M. 10, Fres. 12) für eine Bronzeplaquette an den Schatz¬
meister Herrn Dr. D. Kaufmann in Wien VL, Mariahilferstraße 37 ein¬
zusenden.
Aus dem Ueberschuß der Beträge, der nach Deckung der Her¬
stellungskosten verbleiben dürfte, soll ein Fonds gebildet werden, der
Herrn Hofrat Politzer zur Errichtung einer Stiftung zur Verfügung
gestellt werden soll.
Wir bitten, die Anmeldungen sobald als möglich, längstens aber
bis zum 15. Mai 1907 einzusenden, u. zw. nur an die angegebene
Adresse.
Für das Komitee;
Prof. Dr. Josef Po Hak- Wien
Doz. Dr. Hugo Frey- Wien Doz. Dr. G. Al exander- Wien
Dr. D. K au f m an n - Wien VL, Mariahilferstraße 37.
Prof. Dr. B ö k e - Budapest, Prof. Dr. D e m e t r iad i s - Alhen, Professor
Dr. G r a d e n igo - Turin, Dr. C. L ag er lö f - Stockholm, Geheimrat
Prof. Dr. A. L u c a e - Berlin, Prof. Dr. Urban Pr i t ch a r d -London,
Prof. Dr. S ch m i e gel 0 w - Kopenhagen, Dr. Stanculean u -Bukarest,
Dr. S e g u ra- Buenos Aires, Prof. Dr. Delseaux- Brüssel, Professor
R. F 0 rn s - Madrid, Prof. Dr. H. Knapp-New-York, Dr. M. Lermoyez-
Paris, Prof. Dr. Okada-Tokio, Prof. Dr. Rohrer-Zürich, Prim. Doktor
Sehr aga- Belgrad, Prof. Dr. St. v. Stein-Moskau, Prof. Dr. Zwaar-
demaker-Utrecht.
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
513
Verhandlungen ärztlicher Oesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT;
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 19. April 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung der pädiatrischen Sektion vom 11. April 1907.
Aerztlicher Verein in Brünn. Sitzung vom 6. und 16. März 1907.
30. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
1. Sitzungstag 3. April 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 19. April 1907.
Vorsitzender: Prof. Finger.
Schriftführer : Dr. Blau.
Der Vorsitzende macht Mil teil ung, daß Danksclireiheu ein¬
gelaufen sind vom neugewählten Ehrenmitglicde Hofrat Professor
Eder und von den neugewählten korrespondiererLden Milgliedern
Dr. M. Kaller in Konstantinopel und Dr. Eduard Zirm in Ülmütz.
Der Vorsitzende teilt ferner mit: Die Wahl des Prof. Agosto
Murri in Bologna zum Ehrenmitglicde, des Dr. Choksy
in Bombay und des Dr. William Francis in Boston zu korre¬
spondierenden Mitgliedern wurde gemäß', § 9 der Statuten
der Gesellschaft der Aerzte von der k. k. Statthalterei zur Kenntnis
genommen.
Prof. Ehrmann stellt drei Fälle vor, welche für die Frage
d er Ha u 1 1 n h e r k u 1 o s e von Interesse sind .
1. Einen 24 Jahre alten Mann, der auf beiden Wangen, den
Backen, den Ohren, dem Lippenrot und dem behaarten Kopfe
Plaques, von Lupus erythematodes in den verschiedensten Stadien,
bis zur völligen Narbenatrophie zeigt. Außerdem beiderseits längs
des Sternocleidomastoideus je einen rosenkranz förmigen Strang
von angeschwollenen, harten Drüsen, die sich unter die Klavikula
fortsetzen, auf den Extremitäten typische, akneiforme, nekroti¬
sierende Tuherkulidknö teilen.
Auf eine einmalige Injektion von Alttuberkulin tritt eine
leichte, allgemeine (38*^0) und deutliche lokale Reaklion (Anschwel¬
lung der fiischen Lupus erythematodies - Plaques) ein, die als
solche histologisch sichergestellt wurden durch den Mangel tuber¬
kulösen Baues. (Präparate werden demonstriert.)
2. Ein Mädchen mit ausgedehnten Narben von skrofulösen
Drüsen des Halses und einem flachen, schuppenden Lupus ery¬
thematodes auf den pernioartig geröteten Händen. Die Patientin
kam mit einem die Extremitäten bedeckenden lividen Knotenaus¬
schlag und der Diagnose Erythema nodosum ins Krankenhaus;
doch zeigten sich schon bei der Aufnahme kleine nekrotische
Krüstchen an der Kuppe der etwa erbsengroßen Knoten. Im
weiteren Verlaufe wurde es noch deutlicher, daß' es sich um
ein pa]iulonekrotisches Tuherkulid handle.
Der. Lupus erythematodes und das papulonekroiische Tuher¬
kulid werden von manchen A u toren (B eck, H a 1 1 o p e a ii , D a r i e r)
als Zeichen von Tuherkulose angesehen, welche entweder durch
die Toxine oder Zerfallsprodukte der Tubei'kelhazillen erzeugt
werden, als nur indirekt zur Tuberkulose gehörig. Bezüglich der
Tuberkulide ist diese Anschauung allgemein angenommen, be¬
züglich des Lupus erythematodes wird jeder Zusammenhang von
einzelnen Autoren verneint. End in der Tat findet man den
.laipus erythematodes discoides oft bei kraftstrotzenden und ge¬
sunden Individuen. Ebenso gewiß findet man aber eine ziemlich
große Reihe von Fällen, besonders von Lupus erythematodes
disseminatus, wie hier in Verhindung mit deutlicher, zweifelloser
Tuherkulose, verhältnismäßig öfters noch mit papulonekrotischem
Tuberkulid. Solche Fälle wurden außer von mir, auch von
meinen Schülern Strass er, v. Röna in Budapest, von Magnus
JMöller in Stockholm v^eröffentlicht und auch' hier von mir
demonstriert, ln dem ersten Falle wurde der Zusaminenhang auch
direkt durch die Tüberkulinrea.ktion erwiesen, ln einem ähnlichen
Falle, den ich gesehen habe, wurde von Gersuny der tuber-
kidöse Appendix der Patientin entfernt. Pat. ging aber späler
doch an intestinaler Tuberkulose zugrand'e.
Besonders interessant ist der Lupus erythematodes an den
Händen des zweiten Falles. Er gehört zu jenen, welche Hul-
c bins on als ,,chirblain Lupus“ bezeichnet hat. S])äter he-
schrieh Besnier mit Tennesson einen Lupus pernio, was
eine wörtliche Uehersetziing des Wortes chilblain lupus ist. Dieser
Lupus hat eine Struktur, die an Tuberkulose erinnert, während
chilblain lupus von Hutchinson ein Lupus erythematodes ist,
der nur eine indirekte Beziehung zur Tuherkulose und nicht die
tuberkulöse Struktur hat. Jahrelang wurde nun darüber gesl ritten,
ob der Lupus pernio ein Lupus erythematodes oder ein Lupus
vulgaris sei, weil man nicht heachtet hat, daß es sich um zwei
ganz differente Formen handelt.
3. Der dritte Fall ist ein Knabe von 17 Jahren, mit einem
skrofulösen Drüsenabszeß in inguine, der schon einmal wegen
derselben Erkrankung und zerstreuter papulonekrolischer Tuber¬
kulide auf der Abteilung behandelt wurde (durch Exkochleieren
der Drüse). Jetzt ist diese vernarbt und eine kleinere vereitert
und Pat. hat nur ganz kleine Formen von papulonekrotischem
Tuberkulid. Das ln teiessan teste daran ist, daßnach einer Tuberkulin¬
injektion (l Dezimilligramm) neue Knötchen von Tuberkulid auf¬
schossen, wie wir das nur hei typischen Formen von Lichen
scrophulosorum, der tuberkulöse Struktur hat, zu sehen gewohnt
sind.
Durch solche Erfahrungen, sowie durch die gelungene Tier-
ühertragung von I.einer und Spielmann, wie auch durch
die Beobachtungen von Bett mann, sowie auch dadurch, daß
ich in einzelnen Fällen, auch in papulonekrotischen Tuberkuliden
— die sonst nur Degenerationen an den Gefäßen, Tbrombosen in
den Venen und Nekrose zeigen — Riesenzellen gefunden habe,
verwischt sich die Grenze zwischen echter Hauttuberkulose und
den Tuberkuliden immer mebr und mehr.
Diskussion: Prof. Tjamg: Ohne auf die Fragen, die Herr
Kollege Ehr mann erörtert hat, hier näher einzugehen, möchte
ich nur auf einen Umstand aufmerksam machen. Typischer
Lupus erythematodes ist ja für jeden leicht und sofort zu er¬
kennen, ebenso wie typischer Lupus vulgaris, doch kommen die
erfahrensten Dermatologen, in die Lage, in einzelnen Fällen
schwankend zu werden, ob Lupus erythematodes oder Lupus
vulgaris vorliegt. Demgegenüber ist es auffallend, daß Kombi¬
nation von typischem Lupus erythematodes mit ty¬
pischem Lupus vulgaris hei einem und demselben
Individuum höchst selten konstatiert worden ist. Es liegen
wohl, dies betreffend, vereinzelte Beobachtungen vor (Besnier
und L ac a V a 1 e r ie), doch fehlt meines Wissens die Verifizierung
durch den histologischen Befund. Ich habe eine solche Kom¬
bination von klinisch typischem Lupus erythematodes bei einem
Individuum, das Jahre hindurch an dieser Krankheit gelitten
hat, mit typischem Lupus vulgaris, der erst in der letzten Zeit
hinzugetreten war, vor mehreren Jahren heobachtet und diese
Beobachtung auch durch die histologische Untersuchung bestätigt
gefunden. Mein früherer Assistent, Herr Dr. Ludwig Spitze]',
hatte dann die histologische Untersuchung auch noch eingehend
durchgeführt, doch hat sich die Veröffentlichung der Arbeit aus
äußieren Gründen lange verzögert und konnte die Publikation
erst jetzt in den Annales de dermat. stattfinden.
Dr. Friedrich Necker demonstriert aus der chirurgischen
xAbteilung des Herrn Prof. Dr. Zucker kan dl im Rothschild-
Spital einen 48jährigen Patienten mit multiplen kartila-
ginösen Exostosen. Aus einem dieser Knochentumoren ent¬
wickelte sich im Laufe von zwei Jahren ein mehr als mannskopf¬
großes Osteosarkom, das durch Drack auf den Plexus cervico-
brachialis (VHI. Zervikal- und 1. Dorsalsegment) zu Atrojihien
der Handnniskulatur ohne Sensibilitätsstörungen, Ptosis und Pu-
pillenvereiigerung am rechten Auge, sowie zu einer j'adiologisch
deutlich nachweisbaren Knochenatrophie des rechten Armes
führte. Von den zahlreichen, über das ganze Skelett zerstreuten
bis mannsfaustgroßen Exostosen scheint eine an der Hinter¬
fläche der rechten Tihia lokalisierte, nach dem Röuigenhefund
ebenfalls sarkomatös degeneriert zu sein. Demonstnition ^ der
Röntgenhilder (Herj' Dr. Robins ohn). Die Heredität dieser
Knochengeschwülste ist hier durch Untersuchung der 22jährigen
Tochter des Patienten eiwicsen, welche ebenfalls zahlreiche karti-
laginöse Exostosen aufweist. (Erscheint ausführlich.)
Hofr. V. Eiseisberg slellteinen Fall von Phos|)h or nekrose
des Oberkiefers vor, in welchem iler nekrotische, jetzt endlich
auch etwas beweglich gewordene Oberkieferknochen hesonders
deutlich sichtbar zutage tritt. Der Fäll wird gezeigt, da dorarligc
ausgedehnte Nekrosen heutzutage doch selten geworden sind.
Der Patient ist ein 42jähriger IMann, der seit 13 .Tahren
in einer Phosphorfabrik als Beamter tätig ist und dabei den
größten Teil des Tages in einem von' Phosphordämpfen erfüllten
Raume sich aufhält. Vor vier jahren ließ er sich den kariös
X
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
a t —
gewordenen vorlcizten linken ol)eren .Molaris ziehen. .Mitte z\ngu3t
IDOG trat eine Ihterung eni, die zum LockerAvcrden der Nacli-
!)arzähne fülirle. .letzt ist wohl, anscheinend hegünstigt durch
die fast konlinuierliclie Stauungshinde (Bier) am Halse, der
Sequester am Wege der Losung und soll demnächst operativ
entfernt werden.
Im Laufe der letzten acht .fahre Avurden an der L chirur¬
gischen Klinik neun Fälle von Phosphornekrose, die an Arbeitern
in Zündholzfal)riken aufgetreten Avaren, Ireobachtet.
Ueher das Auftreten in den Fabriken selbst hat vor einem
.fahre Dr. L. Teleky interessante Studien gemacht, <ler über
diese Seite der Frage im Anschluß an meine Demonstralion
heute referiert hätte, AAmnn er nicht durch Heiserkeit daran ver¬
hindert Aväre. Hoffentlich kann er dieses in einer der nächsten
Sitzungen nachholen.
Diskussion; Primarius Dr. Latz ko herichtet im .Anschlüsse
an die vorangegangene Demonstration über einen Fall A^on Phos¬
phornekrose hei einer Osteomalazischen. Nach mehrjährigem Phos-
l)horgehrauch in normaler Dosis kam es im Anschluß an eine Zahn¬
karies zur Perioslitis und im AAmiteren V'^erlaufe zur Oberkiefer¬
nekrose, der die Patientin nach mehreren Eingriffen unter den
Erscheinungen der Sepsis erlag.
Die Beohachtung ist geeignet, das Zustandekommen der
Phosphornekrose in einem neuen Licht erscheinen zu lassen.
Die Nekrose ist nicht die Folge einer direkten EiiiAAurkung der
Phosphordämpfe auf den Knochen, sondern indirekte Folge einer
chronischen Phosphorvergiftung. Letztere ist ja bekannilich mit
intensiven Veränderungen an den Knochengefäßen verknüpft.
Kommt es im Bereiche eines unter dem Einflüsse der Phosphor¬
vergiftung stehenden Oherkieferknochens zur Periostitis durch
Infektion von einem kariösen Zahn aus, so kann die weitere
Folge eine Amllständige Verstopfung der ernährenden Gefäße sein,
die natürlich zur Nekrose führt.
Hofr. V. Eiseisberg stellt einen Fall von Makro gl os sie
Avegen Lymphangiom A'or. Das Kind ist 7V2 .fahre alt, das Leiden
von Gehm't. Vor AÜer .fahren Avurde an der Klinik eine Exzision vor¬
genommen, Avodurch die Zunge A\msentlich verkleinert Avurde. fm
Laufe der letzten Jahre Avuehs die Zunge schneller, als dem
Wachstum des Kindes entsprach ; seit acht Tagen lehhafte Be-
scliAAmrden (Atemnot, SchluckbescliAverden), die aüf Eisbehand-
hmg zurückgingen. Interessant ist die infolge der Makroglossie
bestehende Ausbiegung des Kiefers (Ektropium). Es ist jetzt eine
abermalige Exzision in Aussicht genommen und eventuell später
eine Plastik des Kiefers.
Diskussion: Dozent Dr. L. Müller macht im Anschlüsse an
den eben vorgestellten Fall auf folgende Beobachtung aufmerksam:
Bei einem fünf Jahre alten Mädchen entAAÜckelte sich in
der hinteren Zungenhälfte ein Tumor ohne scharfe Grenzen und
Amn solcher Größe, daß der Zugang zum Rachen faßt gesperrt
Avar. Bei halb offenem Munde AAmr der Zungengrund fest an
den Gaumen angepreßt. Wenige Tage, naclidem dieses Kind ins
k. k. Rochuss]ntal a'ufgenommen Avar, kam in mein dortiges Ambu¬
latorium ein vierjähriger Knabe, der an typischer luetischer Iritis
litt. Kurz darauf erkrankte auch die l\Ii;tter des Knaben an
luetischer Iritis des linken und Keratitis des rechten Auges. Diese
Frau mit spezifischer Augenerkrankimg war aber die flutter und
der Knabe der Binder jenes Mädchens mit der Gesclnvulst in der
Zunge. Zuvor Avar das Mädchen nach Angabe der Mutter nie
krank gCAvesen.
Es Avurde eine spezifische Behandlung eingeleitet, die einen
solchen Erfolg hatte, daßi der große Zungentumor binnen acht
Tagen fast vollständig zurückgehildet war.
Hofj’. Ax Eiseisberg: Da die mikroskopische Fntersuchung
l. ymphangiom ergeben hatte, ist es nicht Avahrscheinlich, daßi Jod
Avirksani Aväre.
Dr. 0. V. Frisch stellt ZAAni Fälle der Klinik v. Eiscls-
he rg A’or: Bei einem 18jährigen Schlosser besteht seit tdnem Jahre
eine Skoliose im oberen Lendenabschnitt. Da dieselbe sich
nur auf eine kleine Zahl von Wdrbeln beschränkt, soAvie irgend-
Avehdie kompensatorische Krümmungen der Brust- odei' unteren
Lendenwirbelsäule nicht bestehen, kommen zur Erklärung des
Falles in Betracht: 1. Traumatische Verletzung; 2. Neubildung;
3. Karies und 4. angeborene Mißbildung. Ad 1. läßt das Ilöntgen-
bild, an Avelcliem eine almorme Höhe der linken Hälfte des zweiten
f .endenwirliels und die auffallende Kleinheit seiner Querfortsätze
in die .\ugen springen, keinerlei Veränderung, (Kallus, Fissur) er¬
kennen, Avelche auf eine Fi'aktur schließen ließe; auch gibt Pa-
1ient an, daß er sich nie derarV Amrletzt hätte, daß er dadurch
bettlägerig gcAvorden Aväre. .Ad 2.: Eine Neubildung u. zw. eine
Exostose kann hier Avohl vorliegen, doidi spricht das Röntgenbild,
insbesondere die Asymmetrie des zweiten LendeiiAvirbels auch
gegen diese Annahme. Karies ist schon deshalb unAvahrscheiu-
lich, Aveil der sonst kräftige Pat. keinerlei Erscheinungen von
Tuberkulose zeigt und auch das Röntgenogramm keine für diese
Krankheit charakteristische A"eränderun,g aufAAmist. Eine ange¬
borene Amrhildung des zAAmiten LendeiiAvirbels — elwa eine A^er-
schmelzung desselben mit einem überzähligen Rudiment — kann
hier — speziell nachdem die sub 1. und 2. angeführten ursäch¬
lichen Momente manches gegen sich haben — nicht von der
Hand gewiesen Averden. Daß die Skoliose erst im 17. Jahre auf¬
trat, spi’icht nicht gegen diese Erkläiamg, indem Avir wissen, daß
angeborene A^erbildungen von AVirbeln sehr Avohl erst Adel später
zur Rückgratverkrümmung führen können. Redner betont, daß
er in diesem Falle keine sicbere Diagnose stellen kann, neigt
aber mehr der .Ansicht zu, daß hier eine angeborene A^erbildung
vorliege.
Der zAA’eite Fall betrifft eine .33jährige Bäuerin, Avelclie im
Oktober Amrigen Jahres von der Welle einer Maschine erfaßt,
emporgehoben und auf den Boden geschleudert Avurde. Sie war
von dem Aloment an an beiden Beinen vollkommen gelähmt
und dieser Zustand blieb zugleich mit einer Retentio urinae,
AA'elcher ein tägliches Katheterisieren notAvendig machte, durch
neun Woeben unverändert bestehen. Dann erst bildete sich die
Lälmmng ganz allmählich zurück und ist derzeit ganz versebAvun-
den, es bestehen nur mehr leichte Parästhesien.
Das Röntgenhild zeigt hier eine Luxation der Len de n-
Avirbel Säule nach links hin uu zav. hat die A^erschiehung. um
fast eine ganze AVirbelhreite stattgefunden. Der Fall ist aus
zAvei Gründen merkAvürdig: 1. ist die Dislokation nach der Seite
ungewöhnlich und besonders in so hohem Grade wie hier. In
der Regel findet sich bei Luxationen der AVirbelsäule an der
lumbodorsalen Grenze eine A-erschiehung des olieren Teiles (Ober¬
körper) nach vorne; 2. ist inerkAvürdig, daß die durch die scluvere
A^erletzung verursachte Lähmung hier vollkommen zurückging bei
uiiAmrändertem Bestehenbleiben der Dislokation.
Diskussion: Dr. Engel mann nimmt auf Grund eines
ihm zu Gebote stehenden Rönlgenbildes als Ursache der ent¬
standenen Skoliose bei dem Patienten eine Luxationsfraktur mit
entsprechender Achsendrehung der Lendenwirbel an. Diese Fi-aktur
dürfte sich der Patient bei einem Sturz von einer Leiter aus
vier Ale ter Höhe zu gez ogen haben, da er bis z u diesem Trauma
nach Aussage seines Arztes normal geAAmsen sein soll.
Primarius Dr. AI o s zkoAvic z erinnert an die im letzten
Hefte der Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen er¬
schienene Arbeit von Böhm. Dieser .Autor ist auf Grund von
Untersuchungen einer größeren Zahl von skoliotischen Skeletten
und Röntgenuntersuchung von 24 Fällen mit habitueller Sko¬
liose zu der .Ansicht gekommen, daß in einer sehr großen Zahl
dieser Fälle eine asymmetrische Assimilation der Wdrbel, an der
Grenze der Regionen oder eine asymmetrische A^ariation des
lumbodorsalen Gelenksumschlages die Ursache der Skoliose ist.
Darauf Avird nun in allen Fällen zu achten sein.
0. AU Frisch hemerkt zu der Ausführung Engel mann s,
daß ihm mir die Angaben des Patienten zu Gebote standen, an
Avelche er sich halten mußte und Aviederholt, daß auf Grund der
an der Klinik v. Eiselsherg angefertigten Röntgenbilder der
in Frage stehenden AVirbelsäule die Diagnose einer Fraktur
nicht gestellt werden kann.
Das Amn AIoszkoAvicz berührte Thema fällt nicht in den-
Rahmen des hier erörterten Gegenstandes.
Dr. Rudolf Müller demonstriert A’ersuche aus einer ge¬
meinsamen .Arbeit von Landsteiner, Müller und Poetzl
über die Amn AAuassermann und Plaut beschriehene Kom[)le-
nientbindung durch die Zerebrospinalflüssigkeit, von Kranken mit
progressiver Paralyse.
Die Reaktion bestellt bekanntlich darin, daßi die Zerebro¬
spinalflüssigkeit von Paralytikern, mit Syphilismaterial zusam-
mengehraebt, unter richtig geAvählten Redingungen dir' Wirksam¬
keit eines hämolytischen Systems aufhebt. Die genannten Autoren
beziehen diesen Effekt auf das AWrhandensein von Syphilisanti¬
körpern in der Spiiialflüssigkeit der Paralytiker.
Die bisher von Ij and stein er, Alüller und Poetzl an-
gestellten A’ersucho führten zu den folgenden Ergelmissen :
ln der üheiAviegenden .Mehrzahl der untersuchten Fälle von
Dementia paralytica ließ sich in Amlliger Bestätigung der An¬
gaben von AVassermann und Plaut die heschrieliene Hem¬
mung der Hämolyse nachAveisen, Avährend die zur Kontrolle Amr-
Avendeten Fälle, verschiedene Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems, z. B. Dementia praecox, Deliiäum tremens, Herderkran¬
kungen, ein negatives Resultat ergaben.
Die Zerelirospinalflüssigkeil der untersuchten Paralytiker er-
Avies sich auch an und für sich (allerdings in größeren Dosen
Nr. 17
515
WIENER KLINISCHE
als boi der Wassermaiinsclieji Reakliou aiigewcii(loi) in dfni
meisten Fällen ini Vergleich mit den anderen Spinairiüssigkeilen
als stärker anlilulmolyliscli Avirkend. Diese lieminendo Wirkung
<ler Spinalflüssigkcit (ohne Antigen) trat hesotulers deutlich liei
Zusatz von Vaki'iger Karholsäuro ein; sie wurde durch Erhitzen
der Flüssigkeit (z. B. auf 80") heeinträchligt. Die antihämoiyliscbc
Wiikung der Spinalflüssigkeit als solche ist diagnostisch viel¬
leicht von ähnlicher Dignität wie die W a s s erm a n n sehe Re¬
aktion.
Hemmungsreaktionen von gleicher Intensität, wie lieim Zu¬
sammenbringen der Zerebrospinalflüssigkeit von Faralytikern mit
Syphilismaterial, ließen sich auch durch Vermischen derselben
Spinalflüssigkeiten mit einem anderen IMaterial, nämlich mit Ex¬
trakten aus Condylomata acuminata erzielen. Audi diese lie-
aktion wurde durch Erhitzen der Spinalflüssigkeit aufgehoben.
(Vgl. Levaditi, Arm. de Einst. Past. 1907.)
Die Frage, ob die von \Vass ermann und Plaut ent¬
deckte Erscheinung Avirklich auf das Vorhandensein spezifischer,
syphilitischer Antikörper zu heziehen ist, erscheint demnach den
Autoren noch nicht entschieden und es ist die IMoglichkeit jeden¬
falls in Betracht zu ziehen, daß Reaktionen ZAvischen nicht spezifi¬
schen Substanzen die Komplenientbindung boAvirken.
Diskussion : Prof. Dr. Kraus: Anschließend an die Mitteilung
des Herrn Dr. j\l ü 1 1 e r ü her H e ni ni u n g d e r H ä m o 1 y s e mittels
Spinalflüssigkeit von Paralytikern, möchte ich kurz
über eigene Versuche berichten, deren Resultat bereits von meinem
Mitarbeiter Volk am dermatologischen Kongreß in Bern mit¬
geteilt Avurden. Unsere Versuche beziehen sich a u f H e m in u ii g
d e r H ä m o 1 y s e d u r c h S e r u in. Unabhängig von W a s s e r in a n 1 1
und Bruck haben Avir daran gedacht, die Methode der Kom¬
plementablenkung, Avie sie in neuester Zeit von Neisser und
Sachs für den forensischen BlutnacliAveis empfohlen Avurde, aucli
für den Naclweis der bisher ungekaniiten Syphilisantikörper zu
vei'Averten. Es AAUirden zunächst Seren Amn normalen jMenschen
und von solchen, die ln eruiitiven Stadien der Syphilis sich be¬
fanden, mit Extrakten von Primäraffekten vermischt und die hämo¬
lysehemmende Eigenschaft dieser Mischungen studiert. Hiebei
zeig te e s s i c h, d a ß n i c h t n u r S e r e n v o n s y p h i 1 i t i s c h e ni
Menschen, sondern auch solche von normalen Menschen in
gleichen W^erten (01 bis 005) Hemmungen der Hämo¬
lyse ergaben, so daß ich auf Grund dieser Versuche in der
Sitzung der dermatologischen Gesellschaft vom 16. Mai 1906
der \mn Wassermann, Neisser und Bruck empfohlenen Äle-
thode zum NacliAveis der Syphilisantikörper mittels Serum nicht
ganz zustimmen konnte. Unsere weiteren Versuche in dieser
Richtung haben ebenfalls gezeigt, daß auch normale Seren in
gleichen IVerten, AAÜe sie \mn Wassermann, Neisser und
Bruck als spezifisch für Syphilis angegeben werden, Komplement¬
ablenkung beAvirken. Diese Versuche Averden mit Extrakten fötaler
Organe (Leber) \mn syphilitischen und nichtsyphilitischen Früh-
gelmrten ausgeführt. Nacli dem Ausfall dieser Versuche können
Avir uns der namentlich von Neisser und Bruck vertretenen
.Vuffassung von der Brauchbarkeit dieser Melhode für den Nachweis
von Syphilisantikörpern im Serum nicht anschließen. Und auch
Aveitere Versuche in dieser Richtung, av eiche Herr Dr. Ranzi im
Institut ausgeführt hat (Wiener klinische Wochensclirift 1906,
Nr. 5l) bringen eine Aveitere Bestätigung dafür, daß normalem
Serum hemmende Eigenschaften zukommen. Manche Seren
hemmen bereits die Hämolyse allein ohne Zusatz von Extrakten
normaler Organe. Andere Seren lenkten Avieder nur in Kombination
mit Extrakten von normalen Organen ab. Es dürfte hier eine
Smnmierung der hemmenden Eigenschaften zustande kommen.
Immerhin lehren die quantitativen Bestimmungen, daß die hem¬
menden Eigenschaften normaler Seren und Extrakte normaler
Organe so groß sind, daß sie den von Wassermann, Neisser
und Bruck als spezifisch für Syphilis angegebenen gleichkommen.
Nach alledem glaube ich, daß, Avenn die komplementablen-
kende Eigenschaft des Serums von Syphilitikern nicht größer
ist als die von Neisser und Bruck iiacligeAviesene, Avir doch
nicht ohne A\miteres berechtigt sein dürften, spezifische Antikörper
zu erschließen. Gleiches gilt auch für die von Wassermann
für die Diagnose anderer Infektionskrankheiten empfohlene Me¬
thode der Komplementablenkung. Ebenso mußten die Schlüsse,
welche Bruck, Oppenheim und Müller aus dem Serum der
an Gonorrhoe erkrankten iMenschen gezogen haben, mit Vorsicht auf¬
genommen Averden. Im selben Sinne lassen sich, wie Sie gehört haben,
auch die von Müller, Poetzl und Landsteiner erhoberien
Tatsachen A'enA'erten. Danach sind Avir auch da nicht berechtigt,
vorderhand von nachgewiesenen Antikörpern bei Syphilis zu
sprechen.
'. 1907.
Prof. Dr. H. Albrecht: M eine Herren! Ich erlaube mir,
in Kürze und in der Art einer vorläufigen Mitteilung über die
bakteriologiscbcu Untersuchungeu bei Pertussis und über gewisse
daran aiigciscblossene Tierversuche zu berichten, welche ich im
Verein nnt dem Assistenten der Infektionsabteilung des Walhol-
miuenspitales Dr. Weiß ausgeführt haiie.
Die Untorsuchungen betreffen etAva 200 Fälle von an Pneu¬
monie nach Perlussis verstorhenen Kindern und über 70 Sputa
Amn peitussiskrankcn Kindern. Wir haben in allen diesen so
zahlreichen Fällen den Bacillus pertussis Eppendorf mikro¬
skopisch und fä.st immer kulturell nacliAveisen könnerj, sehr häufig
fast in Reinkultur, in der Aveitaus überAviegenden Mebrzahl der
Fälle sehr reichlich.
Ohne auf die Geschiedde der Bakteriologie der Pertussis
eingehen zu Avollen, möchte ich mich nur kurz mit dem genannten
Bazillus lieschäftigen. Derselbe Avurde von Joch mann und
Krause in einer größeren 'Anzahl von Keuchhustenfällen ge¬
funden ; sie Avaren zuerst geneigt, demselhcn eine ätiologische
Bedeutung zuzuschreiben; später sind sie Avieder davon ahge-
kommen und wollen ihn jetzt als einen mehr herrenlosen Sapro-
phvten der RespirationsAvege der Kinder auffassen. Dem kann ich
nicht heistimmen, schon aus dem Grunde nicht, Aveil ich zu
Aviederholten Malen bei Pertussis metastatische /Abszesse, iMenin-
gitis, Perikarditis, Peritonitis (also Septikopyämie) durch elien-
denselben Bazillus erzeuigt, an der Leiche konstatieren konnte.
Dazu kommi, daß man geradezu häufig bei Pertussispneumonie
denselben im Bronchialeiter und in den pneumonischen Herden
in solcher Reichlichkeit findet, daßi an der pathogenen Be¬
deutung desselben Avohl scliAAmrlich zu zAAmifeln ist. Aber tlersellie
Bazillus, der, Avie ich noch später betonen Avill, sich in keinei'
Avie immer gearteten Weise von dem Bacillus influenzae unter¬
scheiden läßt, findet sich auch in merkAVÜrdiger Häufigkeit im
Exsudate der Bronchitiden und Pneumonien der Kinder üher-
haupt, namentlich bei Masern und nach Diphtherie; A\m.s übrigens
schon teihAmise bekannt ist. Aber die Häufigkeit seines Vor¬
kommens Avird immer noch unterschätzt. Bei genauer Unter¬
suchung läßt er sich in 80 bis 90"/o aller Fälle von eitriger Bron¬
chitis und Pneumonie bei Kindern Avenigstens mikroskopisch,
in der Regel auch kulturell konstatieren. Es ist klar, daßi das
regelmäßige Vorkommen dieses vom Bacillus influenzae nicht unter¬
scheidbaren und jedenfalls mit ihm identischen ■ Bazillus für die
Verbreitung und Epidemiologie der Influenza von größter Be¬
deutung ist. '
Ich Avill hier nochmals hervorhehen, daß sich der in Rede
stehende Bazillus (Bacillus pertussis Eppendorf) Aveder von
dem Influenzabazillus bei Masern- und anderen Pneumonien der
Kinder, noch Amn dem nach Pfeiffers Beschreibung allgemein
als Bazillus influenzae angesprochenen Mikroorganismus durch
irgcndAA’elches morphologisches oder biologisches Merkmal unter¬
scheiden läßt. (Von der Aufstellung einer besonderen Spezies als
Pseudoinfluenzabazillus ist man ja doch Avieder nach einigen
Amrgeblichen Versuchen abgekommen. Ich kann Avenigstens einen
solchen nicht anerkennen.)
Wdr versuchten nun zunächst, Kaninchen mit dem Pertussis-
Influenzabazillus zu .immunisieren, um die eAmntuelle Agglu¬
tininbildung des Serums zu prüfen. Dabei zeigte es sich zunächst,
daß das Seiaim solcher Immuntiere ziemlich hohe Agglutinalions-
Averte liefert, Avenn man zur Agglutination Bazillen Aunavendet,
die eine Stunde auf 60 bis 62" erhitzt Avurden. Der homologe
Stamm Avird mindestens bis auf 1 : 1400, andere Perlussis-Influenza,-
stänmie bis auf 1:600 bis 700 agglutiniert. Das Blut A'on an
P'ertussis kranken Kindern zeigt jedoch keine Agglutinations¬
fähigkeit, Avie dies übrigens sclion Amn Bordet angegeben ist.
Bei diesen Immunisierungsversuchen ergaben sich uns inter¬
essante pathologisch -anatomische Befunde. Zunächst gelang es
uns, Avie ich glaube, eiriAvandfrei, nach mehrfacher intraA^enöser
Injektion von in Bouillon aufgeschAvemmten Bazillen (ein bis
ZAvei Normalösen) eine Endokarditis der Mitralklappen zu erzeugen,
natürlich ohne vorher dieselbe verletzt zu halien und ohne Bei¬
mengung ii’gendAvelcher fremder Partikelchen zur Injektionsflüssig¬
keit. Sie sehen an beiden Zipfeln derselben relativ sehr große
(über erbsengroße) endokarditische Auflagerungen, aus Avelchen
massenhaft mikroskopisch und kulturell der Bacillusi influenzae
sich wieder nacliAAmisen ließi. Aber Avir konnten auch höchst-
eigentümliche Veränderungen des Herzmuskels und zum Teil auch
der Leber konstatieren. An dem zur Demonstration mitgebrachten
frischen Präparate sehen Sie das rechte Herz hochgradig er-
Aveitert und ganz auffallend gelblich gefärbt. Diese Veränderung
begrenzt sich in der Mitte des Septum ventriculi scharf gegen
die linke Seite. Der VWrliof zeigt dieselbe Veränderung. Auch in
der Leber sehen Sie, den Azini entsprechend, eine feine gelblich-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
i. 'J
weiße Zeicliiiung. Es handelt sich hier lun direkte Verkalkung
(Kalkiinprägnation) der Herznmskelfasern und der Leberzellen,
Wühl nach vorausgegaiigener Degeneration und Nekrose. (Demon¬
stration der inikroskopischen Präparate.) Ich glaube nicht fehlzn-
gelien, wenn ich diese Prozesse als bedingt durch eine besondere
Affinität und Wirkung des Bazillengiftes an die betreffenden
Zellen ansehe, sei es, daß es sich um lösliche Toxine oder
um Endotoxine handelt.
Es scheint, daß man aus diesen Ergelmissen des Tierexperi-
mentes vielleicht die oft klinisch zu heobaclitende schwere Schädi¬
gung des Herzmuskels hei Influenza mit nur geringfügigen be¬
stehenden Kranklieifsherden erklären konnte. Ich betone übrigens,
daß unsere üntersuchungen und Versuche derzeit noch keineswegs
abgeschlossen sind.
Ich will noch erwähnen, daß Bordet im vorigen Jahre in
einigen ganz frischen Keuchhustenfällen ein anderes Bakterium
isolieren konnte, das er nach seinen Untersuchungen für den
wahren Erreger der Krankheit hält. Dasselbe soll sehr rasch
und bald aus dem Sputum wieder verschwinden. Wir haben
niemals ,ein ähnliches Bakterium auffinden können; alle unsere
äFlle waren mindestens zwei bis drei AVochen alt, was also mit
letzterer Angabe Bordets stimmen würde.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
S i t z u 11 g d e r p ä d i a t r i s c h e n S e k t i o n v o m 11. April 1907.
R. Neurath zeigt ein Kind mit Mongolismus und
Myxödem Symptomen. Neben den typischen Erscheinungen
des Mongolismus, unter welchen unter anderem ein eigentümlicher
Gesichtsausdruck, Idiotie, schlaffe Gelenke, Naheihernie und Ob¬
stipation zu heobachten sind, zeigt das Kind noch myxödemartigo
Symptome : Polsterartige Beschaffenheit der Haut, große, aus dem
Munde heraushängende Zunge, suhnormale Temperatur, welche
auch im Fieber nur auf 35-8° stieg, behindertes Längenwachstum;
die Knochenhildimg ist nicht eingeschränkt, die Thyreoidea ver¬
kleinert. Vielleicht sind die letzteren Symptome auf eine Funktions¬
hemmung der Schilddrüse zurückzuführen.
IV. Knöpf elmacher ist der Ansicht, daß es sich um
IMongolismus allein handelt.
K. Hochsinger meint, daß hei diesem Falle Erscheinungen
von Myxödem zu finden sind.
J. Fried jung und N. SAVohoda haben ähnliche Fälle in
Beobachtung und sind der Ansicht, daß es sich um eine Kom-
hination Amn Mongolismus mit , Myxödem handelt.
R. Neurath envidert, er habe nur gesagt, daß hier myx¬
ödemähnliche Symptome neben Mongolismus bestehen.
A. Schüler demonstriert ein Kind mit Mikromelie. Der
Schädelumfang beträgt 46 cm, die Nähte klaffen, die Extremitäten
sind kurz und plump, die Finger kurz und nahezu gleich lang, die
Kniegelenke sind scldaff, die Wirbelsäule ist in ihrem unteren
Anteil kypholisch. Die Psyche ist gut entwickelt. Die Prognose
solcher Fälle ist günstig, da sie sich geAvöhnlich körperlich und
geistig gut entAvickeln; Gefahr droht nur den Aveiblicben Indivi¬
duen Aren einer Gravidität, da das Becken sehr verengt bleibt
und eine spontane Geburt der ausgetragenen Früchte nicht mög¬
lich ist. Die Schilddrüsentherapie ist hei Mikromelie ohne Er¬
folg. Vortr. Avird einen Versuch mit Hypophysisdarreichung
machen.
N. SAvoboda bemerkt, daß bei Mikromelie soAvohl Lordose
als auch Kyphose der Wirhelsäide vorkommt.
K. Ullmann stellt ein ISjähriges Mädchen vor, Avelches
Sklerodermie en plaques in allen Stadien zeigt, sowohl
als Erythem als auch als BTecke von matt porzellanartiger Be¬
schaffenheit; andere Plaques sind atrophisch 'und blau verfärbt,
Avieder andere derb infiltriert. Die Haare sind zum Teil ergeaut.
Die Dannfunktion ist normal, es dürfte aber doch eine Auto¬
intoxikation dem Leiden zugrunde iliegen. Es AAÜrd ein Versuch
mit Fihrolysinhehandlung gemacht AArerden. Die Prognose ist hei
Fällen, die schon im jugendlichen Alter erkranken, im allgemeinen
nicht günstig.
Goldreich stellt ein vierjähriges IVLädchen mit einer Stö¬
rung der Z ahnen tAvicklung vor. Im Oberkiefer finden sich
vier AA'oit voneinander abstehende, spitze Zähne, im Unterkiefer
Eckzähne. Das Kind zeigt Zeichen Aren hereditärer Lues (Ozäna,
Saltelnase), Avelche Ursache der Stömng der Dentition sein dürfte.
K. Hoch singer hat einen 20jährigen Epileptiker gesehen,
Avclcher im Unterkiefer noch die Schneidezähne des IMilchgebisses
trägt; sie sind kurz und spitz zulaufend.
K. Hochsinger domonstnert das anatomische Präparat
des Falles von Ilodentuherkulose, Avelchen er in der Arer-
hergehenden Sitzung gezeigt hat. Ini unteren Anteil des Testikels
sitzt eine Kaverne mit käsigem Inhalt, der Rest des Testikels und
der Nebenhoden sind derb und mit Tuherkelknötchen durchsetzt,
ebenso das Vas deferens.
Ferner zeigt er Röntgenpholographien eines Falles von an-
gehorener ]\I e s o k a r d i e mit H e r z h y p e r l r o p h i e. Es handel t
sich um einen lUAjährigen Knaben mit Dermographismus, Herz¬
klopfen und Oppressiousgefühl auf der Brust. Die Untersuchung
ergab eine aufgeregte Herztätigkeit, Puls über 120, Spitzenstoß
in der Mitte zAvischen linker Mamilla und dem Stcrnalrand. Die
absolute Herzdämpfung reicht bis zum rechten Sternalrand und
ist auf der linken Thoraxseite viel kleiner als normal, die relative
Dämpfung reicht noch Aveiter über den rechten Sternalrand hinaus.
Die Herztöne sind rein. Die Röntgenuntersuchung ergibt, daß
das Herz in der Mitte des Sternums liegt, hypertropliisch ist
und mit einem großen Anteil in die rechte Thoraxhälfte hinüber¬
reicht. Es dürfte sich um einen angeborenen Zustand handeln.
Schließlich demonstriert K. Hochsinger Rönlgenauf-
nahmen von Fällen mit einfacher Flerzhypertrophie, bei
Avelchen keine Symptome einer Herzerkrankung, keine Geräusche
und auch keine Stauungserscheinungen zu finden sind. In solchen
Fällen könnte die Hypertrophie Adelleicht auf Grund fötaler Zirku¬
lationsstörungen entstanden sein.
K. Zuppinger: Zur Therapie der Larynxpapil-
1 o m e i m K i n d e s a 1 1 e r. Das Larynxpapillom ist zwar die
häufigste und Avichtigste Kehlkopf geschwulst im Kindesalter, cs
kommt aber doch so selten vor, daß Vortr. in einer zAvölfjährigen
Spitalspraxis nur drei Fälle beobachten konnte. Es gibt bisher
noch keine Operationsmethode der Larynxpapillome, durch welche
ein Rezidiv mit Sicherheit ausgeschlossen wäre. Die Laryngo-
toihie oder Laryngofissur mit nachfolgender Exstirpation der Ge-
scliAvulst ist zu Arei'Averfen, da durch diesen scliAveren Eingriff
die Integrität des Kehlkopfes und seiner Funktion gefährdet Avinl.
Die Tracheotomie mit längerem Tragen der Kanüle Avurde in
jüngster Zeit auf Grund der Beobachtung empfohlen, daß die
Larynxpapillome nach einer unbestimmbaren Zeit von selbst ver-
scliAvinden; diese Involution tritt besonders dann gern ein, Avenn
die Papillome durch die Tracheotomie aus dem Luftstrom aus¬
geschaltet AArerden. Das lange Tragen einer Kanüle im frühen
Kindesalter birgt aber so viele Gefahren in sich, daß die Tracheo¬
tomie nur im Notfälle berechtigt ist, Avenn die Intubation un¬
möglich ist; dann soll aber mit den nötigen endolaryngealen
Eingriffen nicht gezögert und die Kanüle möglichst bald entfernt
Averden. Die Anwendung endolaryngealer Methoden hat im spä¬
teren Kindesalter meist keine Sclm'ierigkeit, sie können aber
nur von besonders geübter Hand ausgeführt Averden. Ein er-
scliAArerender Umstand ist hiebei die Gefährlichkeit der Narkose bei
kleinen Kindern. Im ersten Kindesalter ist ein endolaryngealer
Eingriff sehr scliAvierig und nur von sehr geübten Spezialisten
ausführbar. Für den Nichtspezialisten, der auf sich selbst an-
geAviesen ist, empfiehlt sich die Anwendung des L ö r i sehen Ka¬
theters. Derselbe ist ein gekrümmter Metallkatheter mit einem
dem Alter des Kindes entsprechenden Lumen, an beiden Enden
offen, so daß das Kind Avährend der AnAvendung desselben atmen
kann. Der Rand der Arerderen Oeffnung ist behufs Vermeidung
Aren Verletzungen abgestumpft und eingebogen. Darüber befinden
sich vier ca. 1 cm lange, spitzovale Fenster, mit sc liarf ge¬
schliffenen Rändern; in diesen verfangen sich die Papillome und
Averden durch eine Bewegung des Instrumentes abgeschnitten.
Hat man mit der 'Spitze des Katheters die Stimmritze passiert,
schiebt man ihn einige Male auf und ab und dreht ihn. Auf
diese Weise AArerden die Papillome durch die scharfen Räiulcu-
der Fenster abgeschnitten, fallen ins Lumen des Katlieters und
Averden mit diesem entfernt; die in die Trachea geratenen Averden
ausgehustet. Von einer Aetzung des Sitzes der Papillome ist man
AAregen der Erfolglosigkeit abgekommen. Harm er benützt zur
Entfernung der Papillome einen harten, kurzen Pinsel. Auch nicht
stenosierende Papillome sind rechtzeitig zu entfernen, da sie
sich vergrößern und auch zu absteigenden Entzündungsprozessen
führen können. Bezüglich einer internen Therapie ist in der
Literatur nicht viel zu finden; es Avurden die Verabreichung
stark verdünnter Salpetersäure und Arsen, Inhalation Aren ver¬
dünntem Alkohol und Emser 'Wasser erAvähnt. Gegen einen der¬
artigen vorsichtigen Versuch ist nichts einzUAvenden, Avenn die
operative Therapie nicht versäumt Avird.
B. Panzer hernerkt, daß das idealste Verfahren die endo-
laryngeale Operation ist, am besten diejenige, Avelche unter
Kontrolle des Auges vorgenornmen Avird. AVenn ein endolaryngealer
Eingriff nicht möglich ist, kann auch die Tracheotomie ausgefülirt
AArerden, die Kanüle Avird so lange getragen, bis endolaryngeal
operiert Averden kann. Die Laryngofissur bietet keine besonderen
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
517
Erfolge. Die AnwciKlung des Lö rischen KailieLers isl nur als
Nolverfaliren anzuselien.
K. Z upping er erwidert, daßicr das letzlgenaiiide Verfahren
elienfalls nur für sohdic Fälle empfohlen habe, wo rasch ein¬
gegriffen werden muß und keine sj)'ezialislische Hilfe zur Ver¬
fügung sieht.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzungen vom 6. und IG. März 1907.
Vorsitzender : Physikus Dr. Lieh m a n n.
Schriftführer: Dr. Schweinburg.
Prim. Dr. W. Bittner demonstriert einen SV^jährigen
Knaben, der mit einer Invaginatio ileocolica am 9. Februar
dieses Jabres operiert wurde.
Das Kind erkrankte am 7. Februar plötzlich unter Erbrechen,
beftigen Bauchsebmerzen, StuhlverhaLung. Nacbdeni sich auch
unter heftigen kolikartigen Schmerzen blutiger Schleim per rectum
entleerte, wurde Spitalshilfe aufgesucht.
Bei der Aufnahme war das Kind leicht kollabiert, der Püls
frequent, Abdomen mäßig aufgetrieben. In den abhängigen Par¬
tien ergab die Perkussion Dämpfung, demnach freie Flüssig¬
keit in der Bauchhöhle, ein sehr wichtiges Symptom
innerer Inkarze ration. Bei der Palpation war ein wurst-
förmiger Tumor nachweisbar, der im Epigastrium rechts vom
Nabel begann und bogenförmig nach links bis in die linke
Beckenpfanne binabreiebte. Der Tumor war ziemlich beweglich
und drucksebmerzhaft. Bei der Untersuchung per rectum üistete
der untersuchende Finger ein portio uteri-ähnliches Gebilde,
die Spitze des Invaginatunis 1 Es handelte sich also um eine
Invagination des Cökums in das Colon ascendens, transversum,
descendens bis ins Rektum herab. Per rectum entleerte sich
blutiger Schleim. Die Operation wurde sofort durchgiführt. Durch
einen Schnitt rechts von der Mittellinie wurde zunächst der rechte
Rectus abdom. bloßgelegt, dieser Muskel nach innen geschoben,
hierauf hinter demselben das Bauchfell gespalten. Dadurch s-ollte
einer späteren Bruchbildung noch mehr vorgebeugt werden, in¬
dem durch jene Maßnahme die spätere Peritonealnaht hinter den
Rektus zu liegen kam. Aus der Bauchhöhle entleerte sich eine
seröshämorrhagische Flüssigkeit. Es wurde nun der ganze
Invaginaltumor mit einiger JMühe herumgewälzt, die prolabierten
Darmschlingen reponiert, die Bauchhöhle durch Kompressen sorg¬
fältig abgestopft; so daß die ganze weitere gef äbrliche Manipulation
an dem invaginierten Darm extraabdominal vorgenommen werden
konnte. Die Invagination wurde durch Zug, aber hauptsächlich
durch Druck nach ziemlicher Mühe gelöst. Auffallend waren die
schweren Schäden, welche die Invagination an dem Darme und
dem Mesenterium verursacht hatte. Die AVand des Cökums mit
dem Processus venniformis, des Colon ascendens und transversum
war stark ödematös infiltriert, die Serosa des Darmes stellen¬
weise abgelöst; zahlreiche Hämorrhagien waren am Darme und
Mesenterium sichtbar. Daß es bei solchen pathologischen Ver¬
änderungen nachher zu Verwachsungen des Darmes, Strangbildun¬
gen usw. kommen kann, ja kommen muß, ist einleuchtend und
beweist ein Fäll, den der Vortragende zu beobachten Gelegen¬
heit batte. AVabrscheinlich sind die Adhäsionen die Ursache,
daß es nach solchen Operationen so selten zu neuerlichen Invagina-
tionen kommt. Der Dann wurde hierauf reponiert, die Bauchwand
geschlossen. Die Heilung erfolgte per primam.
Gegenwärtig, nach drei Wochen, ist die Narbe fest; das
Kind befindet sich wohl, hat keine Schmerzen, keine Stuhl¬
beschwerden.
Aber bei der Untersuchung des iVbdomens fällt es auf,
daß die Bauchdecken sichtlich gespannt sind, der Bauch über¬
haupt deutlich vorgewölbt erscheint. In den abhängigen Partien
ist durch Dämpfung freie Flüssigkeit nachweisbar! Alles Zeichen,
die auf eine subakute, schmerz- und fieberlose Entzündung hin¬
deuten, die sich zweifellos in der Banchhöhle abspielt, wohl als
Folge jener schweren Alteration des Darmes und Mesenteriums
infolge der Invagination und wohl auch teilweise der Operation.
Der Vortragende war daher bemüht, bei der Nachbehandlung
von Anfang an durch Klysmen und milde Abführmittel die Peri¬
staltik mäßig anzuregen, um den Verwachsungen dadurch äunlichst
vorzubeugen.
Der Voriragende bespricht in Kürze die Symptome und Dia¬
gnose der Invagination und betonl, daß es gerade bei diesem, im
Kindesalter nicht so seltenen und schweren Leiden auf eine
rechtzeitige Diagnose ankommt, die übrigens leicht ist, da die
Symptome der Erkrankung: Plötzlicher Beginn mit Erbrechen,
Verhaltung von Stuhl und Winden, heftigen kolikartigen Bauch-
schinci'zen, Abgang von hiutigeiu Schleim per rectum, schließlich
Nachweis des Invaginaltumors, sehr prägnant sind.
AVas die Therapie anbelaiigt, so kann der Arzt, der recht¬
zeitig geholt wird, mit Klysmen eine Heihmg versuchen. In
der Regel kommt man damit nicht zum Ziele und man tut besser,
den Kranken mit solchen therapeutischen Versuchen nicht zu
quälen, sondern ihn schleunigst der Operation zuzuführen. Die
Operation ergibt, rechtzeitig, d. h. in den ersten 48 Stunden,
spätestens 72 Stunden, vorgenommen, ausgezeichnete Resultate;
das beweisen auch die Fälle, die Prim. Dr. Bittner zu beobachten
Gelegenheit hatte. Prim. Dr. Bittner operierte seit 1899 im
Brünner Kinderspital sieben Kinder. Von diesen starben vier
Kinder an den Folgen der Inkarzeration, der Darmgangrän usw.
Sie wurden alle zu spät der Operation zugeführt.
Drei Fälle genasen, sie wurden innerhalb der ersten zwei
bis drei Tage operiert. Unter den Operierten waren drei Fälle,
bei denen die Spitze des Invaginatums im Rektum fühlbar, ja in
einem Falle sichtbar war; ein Kind starb, während zwei Kinder
genasen.
Weiters demonstriert Prim. Dr. Bittner ein pathologisch-
anatomisches Präparat: zwei Dannstücke, die miteinander durch
einen Strang verbunden sind, aus der Bauchböble eines 15 Monate
alten Knaben, der einer inneren Inkarzeration Anfang Februar
dieses Jahres erlegen war. Das Kjnd wurde am 1. Alai 1905 im Alter
von sechs Monaten wegen einer Invagination operiert und ge¬
heilt. Die Invagination war eine Ileokolika; invaginiert waren
das Ileum, das Cökum, Colon ascenden.s und die Hälfte des
Transversum. Bei der Operation fielen die schweren pathologi¬
schen Veränderungen : Darmwandödem, Hämorrhagien, Epithel¬
verluste, Suffusionen usw. auf, die die Invagination verursacht
hatte; sie sind in der Krankengeschichte ausdrücklichst hervor¬
gehoben. Nach der Anamnese erkrankte das Kind, das sich die
ganze Zeit über sebr wohl befunden hatte, anfangs Februar
plötzlicb unter Erbrechen, Bauchschmerzen, Verhaltung von Stuhl
und AVinden. Blutiger Schleim ging diesmal nicht ab. Ein Klysma
hatte wobl die Entleerung von etwas Stubl zur Folge, allein der
Zustand verschlimmerte sich rapid. Als das Kind am drittetr
Tage der Erkrankung in das Kinderspital gebracht wurde, war es
sterbend und erlag in einigen Minuten seinem Leiden. Die Ob¬
duktion (Prosektor Priv.-Doz. Dr. Sternberg) ergab als Todes¬
ursache die 1 n k a r z e r a t i o n eines großen D ü n n d a r m k o n-
volutes durch einen Strang, der von der AVand des obersten
Jejunums zur AArind des untersten Ileums zog und der überdies
durch eine schliiigenartige Adhäsion an die Radix mesenterii nahe
der AATrbelsäule befestigt war. In dieser Schlinge ließ sich der
Strang wie in einer Lasche hin und her ziehen. Neben diesem
Strang waren ziemlich ausgedehnte A^erwachsungen
sichtbar, die längs des e bemal i gen Invaginations-
ter rains situiert waren. Der Fall beweist eben, daß das
Schicksal der Kinder, die eine Invagination und Operation glück¬
lich überstanden, auch nach monatelangem AA''ohlbefinden nicht
sicher ist, infolge der adhäsiven Peritonitis, die nach den
schweren, durch die Invagination gesetzten Läsionen des Darmes
und Netzes zu eventuellen folgenschweren A'erwachsungen und
Strangbildungen führt. Es empfiehlt sich daher, die Angehörigen
auf diese Gefahr aufmerksam zu machen und ihnen den drin¬
genden Rat zu geben, bei einer plötzlichen neuerlichen Erkran¬
kung unter den bekannten Symptomen sofort chirurgische Hilfe
aufzusuchen. Vielleicht läßt sich durch eine entsprechende Nacli-
hehancllung, die durch Klysmen, milde Abführmittel bald nach der
Operation für Anregung der Peristaltik Sorge trägt, der Adhäsion
und so weiter einigermaßen verbeugen.
Prim. Dr. Spietschka demonstriert einen Fall von Lichen
ruber planus, zeigt Mitteilungen eines äbnlicb lokalisierten
und konfigurierten Syphilides und bespricht eingehend die Diffe¬
rentialdiagnose.
Assistent Dr. Meixner demons friert: 1. Ein Divertikel der
Trachea, das bei einem an cbronischer Lungentuberkulose ge¬
storbenen Manne gefunden wurde. Es saß im membranösen Teile,
1 cm unterbalb des Ringknorpels, sein Zugang stellte einen queren
Schlitz dar, seine Tiefe maß 1 cm. Seine AVand ist sehr dünn.
Divertikel der Trachea sind eine ziemliche Seltenheit. Nach
Rokitansky, dessen Beschreibung Vortr. wiedergibt, entwickeln
sie sich meist infolge wiederholter und chronischer Luftröhren¬
katarrhe, wie er wohl auch im vorliegenden Falle (Tuberkulose)
bestanden hat. AA'^ ährend diese Divertikel nach Rokitansky
bloß Ausstülpungen der Schleimhaut durch die Maschen der
hypertrophischen Muskulatur hindurch darslellen, eine A^er-
änderung, für die der in jüngeren Lehrbüchern der pathologiscben
Anatomie vorkommende Ausdnick ,,Tracheokele“ passender wäre,
hat Czyhlarz in einem histologisch genau untersuchten Falle
^ *
Ülo
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
sämtliche Elemente der hinteren Tracheahvand in einem der¬
artigen Divertikel vorgeiimden. Allerdings waren Mnskulatur und
elastisches GeAvebe, besonders das letztere, stark verminderl. In
dieser Schwäche der Wand, die in verschiedenen Fällen wahr¬
scheinlich verschiedene Ursache haben kann, erblickt Czyhlarz
den Grund der Divertikelbildung. Entsprechend dieser Anschan-
nng müßte man solche Divertikel als Pulsionsdivertikel auffassen,
entstanden unter der Wirkung des ständig oder zeitweilig erhöhten
inneren Luftdmekes, während Rokitansky die von ihm be¬
schriebenen Schleiinhautvorfälle der Trachea nach Art der
Traktionsdivertikel dadurch erklärt, daß die hypertrophischen
Schleimdrüsen mittels ihres Ausluhrungsganges an der Schleim¬
haut zerren.
Die übrigen Formen der Divertikel, Avie z. B. überzählige
Bronchien in rudimentärer EntAvicklung, gehören Avohl ausschlie߬
lich ins Gebiet der illißhildungen. Vortr. Aveist auf die eitischlä-
gigen Arbeiten der Weigertseben Schule hin.
2. Halsorgane, Alagen und oberen Dünndarm von einer
SalpetersäureA'ergiftung. Die Organe stammen von einem
35jährigen Manne, der in selbstmörderischer Absicht Scheide-
Avasser, das ist 4Ü bis 50°/oige Salpetersäure (Aqua fortis) ge¬
trunken hatte und ZAVölf Stunden später gestorben ist. Aus der
Krankengeschichte sei nur bemerkt, daß kein Erbrechen beob¬
achtet Avurde. Im Munde, Rachen, Speiseröhre, Magen, Duo¬
denum und fast im ganzen Jejunum ist die Wand starr und
brüchig, die Schleimhaut in typischer Weise gelhgrün und ZAvar
ganz trocken verschorft, im Oesophagus und Magenfundus fehlt
sie. Erst im unteren Jejunum klingt diese Veränderung ab, indem
die Schorfe sich nur mehr auf den Faltenhöhen finden. Nut
der Fundus des Älagens ist erAveicht, jedoch niclit perforiert.
An den Lippen und im Amrderen Teile der Zunge fehlte merk-
Avürdigerweise jede Verätzung. Dies stimmt mit der Angabe über¬
ein, daß das Gift aus der Flasche getrunken Avurde. Die Aus¬
dehnung der pathologischen Veränderungen im Darme ist der
einschlägigen Literatur zufolge ziemlich selten.
Diskussion zu den Vorträgen des Prosektors Privaldozent
Dr. Sternberg: Ueber die Ergebnisse der modernen Immunitäts-
lehre.
Dr. Fischer berichtet über 15 Fälle von Lungentuber¬
kulose, die an der Abteilung des Prim. Dr. Mager mit dem
Ma rmorekschen Serum bebandelt 'AAmrden. Die Applikation er¬
folgte rektal in Mengen von 5 bis 10 cm®. Bei einem Falle mußte
die Behandlung Avegen Verschlechterung des Befindens bald
sistiert Averden, bei den übrigen 14 Fällen Avurde sie über drei
Monate fortgesetzt. Ein deutlicher Erfolg Avar nur hinsichtlich
des Allgemeinbefindens und des KörpergeAvichtes in einigen Fällen
zu Amrzeichnen, während andere auch in dieser Beziehung keine
Besserung aufwiesen. Fieber, Husten, Expektoration blieben nahe¬
zu bei sämtlichen Fällen unbeeinflußt, obA\mbl bei der Auswahl
der Fälle die allzu vorgeschrittenen Amn der Behandlung aus¬
geschlossen Avorden Avaren. Mit Rücksicht auf die mangelnde
EinAvirkung auf diese Symptome, sowie in Hinsicht auf den Um¬
stand, daß auch nicht behandelte Fälle bedeutende Gewiebts-
zunahmen aufAviesen, glaubt Fischer, daß auch bei den mit
Serum behandelten Fällen die Besserung des Allgemeinbefindens
und die GeAvichtszunahmen eher auf die Hebung des hygienisch-
iliätetischen Regimes, als auf SeruniAAdrkung, zurückzuführen sind.
Dr. A. Müller berichtet über seine Erfahrungen, die er als
Leiter der Hilfsstelle des Landesvereines zur Bekämpfung der
Tuberkulose in Mähren mit dem Koch sehen Tuberkulin zu
machen Gelegenheit hatte ; sie beziehen sich ausschließlich auf
ambulatorisches Krankenmaterial. Das Alttüberkulin eignet,
sich zur ambulatonschen Behandlung sehr gut; Vortr. erzielte
Bessenmgen des Befindens der Kranken, trotzdem Amn einer
zugleich mit der Behandlung einsetzenden durchgreifenden Besse¬
rung der hygienischen und Ernährungsverhältnisse keine Rede
sein konnte. Von 21 bisher zum Abschluß der Behandlung ge¬
langten Fällen sind sieben Fälle niebt A-erAAmrthar, da es sich
um ganz aussichtslose Fälle handelt; sie Avurden nur iojiziert,
um eine Linderung ihrer BescliAverden, vor allem der starken
Expektoration zu erzielen; Amn diesen sieben Fällen sind drei
gestorben, zAA’lei Avurden gebessert, zAvei blieben im gleichen. Von
den übrigen 14 Fällen zeigten fast alle eine GeAvichtszunahme
A'on 2 bis 6 kg; acht Fälle sind klinisch und praktisch als geheilt
anzusehen, vier sind bedeutend gebessert, zAvei sind gleich ge¬
blieben. AVähi'end der Zeit seiner Tätigkeit an der Anstalt hat
Vortr. außer den besprochenen noch 78 Fälle behandelt; 18 der¬
selben blieben ohne triftigen Grund der AA^eiteren Behandlung
fern, 12 Fälle mußten Avegen zu starker Fiebersteigerungen die
Behandlung nussetzen.
(Fortsetzung folgt.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin.
lieferen t : Dr. J\Iax L i 1 1 h a u e r.
1. Sitzungstag 3. April 1907.
(Fortsetzung.)
.1 o r d a n - Heidelberg : Zur Ligatur der Carotis c o m-
munis.
Trotz der Gefahren, Avelche die Unterbindung der (j'arolis
communis den Kranken brächte, AAÜire diese Operation gelegentlich
unumgänglich. Er empfehle, mn die Gefahr zu verringern, zAvei
Tage, bevor die definitive Ligatur der Karotis yorgenommen
Avürde, unter S c h le i c b seber Lösung die Karotis freizulegen
und sie 2nit einem Faden locker zu umschnüren. Stellen sich
hedrohliche Erscheinungen ein, so löst man die Ligatur Avieder.
Durch Tierexperimente habe er festgestellt, daßi, Avenn man nach
48 Stunden eine solche lockere Umschnürung der Karotis Avieder
löse, dann distal von der Ligatur der Puls Avieder fühlbar
Avürde und daß .die GefäßAvand bei der allmählichen Umschnürung
keinen Schaden nähme. Vertragen die Tiere, bzAV. die Patienten
die Abschnürung der Karotis, ohne daß zerebrale Symptome ein-
treten, so unterbindet man die Karotis definitiv und braucht
jetzt ZAvischenfälle nicht mehr • zu befürchten.
In einem Falle Amn hronchiogenem, rezidiAderendem Kar¬
zinom am Halse habe er das Verfahren beim Menschen angeAvendet
und völlige Heilung erzielt. ,
Lauenstein-Hamhurg : Bei einem Falle von Quetschung
der Brust und des Bauches Avurde laparotomiert!. Es fanden sich
zAvei tiefe Leberiässe. Zugleicli aber bestand eine Blutung ober¬
halb der Lehe)', deren Ursache nicht gefunden Averden konnte.
Bei der Sektion fand sich, daß ein totaler Abriß der Vena cava
inferior zAvischen ZAverchfell und Leber erfolgt Avar. Das Prä¬
parat Avird dejuonstriert.
Stieb- Breslau : Zur T r a n s p 1 a n t a t i o n v o n 0 r g a n e n
mittels G e f ä ß n a h t.
Es ist don Vortragenden gelungen, mittels Gefäßnaht Nieren
und Schilddrüsen bei demselben ,Tier zu transplantieren. Die
transplantierte Niere funktionierte Avieder, Avie aus dem Urin, der
aus dem Ureter abfloß, geschlossen Averden konnte. Auch dia
Schilddrüsen Avaren, Avie die mikroskopische Untersuchung lehrt,
A'on normaler Beschaffenheit.
Diskussion: Henle-Dorlmund bemerkt, daß er ähnlich
Avie Jordan bei einschlägigen Fällen die Carotis communis all¬
mählich, sukzessive ligiere und auf diese Weise doi Kollateral-
kreislauf yorbereite. Bezüglich der Behandlung der Aneurysmeji
bemerkt er, daß er die Absicht gehabt habe, bei seiner iViiAvesen-
heit in Tokio die ideale Methode der Aneurysmabehandlung, Avie
sie Lexer vorgeschlagen habe, anzuAA^enden. Es sei ihm das
aber stets Avegen der großen Diastase der Gefäßenden mißlungen.
Er glaube, daß man sich hei der Unterbindung der Gefäße niebt
zu sehr Avegen des Bestehens der Gangrän zu sorgen brauche,
da beim Aneurysma sich offenbar die Kollateralen sehr schnell
ausbilden.
Seliger- Krefeld bestätigt die Angaben des Herrn Jordan
bezüglich der Karotisunterbindung.
Br au 11 -Göttingen glaubt, daß .es beim Aneurysma der
Axillaris ZAAmckmäßiger sei, die Suhklavia zu unterbinden, als
die Gefäßtransplantatioii nach Lexer auszuführen. Die Gangrän
der Hand sei nur in seltenen Fällen beobachtet Avorden und nicht
sehr zu fürchten.
Busse -Posen: Ueber die Entstehung der tuber¬
kulösen D a r ni s t r i k t u r e n.
Die Strikturen seien die Folge früherer GescliAvürsbildung.
Bei ihrer Entstehung spielte die Zerstörung tier Muskularis eine
Avesentliche Rolle.
Döring- Göttingen demonstriert ein P r ä p a r a t von Pol y-
posis des Dickdarms, das an A-erschiedenen Stellen aus¬
gedehnte karzinomatöse Degeneralion aufweist.
Lenge m a n n : C h r o n i s c h e r T r o m m e 1 b a u c h d u r c h
Kolonhlähung. Insuffizienz von Enteroanastomosen tlurch
nachträgliche Verengerung.
In einem Falle A’on seit zehn Jahren bestehender Hirse li¬
sp rung scher Krankheit machte er die Laparotomie, Flexura
sigmoidea, Colon transversum Avaren ad maximum ei'Aveitert. Ana¬
stomose ZAvischen Cökum und dem oberen Rektum. Zu¬
nächst Besserung, dann traten die Symptome Amn neuem auf.
Es AAuirde eine zAveite Anastomose angelegt. Jetzt ging es mehrere
Monate gut. Dann neue Verschlechterung. Nun Avurde das
Ileum in die Flexura sigmoidea implantiert. Jetzt ging es der
Patientin gtd. Doch etablierte sich eine Darmfistel. Bei dem
Versuch, dieselbe zu schließen, trat Perforationsperitonitis ein
und die Patientin starb.
Nr. 17
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
.^19
Lengemann ,glaul)l, daß die Ursache seiner Mißoifolge
bei den beiden ersten Operationen darin lag, daß die Anasto¬
mose, welche an dem erweiterten Darm zunächst weit genug
erschien, zu eng wurd(\ als sich der Darm infolge seiner Ent¬
leerung zusammenzog. Er empfiehlt daher, von vornherein mög¬
lichst große Anastomoscn anzulegen. ,
Haasler-Hallc demonstriert zwei Präparate von in¬
neren Hernien.
2. Sitzungstag, 4. April 1907.
F ri edr ich - Greifswald : Die operative Behandlung
der Lungenkrankheiten.
Das Thema der Lungenchinirgie ist in den letzten .fahren
häufiger besprochen worden, so daß sich Vortragender anfangs
nur schwer entschließen konnte, dasselbe wieder in Angriff zu
nehmen. Hauptsächlich sind seine Bedenken durch den Ge¬
danken zerstreut worden, daß ein zusammenfassendes Referat
seit Einführung der pneumatischen Kammer noch fehlt. Die Chi¬
rurgie der Lungen befaßt sich ausschließlich mit schweren Er¬
krankungen. Nachteilig war für die Lungenchirurgie, daß sie
bei der Tuberkulose einsetzte. Immerhin sind auch hier einige
gute Vorschläge zu verzeichnen. Friedrich erinnert an
Freunds Vorschlag, an Quinckes Mobilisierung der Brustwand,
an Murphy, der durch einen künstlich herbeigeführten Stick¬
stoffpneumothorax eine Ruhigstellung der Lunge erzielen wollte
und anderes mehr. Trotzdem dürfte ein genügender Boden für
bestimmte Schlußfolgerungen noch nicht gewonnen sein. Ebenso
liegen die Verhältnisse bei der Aktinomykose der Lunge, während
der Lungenechinokokkus chirurgisch stets angreifbar erschein I
und wie Tuffier bewiesen ;hat, einen Heilerfolg von 91 ''/o der
operierten Fälle aufweist. Die eigen Hiebe Domäne der Lungen¬
chirurgie sind jedoch die Fälle von Limgenabszeß und -gangrän.
Besonders wertvoll erscheint Friedrich die Mitarbeit der in¬
neren Kollegen. Die Abszeß- und Gangränfälle können hei der
Beurteilung identisch erscheine]!, da Prognose und Therapie gleich
sind. So günstig die Prognose hei akuten Fällen erscheint, so
dubiös ist sie bei chronischen. Hier helfen nur große Eingriffe,
besonders ausgedehnte Rippenresektionen. Die Diagnose ist
schwierig zu stellen, wenn auch in letzter Zeit die Röntgen¬
photographie dieselbe ah und zu erleichtert. Frülier wurde die
Vornahme der Operation häufig ahhängig gemacht von dem Vor¬
handensein von Adhäsionen, auf die man jetzt geringen oder
gar keinen Wert legt, weshalb man auch zur Zeit fast
immer einzeitig operiert. Auf Technizismen geht Friedrich
nicht ein. Wird der Eiterherd bei der Operation nicht gefunden,
so soll man tamponieren, damit der Abszeß eventuell nach der
Stelle der Tamponade hin durchbricht, oder man soll eine Metall¬
sonde in die Wunde einlegen und röntgenographieren, um sich
über die Beziehungen der gesetzten Wunde zu dem Abszeß klar
zu werden. Die Gesamtstatistik ergibt die Heilziffer von etwa
70ß'o. Besonders ungünstig sind die hronchiektatischen Abszesse,
weil die Patienten meist sehr dekrepid sind. Aber auch die Er¬
krankung als solche ist natürlich sehr schwer, wenn man bedenkt,
daß die Abszesse bronchiektatischer Natur mültipel sind und nicht
alle diagnostiziert werden können. Deshalb sind hronchiekta-
tische Abszesse besonders ungünstig. Gerade deshalb ward man
nach Friedrich in Zukunft bessere Resultate operativ erzielen,
wenn man Lungenresektionen vornimmt. Wo Bronchiektasen in
einem Lappen vorhanden sind, soll man denselben resezieren.
Sind in mehreren Lappen jedoch Herde, so dürfte es sich um eine
chirurgisch unangreifbare Aufgabe handeln. Die malignen Tumoren
sind so schwer zu diagnostizieren, daß die Erfolge gering sind.
Brustwandtumoren haben oft Gelegenheit gegeben, an der lainge
zu operieren, doch ist die Zahl der Heilerfolge noch immer sein-
gering. Verletzungen der Lunge werden selten Gelegenheit zur
Operation geben, wie bereits Garre in seiner Arbeit bewiesen
hat; nur auffallende Blutungen und sich stets weiter entwickeln¬
der Pneumothorax geben die Indikation ab. Trotzdem soll man
nicht zurückhaltend sein, denn Friedrich hat einen Fall ver¬
loren, bei dem die Verblutung durch die verletzte Arteria costalis
geschah, ein Fall, der durch Operation und Unterbindung der
Arterie wohl zu retten gewesen sein dürfte. Auch beim Span¬
nungspneumothorax wird man ebenso vorsichtig sein müssen
wie beim Hautemphysem. Mit Hilfe <ler pneumatischen Kammer
nun ist man imstande, an den Lungen in den verschiedenen
Zuständen der Entfaltung zu arbeiten. Friedrich grenzt meh¬
rere Zonen ab. Bei einem Drucke von 0 bis — 3 ist es’ nicht
möglich, zu operieren, bei einem Drücke von — 3 bis — 5 ist
der Zustand des relativen Pncümolhorax eingetreten, ein Zu¬
stand, bei dem bereits zu operieren ist. Der Druck von — ö bis
etwa — 9, den er das inspiratorische Maximum nennl, läßt gut
operieren und gestattet die Kontrolle der Lunge unter dem Auge.
Der Druck über —9 ist gefährlich, einmal wegen des Heraus-
. drängens der Lunge, sodann wegen des Einflusses auf flic Arteria
pulmonalis. Es ließ sich nun feststellen, daß die Pleura costalis
am empfindlichsten ist, die Pleura pulmonalis am wenigsten em¬
pfindlich. Das Parenchym ist ganz unempfindlich, desgleichen
die Gefäße und die distalen Bronchien, während die proximalen
Bronchien mit sehr schweren Reflexen reagieren, wie mit Shock
des Herzens und der Atmung, auch bei Narkose mit Brauer-
Junkerschem Apparat. Die Narkose ist langsam zu machen, mit
möglichst sparsamen Verbrauch des Narkotikums, das wie ge¬
artet immer sein kann. Einmal sah Friedrich bei einer endo-
thorakalen Oesophagusoperation bei Lösung der beiden Vagi eine
schwere Störung, zwei Atmungen in der Minute, 48 Pulse. Bei
plötzlich einsetzendem Pneumothorax entstehen große Blutdruck¬
schwankungen. Bei Tüpferdruck gegen das hintere Mediastinum
entsteht ein rapides Absinken des Blutdruckes. Zieht man die
Lunge zu weit vor, so sinkt der Blutdruck auf fast 0. Friedrich
hat eine Kanüle in die Arteria pulmonalis eingeführt und hat
gefunden, daß bei einem äußeren Druck von — 7 die Normal¬
höhe des Pulmonaldruckes von 30 cm Quecksilber erhalten bleibt.
Die Schwankungen des Pulmonaldi-uckes rufen schwere Störungen
hervor. Alle Versuche zeigen, daß der rechtsseitige Pneumothorax
größere Bedeutung hat als der linksseitige. Die Unterbindung
der Arteria pulmonalis macht keine Druckänderung im übrigen
Stromgebiet. Um Platz zu gewinnen, kann man die Lunge etwas
zusammenfallen lassen. Bei Verletzungen dürfte eine Normal¬
blähung von — 7 eine gute Uebersicht geben. Bei Lungenresek¬
tionen sollen keine Massenligaturen angewendet werden, nament¬
lich nicht beim Operieren gegen den Hilus. Sehr gefährlich er¬
scheint Friedrich die Lungenamputation, weil die Bronchien¬
versorgung sehr schwierig ist. Die große Gefahr ist, daß sich der
Bronchialstumpf in das Mediastinum zurückzieht, ein Umstand,
der das unbedingt tödliche Mediastinalödem nach sich zieht. Was
die Ausführung des Brustwandschnittes betrifft, so soll derselbe
inöglichst ausgiebig sein, jedenfalls die Resektion mehrerer Rippen
gestatten. Dann soll der Mikuliczsche Sperrhaken eingesetzt
werden. In vereinzelten Fällen läßt sich sogar durch dieses
Instrument die Resektion vermeiden. Der Vorzug der Kammer
ist, daß man ohne Resektion, ohne Pneumothorax einen Ueber-
blick gewinnen kann, wenn man einen Interkostalschnitt an wendet.
Bei Lungenreseklion empfiehlt Friedrich, die Bronchien von
ihrer Schleimhaut durch Kürettement zu befreien und dann zu
ligieren. Die Kammer selbst hat für den Operateur und Patienten
fraglos große Unbeciuemlichkeiten, namentlich ist das Heben und
Drehen des Thorax sehr beschwerlich. Friedrich demonstriert
zum Schlüsse den von ihm benutzten Tisch, der ein Drehen
und Heben des Patienten recht gut gestattet. Er wendet als Ab¬
schluß der Kammer einen Verschluß an, der nach dem Prinzip
der Irisblende konstruiert ist.
Seidel-Dresden: Ueber die Physiologie des Ueber-
druck verfahre ns zur Ausschaltung der Pneumo¬
thoraxfolgen und die Berechtigung seiner Armven-
dung beim Menschen.
Dem Ueberdruckverfahren wird der Vorwurf gemacht, daß
es das Herz zu sehr gefährde. Seidel hat deshalb Untersu¬
chungen vorgenommen, die sich auf die Ueherdruckatmung bei
intaktem Thorax und beim Pneumothorax beziehen. Die Atmungs¬
frequenz wird anfangs etwas verlangsamt, dann etwas schneller.
Regelmäßigkeit bleibt keinesfalls bestehen. Das Atmimgsvolumen
nimmt deutlich ab. Die Pulsfrequenz nimmt wenig ab oder zu.
Der Blutdruck schwankt anfangs, um später zur Norm zurück¬
zukehren. Seidel demonstriert diese Ausführungen an Kurven,
die im Tierexperiment gewomien sind und zeigt zugleich Kurven
Sauerbruchs vom Unterdruckverfahren. Bei der Vergleichung
kommt er zu dem Schlüsse, daß beide Verfahren Veränderungen
in Atmung, 'Blutdruck und Puls hei-%mrrufen und hervor rufen
müssen, daß der Wert beider Verfahren jedoch ziemlich gleich
ist. Keinesfalls kann er eine größere Gefährlichkeit des Ueber-
druckverfahrens gegen das Unterdruckverfahren zugeben.
Karewski-Berlin : Die chirurgische Behandlung
der Lun gen ak ti n om y kose.
Die Heilerfolge bei Lungenaktinomykose sind keinesfalls
erniutigend. In der Literatur sind überhaupt nur fünf Genesungen
verzeichnet. Karewski hat viermal Gelegenheit zur Operation
der Lungenaktinomykose gehabt, davon sind drei Fälle gestorben,
einer ist wesentlich gebessert. Jedenfalls haben die Autoren un¬
recht, die behaupten, daß eine Heilung einfach anatomisch un¬
möglich ist. Die Aklinomykosc der Lunge scheint nicht so selten
zu sein. Die konservative Behandlung des Leidens ist jedenfalls
520
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 17
ganz aiissiclitslos. Falsch ist es, die Akliiioniykose ciiil'ach in
die Khissc der Ai)szes.se zu setzen, vielniehr l)estchen große
kliiusclie und anatoinisclie Unlerscidede. Die Heilung durch die
Opei'ation ist durchaus möglich. Karewski unterscheidet eine
]>riniäre, eine forlgeleilete Aklinoinykose und eine solche mit
-Metaslasenbildung. Zur Operalion igeeignet erscheinen ihm nur
die Fälle florider Erkrankung, die möiglichst im Stadium der
('rsten Erscheinungen operiert Averden sollen. IMeist kommen die
l'alienten zu spät in die Hände des Chirurgen. Jeder Fall, hei
dem die Lungcnhiusis erkrankt erscheint, Irei dem ferner Bazillen
mul elastische Fasern fehlen, muß den Verdacht der Aktinomy-
kose hervorruren. Das Sputum zeigt spät oder kar keine Aktino-
myzes, dagegen ist der Nachweis von Drusen leicht möglich.
Die Böidgenpholographie ergibt häufig besonders dunkle Schatten.
Bei Vei'dacht auf Lungenaklinomykose soll keine kostbare Zeit
verloren werden, es soll vielmehr sofort operiert wertlen. Die
Herde müssen radikal entfernt werden. Der Exitus tritt meist
nicht durch den Lungenherd, sondern durch: Metastasen ein. Was
seine Fälle anlangt, so zeigt Karewski einen Fall, der völlig
genesen und demonstriert einen 2. Fall, der an einem Hirnabszeß
sechs Wochen post opeiulionem gestorhen ist. Was die Technik
anlangt, so rät Karewski für sehr große, ausgiebige Schnitte.
Nie soll man die Wunde verschließen, vielmehr immer die Tam¬
ponade, seihst über viele Älonate hin, erhalten.
Gluck-Berlin: Ueher ausgedehnte L u n g e n o p e r a-
tionen.
Gluck demonstriert einen Fall, hei dem er die Resektion
des gesamten lijiken Unlerlappens vorgenommen hat, wohl der
erste Fall der gewaltigsten Lungenresektion, die je vorgenommen
wurde. Ferner macht Gluck Älitteiluugen über die retrograde
Atmuug. Er will eventuell die Atmung hei inoperahlen Mediasiinal-
lumoren, die die x\lmung sehr einscliränken, durch eine Lungen¬
fistel erleichteni.
M e rt e n s - Breslau : S ti c h ve r le t z u n g der Lunge.
Naht. Heilung.
Patient erlitt eine Stichverlelzung in die Lunge. Er wurde
unter den Ei’scheiuungen schwerei' Zyanose und des Kollapses
eing<'liel'et't. Beim Aufidchten entstand eine- schwere Blutung aus
d(*i- Stichwunde. Die Wunde wurde vergrößeit, ein Hautperiost-
knochenlap])en gebildet, die Lunge hervorgezogen. Hiedurch stand
die Blutung. Die veitetzte Lunge konnte mit ihrem Stichi'and
an die Pleura angenäht werden. Zurückklappen des Lappens. Am
dritten Tage trat Hautemphysem auf. Später völlige Genesung.
N 0 rd m ann - Schöneberg demonstriert einen iPatienten, hei
dem erfolglos der Perl lies sehe und der Sei del sehe Apiiarat
angelegt wurden. Sein Apparat ist nach dem Prinzip der Bi er¬
sehen Stauung konstruiert, saugt tadellos uml schließt absolut,
Nord manu empfiehlt seinen Apparat für schwer heilende Fälle.
Diskussion: Garre- Breslau spricht zunächst zu dem
Thema der Lungen fistclu. Um diese möglichst zu vermeiden, ist
er gleich bei der Primäroperalion mit der Resektion der Rippen
nicht si)arsain. Bei den Bronchiektasen genügt jedoch häufig die
Ib seklion der Rippen nicht, um die Lunge zum Kollabieren zu
hi'iiigen, hzw. wird dieselbe beim Heiliurgsprozeß wieder durch
Adhäsionen fixiert, nachdem sie langsam entfaltet wird. Deshalb
bestrebt sich Garre stets, die Lunge zu lösen, freizumachen
und kollabieren zu lassen. Mehrfacdi hat er zur Vermeidung der
neuerliclK'ii Entfaltung die Lunge herausgelagert, sodann auf das
Zwerchfell geklappt und durch Naht in dem Komplementärraum
fixiert. Ah und zu hat Garre die Resektion gemacht, einmal die
Exstirpation eines unteren Lappens, in allen Fällen erscheint ihm
die Prognose dubios, da auch Idronchiektasien im Oherlappcn nacli-
weishar sind. Gegen Friedrich spricht Garre der Massen-
ligalur das Wort, da das Aufsuchem der Gefäße nicht immer
möglich und man möglichst schnell operieren soll. Bronchiektasen
sollen möglichst früh dem Chirurgen zugeführt werden, weil dann
Aussicht vorhanden ist, daß Pneumolysis mit ilarauffolgender Ver¬
lagerung und Naht genügt.
L e 11 h a r t z - Hamburg hat in den letzten Jahren fast
100 Fälle der verschiedensten Art operiert, mit einem verhältnis¬
mäßig sehr guten Heilerfolg. Was die Bronchiektasen anlangt,
so sind die Resultate günstiger, je frischer die Fidle sind. Älit der
liösung kommt man bei alten Fällen nicht aus. ln drei Fällen
hat Len hart z größt* Partien abgetragen. xYuch P,enhartz ist
für die IMassenligatur. Lenhartz operiert auch sehr alte Fälle,
nur ist hiebei nötig, daß alle Höhlen möglichst ausgoräumt worden.
Dazu muß man mehrfach operieren. IMitunler begnügen sich die
Palienit'n mit der Anlegung des Ripiienh'nsters, um dann schlechter
daran zu sein, -wie vor diesem lediglich vorbereitenden Eingriff.
Lenhartz hat 2G Fälle von Tumor der Lunge gesehen, davon
hat er 2d intra vitam diagnostiziert. Hiezu ist nötig: 1. genaue
UntersucliLiug des Sputums, das für Tumor siiricht, wenn es die
von ihm gefundenen Fettkörnchenkugeln enthält, 2. Röntgeiiphoto-
graphio, 8. physikalische Untersuchung, 4. die Prohepunktion,
hei der oft geringe IMassen Fetlkörncheidaigeln gefunden werden.
Lenhartz hat viermal w'egen Oherla.ppenkarzinoms operiert, dix'i-
mal mit negativem Erfolg. Der vierte Fall, der einen Tumor vor
dei- Operalion im Oherlai)pen diagnostizieren ließ', veranlaßte ihn
nur durch stärkste Blutung zum Eingriff. Resektion von drei
Rippen, Eröffnung einer mannsfauslgroßen, zerfallenen Höhle. Aus¬
räumung deiselhen. Tamponade. Sechs Wochen Fieber, dann
wurde die Höhle mit' Röntgensti'ahlen behandelt, die Höhle ver¬
kleinert und sebloß sich 'und seit einem Jahre ist Pat. gesund.
Die größte Zahl aller Fälle wird ohne pneumatische Kammer
o])oriert werden müssen, denn dieselbe ist z. B. nicht bei jedem
Verhandwecbsel anzuwenden und hat Ijenhartz plölzlichl ent¬
stehenden iäicumothorax beim Verbinden gesehen. Lenhartz
ist für zweizeiliges Operieren; erst soll das Rippenfenstcr an¬
gelegt, später die weiteren Operationen vorgenommen werden.
Bisher unerklärlich sind Lenhartz die ganz plötzlich einselzen¬
den schweren Kollapszustände, wenn der Paquelin die Pleura
puhnonalis trifft.
KüttJi er-Marburg ist für die Anwendung des Brauer-
schen Ueberdruckverfahrens ; er warnt vor den Gefahren der
Aspiration und spricht für ausgedehnte Resektionen von Rippen
im Gc^gensatz zur Thorakotomie. Er tamponiert mit Gaze, die in
Lug ol sehe Lösung getaucht ist.
Körte -Berlin hat 57 Fälle operiert, davon waren 41 Pneu-
motomien, 10 Empyeme, 3 Karzinome, 1 iVktinomykose. Körte
hält die Diagnose bei Bronchieklasien doch für recht schwer.
Das Rönlgenhild zeigt auch hei indurativeii Prozessen Schatten.
Ferner ist die Feststellung, oh ein oder mehrere Herde vorhanden
sind, sehr schwer. Am besten ist die Prognose hei Abszessen,
die ah und zu spontan ausheilen. Körte opei'iert möglichst
ohne Narkose, mit großen Schnitten und großen Resektionen. Er
hält die Anweiulimg -des Messers odei' läuiuelins für gleicliwertig
und ist mehr für einzeiliges Vorgehen. Wird der Abszeß nicht
gleich gefunden, so wird lamponiert, um einem Spontandurchhruch
nach der Tam])onade d<‘n Wog zu halmeu. Wie Lenhartz hat
Körte tödliche, ganz plötzliche Kollapszustände geselum, die er
am ersten noch als Vagusreflex anscheii möchte. Vorläufig kann
Körte noch nicht finden, daß die heim Ueher- otler Unterd ruck-
verfahren erzieften Resultate besser sind, als die der alten Me¬
thode ohne die Kammer.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag: den 26. April 1:907, 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Finger stattfindendeii
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. Pascliliis: Demonstration.
2. Dozent Dr. Falta: Respirationsversuche beim pankreas-
diabetischen Hund.
3. Dr. Artur Weiss : Mitteilung.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Prof. Benedikt und
Primarius Dozent Dr. Latzko.
Bergmeister, Paltauf.
Um die recbtzeltlj^e Veröffentlichung der Sitzungsberichte zu ermöglichen,
ist es notwendig, das Autoreferat der Vorträge, Demonstrationen und Diskussionsbemerkungen
dem Schriftführer uocli am SitznuKsabeud zu übergeben.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 29. April 1907, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums, I., Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Professor E. Finger stattfindenden
wissenschaftlichen V ersainmlung.
Doz. Dr. K. Ulliuanii : Chronisch-intermittierende oder sympto¬
matische Quecksilberbehandlung ?
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm der am Montag den 29. April 1907, 0 Uhr abends
im Hörsaal der k. k. Universitätsohrenklinik stattfindenden
wissenschaftlichen Sitzung.
1. Demonstrationen: Die Herren Hofrat A. Politzer, Dr. F. Alt,
G. Alexander, H. Neumann.
2. Dr. G. Alexander ; Referat über die anatomisch-otiatrische
Literatur.
Urbantschitsch. Alexander. Frey.
Vtrantwortlichtr Btdakttur: Adalbert Karl Trupp. Verlag Ton Wilhelm Braumttller in Wien.
Draok Ton Bruno Bartelt, Wien XYIII., Theresiensaase 8.
Die
„Wiener kllulscbe
Wocbeusclirifi“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bc^en Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nacli
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an dieVerlags-
handlung.
Redaktion :
Telephon Nr. 16.282.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Bräun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Eolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. II. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherich, Ernst Fuchs, Julius
Hochenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel. Verlacshandlung :
Telephon Nr. 17.618.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hol- und Univereitäts-Bucbhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
XX. Jahrgang.
Wien, 2. Mai 1907.
Nr. 18.
INH
1. Originalartikel; 1. Aus der Universitäts-Kinderklinik und dem i
pathologisch-anatomischen Institut der Wiener Universität.
(Vorstand: Hofrat Prof. Dr. Escherich und Hofrat Professor
Dr. A. Weichselbaum.) Weitere Mitteilungen über die Erkrankung
der großen Gefäße bei kongenitaler Lues. Von Dr. Egon Rach,
Aspiranten an der Kinderklinik und Dr. Richard Wiesner,
Assistenten am pathologischen Institut.
2. Ans dem hygienischen Institut der deutschen Universität in
Prag-. (Vorstand: Prof. Hueppe.) Ueber den Lues-Antikörper¬
nachweis im Blute von Luetischen. Von Dr. E. Weil.
3. Aus der gynäkologischen Poliklinik der königl. Charite zu
Berlin. (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Buinm.) Die Hei߬
luftbehandlung in der Gynäkologie. Von Dr. Oskar Hasen¬
feld, Franzensbad, zurzeit Volontärassistent der Klinik.
4. Aus der 11. Universitäts-Augenklinik. (Vorstand: Hofrat Pro¬
fessor E. Fuchs.) Ein Konturschuß entlang der Orbita. Von
Dr. Rudolf Bergmeister, Assistenten an der 11. Augenklinik
in Wien.
ALT:
II, Referate! Sammlung klinischer Vorträge. Shakespeares
Gynäkologie. Von F. v. Winckel. Neuere Bestrebungen auf dem
Gebiete der exakten Beckenmessung. Von F. Ahlfeld. Die
Zystoskopie des Gynäkologen. Von Leop. Thum im. Geburts¬
hilfe und Strafrecht. Von Dr. G. Radbruch. Die Mittel zur
Verhütung der Konzeption. Eine Studie für Aerzte und Geburts¬
helfer. Von Hans Ferdy. Der plazentai'e Stoffaiistausch in seiner
physiologischen lind pathologischen Bedeutung. Von E. Kehrer.
Reformen in der Therapie des engen Beckens. Von Doktor
C. Baisch. Handbuch der Gynäkologie. Von J. Veit. Prak¬
tische Geburtshilfe für Studierende und Aerzte. Von Professor
K. A. Herzfeld. Ref : Keitler.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
rV. Nekrolog. Albert Ritter v. ÄIosetig-Moorhof. Von Prof. Doktor
Alex. Fraenkel.
V. Therapeutische Notizen.
VI. Vermischte Nachrichten.
YII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
Aus der Universitäts-Kinderklinik und dem pathologisch¬
anatomischen Institut der Wiener Universität. (Vorstand:
Hofrat Prof. Dr. Th. Escherich und Hofrat Prof. Doktor
A. Weichselbaum.)
Weitere Mitteilungen über die Erkrankung der
großen Gefäße bei kongenitaler Lues.
Von Dr. Egon Rach, Aspiranten an der Kinderklinik und Dr. Richard
Wiesner, Assistenten am pathologischen Institut.
Nach dem Ersclieinen miserer ersten Mitteilung über
liistologische Veränderungen in den großen Gefäßen (Aorta,
Art. pnlmonaliis) kongenital-luetischer Kinder (Wiesner^)
erfuhren diese Beobachtungen durch die Arbeit Bruhns^)
eine nach jeder Richtung vollgültige Bestätigung. Da eine
so rasch folgende bestätigende Publikation von anderer Seite
zunächst nicht voranszusehen war und wir weiters an einem
größeren Untersiichungsmaterial ein Urteil über die Häufig¬
keit dieser Teilerkrankungstorm im Bilde der vererbten
Syphilis gewinnen, sowie anch die Beziehung der Erkran¬
kung der Hauptgetäßstämme zn den sonstigen Organerkran¬
kungen feststellen wollten, haben wir auch nach Abschluß
unserer ersten diesbezüglichen Arbeit die großen GetäßiS
von Kindern, die mit kongenitaler Syphilis behaftet waren,
der histologisdien Untersuchung zugeführt. Endlich fällt
in die Zeit nach unserer ersten Publikation die Entdeckung
der Spirochaete pallida, so daß wir unsere Unter¬
suchungen auch auf den Nachweis von Spirochäten in den
Erkrankungsherden der großen Gefäße ansdehnten.
In der vorliegenden Arbeit können wir über 27 neue
bälle von sichergestellter kongenitaler Syphilis berichten.
Mit Rücksicht auf die uns gestellten Fragen wurden die
Gefäße bei Fällen von schweren, als auch leichteren Alh
gemeirierkraiikungen verwertet und wenn möglich, eine ge¬
naue histologische Untersuchung der inneren Organe vor¬
genommen, um über das Verhältnis der Schwere der Er¬
krankungsprozesse in den Organen zu jenen in den großen
Gefäßen ein Urteil gewinnen zu können. Nach den in unserer
ersten Arbeit gemachten Erfahrungen über bevorzugte Loka¬
lisationen der Erkrankimgslierde innerhalb der Gefäßrohre
(Austritt aus dem Herzen, Verzweigungsstelleii der Gefäße,
au welchen Stellen sich wiederum die reichlichsten Vasa
vasorum vortinden) wurden zur Ihstologiscben Untersuchung
Stücke aus der Wand der Aorta ascendens oberhalb der
Klappenansätze (Asc. I) und unterhalb des Arkus (Asc. Il),
aus dem Anfangsteil der Aorta desceiidens initerhalb der
Einmündung des Dnetns arteriosus (Desc. 1), ferner oberhalb
des Zwerchfelldurchtriites (Desc. 11) und des öftern auch
aus der Mitte der Aorta abdominalis herausgeschnitten. End¬
lich wurden noch Stücke aus dem Anfangsteil der Art. pul-
monalis verarbeiiet.
Die Fixierung geschah mittels des gewöhnlichen Ge¬
menges von Mül 1er scher Lösung und Fomiol, resp. reinem
lOo/oigen Forniol ; Alkoholhärlung, Paraffineinbettimg. Fär¬
bung mit Hämalann-Eosin, Litlhonkarmin-W eigerts Ela-
stiskafarblösung. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
wurden Stücke der Gefäßwände sowie der Organe nach
der Levaditimethode behandelt.
Die Wiedergabe miserer UntersuGlumgsprotokolle möge
über nnsere Forschiingsergebnisse Aufscliluß geben :
Fall I. 30. Mai 1905. M., totgeboren, zehnter Lunartnonat.
i WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. Nr. 18
Kliniscli: ]\Iakiilöses I^xantlicni, Ltics congenita. Mutter
hat während der Gravidität syphilitisches Exanthem dnrchgemacht.
Sektionsdiagnose: Pneumonia alba, Hepatitis luetica,
Osteochondritis luetica, Thymusahszeß, makulöses Exanthem über
dem Thorax.
Histologischer Befund: L e 1) e r, Vermehrung des inter-
lohnlären Bindegewebes, sowie reichliche kleinzellige Infiltrate
desselben. Obliteration einer Reihe von Arteriolen. Niere, Ver¬
mehrung des interstitiellen Bindegewebes, Rundzellenanhäufungen
um die verdickten Gefäßchen in der Rinde.
,A s c. 1 und H, Des c., A b d o m i n a 1 i s, A r t. p u 1 m o n a 1 i s
ohne histologische Veränderungen.
Fall 11. September 1905. St. D., eine Stunde nach der
Gehurt gestorben.
Klinisch: Lues congenita. Älutter vor einem Jahre
aboitiert. Vater bat angeblich Ausschlag durchgenmebt.
S ekt i on s he f un d : Pneumonia alba, Hepatitis luetica,
harter Milztumor, Osleocbondritis luetica leichten Grades; grolb
hlasiger Pemphigus über Stamm und Extremitäten. Degeneration
der Parenchyme. Vergrößierung und Sukkulenz der Nebennieren.
Histologischer Befund: Leber, Bindegewehswuche-
rung und Zellinfiltrationen des interlobulären Bindegewebes; die
Zellinfiltrate besonders um und in den Gefäßwänden, sowie kleine
Rundzellenanhäiifungeu im Parenchym. Niere, Bindegewebsver¬
mehrung und Zellinfiltration, besonders um die Gefäßchen der
Rinde und des Markes. Nebennieren, stark hyperämisch, Blu¬
tungen in das Parenchym, Rinde unregelmäßig entwickelt, zystisch
entartet.
Asc. J, Verbreiterung der Adventitia, das Bindegewebe zum
Teil stark verdichtet, zum Teil aufgelockert und von reichlichen,
epitheloiden Zellen durchsetzt. In den äußeren Schichten der-
Adventitia frische Hämorrhagien ; längs der in die Media vor¬
dringenden Vasa vasorum deutliche Kern-, resp. Zellvermehrung.
Desc. I, fleckweise reichliche Zellvermehrung im perivaskulären
Bindegewebe, sowie Wandverdickung der Vasa vasoram. Art. pul¬
monal is, in der ganzen Zirkumferenz der Gefäßwand, im Be¬
reiche der Grenzzone der Media und in der Adventitia eine
mächtige Zellvermehrung vom Typus der epitheloiden Zellen und
Lymphoz-iden ; ebenso um die Vasa des perivaskulären Binde¬
gewebes eine reichliche Zellvermehnmg, die Wand der Arteriolen
zum Teil verdickt.
Levaditipräparate: Aorta, Art. pulmonalis, keine Spiro¬
chäten nachweisbar.
Fall HI. 11. Oktober 1905. E. G., IV2 Monate alt.
Klinisch: Pemphigus syphiliticus, Lues congenita.
S e k t i 0 n s b e f u 11 d : Pemphigus syphiliticus, Hepatitis sy¬
philitica, harter Milztumor, Anämie, Marasmus.
Histologischer Befund: Leber, leichte Verbreiterung
und Zellvermehitmg des interlobulären Bindegewebes, sowie zellige
Infiltration einzelner Gefäßwände. Niere, fleckweise interstitielle
Zell- und Bindegewebsvermehrung. Milz, Stauungshyperämie,
.\rmut an lymphoidem Gewebe.
Sämtliche Schnitte aus der Aorta und Art. pulmonalis
ohne VeräJiderungen.
Fall IV. 2. November 1905. A. P., 4V2 Monate alt.
Klinisch: Lues congenita, akuter Enterokatarrh ; Mutter
stand vor zwei Tahren wegen Lues im Wiener allgemeinen Kranken¬
hause in Behandlung. Kind hat früher Pemphigus und makulöses
Exanthem durchgemacht.
Sek t i o n s b e f u n d : Akuter Enterokatarrh, harter Milz-
tumor, fleckweise fettige Degeneration der Leber, geringgradige
Osteochondritis luetica, Anämie.
Histologischer Befiind: Leber, Thymus, ohne be¬
sondere Verändenmgen. Sämtliche Schnitte aus der Aorta und
Art. pulmonalis ohne Veränderungen.
Fall V. 20. November 1905. C. B., totgeboren.
Klinisch: Iaics congenita.
Sektionsbefund: Pneumonia alba, Osteochondritis
luetica.
Histologischer Befund: In Schnitten von der Aorta
ascendens ist die Adventitia durch dichtgefügtes, teils fibrilläres,
teils kollagenes Bindegewebe und eine Vermehnmg V021
fixen BindegeAvebszellen um die Vasa vasorum anscheinend
verbreitert. Art. pulmonalis, an der Grenze von Media und
Adventitia starke Hyperämie der Vasa vasorum und fleckweise
eine betleutende Zellanhäufung um die Gefäßchen. Infiltration
auch in die Umgebung, besonders in die IMedia vordringend. Die
Infiltrate sind vorzüglich aus kleinen Lymphozyten und spär¬
lichen polynukleären Zellen zusammengesetzt.
Fall VI. 10. Dezember 1905. N. S., totgeboren.
Klinisch: Lues congenita.
Sektionsbefund: Pneumonia alba, Osteochondritis lue-
tica, Hepatitis luetica, harter IMilztumor, ausgedehnte Ekchymosen
in den serösen Häuten.
Histologischer Befund: Asc. I, ausgebreitete Hämor¬
rhagien in die Adventitia; letztere vorzüglich durch junge Biude-
ge-Avebszellen verbreitert, daneben in mäßiger Menge fleckweise
Ansammlungen von Rundzellen (Typus mononukleäre Lympho¬
zyten), zum Teil um die Vasa vasorum angeordnet.
Desc. H, in der Adventitia ausgedehnte Hämorrhagien und
Rundzelleninfillrate in der Umgebung der Vasa vasorum; die
Vasa vasorum selbst ohne Veränderungen.
Levaditipräparate: In epikardialen Hämorrhagien ver¬
einzelte typische Spirochäten. Aorta, im Lumen eines peri-
adventitiellen Lymphgefäßes der Aorta abdominalis Amreinzelte
typische Syphilisspirochäten.
Fall VH. 22. Dezember 1905. H. Sch., sieben Wochen alt.
Klinisch: Lues congenita.
Sektionsbefund: Fibrinös -eitrige Peritonitis, Bronchitis,
Osteochondritis luetica, Hepatitis luetica, Milztumor, Anämie, Papel
am Kinn, Rhagaden an den Lippen.
Histologischer Befund : Leber, Vermehrung des
interlobulären BindegeAvebes und Zellreichtum desselben, Im-
sonders um die daselbst verlaufenden Gefäßchen; die Wandungen
der letzteren zum Teil hedeutend verdickt. Sämtliche Schnitte
aus der Aorta und Art. pulmonalis ohne Veränderungen.
Fall VHI. 24. Dezember 1905. Kind der S. M., mazerierte
Frucht im fünften Lünarmonat.
Klinisch: Mutter vier Fehlgeburten, Leukoderma.
Histologischer Befund: L e h e r, das interlobul äre
BindegeAvebe vermehrt und in die Le])erläppchen vordringend;
die Wand der Arteriolen merklich verdickt. Nebenniere, die
Rindensubstanz ohne Verändeitingen, an Stelle der Marksul)stanz
findet sich eine beträchtliche AVueherung des interstitiellen Binde-
geAvebes, in diesem nur ganz vereinzelte kleine Inseln von Paren¬
chymzellen. Milz, das trabekuläre BindegeAvebe stark vermehrt,
die Arteriolen in ihrer Wand verdickt, das lymphoide GoAvebe
nur spärlich vorhanden.
Sämtliche Schnitte aus der Aorta und der Art. pulmo¬
nalis ohne VerändeiAingen.
Fall IX. 5. Januar 1906. K. Sch., zAvei Stunden alt.
Klinisch: Lues congenita.
Sektionsbefund: Hepatitis luetica, Pankreatitis indu-
ratfva, Osteochondritis luetica, harter Milztumor.
Histologischer Befund: Asc., in der ganzen Zirkum¬
ferenz der GefäßAvand erscheint die Adventitia durch eine be¬
trächtliche Zellvermehrung stark verbreitert; dieselbe setzt sich
vornehmlich aus epitheloiden und spindeligen Zellen, in ge¬
ringerer Menge aus Rundzellen (Typus Lymphozyten) zusammen.
Diese Zellwucherungen und -infiltraiionen dringen in die Media
Aveit vor, Avodurch die äußeren Wandschichten des Gefäßes ein
überaus dichtes Gefüge erhalten.
Desc., zeigt dieselben Veränderungen in gleich scliAverer
Ausbildung; das adventitielle BindegeAvebe ist vermehrt und straff,
die Wand einzelner Vasa vasorum durch konzentrisch gelagerte
spindelige Zellen verdickt und ihr Lumen verengt. Art. pulmo¬
nalis, zeigt die eben beschriebenen Veränderungen in schAverster
Ausbildung, nebst beträchtlicher hydropischer Quellung der er¬
krankten Wandbezirke; die Grenzzone der Media, soAvie die Ad-
Amntitia sind durch diese Veränderungen stark Amrbreitert.
Levaditipräparate: Aorta, keine Spirochäten nach¬
weisbar.
Fall X. 7. Januar 1906. K. E., 2V2 Monate alt.
Klinisch: Lues congenita. Hydrocephalus externus acutus,
Tumor lienis.
S e k t i o n s b e f u 11 d : Ausgebreitiete Pachymeningitis haemor-
rhagica interna, Oedem des Gehirns, Hepatitis luetica, Blutungen
in die Darmschleimhaut, harter Milztumor, Anämie.
Histologischer Befund: Leber, Zellinfiltrationen und
junge BindegeAAmbsAvueherung um die Arteriolen, Amreinzelte Rund¬
zelleninfiltrate im Parenchym. Niere, fleckAAmise Vermehrung
des interstitiellen BindegeAAmbes. Nebenniere, das Parenchym
der Älarksubstanz fehlt, an seiner Stelle ist das interslitielle Bindo-
gcAvebe sehr stark gewuchert, zum Teil sehr zellreich; die Gefäße
sind stark hyperämisch. M i 1 z, sehr blutreich, arm an lymphoidem
Gewebe.
Sämtliche Schnitte von der Aorta und Art. pulmonalis
ohne Veränderungen.
Levaditipräparate: Leber, typische Spirochäten nach¬
weisbar, Milz, keine Spirochäten nachAveisbar.
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(Erbaut 1896, vergrößert 1901 und 1907.)
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Hermann Beyer & Co., Dresden-Blasewitz.
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Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
623
F. S., einen Tag alt.
XI. 20. Februar 1906
K 1 i n i s c h : Lues congenita.
Sekti onsbefu n cl : Schwerer universeller Pemphigus sy-
plnliticus, Pneumonia alha, He])alilis syphilitica, Osteochondrilis-
syphilitica, harter Milztumor mit einem subkapsulären Hämatom.
Histologischer Befund; Lunge, mächlige Vermeh¬
rung des Bindegewebes der Alveolarsepten, sowie des peribron-
chialen und periadventitiellen Bindegewebes. Leber, iui Paren¬
chym reichlich inselförniige Rundzelleninfiltrate. Die Querschnitte
einzelner größerer Gefäße zeigen eine beträchtliche Zellinfiltration-
auch die Umgebung der Gefäßchen ist auffallend zellreich. Milz'
sehr blutreich, arm an lymphoidem Gewebe.
A sc I, Adventitia und Grenzzone der Media sind sehr
zellrcich (Typus epitheloide Zellen) besonders um die Vasa va-
soram; das perivaskuläre Bindegewebe ist stark vermehrt. A sc. H
zeigt das gleiche Bild, außerdem ist das adventilielle Binde
gewebe zum Teil etwas derber gefügt. De sc. I und H, ebenso^
nur sind die genannten Veränderungen mehr fleckweise angeordnet
Art. pulmo nalis. Adventitia und Grenzzone der Media sind
durchwegs stark verbiuitert, zum .Teil aus Rundzellen (Typus
Lymphozyten), zum größeren Teile aus jungen Bindegewebs¬
zellen aufgebaut. Die Wand einzelner Vasa vasorum ist verbreitert,
ihr Lumen verengert.
Le vaditipräparate : Lunge, Pemphigusblasen,
Spirochäten reichlich vorhanden. Milz, Leber, sowie Aorta
und Art. pulmonalis keine Spirochäten nachweisbar.
Fall XH. 17. März 1906. A. T., vier Monate alt.
Klinisch: Lues congenita, Bronchitis.
Sektionsbefund: Pemphigus syphiliticus, multiple
Gummen der Leber, ossifizierende Periostitis der Oberarmknochen,
Atelektasen der Lungen bei Bronchitis.
Histologischer B e f u n d : Leber, Vermehrung .des inter-
lobulären Bindegewebes und Rundzelleninfiltralion in und um
die arteriellen Gefäßwände, sowie auch im Leberparenchym. Fett¬
infiltration.
Asc. I und II, Art. pulmonalis, ohne Veränderungen.
De sc. in Schnitten, die mit W^eig erts Elastikafarblösung
gefärbt sind, ist im äußeren Drittel der Media, an den elastischen'
Lamellen ein ausgedehnter, körniger und scholliger Zerfall wahr-
zimehmen. Dasselbe findet sich auch in Schnitten aus der Aorta
abdominalis, wenn auch in geringerer Ausbildung.
L e V a d i t i p r ä p a r a t e ; Leber, keine Spirochäten iiach-
weisbar.
Fall XHL 14. April 1906. Fr. A., fünf IVochen alt.
Klinisch: Lues congenita, Mutter stebt seit vier Monaten
wegen luetischem Exanthem in Behandlung.
Sektionsbefund: Indurative Pneumonie in beiden Unter¬
lappen und im rechten Oberlappen. Hepatitis luetica, harter Milz¬
tumor, Pemphigus syphiliticus.
Histologischer Befund: Sämtliche Gefäße ohne Ver¬
änderungen.
Leva diti Präparate: Keine Spirochäten nachweisbar.
Fall XIV. 16. April 1906. N., Frühgeburt im achten Lunar¬
monate.
Sektionsbefund: Pneumonia alba, ausgedehnte Blu¬
tungen unter die Pleuren, Hepatitis luetica, Pankreatitis iudu-
rativa, Thymusabszeß', Osteochondritis luetica, harter Milztumor.
Histologischer Befund: Lunge, hochgradige binde¬
gewebige Induration des Lungengewebes, Verbreiterung des peri¬
vaskulären Gewebes durch Bindegewebswucherung. Leber, das
Parenchym von reichlichen Rundzelleninfiltraten durchsetzt, sowie
fleckweise von derbem Bindegewebe substituiert (Narbe); das
perivaskuläre Bindegewebe zUm Teil kleinzellig infiltriert, zum
Teil vermehrt.
Asc. I und H, fleckweise Verbreiterung der Adventitia
und Grenzzone der Media durch Zellvermehrung vom Typus der
epitheloiden Zellen, besonders um die Vasa vasorum. De sc. 1,
ebenso. Eine gesonderte, etwas eingehendere Schilderung dieser
Schnitte folgt weiter unten. ^
Leva ditipräpa rate: Lunge, typische Spirochäten nach¬
weisbar, Leber, Spirochäten nicht auffindbar. Aorta, keine
Spirochäten auffindbar.
Fall XV. 23. April 1906. Frühgeburt, 7V2 Lunarmonate.
Sektionsbefund; Pneumonia alba, Hepatitis luetica, Pan¬
kreatitis indurativa, Osteochondritis luetica, Milztumor. Multiple
Blutuugen in den mesenterialen Lymphdrüsen und in der Adventitia
der großen Gefäße.-
Histologischer Befund: Lunge, indurative und vor¬
wiegend desquamative Pneumonie ; die Gefäßwände durch Binde¬
gewebswucherung, zum Teil auch durch Rundzelleninfiltrate meist
stark verbreitert. Pankreas, ausgedehnte interstitielle Binde¬
gewebswucherung, vom Parenchym nur mehr spärliche Reste vor-
llülluGll.
v reichlich dichlgefügte epitheloide
Zellen; die Wände der Vasa vasorum meist stark verbreitert,
das Lumen etwas verengert. Um diese finden sich auch Rund-
zelleninfiltiate , die Äledia ist stellenweise sehr kernreich. Asc. H,
zeigt die gleichen Veränderungen, aber mehr fleckweise ange¬
ordnet. De sc. I, die Adventitia ist stellenweise durch ver¬
mehrte junge Bindege\yebszellen dichter gefügt, die Vasa va-
soium wie früher geschildert. Art. pulmonalis zeigt ebenfalls
in ausgedehntem Maße die genannten Verändei-ungen.
Le vaditipräparate : Lunge, Spirochäten reichlichst
nachweisbai. Aorta, innerhalb einer Arteriole des periadventi¬
tiellen Gewmbes entfernt von den Erkrankungsherden e i n e typische
Spirochäte.
Fall XVI. 2. Mai 1906. M. F., zehn Wochen alt.
Klinisch: Pemphigus syphiliticus, Irisprolaps. Mutter seit
einem Jahre an Lues erkrankt.
Sektions be fund: Osteochondritis luetica, Hepatitis lue¬
tica, Bronchopneumonie, chronischer Milztumor.
Histologischer Befund: Leber, das interlobuläre
Bindegewebe stark gewuchert Und in die Leberläppchen vor¬
dringend; im Parenchym vereinzelte Rundzelleninfiltrate. Sämt¬
liche Schnitte aus der Aorta und Art. pulmonalis ohne
Veränderungen.
Le vaditipräparate: in den Organen keine Spirochäten
nachweisbar.
Fall XVH. 9. Mai 1906. M. R., totgeboren.
Sekti onsbef und: Mazerierte Frucht, Pneumonia alba et
gummosa, Pankreatitis indurativa, Osteochondritis luetica, Gummen
der Leber, Milztumor.
Histologischer Befund: Lunge, ausgedehnter gum¬
möser Zerfall, Milz, Lebe r, multiple Guminen sowie reichliche
Rundzelleninfiltrate um die Gefäße und schwielige Induration der
Organe.
Asc. I, Adventitia dicht gefügt und verbreitert, daselbst
sowie im Bereiche der Grenzzone der Media meist um die Vasa
vasonim eine beträchtliche Zellvermehrung, vornehmlich vom
Typus der epitheloiden Zellen; die Vasa vasorum- ohne Verän-
dei-ungen. Asc. H, Delsc. I und H, Abdominalis in gleicher
WTise, nur in geringerem Grade, verändert. Art. pulmonalis
und Grenzzone der Media sind in der ganzen Zirkumferenz der
Gefäßwand durch mächtige Zellwucherungen vom Typus der
epitheloiden Zellen, welche besonders um die Vasa vasorum ge¬
lagert sind, sehr bedeutend verbreitert. Der ganze Prozeß in den
Gefäßen ist als ein sehr schwerer zu bezeichnen.
Le vaditipräparate: Lunge, M i 1 z, , typische Spiro¬
chäten in reichlichen Mengen nachweisbar. Art. pulmonalis,
ganz vereinzelte Spirochäten in zwei im Bereiche der Adventitia
verlaufenden Arteriolen.
Fall XVIII. 22. Juni 1906. L. S., totgeboren, neunter Lunar¬
monat.
Klinisch: Pemphigus syphiliticus, Lues congenita. Mutter
hat vor drei Jahren wegen Lues eine Schmierkur durchgemacht,
unter vier Geburten zweimal abortiert.
Sekt io ns be fund: Pneumonia alba, Gumma der linken
Lunge, Hepatitis luetica, mäßige Osteochondritis, Pemphigus
syphiliticus, Hämatom in der linken Nebenniere.
Histologischer Befund: Lunge, ausgedehnte binde-
:ewebige Induration. Thymus zeigt schwere sklerotische In¬
duration.
De sc. I, fleckweise bindegewebige Verdichtung der Adven¬
titia und^ Zellvermehrung vom Typus der epitheloiden Zellen
(Prozeß nicht sehr ausgeprägt). Alle anderen Schnitte olme wesent¬
liche Veränderungen,
Le V a di tip r äp a r a te ; Milz, Spirochäten leicht auffindbar,
Fall XIX. 13. Juli 1906. C. W’’., neugeboren.
Klinisch: Lues congenita; Mutter wurde vor der Ge¬
burt wegen nässender Papeln behandelt.
Sektion sbefund; Pneumonia alba, Pankreatitis indura¬
tiva, Hepatitis luetica, mäßige Osteochondritis luetica, harter Milz¬
tumor.
Histologischer Befund: Leber, ausgedehnte Whiche-
rung des interlobulären Bindegewebes und Eindringen desselben
in die Leberläppchen, Zugrundegehen des Parenchyms, Rundzellon-
infiltrate um die Gefäßwände und obliterierende Endarteriitis
der Arteriolen. Lunge, Induration durch ausgedehnte Binde¬
gewebswucherung. Milz, Stauungshyperämie, Armut an lym¬
phoidem (lewebo, Rundzellenanhäufungen um die Gefäße im trabe¬
kulären Bindegewebe.
"VVlKTsTlH KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
A sc. I luicl II, Art. pulmonal is, in der Adventitia und
den angi-enzenden Mediaschichten fleck- und streifenförmige Zell-
anhäiifungen (Lymphozyten und epitheloide Zellen); diese dringen
mit ahnehmender Intensität auch gegen die inneren Schichten der
]\ledia vor. Endlich finden sich analoge Zellanhäiifungen auch
um die Vasa im periadvenliliellen Gewehe. De sc., ohne Ver-
ändeiungen. Abdom., spärliche, inselförmige Zellanhäufungen
um die Vasa vasorum im Bereiche der Adventitia und den an-
grenzentlen Mediaschichten.
Levaditipräparate: Lunge, Milz, Nebenniere,
reichlichst Spirochäten nachweisbar: Aorta, keine Si)irochäten
auffindbar.
Fall XX. 9. August 1906. L. H., eine Stunde alt.
Klinisch: Pemphigus syphiliticus.
S e k t i o n s h e f u n d : Pneumonia alha , Pankreati tis indura-
tiva, Osteochondritis luetica, Pemphigus syphiliticus.
Histologischer Befund: Lunge, hindegewehige In¬
duration, besonders das perivaskuläre und peribronchiale Binde¬
gewebe stark gewuchert. Pankreas, vorzüglich aus straffem
Bindegewebe aufgehaul, dazwischen nur spärliche Parenchym¬
inseln. Leber, hesonder-s das perivaskuläre Bindegewehe stark
vermehrt und zeitig infiltriert. Niere, interstitielle Bindegewehs-
wucherung und inselfönnige Rundzellenanliäufungen.
Asc. I und II, Art. p ulmonal i s, in der ganzen Zirkum-
ferenz dei- Gefäßwand finden sich in der Adventitia und der
Grenzzone der ]\Iedia reichliche Zcllanhäufungen vom Typus der
Lymphozyten und epitheloiden Zellen, durch welche die Wand
an einzelnen Stellen beträchtlich verbreitert ist, das perivaskuläre
Bindegewebe um die Vasa vasorum ist vermehrt, das Lumen
einzelner Vasa beträchtlich verengert. Lymphozyten dringen in
merklicher Zahl bis in die innersten Schichten der Media vor.
Desc. zeigt ähnliche Veränderungen in weit schwächerer Aus¬
bildung, das adventitielle Bindegewebe ist stellenweise vermehrt
und dicht gefügt. Ah dom. ohne Veränderungen. Der Prozeß
in den Gefäßen ist im allgemeinen als schwer zu bezeichnen.
Ij e V a d i t i p r ä parate: Lunge, Milz, Spirochäten leich-
licli nachweisbar; Leber, Aorta, keine Spirocliäten auffindbar.
Fall XXL 19. September 1906. Totgeboren.
Klinisch: Pemphigus syphiliticus.
Sektionshefund: Pneumonia alba, Hepatitis luetica, Pan¬
kreatitis indurativa, Thymusahszeß, Osteochondritis syphilitica,
Pemphigus über Stamm und Extremitäten.
Histologischer Befund: Pankreas, mächtige, inter¬
stitielle Bindegewebswucherung, das Parenchym nur in spärlichen
Besteh vorhanden.
Asc. I, Art. pulmonal is, in der Adventitia und den an¬
grenzenden IMediaschiclrten findet sich besonders um die Vasa
vasorinn eine heträchtliche Ansamndung von epitheloiden und
lymphoiden Zellen, sowie eine Vermehrung von fibrillärem Binde¬
gewebe, wodurch diese Wandschichten ein dichtes Gefüge er¬
halten. Die äußere Hälfte der Media ist besonders längs
der eindringenden Vasa auffallend zellreich. In Schnitten
mit Elastikafärbung fällt besonders im Bereiche der Zellanhäu¬
fungen ein körniger Zerfall der elastischen Elemente auf. Desc.
und Ab dorn, zeigen analoge Veränderungen in schwächerer Aus¬
bildung.
Levaditipräparate: Lunge, Leber, Thymus, Pan¬
kreas, reichlichst Spirochäten nachweisbar.
Aorta und Art. pulmonal is, keine Spirochäten auf¬
findbar.
Fall XXH. 8. Dezember 1906. B. B., neun Tage alte Früh¬
geburt, im achten Lunarmonat.
Klinisch: Lues congenita. Mutter hat im vierten Schwan¬
gerschaftsmonat Lues akquiriert.
Sektionsbefund: Pneumonia alba, Hepatitis luetica,
Osteochondritis luetica, Milztumor, Icteiais universalis gravis.
Histologischer Befund: Lunge, diffuse, bindegewebige
Induration des Lungenparenchyms. Leber, das Bindegewebe ver¬
mehrt und in die Leherläppcben vordringend. Niere, Vermeh¬
rung des interstitiellen Bindegewebes, BilTungsanomalien an den
Glomerulis und Hämorrhagien in einzelnen Harnkanälchen. Wand¬
verdickung und Verengerung des Lumens der Arteriolen. Milz,
Vermehnnig des trabekulären und retikrdären Bindegewebes, Armut
an lymidioidem Gewebe. Die Wendungen einzelner arterieller
Gefäße Amn Bundzellen durchsetzt.
Asc. I und 11, heträchtliche Zellvenmehrung, im Bereiche
der Grenzzone von Media und Adventitia, die Zellanhäufungen
vornehmlich aus jungen Bindegewehszellen und spärlicheren
Lymphozyten zusammengesetzt.
Art. pulmonal is zeigt analoge Veränderungen in
schwächerer Ausbildung.
Levaditipräparate: Lunge, um die verdickten
und zellig infiltrierten Gefäßwände spärliche, aber typische
Spirochäten. Leber, innerhalb von Blutkapillaren vereinzelte
Spirochäten. Aorta, keine Spirochaeten nachweisbar, Art. pul¬
monal is, im Lumen von Vasa vasorum typische Spiro¬
chäten auf find har.
Fall XXHI. 13. Dezember 1906. M. P., Frühgeburt, zu An¬
fang des zehnten Lunarnionats, zwei Stunden nach der Geburt
gestorben.
Klinisch: Lues congenita.
Sektionsbef und : Pneumonia alha, Pankreatitis indura¬
tiva, Hepatitis syphilitica, harter Milztumor, Osteochondritis syphi¬
litica mäßigen Grades.
Histologischer Befund: Lunge, typische indurative
Pneumonie mit bedeutender Verdichtung des perivaskulären Binde¬
gewebes. Leber, Parenchym von reichlichsten kleinen Rund-
zellenintiltraten elurchsetzt, das interlobuläre Bindegewebe kern-
reich, stark vermehrt und in die Leberläppcheir vordringend.
Pankreas, bedeutende Vermehrung des interstitiellen Binde¬
gewebes und stark ausgeprägte Rarefizierung des Parenchyms.
Asc. I und H, Art. pulmonalis, leichte Zellvermehrung
in der Adventitia und den anstoßenden Schichten der Media,
die Adventitia besonders bei Asc. H aus derbgefügtem Binde¬
gewebe aufgebaut, vereinzelte Vasa vasorum durch Inlimawuche¬
rung erheblich verengert. Desc. leichte, fleckweise Zellvermeh¬
rung Avie früher, die Adventitia abermals meist aus derbem Binde-
geAvebe aufgebaut.
Levaditipräparate: Lunge, Spirochäten haup tsächlicht
innerhalb der Blutbahnen in mäßiger Menge auffindbar. Leber,
Pankreas, Milz, keine Spirochäten nacliAveishar. Aorta, A r t.
p u 1 m o n a 1 i s, keiiie Spirochäten nacliAveisbar.
Fall XXIV. 25. Januar 1907. Knabe der J. Sch., totgeboren.
Klinisch: Lues congenita.
Sektionshefund: Universelles, großpapulöses Syphilid
der Haut, Osteochondritis luetica, Gumma der Leber und Ver¬
härtung des Organes, Pneumonia alha, Thymusahszeß, Pankrea¬
titis indurativa, harter Milztumor.
Histologischer Befund: Lunge, typische indurative
Pneumonie. Pankreas, starke Vermehrung des BindegeAAmbes
bei gleichzeitiger Rarefizierung des Parenchyms. Leber, das
inter- und intraazinöse BindegeAvebe bedeutend vermehrt, ebenso
das perivaskuläre BindegeAvebe Amrhreitert, spärliche Reste Amn
Parenchym, herdförmige Rimdzelleninfiltrate, ein zerfallendes
Gumma. Milz, Hyperämie des Organes, leichte Vermehrung des
BindegeAvebes, nur spärlich lymphoides GeAvebe.
Asc. I und 11, mäßige fleckAveise Zellvermehrung um. die
Vasa vasorum im Bereiche der innersten Zone der Adventitia Amm
Typus junger BindegeAvebszellen und Lymphozyten, vereinzelt
große, protoplasmareiche Zellen mit großem, unregelmäßigen Kerne.
Desc. I, analoge Veränderungen nur noch scliAvächer ausgebildeL
In intensiverer Ausbildung finden sich dieselben Veränderungen
in der Art. pulmonalis.
Levaditipräparate: Lunge, Pankreas, reichlich
Spirochäten. Leber, Milz, keine Spirochäten nachweisbar.
Aorta, Art. pulmonalis, keine Spirochäten nacliAveisbar.
Fall XXV. 1. Februar 1907. F. Z., drei Tage alt.
Klinisch: Lucs congenita.
Sektionshefund: Pneumonia alba, Osteochondritis
luetica, Gmnma im Kopfe des Pankreas, Hepatitis luetica, Pem¬
phigus mit Vereiterung der Blasen, allgemeine Oedeme.
H i s t o 1 0 g i s c h e r B e f u 11 d : L u n g e, bindegCAvebige Indura¬
tion des LungengeAvehes, ältere Hämorrhagien in den Alveolen.
Leber, ausgebreitete Zellinfiltration im Parenchym, bedeutende
ZellAvucherimg um die Gefäße, besonders unter der Kapsel, fettige
Degeneration der Parenchymzellen, reichliche Ablagerung Amn Blut-
pigment. Milz, arm an lymphoiden Zellen, BindegeAA'ebe etAvas
Amrmehrt, viel abgelagertes Blutpigment. Niere, beträchtliche
Wajcherung des interstitiellen BindegeAvebes, EntAvicklungshem-
mungen an den Glomerulis, parenchymatöse und fetlige Degenera¬
tion der Nierenepithelien.
Sämtliche Schnitte von der iVorta und der Art. pulmo¬
nalis ohne Verändemngen.
Levaditipräparate: Leber, Lunge, Milz, Niere,
typische Spirochäten nacliAveisbar. Aorta, Art. iiulmonalis,
keine Sjiirochäten auffindbar.
Fall XXVL 16. Februar 1907. Knabe der A. K., einen
Tag alt.
Klinisch: Lues congenita.
Sektionsbefund: Pemphigus syphiliticus, indurative Pan¬
kreatitis mit bohnengroßer Auftreibung des Kopfes, zirkumskripte,
indurativ-pneumonische Herde in den Lungen, Osteochondritis
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
lue-tira, Hepatilis luetica, harter Älilztunior, niu](i])lc Blutimffon
in den serösen Hänten, Sclileiinhäuten und der Hanl, aaso'edehiiro
siibmeningeale Blutungen. o -
Bis t o 1 0 g i s c li e r B e f u n d : L u n g e, l)indegewebige Indura¬
tion perivasknlare Bindegewebswucborung, frisclie Häniorrbagien
in das Lungeuparencliyni, starke Quellung und Desquamation des
Alveolarepitbels. Pankreas, berdtürmige, bedeutende Biude-
gewebsverniebrung bei gleichzeitiger Verarmung an Parenchym-
gewebe. Leber, reicbliche Zellinfiltrationen im Parenchym so¬
wie junge Bindegewebswucberungeii von den Gefäßcben aus-
geixend. Fettinfillration, reichlich Gallenpigment. Milz, Stauungs-
byperainie, Vermebning besonders des perivaskulären Binde¬
gewebes, Armut an lympboidem Gewebe.
Sämtliche Schnitte aus der Aorta und Art. pulmonalis
ohne erkennbare Veränderungen.
Levaditipräparate: Lunge, spärliche, Pankreas
Leber, keine Spiroebäten nachweisbar. Aorta, Art. pulnio-
nalis, keine Spirochäten auffindbar.
Fall XXVII. 24. Febniar 1907. N. N., sechs Wochen alt
Klinisch; Viszeralsyphilis, Ikterus, Tumor lienis; Mutter
zweimal abortiert.
_ Sekt i 0 ns b e f u nd : Hepatilis luetica, Milztumor, mäßifio
ossifizierende Osteoperiostitis. ’
Histologischer Befund: Leber, zeigt eine mächtige
mtralobuläre _ Bindegewebswucherung, welche aus kernarmenp
hochdifferenzierten Bindegewebe besteht und nur hie u.nd da
u._ zw. besonders in der Umgebung der Gefäßchen etwas zell-
reicher ist; das Parenchym ist atrophisch, zeigt FettinfiltraHon
und ist stark rarefiziert. Milz, sehr blutreich, das trabekuläre
resp. perivaskuläre Bindegewebe ist stellenweise etwas verbreitert;
das Organ ist arm an lymphoidem Gewebe, viel amorphes Blut¬
pigment enthaltend.
A sc. I, eine vereinzelte, adventitielle Hämorrhagie, sonst
sowie alle anderen Gefäßschnitte ohne sichtbare Veränderungen!
Levaditipräparate; Leber, Milz, reichlich Spiro¬
chäten nachweisbar. Aorta, Art. pulmonalis, keine Spiro¬
chäten auffindbar.
Das Ergebnis unserer vorliegenden Untersucliungen
ist znnächst eine neuerliche Bestätigung der von einem
von uns (Wiesner^), sowie von Brulins^) erhobenen
Befinide an den Hauptgefäßslämnien (Aorta, Art. pulmo¬
nal is) kongenital-luetischer Kinder, die, kurz resümiert, in
Zellinfiltraten und Zellwucherungen im Bereiche der Ad¬
ventitia und in den benachbarten Schichten der Media, sowie
in Obliteration der Vasa vasorum, um welche hauptsächlich
die genannten Veränderungen gruppiert sind, bestehen. Auch
diesmal konnten wir uns (an Präparaten, die nach der Leiß-
manschen Methode angefertigt wurden) überzeugen, daß die
Zellanhäufungen, soweit sie aas Rundzellen bestehen, vor¬
nehmlich von mononukleären kleinen und großen Lympho¬
zyten und nur spärlicheren polynukleären Zellen zusammen¬
gesetzt sind. Neben solchen Intiltraten finden sich, und zwar
meist bei älteren Prozessen in mitunter reichlicher Menge
junge Bindegewebszellen, durch welche die äußeren Partien
der Gefäßwand gelegentlich eine merkliche Verbreiterung
erfahren. Bei einer Reihe von Fällen konnte auch an den
elastischen Lamellen der äußeren Mediaschichte ein körniger
Zerfall beobachtet werden.
Als neues histologisches Detail ist ein Befund
anzuführen, welchen wir an Schnitten aus der Aorta
descendens des Falles XIV zu erheben Gelegen¬
heit hatten. Vorausgeschickt sei, daß ein ähnlicher
Befund an peripheren Gefäßen bereits früher von Hassel-
bach^) in einer Dissertationsschrift aus dem Jahre 1905
mitgeteilt wurde. Dieser Autor schildert die gedachte Ver¬
änderung mit folgenden Worten: „ . . . . Entsprechend den
Entzündungsherden (Zellinfiltrationen in der Adventitia) ist
die Media buckelartig verdickt, das Gewebe ist hier gegen¬
über der übrigen Media etwas reicher an Kernen. Die Ela-
stica interna ist an diesen Stellen vom Rande des Buckels
an in mehrere Lamellen aufgespalten, die mit fein ausge¬
zogenen Leien Enden in die verdickte Partie einstrahlen.
Die elastischen Lamellen der Media sind im Bereich des
Buckels etwas an Zahl vermehrt.“ Solche Bildungen fand
Has Selbach in der Art. iliaca und femoralis eines
zirka fünf- bis sechsmonatigen, totgeborenen, syphilitischen
lotus. In unserem Falle XIV findet sich an einer Stelle I
des Gefäßquerschhittes der Aorta descendens eine in-
timawarts gelegene, deutlich erkennbare, kleine Plaque
die aus lockerem, feinfibrillärem Bindegewebe aufgebaut umj
im Vergleich zur Umgebung merklich zellärmer ist. Dadurch
erscheinen die elastischen Lamellen an dieser Stelle aus¬
einandergedrängt; zum Teil weichen sie der Plaque sich
nach außen und innen leicht ausbuchtend, aus zum Teil
endigen sie in derselben unvermittelt, so daß die letztgenann¬
ten Lamellen in ihrer Kontinuität unterbrochen sind.
Zwischen den Bmdegewebsfibrillen sind nur spärlich feinste
elastische Fäserchen eingestreut, so daß man den Eindruck
bekommt, daß hier ein Teil des elastischen Gewebes zu-
pmde gegangen ist. Diese Plaque wölbt sich gegen das
Lumen, sowie gegen die äußeren Mediaschichten leicht vor
und gehört unverkennbar den innersten Mediaschichten an.
Außer dieser Veränderung zeigt die Gefäßwand, wie aus
den früher mitgeteilten Untersuchungsprotokollen zu ent¬
nehmen ist, noch pathologische Verhältnisse in ihren
äußeren Wandbezirken, die durch Zell Wucherung und Binde¬
gewebsvermehrung charakterisiert sind. Es bietet dieser
Fall einen neuerlichen Beweis dafür, daß die Er¬
krank u n g s p r o z e s s e nicht immer auf die äußeren
Wandbezirke beschränkt bleiben, sondern daß
auch die mittlere Gefäßhaut unter Umständen
eine eingreif endere Verände rung erfahren kann.
\\ ir erinnern an einen Fall, den wir in unserer ersten
Publikation (Fall X) mitgeteilt haben und bei welchem
sich in den äußeren Alediaschichten eine ziemlich aus¬
gedehnte Schwielenbildung bei gleichzeitigem Zugrunde¬
gehen der elastischen und muskulären Elemente vorfand.
Jedenfalls gehören solche fortgesclnittenere Veränderungen
zu den relativen Seltenheiten, was möglicherweise darin
begründet ist, daß die Kinder schon in kürzerer Zeit sterben,
als zur Ausbildung solcher schwerer Erkrankungsformen
notwendig ist.
Bei der Durchsicht der vorangeführten Untersuchungs¬
protokolle fällt es auf, daß die Schwere der Verändemngen
in den großen Gefäßen nicht iminer mit der Schwere der
übrigen Organerkrankungen im Einklang steht, ja daß mit¬
unter bei sonstigen schweren Organveränderungen Aorta
und Art. pulmonalis normal angetroffen werden und um¬
gekehrt sehr ausgesprochene Gefäßerkrankungen bei relaliv
geringen Organveränderungen sich vorfinden. Wir können
daher sagen, daß die Erkrankung der Haup tgef äß-
s tämme und die sonstigen Organer krau kun g e n
bei kongenitaler Lues voneinander unabhängig
sind, so daß auch erstere als selbständige, so¬
zusagen „Organerkrankung“ angesehen werden
kann. Es stimmen also auch in diesem Punkte die Verhält¬
nisse bei kongenitaler Lues mit jenen bei erworbener Sy¬
philis der Erwachsenen überein, woselbst wir ja bald
schwerste Organsyphilis bei vollkommen intakter Aorta, bald
schwerste produktive Endomesaortitis bei sonst von lueti¬
schen Veränderungen freien Organen beobachten.
Bezüglich der Häufigkeit der hier gedachten Gefäß-
verändenrngen ergaben unsere Untersuchungen, daß unter
27 schweren und leichteren Fällen von kongenitaler Lues
IGmal Veränderungen an der Aorta, resp. Puhnonalarterie
in wechselnder Intensität festgestellt werden konnten, daß
sich also in ca. 59 aller Fälle die Veränderungen an
den gedachten Gefäßen vorfinden. Bei Heranziehung der in
unserer ersten Publikation veröffentlichten zehn Fälle (neun
positiv) und der von Bruhns mitgeteilten neun Fälle (sechs
positiv) würde sich unter 47 Fällen sogar eine Häufigkeit
von 6740/0 heraussteilen. Wir sehen also, daß, welches
dieser beiden prozentualen Verhältnisse wir auch immer
als richtig gelten lassen, die Erkrankung der großen
Gefäße bei kongenital-luetischen Kindern, die
in den ersten Le be ns tagen, resp. -wochen s terben,
zu den relativ häufigen Teilers drei nun gen dieser
Allgemeinerkrankung (59o/o bis 674o/o) gebören und
OS ist nicht unwahrscheitdich, daß sich solche Prozesse
auch an den Gefäßen mancher überlebender luetischer
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
Kinder abspieleii und unter Umständen auch eine Weiter¬
entwicklung erfahren, so daß möglicherweise eine Reihe
von ,, juvenilen Arteriosklerosen“, für welche oft ein ätio¬
logisches IMoment nicht festzustellen ist, auf kongc'iiitalor
Syphilis beruhen mag, zum mindesten aber solche abge¬
laufene Schädigungen der großen Gefäße eine Prädisposition
zur Ausbildung sklerotischer Gefäßveränderungen aus
anderer Ursache erzeugen.
Wir kommen zum letzten Punkt unserer vorliegenden
Untersuchungen, zum Nachweis von Spirochäten in
den Erkrankungsherden der Gefäße. Vorausgeschickt sei,
daß in der Wand kleinerer Gefäßchen, vornehmlich bei in
Organen eingebetteten Gefäßchen, Spirochäten schon wieder¬
holt, so von Simmonds,*') Gierke,^) Buschke und
Fischer,^) Renda, E. Hoffmann'^) und Schmorl,^)
nachgewiesen wurden. Bezüglich des Spirochätennach¬
weises in den großen Gefäßen bei kongenitaler Lues finden
sich bis jetzt nur in den Pnblikaitionen von Buschke
und Fischer^) und E. Hoffmann'^) Angaben. Während
Buschke und Fischer mittels der Levaditiineth'ode
in Aorten luetischer Kinder keine Spirochäten nachweisen
konnten, schreibt Hoffmann in seinem Aufsatz über die
Aetiologie der Syphilis, daß „ . auch in den Wän¬
den der großen Gefäße, der Aorta, Vena azygos
und so weiter sie (nämlich die Spirochäten) vorhanden
sind u. zw. sowohl in der Intima als auch in den
übrigen Schichten“. Nach dieser Angabe, aus welcher
leider nicht zu entnehmen ist, ob sie sich auf eigene, aus¬
gedehntere Untersuchungen stützt, würde es den Anschein
haben, daß Spirochäten in den großen Gefäßen mühelos
nachzuweisen wären. Aus unseren eigenen, an einem
größeren Material angestellten Untersuchungen geht jedoch
hervor, daß mit Ausnahme von vier Fällen (Fäll VI, XV,
XVII und XXII) niemals Spirochäten in den er¬
krankten Aorten und Pulmonalarterien mittels
der Silberimprägnation nachzuweisen waren. In
diesen vier Fällen fanden sich nur ganz vereiirzelte
Spirochäten und diese ausnahmslos im Lumen von Blut-,
resp. Lymphgefäßchen, die aber entfernt von den Er¬
krankungsherden im Bereiche des periadventitiellen Ge¬
webes verliefen, so daß . ein Zusammenhang zwischen den
lokalen Erkrankungen und diesen Spirochätenbefunden wohl
kaum bestehen dürfte.
Da von verschiedenen Seiten auf die nicht absolute
Zuverlässigkeit der Levaditimethode hingewiesen wurde,
haben wir bei unseren letzten sieben Fällen noch eine
weitere, von Landsteiner und Mucha®) angegebene Me¬
thode des Spirochätennachweises in Anwendung gebracht ;
nämlich die Untersuchung des auf Spirochäten ver¬
dächtigen IMateriales bei Dunkelfeldbeleuchtung. Die Unter¬
suchung gestaltete sich folgendermaßen : Sofort nach der
Eröffnung der Leiche wurden die großen Gefäße mit dem
Herzen herausgenommen, dieselben sodann vom Herzen ab¬
getrennt und in mehrmals gewechselter physiologischer
Kochsalzlösung gründlich gewaschen. Von solchen, nach
^Möglichkeit von äußeren Verunreinigungen (Blut) befreiten
Aorten und Pulmonalarterien wurde sodann Schabsaft, der
vom periadventitiellen Gewebe gewonnen wurde, mittels
Dunkelfeldbeleuchtung untersucht, um so die Fehlerquelle
einer eventuellen Verunreinigung mit Spirochäten von außen
(mit dem Blute) konstatieren zu können. Das Ergebnis der
Fntersuchung dieses Materials war stets ein negatives.
Geinäß unseren Erfahrungen über die hauptsächliche
Lokalisation der Veränderungen in der Adventitia und der
Grenzschichte der Media machten wir uns sodann diese
M andbezirke zugänglich, indem wir mit zwei Pinzetten die
Adventitia mit dem periadventitiellen Gewebe von derlMedia
abzogen, mit einem SkalpeJl von den nun bloß liegenden
1' lachen abschabten und den Schabsaft bei Dunkelfeld-
bclenchtung durchsuchten. Gegen ein positives Resultat bei
dieser Untersuchungsmethode kann der Einwand erhoben
werden, daß Spirochäten beim Abschaben mit dem aus
dem A asa \ asoruni ausgepreßten Blute oder der Lymphe,
nicht aber aus dem erkrankten Gewebe in das Präparat ge¬
langten, ein negatives Resultat kann hingegen als Beweis
für die Richtigkeit der negativen Ergebnisse der LevaditL
methode verwertet werden. Von diesem Gesichtspunkt aus
haben wir auch die nachfolgenden Untersuchungen unter¬
nommen.
Fall Nr.
Histolog. Befund
Spirochiitennachweis
Dunkelfeldbeleuchtung
Levaditifärbung i. Schnitt
XXI
Organe: positiv
reichlichst
reichlich
Gefäße; stark positiv
0
0
Organe: positiv
positiv
reichlich
XXII
Gefäße: positiv
Art. pulm.: positiv
Aorla: 0
Art. pulm.: positiv
(innerh. d. Vasa vasorum')
Aorta: 0
XXIII
Organe; positiv
reichlichst
positiv
Gefäße; positiv
0
0
XXIV
Organe: positiv
reichlichst
reichlichst
Gefäße: positiv
0
0
XXV
Organe: positiv
positiv
positiv
Gefäße: negativ
0
’o
XXVI
Organe: positiv
positiv
positiv
Gefäße: negativ
0
0
XXVII
Organe: positiv
reichlichst
reichlichst
Gefäße: negativ
0
0
Das Resultat dieser Untersuchungen ist also, daß
unter sieben Fällen sechsmal keine Spirochäten mittels
Dunkelfeldbeleuchtung ' aufzufinden waren. Einmal
(Fall XXH) waren bei Dunkelfeldbeleuchtung im Schabsaft
aus der Art. pulmonalis in geringer Zahl typische Spiro¬
chäten nachzuweisen. In diesem Falle fanden sich auch
im Levaditipräparat typische Spiro'chäten, jedoch lagen die¬
selben durchwegs, wie schon früher hervorgehoben wurde,
zwischen Blutelementen innerhalb von Vasa vasorum, die
entfernt von den Erkrankungsherden in den äußersten Lagen
des periadventitiellen Gewebes eingebettet waren, so daß
dieselben wohl kaum mit den Erkrankungsherden in Zu¬
sammenhang gebracht werden können. Man kann daher
annehmen, daß dieser vereinzelte, positive Ausfall einer
Beobachtung bei Dunkelfeld beleuchtung offenbar auf dem
Mi tabstreifen vmn Blut aus den Vasa vasorum beruhen mag,
wofür auch der Umstand spricht, daß in den Organpräpa¬
raten, die nach Levaditi behandelt wurden, Spirochäten
reichlich innerhalb der daselbst verlaufenden Gefäßchen
angetroffen wurden.
Wir kommen daher zu dem Schlüsse, daß wir weder
mittels S i 1 b e r i m p r ä g n a t i 0 n, n o c h m i 1 1 e 1 s Dunkel¬
feldbeleuchtung Spirochäten in den Erkran¬
kungsherden der großen Gefäße (Aorta, Art. pul-
m 0 n a 1 i s) nachweisen konnte ii, welcher Umstand nach
unserer Meinung allerdings weder gegen die Spezifität der
hier besprochenen Verändemngen an den großen Gefäßen,
noch gegen die ätiologische Bedeutung der Spirochaete
pallida herangezogen werden kann, so daß wir bei weiterer
Bestätigung dieser Befunde die gedachten Gefäßverände¬
rungen zunächst noch als eine Folge toxischer Einflüsse
auf die Vasa vasorum mit konsekutiver, pathologischer
Veränderung der unigebenden Wandbezirke ansehen müssen.
Literatur.
b E. Hasse Ibach, Beiträge zur Syphilis der Blutgefäße,
Inauguraldissertation, Greifswald 1905. — b R- Wiesner, lieber Er¬
krankungen der großen Gefäße bei Lues congenita. Zentralbl. f. allg.
Pathologie und pathol. Anatomie 1905, Bd. 16. — b c. Bruhns,
lieber Aortenerkrankungen bei kongenitaler Syphilis. Berliner klin. Wochen¬
schrift 1906, Nr. 8 und [9. — ß Gierke, Das Verhältnis zwischen
Spirochaete pallida und den Organen kongenital- luetischer Kinder. Münchn.
med. Wochenschr. 1906, Nr. 9. — b A. Buschke und W. Fischer,
lieber die Beziehungen der Spirochaete pallida zur kongenitalen Syphilis.
Arch. f. Dermatol, u. Syphilis, Bd, 82, H. 1. — ®) S i m m o n d s
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
527
Diagnostischer Wert des Spirochätenbefundes bei Lu^s congenita. Münchn
med. Wochenschr. 1906, Nr. 27. — ’) E. Hoffmann, Die Aetiologie der
Syphilis. Berlin 1906. — «) C. L a n d s t e i n e r und V. Mucha Zur
Technik der Spirochätenuntersuchung. Wiener klin. Wochenschr. ’ 1906
Nr. 45. — Schmor 1, Mitteilungen zur Spirochätenfrage. Ref. Münchn’
med. Wochenschr. 1907, Nr. 4.
Aus dem hygienischen Institut der deutschen Uni¬
versität in Prag. (Vorstand: Prof. Hueppe.)
Ueber den Lues-Antikörpernachweis im Blute
von Luetischen.*)
Von Dr. E. Weil.
Die ursprüngliche Bordetsclie Komplementfixations-
metliode hat durcli die Versuchsanordnung von Wasser¬
mann und Bruck^) eine ausgezeichnete Verbesserung er¬
fahren, weil dieselbe einerseits, wie ein Vergleich der Ver¬
suche von Leuchs^) mit denen von Moreschi^) zeigt,
bessere Resultate gibt, und weil sie anderseits theoretisch
wenigstens die Möglichkeit gestattet, sie auch bei Mikro¬
organismen in Anwendung zu bringen, die man nicht züchten
kann, ja selbst bei solchen Krankheiten Aufschluß zu er¬
langen, deren Erreger man nicht kennt. Diese Methode wurde
auch schon mehrfach erfolgreich zum diagnostischen Anti-
korpernachweis verwendet. So von Kolke und Wasser¬
mann^) heim Meningokokkenserum, von Citron^) bei
Schweineseuche und Schweinepest, von Bruck,*") eljenso
von Vannod^) hei dem' Gonokokkenimmunserum, von
Leuchs^) bei Typhus und Paratyphus, und wir selbst^)
konnten uns bei Cholera von deren Brauchbarkeit über¬
zeugen.
Nicht nur bei künstlich erzeugter Immunität, sondern
auch bei natürlicher Infektion wurde die Komplenient-
bindung in Anwendung gezogen. So wiesen Wassermann
und Bruck^) im tuberknlösen Gewebe Tuberkulin und Anti¬
tuberkulin nach, Bruck®) konnte in einem Falle von Miliar¬
tuberkulose in verblüffendster Weise den Kampf der Tü-
berkelbazillen mit dem Organismus im Reagenzglas dar¬
stellen und Eitner^®) hat bei einem Leprakranken Lepra¬
antikörper im Blute nachgewiesen.
Das Hauptergebnis der Methode aber war die Auf¬
findung von Luessubstanzen und Luesgegenkörpern in lueti¬
schen Krankheitsprodukten und Krankheitsprozessen. —
Wassermann und B r u c k ^^) und ihre zalilreichen Mit¬
arbeiter haben diese Untersuchung an einem großen Material
und in exaktester Weise durchgeführt. Das schon so oft
erörterte Prinzip der Methode besteht darin, daß das Lues¬
antigen (Pallidasubstanz), Avelches im Extrakte luetischen
Gewebes vorhanden ist, beim Zusammentreffen mit dem
Luesantikörper (Blut von Luetikern), nach dem Mechanis¬
mus Rezeptor-Ambozeptor, Komplement bindet. Die Kom¬
plementfixation dokumentiert sich dadurch, daß mit Ambo¬
zeptor besetzte rote Blutkörperchen ungelöst bleiben. Auf
diese Weise gelingt es einerseits, mit ‘sicher luetischem
Antigen Luesantikörper, anderseits mit Luesambozeptor
Luesantigen nachzuweisen. Wassermann und Bruck und
deren Mitarbeiter haben nun auf diesem Wege alle Fragen,
welche die Lues betrafen, glatt gelöst, indent sie im lueti¬
schen Gewebe un^l im Bl nie von frischer Lues' Luessub¬
stanzen, im Blute älterer Lues, ferner in der Zerebro¬
spinalflüssigkeit von Tä])es und Paralyse Luesantikörper
nachgewiesen haben, wodurch der Zusammenhang zwischen
Lues und Tähoparalyse experimentell klargelegt war. War
bisher, wohl wegen der von Wassermann und Bruck
selbst betonten Schwierigkeit der Experimente, eine Nach¬
prüfung noch nicht erfolgt, so erschien dieselbe in jüngster
Zeit von berufener Seite, indem Marie und Levaditi^®)
sowohl die Experimente Wassermanns und seiner Mit¬
arbeiter, als auch die Deutung der Versuche vollinhaltlich
bestätigten.
*) Im Wesentlichen nach einem Vortrage in der Lotossitzung vom
4. März 1907.
Vom theoretischen Standpunkt lassen sich manche Be¬
denken gegen die mit dieser Methode zutage geförderten
Entdeckungen äußern. So gelingt es, im' Blute von Syphili¬
tikern Luessubstanzen nachzuweisen. Wenn man bedenkt,
daß die Spirochaete pallida, wie alle Untersucher überein¬
stimmend festgestellt haben, nur in geringster Menge im
Blute aufzufinden ist und daß das Bakterienantigen in der
kürzesten Zeit, selbst wenn man es in großer Menge direkt
in die Blutbahn injiziert, aus dem Blute schwindet (lUiss®®),
so müßte diese^ Methode mit einer ans P'hantasievolle gren¬
zenden Feinheit Spuren von Pallidasubstanz nachweisen.
In der Tat aber werden sel]3St verhältnismäßig große Mengen
von Pallidasubstanz im .Extrakt erst in der Extraktverdün¬
nung von höchstens 0-05 cm^ durch die Methode von
Wassermann und Bruck nachgewiesen.
Durch den Nachweis von Luesantikörperii in der Zerebro¬
spinalflüssigkeit wäre die Tabes und progressive Paralyse
eine direkt luetische Erkrankung geworden. Das wechselnde
Verhalten des Antikörpers, sein plötzliches Auftreten, nach¬
dem er kurz vorher nicht vorhanden war, ließe darauf
schließen, daß der syphilitische Prozeß in den Meningen
florid ist, durch die Anwesenheit der Spirochaete pallida
bedingt; denn die Methode der Komplementbindung zeigt
nur Pallidasubstanz und -Antikörper an; doch ist es nie
geglückt, die Spirochaete pallida in der Zerebrospinalflüssig¬
keit aufzufinden. \'om Gegenteil,’ ob der einmal nachge¬
wiesene Antikörper wieder aus der Zerebrospinalflüssigkeit
schwindet, was ungemein interessant wäre, erwähnen Mario
und Levaditi nichts. Derlei tlieoretische Bedenken sind
selbstverständlich bedeutungslos, wenn die angewendete Me¬
thode einwandfrei arbeitet, sie lassen es aber ratsam er¬
scheinen, die Metliode nicht mit dem Enthusiasmus auf-
zunehnien, wie es z. B. Bah tut. Dieser Autor hat nämlich
eine Anzahl von syphilitischen Organen auf Spirochaete
pallida untersucht und dabei festgestellt, daß der Spiro¬
chätenreichtum parallel ging mit dem Ausfall der biologi¬
schen Reaktion. Diese von dem genannten Autor selbst so oft
zitierten Versuche machen für ihn die Ergebnisse der Re- .
aktion zu einer über jede Hypothese stehenden Tatsache.
Bab darf jedoch nicht vergessen, daß er die Spirochäten
in Schnitten nachweist, während zum! Extrakt ganze Organ¬
stücke verwendet werden, daß, wie Blaschko'^®) gezeigt
hat, die Spirochäte im Gewebe sehr ungleich verteilt ist.
Es kann also durch Schnittuntersuchung unmöglich auf den
Spirochätenreichtum des ganzen Organes geschlossen
werden. Derartige Zufälligkeiten spielen ebenso wie der
Ausdruck der persönlichen Ueberzeugung nur eine unter¬
geordnete Rolle. Jedenfalls aber geht aus Bab s' Publika^
tion*) hervor, daß er vom Mechanismus der Komplement¬
bindungsmethode nur unklare und unrichtige Vorstellungen
hat, daß er sicher nie der Ausführung eines derartigen Ver¬
suches beigewohnt hat. Es ist interessant, darauf hinzu¬
weisen, wie vorsichtig Wassermann, der Entdecker der
Methode, diese Verhältnisse beurteilt.
Ein Einwand gegenüber der Komplementfixations¬
methode hei Anwendung auf natürliche Infektionen ist nur
von Weil und Nakayama-*^) erfolgt, welche gezeigt haben,
daß Wassermann und Bruck beim Antituberkulinnach-
wejs im tuberkulösen Gewebe durch einen SLmmiierungs-
effekt getäuscht wurden. Obgleich wir in dieser Publikation
an zwei Stellen betont haben, daß die spezifische Kom¬
plementbindung davon nicht berührt werde, daß sich unser
Einwand nur auf den Antituberkulingehalt im Gewebe be¬
ziehe, was wir auch experimentell bewiesen haben, so
halten uns Wassermann und Bruck und deren Mit¬
arbeiter trotz des neuerlichen Hinweises darauf immer
wieder vor, daß wir jede Komplementbildung als Suiimhe-
rung auffassen. Auch in der Luesarbeit weisen uns die
Autoren nach, daß eine Summierung nicht in Frage kommen
könne, da weder 0-5 des Serums, noch 0-5 Exti’akt, wohl
aber die Kombination von OT Serum + OT Extrakt henmien.
*) Münchener med. Wochenschrift 1907, Nr. 7,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
Damit ist selbstverständlicli der Einwaiid der Summierung
ausgeschaltet. Nicht recht klar ist uns aber, weshalb der
normale Extrakt, der doch erst in der Dosis von 0-4 hemmt,
ehentalls in der Menge von 0-1 angewendet wurde. Eine
Hemmung darf ja nicht eintreten, selbst wenn 0-5 luetisches
Serum und 0-3 normaler Extrakt aufeinander einwirken,
da eine Bindung nicht stattfinden könne und eine Sum¬
mierung ausgeschlossen sei. Dieser Umstand, der uns un¬
verständlich schien, bot uns die Veranlassung, diesen Gegen¬
stand zu untersuchen.
Marie und Levaditi erwähnen nämlich in ihrer
Arbeit, daß auch der normale Extrakt mit der Zerebro¬
spinalflüssigkeit von Paralylikern, ohne allein Komplement
zu absorbieren, konstant Komplement bindet, wenn, er in
höherer Konzentration als der luetische Extrakt angewendet
wird. Dies ist vom Standpunkt der Komplementfixations-
theorie vollkommen unverständlich. Es ist möglich, daß
ein luetischer Extrakt mit normalem Sernm Komplement
bindet, da ja im Blute normale Antikörper auch gegen Lues
vorhanden sein können, nicht möglich aber ist ein
normalerweise vorhandenes Luesantigen in
normalen Organen.
Man muß, um sich diese Verhältnisse verständlich zu
machen, folgendes in Erwägung ziehen. Benützt man als
Antigen den Extrakt einer Bakterienkultur, so hat man im
Extrakt nur gelöste Bakterienbestandteile und kann damit
auf den Antikörper untersuchen. Bei der Anwendung der
Methode auf Lues aber besitzt der Antigenextrakt außer
der Pallidasubstanz auch gelöste Bestandteile der Gewebe.
Daß diese Gewebsbestandteile in die Reaktion eingreifen,
ist durch die Angaben von Marie und Levaditi am Ex¬
trakt der normalen Leber erwiesen. Die gelösten Bestand¬
teile des Gewebes können allerdings vollständig vernach¬
lässigt Averden, wenn man die Vorstellung teilt, welche
Wassermann betreffs des Mechanismus der Komplement¬
bindung hegt. Nach derselben finden sich iin Extrakte die
Rezeptoren der Spirocbaete pallida, im Blute die Lues-
anibozeptoren, w^elche nach ihrer Verbindung mit dem
ersteren Komplement verankern. Die übrigen im Extrakt
vorhandenen Substanzen greifen nicht in die Reaktion ein
und können, wenn sie sich nicht durch ihre an sich hemmende
Wirkung störend gelten machen, ganz außer acht gelassen
werden. Daß aber der Mechanismus, dem diese Vorstellung
zugrunde liegt, gar nicht existiert, haben wir schon sehr
oft hervorgehoben, indem wir in früheren Arbeiten zeigen
konnten, daß bei der Komplementbindung ein Ambozeptor
gar nicht im Spiele ist. Die Komplementbindung kann stets
eintreten, wenn die Bedingungen zur Präzipitation, die gar
nicht sichtbar aufzutreten braucht (Friedh er ger), ge¬
geben sind.*) Wenn wir diese Anschauung auf den vor¬
liegenden Gegenstand übertragen, so geht daraus hervor,
daß im luetischen Extrakte und Serum die Bedingungen
zur Präzipitation vorhanden sein müssen, welche selbst¬
verständlich durch die Pallidasubstanz und Pallidaantikörper
bedingt, spezifischer Natur sein können. Es kann aber auch
eine Eiweißpräzipitation vorliegen, wobei Zellsuhstanzen aus
dem Extrakte und Serumeiweiß aufeinander einwirken.
Durch die Versuche von PohU^) über Organeiweiß und
Centanni^®) über Autozytopräzipitine, wobei nachge¬
wiesen wmrde, daß auch hier Komplement bindung eintritt,
sind diese Verhältnisse unserem Verständnisse näher ge¬
rückt. Durch die Untersuchungen von Hoke^^) wissen wir,
daß die verschiedensten normalen Seren Bakterienpräzipi¬
tine besitzen, welche man nur dann sichtbar machen kann,
wenn man über einen stark konzentrierten Antigenexfrakt
verfüg!. Hier können ähnliche Verhältnisse vorliegen, in¬
dem nach den Versuchen von Marie und Levaditi die
quantitativ stärkere Reaktion der luetischen Leber auf eine
*) Es ist nicht recht zu verstehen, warum More sc hi diese von
ihm vertretene Anschauung infolge negativer Versuche mit Vogelpräzipilin
widerruft. Letztere Versuche beweisen unserer Anschauung nach nur,
daß diese Verhältnisse für Vogelpräzipitin ausnahmsweise keine Gültig¬
keit haben.
stärkere Konzentration des Zellextraktes derselben zurück¬
geführt werden könnte. Die histologisch oft ganz bedeu¬
tende Differenz zwischen luetischer und normaler Leber,
ferner die gewissermaßen natürliche Extraktion in der
eigenen Gewebsflüssigkeit, wenn es sich um eine mazerierte
Leber handelt, bringen diesen Gedanken nahe. Es müßte
also nach unserer Vorstellungsweise gelingen, aus nicht
luetischen Geweben, welche eine stärkere Extraktions¬
möglichkeit gestatteten, Stoffe zu extrahieren, welche mit
luetischen Seren die Reaktion von Wassermann und
Bruck mit allen ihren Eigentümlichkeiten und denselben
quantitativen Verhältnissen geben.
Wir stellten uns Tiimorextrakte auf die Weise her,
daß wir zu 1 g Gewebsmasse 5 cm^ Kochsalzlösung yon
V2% Phenolgehalt zusetzten, hierauf im Mörser zerquetsch¬
ten, 24 Stunden hei Zimmertemperatur mit .Porzellan¬
kügelchen schüttelten und dann vollkommen klar zentrifu¬
gierten. Extrakt I is'ijammte von einer exstirpierten Mamma¬
geschwulst, die nach der histologischen Untersuchung das
Bild eines Mixofibroisarkoms bot; das zur Extraktion ver¬
wendete Stück hatte derbe Konsistenz und wies nirgends
schleimige Erweichung auf. Extrakt 11 stammte von der
Drüsenmetastase eines Rundzellensarkoms*) der Niere.
Extrakt 1 war Wasserfarben, Extrakt 11 war leicht gelb ge¬
färbt. Es wurde außerdem ein Extrakt aus Eiterkörperchen
und aus einem Mammazirrhus hergestellt. Ersterer war aus
dem Grunde unbrauchbar, weil er in der Dosis 0-2 allein
die Hämolyse verhinderte und letzterer wurde wegen seines
trotz klaren Zentrifugierens milchigen Aussehens nicht ver¬
wendet. Die Blutseren stammten von neun syphilitischen
Personen (acht sekundär, eine gummös), für deren bereit¬
willige Ueherlassung ich Herrn Prof. Kreibich sehr ver¬
bunden bin. Dieselben wurden, sowohl vor als auch nach
der Qnecksilberbehandlung untersucht und zeigten nach der
Richtung hin keine Differenz. Von der Inaktivierung der
Seren wurde, da dieselben erst am vierten bis fünften Tage
nach der Entnahme zum Versuch verwendet wurden und
keinen Komplementgehalt mehr aufwiesen, abgesehen. Als
hämolytischer Ambozeptor diente Kaninchenserum, das in
der Dosis 0 004 Icm^ ö^/oiger Rinderblutaufschwemmung mit
0 04 Meerschweinchenserum in einer Stunde komplett löste,
wobei aber in unseren Versuchen OT Komplement ange¬
wendet wurde. Das übrige ist aus den Versuchsprotokollen
zu ersehen. Der erste Versuch, nach dessen Schema die
übrigen ausgeführt wurden, ist ausführlicher dargestellt.
Versuch I.
Extrakt
I
Serum
I
Komp],
1:10
cm^
Amboz.
Rindor¬
blut ö"/,'
cm^
Nach 2 stunden 37"
und 18 Stunden Eis
Bemerkungen
0-5
—
1
0 01
1
fast komplett
nach 2 Stund.
0-03
—
1
O
I>
001
1
komplett
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0-1
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1
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1
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1
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1
vollst. Hemmung
01
0-2
1
Cfl
001
1
fastvollst Hmmg.
0-2
0-3
1
tH
001
1
vollst. Hemmung
—
—
1
001
1
komplett
’h -
Versuch II.
Extrakt
I
Serum
II
Nach 2 Stunden 37® und
18 Stunden Eis
Bemerkungen
04
—
komplett
nach
2 Stunden
0-25
—
>
V2 Stunde
01
—
Vz »
—
0-5
vollst. Hemmung
—
0-25
Hemmung
—
0-1
komplett
1
01
01
>
0-2
0-2
Hemmung
02
0-3
vollst. Hemmung
Kontrolle
komplett
V2 -
*) Die histologische Untersuchung beider Tumoren wurde im
hiesigen patholog. -anatom. Institut vorgenommen.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
529
Versuch HI.
Extrakt
I
Serum
III
Luesgummos.
Nach 2 Stunden 37® und
18 Stunden Eis
Bemerkungen
0-5
—
fast komplett
nach 2 Stunden
0-25
—
komplett
01
—
>
—
0-5
>
» 1 Stunde
—
0-25
—
01
01
01
fast vollst. Hemmung
0-2
0-2
» > »
0-2
0-3
S> » »
Kontrolle
komplett
Versuch IV.
» 45 Minuten
Extrakt
Serum
Nach 2 Stunden 37® und
Bemerkungen
I
IV
18 Stunden Eis
0-3
f
fast komplett
]
0-2
—
komplett
1 nach 1 Stunde
01
—
—
0-5
vollst. Hemmung
■ - -
02
.
—
01
01
01
01
005
005
005
Koni
rolle
komplett
Versuch V.
» 45 Minuten
Extrakt
Serum
Nach 2 Stunden 37® und
Bemerkungen
I
V
18 Stunden Eis
0-3
—
fast komplett
]
02
—
komplett
> nach 1 Stunde
0-1
—
1
—
0-5
]
—
02
j * Va
—
01
005
0 05
vollst. Hemmung
01
005
y>
01
01
Kontrolle
komplett
\rersuch VI.
» 45 Minuten
Extrakt
Serum
Nach 2 Stunden 37® und
Bemerkungen
H
VI
18 Stunden Eis
0-3
—
komplett
)
0-2
—
> nach 1 Stunde
01
—
»
1
—
0-3
vollst. Hemmung
—
0-2
> >
01
005
0-1
01
» T>
0-2
02
» »
Kontrolle
komplett
Versuch VII.
> 45 Minuten
Extrakt
Serum
Nach 2 Stunden 37® und
Bemerkungen
H
VH
18 Stunden Eis
0-3
—
komplett
]
0-2
—
> nach 1 Stunde
01
—
1
_
0-3
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vollst. Hemmung
01
01
02
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Kon
rolle
komplett
/^ersuch VHI.
» 45 Minuten
Extrakt
Serum
Nach 2 Stunden 37® und
Bemerkungen
11
VHI
18 Stunden Eis
0-3
—
komplett
]
0-2
—
> nach 1 Stunde
01
—
»
j
— -
0-3
0-2
geringe Hemmung
1 bis 2 Stunden
_
01
(starke Hemmung
01
0-05
vollst. »
01
01
» »
02
0-2
Kont
rolle
komplett
nach 1 Stunde
Versuch IX.
Extrakt
H
Serum
V
Nach 2 Stunden 37® und
18 Stunden Eis
Bemerkungen
0-3
0-1
0-05
01
0-5
0-2
OT
0 05
01
Kontrolle
komplett
»
vollst. Hemmung
komplett
nach 1 Stunde
» 2 Stunden
» 1 Stunde
•» *45 Minuten
Versuch X.
Extrakt
II
Serum
IX
Serum IX
V4Std.75"
Nach 2 Stunden 37® und
18 Stunden Eis
Bemerkungen
0-3
—
—
komplett
1
0-2
- -
—
nach 1 Stunde
01
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—
vollst. Hemmung
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01
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01
—
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komplett
l » 1 »
01
—
0-1
^ » 1 »
Kontrol
e
» 45 Minuten
Uebersichtstabelle.
Versuch
Nr.
Extrakt
I
Extrakt
II
Nr. des
Serum
Lueti¬
sches
Serum
Resultat
Bemerkungen
1
01
_
1
01
“1 — 1 — h
Lues secund.
2
0-1
—
2
01
3
0 1
—
3
01
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4
—
—
4
—
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Serums allein
» secund.
5
0-05
—
5
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6
—
—
6
—
Hemmung des
Serums allein
Lues secund.
7
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0-1
7
0-05
ä — 1 — h
8
0-1
8
0-05
-j-Geringe Hemmung
des Serums allein
9
—
005
5
0-05
“b “b “h
Reinfektion
10
—
0-1
9
0025
+ + +
Lues secund.
Bevor wir die Versuche selbst besprechen, müssen
wir zunächst darauf hinweisen, daß alle jene Vorsichts¬
maßregeln, welche Wassermann und Bruck und deren
Mitarbeiter angeben, genau einzuhalten sind. Wir können
jede dieser Angaben vollkommen bestätigen. Vor allem ist
es unbedingt notwendig, daß der Extrakt absolut klar ist.
Man kann sich im Laufe des Zentrifugierens davon über¬
zeugen, daß die an sich hemmende Wirkung des Extraktes
mit der Klärung desselben abnimmt. Das ist selbstverständ¬
lich die Hauptsache, denn nur solche Extrakte, welche allein
nicht hemmen, sind brauchbar. Wir sahen ebenso wie
Wassermann die Extrakte nach fünf bis sechs Tagen
wegen Hemmung unbrauchbar werden, obzwar sie voll¬
kommen klar blieben. Wir sahen ferner, daß ein Teil der
Versuche wegen Hemmung der Seren allein ausgeschaltet
werden mußte. Wir entnehmen daraus, daß die Versuchs¬
launen ziemlich bedeutend sind. Wirken jedoch weder Ex¬
trakt noch Serum allein hemmend, sO' sind Unregelmäßig¬
keiten innerhalb eines Versuches nicht zu bemerken, so daß,
wie aus unseren Versuchen hervorgeht, vollkommen ein¬
deutige Resultate zu erzielen sind.
Daraus geht hervor, daß es gelingt, mit Extrakten
aus Tumoren und Seren von Luetikern genau dieselben
Reaktionen zu erzielen, die Wassermann und Bruck
mit dem Extrakte aus luetischem Gewebe erzielt haben.
Während die genannten Autoren hiedurch die volle Berech¬
tigung hatten, auf Luesantikörper zu schließen, kann selbst¬
verständlich in unserer Versuchsanordnung vom Nachweis
von Luesantikörpern keine Rede sein, da wir von vornherein
auf syphilitisclies Antigen verzichtet haben. Die beiden
Personen, von denen die Tumoren stammten, hatten Lues
Nr. 18
üdU
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
nie durchgeiiiaclil. Die ciuaiititativeii Verhältnisse sind in
unseren ^ ersuchen genau dieselben, wie hei den genannten
Autoren. Wir haben stets durch 20 Stunden beO'])achtet
und haben fast nur vollkoininene Behinderung der Hämo¬
lyse gesehen. Die Beohachtungszeit nur auf eine halbe bis
eine Stunde auszudehnen, wie cs Marie und Levaditi
tun, halten wir für fehlerhaft, da nacdi dieser Zeit das
Endresultat noch nicht erreicht ist. Daß es sich hei unseren
Versuchen um denselben Vorgang handelt wie bei Wasser¬
mann und seinen Mitarbeitern hei der Beaktion auf Lues-
antikürper, habeji wir damit bewiesen, daß che Erhitzung
des Serums die Beaktion verhindert (Versuch X), wodurch
Wassermann und Bruck auf die Spezifität der 'Reak¬
tion, Älarie und Levaditi auf die Zerstörung des lueti¬
schen Antikörpers schließen. Seiimi 5 haben wir mit zwei
verschiedenen Extrakten mit demselben positiven Resultat
untersucht (Versuch V und IX). Wir hatten eigentlich nur
ein negatives Resultat (Versuch II), die übrigen müssen,
wie aus den Versuchen hervorgeht, ausgeschaltet v^erden.
Die positiven Resultate sind perzentuell höher als die von
Wassermann und Bruck und deren Mitarbeitern er¬
zielten Ergebnisse.
Es ist klar, daß wir mit dieser Methode im Blute von
Luetikern nicht spezifisch syphilitische Reaktionsprodukte
nachgewiesen haben, sicher aber ist, daß wir mit Tumor¬
extrakten und Luesblut eine Reaktion erzielt haben, welche
nach Art eines Bindungsvorganges Komplement verbraucht.
Es fiel nicht in den Rahmen unserer Versuche, diese Ver¬
hältnisse auch für normale Seren zu untersuchen. Immer¬
hin wäre aber denkbar, daß sich dieselben anders verhielten ;
wir wissen ja, daß das Blut bei gewissen Krankheiten
biologische Eigentümlichkeiten aufweist; so zeigt das Blut
bei Phosphorvergiftung Komplementschwund und wirkt bei
Urämie komplement bindend. Aehnliche Verhältnisse könnten
auch bei Lues vorliegen. Es ist aber, wie aus den Versuchen
von Ranzi^^) hervorgeht, wahrscheinlich, daß auch nor¬
male Seren dieselbe Reaktion geben. Dieser Autor hat
nämlich gebmden, dab Tumorextrakte, welche an sich nicht
hemmen, mit nicht hemmenden normalen Seren zusammen
totale Komplementablenkung zeigen u. zw. in sehr hohen
V erdünnungen. Diese für unsere Anschauung ungemein
wichtige Tatsache zeigt, daß Ranzi bereits vor uns, ohne
jedoch dieselben Konsequenzen zu ziehen, das, was wir für
luetische Seren gezeigt haben, bei normalen Seren be¬
schrieben hat.
Wassermann und Bruck und deren Mitarbeiter
führen als Beweis für die Spezifität des Vorganges den
Umstand an, daß Extrakte, welche gekocht sind, die Fähig¬
keit verlieren, mit luetischen Seren Komplement zu binden.
Neisser und Sachs ^^) haben nämlich gezeigt, daß man
auf diese Weise bei Eiweißpräzipitation die spezifischen
Antigene zerstören kann, während nicht spezifische, hem¬
mende Stoffe kochbeständig sind. Nun halten wir aber diesen
Versuch von W' as s er mann und seinen Mitarbeitern für
einen sehr unglücklichen, denn die Zerstörbarkeit durch
Kochen bezieht sich nur auf Ge websei weiß und nicht auf
Bakterienantigen. AVassermanii und Bruck dürfen nicht
vergessen, daß sie auch mit Alt-Tüberkuliii, welches ja über
der Flamme hergestellt wird, spezifische Henunung nach¬
wiesen und wir konnten in früheren zahlreichen Versuchen
uns davon überzeugen, daß Bakterienextrakte durch Kochen
ihre spezifische Bindungsfähigkeit nicht verlieren. Da
jedoch im luetischen Extrakte die wirksame Substanz die
Bakteriensubstanz der Spirochaete pallida sein soll, so sollte
dieselbe kochbeständig sein, was viel beweisender wäre.
Wdr können allerdings nicht behaupten, ob sich die Spiro-
{‘haele pallida nach der Richtung nicht anders verhält, als
die übrigen Bakterien, wir können aber beweisen, daß Ge-
websstoffe dasselbe Verhalten zeigen, welches Wasser¬
mann und seine Mitarbeiter für die Spirochaete pallida an¬
geben. W'ir geben hier einen derart angestellten Versuch
wieder. (
Typ Ims¬
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1
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0-01
1
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—
1
»
Diese Versuche, welche die Kochbeständigkeit der
bakteriellen Extrakte und das gegenteilige Verhalten der
nicht bakteriellen präzipitablen Substanzen zeigen, legen
sehr den Gedanken nahe, daß die wirksame Substanz im
luetischen Extrakte nicht die Pallidasubstanz ist, sondern
extrahiertes Zelleiweiß oder andere Gewebsstoffe, welche
durch Kochen nicht nur die Fähigkeit, präzipitiert zu werden,
sondern auch die Eigenschaft der Komplementbindung ver¬
lieren.
Wir konnten nun, wenn wir das Resultat unserer Ver¬
suche zusammenfassen, erweisen, daß Extrakte aus Tumoren
mit dem Blute von Luetikern Komplementablenkung in genau
derselben Weise zeigen, wie es Wassermann und
Bruck und deren Mitarbeiter bei der Reaktion auf Lues¬
antikörper beschrieben haben. Nach unseren Versuchen
kommt die Komplementbindung dadurch zustande, daß ge¬
löste Gewebsstoffe mit dem Blutserum zusammen eine Re¬
aktion geben, welche nach Art eines Präzipitationsvorganges
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Küiiiploliient absorbiert. Es ist nach diesen Versuchen nicht
von der Hand zu weisen, daß die Reaktion auf Luesanti-
körper möglicherweise ebenfalls nur eine Reaktion auf ge¬
löste Gewebsbesiandteile ist. Daß diese bei dem Luesanti¬
körpernachweis eine Rolle spielen, haben Marie und Leva-
diti gezeigt, welche mit normalem Gewebe in allerdings
höherer Konzentration dieselben Resultate erzielt haben.
Diese quantitativen Differenzen können darin ihreii Grund
haben, daß im norniaien Gewebe die reaktionsfähigen Sub¬
stanzen in zu geringer Konzentration vorhanden sind. Daß
normales Serum und normale Zerebrospinalflüssigkeit bei der
Reaktion versagen, kann darin liegen, daß diese Flüssigkeiten
bei Luetikern, wo sie unter dem Einfluß eines entzündlichen
Prozesses stehen, wie insbesondere bei der Paralyse, eine
ganz andere Reschaffenheit haben als im normalen Zustand.
Ferner spricht der Umstand, daß sich die Extrakte durch
Kochen inaktivieren lassen, sehr zugunsten der Auffassung,
.daß die aktive Substanz nicht von der Spiroehaete pallida,
sondern von den Zellen des Gewebes*) stammt. Wir
möchten hervorheben, daß sicli unsere Untersuchung nur
auf das Blut vom luetischen Menschen bezieht, daß uns
die jdelegenheit fehlte, den Antikörpergehalt von künstlich
infizierten Affen zu untersuchen, wobei andere Verhältnisse
vorliegen können.
Wir wollen nicht mit voller Bestimmtheit die Möglich¬
keit verneinen, daß Wassermann und Bruck und deren
Mitarbeiter mit ihrer Methode, den Luesantikörper im Blute
von Luetikern nachgewieseii zu haben. Wir halten uns aber
auf Grund unserer Versuche berechtigt, solange daran zu
zweifeln, bis uns die genannten Autoren eine befriedigende
Erklärung unserer Experimente gegeben haben. Da nach
diesen die Komplementbindung eine Reaktion auf gelöste
Zellbestandteile ist und diese sich auch in den Extrakten
von Wassermann und Bruck vorfinden und in die
Reaktion eingreifen, so muß es den genannten Autoren ge¬
lingen, nach Ausschaltung derselben eine positive Reaktion
zu erzielen. Sollte dies gelingen, dann ist alle Wahrschein¬
lichkeit vorhanden, daß es sich um eine Reaktion auf den
Lueserreger und dessen Gegenkörper handelt. Auch dann
haben unsere Experimente, welche jetzt den Luesantikörper¬
nachweis anzweifeln, dazu beigetragen, die Basis dieser
für die Praxis so ungemein wichtigen Reaktion zu festigen.
Literatur:
') Wassermann und Bruck, Deutsche med. Wochenschrift 1906,
Nr. 12. — h Leuchs, Berliner klin. Wochenschrift 1907, Nr. 3 und 4 —
h Moreschi, Berliner kliu. Wochenschrift 1906, Nr. 38. — ") Kolle
und Wassermann. — Citron, Zeitschrift für Hygiene, Bd. 52, Nr. 2.
— ®) Bruck, Deutsche med. Wochenschrift 1906, S. 1368. — ^Vannod,
Deutsche med. Wochenschrift 1906, Nr. 49. — ®) Weil, Zentralblatt für
Bakteriolog., Bd. 43, H. 2. — Bruck. — Eitner, Wiener klin.
Wochenschrift 1906, Nr. 51. — Wassermann, Neisser, Bruck
und Schuch t, Zeitschrift für Hygiene, Bd. 55, H. 3. — Marie und
Levaditi, Annales de ITnstit. Past., Bd. 21, Nr. 2. — Blaschko,
Berliner klin. Wochenschrift 1937, Nr. 12. — ’*) Weit und Nakayama,
Münchener med. Wochenschrift 1906, Nr. 21 und 1907, Nr. 6. —
Pohl, Hofmeisters Beiträge 1906, Bd. 7. — Centanni, Zentral¬
blatt für Bakteriolog., Bd. 43, H. 5 und 6. — Hoke, Wiener klin.
Wochenschrift 1907, Nr. 12. — Ranzi, Wiener klin. Wohhenschrift
1906, Nr. 51. — 'ß Neisser und Sachs, Berliner klin. Wochen¬
schrift 1906, Nr. 3. — R u s s, Zentralblatt für Bakteriologie, Bd. 43.
Aus der gynäkologischen Poliklinik der königl. Charitö
zu Berlin. (Direktor : Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Bumm.)
Die Heißluftbehandlung in der Gynäkologie.
Von Dr. Oskar Haseiifeldj Franzensbad, zurzeit Volontärassistent der
Klinik.
In neuerer Zeit kehrt man wie in der gesamten The¬
rapie, so auch in der Gynäkologie mehr und mehr zu einer
konservativen Behandlung zurück. Ein recht nützliches und
wegen seiner Wichtigkeit nicht zu unterschätzendes Hilfs-
*j Wir möchten bei der Gelegenheit darauf hinweisen, daß
Wassermann, um das Luesantigen im Blute nachzuweisen, nicht das
Serum benützen kann, sondern einen Extrakt aus den roten Blut¬
körperchen herstellt, wobei selbstverständlich ebenfalls ein Zellextrakt
entsteht.
mittel bildet dabei die Heißlulttherapic. Sie wurde 1901
zuerst von Polano beschrieben und damals zur Behand¬
lung chronischer Beckenexsudate vorgeschiagen. Polano
wurde zu dieser Therapie angeregt durch die von A. Bier
inaugurierte Heißlufttherapie gegen chronische Gelenks¬
leiden. Wie es hier darauf aokommt, die Exsudate in den
Gelenkshöhlen zu beseiligen, so gibt es auch in der Gynä¬
kologie sehr viele Fiille, in denen es sich darum handelt,
die Resorption eines Exsudates herbeizuführen. Das wird
nun am besten durch gesteigerte Blutzufuhr und Blutabfuhr
bewirkt. Die Erzeugung einer Hyperämie der Beckenorgane
wird somit viel Nutzen stiften können. Vor dem Jahre 1901
wandte man zu diesem Zwecke die Belastungs- und Hydro¬
therapie und andere Resorptionsmethoden an. Den von der
Hydrotherapie zu erfüllenden Anforderungen wird aber die
Heißluftmethode in noch höherem Maße gerecht. Denn um
eine recht intensive thermische Beeinflussung zu erzielen,
ist die Luft dem Wasser vorzuziehen, da. man hier, ohne
die Gewebe zu schädigen, viel höhere Wärmegrade zur
xVnwendung bringen kann als beim Wasser, sei es nun,
daß man dies in seiner flüssigen Form oder in Gestalt des
Dampfes appliziert.
Kehrer hält nach den Angaben von Fritsch den
Polano sehen Apparat wegen seiner Schwere, Breite und
wegen der F'euersgefahr für schlecht anwendbar. Deshalb
hat er einen seiner Meinung nach praktischeren und ein¬
facheren konstruieren lassen.
Thomson will schon früher mit dem Dehivschen
Schwitzapparat gute Erfolge bei gynäkologischen Erkran¬
kungen erzielt haben. Der Apparat bestand aus einem weiten
Rohre, das mit den gegen Verbrennung nötigen Schutzma߬
regeln versehen war. Es wurde zwischen die Beine der
Patientin gelegt. An dem einen Ende des Apparates war
eine Art von Spiritusofen angebracht, durch den allerdings
nur eine Wärme von 50 bis 60® erreicht wurde. Im ganzen
stellt der Dehivsche Apparat eine primitive Form des
Quinckeschen Schwitzbettes dar, das wohl hinreichend
bekannt sein dürfte.
Im Jahre 1903 wurde in Würzburg ein ebenfalls durch
eine Spirituslampe heizbarer Heißluftapparat von Hil-
zinger konstruiert. Er läßt sich am Fußende jeder Bett¬
stelle anbringen und ist für eine rasche Erwärmung, zum
Beispiel hei Laparotomierten, sehr nützlich. Ueber Fälle,
die mit einem . ganz ähnlichen Apparat behandelt wurden,
referiert Bürger, der den von Ke i tier angegebenen
Trockenheißluftapparat verwendete. Dieser wird durch eine
Spiritusflamme geheizt ist also auch unabhängig von Elek¬
trizität oder Gasanschluß und außerdem leicht transportabel.
Um die Luft zu trocknen, ist hier ein Rehälter mit Chlor¬
kalzium zwischengeschaltet.
Ein weiterer Bericht liegt von Frankl über eigene
Erfolge vor. Dieser verwendete auch erst einen Kasten¬
apparat, sah aber bald ein, daß diesem Fehler in der Tem¬
peraturbestimmung anhaften : daß z. B. eine starke Patientin
mit ihren Bauchdecken dem Deckel des Kastens viel näher
ist als eine magere und daß somit, wenn die Hitze nicht
in dem ganzen Apparat überall gleich ist, die starke Pa¬
tientin in heißeren Luftschichten liegt und die Behandlung
viel schmerzhafter empfindet als eine magere. Außerdem
können durch eine oder mehrere Abzugsöffnungen immer
große Temperaturschwankungen entstehen. Aus diesen und
anderen Gründen sah sich Frankl daher veranlaßt, seine
Versuche mit dem vorhin von uns erwähnten Hilzinger-
schen Apparat fortzusetzen, der ja nicht zu den kasten¬
artigen gehört. Er hat den Apparat in verschiedenen Formen
erprobt und folgenden Rir den besten befunden : Ein 50 cm
hohes und fast ebenso breites Gestell, besteht aus aus¬
einanderziehbaren Bogen aus gekrümmtem Holze. Es wird
über den auf ungefähr 25 cm hohen Kissen liegenden Körper
gestellt. Der dadurch gebildete kleine Raum wird durch
poröses Material, z. B. Naturwolldecken, rings abgeschlossen
und mittels Spiritus- oder Gasflamme erwärmt. Die er¬
zeugte heiße Luft sammelt sich, durch ein Rohr gehend,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
zuerst in einem Bleclisammelkaslen und geJit erst von hier
aus in den Liegerauni. Bei dieser Anordnung sind nun
die BaucJidecken nur wenige Zentimeter von der Kuppe
des Sciiwitzraumes entfernt und die Temperaturdifferenzeil
sciiwanken daher in dem seJir kleinen Baume nur um ganz
wenige Grade. Chlorkalzium in den Liegeraum zu bringen,
hält Frankl nicht für nötig, da keine störenden Schweiß-
niengen Zurückbleiben. Er glaubt vielmehr, daß die von
Clilorkalzium aufgesogene Flüssigkeit nicht nur Schweiß,
sondern durch den YerbrennungSi»rozeß entstandenes
W'asser ist. [ i . ^
iYach all diesem scheint, wie auch viele Autoren
sagen, der P o lau o -Klapp sehe Apparat am votteilhaf-
testen zu sein, da er bei seiner großen Einfachheit eine
gleichmäßige Hitzewirkung von allen Seiten her gestattet,
wenn er auch im Bette nicht gut zu verwenden ist.
Ebenso wie eine definitive Einigung unter den Autoren
noch nicht darüber erzielt ist, welches der beste Apparat
ist, ebenso sind die Meinungen über die Art der Anwen¬
dung desselben noch sehr geteilt.
So schlägt Polano als erste Sitzungsdauer 20 Mi¬
nuten bei P20‘’ vor und will in den nächsten Tagen Tem¬
peratur und Zeit weiter erhöhen bis jiu drei Viertelstunden
bei 140". Die Abkühlung hat dann innerhalb fünf Minuten
zu geschehen, worauf die Patientin in Watte eingewickelt
wird und eine Stunde im Bette ruhen muß. Die Behandlung
dauert also mit der Bettruhe ungefähr zwei Stunden. 1902
aber empfiehlt Polano, da in Greifswald ein Fall von
oberllächlicher Verbrennung und in Gießen vier derartige
l'iille vorgekommen waren, mit llö" zu beginnen und
bis 125" zu steigen. Bei Anwendung dieser Art sind keine
Verbrennungen mehr vorgekommen. Wenn während der
Anwendung selbst über Brennen an den Oberschenkeln
geklagt wird, so muß man mit der Temperatur herunter¬
gehen, da kein Bepudern oder Befeuchten dagegen hilft.
Auch das Schwitzen, das länger als eine luilbe Stunde
dauert, ist nach den späteren Bemerkungen von Polano
ganz überflüssig. Durch diese Aenderungen sind alle un-
beciLiemen Nebenerscheinungen beseitigt, ohne die ilesul-
tate zu beeinträchtigen. Außerdem soll man, so gibt Po¬
lano an, um die Wirkung zu verstärken, die übrigen be¬
kannten hydrotherapeutischen und medikamentösen Ma߬
nahmen gleichzeitig anwenden; besonders für eine Nach¬
behandlung ist das zu beachten. Es genügt dann gewöhn¬
lich 10- bis IPmaliges Schwitzen.
Kehrer schreibt für seinen mit Elektrizität geheizten
Apparat, der etwa 100" Temperatur erzeugt, 15 Minuten
für die erste Sitzung vor; schon am! vierten Tage läßt er
die Patientin eine Stunde darin. Auch er empfiehlt nach
dem Bade Einwicklung u. zw. in Wolldecken.
Thomson appliziert seinen D eh iv sehen Apparat
(dne Stunde bei 50 bis 60". Alle Autoren sind dafür, daß
die Frauen während der Schwitzbadl.)ehandlung gleichzeitig
gut ernährt werden und daß man möglichst die lokale
Iherapie mit der Heißluftbeliandlimg individualisierend
verbindet.
Auch Frankl ist nicht für so hohe Temperaturen
wie Polano. Er behauptet, daß nur Maximaltemperaturen
von 80 bis 90" ertragen werden und glaubt, die Angaben
der anderen Autoren beruhen auf Messungsirrtümern, von
denen vorhin die Rede war und die durch die Wärme¬
schwankungen in den Kastenapparaten bedingt sind. Im
übrigen, sagt Frankl, kommt es gar nicht auf möglichst
hohe Temperaturen an, denn der Hauptwert ist nicht auf
die Hyperhidrosis zu legen, sondern auf die Hyperämie
und die tritt schon bei 60 bis 70" auf.
Salem berichtet über Erfahrungen, die er bei An¬
wendung des Keitl ersehen Apparates gemacht hat. Er
(‘mplieldt hohe Temperaturen u. zw. 185". Wenn dann bei
schwächlichen Personen Angstgefühle und andere Be¬
schwerden auftreten, so empfiehlt er kalte Umschläge auf
den Kopf und die Herzgegend. Erst wenn dies nicht hilft,
soll jiian die Behandlung unterbrechen. Am beslen indivi¬
dualisiert man die Höhe der Temperatur nach dem Gefühl
der Patieiitin. Die erreichte Wärme muß aber dann kon¬
stant sein.
Heinsius, der auch mit dem Klappschen Apparat
vielfach gearbeitet hat, sagt: Die Frauen gewöhnen sich
bald an hohe Temperaturen, so daß man in der ersten
Sitzung bereits 120" erreicht, in einigen weiteren über 150".
Dabei nimmt er ebenfalls individualisierend so hohe Tem¬
peraturen, wie die Pätientinnen vertragen können. Ge¬
wöhnlich genügen, na.di seinen Angaben, 115 bis 125" und
eine Anwendungsdauer von einer Viertelstunde bis zu einer
halben Stunde. Auch er ist dafür, daß man, sobald die
Kranke über Brennen klagt, sofort die Temperatur er¬
niedrigt. Daß an dem; Apparat keine guten Wärmeleiter,
also auch kein harzlialtiges Holz, sein dürfen, ist wohl
selbstverständlich. Auch das eventuelle Einführen eines
Spekulums in die Scheide und das nachherige Einwickeln
in Watte oder wollene Tücher, sowie die einstündige Ruhe¬
pause danach empfiehlt er ebenso wie die anderen.
Keilmann empfiehlt 100" bei einstündiger täglicher
Anwendung.
.Steffeck wieder empfiehlt tägliche Sitzungen bei
80 bis 110" u. zw. 1 bis IV2 Stunden lang.
.Jeder Autor also macht andere Angaben über die
Temperatur und die Dauer der Anwendung.
Ueber die direkte Wirkung der Methode auf die Be¬
handelte indessen sind die Meinungen nicht so geteilt. Wenn
wir hier zusammenfassend aufzählen wollen, so ergibt sich
folgendes : Die Wirkung, wenigstens die direkte — von
der indirekten Wirkung, d. h. von den Erfolgen der An¬
wendung, spreche i,ch später — ist .eine große. Es tritt
zunächst ei, ne starke Rötung der Haut und Schweißsekretion
auf. Die Frauen fühlen ein leichtes Prickeln auf der Haut,
das jedoch bald spontan zurückgeht. Man kann dagegen ein
feuchtkaltes Tuch auf die Stirn legen. Ferner tritt Puls¬
beschleunigung ein, vorhandene Schmerzen hören schnell
auf und ein starkes Durstgefühl macht sich bemerkbar.
Aus der Zervix entleert sich viel schleimiges Sekret. Bei
längerer Anwendung der Methode tritt eine allgemein auf¬
fallende Besserung in dem sid^jektiven Befinden der Pa¬
tientin ein, der Appetit und in den meisten , Fällen auch
das Körpergewicht nehmen zu. Ueberhaupt gehen die ob¬
jektiven Veränderungen nicht so rasch vor sich wie die
Besserung im subjektiven Befinden. Nur bei besonders
schwächlichen Patientinnen treten als unangenehme Neben¬
wirkungen Müdigkeit, Herzklopfen, Augenflimmern und
Brechreiz auf.
iWir koiAmen jetzt zu den Indikationen, die für die
Heißluftbehandhmg angegeben worden sind und damit zu¬
gleich zu dem Punkte, der das Wesentliche dieser Zeilen
darstellen soll, nämlich zu den Erfolgen, die mit dieser
Methode erzielt worden sind. Denn die Indikationen, sowie
die Kontraindikationen, die folgen werden, sind ja zumeist
nach der Erfahrung aufgestellt. Bep den meisten also liegen
vielfache gufe Erfolge der liidikation zugrunde; allerdings
will ich weiter unten noch auf einzelne bemerkenswerte
Fälle eingehen.
Polano sah vor allem als Indi.kation die chronischen
Beckenexsudate an. Da diese allseitig im Bereiche größerer
Blut- und J^ymphbahnen liegen, so ist die Möglichkeit einer
ausgiebigen Resorption dadurch gegeben. Das Hauptgewicht
für die Anwendung der Heißluftbehandlung hilden alte,
steinharte Exsudate, die jeder anderen Therapie zu trotzen
pflegen, ob sie nun tief im Don glas sehen Raume oder in
höher gelegenen Teilen des Beckens sitzen. Auch para-
metritische und perimetritische Exsudate, Adhäsionen, die
durch diese zustande kommen, Hämatokelen, entzündliche
Schwellungen der Tuben und Ovarien sind als Indikationen
von Le wins ki, Kehrer, Polano u. a. angegeben.
Fett kommt zu dem Schlüsse: Entzündliche Adnex¬
erkrankungen sind unter allen Umständen konservativ zu
beliandeln; während man bei dem akuten Stadium ex-
spektativ verfahren soll, sind im chronischen Stadium re-
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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sorl)ioreii(le Mittel, vor allem das Heißliiftverfahren, zu
Hilfe zu nehmen.
Auch Bürger sagt: Fülle von chronisch-entzünd¬
lichen Veränderungen in den Adnexen gehen .hei konser¬
vativen Mitteln gute Resultale und hilden sich zurück.
Streng davon zu trennen sind die Fälle, in denen größere
Kiteransammlungen vorliegen. Diese gehen stets Indika¬
tionen zur lladikaloperation.
Kehrer empfiehlt die Heißlufttherapie auch bei ad¬
häsiver Beckenperitonitis, speziell bei Parametritis posterior,
namentlich zur Lockerung golider, peritonealer Adhäsionen,
die den retroflektierten Uterus oder dessen Adnexe an das
hintere Peritoneum fixieren. Pol a no hält zwar diese Me¬
thode bei Perimetritiden für nicht so geeignet wie andere
therapeutische Maßnahmen. Er glaubt, hier bringe die
Methode nur eine zeitweilige Beseitigung der Schmerzen,
aber keine dauernde Heilung.
Carmichael hält die Heißlufthehandlung für sehr
wirksam bei Verwachsungen und Verdickungen der Pära-
inetrien. Auch Bürg-er u. a. halten die Krankheiten für
die Heißluftbehandlung am geeignetsten, bei denen es sich
um eine diffuse, entzündliche Infiltration des Beckenhinde-
gewehes handelt; besonders glänzend sind die Erfolge hei
Parametritis.
Auch Kehrer sagt: Zwar hat man parametritische
Exsudate durch Inzision eröffnet und damit günstige Re¬
sultate erzielt, aber 95 ^/o aller Paranietritiden enden durch
Resorption. Daher muß man auch hier die Heißlufttherapie
versuchen. Kehrer ist es auch, der als Indikation die so
schmerzhaften Netzadhäsionen nach Laparotomien angiht.
Ferner schreibt er: Ist nach länger dauernden Laparotomien
mit starkem Blutverlust eiue größere Wärmezufuhr geboten,
so ist auch der Heißluftapparat besser zu verwenden als
der früher gebräuchliche Wärmekasten. Es kommt dadurch
eine gleichmäßige Durchwärmung des ganzen Körpers zu¬
stande, die von größter Bedeutung für die frisch Operierte
ist. Auch für Bauchdeckenfisteln, die durch Fadeneiterung
entstanden sind, schlägt er den Apparat vor.
Auch von großem diagnostischen Werte kann die
Heißluftbehandlung sein, wenn es sich um die Entscheidung
handelt, ol) in hestinnnten Fällen ein Infiltrat des Becken-
Ijindegewehes oder eine Adnexentzündung voiiiegt. Denn
die Exsudate schrumpfen, nach der Aussage von Wagner-
Hohenlohhese, zusehends, der Beckeninhalt wird ge¬
radezu skelettiert. Keil mann sagt dazu: Wo frische Ex¬
sudate die Lokalisation der Erkrankung verdecken, das
Tastbild zu einem diffusen machen, da war der Befund
nach einmaliger Behandlung klar und eindeutig.
Außerdem ist die Heißluftbehandlung auch als vor¬
bereitende Therapie anstatt der langsamer wirkenden, heißen
Kataplasmen zu verwerten. Dies trifft besonders zu hei
Exsudaten, die mit eitriger Einschmelzung einhergehen.
i\Ian erreicht durch die Behandlung eine sehr schnelle Ein-
schmelzung und dadurch Inzisionsfähigkeil solcher frischer,
eitriger Affektionen. Natürlich muß die Behandlung hier
wie immer unter strengen ärztlichen Kontrollen stattfinden,
denn man darf in einem ßolchen Falle den geeigneten Mo¬
ment zur Inzision nicht verpassen. Auch wenn schon ver¬
sucht wurde, durch Inzision von den Bauchdecken aus
einen etwa vorhandenen Eiterherd zu entleereu, kann zur
Besorption des zurückgehliebenen Exsudates hei noch gra¬
nulierender Wunde die Heißluftbehandlung angewendet
werden. i\Ian nmß nur die Wunde trocken halten, damit nicht
ein eventuelles Wundsekret verljrühend wirkt.
Polano empfiehlt die Heißluftbehandlung noch bei
Amenorrhoe, falls die lokale Behandlung überhaupt indiziert
ist. Er seihst wenigstens hat hei gleichzeitiger Einführung
eines Vaginalspekulums nach kurzer Behandlung eine ein-
bis zweiwöchige Anteposition der Menses fesl gestellt. Es
ist ja auch einleuchtend, daß durch die starke Hyperämie
des Endo- und Myometriums die anteponierte Blutung her¬
beigeführt werden kann.
Polano wie Kehrer hoffen endlich, durch wochen¬
lang fortgesetzte lleißluftbehandlung hei infantilen Formen
der inneren Genitalien gute Erfolge zu erzielen. Bisher
hat man in solchen Fällen mit keiner BehandJung etwas
ansrichten können. Es kommt darauf an, daß der Organis-
nnis gekräftigt und daß eine gesteigerte Zuführung gesunden
Blutes zu den Beckenorganen hergestellt wird. Dieser ein¬
zige Weg kann durch unser Verfahren, zusammen mit den
früher angewendeten Mitteln, heschritten werden.
Eine Indikation ist noch hinzuzufügen: Bürger
schlägt die Methode für Heilung von Narben und xVdhäsionen
vor, die von einer Entbindung, oder Operation herrüliren.
Er meint, die aktive Hyperämie würde erweichend und
lockernd wirken.
Allerdings erhebt sich noch hie und da Widerspruch
gegen diese oder jene Indikation und gegen die ])ehaup-
teten Erfolge. Manch einer sieht keinen Vorteil in dieser
Methode gegenüber anderen oder gegenüber der sonst viel-
geühten Hydrotherapie; das eine aber ist nicht zu leugnen,
daß ])ei der Heißluftbehandlung wenigstens das fortwäh¬
rende Herummanipulieren an den Genitalien, die Irritation
und die damit verhundene Schädigung des Nervensystems
vermieden wird.
Schauta empfiehlt als Indikationsstellung vor allem
das Individualisieren, man kann in den in Betracht kom¬
menden Fällen nie sagen: hier muß operiert, hier muß
konservativ behandelt werden.
iSteffeck sagt und das scheint als zutreffend Be¬
achtung zu verdienen: Ist nach drei- bis vierwöchiger Be¬
handlung ein Erfolg nicht erkennbar, so ist es zwecklos,
dann noch länger konservativ behandeln zu wollen. Fett
meint, man solle dann aber möglichst konservativ operieren,
d. h. unter Zurücklaissung noch funktionsfähiger, gesunder
Organe.
Einige Kontraiudikationen stehen aber von vornherein
fest: Es muß vor .Anwendung der Heißluftbehandlung ge¬
warnt werden in allen Fällen frischer Entzündungen, so¬
dann ])ei Gegenwart von Eiter in den Adnexen, ferner ist
die Methode l)ei allen tuberkulösen Prozessen an den Geni¬
talien kontraindiziert, bei Fieber, weiter hei. hochgradigen
Herzfehlern oder stark erkranktem Gefäßsystem und end¬
lich heim Vorhandensein von uterinen Blutungen, wenn
auch diese indirekt durch die Methode günstig beeinflußt
werden können.
Nachdem wir so die verschiedenen Indikationen und
Kontraindikationen betrachtet haben, kommen wir zu den
Erfolgen, die mit der Heißlufthehandlung bereits erzielt
wurden. Diese sind so viele, daß, wollte man nur von jeder
Art einen Fall beschreiben, das Material zu groß sein würde
für den Ijescheidenen Rahmen dieser kleinen Arbeit. Wir
wollen uns daher hier auf einzelne bemerkenswerte Fälle
beschränken, aus denen man noch diese oder jene Indikation
folgern kann. Die alltäglichen Erfolge wollen wir nur kurz
streifen.
Die Behandlung mit heißer Luft erstreckt sich, wie ge¬
sagt, zum größten Teil auf Exsudate chronischer Art. Alle
xAutoren, die über die Heißluftbehandlung überhaupt be¬
richtet haben, haben bei Beckenexsudaten davon Gelwauch
gemacht und gute Erfolge erzielt. So schreibt zum Beispiel
Dützniann dazu: Frische Exsudate schmelzen schnell ein
und können dann früh inzidiert werden, alte Exsudate ver¬
schwinden ganz oder bis auf geringe Reste. Nach anderen
Angaben schwinden diese Exsudatreste nach weiterer Be¬
handlung gänzlich. Keilmann, Polano u. a. berichten,
(laß kindskopfgroße, steinharte Exsudate im Beckeidunde-
gewebe nach zwei bis drei Wochen durch die Behand¬
lung völlig zum Schwund gebracht worden sind und nor¬
malen Tasthefund hintcrließen.
Manche Autoren allerdings wollen bemerkt hal)en,
(laß in ungefähr vier Fünfteln aller Fälle, d. h. nicht nur
bei der Anwendung gegen Exsudate, sondern auch bei
anderen Indikationen, eine subjektive und objektive Besse¬
rung eintrat, in einem Fünftel aber nur subjektive Besse-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
rung lind nur in vereinzelten Fällen sah man den Erfolg
ganz aiisbleiben. Jung macht darüber genaue Angaben.
Es waren unter seinen beobachteten Fällen auch solche Ex-
sudatbildnngen oder eitrige Adnexerkrankungen, bei denen
der Eiter zuerst per vaginam entleert worden war. Die Ent¬
zündungsprodukte kamen teils ganz ohne Operation, teils
nach einfacher Eiterentleerung definitiv zum Schwinden.
Ganz ähnliche Berichte gibt Keilmann, der auch,
eine Statistik von einer großen Reihe von Fällen der Heiß-
luflbehandlung aufgestellt hat. Ganz ohne Erfolg, also auch
ohne die subjektive Besserung blieb bei ihm nur ein Fall
u. zw. eine Salpingitis duplex chronica.
Pol an 0, Kehrer und viele andere rühmen, wie
schon erwähnt, sehr den großen diagnostischen Wert der
Trockenluftheizung.
Ebenso viele Erfolge wie bei Exsudaten und oft gleich¬
zeitig mit ihnen erreicht man bei Adnexerkrankungen. Sa¬
lem und Thomson sprechen von eklatanten Wirkungen
nach der Anwendung von Heißlufttherapie bei chronischen
und subakuten Fällen von Adnexerkrankungen. Bürger
und Fett sagen: Bei eitrigen Adnexerkrankungen dauert
eine erfolgreiche Behandlung bisweilen sehr lange und dann
tritt zwar subjektiv immer, objektiv aber mit Ausnahmen
die Besserung ein. Lewinski .führt als besonders bemer¬
kenswert an, daß er sogar einen Fall von beiderseitiger
schwerer Pyosalpinx durch das Verfahren geheilt hat.
Ganz im Gegensatz zu den eben erwähnten Autoren
stellt sich Bürger, der die Besserung der Adnextunioren
nur auf die Resorption des entzündlichen Oedems beruhend
ausieht. Er hält daher die Erfolge auch nur für vorüber¬
gehende und ist im Falle eines Rezidivs für die Radikal¬
operation.
Einen recht guten Erfolg des Verfahrens schildert
Kehrer.
Polano erwähnt einen Fall von Gonorrhoe der Ad¬
nexe, die auch durch fleißluftbehaudhnig schon nach zwölf-
maligem Schwitzen einer schnellen Heilung entgegengeführt
wurde. Bürger hat mehrere Fälle von schmerzhaft retro-
pöniertem Uterus dieser Methode unterworfen. Es traten
liier mit einer Ausnahme nur Besserungen des subjektiven
Beiindens ein, daher empfiehlt er für diese Fälle mehr die
Massage und die Belastungstherapie. ln dem einen Falle,
wo auch objektive Besserung eintrat, geschah offenbar eine
spontane Lockerung der die Retroposition bedingenden Ad¬
häsionen.
Jung und Salem haben bei Parametritis gute Erfolge
mit der Heißlufttherapie erzielt; nach Kehrer beseitigte
die Methode bei Parametritis posterior wenigstens die
Schmerzen und gestattete so die zur Heilung nötige Massage
ohne Schmerzen. Auch bei Perimetritis und chronischer
adhäsiver Beckenperitonitis sind oft wenigstens subjektive
Besserungen erreicht worden; die Schmerzen sistierten sehr
bald. Eine objektive Besserung aber trat nur in weniger
als der Hälfte aller Fälle ein.
Salem hat zwar auch zwei Fälle von abgekapselten
piu'itonitischen Exsudaten nach 22, bzw. 30 Sitzungen zur
Heilung gebracht; und Thomson teilt mit, daß er Fälle
von Pelveoperitonitis, von Endometritis und Oedemen
günstig beeinflußt hat.; im allgemeinen scheint die Heißluft-
therapie aber doch bei den intraperitoneal sich abspielenden
chronisch entzündlichen Prozessen nicht solche tiefe Wir¬
kungen zu entfalten, wie man zuerst beim Aufkommen der
Methode annahm.
Polano berichtet ferner von einer Infiltration der
Bauchdecken, die von einer Laparotomie herrührte und die
nach Behandlung mit heißer Luft schwand. Auch jene
anderen lästigen Folgen von Jaiparotomien, die Bauchdecken-
fisteln, sind der Heißluftbehandlung unterzogen worden und
da hat man oft recht gute Erfolge erzielt. Die Fisteln
schließen sich nach wenigen Sitzungen durch Aufschich¬
tung kräftiger Granulationen. Eine Bauchdeckenfistel, die
von einer Probelaparotomie bei tuberkulöser Peritonitis
zurückgel)li(d)eii war mul sezernieiie, schloß sich ttx)tz
aller möglichen anderen Behandlungen nicht. Die dann an¬
gewandte Wärmeapplikation regte sie aber bald zur Granu¬
lationsbildung und Verschluß an. Gleichzeitig wurde übri¬
gens eine Besserung der tuberkulösen Allgemeinerschei¬
nungen, z. B. Schwund des profusen Nachtschweißes wahr¬
genommen. Schließlich sind noch ein paar Einzelfälle von
Erfolgen zu verzeichnen: Polano und Bürger berichten
über je einen Fall von einer durch heiße Luft geheilten
Aktinoniykose der Bauchdecken. Keilmann wandte in
einem Falle die Heißluftbehandlung gegen Amenorrhoe an.
Es handelte sich um ein Ißjähriges Mädchen, das bereits
regelmäßig menstruierte und dann die Regel verloren hatte.
Der Befund war bei virginellen V erhältnissen normal. Nach
zweimaliger Behandlung trat die Periode wieder ein. Ueber
diese Indikation haben wir ja schon oben eingehender ge¬
sprochen. Salem hat bei derselben Erkrankung nicht so
gute Resultate erzielt. Auch bei einer drei Monate alten
Hämatokele, die er auf dieselbe Weise behandeln wollte,
sah er keinen Erfolg, während Fett bei clironischen
Hämatokelen durchaus günstige Resultate erzielt haben will.
Nachdem wir von so vielen Erfolgen der Heißluft¬
behandlung gehört haben, wollen wir, um gerecht zu sein,
auch noch über Fleischmanns Aeußerungen berichten,
der gar nicht recht mit dem Lobe der Methode einver¬
standen ist. Er sagt: Es schwinden ja bei der Behandlung
oft überraschend schnell die Infiltrate, die z. B. einen Tumor
umgeben, die Patientinnen erholen sich auch zusehends, bei
richtiger Nebenbehandlung, sobald sie aber wieder ihre
Arbeit aufnehmen, so kehren die alten Beschwerden wieder.
Und davon werden die Patientinnen dann erst durch Be¬
seitigung des Eiterherdes geheilt. Wieweit diese An¬
schauung berechtigt ist, wird die Zukunft lehren.
Ich möchte nun noch kurz der Anwendung der heißen
Luft als Dusche für den Uterus ein paar Worte widmen.
Um die heiße Luft als Dusche anzuwenden, hat Doktor
Rudolph einen geeigneten Apparat berste 11 en lassen. Der¬
selbe hat eine Trompetenform, ist aus Metall und der ver¬
jüngte Teil, der von den übrigen durch Asbest gelrennt ist,
besteht aus Holz. Der Spekularteil ist auch mit Asbest über¬
kleidet. Auf dem Spekularteil kann ein Milchglasspekulum
aufgesetzt werden. Auf diese Weise kann der Apparat ein¬
geführt werden, ohne daß das Spekulum heiß wird. Der
Spekularteil ist durch eine Wand in eine untere und eine
obere Etage geschieden. In der oberen Etage befindet sich
eine Oeffnung, durch die die heiße Luft zurück an die
Außenluft gelangt. Eine Heißluftkammer, wie sie bei anderen
Heißluftapparaten zum Teil zur Verwendung kommt, spart
man in diesem Falle, da die Vagina selbst eine schlauch¬
förmige Heißluftkammer darstellt. Es wird durch diese Me¬
thode nicht nur Blut-, sondern auch Wärmestauung erzielt,
die sich auf allen Organen des Beckens geltend macht.
Diese Heißluftdusche ist nach Rudolph überall da
anzuwenden, wo bisher die Heißwasserspülung für ange¬
zeigt erachtet wurde. Rudolph, der nur über wenig
spezielle Fälle und deren Erfolge berichtet, hat mit der
Dusche recht gute Erfolge erzielt. So sah er einmal zwei
fingerdicke Stränge im Douglas, nach zehn Sitzungen zur
Auflockerung und Erweichung kommen, so daß sie dann
durch Massage völlig beseitigt werden konnten.
Wenden wir uns nun wieder zu der eigentlichen An¬
wendung von Heißlufiapparaten zurück und betrachten die
neuesten Berichte auf diesem Gebiete, so kommt hier haupt¬
sächlich die Anwendung in der Frauenpoliklinik in der
königlichen Charite in Betracht.
Prof. Stoeckel trat 1905 in der Gesellschaft für Ge¬
burtshilfe und Gynäkologie zu Berlin auch für die Hei߬
lufttherapie ein und demonstrierte hier den Apparat von
Kehrer, der in der Poliklinik ausgiebig zur Verwendung
kommt. Stoeckel ist der erste, der die Heißluftbehand¬
lung ambulant in der Poliklinik anwendete. Er will auf diese
Weise operative Eingriffe, die zur Erzielung möglichst
baldiger Arbeitsfähigkeit oft gewünscht werdmi, durch die
nutzbringenden konservativen Maßnahmen der Heißluft-
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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beliandluiig ersetzen. Die bisiierigeii Versuche sind sehr
befriedigend ausgefallen; insbesondere liat sich die Kom¬
bination von Ileißluftbehandlnng mit der vaginalen Bc-
lastmigstherapie in Beckenhochlagerung bewährl, und zwar
wieder am besten bei chronischen parametritischen Ex¬
sudaten und chronischen Adnextumoren.
Im folgenden will ich nunmehr im einzelnen über die
Erfolge berichten, die an der Universihäts-Frauenklinik der
königlichen Charite mit der Heißluftbehandlung erzielt
wurden.
In den letzten zwei Jahren wurden in der Frauenpoli¬
klinik hierselbst auf Veranlassung von Prof. Stoeckel im
ganzen 231 Fälle mit Heißluft behandelt, davon betrafen:
Status post vaginal Operation 11, Status post Laparotomie
(Adhäsionsbeschwerden und Hernien) 59, Parametritiden 43,
Adnextumoren 34, Salpingo-Oophoritis 35, Exsudate 17,
chronische Pyosalpinx 4, Hämatokele 6, Pelveoperitonitis
cliron. 6, Amenorrhoe mit Infantilismus 3, andere Be¬
schwerden 11.
Die Anzalil der Sitzungen betrug im Durchschnitt 10,
die höchste Zahl war 52, die kleinste 5. Die Behandlung
dauerte durchschnittlich zwei Monate, im kürzesten Falle
drei Wochen, im längsten 4V2 Monate, lieber subjektive
Beschwerden nach der Behandlung wurde in elf Fällen ge¬
klagt u. zw. über Brennen siebenmal, verschlimmert wurde
der Zustand viermal.
Im allgeiueinen scheinen die Erfolge durchaus be¬
friedigend zu sein. Aber wie wohl jeder, der viel mit’ poli¬
klinischem Material zu tun gehabt hat, weiß, ist es
sehr schwer, bei jedem einzelnen Fall zu bestimmen, ob
derselbe geheilt worden ist. Denn in den weitaus meisten
Fällen bleiben die Patientinnen, wenn sie sich nur irgend¬
wie gesund fühlen und keine Beschwerden mehr haben,
einfach aus der poliklinischen Behandlung weg. Daher wird
man in der Poliklinik nur ganz selten dazu kommen, in
das Journalbuch die Notiz eintragen zu können ,, geheilt
entlassen“, während dies im Krankenhaus oder in der
Privatpraxis ein leichtes ist.
Infolgedessen ist es auch sehr schwer, in bezug auf
unsere vorliegenden Fälle anzugeben, ob die Patientinnen
völlig geheilt wurden. Aber man wird im allgemeinen, glaube
ich, nur um ein wenig zu günstig urteilen, wenn man die
Fälle, die weggeblieben sind, wenigsteiis als subjektiv ge¬
heilt betrachtet. Höchstens müßte man hievon die Zahl
derjenigen Fnauen in Abzug bringen, die nur eine ganz
kurze Zeit sich der Behandlung unterzogen liaben, die also
weniger als fünf- bis siebenmal behandelt worden sind.
Und in diesen Fällen werden vielleicht auch schon einige
sein, die schon geheilt sind, so daß^ dadurch wohl ein Aus¬
gleich hergestellt ist gegenüber denjenigen Patientinnen, die
auch nach längerer Behandlung ungeheilt oder nur gebessert
weggeblieben sind.
Endlich will ich nur noch sagen, daß imsere Beobach¬
tungen in der Poliklinik genau mit den Angaben anderer
Autoren übereinstimmen ; also auch wir haben als Kontra¬
indikation Fieber, eitrige Exsudate, Tuberkulose usw. ge¬
funden. Die Dauerresultate, die mit der Heißlufttherapie
erzielt wurden, können sich mit den besten Resultaten der
operativen Verfahren messen. Auch bei schweren Verände¬
rungen ist bisweilen eine Heilung möglich, sogar spätere
Gravidität ist beobachtet worden. Und wenn auch in vielen
stark entzündlichen Veränderungen keine Restitutio ad inte¬
grum hergestellt werden kann, so gelingt es doch wenig¬
stens, die Kranken von oft jahrelang vergeblich behandelten
Beschwerden zu befreien.
.Daher dürfte die Behandlung mittels Heißluft unter
strenger Einhaltung der Indikationen und sorgfältiger ärzt¬
licher Kontrolle in vielen Fällen von großem Nutzen sein
und kann auch anderen Kollegen in Kliniken und in der
Privatpraxis zur Nachprüfung empfohlen werden.
Literatur
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1904, Nr. 28.— Steffeck, Zentrabi, f. Gyn. 1905, Nr. 36. — Der¬
selbe, Zeitschr. f. Geb. u. Gyn., Bd. 56. — Rudolph, Zentralbl. f.
Geb. u. Gyn. 1905, Nr. 39. — Jung, München, med. Wochenschr. 1905,
Nr. 52. — Lewitzky, Przeglad lekarski 1905, Nr. 20. — Fett,
Monatsschr. f. Gen. u. Gyn., Bd. 22, H. 5. — Stoeckel, Zentralbl.
f. Gyn. 1905, Nr. 48. — Derselbe, Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 56.
— Derselbe, Berliner klin. Wochenschr. 1905, Nr. 48 u. 49.
Aus der 11. Universitäts-Augenklinik. (Vorstand: Hof rat
Prof. E. Fuchs.)
Ein Konturschuß entlang der Orbita.
Von Dr. Rudolf Berg-meister, Assistenten an der II. Augenklinik in Wien.
Bekanntlich ist das Auge den mannigfaltigsten Ver¬
letzungen so stark ausgesetzf, wie kaum ein anderes Organ.
Man möchte fast glauben, daß es von der Natur mit keinerlei
wirksamen Schutzvorrichtungen ausgestattet ist. Dennoch
kennen wir mehrfache Schutzvorrichtungen, teils anatomi¬
scher, teils physiologischer Natur, die schädigende Einflüsse
vom Auge abzuhalten imstande sind.
Bekannt ist der Schutz, den die Zilien gegen kleine
Fremdkörper, Staub usw. gewähren, ebenso die Wichtigkeit
des reflektorisch erfolgenden Lidschlages, der im Vereine
mit der Tränensekretion das Auge vor Austrocknung schützt
und kleine Fremdkörper wegschwemmt.
Unter den anatomischen Schutzvorrichtungen ist der
Bau der Orbita von hervorragender Bedeutung. Betrachtet
man ein Schädelskelett, so fällt einem auf, daß die den
äußeren Orbitaleingang begrenzenden Knochen am Rande
eine bedeutende Verstärkung erfahren. Besonders ausge¬
bildet ist diese am oberen Orbitalrand, der vorwiegend vom
Stirnbein gebildet wird. Durch letzteres wird das Auge
vor allen Angriffen, die von oI)enher drohen, beschützt. Auch
die übrigen, die Orbitalumrahmung bildenden Knochen und
(las Nasengerüst tragen viel zum Schutze des Auges bei.*)
Was für eine wichtige Rolle speziell der Arcus superciliaris
des Stirnbeines als Schutzvorrichtung gespielt hat, möge der
vorliegende Fall zeigen, der an der 11. Augenklinik in Wien
zur Beobachtung kam.
Aus der xAiiamiiese konnte nur entnommen werden, daß der
24jähr. Pat. am 5. März 1. J. mit einem Revolver hantierte und
sich dabei in sitzender Stellung mit etwas vorgebeugtem Kopfe
befand. Bei dieser Gelegenheit soll sich der scharf geladene Re¬
volver aus ziemlicher Nähe (genau weiß, der Patient es nicht an¬
zugeben) entladen haben und das Ih'ojektil in das linke Auge
gedrungen sein. Ein Selbshnordversuch wird bestimmt in Abrede
gestellt. ; 1
Status praesens vom 7. März: Die linke S timhälfte,
etwas über die Mittellinie nacb rechts reichend, vollständig bedeckt
mitPulverscbmauch und in die Haut eingedrungenen Pulverkörnern.
Nach Wegwischen des Pulverschpiauchs und der aufgelagerten
Ihilverkörner kommt etwa V4 cm ober der Augenbraue eine kaum
1 cm lange, mehr lineare, von einem elliptischen Verbrennungshof
umgebene, verklebte Einsebußöffnung zum Vorschein.
Die Lider sind geschwollen, suffundieit. Durch das Unter¬
lid tastet man außen, unten einen harten Fremdkörper.
Nach Oeffnen der Lidspalte findet man den Bulbus etwas
protrudiert, die Beweglichkeit nach unten fast aufgehoben, sonst
frei. Die Conjunctiva bulbi blutig suf fundiert. Außen unten, etwa
15 mm vom Limljus entfernt eine ziemlich große, unregelmäßige
Wunde, Ausschußöffnung in der Conjunctiva hulhi, die bis in
den Förnix reicht. In dem untersten Wundwinkel, größtenteils
*) Ein weiterer Schutz für das Auge ist in dem reichlichen Fett¬
polster gegeben, in welchem der Bulbus in die Orbita eingebettet ist,
ferner auch in dem etwas geschlängelten Verlauf des orbitalen Teiles
des Optikus; beides Umstände, die eine Dislokation oder Verschiebung des
Bulbus oft in bedeutendem Grade ohne bleibende Schädigung erlauben.
WIENER KLINISCHE, WOCTTENSCHRIFT. 1907
Nr. 18
urilci' (1(31' Küiij'jiiklivu oiii Freiiidkürpcr, clor iiocli die koi'ui eines
Rc'vol ver] n’t! j<‘k tils crkeiiiieii läßt. Korireii khir, in dei Vetdei-
kaminer frisclies Illut fast bis zur IMitte, Iris grünlich verfärbt.
Mit dem Augenspiegel kein rotes Liebt. Tension nonnal. Licbt-
enipfindung in G m - Projektion nach innen und oben unsicher.
Fig. 1.
Fig. 2.
Da die Tension des Auges normal war, konnte mit lle-
slimmlheit die Verletzung des Auges als nicht perforierend an-
ges(‘ben werden und die Diagnose auf Glasköriierblidung, Ilämor-
j'hagie in die \’orderkammer, Contusio ball/i, geslellt werden.
8. .März. Exiraklion des Projeklils nach Inzision der llinde-
liaut. Das Projektil lag mit der deformierten Spitze unter der
lÜndebaul. In den nächsten Tagen ging unler llurowumschlägen
die Suffusion der Lider und der Konjunkliva zurück, der llulbus
war nach allen Richtungen, auch nach unten frei beweglich.
Am 10. März frische Ifämorrhagie in die Yordeikammer, die sich
aber nach wenigen 'kagen resorbierle. Es kam nur eine zarte
'l’rülmng unler (hu- Linsenkapsel, sowie eine feine Fältelung in
dem äiißeivn, olteren Quadranten der Einsenkapsel zum \or-
schein, die auch weiterhin bestehen blieb. Dm- Patient zählt Finger
bis zu (“inem Vieler Enlfernung. Vlit dem Spiegel ist noch Rlut
im Glaskörper zu konstatieren. Außerdem leichtes Linsen-
.scblotlern.
Am Stirnhein und entlang dem äußeren Grbilalrand nirgends
eiiH' schnnu'/.bafle Stelle, kc'inerU'i Anzeichen für eine Infraktion.
Wir liaben also den \vold einzig dasteimnden Fall
«dues Koidursclmsses entlang dem äußeren Drbitalrand vor
uns, ohne Perforation der Bulbuskapsel.
Daß diese Annahine riciitig ist, beweist das Aussehen
des Projektils. Es ist ein innen hohler Bleizylinder, dessen
Spitze eine Delle (Vertiefung) aufweist und dessen Ränder
aufgekrenii)ell sind (a).
Fig. 3.
Die Außenseile weist seichte Längsriffung auf, wie
sie einem gezogenen Laufe entspricht. Die wichtigste Form¬
veränderung des Projektils ist bedingt durch eine breite
Furche mit scharfen Rändern, die etwa das Aussehen eines
Schraubenganges mit steiler Windung hat (b). Diese Furche
erweist sich als Abdruck des äußeren oberen Orbitalrandes,
Avovon man sich leicht am Skelett überzeugen kann.
Nach Aussage Fachkundiger handelt es sich nur um
den Bleimaiitel des Projektils. Dieser soll sich mitunter,
wenn auch selten, von dem Projektil loslösen. Es handelt
sich dann um Konstruktionsfehler der Projektile. In einem
solchen Falle soll das Vorhandensein einer Luftblase das
Abspringen des Bleimantels, gleich nachdem das Projektil
den Lauf verlassen hat, begünstigen.
Wir gelangen nun zur Frage: Welche Bedingungen
brachten es mit sich, daß es in diesem Falle zu einem
Konturschuß der Orbita kommen konnte?
Zunächst ist zu berücksichtigen, daß die Wirkung des
Projektils sich äußert durch Eindringen desselben in das
Ziel ; dieses wird zerschmettert oder auch nur erschüttert.
Es klcfnimt also zunächst die lebendige Kraft des
Geschosises zur Geltung. Diese ist
mv“
= halbes Produkt
aus Masse und Quadrat der Geschwindigkeit. Sie wächst
also mit der Masse und insbesondere mit der Geschwindig¬
keit des Geschosses. Von der lehendigen Kraft des Geschosses'
muß die Perkussionskraft unterschieden werden. Diese ist
vorwiegend von der Konstruktion des Geschosses abhängig.
Ein spitzes und hartes Geschoß hat unter sonst gleichen
Verhältnissen eine größere Durschlagskraft als ein stumpfes
und weiches.
Ferner ist sie abhängig von dem Auftreffswinkel des
Geschosses. Wenn das Geschoß nicht im rechten Winkel
auftrifft, so vergrößert sich nicht allein die getroffene Fläche,
sondern auch die auftreffende Fläche des Projektils. Es
nimmt daher die Eindringlingstiefe mit der Abnahme des
Auftreffswinkels ab. Für die Gestaltung der Schußwunde
ist außer des lebendigen Kraft des Geschosses der Wider¬
stand des getroffenen Gewebes maßgebend. Dieser Wider¬
stand ist verschieden, je nach der Festigkeit und der rück¬
wirkenden Kraft des geti’offenen Gewebes. Letztere spricht
sich in der Deformierung des Geschosses aus und ist
proportional der lebendigen Kraft des Geschosses.
Die Richtung des Schußkanals braucht nicht immer
der Schußrichtung zu entsprechen. So kann es möglich
sein, daß ein Projektil an einem Knochenteil, der eine
Festigkeit besitzt wie der Arcus superciliaris des Stirn¬
beins, abprallt, unter einem Winkel ,,rikoschettiert“ oder
im Bogen abgelenkt und selbst entlang eines Knochens um
ganze Köriierteile .herumgeht (Bogen-Kontur-Ringelschuß).
Der Schußkanal eines Konlurschusses verläuft in einer
bogenfönnigen oder spiralförmigen Linie um eine Körper-
liöble, ohne dieselbe zu eröffnen (Fischers Handbuch der
Kriegschirurgie, 1882). Konturschüsse entstehen dadurch,
daß ein Projektil durch widerstandsfällige Gewebe wieder¬
holte Ablenkungen erfährt, in den lockeren Schichten des
Bindegewebes verläuft, während es den Sehnen, Faszien und
Knochen ausweicht.
Dafür, daß im vorliegenden Falle der Schuß aus der
nächsten Nähe abgegeben wurde, spricht der Befund. Die
Schwärzung der Stirnhaut durch Pulverschmauch und auf-
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 190?.
SB?
gelagerte Piilverkönier bieten genügend Anliallspunkte für
diese Annahme.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Einschußöffnung.
Diese war ziemlich unbedeutend, annähernd schlitzförnng,
wie dies bei spitzen Ilevolverprojektilen der Fall zu sein
pflegt.
Von ausschlaggebender Bedeutung für den Verlauf der
Verletzung mögen zwei Momente gewesen sein. Zunächst
die Loslösung des Bleimantels vom Projektil. Dieses in
seiner Masse verringerte Geschoß hat wohl die Kraft gehabt,
die Weichteile zu perforieren, nicht aber den darunter
liegenden Knochen zu durchd ringen. Es tritt also eine plötz¬
liche Hemmung in der Bewegung des Priojektils ein, wodurch
Wärme erzeugt wird.
Aus Beobachtungen an Bleigeschossen, die auf eiserne
Scheihenständer aufschlugen, konnte man schließen, daß
die Wärmemengen, die hei der Vernichtung der Geschwin¬
digkeit erzeugt werden, so groß sind, daß sie den Schmelz¬
punkt des Bleies erreichen. (Dieser beträgt 330® C; siehe
Fischers Handbuch der Kriegschirurgie, 1882.)
Wärme wird überdies schon im Laufe erzeugt und
durch Reibung des Projektils an der Luft.
Wärmeentwicklung und Aufprallen auf ein festes,
widerstandsfähiges Gewebe müssen eine Formveränderung
des Projektils zur F'olge haben.
Bei den Versuchen von Fl a ge nb ach stellte sich noch
konstant neben der Abschmelz nng am, Projektil eine eigen¬
tümliche konische Form des überbleibenden Teiles heraus.
Er erklärte dieselbe aus der Umstülpung des hohlen Gescho߬
teiles, welches infolge des beim Aufschlagen entstehenden
Druckes völlig wie ein Handschuhfinger umgekehrt wird.
So ein überzeugte sich von der Richtigkeit dieser Erklä¬
rung dadurch, daß er Versuche mit Kugeln anstellte, deren
Hohlraum mit verschiedener FWrbe und ein gravierten Zeichen
vorher versehen wurde. Die Farbe, sowie die eingravier¬
ten Zeichen fanden sich nach dem Schuß auf der Außen¬
seite des konischen Ueberbleibsels.
Trotzdem sind z. B. deformierte Spitzkugeln leicht zu
erkennen, da sich meist eine basale Delle und ein sie
umgebender Ring erhält, wie dies ja auch in unserem Falle
sichtbar war (Fig. 3a).
Nach dem Abprallen hatte das Projektil trotz der Ab¬
lenkung der Schußrichtung noch so viel Kraft, daß es eine
Strecke weit, entlang: dem äußeren Orbital rand verlaufen
konnte. Hiebei erhielt das weich gewordene Blei
den Abdruck des vorspringenden Knochenran¬
des. Diese Furche mußte eine leichte Drehung aufweisen,
da sich das Geschoß in rotierender Bewegung befand (siehe
Fig. 3 b).
Nach Wahl kommt bei Schüssen mit erlöschender
Kraft des Projektils fast nur die rotierende Bewegung des
Geschosses zum Ausdruck. Solche Projektile erzeugen daher
Erschütterungen und Quetschungen der Gewebe. Diese Er¬
scheinungen zeigte auch unser FAill, bei dem der Bulbus
deutliche Zeichen der Kontusion aufwies.
Trotzdem gelangte das Projektil bis unter die Con¬
junctiva bulbi, die eine besonders große Ausschußöffnung
zeigte. Nach Aufsaugen des Blntes und Rückgang der In¬
jektion zeigte die Umgebung der verheilten Wunde eine
schwärzliche Verfärbung.
Von Interesse sind die Kontusionswirkungen in der
Umgebung des Schußkanals, speziell die Erscheinmigen, die
der Bulbus zeigte.
Wie schon oben hervorgehoben wurde, konnte eine
Perforation der Sklera mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Welches ist die Quelle der Vorderkammerblutimg?
Blut in der Vorderkammer stammt häulig aus dem
rupturierten Sc hie mm sehen Kanal, aus zerrissenen Iris¬
gefäßen (Iridodialyse) oder Rissen des Ziliarkörpers.
Die Glaskörperblutung stammt aus geborstenen Netz¬
oder Aderhautgefäßen, auch aus Rißstellen der Aderhaut
und wird als indirekte Schußläsion beohachtet.
Sind wir nun wirklich berechtigt, diesen Bogenschuß
um die uneröffnete Bulbuskapsel als Konturschuß anzu¬
sehen? ^ ’
Praun spricht von solchen Schußverletzungen, ins¬
besondere zitiert er einen Falt von .Tolivet (1875, referiert
nach Michel-Nagel), bei dem ein Schrotkorn zwischen
Conjunctiva bulbi und Sklera den Bulbus, ohne ihn zu per¬
forieren, umkreist hat. Eingedrungen war dasselbe am
oberen Lid in der Höhe des Nervus frontalis.
Nach Zander und Geißler finden sich diese Kontur-
schüsse vorwiegend an der äußeren Seite des 'Augapfels
wegen der Konvergenzstellung des Auges, bei welcher die
äußere Bindehautflcäche der Verletzung ausgiebiger zugäng¬
lich ist.
Ich möchte den vorliegenden Fall als Konturschuß
der Orbita bezeichnen, weil der knöcherne Orbitalrand ma߬
gebend war für die von deih Projektil einzuschlagende
Richtung.
Die Fascia tarsoorbitalis hatte auf die Verlaufsrich¬
tung des Projektils keinerlei Einfluß, im Gegenteil hatte
letzteres noch Kraft genug, die Faszie zu durchbohren und
so unter die Conjunctiva bulbi zu gelangen.
Benützte Literatur:
Siehe Fischers Kriegschirurgie, Deutsche Chirurgie 1882,
17a und 17b. — Eduard v. Hoffmanns Lehrbuch der gerichtlichen
Medizin. Herausgegeben von Prof. Kolisko, 1903. — Praun, Die Ver¬
letzungen des Auges, 1899.
Referate.
Sammlung klinischer Vorträge.
Leipzig 1907, ßreitkopf & Härtel.
*
Nr. 441 (Gynäkologie 169):
Shakespeares Gynäkologie.
Von F. V. Wiiickel.
21 Seiten.
In zahlreichen Zitaten zeigt uns Winckel, daß; Shake¬
speare, der Zeitgenosse Harveys, Wiseman ns, Ambroise
Pares und Bacon v. Veriilams, ,,üher ein für die damalige
Zeit auffälliges und bedeutendes medizinisches Wissen verfügte;
daß er ferner offenbar bei der Darstellung von Befunden und
Vorgängen, die ihn besonders interessierten, vielleicht mit Hilfe
ärztlicher Freunde und Studiengenossen, sich auf das eingehendste
unterrichten ließ. Vor allem aber lernen wir aus seinen Werken,
daß er immer dem Grundsatz huldigte : Homo sum, liumani nil a
me alienum puto.“
*
Nr. 443 (Gynäkologie 161):
Neuere Bestrebungen auf’ dem Gebiete der exakten
Beckenmessung.
Von F. Ahlfeld.
15 Seiten.
Eine Widmung zu Kehrers 70. Gebuitslag.
Die große Mehrzahl der Instrumente zur direkten Mess ans
der Conjugata vera geht von der Idee aus, zuerst den Punkt
am Promontoi’ium zu fixieren und von da aus den Punkt an
der hinteren Symphysenfläche aufzusuchen; dies genau auszu¬
führen ist unmöglich, ohne den am Vorherge hestimmten Punkt
mit dem Finger wieder zu verlassen.
Ahlfeld ging von dem Gedanken aus, zuerst den Punkt
an der hinteren Wand der Symphyse mit dem Finger aufzusuchen
und zu hestimmen, dann dort das Instrument anzusetzen und
von diesem fixierten vorderen Endpunkte aüs das Promontorium
aufzusuchen. Das Instrument, S-förmig gebogen, kommt dicht
unter den Symphysenwinkel zu liegen. Die äußere Hand hält
durch einen Zug am Handgriff des Instrumentes das innere Ende
de.sselhen, das zu dem Zrvecke etwas abgeplattet ist, scharf gegen
die hintere Symphysenwand angezogen, während mit dem Zeige¬
finger der anderen Hand ein Seidenfaden, der durch das •[ristrument
hindurchläuft, gegen den Vorberg hin herausgezogen wird. Ein
Fingei'druck der äußeren Hand arretiert den Faden an der Stelle,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
wo er nach aiilJeii die llolilkaiiüle des liislrtinieides verliißl.
Nun kann der innere Zeigefinger wieder das Proinontoriuin ver¬
lassen und man zieht ihn mit dem Instrumente zugleich aus
der Scheide hei'aus. Streckt man nun den Finger und damit
den Faden, so zeigt die Entfernung der Fingerspitze his zur
äußeren Seite der kleinen Endplatte des Inslrunientes die Lkinge
der Conjugata vera, oder, wenn man will, der Ohstetricia, an.
Ahhilclungen erläutern das Instrument.
*
Nr. 444/5 (Gynäkologie 162/3):
Die Zystoskopie des Gynäkologen,
Von Leop. Thnmiin, Berlin.
33 Seiten.
In äußerst flüssiger Form und anregender Weise erörtert
Ferf. die Notwendigkeit und Vorteile der Zystoskopie in der
Gynäkologie an zahlreichen praktischen Beispielen eigener Er¬
fahrung und solchen aus der Literatur.
*
Geburtshilfe und Strafrecht.
V^on Dr. G. Radbriicli, Piivatdozenten der Rechte in Heidelberg.
34 Seiten.
Jena 1907, Fischer.
Um dem in medizinischen ebenso wie in Juristenkreisen
ernstlich gefühlten Mangel einer ausdrücklichen Rechtmäßigkeits¬
erklärung der Perforation (darunter versteht Verf. alle jene Opera¬
tionen, durch die das Leben der Frucht vernichtet wird, um
das der Mutter zu erhalten) ahzuhelfen, erörtert Radbruch
drei Möglichkeiten.
Die erste Aväre, sie durch die in ein künftiges Strafgesetz¬
buch vielleicht aufzunehmende Bestimmung über die Recht¬
mäßigkeit chirfirgischer Operationen zu decken. Die zweite l\Iög-
lichkeit wäre eine besondere Bestimmung über die Rechtmäßig¬
keit der Perforation. Eine solche Bestimmung würde uns folgende
Fragen auferlegen: die hinsichtlich des Zweckes (Bewahrung der
Mutter vor dem Tode? oder auch vor Siechtum?); zweitens hin¬
sichtlich des Verhältnisses der Perforation zu jenem Zwecke. (1st
sie rechtmäßig, nur wenn sie notwendig war zu jenem Zwecke,
oder schon, wenn sie überhaupt nur um seinetwillen vorgenommen
wurde? Muß sie das einzige, oder braucht sie überhaupt nur
ein Mittel zu jenem Zwecke gewesen sein?) Drittens hinsicht¬
lich des Subjektes der Perforation (soll sie nur Medizinalpersouen;
oder jedermann erlaubt sein?). Viertens hinsichllich iler Ein¬
willigung dei' Mutter (soll sie zur Rechtmäßigkeit der Perforation
erforderlich sein oder nicht?).
Sämtliche dieser Fragen wären aber leicht beantwortet,
wenn aus der Notstandsbestimmung des Deutschen Strafgesetz¬
buches (§ 54), welche Handlungen, ,,die in einem uiwerschuldeten.
auf andere Weise nicht zu heseitigenden Notstände, zur Rettung
aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leih oder Leben des Täters
oder eines Angehörigen begangen worden sind“, deckt, die Be¬
schränkung des Nothilferechtes auf Angehörige gestrichen würde.
Nach diesem modifizierten Wortlaut wäre die Perforation
rechtmäßig nicht nur, wenn sie die Mutter vor dem Tode, sondern
auch vor dem Siechtum bc'wahren soll; sie müßte das einzige,
das notwendige Mittel zur Rettung der Mutter sein; sie würde
aber auch die von einem Laien vorgenommene Perforation, wenn
sie indiziert war, rechtfertigen (dies erscheint dem Verfasser
unbedenklich, so lange die Gewerbefreiheit auch für das ifeil-
gewerbe gilt l). Schließlich würde es nicht der Einwilligung der
Schwangeren zu dem Eingriffe hedürfen — was allerdings ver¬
schiedenen Einwendungen begegnen kann. Doch könnte durch
einen Zusatzparagraphen eventuell die Zustimmung dei' Mutter
für erforderlich erklärt werden.
Die Mittel zur Verhütung der Konzeption. Eine Studie
für Aerzte und Geburtshelfer.
Von Haus Fordy.
In zwei Teilen: 1 Die Mittel; 2. Die Stellungnahme des Arztes gegen¬
über dem Verlangen der Konzeptionsverhütung im Volke.
175 Seiten, 8. Auflage.
Leipzig 1907, S p o h r.
Tm orslen, umfangreicheron Teile bespricht Fei'dy die
Dignität der veiscduedenen anlikonzei)tionellen Mittel und Ma߬
nahmen; in erster Linie empfiehlt er den G(d)rauch verläßlitduu-
Kondoms. Im zweiten Teil spricht sich der \'erfasser für das
weitestgehende Eidgegenkomnven des Arztes gegenüber den Ver¬
langen nach antikonzeptionellen Mitteln aus.
Die sachlichen Erörterungen des Verfassers, wehdier bekannt¬
lich Laie ist, sind von solchen i)olemischer, vehementester Natur
unterhroclien ; oder letztere bilden vielmehr den Hauplh(*standt(Ml
der beiden Hefte. Wenige unter den namhaften Gynäkologen
der letzten Jahrzehnte kommen ohne Beschimpfungen davon. Es
genügt dem Referenten, ein in dem Buche ahgedrucktes Zitat
zu wiederholen, welches aus einem g(“gen Fei'dy gerichteten
Vorträge eines reichsdeutschen Kollegen stammt. Es lautet: ,,Die
Besprechung der antikonzejdionellen Mittel nach Indikation, Wert
nnd Anwendungsweise gehört mit zum Lehrthema der Frauen¬
heilkunde und sollte auch in den betreffenden Lehrfächern eine
besonders eingehende Würdigung erfahren, auf daß wir Aerzte
nicht vor Scham rot werden über die Schund- nnd Schand-
literatur Unberufener.“
*
Der plazentare Stoffaustausch in seiner physiologischen
und pathologischen Bedeutung.
Von E. Kehrer, Heidelberg.
Würzburger Abhandlungen, VH, 2—3.
73 Seiten.
Würzburg 1 907, Stüber.
Ein mit außerordentlichem Fleiße verfaßtes, sehr übersicht¬
liches Sammelreferat, welches dem, der über einschlägige Fragen
arbeiten will, die ausgiebigste Orientierung bietet. Das Literatur¬
verzeichnis umfaßt 462 Nummern.
Reformen in der Therapie des engen Beckens.
Von Dr. C. Baiscli, Tübingen.
Mit 16, zum Teil farbigen Kurventafeln.
160 Seiten.
Leipzig 1907, T h i e m e.
Die interessante, von dem Standpunkte, daßi das Kind das
gleiche Recht auf Lehen habe wie die Mutter, ausgehende Arbeit
ist die gi'ößte nach der bekannten, den Z w e i f e 1 sehen Stand¬
punkt vertretenden Publikation Krönigs. .
Entgegen den meisten statistischen Arbeiten über die Gehurt
beim engen Becken hat Baisch das Problem der zweckmäßig¬
sten Therapie heim engen Becken in folgende Einzelfragen auf¬
gelöst :
1. Wie groß ist die kindliche Mortalität, wenn die Geburt
streng exspektativ, nur im Interesse der IMutter geleitet wird?
2. Wie groß, ist die Häufigkeit der Spontangeburt hei dieser
ausschließlich die Mutter berücksichtigenden Gehurtsleitung ?
8. Wie vejschieht sich die Mortalität und Morbidität von
Mutter und Kind, wenn in dies streng ahwartende Verfahren,
das nur Sjiontangeburt und Perforation kennt, hohe Zange, pro])hy-
laktische Wendung und künstliche Frühgeburt eingeschaltet wird?
4. Sind diese Operationen imstande, die Perforation des
lebenden Kindes zu ersetzen oder wenigstens einzuschränken
und den relativeti Kaiserschnitt, sowie die heckenerweiternden
Operationen zu umgehen?
5. ln welchem Umfange müssen wir vom Kaiserschnitt und
von der Hebotomie Gebrauch machen, wenn wir das ideal der
Geburtshilfe, auch das Kind in jedem einzelnen Falle zu retten,
erieichen wollen?
Die nach diesen Prinzipien detailliej't erfolgte Gegenüber¬
stellung großer Statistiken über Gehurtem hei engem Becken voni
Material der 1) ö der 1 e i n scheu untl anderer großen Kliniken
ergibt die Tatsache, daß' das ahwartende Verhalten, wie es
Litzmann, Michaelis und Spiegelherg gelehrt haben, den
anderen Methoden sicher übei'legen ist. Aber dort, wo die Alten
das Kind perforieren mußten, hat heute, wo uns alle Hilfsmittel
dei' Asepsis und Technik zu Gebote stehen, auch dem nngehorenen
Kinde das Recht auf Leben gewalut zu werden.
Die sogenannten prophylaktischen Methoden sind nur halhe
Methoden, die einer Zeit entstammen, wo man bestrebt war,
die Pei'foi'alion hdjender Kinder nach Tunlichkeit einzuschräidu'u,
zugleich aber auch die mütterliche Mortalität zu verringern.
Nr. 18
539
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
lleuk' ist uiisero Therapie — so sag! Hai sell —
cine kausale geworden : das enge Hecken wird geöffnet
oder umgangen. Hebolomie, Kaiserschiiitt aus relativer In-
dikalion und Syinphysioloinie gehen für die Mutter absolut
keine scblecldere Prognose, als die sogenannten propby-
laklischen Operationen. Die Konsequenzen der modernen geburts¬
hilflichen Bestrebungen lassen sich aber nicht mehr )nit der
alten Meinung vereinen, die Geburtshilfe sei die Domäne der
allgemeinen Ih'axis. Die Frau mit, engem Hecken gehört in die
vom fachmännisch ausgebildeten Geburtshelfer geleit(do Anstalt.
Die Arbeit zeichnet sich durch besondere Uebersicbtlichkeit
aus, wozu die zahlreichen Kurven tafeln beitragen. Der Verfasser
weih durch interessante Darstellungsweise den bekannt spröden
Sloff fesselnd zu behandeln. Seine Folgerungen sind entschieden
veiduhreriscb. Man muß jedoch den Einwand erbeben, daß, selbst
worn man Haischs Methode der Statistik als die richtige be¬
zeichnet, ein Vergleich der Erfolge verschiedener Kliniken unter¬
einander nie einwandfrei sein kann. Mau müßite an einer und
derselben Klinik große Reihen von Geburten nach den ver¬
schiedenen Prinzipien behandeln, um vollwertige Vergleichs¬
ubjekte zu erhalten.
♦
Handbuch der Gynäkologie.
Bearbeitet von Anton (Halle), Bumm (Berlin), Döderlein (Tübingen),
Franz (Jena), Fro m m e (Halle), Kleinhans (Prag), Koblanck
(Berlin), Küstner (Breslau), Menge (Erlangen), R. Meyer (Berlin),
Olshausen (Berlin), Pfannen stiel (Gießen), v. Ros thorn (Heidel¬
berg), Sarwey (Rostock), Schaffer (Berlin), Spuler (Erlangen),
Stoeckel (Berlin), Veit (Halle), Winter (Königsberg).
Herausgegeben von J. Veit, Halle.
Zweite, völlig umsearbeitete Auflage.
Wiesbaden 1907, Bergmann.
I. Band:
Franz, Die Verhütung der Infektion in der Gynäkologie; Küstner,
Lage- und Bewegungsanomalien des Uterus und seiner Nachbarorgane;
R. Meyer, Die Myome und Fibrome des Uterus; Veit, Aetiologie,
Diagnostik, Prognose, Symptomatologie der Myome; R. Schäffer,
Die elektrische Behandlung der Uterusmyome; Veit, Die palliative Be¬
handlung und die vaginalen Operationen der Ulerusmyome; Olshausen,
Die abdominalen Myomoperationen, Myom und Schwangerschaft.
Zehn Jahre sind seit dem Erscheinen der ersten Auflage
des Handbuches der Gynäkologie verstrichen. Wenngleich um¬
wälzende Entdeckimgen, fiiiidanieutale Neuerungen auf dem Ge¬
biete der Frauenheilkunde seit dieser Zeit nicht, zn verzei(dmen
sind, so sind doch namentlich in der Operationsteclmik zahlrei(die
Modifikationen angegeben Avorden, auch ist die einschlägige
Literal ur zu einem solchen Umfange' gediehen, daß eine N('u-
auflage des Handbuches ein Bedürfnis geworden ist.
Unter den Namen der Mitarbeiter vermissen wir )h(dit wenige.
Gebhard, Gessner, Löh lein und Viertel weilen nicht nu'br
unter den Lebenden. Fritsch, Frommei, Nagel und Winter¬
nitz haben ihre Kapilel abgegeben. Gleictnvobl sind die von
den genannten Ausscheidenden bearbeiteten Kapitel als Basis
für die beti'effenden Neubearbeitungen gedacht. Das alle Bcbema
der Einteilung des Stoffes soll in der Neuauflago -annähernd bei¬
behalten, neue praklisrdie Fragen, die besonders durch die
soziale Gesetzgebuirg aufgeAvorfen werden, sollen berücksiclitigt
AA'erden; für diese Kapitel ist auch die Mitarbeit eines Neurologen
gesichert.
Der erste Band liegt nunmehr im Umfange von fast 840 Seiten
vor uns.
Eine Abhandlung über Verhütung der Infektion in der Gynä¬
kologie eröffnet — Avie in der ersten Auflage — auch diesmal;
für Löhlein ist Franz eingelreten. Im Umfange ziemli(di gleich
der Löhleins ist die Abhandlung naturgemäß eine vollkommen
selbständige. Sie ist — was man bekanntlich bei diesem Thema
selten sagen kann — ganz außerordentlich flüssig, fesselnd und
inhaltlich dem modernsten Standpunkt entsprechend geschrieben.
Die Aveitei'en Bestrebungen, die Wundbeilung zu bessern, liege.n
nach Franz in der Richtung, die Sicherheit der Operalionen
unreiner Fälle zu erhöben und Verfahren zu erfinden, die die
Sebutzkräfte des Organismus gegen eindringende oder schon vor¬
handene Infektionserreger stärken könnten.
Küslners l\a|)il(‘l ist von Ißt) Sr'ilen auf im'bi’ als das
Doppelte angoAvaebsen. Die Anoi-dnung des Stoffes ist die gleiche
geblieben. Neu ist die Besprechung der intraabdominalen Drnck-
verhällnisse, in der die kürzlich publizierten Unlersucbnngen Hör¬
manns wieder-gegeben werden. Bei der Parametritis posterior
Avird auch die operative Behandlung angefübri. Die Torsion er¬
fährt eine ausfübrlichei’e Besjueebung. Zwei neueingefügte Bilder
illustrieren die durch peihnetriliscbe VerAvaebsuugen verursachte
Retroflexio fixata. Mil Entschiedenheit betont Küstner, daß bei
außerordentlich vielen Frauen das ,,Heer der hysterischen Sym¬
ptome“, Kardialgie, Globus, Klavus, Tachykardie usav. nach einer
metliodiscb durchgefübrten korrekten Behandlung eines gefnndenei)
Genitalleidens Amrschwindel, Avelches oft in einer ‘Retroversio
flexio besteht. Von Pessarien Averden solche aus Hartglas em¬
pfohlen. Noch energischer als früher Avendet sich Küstner gegen
1 ) 1 tr au t ei'i np essa r e .
Die — selbstverständlich ausführlicher bearbeiteten — Ab¬
schnitte über Alexander-Adams, Ventrofixation, Vaginäfixalion
haben Abbildungen erhalten. Auch der suprasymphisäre Querschnitt
ist natürlich schon angefülnd. Eine Illustration zeigt eine von
Küstner angegebene Vorrichtung zum aseptischen Gebrauch des
Paquelins. Eine Zusammenfassung und kritische BeAvertung be¬
schließt die Besprechung der verschiedenen (Jperations- und kon¬
servativen Methoden zur Fixation des Uterus. Neu ist ein um¬
fangreiches Kapitel über Betroflexio und -versio uteri gravidi.
In das Kapitel über Uterusprolaps sind zahlreiche photo¬
graphische Darstellungen einschlägiger Beobachtungen eingefügt
worden. Seinen Standpunkt in der Frage der Aetiologie des
Prolapsus hat Küstner nicht geändert. Auch bei der (»atbo-
logiscben Anatomie des Prolapsus und der Besprechung der Pro¬
lapsoperationen finden Avir zahlreiche neue Bilder. Daß bei der
Schau laschen Operation der Uterus prinzipiell mit Sebeiden-
schleimhaut überkleidet wird, ist Küstner entgangen. Die
Schauta sehe, We r t hei m sehe, und Fritschsche Operation er¬
fahren eine zusammenfassende Besprechung, ebenso Sclnvanger-
schaft, Geburt und MWchenbett bei Vorfall des Uterus und der
Scheide. Neu ist ein zehn Seiten langes Kapitel über die Lage¬
veränderungen der Aveiblichen Genitalien in ihrer Beziehung zur
Unfallsgesetzgebung. Bei der Besprechung der Wester mark-
scheu Operation finden Avir neue Bilder.
Abweichend von der ersten Auflage, in deren erstem Bande
im Anschluß au die LagcAmränderungen des Uterus die Erkran¬
kungen der Vagina, die Gonorrhoe und die Entwicklungsgeschichte
der weiblichen Geschlecditsorgane behandelt wurden, folgt auf
Küstners Kapilel in der Neuauflage ein Abschnitt über die
Anatomie und Histogenese der Myome von B. Meyer.
Früher von Gebhard behandelt, konnte dieser Abschnitt
keinen berufeneren Bearbeiter erhallen als R. Meyer.
Wenngleich kurz gefaßt und nur tlas Wesenlliche enthal¬
tend, ist dieses Kapitel dennoch um ein Drittel länger als das
Gebhards. Ini großen und ganzen ist die Anordnung des Stoffes
ähnlich der der ersten Auflage, obAvohl Meyers Bearbeitung
eine selbständige ist. Er stellt sich von vornherein auf ^lallorys
Standpunkt über die Nomenklatur und spricht nui' von (Myomen,
ignoriert die BindegeAvebswucherung geringen Grades oder kenn-
zciclmet eine solche höheren Grades durch den Zusatz ,,fibro-
plastisch“ oder ,, fibrös“. Er spricht ferner von ,,fibromatösen
Myomen“, ,, Myoma durum“, ,, Myoma molle“ und reserviert den
Ausdruck ,,Fibromyom“ für echte (Misch- und Kombinations-
gescIiAvülste. Bezüglich der Aetiologie äußert sich Meyer ab¬
lehnend gegen die Annahme, daßi die Gefäße hier eine besondere
Rolle spielen. Hinsichtlich der Adenomyome mußte sich Meyer
Avescntlich auf die Hauptpunkte beschränken, da eine eingehende
Würdigung dieser GescliAvülste nicht möglich Aväre, ohne den
Rahmen des Buches zu sprengen. Der besondere Standpunkt
Meye rs in dieser Frage ist bekannt.
Veits Kapitel (Aetiologie, Symptomatologie, Diaguoslik
und Prognose der Myome) ist Avenig verändert worden. Bei
der Aetiologie der Myome bat er seiner Zusammenfassung einen
Aveiteren Absatz hinzugefügt, in welchem er nochmals der erb¬
lichen Anlage und den frühzeitigen uterinen Erkraidcungen kli¬
nisch eine Prädisposition zur Myombildung zuerkennt; das ent¬
spreche dem anatomiseb geführten NacliAveis von der Bedeutung
kongenital abgesprengter oder im extranicrinen Leben aus ihrem
Zusaninienbang gerissener Keime oder Gewebsteile. Hiezu treti'u
WIENER KLINISCHE WüCllENSCllRlET. 1ÜÜ7.
Nr. 18
noch abnorme oder abnorm starke Reize als weiteix;
auslösende Ursache dazu.
Schaeffers elektrische Behandlung der Myome ist
von sechzig auf fünfzehn Seiten zusammengesclirumpft, ent¬
sprechend dem Umstand, daß diese Behandlungsart fast aus¬
schließlich historisches Interesse bietet. Auch das von Veit
bearbeitete Kapitel über palliative Behandlung und vaginale Myom¬
operationen ist gegenüber der ersten Auflage wenig verändert.
Döderleins Spaltungsprinzip wird bei der vaginalen Total¬
exstirpation warm empfohlen.
01s hausen bat seinen Beitrag um 60 Seiten vermehrt,
obwohl inhaltlich eigentlich keinerlei wesentliclie Aenderungen
vorgenommen wurden. Noch immer empfiehlt er für gewisse
Fälle die versenkte elastische Ligatur. Seinen Standpunkt in
der Frage der Enukleation präzisiert er dahin, daß er im großen
und ganzen die Enukleation auf junge Individuen beschränkt
wissen will, denen an Nachwuchs gelegen ist und wo anscheinend
ein einzelnes Myom vorhanden ist oder nur wenige und für die
Enukleation gut zugängliche Myome vorliegen. Olshausen
macht ferner auf die nicht seltenen, oft recht großen Fundus-
myoine aufmerksam, die, besonders auch, weil sie fast immer
solitär sind, sich vorzüglich zur Enukleation eignen. Üas Ver¬
fahren von Fan re wird für manche Fälle von kleinen und mittel¬
großen Tumoren ziemlich warm empfohlen. In der Frage über
das Zurücklassen der Eierstöcke nach Exstirpation des Uterus
spricht sieb Olshausen für dasselbe aus. Die elastische Dauer¬
ligatur wird ganz besonders für die seltenen, telcangiektatisclieji
Myome empfohlen. Die Methoden der abdominalen Totalexstir-
pation werden ausführlicher als in der ersten Auflage besprochen.
Statt der Kastration, welche Olshausen nicht mehr anvvenden
will, befürwortet er die atrophisierende Arterienunterbindung, die
nach seiner Ansicht lange nicht, die Anerkennung gefunden hat,
welche sie verdient. Vor der Hautnaht reibt Olshausen die
llautoberfläche mit Alkohol ab und sieht seither kaum noch eine
Eiterung der Stichkanäle.
Die Ausstattung! der Neuauflage ist als tadellos zu bezeichnen ;
nur der starke Glanz des Papieres wirkt störend.
*
Praktische Geburtshilfe für Studierende und Aerzte,
In zwanzig Vorlesungen von Prof. K. A. Herzfeld.
Zweite verbesserte und vermehrte Auflage.
Mit 154 Abbildungen.
448 Seiten.
Wien 1907, D e u t i c k e.
Als die erste Auflage von Herzfelds Geburtshilfe erschien,
wurde allgemein ein Buch freudig begrüßt, welches, ohne sich
in theoretische Details einzulassen, die rein praktiische Seite des
Faches in kurzer, außerordentlich übersichtlicher und klarer Weise
zur Darstellung brachte, ohne dabei irgendwie in die Klasse der
Kompendien eingereiht werden zu müssen. Nach nunmehr zehn
Jahren liegt uns die zweite Auflage des sympathischen L,ehr-
buches vor, welches Chrobak gewidmet ist.
Im großen und ganzen ,ist das Buch ziemlich unverändert
geblieben. Die Fortschritte der Wissenschaft sind entsprechend
berücksichtigt, so z. B. die Arbeiten von Peters und Spec.
Die Figuren 43 bis 84 sind neu. Die Schädeleinstellungen werden
im Phantom dargestellt, nicht wie früher im skelettierten Becken.
Die Resultate der Seil heim sehen Untersuchungen über den
Geburtsmechanismus erfahren — entsprechend dem Interesse des
Verfassers für dieses Kapitel — eine ausführliche Besprechung.
Bei der Therapie des Puerperalfiebers wird bereits das Paltauf-
sche Serum versuchsweise empfohlen. Die bildlichen Darstel¬
lungen der geburtshilflichen Operationen wurden durch iieue Auf¬
nahmen ersetzt, die im allgemeinen besser gelungen sind als
die alten. Im Kapitel ,, Eklampsie“ findet auch der vaginale Kaiser¬
schnitt als therapeutische Maßnahme Erwähnung, ln der Dar¬
stellung der Symj)hyseotomie sind keine Aenderungen vorgetioni-
men worden, dagegeji wird die Pubeotomie besprochen, welcher
Herzfeld sympathisch gegenübersteht. Auch der Frit sch sehe
quere Fundalscbnitt wird empfohlen. Bei den Komplikationen
der Schwangerschaft mit Erkrankungen wild auch die Blind¬
darmentzündung abgehamlelt. Leider wird das maligne Deziduoin
noch immer als eine sarkomähnliche Proliferation der Dezidua-
zellen definiert; auch wird die Möglichkeit einer primären Bauch-
höhlenschwangerscbaft noch immer zugegeben. Unter den Me¬
thoden der Frühgeburteinleitung fehlt die Hystreiiryse, dagegen
wird zum .Blasenstich die bekannte zugespitzte Gänsekielfeder
empfoblen.
Wenn auch in der Neuauflage die letztangefülirten Punkte zur
Kritik veranlassen, so müssen anderseits die bekannten Vor¬
züge des beliebten Lebrbuches aufs vollste anerkannt werden.
Dem Studierenden wird es in erster Linie von Wert, aber auch
dem praktischen Arzte als schnell orientierendes Nachschlage-
buch willkommen sein. Keil 1er.
Aus v/ersehiedenen Zeitsehriften.
230. (Aus Dr. Fromms Ambulatorium für Kinderkrank¬
heiten in München.) Zur Prophylaxe der I n f e k t i o n c n i n
(1 e n W a r t e r ä u m e n v o n K i n d e r a m b u 1 a t o r i e n. V''on Dok¬
tor Eugen Fromm. Zur Infeklionsverhütung in dem von F romm
aus eigenen Mitteln erhaltenen Kinderambulatorium hat er fol¬
gende Einrichtung getroffen. Er hat ein der Eingangstür seines
Ambulatoriums zunächst gelegenes, geräumiges Zimmer derart aus¬
gestattet, daß er in demiselben eine Anzahl von Zellen errichten
ließ, in denen bequem für ein bis zwei Kinder mit ihren Begleit¬
personen Platz ist. Die Hinterwände der zwei Zellreihen werden
durch die gegenüberliegenden Zimmerwände gebildet, die mit
Oelfarbe gestrichen sind. Die Seitenwände bestehen aus 1-80 m
hohen, mit Oelfarbe imprägnierten, spanischen Wänden. Die
Vorderwand ist zugleich Tür; sie ist durch ein Schnappschloß
verschließbar und besitzt in Zweidrittelhöhe ein Fenster, das
genügend Licht einläßt. Nach oben sind die Zellen durch einen
in steiler, schiefer Ebene ausgespannten, vom oberen Ende der
Türwand nach der Mauer bis zu einer Höhe von 2-50 m ziehenden,
dicht gewebten Nesselstoff, der auch die Fortsetzung der Seiten¬
wände bildet, gegeneinander und gegen den freien Raum des
Zimmers abgeschlossen, damit nicht durch den in die Hölu'
gehenden Luftstrom Infektionserreger im Zimmer verteilt wer¬
den. Zwischen den Zellen führt von der Zimmertür aus ein
Gang zum Fenster, wo die Inspektion dos Patienten erfolgt. Zur
Mund- und Racheninspektion dienen dem Verfasser Mundspatel
nach Escherich und Pirquet. Jede ankommende Partei er¬
hält von der Wärterin eine Messingblechmarke mit Nummer,
neue Patienten werden sofort in das Isolierzhnmer gewiesen
und Verf. oder sein Assistent unverzüglich benachrichtigt. Das
Kind wird inspiziert und falls Masern, Diphtherie, Keuchhusten,
Schafblattern konstatiert werden, in die betreffende Zelle ex¬
pediert. Leichte Anginen und andere, nicht sofort erkennbare,
fieberhafte Krankheiten kommen in die Beobachtungszelle. Für
Scharlach hat Verf. keine eigene Zelle, weil ja diese Krankheit
die Kinder sofort bettlägerig macht. Wenn die Nummer eines
mit einer der genannten Infektionskrankheiten behafteten Kindes
fällig ist, wird dasselbe in das von den anderen Kindern in¬
zwischen geräumte Ordinationszimmer eingelassen. Die nächst¬
folgende Partei darf erst kommen, Avenn die vorige außerhalb
des Ambulatoriums ist, die Untersuchungspolster mit Sublimat-
lösimg abgewischt und die Mäntel der Aerzte gewechselt sind.
— (Münchener mediz. Wochenschrift 1907,' Nr. 2.) G.
*
231. Ueber einen Fall von Mydriasis mit Ilebe)'-
gang in Myosis bei Beugung des Kopfes. Von H. Coppez.
Die subjektiven Beschwerden der 19jährigen Patientin bestehen
darin, <laß sie bei der Beugung des Kopfes einen heftigen stechen¬
den oder ziehenden Schmerz im linken Auge empfindet. Die Unter¬
suchung zeigt, daß die linke Pupille größer ist, als die rechte
und sich in der Dunkelheit weniger erweitert. Die Konvergenz¬
reaktion ist bei Enifernungen von 25 cm an beiden Pupillen
annähernd gleich, mit geringer Verspätung der rechten Pupille,
bei Konvergenz für Enifernungen von Aveniger als 25 cm Averdoi,
beide Pupillen gleich. Linkerseits ist der motorische Pupillen¬
reflex, soAvie die Reaktion aiif KonAxu’genz und Akkommodation
herabgesetzt. Es ist die* Annahme einer spastischen Mydriasis
des linken Auges durch Reizung der Sympathikusfaseru der Bu-
pille begründet. Besonders bemerkensAAX'rl ist die Enistelumg aus¬
gesprochener linksseitiger IMyosis bei Beuigung des Kopfes. B('i
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCIlEiNSCHRIET. 1907.
5il
Wiederkehr in die aufrechte Haltung dauert die Myosis noch zehn
Sekunden an, dann erweitert sich die Pupille immer mehr und
nimmt nach 35 Sekunden ihre früheren Dimensionen an. Die
Pupille des rechten Auges zeigt unter den gleichen Bedingungen,
normales Verhalten. Nach Einträufelung von 2*^/oiger Kokainlösung
erweitert sich die linke Pupille rasch und es tritt beim Beugen
des Kopfes dann keine Myosis auf. Sonst erfolgt an der linken
Pupille bei Beugung des Kopfes ein Uebergaiig von spastischer
Mydriasis in paralytische Myosis, der Schmerz wird durch die
plötzliche Kontraktion des Sphinkters hervorgerufen. Der Aus-
gaugspunkt des Phänomens ist am Hals oder im oberen ßrustraum
zu suchen, da die Erscheinung bei Lageverä.nderung der Hals¬
organe auftritt. Als hauptsächlichste Ursachen sind Vergrößerung
der Schilddrüse, Lymphdrüsenschwellung und Aneurysmen an¬
zuführen. Die radioskopische Untersuchung ergab in diesem Falle
das Bestehen einer multiplen Lymphdrüsenschwellung, besonders
im hinteren Mediastinum, wahrscheinlich durch Tuberkulose be¬
dingt, mit Verschiebung der Aorta nach links. Bei der Beugung
des Kopfes erfolgt Kontraktion der Sternokleidomastoidei, wo¬
durch die vergrößerten mediastinalen Lymphdrüsen gegen den
Sympathikus gedrängt vmrden und durch Kompression dieiLeitung
unterbrechen. In der Literatur ist ein analoger Fäll von IMyosis
bei Flexion des Kopfes nicht beschrieben. Therapeutisch leistet
die Anwendung von Kokain gute Dienste, weil danach bei der
Beugung des Kopfes die schmerzhafte Kontraktion des Schließ.-
muskels der Pupille ausbleibt. — (Journ. med. de Brux. 190t),
Nr. 49.) a. e.
232. Z u r F r a ge der I m p o t e n z t h e r a p i e. Von S. W. K o-
lomojzew, Kasan. Als richtige Vorbedingung jeder Therapie
der Impotenz betrachtet Verf. ein vertrauensvolles Zusamnien-
arheiten von Arzt und Patient. Verf. rät für einige Zeit nicht
nur die Enthaltung vom Koitus, sondern, Avenn möglich, von
weiblicher Gesellschaft üherhaupt; an Stelle dessen soll ästheti-
tische Zerstreuung, Besuch Amn Konzerten, Theatern usav. treten,
sofern sie den Patienten nicht ermüden und ihm nicht den Schlaf
rauben. Weiters empfiehlt er regelmäß'ige Spaziergänge in frischer
Luft, blande Diät Usav. Freiluftbäder Avirken nach den Erfahnmgen
KolomojzeAvs besser als Wannenbäder. Eis Averden nun AÜer
sehr gut beobachtete Fälle beschrieben, in denen die Impotenz
rein funktioneller Natur, ohne jedAvede organische Grundlage
Avar. In sämtlichen vier Fällen waren auch deutliche Symptome
allgemeiner Neurasthenie vorhanden. Nach Einleitung des oben
beschriebenen Regimes, das in jedem einzelnen Falle individuell
modifiziert, bzAV. ergänzt Avurde, besserten sich Avohl die Sym¬
ptome der Neurasthenie, ohne daß jedoch die Impotenz gebessert
AAUirde. Dies trat erst ein, als Verf. Muiracithin aiiAvendete, Avelches
sichere Wirkung zeigte. Zur Illustration dessen, daß das Mnir-
acithin nicht Avahl- und gedankenlos bei jeder Art von Störung des
KohabitationsAmrmögens anzuwenden ist, sondern nur dort, avo
es sich um herabgesetzte Ereklionsfähigkeit handelt, führt Ver¬
fasser zAvei Fälle von Ejaculatio praecox an, in Avelchen durch
das Muiracithin die Symptonie insofem verschlechtert, als die
Erektionen der beiden Patienten häufiger und anhaltender Aviirden.
Aid“ Grund seiner Erfahrungen hält KolomojzeAV das Muir¬
acithin für ein Spezifikum zur Hebung der Libido sexualis. —
(Praktischeskij Wratsch 1906, Nr. 48.) J. Sch.
*
233. Ueber pendelnde Lipome des Sinus traus-
versus pericardii. Von Dr. Theodor Struppler. Ob Herz-
gescliAvidste als solche, seien es intramuskuläre, endokardiale
oder perikardiale, ein eigenes Krankheitsbild hervorrufen, hallen
viele Autoren für ausgeschlossen. Dies ist nm so scliAvieriger,
wenn, Avie in dem vom Verfasser mitgeteilten Falle, mehrein
pathologische Prozesse den Herzbefund komplizieren, Jiämlich :
Dilatation des Herzens, schwielige Aortitis mit Aneurysmabitdung
und zAvei je hühnereigroße, pendelnde Lipome. Es handelt sich
um einen 62jährigen Ingenieur. Die Anamnese vom 21. Juni 1906
ergibt: heftige Schmerzen im Rücken beim Sitzen und Gehen,
BeAAmgungen der Wirbelsäule fast unmöglich; viel Husten, Atem¬
not, Auswurf, in den letztcui Tagen Fieber, Schwellung der Beine,
erscliAvertes Gelien. Im .fahrt' 1901 linksseitige Rippenfelletdzüii-
dung, Entleerung von 1100 enP Exsudat. Status : Zyanose, Oedeme,
spontaner und Druckschmerz cter Brust- und Lendeinvirhelsäule,
beiderseitige Lungentuberkidose. Herz nach rechts und oben ver¬
größert. Leber der Mitralis und Pnlmonalis langes, systolisches
Geräusch. ZAveiter Pulmonalton akzentuiert. Herzaklion regel¬
mäßig, Puls 86 bis 90. Leber und Milz vergrößert. ITemor der
Arme und der Zunge, tm Urin Spuren von Ehveiß, roichlicl)
Urobilin, kein Zucker. 22. Juni: Temperatur 39-4®, Puls 108.
Zunahme der Dyspnoe. Parese des rechten Beines. 24. .Tuni:
Komplette Paraplegie. Unruhe, Delirien, leichte Nackensteifheit.
29. Juni: Exitus durch Respirationslähmung. Klinische Diagnose:
Tuberculosis pultnon. clironica, Miliartnherknlose (?), Spondy¬
litis. Akute, aufsteigende Myelitis. Meningitis. Hypertrophie und
Dilatatio cordis. Aus dem Obduktionsbefund sei nur der sehr
seltene Befund am Herzen erAvähnt: Nach Eröffnung des Herz¬
beutels sieht man in demselben von der Anheftungsstelle des
Perikards am Herzen ZAvei große Tumoren von gelber Farbe hin¬
einragen, die Avie enorm Amrgrößcrtie Herzohreii den größten Teil
der Ventrikel bedecken; sie sind am Sinus transversus pericardii
fest fixiert und nehmen hier ihren Ausgangspunkt in Form einer
breiten Brücke. Beide Tumoren haben fast Keilform, nach unten
spitz zulaufend. Der rechte ist von Hühnereigröße, der linke
Avenig kleiner. Die Tumoren bestehen aus FettgeAvehe. Das Herz
in beiden Ventrikeln erweitert, Klappen intakt, Aorta sclnvielig
verändert, erweitert. Anatomische Diagnose: Allgemeine Miliar¬
tuberkulose, Karies des dritten BrustAvirbelkörpers, des zAveiten
und dritten LendeiiAvirbels, Senkungsabszeß rechts. Akute, auf-
steigende Myelitis. Chronische Endaortitis thoracica mit Dila¬
tationsaneurysma in der Pars ascendens. Große Lipome des Peri¬
kards USAV. Ob nun die konstatierte Dilatation des Herzens auf
Rechnung des Aneurysmas oder auf die Adhäsivi)leuritis zu setzen
ist oder oh dieselbe im Zusammenhang; steht ,mit den zAvei ab¬
norm großen Lipomen, kann Verf. nicht mit Sicherheit entscheiden.
Für die Entstehung der Lipome läßt sich nach Auffassung des
Verfassers nur eine kongenitale Anlage annehnieii. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 10.) G.
*
234. (Aus der königlichen Universitätspoliklinik für ortho¬
pädische Chirurgie in Berlin.) Therapeutische Sauerstoff¬
einblasungen in das Kniegelenk. Von Dr. LudAvig R a u e Ji-
busch, Assistenten. Zur besseren Diagnostik haben Werii-
dorf und Robinsohn (1905) die Gelenke mit Sauerstoff ge¬
füllt und dann Röntgenbilder hergestelll. Hoff a und Wolleii-
berg haben den erforderlichen Sauerstoffapparat verbessert. An
obgenannter Poliklinik A\mrde nun beohachtet, daß an chronischen
Entzündungen des Kniegelenkes leidende Personen einige Tage
nach der Einblasung eine Wiederholung derselben wünschten,
da ihre Schmerzen erheblich nachgelassen hätten. Nun Avurden
die Sauerstoffeinhlasungen in therapeutischer Absicht in Fällen von
chronischer Arthritis und Arthritis deformans vorgenommen und
ausnahmislos günstige Resultate erzielt. Die Besclnverden der
Kranken nahmen meist schon nach der ersten, bei anderen nach
der zAveiten oder dritten Einblasung ab, nicht nur in leichteren,
sondern auch in schwereren Fällen. Bei strenger Asepsis ist
das Verfahren ganz ungefährlich, es ist einfach und wenig schmerz¬
haft. Man sticht eine dünne Kanüle an einer beliebigen Stelle
des Gelenksspalties, oder in den oberen Rezessus' ein und füllt
das Gelenk prall. Nach ein bis zwei Tagen ist der Sauerstoff
aus dem Gelenke gescliAvunden. Nach ein bis drei Wochen Avird
die Injektion Aviederholt. Das Verfahren Avurde auch bei einigen
Fällen von Synovialtuberkulose in AnAAmndung gehracht. Mit einer
dickeren Kanüle Avurdo der Erguß ahgelassen und dieselbe Kanüle
zur Füllung des Gelenkes mit Sauerstoff benützt. Kein Verband.
Die Schmerzen sclnvanden auch 'in diesen Fällen meist schnell
und der Erguß verkleinerte sich, resp. blieb aus. Der Verfasser
teilt nun fünf Krankengeschichten über Fälle von Arthritis defor¬
mans, Gonarthritis chronica mit und sagt, daß die schnellen
Besserungen meist nicht von allzu langer Dauer seien, daß die
Einblasungen nach Wochen Aviederholt Averden mußten, tm ersten
Falle innerhalb eines halben Jahres zehn Sauerstoffeinhlasungen,
zeitweilig Heißluftbäder und Massage, 'sehr guter Erfolg; Röntgen-
hefund Unverändert. Eine Beeinflussung der knöchernen Wuche¬
rungen, dei- Kapsel- und Synovialveränderungen ist nicht
unmittelbar zu erAvarten, das ganze Verfahren ist vor-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
liUilig rc‘iu oinpiriscli l)Og)'üiidel, kann abor g] 'ichwolil cin-
pfohlon weiden. Das Verfahren kam auch in di ?i Fällen von
Kniegelenksluhmkulose (Krankengeschichten) in Anwendung. Suh-
jeklive Hessei'ung, giinslige Beeinflussung des Ei'gusses. Im ei'ston
Falle k(dn Erguß, nach fünf Einhlasungen, seil einem hallxm
.lahre keine Behandlung; in den zwei anderen Fällen Erguß we-
senllich verringert, nach zehn, res)). atdil Einhlasungen, Behand¬
lung wird fortgesetzl. üh damil eine definitive Heilung der Syno-
vialtuherkulose zu erzielen sein werde, müssen weiter.'' Versuche
lehren, lloffa hat ein Hämarlhus imnkliert und das Kniegelenk
prall mit Sauerstoff gefüllt und man könnte diese rein mechanisclu“
Wirkung der Siiannung und Entfaltung der Kapsel vielleicht nach
einer gewaltsamen Spannung fibröser Ankylosen benützen, um
eine Wiederverwachsung zu verhindern, indem man alle' drei
his vier Tage einhläst. Freilich dürfte dahei die Kapsel nicht
eingerissen sein, da sonst der Zweck der Einblasung nicht er¬
reicht Averden würde. Verf. stellt schließlich weitere Mitteilungen
über diese (Methode in Aussicht. — ■ (Berliner klinische Wochen¬
schrift 1907, Nr. 18.) E. F.
*
285. (.Vus dem Eahoratorium der inneren .Vhteilung des
städtischen Krankenhauses Altona.) Die Beziehungen des
(i ly kok oils zur Harnsäure. Von Dr. E. Hirsclisteih,
Hamburg. Glykokollausscheidungen finden sich vorzüglich nur hei
drei pathologischen Zuständen: bei der Leukämie, hei der Bneu-
nionie in der Kidse und hei der Gicht, deren einzig Gemeinschaft¬
liches die Harnsäure bildet. Glykokoll ist also möglicherweise in
diesen Fällen kein Spaltprodukt eines Eiweißköriiers, sondern
der Harnsäure. Dr. Hirschstein ging nun von diesem Ge¬
sichtspunkte aus und macdite experimentelle Studien auf Grund
folgender Feherlegung: Ist das Glykokoll wirklich ein Spalt¬
produkt der Harnsäure, so müßte es möglich sein, durch <dne
Feherschwemmung des Organismus mit Harnsäure, hzw. Harn-
säurehildnein experimentell eine Glykokollausscheidung im Harne
hervorzurufen, anderseits müßten sich hei den genannten Krank¬
heiten gesetzmäßige Bedingungen zwischen Glykokoll- lind Harn-
säureaiisfuhr ergehen. Tatsächlich konnte der Verfasser in allen
Fällen im Haiaie der Versuchspersonen Glykokoll nachweisen als
Folge von Harnsänrezufuhr iier os. Im allgemeinen gehen Glyko¬
koll- und Harnsäureausfuhrzahlen, wie aus heigefügten Tabellen,
lesp. Kurven ersichtlich, einander parallel. Nicht so bei Insuffi¬
zienz der Harnsäure ausscheidenden Kräfte (Gicht), wo die Harn¬
säure im Blute zurückgehalten wird und dafüi' das intermediäre
.\hhauprodukt Glykokoll im Harne- erscheint. Im Gichtanfall tritt
plötzlich gewaltsam Harnsäureenlladung ein, dafür verschwindet
wieder das Glykokoll aus dem Harne. Wenn auch nicht in jedem
Falle von Gicht Glykokoll im Harne gefunden wird, so ist sicher
der umgekehrte Schluß gerechtfertigt, daß, wo ohne sonstige Fr-
sache Glykokoll vielleichl noch in Verhindung mit (*inem auf¬
lallend niedrigen endogenen HarnsäureAvert auftritt, mit hoher
Wahrscheinlichkeit die Diagnose ,, Gicht“ gestellt Averden kann.
Die experimentelle Hervorrufung einer Glykokollausscheidung
heim Gesunden durch Harnsäure- und Nukleinzufuhr, die geselz-
niäßigen Beziehungen des Glykokolls zur Harnsäure unter patho¬
logischen Verhältnissen, dazu die v()n Wiener und Schitten-
helm erhobenen Glykokollhefunde hei der iturcli Grgantermente
heAvirkten Harnsäurezersetzung lassen keinen ZAveifel aufkommen,
daß das Glykokoll ein Spallprodukt der Harnsäure ist und daß
auch in der Norm der Harnsäureahhau über die Glykokollstufe
geschieh 1. — (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und The¬
ra [)ie 1907, Bd. 4, H. 1.) K. S.
♦
28G. Feber eine neue Formel des graui'u Oi'les.
Von L. Oueyrat. Das graue Oel bildet in neuesler Zeit den
Gegensland mehrfacher .\ngiiffe, doch ist nicht das Medikament
seihsl, sondern die gehräuchliche .Methode der Anwendung anzu-
sidmldigen. .Man bedient sicdi gewöhnlich eines grauen Oeles A'on
solcher Zusammenselzung, daß es hei 15° feste Konsistenz besitzt
und vor der Anwendung im Wasserhade auf 8ü° erhitzt Averden
muß. Diese Prozedur hat den Nachteil, daß das Quecksilber sich
niederschlägt und die unlerste Partie des Gefäßes, Avenn nicht
gut dui-chgeschül l(*li Avird, <'ine exzessive .Mimge von Quecksilber
milhäll. Wenn man das Gid'äß, Avie es manclumij geschiehl, zur
\ erflüssigung des Inhaltes in siedendes Wasser taucht, so ist die
Präzipitation des (fuecksilhers noch slärker. Die Fntersuclumg hat
in einem derartigen Fall gezeigt, daß' die oberste Schichte des
in 4()”oiger Konzenlration zuhereiteten grauen Oeles IS"», die
unterste Schichte ()5'’o Quecksilber enthielt. Zur Verhülung der
Präzipitation emiifiehlt es sich, ein graues Oel herzuslellen, Avelches
schon hei 15° flüssige Konsistenz aufweist. Die Empfehlung der
bei 15° festen .Mischung beruhte auf der Voraussetzung, daß da¬
durch Embolien verhütet Averden und die Stabilität der Mischun.g:
geAvährleistet erscheint. Die Gefahren der Embolie sind hei zwei¬
zeitiger Injektion des grauen Oels überhaupt nicht, vorhanden
und das Ziel der Stabilität der Mischung Avird nicht erreichl,
Aveil schon eine Erhitzung auf 80° hinreicht, um eine Präzi¬
pitation des Quecksilbers herheizuführQU. ^Es empfiehlt sich rlie
.-liiAvendung einer Mischung, die aus 40 g Quecksilber, 1314 g
reinem, slerilisiertem und Avasserfreien Lanolin und 46Va g Oleo-
naphthin, einem reinen, in seiner Dichte stets gleichhleihenden
Vaselinöl hergestellt wird. Dieses graue Oel ist homogen und
zeigt bei 12° beginnende, bei 15° vollständige Verflüssigung, eine
Präzipitation des Quecksilbers tritt nicht ' ein. Die Injektionen
dieses grauen Oeles Averden sehr gut vertragen und rufen keine
Präzipitation des (luecksilhers hervor. Die Prozedur des Er-
Avärmens fälll. Aveg, ebenso die Gefahr von Int.oxikalion infolge
des zu starken Q)uecksilberge]ialtes eines Teiles der Mischung.
— (Bull, et Mein, de la Soc. nied. des Hop. de Paris 1907,
Nr. 5.) a. e.
*
287. (Aus dem kgl. Krankenhaus zu Glasgow.) Eine Ope¬
ra I i o n s m e t h od e zur Behandlung des Prolapsus ani
und innerer Hämorrhoiden. Von David NeAvman. Das
Prinzip der Oiieration besteht in der Verschorfung von sechs
parallel liegenden Streifen der Rektalschleimhaut. Jeder dieser
Streifen ist vier Zoll lang und Ve bis V4 Zoll breit. Die Operation
Avird mittels folgenden Instrumentes aüsgeführt: Ein S])ekulum
hat in seiner WTind sechs parallele, längsgestellte Fensterchen ein¬
geschnitten. Die Länge eines jeden beträgt Ader Zoll, die Breite
(4 his Vg Zoll. In das Spekulum paßt ein Obturator hinein, der
einen Handgriff hat. Der Patient Avird narkotisiert, in Stein¬
schnittlage gebracht, das Spekulum mit dem darin liegenden Ob¬
turator in das Rektum eingeführt. Ist das Spekulum ganz ein¬
geführt, so Avird der Ohlurator entfernt. IMan sieht letzt hei
entsprechender Beleuchtung, Avie durch die sechs Fenster des
Spekulums die (Mastdarmschlehnhaut in das Lumen des Spekulums
hineinquillt. Hierauf AAurd an einem langen Stiele eine Scheibe
in das Spekulum geschoben, um die durch die proximale Speku-
himöffnung in das Lumen A'orquellende Schleimhaut vor Ver¬
schorfung zu schützen. Nun Averden mittels eines Thermokauters
die sechs Schleimhautstreifen A'erschorfl. Sollte sich das Spekulum
dabei allzusehr erAvärmen, so kann os ZAvi, sehen je zwei Ver¬
schorfungen durch einen Strahl kalten Wassers irrigiert Averden.
Nach beendeter Operation sieht man sechs schmale Sl reifen von
verschorfter Schleimhaut, deren Oherfhüdie ungefähr in gleicher
Höhe mit der Innenfläche des Spekulums liegt. Jetzt Avird die
gestielte Scheibe enlfernt, ein (Morphinsuppositorium eingeführt
und das Rektum mit Vaselinegaze austamponiert, so daß ein
Stück derselben aus der Analöffnung herausragt. Die Nachbehand¬
lung besteht in kleinen Opiumdosen per os und sehr kleinen
Nahrungsmengen durch eine WMche. Der Tampon bleibt, so¬
lange er keine Besclmerden Am rursacht, liegen. Nach Ablauf einer
Woche Avird ein Laxans gereicht. Verf. sieht die VTirteile seiner
Methode in folgendem: Der Patient leidet Aveniger als hei anderen
Methoden. Die Kauterisation Avird ausgeführt, Avährend die
Schleimhaut und die Muskulatur sich in einem annähernd nor¬
malen, gegenseitigen Lageverhältnis befinden. Die Adhäsionen
zwischen Schleimhaut und Muskelschicht sind einerseits aus¬
gebreitet, anrierseits hesteht keine Gefahr einer Striktur des
Bektums, da die Narben longitudinal gestellt sind. Da ferner die
.Vnalgegend durch den untersten, nicht gefensterten Teil des
Spekulums geschülzt ist, so Avird der Sphincler ani nicht in
Mith'idenschaft gezogen. Verfasser beohachtete auch nie Sepsis
oder Harnslöningen, ehensoAvenig machte der ersle Stuhlgang
nach der Operation Avi'senlliche BeschAverden. Rezidive der
innermi I lämonhoid'Mi oder di's Prolapses tralen nii' auf. -
(Lancet, 22. Dezember 190Ü.) J. Sch.
r. 18
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCIIRH'T. 1907.
54H
238. I'd) 0 1' ;i II I) () le a a S 1 r i k I. u re ii d e r Jla r n r ö h ce.
\ on Prol. Dr. ( . J'osac'r in Dci'liu. Neben der aagelioreaeii
Verengerung am Orificiiim nrelbrae, .der hochgradigen Phimosis,
der kongeniialen FaUenhildung in der Fossa navieulaiis kommen
auch an der ladK'rgangsslelle zwischen der Pais indhosa und
meniliranacea, an <ler klassischen Stelle der ervvorhenen Siriklur,
allerlei Veränderungen, ahnorme Klappenbildungen, sodann auch
wirkliche angeborene Verengerungen der Harnröhre vor. Ver¬
fasser teilt die in der Literatur' niedergelegten Deohachtungen,
sodann einen Fall eigener Erfahrung mit. Ein elfjähriger Knabe,
hat. Schaj'lach iiherstauden, eikrankte 1905 unter Ersclic'inungen
der Pyelitis; heftige Schmerzen in der reidden Nierengegend,
Trübung des Urins, Harndrang; einmal starke Hämaturie; diese
schwand, der eitrig getrübte Urin enthielt aber immer etwas
Blut. Verdacht auf Nderenstein. Höntgenuntersuchung und Pal¬
pation vom Rektum aus ergaben keine positiven Anzeichen dafür.
Die Untersuchung Posners ergab viel Residualharn (1100 cnr\
trüb, stark eiterhaltig), heim wiederholten Katheterisieren analoge
Befunde. In der Bulhusgegend ein ziemlich leicht zu übeiwindemles
Hindernis. Einführung immer stärkerer Katheter, Blasenspüluug ;
gVhiiahme der Menge des Rcsidualharnes, der Harn wird klar,
das Drängen hört auf, das Kind wird entlassen, mit der Weisung,
daß die Katheterisierung noch durch längere Zeit fortgesetzt wer¬
den möge. Posner sieht den Fall als den einer angeborenen
Harnröhrenstriktur an, glaubt nicht, daß die Striktur etwa durch
<tic Scharlacherkrankung hervorgerufen worden sei (Fehlen von
Zystitis und Urethritis), führt die Hämaturie auf eine luimäre
Pyelitis zurück (Nierenbeckenhlutung), indem es bei der llarn-
staiiung zu einer endogenen Infektion der rechten Niere gekommen
war. In der H u f e 1 a n d sehen Gesellschaft, in welcher P o s n e r
seinen Vortrag hielt, teilten die DDr. Frank und Mankiewicz
je einen Fall mit. Im ersten Falle bestand Phimose und punkt¬
förmige Verengerung des Orificium externum, nach dei'en Spal¬
tung im mittleren Drittel der Harnröhre eine ringförmige, binde¬
gewebige Striktur konstatiert wmrde. Der 12jährige Junge hatte
vor sechs Jahren Scharlach i'djerstanden, ebenfalls einmal eine
ludtige Hämaturie gehald, die nicht zu erklären Avar und von
selbst sistierte. Der Urin war istets klar. Da ein Trauma und
eine Infektion ausgeschlossen sind, zieht Frank den überstan¬
denen Scharlach als ätiologisches Moment heran. Eine Striktur
hei einem Envachsenen führte er auf eine Influenza zuiück,
ghudd, daß diese und andere schwere Infektionskrankheiten (wie.
Typhus, Cholera, Diphtherie) als ätiologische Momente fi'ir derlei
Strikt Liren (sicherer Ausschlußi jeder Infektion) angesehen werden
können. — IMankiewicz herichtete über den Fall eines 2tljäh-
rigen Mannes. Seit fünf bis sechs Jahren häufige Enuresis, keine
richtige Ejakulation, im Bulbus eine Striktur. Niemals eine In¬
fektion, überhaupt vor der Verheiratung niemals' geschlecldliclien
Vmkehr gehabt. Katheterisierung, voller Erfolg. Im Schlußwort
sagte Posner, er habe in seinem Falle den Scliarlach nicht als
ätiologisches Moment beschuldigt, weil aus der Zeit des Schar¬
lachs und aus der unmittelbar uachfolgenden Zeit ideht die ge¬
ringste Affektion des Urogenilalappara.tes beobachtet wurLhv
Immerhin wird man in Zukunft allen diesen Verhältnissen eine
erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden müssen. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1907, Nr. 13.) E. F.
*
239. Ueher die Klassifikation der Psychosen,
insbesondere der p e r i o d i s c h e n . Von Dr. F r. Geist in
Zschadrass. In einem in der Versammlung der mitteldeutschen
Psycdiiater und Neurologen im Oktober 190(1 gehaltenen Vortrage
zeigte Geist zunächst, daß wir bisnun in der Psychiatrie mit
den einzelnen psychiatrischen Krankheitstypen, einheitliche, uns
allerdings noch fast vollständig unbekannte Krankheitsvorgänge
bezeichnen. Wie die verschiedensten Krankheitsprozesse eine
Anzahl gleicher Symplomenkomplexe hervorbringen, so kann der
gleiche Krankbeitsvorgang vielgestaltige klitdsche Zustandsbilder
zeitigen, so daß die heutige Psychiatrie nur mit Hilfe anderer
Faktoi'en, wie Aetiologie, Verlauf, Prognose etc. die psychischen
Zustandshilder zu einer Klassifikation derselben verwerten kann,
(übt es auch jetzt schon eine Anzahl von Geisteskrankheiten,
die ihre Siedlung als einheitliche Krankheilsvorgänge uidiestreit-
har liehaupten können, so ist immerhin noch die Klassifikation
der IGyediosen (dmu’ drr wundeshm Punkte' eler wisse*nschafl-
lie'he'ii l^sye-luatrie'. Geist wemh't sich scbließlie-b be'sonders elen-
jenige'ii Kratd<be'ilslyi)en zu, eieren Klassifikalie)n eine e'inlie'itlicbe
Auffassung neicb nicht erfahren bat, uiile'r ibnem beseindei's eh'r
Grupiie eler pc'iiodise-hen Psychosen. Es bamlell sieb um e'inen
Krankheilsvorgang, eler klinisch in dem essentie'llen pe'rioelischen
Irresein zum Ausdruck ke)mml. Uharakterisieit elure'b liesonderen
periodischen VeiJauf, verhältnismäßige Gulai'ligkeit und elurch.
ziemliche Gleichheit, der Anfälle, Irill es in der manisch-ele'])ressiven,
paranoiden und katatonen Foiin aiuf. Geist siniclil dann imch
ülxu' die Mania sinijilex, die er elem akuten halluzinatorischen
Irresein an die Seite stellt und über die verschiedenen Formen
der Denietdia ])raecox. ln einer Reihe chronisch verlaufender
Psychosen sieht er chronische Formen akuter Geistesstörungen.
— (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gericht¬
liche Medizin, Band 64, Heft 1.) S.
*
240. Ueher R e a k t i o n s p h ä n o m e n e i n d e r J' h e r a p i e.
Von R. Lepine in Lyon. Ein in den Organismus eingeführtes
Arzneimittel oder Gift erzeugt daseihst eine Reaktion und es
kommt hei allen therapeutischen Bestrehungen wn'sentlich auf
die Hervorrufung einer nützlichen Reaktion an. Auch hei der
Serumtherapie liegt nicht nur einfache passive Immunisierung vor,
man beobachtet z. B. nach der Injektion von Diphtherieheilserum
Veränderungen im Knochenmark mit Bildung zahlreicher kern¬
haltiger Erythrozyten. Auch nach Immunisierung mit virulenten
Bakterienkulturen oder sterilisierten Toxinen wird eine lebhafte
Reaktion der hlulhildenden Organe beobachtet. Auch die in einem
Heilserum enthaltenen Antikörper rufen im Organismus wieder
die Bildung von Antikörpern hervor. Wenn man einem Hunde
mehr als die Hälfte des Blutes entzieht und durch die gleiche
Menge physiologischer Kochsalzlösung ersetzt, so erreichen die
Erythrozyten nach 16 bis 20 Tagen etwa normale Zahl u. zw.
rascher, als wenn man dem Tier sein eigenes defihriniertes Blut
oder das Serum eines Tieres der gleichen Art injiziert hätte.
Bei einer Patientin mit 1,875.000 Erythrozyten im mnU und
40O> Hämoglobin, hei Avelcher Arsen und Subkutane Injektionen
von zitronensaurem Eisen ohne jeden Erfolg angewendet worden
waren, genügte eine einmalige Injektion von 400 cm^ 0-7®'oiger
Kochsalzlösung, um eine zur Heilung der schweren Anämie
führende Reaktion einzuleiten. In der Literatur findet sich ein
Fall von scliwerer Anämie, wo die Arsenhehandlung erfolglos
war, dagegen die Anwendung von Röntgenstrahlen die gi'mstige
Reaktion dei’ blutbildenden Organe bewirkte. In gleichem Sinne
ist die Heilwirkung des Aderlasses hei Anämien zu deuten. Be¬
merkenswert ist die ganz beträchtliche Steigerung der glykolyti-
schen Würkung des Blutes nach Aderlaß und Infusion von phy¬
siologischer Kochsalzlösung. Die intravenöse Injektion von phy¬
siologischer Kochsalzlösung übt eine abschwächende Wirkung auf
die Infektionen mit Kolihazillen und andere Infektionen, zum
Beispiel Pneumonie. Doch können die Kochsalzlösungen dort,
wo bereits Retention von Chloriden besteht, schädigend Avirken.
Die fermentartige Wirkung der Metalle im kolloidalen Zustande
ist bei verschiedenen Infekliousprozessen mit Erfolg verAverlet
Avorden. Bemerkenswert ist die Würkung eines organischen Fer¬
mentes, des Invertins, Avelches die Ausscheidung der Purinkörper
mit dem Haiai und die glykolytische AVirkung des Blutes lieträcht-
lich steigert. Aus den angeführten Tatsachen geht hervor, daß
auch nicht spezifische Agenzien eine gegen Infektionsprozesse
Aviiksame Reaktion hervorzurufen imstande sind und daher dort,
Avo spezifische Agenzien noch nicht zur Verfügung stehen, ver¬
sucht AAmrden sollten. Es gibt aber allerdings auch Fälle, avo der
Organismus nicht mehr imstande ist, die Reaktion zu i'iberstehen.
So trat in einem Falle Amn schwerer Anämie, Avelche bisher fieber¬
los verbilden Avar, nach Injektion von 5 enU einer 3Toigen Lösuug
von zitronensaurem Eisen Fieber auf, zu dem sich Dyspnoe und
Delirien hinzugesellten, Avorauf in kurzer Zeit Exitus erfolgte.
Es ist sehr Avahrscheinlich, daß die an sich nicht große Dosis
des Eisensalzes eine Reaktion JierAmrgemfen hat, die der Orga¬
nismus nicht mehr übersli'hen konnte. — (Sem. med. 1907, x\r. 5.)
a. e.
VVIL^NER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 18
241. (Aus dt!in Sl. Barlholouiew-HospiUil.) Zur KcMinluis
(l(*r A rleriosklcM’OSc. Von W. J\ Horringliam. Die Größe
der arteriosklei'oliscdien Veränderungen ist Ijei den verschiedenen
Körperarlei'ien versehiedeJi. So werden die Arterien der Niere
und Milz tiäufig und in tiolieni Grade, die der Leber und Äluskeln
selir selten sklerotisch verändert gefunden. Verf. schreibt an¬
haltend hohem Blutdruck eine wichtige ätiologische Rolle für
die Entstehung der Arteriosklerose zu. Er fand hei postmortalen
Ihitersuchungen von Individuengruppen, die nach Dekaden ein-
geteilt waren, — mit dem 20. Lebensjahre beginnend — daß
die Arterien nicht nur konlinuicrlich unelastischer, sondern auch
kontinuierlich weiter wurden. Für die Behandlung kommen in
Betracht; allgemeine Regelung der Lebensweise, Medikamente und
Diät. Einer regelmäßigen, individuell angepaßten Körperbewegung
und dem Frühaufstehen Avird eine wichtige Rolle zugeschricbcn.
Von Medikamenten werden Jodide und Nitrite empfohlen. Be¬
sonders gut soll der tägliche Crebrauch von Kalomel — in nicht
abführenden Dosen von Va bis 1 Gran täglich und perioden¬
weise — wirken. Von Milchdiät hat Verf. gute Erfolge gesehen,
doch tritt er dafür ein, daß bei einzelnen Fällen auch ein mäßiger
Fleischgenuß zu gestatten sei. — (British medical Journal,
12. Januar 1907.) .1. Sch.
+
242. 0 V o g a 1, ein neues Cholagogum. Von Doktor
A. Rahn in Dresden. Ovogal, durch Bindung der Säuren der
frischen Rindergalle an Eiweiß hergestellt, soll nach Versuchen,
die im Berliner pathologischen Institut an Fistelhunden an¬
gestellt wurden, eine hervorragende, gallentreibende Wirkung
haben. Letztere wird auch durch Beobachtungen Prof. Zinns
bei einer Gallenfistelpatientin bestätigt. Das Ovogal Avird als
loses Pulver, soAvie in Gelatinkapseln ä 0-5 g in den Handel
gebracht. Um sich von der Unschädlichkeit des Mittels zu über¬
zeugen, probierte es Verf. zunächst an sich selbst. In relatiAr
hohen Gaben a-oii 1 bis iVs Teelöffel während des Frühstücks
Avirkte es appetitanregend und insbesondere stuhlbefördernd. Dar¬
aufhin prüfte er es an ca. 30 Fällen seiner Praxis. Zunächsti
in zAvei Fällen von Gallensteinkolik ließ Verf. dreimal täglich',
einen Teelöffel Ovogal nehmen. Es kam bald zum Nachlassen
der Schmerzen ohne Morphium und zur Anregung des Stuhl¬
ganges. Bei Darmkatarrhen, bei chronischer Obstipation, bei typi¬
schen Hämorrhoidalbeschwerden mit unausstehlichem Zwängen
und Drängen AAmrden durch Ovogal, dreimal täglich eine Messer¬
spitze, die Besclnverden behoben. In einem Falle von mittel-
scliAAmrem Diabetes Avurde durch Ovogal eine appetitanregende
und stuhlbefördernde Wirkung erzielt. Der Zuckergehalt des
Urins ging von l^.o auf 0-2 °/o herab, ohne daß die Lebensweise
geändert Avorden AAnäre. In zwei Fällen von Magendarmkatarrh
mit Salzsäureüberschuß schAvanden durch Ovogalgebraiich die
(ßiäfenden Sensationen, das Aufstoßen, Völlegefühl, das Sod¬
brennen und das Spannungsgefühl über dem ganzen Abdomen.
Bei drei Patienten mit chronischem Leberkatarrh, mit starker
Vergrößerung und Druckempfindlichkeit der Leber, init lästigen
StuhlbeschAverden Avurde nach Avenigen Ovogalgaben (dreimal
einen halben Teelöffel) eine Besserung und nach längerem Ge¬
brauche eine völlige Beseitigung der Beschwerden erzielt. Bei
Neurasthenikern, chlorotischen Alädchen gelang: es dem Verfasser,
die Stuhlträgheit vollkommen zu regulieren. In zwei Fällen von
katarrbaliscliem Ikterus traten die subjektiAmn Erscheinungen durch
Ovogal (vier- bis sechsmal am Tage eine Kapsel) kaum zutage.
— (Müncbener medizinische Wochenschrift 1906, Nr. 10.) G.
*
243. Aus der Heidelberger chir. Klinik (Vorstand : Geh. Bat
Prof. Dr. Czerny, Exz.). Zur Frage der Naht bei Patella¬
frakturen. Von Dr. Richard Lewisohn. Seit 1878 bis 1905
kamen in der Heidelberger chirurgischen Klinik 40 Patellafrakturen
zur Behandlung, Aren Avelchen 26 Fälle einer Nachuntersuchung
unterzogen wurden. Von diesen Avaren 18 konservativ, acht opera¬
tiv behandelt Avorden. Von den 18 konservativ behandelten (Heft¬
pflaster, FixationsAmrhände, Massage, BeAvegungs- und Geh¬
übungen) konnten bei acht Patienten ein ,,v o rz ü g 1 i c h e s“ Dauer¬
resultat festgestellt werden, trotzdem in sechs Fällen nur eine
fibröse und keine knöcherne Vereinigung der Fragmente besteht.
Bei sieben Fällen ist das Dauerresultat ,,mäßig“ oder ,,mittel“.
in drei Fällen ,, schlecht“. Unter den acht operativ beliandelton
(Naht der Patella meist mit Silberdraht in Allgemein- oder Lumbal¬
anästhesie, ohne Esmarchsche Blutleere) Avurde ,,ein vorzüg¬
liches“ (u. ZAV. trotz deutlicher Dehlszenz der Fi'agmente, infolge
Durchsclineiden des Drahtes), zAvei ,,sehr gute“, zwei „gute“,
drei ,,sch lochte“ Dauerresultate festgestclit. Aus dieser Zu¬
sammenstellung ergibt sich, „daß für das Gesamtresultat die feste
Vereinigung der Fragmente keineswegs die Hauptrolle spielt“.
Die Patella scheint für den Gelenksmechanismus nicht die große
Rolle zu haben, AAÜe das von Auelen Seiten angenommen Avird;
und in Hinsicht auf das Dauerresultat ist daher die Verletzung
des Bandapparates (Quadrizepssehno, Lig. pat. inf. etc.) von
mindestens ebensogroßer Bedeutung, Avic die Verletzung der Pa¬
tella selbst. Verf. hält die Patellanaht für geAvisse Fälle (starke
Diastase, Kantung der Fragmente, starker, auf konservative Mittel
nicht zurückgehender Bluterguß', komplizierte Fraktur) indiziert,
erklärt aber den Slandpimkt, prinzipiell jede Patellarfraktur
zu nähen, für ungerechtfertigt; nach den Nachuntersuchungen
der Heidelberger Klinik verdient die konservative Methode keine
so s lief mütterliche Behandlung, wie sie ihr in den Publikationen
der letzten Jahre fast ausnahmslos zuteil geworden ist.
(v. Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 1906, Bd. 52, H. 1.)
F. H.
♦
244. (Aus dem pathologisch-anatomischen Laboratorium der
k. k. Krankenanstalt „Rudolf-Sliftung“ in Wien.) Ueber d'tui
0 r t d es beginnen d e n E i av 'C i ß' a b b a u e s im gefütterte n
und hungernden Organismus. Von Dr. Ernst Freund.
Wo und Avie aus den Eiweißkörpern die ersten Zerfallsprodukte
entstehen, darüber mangeln uns Amllkommen die Kenntnisse. Nach
den Untersuchungen von V oit und Pflüger allerdings entwickelte
sich die herrschende Lehre, daß der EiAveißkörperabbau zu den
untrennbaren Lebensfunktionen gehöre, 'doch sind die näheren
Modalitäten dieses Abbaues ganz: unklar geblieben. Dr. Freund
suchte nun durch seine Versuche (im Vereine mit Dr. Toepfer,
Dr. F. Kraus, Dr. Neck er und Dr. Baum garten) diese Ver¬
hältnisse zu klären, indem er an einzelnen Organen Durchblutungs¬
versuche machte, um aus der Untersuchung des durchgeleiteten
Blutes zu ersehen, ob und Avie die Eiweißköiirer abgebaut wurden.
Faßt man die Resultate dieser Arbeiten zusammen, so ergibt
sich nach Freund, daß die bisherigen Ansichten, daß die Zellen
die Eigenschaft besitzen, das ihnen im Blute zugeführte Eiwei߬
material abzubauen, unrichtig sind. Nur Avenn der Darm in die
Durchblutung eingeschaltet Avird, finden sich die Vermehrungen
der Eiweißabbauprodukte u. zav. in geringem Grade, wenn Hunger¬
pfortaderblut durchgeleitet Avurde, in reichlicherem Grade bei Be¬
nützung von gefüttertem Pfortaderblut. Die Benützung von
anderem als Pfortaderblut, Beifügung von fremdartigem Blute,
auch inaktiviertem Blute, von Globulinen, von Wittepepton bleil)t
ohne Einfluß auf den EiAveißabbau der in denselben enthaltenen
Eiweißkörper. Die Abbaufähigkeit des Pfortaderblutes beruht auf
dem Gehalt an EiAveiß'resorptionsprodukten aus dem Darme, die
unter normalen Verliältnissen größ'tenteils in koagulierbare Form
und der Pseudoglobulinfraktion angehörig vorhanden sind. Es
nötigt dies zur Annahme, daß auch im Hunger aus dem Blute
in den Darm EiAveiß ausgeschieden Avird, das in gespaltener
Form Avieder zur Resorption gelangt. Der Darm stellt den Ort
dar, Avo nicht nur das EiAveiß in leichter resorbierbare Form ge¬
bracht Avird, sondern auch der erste und nach Umständen auch
der größte Teil jenes dem Energiehedürfnisse dienenden EiAveiß-
abbaues vor sich geht, den man bisher den Zellen des Organis¬
mus zugeAviesen bat. Das Vorkommen der reichlichen Fäulnis-
und Fett-, soAvie der Eisen- und Kalkmengen im Hungerdarme
und Kote lassen es als sehr Avahrscheinlich annehmen, daß über¬
haupt zum ZAvecke vieler Abbauvorgänge das aus den Zellen an
das Blut abgegebene Material dem Darme behufs Abbaues zuge¬
führt Avird. — (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und The¬
rapie 1907, Bd. 4, H. 1.) K. S.
*
245. (Aus der Tübinger medizinischen Klinik.) Ueber die
Vasomotoren des Gehirnes. Untersuchungen am Tiere und
.Menschen von Dr. Olfried Müller und Richard Sieix'ck. Die
Frage na(di (hun V(MhaTidensein vor Gefäßnerven innerhall) des
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
545
Gi’hinies iiiul Riickeimiaiki's ist seit langer Zeit Gogonstatul aus-
geklehnter Kontrovcrseu luul nocli Lingclöst trotz zahlreicher He-
niühiingen, den enipirischen Nachweis für das Vorhandensein
von Gehirngefäßnerven zu erbringen. Verff. suchten der Saclie
näherzutreten u. zw. auf dem Wege verschiedener Untersuchung's-
methoden, nicht einer einzelnen, um erst dann nur aus den
ühereinstimmenden Resultaten verschiedener Äfethoden hindende
Schlüsse zu ziehen. So unlersuchten sie experimentell die Ver¬
änderungen der Ilirnzirkulation nach Sympathikusidurchsclmeidung
und -reizung und solche, die durch reflektorische Einflüsse oder
Arzneimittel bedingt waren und führten nach Möglichkeit auch
am Menschen entsprechende Versuche aus. Aus den Arheiteu der
Verfasser resultiert, daß es keinem Zweifel unterliegen kann,
daß die Gehirngefäße geradeso wie die der meisten anderen
Organe eine nervöse Seihsteuerung besitzen, welche imstande ist,
die Blutverteilung nach den jeweiligen lokalen ßedürfnisseji zii
regulieren. Doch ist diese reflektorische Regulierung nach vieler
Richtung hin anders angeordnet als in anderen. Körperprovinzen.
Während es für die Körperperiplierie sehr zahli'eiche kontra¬
hierende Gefäßreflexe gibt und nur in der Minderzahl primär
dilatierende, so ist es im Gehirne gerade umgekehrt, da hier
die dilatierenden Reflexe vorwiegen. Dies' scheint in der Tat
au(di sehr zweckmäßig eingerichtet zu sein, da so unter allen
Umständen gesorgt ist, daß die lebenswichtigen Zentren keine
Not an Blutziiflußi leiden. Die Auffassung einer rein mechanischen
Beeinllussung der Hirnzirkulation durch die Schwankungen des
arteriellen und venösen Druckes im allgemeinen Kreisläufe ist
mithin nicht mehr haltbar. Die physiologischen Verhältnisse sind
auf diesem Gebiete durch die Untersuebungen der Verfasser wenig¬
stens in großen Zügen geklärt und wird es die Aufgabe weiterer
Untersuchungen sein, die kraidvhafte.i Veränderungen der Gefä߬
reflexe zu studieren und diese für die Klinik nach diagnosti¬
scher, symjytomatologischer und therape'uliscber Seite hin nutz¬
bar zu machen. — (Zeitschrift für experimentelle Pathologie und
Therapie 1'907, Bd. 4, H. 1.) K. S.
flekrolog.
Albert Ritter v. Mosetig-Moorhof
geh. zu Triest 26. Januar 1838 — gest. zu Wien 26. April 1907.
Nemini sciens nociii
Prodesse qxiamphiribiis curavi.
M'enn das vulgäre: De mortuis nil nisi bene, an dem noch
oflenen Grabe der Menschen gleichsam als vorhauende Mahnung
an die versöhnende Wirkung des Todes erinnern soll, so hat es
dort seine Bedeutung verloren, wo wir einem Manne schmerz-
bewegt den Ahschiedsgruß widmen, dessen ganz(is Leljen und
Wirken einer milTeundlichen Gesinnung auch nicht den geringsten
Anhaltspunkt darhieten konnte, einem Manne, der sich durch
ein von aufopfernder Arbeit ausgefütltes Dasein, durcli reinste
Betätigung edler Menschlichkeit den Unbestrittenen Ansprueb auf
die allgemeinste Verebrung erworben bat. Es genügte, ihn auch
nur flüchtig kennen zu lernen, um ihm aufrichtig .zugetan zu
sein. Wenn man ihn so sah mit seinem sympathischen, milden
Zügen, so ungezwungen und ungesucht würdevoll in AVort und
Gebärde, für sich einnehmend durch seine so gefällige Erschei¬
nung, da hatte man auch das getreue Spiegelbild seines ganzen
W es(uis, das im besten Sinne des Wortes ein adeliges war.
Die narkoselose, traurige Zeit legte dem Cbirurgen die grau¬
same Notwendigkeit auf, seine Eingriffe unter dem schmerzvollen
Widerstände des Patienten auszuführen. Die Verhältnisse machten
den Chirurgen zum virtuoseu Schnelloperateur oder zum Bän¬
diger. Bt'ides blieb bei längerer Uehung nicht ohne Rückwirkung
auf die rein menschliche Seile des wundärztlichen Wirkens; die
Viiluosität entartete zum Selbstzweck und die Gewöhnung an
die Aeußeiungen des Schmerzes führte zur Abstumpfung. Alan
nannte nicht mit Unrecht einst die o])erative Heilkunde die Chirur-
gia crudelis und mancher rüde, wimdärztliche Typus aus jener Zedt
ragte noch in unsere Tage. v. Mosetig hatte in seinen Lehr-
lingsjahren noch reichlich Gelegenheit, solchen Typen zu be¬
gegnen, (hmen gegenüber seine Eigenart geradezu den Gegenpart
bildete; denn sein ganzer, zaj’t besaiteter innerer Mensch sträLd)tc
sich gegen die Rolle des kaltblütigen Bändigers. Er hatte eine
förndichc Hyperästhesie für den Schmerz der anderen und wenn
er in hervorragendem Maße die leichte Hand des Chirurgen be¬
saß;, so war auch dies ein charakteristisches Symptom seines
ganzen Wesens.
Er war Schüler und Assistent v. Diimreichers, des letzten
Wiener Repräsentanten der rein anatomischen Bichtüng in der
Chirurgie. Nebst v. Alosetig sind aus dieser Schule lu'rvor-
i'agende Äleister lu'rvorgegangen, wi(! Wenzel v. L i e n h a r t, Eduai'd
.Vlhert, Karl Nicoladoni • — jeder von ihnen <‘ine ausgeprägte
Individualität in der Geschichte der Chirurgie. Auch v. Alosctig
rei)räsentiert;e einen eigenartigen Typus. So meisterhaft er die
chirurgisclie Technik heherrschte, so schien ihm doch das chirur¬
gische Messer nur ein Notbehelf in der Therapie. Er war davon
durchdrungen, daß es für jede Krankheit auch ein Heilmitlel
gehen müsse. Sein ganzes Strehen war darauf gerichtet, es aus¬
findig zu machen; von solchen Gedanken schien er fortwährend
gefangen genommen. So kam er auch auf das Jodoform, das er
sofort erprobte, nachdem es durch Aloleschotts Aufsehen er¬
regende erste Puhlikationen bekannt wurde. Er verwandte es zu¬
nächst und vor allem als spezifisches Alittel hei chirurgischer
Lokaltuherkulose und glaubte tatsächlich ein Heilmittel geg(m den
tuberkulösen Prozeß gefunden zu haben, um nach und nach
zur Erkenntnis zu gelangen, daß es sich hei dessen günstigem
Wirkungen nicht um therapeutische Eernwirkungen handelte, daß
diese vielmehr durch die Beeinflussung der Gewebe am Orte der
Einbringung zu erklären waren. Die Billrothsche Schule hat
sich des Mittels warm angenommen und ihm bald zu allgemeiner
Verwendung in der Wundbehandlung verholfen, in der es sich
auch heule, in der aseptischen Aera, noch innerhalh seines In-
dikalionsgebietes behauptet. Es Avar eine merkwürdige Ueher-
raschung, als die bakteriologische Nachi)rüfung es erwies, daß
Jodoform als Antiseptikum im landläufigen Sinne des Wortes nicht
angesehen Averden konnte. Viele experimentelle, chemische und
histologische Nachprüfungen Avurden angestellt, eine ganze Litera¬
tur ist erstanden, um den scheinbaren Gegensatz zAvischen prak¬
tischer und theoretischer Erprobung aufzuklären. Ueher allem
Widerstreit der Aleinungen hleiht aber das große Verdienst v. Alo-
setigs unangefochten, die AVundbehandlung um ein höchst Avert-
volles Alittel bereichert zu haben.
Seine so ausgedehnte operative 'Tätigkeit auf dem Gebiete
der tuberkulösen Knochen- und Gelenkserkrankungen führten
ihn dann weiterhin zu einer eigenen Methode -der Behandlung
der nach den Operationen geschaffenen Knochenhöhlen. Der Ge¬
danke, daß man durch ein Ausfüllungsmittel, das sich organ iscli
in das Gewebe einfügen ließe, über das langAvierige Stadium
des allmählichen, durch die Granulationen beigestellten GeAvehs-
ersatzes himvegkommen könnte, hatte zu verschiedenen Versuchen
geführt, die mit teils festen, teils flüssigen Materialien das er-
Avünschte Ziel zu erreichen suchten. Die günstigsten AVirkungen
sah man nocli von Schedes feuchtem Blutschorf, v. Mosetig
verAvendete zu diesem ZAvecke eine Jodoformplomhe. Indem er
sich darüber klar Avunle, daß die Avichtigste Vorbedingung des
Haftens seiner Plombe in der suhtilsten Präparierung der Höhle
im Sinne der Blutstillung, der Asepsis und in der möglichst voll¬
kommenen Entfernung alles kranken GeAvehes gelegen sei, schuf
er zugleich auch die besten Chancen für die Erfolge seiner
Knochenoperationen als solcher. Eine Einheilung seiner Plomlie
im histologischen Sinne des AVortes erfolgte Avoid nur äußerst
selten; er seihst sah die Plombe nur als „Lückenbüßer“ au,
die in demselben Alaße als die organische Ausfüllung dm' Höhle
Amnstatten ging, nach und nach auch durch diese ersetzt Avurde.
.fedenfalls bietet tlieso seine Älethode manche nicht utiAvesentliche
Voi'teile, zum mindesten für die Nachhehandlung nach Knochen¬
operationen.
Das Problem der Tuberkulosebehandlung beschäftigte ihn
unausgesetzt. Flin Produkt dieser Bestrebungen Avar auch das
,,Teucrin“, ein Extrakt der trockenen Kräuter von Teucriuni Sc(yi--
diuni, vo}i dem er ähnliche AVirkungen erAvartele Avie vom Kocli-
schen Tuberkulin, ferner die Alilchsäure, die sich als .Vetzmittel
bei tuberkulösen Ulzeralionen der Schleimhäute, namentlich in
der Laryngologie als ebenso dienlich Avie allgemein gebräuchlich
erhalten hat.
Auch der Krehstherapie ist er nähergetreten. Er hoffte, die
Prolifei'ationsfähigkeit der GescliAvulslzelteii durch Imhihilion ihrer
Kerne mit Alethylenhlau zu zei-stören und so einen therapeutischen
Angriffspunkt für eine nichtoperative Krebshchandlung zu ge-
Avinnen. Er gab seine therapeutiscdien Ideen fast schon in statu
nascendi der Oeffentlichkeit preis, um möglichst viele Mitarbeiter
in seinen Bestrebungen zu gewinnen. Kein Wunder, wenn da auch
manches unterlief, Avas der d\j'itik nicht Stand hielt und seinen
Emartungen nicht entsprach.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
F,r war durch und durch Arzt. Sein Le])en bowc9:lc sich
zwisclien Krankenhaus und Süidierstube. Er schrieh als einer
der erfahrensten Kriegschirurgen — er hatte das Jahr 1866,
den dentscli- französischen Krieg, die liosnische Okkupation, den
serhiscdi - bulgarischen Krieg mitgemacht — seine Vorlesungen
über Kriegschirurgie nieder, ein in vielen Auflagen erschienenes
Buch über chirurgische Technik, entstammte seiner Feder, als
Mitbegründer und Förderer der Wiener freiwilligen .Rettungsgesell-
schaft verfaßte er ein vortreffliches Buch über die erste Hilfe,
ln den Fachzeitschriften las man immer wieder -seine lehrreichen
Aufsätze über die verschiedensten Themen der Chirurgie und
wenn er in der Gesellschaft der Aerzte das Wort ergriff, horchte
alles auf, denn man Avußte, daß von ihm Belehrung und An¬
regung zu erwarten war. So hat er immer strebend sich bemüht,
unermüdlich im Wirken, erfolgreich auch im Schaffen.
Er führte ein einsames Lehen. Doch einsam war er nicht
alleine. Ueherall hin begleiteten ihn auf seinen Wegen seine
auf das IMenschenwohl gerichteten Gedanken. So mag er sich auch
mit manchem ahgefunden haben, was ihm sonst am Herzen
lag. Nur auf seinem letzten Spaziergange, dort, dem Ufer der
Donau entlang, da hat ihm, dem Helfer in so vielen Nöten, in
seinen eigenen Nöten eine hilfreiche Hand gefehlt.
Er ist unsichtbar unseren Augen entschwunden, sein
Leih wird von den Wellen getrieben, unbekannt wo Und avo-
hin.' Die AÜelen, die ihn geliebt und verehrt, Averden seiner nicht
vergessen, auch AAmnn sein Körperliches für immer irgendwo im
Aveiten Weltenraume sich Amrloren hätte. Denn er hat sich durch
sein Wirken tief eingeprägt ins Gedächtnis seiner Zeitgenossen
und in der Geschichtie- seines Faches bleibt seinen Verdiensten
ein Ehrenblatt gesichert. Alex. Fraenkel.
Therapeutisehe Notizen.
Ueher Benzosalin. Von Dr. R. Freund. Der Verfasser
hat dieses Ersatzpräparat für Salizylsäure im Hansasanatorium
in Danzig an einigen Fällen Amrsucht und berichtet eingehend
über die damit erzielten Resultate. Benzosalin Avird im Magen
fast gar nicht gelöst, zerfällt aber im Darme leicht in seine
beiden Komponenten — die Salizylsäure und Benzoesäure — ,
es greift also den Magen nicht an, ruft auch selbst hei 4 g täg¬
lich kein Ohrensausen hervor. Er gab das Mittel vorerst l)ei
Herzgesunden, um dessen Einfluß auf das Herz zu studieren (Hin-
Aveis auf die ischädigende Wirkung aller sonstigen Salizylpräparaic
auf das Herz), sodann verabfolgte er es in Fällen Amn Neuritis,
chronischem Gelenksrheumatismus, lanzinierenden Schinerzen der
Tabiker, Polyneuritis und Schmerzen unbestimmter Art. Stets
machte sich die schmerzstillende Wirkung geltend. Einzelne
Kranke, Avelche nach Einnahme von Aspirin über Herzdruck,
Herzklopfen, starke ScliAveiße u. dgl. klagten, Amrtrugen dieses
iMittel besser, indem nunmehr keine Störung von seiten des
Herzens auftrat. In einer Arbeit aus der Klinik Leydens Avurde
Benzosalin als ein Salizylpräparat empfohlen, das niemals Stö-
ningen des Verdauungstraktes, der Nieren und des Herzens her-
Amrruft. Die in Danzig behandelten Fälle (fünf Krankengeschich¬
ten) erhielten 0-5 Benzosalin drei- bis sechsmal täglich in
Tablettenform. Das Mittel A\mrde selbst bei ausgesprochenen Herz¬
störungen gut vertragen. Es ist schließlich auch billig. — (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 9.) E. F.
Vermisehte Naehriehten.
Ernannt: Dr. Jaroslav 0 k u n i e av s k i zum Marine-Ober¬
stabsarzt und die Dr. Paul Schmidt und Dr. Robert Li oh in zu
Marinestahsärzten. — Im militärärztlicben Offizierskorps: Zu Oher-
stabsärzten I. Klasse: Dr. Bronislaus Majewski und Dr. Her¬
mann Widrich; zu Oberstabsärzten 11. Klasse die Doktoren:
Nikolaus Thomän, Konrad IMajeAvski, Franz Radey, Josef
S t r a § i r i b k a ; zu Stabsärz len die Doktoren : Lauibert G e r s 1 1 ,
Anton SkisloAvicz, LudAvig Hoffmann, Theodor Feßler, Karl
Wolfgang, 1141116101 Raschofszky, Leopold Deutsch, Albert
Latzei, Cyriak HlaArtcka. — Im landAvehrärztlichen Offiziers¬
korps: Zu Oberstabsärzten H. Klasse die Doktoren: Bernhard
Dub und Gustav Weil. — Prof. ScliAvalhe in Heidellierg zum
Prosektor am städlischen Krank(‘uha.us in Karlsruhe.
*
Verliehen: Der Orden dtu- Eisernen Krone HI. Klasse
den Oberstabsärzten DDr. : Adolf Spiegel, Franz Kosmelj
und Franz Jaeggh'; das Ritterkreuz des Franz - Joseph-
Ordens dem Stabsarzt Dr. Bruno Drastich und dem
Regimentsarzt l)r. Wladimir Michl; das Goldene Verdienst¬
kreuz mil der Krone: den Hegimentsärzimi : DDr. Eduard
Krall, Richard Pfeffers, Jakob Arzt, Gotllieb Eibichl,
Josef Reu s s, Wilhelm Fröhlich; aus gleichem Anlasse wurde
der Ausdruck der Allerhöchsten Zufriedenheit bekanntgegeben den
Regimentsärzten DDr. Ludwig Ritter Zapsky v. Zap, Stephan
Lengsfeld, Josef Huhka. — Dr. ined. G. Günther an der
Tierärztlichen Hochschule in Wien der Titel und Charakter eines
ordentlichen Professors.
Gestorben: Geh. Med. -Rat Dr. Hugo IM a g n u s a. o. Pro¬
fessor der Augenheilkunde in Breslau.
*
In der Zeit von Donnei-stag den 10. bis Sams lag den 26. Ok¬
tober inklusiAm 1907, AAÜrd in Breslau ein fortlaufender Zyklus
von Vorlesungen und praktischen Uehungen für Aerzte, in den
Instituten und Kliniken der Universität Breslau, stattfinden.
*
Aus dem S a n i tä t s b e r i c h t der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 15. Jahreswoche (vom 7. bis
13. April 1907). Lebend geboren, ehelich 660, unehelich 284, zu¬
sammen 944. Tot geboren, ehelich 62, unehelich 30, zusammen 92.
Gesamtzahl der Todesfälle 802 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 209 Todesfälle), an Bauchtyphus 9,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 25, Scharlach 5, Keuchhusten 5,
Diphtherie und Krupp 2, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 7,
Lungentuberkulose 138, bösartige Neubildungen 46, Wochenbett¬
lieber 2. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 34 (+ 13), Wochen¬
bettfieber 6 (-(- 6), Blattern 1 (-j- 1), Varizellen 71 (-|- 23), Masern 359
(-1--41), Scharlach 104 (-{- ßl)> Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 20 (-j- 15),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 72 (— 4), Keuch¬
husten 44 ( — 19), Tracliom 2 (-j- 2), Influenza 1 (-j- 2).
Eingesendet.
Vom Vorstände des Zentralverbandes der Balneologen
Oesterreichs.
Geehrter Herr Redakteur!
Wollen Sie so freundlich sein, folgende auf die in Nr. 3 der
Deutschen medizinischen Wochenschrift gebrachte Zuschrift des Herrn
Prof. Dr. H. Oppenheim bezügliche Erklärung in Ihr geschätztes Blatt
aufzunehmen. Oppenheim beabsichtigte durch seine Mitteilungen
vom standeswidrigen Benehmen einzelner Badeärzte einem Mißsiande
entgegenzutreten, was nach seiner Meinung generell nur durch seine
Brandmarkung in der medizinischen Presse geschehen könne. Wir
finden diese Absicht nur im Interesse aller Badeärzte gelegen und wenden
uns nur gegen die Bemerkung Oppenheims, daß es ihm nach seinen
Erfahrungen scheint, als ob die ihm gemachten Geschenkanbietungen
eine Gepflogenheit einiger in österreichischen Bädern praktizierenden
Aerzte wäre. Wenn Oppenheim eine solche Erfahrung gemacht
hat, so müssen wir sie als Tatsache hinnehmen, da er keine Unwahrheit
sagen wird; aber eine andere Frage ist, ob es nicht zu weit geht, bevor
man andere gangbare Wege versucht hat, sich an die Presse und sei es
auch nur die medizinische zu wenden, daß sie tadelnd und zurückweisend
eingreife. Es liegt dabei denn doch die Gefahr zu nahe, daß solche Aus¬
nahmsfälle in der öffentlichen Meinung verallgemeinert werden und dann
der Unschuldige mit dem Schuldigen in einen Topf geworfen werde,
insbesonders aber, daß die Badeärzte Oesterreichs gegenüber den deutschen
badeärztlichen Kollegen in einen gewissen Nachteil dadurch kommen,
daß man ihnen eher eine derartige Handlungsweise zutraut; semper aliquid
haeret. Wir brauchen wohl nicht erst zu versichern, daß ein derartiges
Geschenkanbieten durchaus nicht Sitte unserer österreichischen Kollegen
ist und von niemandem schärfer als von uns verurteilt wird.
Es wäre ein anderer Weg Vorgelegen, welcher noch immer, wie
es scheint, zu wenig ins Auge gefaßt wird. Wir haben in Oesterreich
ebensogut offizielle und andere Standesvertretungen wie in Deutschland
und speziell dürfte auch im Deutschen Reich, wo unser Zentralverband
der Balneologen schon öfters mit der Deutschen balneologen Gesellschaft
wissenschaftliche Kongresse abhielt, unsere Vereinigung nicht so unbekannt
sein. Wie unsere Aerztekammer, besitzt auch unser Verein — lokale
ärztliche Vereine finden sich übrigens in allen größeren Kurorten Oester¬
reichs — keine Disziplinargewalt, aber soviel moralische Kraft wohnt
dennoch unserer Organisation bereits inne, daß sie imstande ist, dem
gerügten Uebel zu steuern, wenn sie nur ‘von jedem Fall unter¬
richtet wird.
Das offene Schreiben Oppenheims wird den Diskussionsgegen¬
stand unserer nächsten Beratungen im Vereine bilden und sind wir
allen Aerzten, insbesonders denen mit akademischem Rang, dankbar,
wenn sie uns irgendwelche Mißstände im badeärztlichen Stande mit-
teilen, uns aber zugleich helfen, sie zu beseitigen. Kein Zweifel, es wird
intra muros gesündigt — aber man möge bedenken, auch extra muros!
— auf letzteres wollen wir indessen hier nicht eingehen. Es ist nicht
nur die Publikation Oppenheims, welche uns zu dieser Erklärung
veranlaßt, sondern auch die jüngst in der Münchner medizinischen
Wochenschrift erschienenen Eingesendet, welchen ähnliche Vorkomm¬
nisse zugrunde liegen und aus denen auch wieder hervorgeht, daß die
aufgeworfenen Fragen eine große Bedeutung besitzen und nicht von
einzelnen gelöst werden können, sondern von Organisation zu Organi¬
sation.
Für den Zentralverband der Balneologen Oesterreichs:
Hofrat Prof. Dr. W. W i n t e r n i t z m p., Obmann.
Dr. L. Wie k, m. p., Dozent der Balneologie, Vereinssekretär.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
5-47
Yerhandlnngen ärztlicher desellschaften und Eongreßberichte.
Oflizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 26. April 1907.
Gesellschalt für innere Medizin und Kinderlieilknnde in Wien.
Sitzung vom 18. April 1907.
llericlit über den III. Kongreß der deulscheii Röntgeiigesellschaft
in Berlin am 30. März und 1. April 1907.
Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden. 15. bis
18. April 1907.
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zn Berlin.
2. Sitzungstag 4. April 1907.
Aerztlicher Tereiu in Brünn. Sitzung vom 6. und 16. März 1907.
T NM ALT:
Der 24.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 26. April 1907.
Vorsitzender: Prof. Finger.
Scdiriftftthrer : Dr. v. Haberer.
Präsident Hofrat R. Chrobak teilt der Gesellschaft mil,
daß Gerüchte zirkulieren, die zu der schweren Besorgnis Ver¬
anlassung geben, daß Hofrat R. v. Mosetig durch einen Un¬
glücksfall betroffen worden sei, der seinem reichen Leben allzu
früh ein Ende setzle. Er gibt der Hoffnung Raum, es möge sich
doch eben bloß um Gerüchte handeln und v. Mosetig zur Freude
der ganzen Gesellschaft zurückkehren.
Der Vorsitzende Prof. Finger macht Mitteilung von dem
Ableben des Mitgliedes Herrn Dr. Severin Goldner, Sanitäts-
konsidentslellverlreters der k. k. Slaatsbahndirektion in Wien.
Die Mitglieder erheben sich ziim Zeichen der Trauer von ihren Sitzen.
Ferner berichtet der Vorsitzende über eine vom ärztlichen
Vereine im IX. Bezirke an die k. k. Gesellschaft der Aerzte er¬
gangene Eitdadung zu der am Donnerstag den 2. Mai 1907 irn
,, Hotel de France“, L, Schottenring, stattfindenden Plenarver¬
sammlung.
Dr. Alfred Saxl dcmonslnert ans dem orthopädisch-chirnr-
gischeu Ambulatorium des Herrn Prof. Lorenz eine Patientin
mit Crura vara. Von besonderem Interesse ist die hochgradige Fett¬
leibigkeit der Patientin ; obwohl erst acht Jahre alt, wiegt sie
über 44 kg bei einer dem Alter entsprechenden Korperlänge. Von
sechs Geschwistern der Patientin ist eine 16jährige Schwester
ebenfalls sehr dick, sonst weist kein Familienmitglied einen der¬
artigen Zustand auf. Abgesehen von einer Lungenentzündung
und Diplitheritis im vierten Lebensjahre war Pat. niemals krank.
Sie begann im ersten Lebensjahre zu gehen; bis dahin waren
ihre Körperproportionen normal.
Bemerkenswert ist noch, daß Pat. den peripheren Teil des
rechten stärker abgekrümraten Unterschenkels gewöhnlich mit dem
Fuß zusammen als Trittfläche benützt, indem sie das Bein ein
wenig außenrotiert, im Knie beugt und mit der äußeren Fu߬
kante auftritt; offenbar ist es ihr wegen der stärkeren Ver¬
krümmung des Unterschenkels beschwerlich, längere Zeit planti-
grad zu stehen. Bei bekleidetem Fuß wird dadurch eine hoch¬
gradige Klumpfnßbildung vorgetäuscht.
Die Korrektur der Verkrümmungen wird durch eine sub¬
kutane Osteotomie erfolgen ; auch nach Abnahme der Gips-
verhände wird Pat. zum Schutze gegen ein Rezidiv, das sich
unter dem Einflüsse der Körperlast unfehlbar einstellen würde,
Stützapparate erhalten.
Diskussion: Hofr. v. Eiseisberg: Ich möchte niir dar¬
auf aufmerksam machen, daß häufig derartige rachitische Diftor-
ndtäten spontan zur Ausheilung kommen können. Speziell in
einer ans der v. Bergmann sehen Klinik hervorgegangenen Arheil
ist auf diese Tatsache aufmerksam gemacht worden. Ich seihst
hin seilher viel vorsichtiger geworden mit der Indikation zu
chirurgischen Eingriffen hei rachitischen Difformitäten. Ich
möchte auch in dem eben vorgestellten Falle die Difformität nocli
idcht für ausreicherul halten, um daraus die Indikation zu einer
Osteotomie abzuleiten.
Dr. Saxl: Mit Rücksicht darauf, daß Patientin, wie erwähnt,
rechterseits habituell mit der Außenkante des Fußes auftritt und
sogar die Fibula zum Auftritt benützt wird, erscheint mir in
diesem Falle die Vornahme der Operation indiziert, um so mehr,
als das Kind bereits acht Jahre alt ist und die gewaltige Körper¬
last im Sinne der Vermehrung der Deformität wirkt.
Prof. V. Eisei sh erg: Gerade auf die Möglichkeit einer
spontanen Heilung solcher Fälle ist in der genannten Arbeit
aufmerksam gemacht. Ich kann natürlich im vorliegenden Falle,
in Anbetracht der Schwere und Dicke der Palienlm,
nicht entscheiden, ob es zn einer Spontanheilung kommen wird,
wollte al)er doch zur Vorsicht hei der Indikalionsstellnng chirur¬
gischer Eingriffe in solchen Fällen anffordern.
Prof. Paschkis demonstrierl eine meikwürdigc D(d’oiirde-
rung von menschlichen Haaren. Es handelt sich um eine Zer-
schleißnng, so daß das Haar etwa umgekehrt wie eine Vogelfeder
anssieht. Während die Haare bei der Trichoptilosis von der Spitze
an gegen den Schaft in zwei, drei und selten mehr ungleiche
Stücke gespalten, bei Trichorrhexis an ihrem Ende, d. i. an der
Bruchstelle eines Knötchens in zahlreiche minimale Fäserchen,
besenförmig zerfasert sind, werden in diesen Fällen vom Haare
im Verlaufe des Schaftes und zwar in der Richtung von der
Wurzel gegen die Spitze zahlreiche Stücke abgelöst. Es muß das
immerhin mit einer größeren Gewalt geschehen, da ja die Faserung
des Rindengewehes im gleichen Sinne gerichtet ist. Diese Art
der Zerschleißung des Haares ist sicherlich selten. Der Demon¬
strierende hat sie bis jetzt, bis zu den zwei demonstrierten Fällen
nicht gesehen.
Priv.-Doz. Falta hält seinen angekündigten Vortrag. Er be¬
richtet über gemeinsam mit Priv.-Doz. Staehelin und Dr. Grote
an der medizinischen Klinik in Basel ausgeführte Respirations¬
versuche an pankreasdiabetischen Hunden. Die Versuche, welche
mit dem modifizierten J a q u e t sehen Apparat ausgeführt worden
sind, lassen sich in folgender Weise kurz zusammenfassen : Die
Hungereiweißzersetzung ist bei pankreasdiabetischen Hunden, wie
sich auch aus in der Literatur bereits vorliegenden Versuchen
berechnen läßt, enorm gesteigert. Die Steigerung beträgt das
3- bis dVriache des normalen Hungereiweißumsatzes. Die Größe
der Steigerung zeigt gesetzmäßige Beziehungen zum Körpergewicht
und zur Körpergröße entsprechend ähnlichen Verhältnissen beim
normalen Tier; ferner gesetzmäßige Beziehungen zum Quotienten
D/n. Mit dem Ansteigen dieses Quotienten nach der Pankreas¬
exstirpation steigt auch der Hungerei weißnmsatz und erreicht
sein Maximum auf der Höhe der Störung des Zuckerstoffwechsels,
wenn das Verhältnis D : n den Wert 2'8 erreicht hat. Sinkt bei
unvollständiger Exstirpation des Pankreas das Verhältnis D : n ah
und verschwindet der Zucker, so sinkt auch der Hungereiweiß-
uinsatz und kehrt mit dem Verschwinden des Zuckers zur Norm
zurück. Bemerkenswert ist ein Versuch mit Einfuhr abundanter
Mengen von Traubenzucker. Wie sich aus dem respiratorischen
Quotienten ergab, sind höchstens Spuren von Zucker verbrannt
worden. Da die Analyse des C im Kot eine gute Verwertung des
Traubenzuckers ergab und die Steigerung der Zuckerausscheidung
weit hinter der Zuckereinfuhr zurückblieb, so muß an eine Re¬
tention von Zucker und so an eine Vermehrung des Zucker¬
gehaltes des Blutes und der Gewebe gedacht werden. Eine solche
Retention von Zucker dürfte auch das Heruntergehen des Quo¬
tienten D/n in den letzten Tagen vor dem Verenden der Tiere
erklären. Die Ansicht Lüthjes, ,daß das Vermögen, Trauben¬
zucker zu verbrennen, sich auch nach vollständiger Exstirpation
wieder hersteilen könne, ist aus diesem Grunde noch nicht als
bewiesen anzusehen.
Der Gesamtumsatz erwies sich im Gegensatz zu den bisher
in der Literatur vorliegenden Versuchen als gesteigert. Schon die
Steigerung des Eiweißumsatzes ließ nach der R u b n e r sehen
Lehre von der spezifisch-dynamischen Wirkung des Eiweißes eine
Steigerung des Gesamtumsatzes erwarten. Die tatsächlich be¬
obachtete Steigerung war aber noch wesentlich größer, da auch
eine Steigerung der Fettzersetzung vorhanden war. Die Frage, oh
diese Steigerung der Fettzersetzung durch die bei den Versuchs¬
tieren vorhandene Infektion der Stichkanäle allein bedingt war
oder ob sie eine für den Ausfall der Pankreasfnnktion spezifische
Stoffwechselstörung darstellt, ließ sich nicht mit voller Sicherheit
entscheiden, da die Versuche nicht weiter fortgesetzt werden
konnten.
Diskussion; Dr. Salomon: Für den menschlichen Dia¬
betes liegen bereits Angaben vor, welche durch die Befunde
F alias nunmehr eine neue Beleuchtung finden. So hat Magnus-
Le v y bei schweren Diabetikern eine Steigerung der Sauerstolf-
zehrimg um ca. 10 bis 30”/o konstatiert. Die Erklärung, die er
dafür bot, kann wohl kaimi befriedigen. Er nahm an, daß ein¬
mal der Älehrverbrauch irn Einklang mit den Feststellungen von
Buhn er durch die verhältnismäßig große Oberfläche der mageren
Diabetiker veranlaßt sei. Zweitens führte .er die starke Nahrungs¬
aufnahme der Zuckerkranken ins Feld. Möglicherweise körqie
durch die Ueberfütterung der Ruheumsatz gesteigert werden.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
In zu amlerem Zwecke geführten Untersuchungen — es
handelte sich um den Einfluß der IMuskelarheit auf den respi¬
ratorischen Quotienten der Diabetiker — bin ich ebenfalls auf¬
fällig hoher Sauerstoffzehrung bei einem schweren Diabetiker be¬
gegnet. Die Zahlen, die in v. Noordens Pathologie des Stoffwechsels,
Dd. 11 sich finden, betragen, wenn ich mich recht erinnere,
ca. 280 cm^ Sauerstoff pro Minute bei einem ca. GO kg schweren
Diabetiker, als Ruhe- und Nüchternwert.
V. Noorden: IlerrF alt a erwähnte, daß in älteren Fällen von
Diabetes ein viel höherer Blutzuckergehalt gefunden wird, als in
frischen Fällen. Diese Tatsache wurde auf meiner Krankenabteilung
fesigestellt und es hat wohl einiges Interesse, wenn ich hier etwas
näheres darüber mitteile. Bei normalen Menschen findet man
0'7 bis 0‘85'Voo Zucker im Blut, selten eine Kleinigkeit mehr oder
weniger. In frischen Fällen von Diabetes tritt schon bei zirka
l'Vüo Blutzuckergehalt Glykosurie auf. Die Niere ist also äußerst
empfindlich gegenüber einer höchst geringen Steigerung des Blut¬
zuckers. In älteren Fällen von Diabetes liegen die Dinge anders.
Da Irifft man zunächst viel höhere Zuckerwerte im Blute an;
Und wenn man durch Entziehung von Kohlehydraten die Leute
aglykosiirisch macht, so kann man die überraschende Tatsache
feststellen, daß sie trotz des Verschwindens der Glykosurie zu¬
nächst einen weit über die Norm gesteigerten Blutzuckergehalt
aufweisen. Wir fanden unter diesen Verhältnissen oft 2'Voo Blut¬
zucker und mehr. Dies zeigt, daß im Verlaufe des Diabetes die
Nieren an Zuckerdichtigkeit gewinnen. Das ist eine Art selbst¬
tätiger Regulation, eine Art Schutzvorrichtung, durch die sich
der Organismus vor exzessiven Zuckerverlusten schützt. Besonders
auffallend ist nun, daß bei Komplikation mit Morbus Brightii die
Zuckerdichtigkeit der Nieren noch weit höher steigt. Man kann
da bis 5 und 6“/oo Blutzucker antreffen, ohne daß mehr als
Spuren von Glykose in den Harn übertreten; in den letzten
Stadien der Nephritis, heim Ausbruch urämischer Erscheinungen,
wurden sogar bis lO'Vo-. Blutzucker gefunden, während im Harn
entweder gar kein Zucker auf trat oder nur höchst unbedeutende
Mengen, die zu der Höhe des Blutzuckers in gar keinem Verhält¬
nisse standen. Dies erinnert an die alte Lehre von F r e r i c h s
und S t o c V i s, die berichteten, daß ein Diabetes manchmal
durch Uebergang in Granularatrophie der Nieren ausheilen könne.
Von Ausheilen sollte man freilich nicht reden, denn erstens verrät
die Hyperglykämie, daß die diabetische Erkrankung noch fort¬
besteht und zweitens nehmen die Fälle von Diabetes, wenn eine
vollentwickelte Schrumpfniere sich hinzugestellt hat, in der Regel
einen recht üblen und schnellen Verlauf. (Näheres über die hier
mitgeteilten Befunde ist in v. Noordens Handbuch der Patho¬
logie des Stoffwechsels 1907, Band H, Seite 7, veröffentlicht.)
Priv.-Doz. Pauli richtet an Prof. v. Noordeu die Fiage,
wie sich die Diabeliker mit so hochgradiger Hyperglykämie ohne
Glykosurie sonst physisch befunden haben.
Prof. V. Noorden: Ausgezeichnet; wenn man in solchen
Fälk'ii forllahii, die Kohlehydrate zu '(Uitziehen, so sinkt in
einigen Tagen der Blutzuckergehalt ebenfalls.
Dr. Artur Weiß demonstriert einen auf Grund seiner ge¬
meinsam mit D). .Mautner, dem Assistenten des Ih'of. Mouti,
in dessen Laboralorium durchgeführten bakteriologischen Unler-
suchungen von ihm koirstruierten Desinfeklionsapparat für Ka-
llieler, Zystoskope und anderweitige iirologische Instrumente mit
(dnem neuen, A'utan genannten Formaldehy(lpräi)arate. Das Wesen
dieser Art der Desinfektion beiaiht darin, daß das aus Paraform
und i\Ietalls'ui)eroxyden bestehende Pulver einzig und allein duixdi
Zusatz der ghdehen Menge Wassers in gasförmigc's Foriualdeliyd
und \\'asserdam])f zerlegt wird, welche in dichten Dämpt'en bald
den zu desinfizierenden Baum, resp. das Gefäß erfüllen. Die
vom Vortragenden und Dr. Mautner durchgeführten informa
tiv('n Desinfektionen großer Räume, in denen infizierte fSeiden-
fädeii, Läi)pchen, Katheter etc. aufgehängt waren, ergaben ver¬
hältnismäßig gute Resultate. Fs gelang in den meisten Fälkm,
die mit 24 Stunden alten Bouillonkulturen getränkten und so¬
dann gcdrockneten Gewebsstindve zu sterilisieren, während die
Kontrollpiaxben üpi)ig wuclierten ; zum mindesten gelang (>s aber,
s(dir resisleid(‘ Baklerienstämme in ihrem Waclislum wesentlich
zu lummien und selbst Anthraxbazillen und Sporen bei einer
beti’äcldliclien Peberdosierung des Desiid'ektionsi)rä]iarates auf
Tage hinaus in ihrem Wachstum aufzubalten. Diese Frfabrungen
benützend und von der Erwägung ausgc'hend, daß eine Ueber-
dosierung des Mittels, die im Baume des Koslimpind-ites ■wegen
kaum ausfühlbar wäre, in kleinen Gefäßen sicdi jedoidi nur un-
wesimtliidi vertmiern könnte, aiudi sehr resislenli' Stämme zur
\crnichlung bringen dürfte, übertrug der Vortragende seine \'er-
suche auf Zylindergläser nach .\rt deijenigen, in denen die Uro¬
logen ihre Katheter und Zystoskope steril aufbewahren und er
fand, daß tatsächlich sämtliche Stämme bei einer sechs bis sieben
Stunden dauernden Desinfektion abgelötet weialen konnten. Dem
Römer sehen Veilang'en Rechnung tragend, wurden die Gewebs-,
resp, Kaiheterstücke nach der Desinfektion mit Ammoniakdämpfen
gewaschen, um das überflüssige iFormaldehyd zu entfernen und
sodann in Bouillon oder auf Agariiährböden, mit denen sie in
innige Berührung gebracht wurden, übertragen. Fs gelangten Ba¬
cillus pyocyaneus, Bacterium coli, Staiihylococcus pyogenes aureus,
Typhusliazillus, Diphtheriebazillus, Anthraxhazillus mit Sporen,
Gonokokken und Tuberkelbazillen zur Anwendung. Bezüglich der
letzten zwei Baklerienartmi stehen die abschließenden Kultur-,
resp. Tierversuche noch aus. Bei den vorgenannten Bakterienarten
gelang es, dii'selbeii dauernd abzutöten, da bei einer achttägigen
bis viiu'wöchigen Beobachtungsdauer sämtliche beschickte Nähr¬
böden bisher steril blieben. Die mit desinfizierten Anthraxkulturen
beschickten und bisher steril gebliebenen Nährböden bedürfen
mit Rücksicht auf die nur vier Tage währende Beobachtung noch
einer weiteren Kontrolle (Demonstration der Kulturen). Der Vor-
tj'agende geht nun zur Besprechung des von ihm konstruierten
Ap[)arates über (Demonstration). Derselbe besieht aus einem
Glasgefäße, in dem die Autandämpfe zur Entwicklung gebracht
Averden, indem 7 cnP des Pulvers mit 10 cm^ Wasser verrührt
werden und .sodann ein (dren verschlossener Glaszylinder darauf¬
gestülpt wird, in dem die zu desinfizierenden Instrumente sich
befinden. Dieselben Averden den sich nun entwickelnden Dämi)fen
durch drei, sicherer jedoch bis zu sechs Stunden ausgesetzt. Fine
nur eine Stunde Avährende Desinfektion vermochte nur Bacterium
coli sicher abzu tüten, Avährend Bacillus pyocyaneus und Staphylo¬
coccus pyogenes aureus nur in ihrem Wachstum gehemmt Avurden.
Die Dose bleibt bis zur Gebrauchseidnahme geschlossen, ln die
Dose können auch Vaginalspekula und andere Instrumente zur
Desinfektion, bzw. sterilen AufhoAvahrung hineingehängt Averden.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 18. April 19'07.
S. Erben stellt den \mn H. Salomon in der Sitzung vom
7. Älärz d. J. demonstrierten Fall von eigentümlicher Kon¬
traktil r s te 1 1 u n g einer Hand nochmals vor, indem i>r auf
die IMomente hinAveist, welche für die hysterische Natur der
Affektion sprechen. Die Kontraktur Avird dujxh physikalische Ein¬
griffe nicht beeinflußt, Hirn- oder Rückenmarkssymptome fehlen
bei derselben, sie ist auf Druck nicht schmerzhaft, dagegen ent¬
steht Schmerz beim Veisuche, dieselbe zu lösen. Die Zuckungen
sind als Klonus aufzid'assen, Avelcher ausgelöst wird, Avenn der
Ellbogen spitzAvinklig gebeugt Avird und aufhört, Avenn letzterm¬
gestreckt wird. Für Hyslei’ie sprechen Aveiter noch die Anam¬
nese (hereditäre Belastung, Zittern im 20. Lebensjahre, Kopf¬
schmerz, aufgeregtes Wesen) und eine umschriebene unterem¬
pfindliche Stelle an einem Fiiiger.
H. Salomon bemerkt, daß er bei der Vorstellung des
Falles als Ursache der Erkrankung eine in den subkortikahm
motorischen Zenli'en lokalisierte Enzephalitis als möglich erAvähnt,
aber als Avahrscheijilicher Hysterie angenommen habe.
A. Fuchs reka])ituliert nochmals die Gründe, die ilm zur
Annahme einer organischen Läsion als Ui-sache des Krankheits¬
bildes' und zur Bezeichnung dei- ScliüttelbeAvegung als Athetose
geführt haben.
J. Hoffmann sieht, als pj’ädisponierendes J\loment für eine
funktionelle Erkrankung den nachgeAviesenen Abusus in venere
an und hebt den Temperaturunterschied ZAvischen der gesunden
und kranken Hand herAmr. Der von ihm unternommene Versuch,
die Kontraktur durch Thermomassage zu beeinflussen, hat als
Resultat eine größere BeAveglichkeit in den Fingergelenken lind
im Handgelenke ergeben. Er bält ilen Fall für besserungsfähig.
Herrn. Schlesinger stellt einen 23jährigen Mann mill
multiplen A u gen m u s k e 1 1 ä h m u n g e n u n d , s c h w e r e m
Diab(‘t('S insipidus im Verlaute a' o n Skorbut vor. Pal.
erkraidde vor acht Wochen an Skorbut. Als er Avc'gen ju-ofusmi
Nasenblutens tamponiert Aveiilen sollte, Avurde (u- beAvußtlos und
nach dem Erwachen hatte er eine doiipelseilige Abduzens- und
Okuloinoloj'iuslälimung, die PuiiiHen Avaren abnorm weil, dii'
Spieg(duntersuchung ergab Blutungen im Augenfundus. Allmäh¬
lich bildeten sich die Augenmuskellähmungen zurück. In un-
mitbdbarem .\nsclilusse an dieselben sicdlle sich ein schweriu'
Diaheles insijiidus ein, die illarnmenge stii'g für einige Zeit bis
auf 20 Liter täglich, sank dann auf 10 his 15 Liter und ist
erst in den letzten Tagen auf 5 Liter täglich zurückgegangen.
Im Harne Avar nie Zucker zu finden. Als Ursache des Diabetes
Nr. 18
549
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
insipidus ist nacli den klinischen Erfalnungeii eine Läsion im
Hereiclie der Gebilde der hinteren Sehädelgi;uhe anziinelmien ;
eine genauere Lokalisation ist unmöglich. Im vorgestellten ILdle
scheint Polytlipsie der Polyurie zeitlich vorausgeeilt zu sein.
Letztere konnte durch verschiedene therai)eutische iMaßnalmum
nur wenig beeinflußt werden, Strychnininjektionen halten auf
dieselbe fast gar keinen Einflußi, unmitlelhar nach ihrem Aiis-
selzen fiel aber die Haruahsonderung rapid ah.
U. Schmidt (h'monstriert mikroskopische Präparate von
M i 1 c h s ä u r e 1) a z i 1 1 (Ml in den Fäzes. Vortr. hat diesen l!c-
fund konstant hei Magenkarzinoin, ferner auch in Fällen von
Ei'krankungen des Dünndarmes (z. B. Tuberkulose, Lymphosarkom)
erheben können. Der Umstand, daß in einigen Fällen die Alilch-
säurehazillen in den Fäzes, dagegen nicht im Atageninhall, zu
linden waren, spricht dafür, daß diese Vegetation intestinaler
Provenienz sei. Der Befund von Milchsäurehazillen im Stuhle
gestatte, t den Schluß auf eine Erkrankung des Alagens und Dünn¬
darmes.
Auf eine Anfrage von 11. Schlesinger teilt R. Schmidt
mit, daß die Diät keinen Einfluß auf den Befund der Alilchsäure-
hazillen hatte.
Zack bemerkt, daß sich ihm die Älethode hei mehreren
Fällen von Alagenkarzinom gut bewährt habe, er fand die Alilch-
säurehazillen auch in zwei Fällen von schwerer Enteroi'rhagie
mit Indikan im Harn. In einem Falle verschwanden die Alilch-
säurehazillen aus den Fäzes durch Verringerung, der Eiweißsloffe
in der Nahrung. Auf eine Anfrage von B. Schmidt hemerkt
er, daß er in den erwähnten zwei Fällen keinen Kulturversuch
gemacht habe.
B. Schmidt hezeichnot die Kultivierung der Alilchsäure-
hazillen als erwünscht, um Verwechslungen vorzuheugen. Daß
.Ausnahmen von der Regel Vorkommen können, gebe er zu. Einen
Einflußi der Diät auf das Wachstum der Alilchsäurebazillen hat
er bisher nicht heohachten können.
K. Glaessnor; Ueber die Funktion der normalen
und pathologischen Leber. Bekanntlich ist die Lei)or die
Bildungsstätte des Harnstoffes. Früher hat man angenommen,
daß nur die Endprodukte der Eiweißspaltung — Ammoniak in
Form von kohlensaurem oder karbaminsaurem Ammoniak — die
Vorstufen des Harnstoffes darstellen. Durch Tierexperimente und
Dur(dd)lutungsversuche ist aber feslgeslellt, daß auch hölune Ei-
weißahkömmlinge, die Aminosäuren, das Alaterial für die Harn-
stoffhildung ahgehen können. Da klinische und oxperimenlelle
Erfahrungen darauf hindeuien, daß, bei Schädigungen der Leber
die Fähigkeit, aus Aminosäuren Harnstoff zu bereiten, leide, wurde
dieser Umstand zur Ausarbeitung einer funktionellen Prüfung
der Leherarheit benützt. Da es keine zuverlässige quarditative
Bestimmung der Aminosäuren im Harne gibt, so hat Verf. eine
solche — allerdings nur für die von ihm untersuchten Amino¬
säuren — aiisgearheitet. Ihr Prinzip besteht darin, daß die meisten
stickstoffhaltigen Körper des Harnes bis auf Harnstoff und Amino¬
säuren durch Phosphor - AVolframsäure gefällt werden; nur Harn¬
stoff und Aminosäuren gehen ins Filtrat. Dieses wird getrocknet
und der Harnstoff mit Alkohol - Amylalkohol extrahiert. Die Amino¬
säuren bleiben zurück. Die funktionelle Prüfung wurde nun so
vorgenonnnen, daß die Versuchspersonen (Gesunde und Kranke)
nach einer Vorperiode 20 bis 30 g der Aminosäuren ])er os er¬
hielten. Bei Gesunden fand kein Ausschlag statt. Audi bei Er¬
krankungen des Herzens, der Lungen, der Nerven, ferner hei
Infektionskrankheiten war die Verwertung eine normale. Boi Leher-
krankheiten ergaben sich interessante Differenzen. Während Stau¬
ungslehern und einfacher Ikterus, sowie merkwürdigerweise auch
Karzinome der Leber in jeder Hinsicht sich wie normale Lebern
verhielten, zeigten Fettlobem Ausscheidungen der Aminosäuren
bis 30"/o, schwerer Ikterus bis 50"/o, Zirrhose 50 bis TO'V» und
Phosphorlebern solche von 50 bis GO^/o der zugeführten .Vmino-
säuren.
Bauer betont die Wichtigkeit, welche jeder neuen Alethode
für die Prüfung der Leberfunktion zukommt, da keines der bis¬
herigen Verfahren ein dezidiertes Urteil über die Prognose einer
voi’Iiegenden Leherstörung zu läßt. Nach seinen Untersuchungen
über Galaktosurie scheinen diejenigen Fälle, bei welchen die¬
selbe trotz Abklingens des Ikterus anhält., eine relativ schlechte
Prognose zu gehen.
Al. Strassor frägt, oh hei Leuzinfülterung ebenfalls eine
Abweichung zu finden war und ob Bestimmungen des Harnstoffes
vo rgen ommen wurd en.
K. Glacssner erwidert, daß letztere ausgeführt wurden;
nach Leuzinfütlemng wurde nicht untersucht.
Bericht über den III. Kongreß der deutschen
Röntgengesellschaft in Berlin
am 30. Alärz und L Aiiril 1007.
Referent: Dr. Do hau.
Das Hauptthema des unler dem Vorsilze von .Vlhers-
S c h ö n 1) e r g - Hamhurg lagendeu Hl. Kongresses hehandeih' di(‘
Frage: Welchen Einfluß hat die R ö n tg e ii d i a g n o s i i k
auf die Erkennung und Behandlung der KiK^cheu-
hrüche gchahl ? Reteixmt Wen dt- Halle li(d)t alle früher zu¬
meist vei'kannten oder nur seilen erkannten Konliiiuitätslrennun-
gen am Knochen hervor, die uns durch die Btintgenstraiden zur
Anschauung gebracht werden, wie Fissuren, Brüche der lland-
und Fußwurzelknochen usw. Plr betont ferner die Wicdiligkcdf
der Bcistimmung einer vorhandenen Dislokation der Hruclumden
und anschließend daran die ilurch das Röudgenverfahreu ('runjir-
lichte genaue Konirolle nach der Reposilion.
Korroferent Immelmann-Berlin weist an 4000 Knocheii-
])rüchen die Verschiebung der früheren Prozentzahlen l)ei den ein¬
zelnen F'rakturtypen nach. In der sich diesem Vortrage anschließen¬
den lebhaften Diskussion wurden viele Radiogramme selten vor-
koimnender Frakturen demonstriert. .
Graeßner-Köln liefert Beiträge zu den Fjukturen, Avelclu'
sicher nur im Rönlgeid)ilde zu diagnostiziei'en sind, .Ia({uet-
Rerlin hebt neue Gesichtspimklc hei der Behandlung beider Vordm'-
armbrüche im mittleren Drittel — im Sinne, eines Verhamh'S
des extendierten Vorderarmes in Alittelstellung — hervor.
Jacob s oh n -Breslau bespricht einen Todesfall hei Sauer
stoffinsufflation in ein Kniegelenk. H ol z kn ec h t- Wien warnt
mit Rücksicht auf einen zweiten ähnlichen Fall vor den gefahr¬
vollen Folgen dieser Alethode, während andere, wie Wollen¬
berg-Berlin, Eherlein-Berlin, H o f f a-Berlin die Gefahr niclil
hoch anschlagen, die entsprechenden Vorsichtsmaßregeln hei der
Anwendung vorausgesetzt, zu welchen auch die von Schwarz-
Wien empfohlene, zentral anzulegende Esmarch sehe Binde
gehört.
G r u n m ach- Berlin bespricht die Ergebnisse seiner Röntgen-
untersuchung der Alund-, Schlund- und Nasenhöhle hei der Pho¬
nation und Cohn -Berlin liefert einen Beitrag zur Topographie
der Leber hei allgemeinem, durch luetische Dic-kdarmstriktur her-
v 0 r ge ru f e n e m AI ete o r i s m u s .
Schwarz- Wien bespricht die Salzsäürehestimnumg des
Alagens auf Grund einer verschluckten, ' mit Wismut und Pepsin
gefüllten Bindegewehskapsel, l)ei welcher der Zeitpunkt der Lösung
mit Hilfe des Röidgenschirmes genau nachgewiesen werden kann
und vor I ritt diese Alethode gegenüber dem Einwande von Krause-
Breslau auch im Falle von Hypermotilität und Anazidität des
Alagens. Al exander- Kesmark bcschreiht an der Hand voi'tvelt-
lich gelungener plastischer Bilder die Alethode der Herstellung
derselben.
Holzknecht-AVien spricht über den derzeitigen Stand der
röntgenologischen Diagnostik der Alagenlumoren und weist an
schematischen Zeichnungen nach, daß es durch die von ihm
angowendole llntersuchungsmethode nu’iglich sei, nicht nur üheu*
Form, Lage, Größe und Alotilität des Alagens sich Aufklärung
zu verschaffen, sondern auch darüber, oh ein Tumor innerhalb
oder außei'halh des Alagens sitze.
Gr ödel- Alünchen spricht zu demselben Thema und erörtert
die Röntgenwismutmethode Rieders bei Alagenuntersuclnmgen
mit Hilfe des Ortbodiagraphen. Die Auffassung Holzknechts
vom ,, Normalmagen“ wird von ihm bezweifelt, von ersterem
durch die konstante Form desselhen begründet.
D oh an- Wien berichtet über das Ergebnis seiner Röntgen¬
untersuchungen hei klinisch ,, latenten“ Fällen von Lungenspitzen¬
infiltrationen und betont die Wichtigkeit dieser Uidersuchungs-
methode hei allen Fällen von Spitzenkatarrh oder Verdaedd. aid:
einen solchen. Sträter- Aachen zeigt äußerst gelungene Bilder
von normalen und pathologisch veränderten Nieren, die er durch
Kompression eines zwischen Blende und Körper eingescholienen
Luffaschwammes erzielt hat. Gottschalk-Stutigart demon¬
striert (las Röntgenogramm eines Gclnrntumors, dessen diagiio-
stische Verwertung aber von Holzknecht bestritten wird.
Den physikalischen Teil der Verhandlungen bildeten die Vor¬
träge von AV e r th e i m - S a 1 am o n s o n - Amsterdam über Erkhi-
rung der Widerstandsreduktion in der Selenzelle bei jeder Röntgeu-
ciitladung, Al ex ander- Kesmark über Röntgenslrahlen, hei denen
er auf Grund seiner Untersuclmugen im Gegensätze zur hisherig(m
Anschauung Ahlenkharkeit und Resorptionsfähigkeit vermutet, was
von A\"e rth e i m - S a 1 am o n s o n aber hcslrilten wird. W erne r-
Heidelherg demonstiiert einen Beslrahlungskonzentratoi' lür die
Röntgentherapie, der es ermöglicht, bis zu sechs Röhren auf
WIENER KLINISCPIE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 18
einem Träger unzuordiien, und Scli warz- Wien zeigt sein Fäl-
lungsradiometei-, dessen Prinzip darin liegt, daß bei einer Mischung
von Annnoniumoxalat und Suldimat durch Einwirkung von Rönt-
genstralden Kalomel ausgeschieden wird und eine genau zu
messende Trübung der Flüssigkeit bedingt. Diese :\lethode der
Rönlgenlichlmessung wird von Kowalski-Freiburg befürworlet.
Kienböck- Wien beweist an einem Beispiel von Röntgen Ver¬
brennung, daß nicht Idiosynkrasie, sondern üeberbclichtung Ur¬
sache derselben sei und möchte seine Maße Ihr die Lichtenergie
aus praktischen Gründen eingeführt wissen. Gergö-Rudapest
weist auf Grund seiner photographischen Arbeiten nach, daß die
Röntgenbilder keine Silhouetten, sondern perspektivische
Bilder sind.
Experimentelle Vorträge hielten : K r a u s e - Breslau. über
Einwirkung der Röntgenslrahlen auf menschliches und tieiäsches
Blut im Sinne einer Hyperleukozytose, Förs terlijig-Ilannover
über W'aehstumsstörungen infolge Röntgenbestrahlungen,
Schmidt- Berlin über den Einfluß der Röntgenstrahlen auf Em¬
bryonen, bei denen mikroskopisch schwere Störungen im Zentral¬
nervensystem bemerkbar waren.
Ueber therapeutische Resultate berichteten Gr unmach-Ber-
lin, der in einem Falle von substernaler Struma Besserung erzielte,
I) oh an- Wien, der in vier Fällen von Morbus Basedowii und
in acht Fällen von Struma parenchymatosa ein günstiges Re¬
sultat zu verzeichnen hat. In einem Falle, den Ur. v. Decastello-
Wien und Kienböck- Wien beschreiben, war nach Bestrahlung
der Struma Schrumpfung und anschließend daran Thyreoidismus
aufgetreten. Gottschalk- Stuttgart spricht über die Behandlung
mehrerer Leukämiefälle und Eberlein -Berlin über erfolgreiche
Bestrahlung, bei Botryomykose des Pferdes.
An Demonstrationen von technischen Apparaten heteiligten
sich Häni sch -Hamburg mit einem Tische für spaltblendenfönnige
Orthodiagraphie, Gill et- Schöneberg und Fürs tenau-Cbarlotten-
burg mit Apparaten für stereoskopische Mesisungen, ferner I ui m el-
mann- Berlin mit der Lepp ersehen Spaltblende für sehr lange
Bilder. Grisson-Berlin besprach sein Instrumentarium.
_P r 0 j e k t i o n s b i 1 d e r zeigten : H ä n i s c h-Hamb u rg (Gumma
am Humerus), Krause- Berlin (Myositis ossificans), Fraenkel-
Hamburg (Morbus Barlowi), . Sette gas t-Berlin (Arthritis de¬
formans) und zum Schlüsse demonstrierte K ö h l e r- Wiesbaden
zwei k i n e m a t o g r a p h i s c h e Thoraxbilderserien.
Der 24. Kongreß für j innere Medizin
zu Wiesbaden, 15. bis 18. April 1907.
Referent: N. Meyer- Bad Wildungen.
Der XXIV. Kongreß für innere Medizin brachte zugleich
dessen 25jähriges Jubiläuni. Ein künstlerisch ausgeführtes Gedenk-
hlatt mit den Bildern der Gründer Kußmaul, v. Leyden,
Gerhardt, Seitz und des ersten Vorsitzenden v. Frerichs
Avurde den Teilnehmern überreicht. Die eigentliche Seele des
Kongresses, der seine Gründung angeregt hatte und so außer¬
ordentlich an seinem guten Gedeihen mitarbeitete, Exzellenz
V. Leyden, war zum Vorsitzenden gewäblt worden und hielt
<lie Eröffnuiigsrede. Er schilderte die Schicksale der inneren
Medizin in den letzten 25 Jahren, die durch die Bakteriologie
und die Lehre der Infektionskrankheiten auf eine diagnostisch;
und therapeutisch festere Gimndlage gestellt Avurde. Die Dia¬
gnostik ist durch eine Fülle neuer Apparate und Untersuchungs-
methüden bereichert Avorden, so durch die Sphygmographie, Spii'o-
metrie, Probemahlzeiten, Elektrodiagnostik, durch die bakterio¬
logische Färbung, die Agglutination, Züchtung, Ueberimpfung usav.
Da die innere Klinik um die Zeit der Gründung des Kongresses
der lange Zeit in Vlißkredit geratenen Therapie sich Avieder zu-
Avandte, hat auch der Kongreß für die ob.iektive Förderung wissen¬
schaftlicher Therapie viel getan. Alle ZAveige der Therapie Avur-
den gepflegt. Neben Medikamenten kamen Hydrotherapie, Gym¬
nastik, Elektrolherapie, Bäderbehandlung, Licht-, Lufttherapie, Er-
nähnmg und die Kranken fürsorge in Betracht. Die heute als
untrennbar angesehene Chemie und Medizin hat in letzter Zeit
den größten Einfluß auf die innere Medizin gehabt. So zeigt die
große Trias der Hauptarbeitsgebiete Emil Fischers, der Zucker-
arien, der Harnsäurereihe und der Ehveißchemie durchweg bio¬
logische Ziele und Resultate. Und die Chemie, schließt v. Leyden
s(nne geistvollen Ausführungen, Avird, Avie Ehrlich es jüngst
ausführte, in Zukunft einen näheren Einblick in das Wie und
Warum (ier IleilAAÜrkung geben müssen. Die Verteilung chemi¬
scher Körper iin Organismus stellt das Bindeglied ZAvischen chemi¬
scher Konstitulion und therapeutischer Wirkung dar und zu c-r-
streben ist eine spezifische Chemotherapie.
Die Referate des diesjährigen Kongresses betrafen ein Ge¬
biet der Nervenkrankheiten, das auch nicht zuletzt des Inter¬
esses der praktischen Aerzte sicher ist. Zunächst sprach:
Schnitze- Bonn über Neuralgien und ihre Behand¬
lung.
Der Redner hatte sich die Aufgabe gesetzt, in seinem Re:
ferat nur allgemeine Gesichtspunkte und neue Errungenschaften
zu bringen. Er A'ersteht mit Freud unter Neuralgie die Krank¬
heit, hei der Schmoj'zen innerhalb geAvisser Teile, sensibler Nerven-
Iiahncn entstehen, •dem Verlaufe der sensiblen Nervenbahnen
folgen und sich durch große Intensität und anfallsAAmises Auf-
trehm auszeichnen. Vom klinischen Standi)unkt ist es dabei gleich¬
gültig, ob pathologische Veränderungen im Nerven vorhanden
sind oder nicht. Wh) dies aber der Fall ist, müssen sie im Vorder¬
grund des Interesses stehen. Für die Aetiologie kommen in
Betracht :
1. Mechanische Ursachen, Avie Druck und Zerrungei.. Aus¬
nahmen bilden oft Tumoren, die trotz erheblichen Druckes keine
Neuralgien liervorrufen. Da müssen denn Avohl besondere Fak¬
toren im Spiele sein, vielleicht VerAvachsungen, wie sie bei Am-
putationsstümpfen beobachtet sind und bei Ischiasfällen angeno'm- ■
men Averden könnten. Daß bloßp Hyperämie selbst in engen
Knochenkanälen eine Neuralgie iiervormfen kann, bleibt frag¬
lich. _ Auch Gallenstein- und Darmkoliken Averden neuerdings auf
Neuralgien durch Zerrungen zurückgeführt. Es wird angenommen,
daß Darm und Gallenblase an den in den Gängen und im Mesen¬
terium A'erlaufenden Nerven zerren und so die Schmerzanfälle
hervorrufen.
2. Spielen bei Neuralgien die Neuritis und Perineuritis eine
große ätiologische Rolle, Avie z. B. bei den neuralgischen Schmer- .
zen der Tabiker, der geAvöhnlichen rheumatischen Ischias, bei
der Neuralgie der Gichtiker, Diabetiker, Alkoholiker und der hei
Infektionskrankheiten. Rätselhaft bleibt die Malarianeuralgie, auch
die nach Erkältungen ist nicht leicht zu deuten, doch gehört sie
AAmhl in das Gebiet der entzündlichen Neuralgien.
3. Die durch seelische Einflüsse, durchi Hysterie und Neur¬
asthenie bedingten Neuralgien kommen geAvülmlicli in Betracht
bei inneren und Gelenksneuralgien. Ui diese Gruppe gehören
ferner die Beschäftigungs- und Ueberarbeitungsneuralgien. Bei
diesen ist es fraglich, oh eine Degeneration vorliegt oder ob
Ermüdungsstoffe die Erkrankung bedingen.
4. Können Gifte, die von außen in den Körper cingebracht
werden oder in ihm entstehen, Neuralgien veranlassen. So ist
die Verstopfung, hei der Avohl Toxine in den Körper übergehen,
als Ursache für Neuralgien bekannt.
5. Müssen Arteriosklerose und Neuralgien in Zusammen¬
hang gebracht Averden, wenngleich der genaue Zusammenhang
unbekannt ist; das gleiche ist der Fall bei
6. den Neuralgien auf anämischer und sklerotischer Basis;
der Zusammenhang ist Avohl meist psychischer Art. Die oft be¬
schriebenen schweren Formen von Neuralgie bei Sklerose sah
der Referent nie.
Ueber die Pathogenese und pathologische Anatomie ist Avenig
bekannt. Das liegt zum Teil daran, daß meist nur resezierte Stücke
A''on Nerv’en untersucht Averden und eine genaue Untersuchnng
der Nerven Amn den Endigungen an bis zu den Ganglien und
Aveiter zentralwärts noch aussteht. Für die geAvöhnliche, rheuma¬
tische Ischias liegen einige Befunde vor von Rötungen und feinen,
spinn Avebarti gen Adhärenzen, die den Nerven A'erdickten. In
anderen Fällen sind Obliterationen der Vasa vasorum und ent¬
zündliche Veränderungen um die Nerven gefunden Avorden. Bar¬
den heu er fand Oedem und Hyperämie in seinen Fällen und
W'^itzel Narbenmassen, die bei AmputalionsneUralgien die Nerven
mit den Knochen verbanden.
Bezüglich der Symptomatologie ist zu bemerken, daß die
bekannten Druckpunkte fehlen oder vorhanden sein können. Man
darf sich nicht auf die verschiedemm angegebenen Stellen be¬
schränken, sondern muß auch die Nachbarschaft absuchen. Zu
starker Druck ist zu vermeiden. Die Feslstellung soll niemals
durch direktes. Fragen, sondern durch die Beobachtimgen von
Zuckungen, AbAA'ehrbewegungen und Ihdsveränderungen ge¬
schehen. Das Vorhandensein von Hyper- oder Anästhesien deutet
Avohl stets auf organische Veränderungen im Nerven hin. Die
Reflexe fehlen in vielen Fällen.
Die Diagnose der heftigen Neuralgien, Avie Ischias und
scliAA'erer Trigeminusneuralgie ist einfach. Nicht echte, reine
Neuralgien sind die Bernhard sehe iNeuralgie paraesthetica im
Bereiche der Fascia lata, die Achyllodynie, eine Erkrankung eines
in der Nähe der Achillessehne gelegenen kleinen Schleimbeulels,
die Tarsalgie und Metatarsalgie, geAvöhnlich im Bereiche des Meta-
tarsophnlangealgelenkes der vierten Zehe.
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
.'iöl
Die Dinereniiiüdiagnose bei Ischias hat mit Coxa vara zu
rechnen, die durch eine Rontgenanfnalune sichergestellt wird.
Die Venvechslnngen mit Erkrardamgen der Symphyse, des Kreuz¬
beines usw. werden sich leichter vermeiden lassen, als 1. mit
dem intermediäi’en Hinken (Erb) — hier leiden die Schmerzen
in der Ruhe und ejiislehen beim flehen — , 2. mit der' jüngst
von Wilms hescdiriebenen Lymphangitis rheumatica chronica
— kommt Avesenllich im Bereiche des Nervus tibialis und meist
bei Frauen, die einen Gelenksrheumalismus überstanden haben,
vor. Auch Plattfüße können Ischias vortäuschen. Bei doppel¬
seitiger Ischias ist an eine Erkrankung' der Caüda, eciuina, zu denken.
Bei der Trigeminusneuralgie kommt diffcrentialdiagnostisch
am heäufigsten, die Stirnhöhle, iierkrank'ung in Betracht. In 2Vu.hihren
sind dem Vortragenden unter 16 Fällen sechsmal Katarrhe der
Stirnhöhlen begegnet. Ferner ist auf Symptome zu achten, die
für ein meningeales oder zerebrales Leiden sprechen.
Brachiale Neuralgien können durch Erkrankungen der
Schulter und der Wirbel vorgetäuscht werden. Verwechslungen
mit Paralysis agitans sind nicht selten. Häufig sind die Schmerzen
psychischer Natur.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Trennung der hysteri¬
schen und neurasthenischen Neuralgien von den übrigen Formen.
Dabei ist zu berücksichtigen, daßi 1. die klassischen Druckpunkte
meist fehlen, 2. die Erscheinungen von seelischen Einflüssen
verändert werden und 3. infolge beliebiger Heilwirkungen schwin¬
den, 4. die Lokalisation nicht dem Nervenlauf entsprechend an¬
gegeben wird.
Bei der Therapie sind :
1. Chemische Mittel wie x4konitin, Strychnin, Abführmittel
und so weiter zunächst am Platze; versagen sie, dann ist an
2. physikalische Methoden zu denken. Am einfachsten sind
die Na egeli sehen Handgriffe, die allerdings bei schweren Fällen
im Stiche lassen. In vielen Fällen, doch meist zu unsicher, hat
sich der galvanische Strom bewährt. Wärme und Hitze in vielen
Formen leisten mehr. So hat Bier mit beißen Luftduschen und
Massagen sehr gute Erfolge. Von 20 schweren, zur Oi)eration ihm
zugesandten Fällen ist er bei 12 ohne Operation zu gutem Resul¬
tate gelangt. Warme Sandbäder, schottische Duschen haben dem
Vortragenden gute Erfolge gegeben. Dehnungen sind bei allen
Fällen mit perineuritischen Veiwachsungen am Platze, doch ist
an das Auftreten von Lähmungen nach ihrer Anwendung zu
denken.
3. Eine gemischte, physikalisch -chemische Therapie stellt
die Einspritzung von Morphin, Akonitin, Argent, nitr., Alkohol,
Kochsalz, Osmiumlösung, Methylenblau, Luft, Wasser, x-Vntipyrin
u. a. in die Nervenbahnen dar. Besonders sind hier das
Schlösser sehe und Lang sehe Verfahren zu erwähnen . Der
Vortragende hat in vier Fällen nach zweimal 24 Stunden volle
Schmerzfreiheit erzielt. Es empfiehlt sich nach eingetretener
Schmerzfreiheit Dehnungen anzuschließen.
4. Trotz dieser vielen Mittel ist die chirurgische Operation
in einzelnen Fällen nicht zu umgehen. Die Durchschneidung und
Resektion der Nerven führt bald zu Rezidiven. Die Kr aus eschen
Ganglienresektionen sind die einzig rationellen Operationen, doch
hat Krause 11 “/o Mortalität, andere Operateure 22 bis 26%.
Außerdem sind Mißerfolge beobachtet worden (Garre). Em¬
pfohlen wurde zur Erreichung sicherer Resultate, die Knochen¬
austrittsöffnungen zu plombieren oder die Nerven bei Resektionen
nicht glatt zu durchschneiden, sondern herauszureißen. Barden¬
heuer hat bei fünf Fällen von Ischias in vier Fällen dauernde
Heilungen erhalten, dadurch, daß er die Nerven aus -den Knochen¬
kanälen entfernte und sie in Weichteile bettete. Der Theorie
von Bardenheuer, daß diese Operation den Nerv von seiner
Hyperämie befreie, kann sich der Vortragende insofern nicht an¬
schließen, als er die Hyperämie als Aetiologie nicht anerkennt'.
(Fortsetzung folgt.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin.
Referent; Dr. Alax Litthauer.
2. Sitzunigstag, 4. April 1907.
Wen del -Magdeburg: Beitrag zur endo thorakalen
0 e s 0 p h ag u s c h i r u r g i e.
Wendel betont die Bedeutung des Sauerbruch sehen und
Brauer sehen Verfahrens für die endothorakale Freilegung des
Oesophagus und berichtet über zwei Fälle, welche er mittels der
Brauer sehen Methode operiert hat. In dem ersten Falle handelte
es sich um einen Patienten von 29 Jahren, bei dem wegen
einer Oesophagusstriktur eine Magenfistel angelegt war. Es war
eine gutartige Striktur angenommen worden. Eine mittels des
Oesophagoskops voi genonmiene l/'robeexzisiou aus der striktu-
rierten Stelle ergab, daß es sich um ein Zylinderzellenkarzinom’
handelt. Der Oesopbagus wunle unter Anwendung des Brau er¬
sehen Apparates in rechter Seitenlage vom fünften und sechsten
Interkostalraum aus freigelegt, der üeberdruck wurde nach’ Er¬
öffnung der Pleura eingeschaltet. Es zeigte sich, daß das Kar¬
zinom mit der xlorta fest verwachsen war und bereits die Lunge
ergriffen hatte. Da soinit eine radikale Enlfernuiig nicht mehr
möglich war, wurde die Wunde wieder geschlossen. Patient
verließ am zehnten Tage nach der Operation das Bett und er¬
lag vier Monate später seinem Karzinom.
Beim zweiten Falle, der einen älteren Herrn betraf, bestand
die Stenose seit sechs Monaten. Pat. wurde in der gleichen
Weise operiert wie der erste Kranke. Nach Freilegung der Speise¬
röhre zeigte es sich, daß die Stenose die Kardia betraf. Das
Zwerchfell wurde ringsherum von der Kardia und dem Oeso¬
phagus ahpräpariert und die Kardia in den Thoraxraum hinein¬
gezogen. Magen und Oesophagus wurden geschlossen und dann
wurde eine x4nastomose zwischen Magen und Oesophagus an¬
gelegt, was leicht gelang. Pät. starb am zweiten Tage nach der
Operation an einer Nachblutung. Der Brustteil der Vagi war
bei der Operation erhalten worden; die abdominelle Partie da¬
gegen war beiderseits d\irchtrennt worden. Einen Einfluß auf
die Herztätigkeit hatte diese Durchschneidung der Vagi nicht
gehabt.
Kölliker-Leipzig demonstriert die von ihm hei der Oeso-
phagoskopie angewandten Instrumente. Er empfiehlt, um die Aus¬
führung der Oesophagoskopie zu erleichtern, elastische Rohre
anzuwenden.
E. Kü ster- Marburg : lieber Divertikel und zirku¬
läre Narben des Oesophagus.
Küster operierte vor einigen Monaten einen Speiseröhren¬
divertikel bei einer 57jährigen Frau nach einer neuen Methode,
wie er ursprünglich meinte, die aber, wie sich später zeigte,
bereits von Nicoladoni empfohlen und von Girard ausge¬
führt w'orden ist. Er schnitt den größten Teil des Sackes ab,
vernähte den Stumpf der Wundfläche gegen Wundfläche, stülpte
ihn in die Lichtung der Speiseröhre ein und erreichte den Schlitz
im Oesophagus. Die Ernähmng erfolgte durch! tägliche Einfüh¬
rung des Schlundrohres, die Heilung erfolgte per primam inten-
tionem, doch bildete sich acht Tage später noch einmal eine
feine Oesophagusfistel, welche noch einmal eine längere Behand¬
lung nötig machte, schließlich aber heilte.
Infolge dieser Fistelbildung nahm sich Küster vor, in Zu¬
kunft die Divertikel vollständig einzustülpen. Die (Gelegenheit
schien sich bald zu bieten, indem ein 45jähiäger Mann mit der
Diagnose eines Divertikels und mit einem iVktinogramm der
Göttinger Klinik sich aufnehmen ließ. Ein neu angefertigtes Ak-
tinogramm schien die Bestätigung zu bringen, nur fiel ein vom
unteren Ende des Sackschattens ausgehender, fadenförmiger
Schatten auf. Weitere Untersuchungen 'mußten unterbleiben, da
Pat. seit vielen Tagen keine Nahiamg mehr zu sich genommen
hatte. Bei der Operation fand sich eine Dilatation; als diese
eröffnet war, fühlte man unter der oberen Bimstapertur eine
harte Striktur, in w^ eiche unter Fingerleitung ein Katheter
mittlerer Dicke eingeführt werden konnte, durch den die E,r-
nährung gut vor sich ging. Als dieses aber endlich fortgenommen
werden mußte, begann eine stetige Erschwerung der Nahrungs¬
aufnahme; und da Pat. die iVnlegung einer Magenfistel verwei¬
gerte, so war die Sondeneinführung mehr und mehr peinlich'.
iVm 15. Tage post operationem war die Sondierung besonders
schwierig, am Abend trat Fieber ein und während der^ Nacht
starb Pat. unter den Erscheinungen des Lungenödems. Die Sek¬
tion ergab das Vorhandensein einer Doppelstriktur, deren Innen¬
fläche aber noch mit Epithel bekleidet war. Um den Oesophagus
fand sich eine mehrere Zentimeter dicke, enorm harte Narben¬
masse, im Oesophagus mehrere Fisteln, welche in Gängen durch
die Narbenmassc führten. Links die Pleurablätter verwachsen,
oben und unten im Bereiche dieser Verwachsungen je eine Höhle,
mit flüssigem Milchkakes gefüllt. Lungenödem. In die Narbe
eingeschlossen finden sich wenige kleine, unveränderte Bronchial¬
drüsen.
Küster erklärt den Fall als einen sehr alten, wahrschein¬
lich aus der Kindheit herrührend. Den Ausgang bildeten ver¬
eiternde Bronchialdrüsen ; der Eiter senkte sich im hinteren Me¬
diastinum und brach an verschiedenen Stellen durch. (Selbst¬
bericht.)
Reisinger-Mainz: Ueber die operative Behand¬
lung der Erweiterung des Oesophagirs.
Re is in ge r berichtet über einen Fall, in dem ein Oeso-
phagusdivertikel vermutet worden war. Zunächst wurde die Magen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. IB
I'islel gfiiuvclit. Einige Wochen später Freilegung des verniulelen
Oesophagnsdivertikels von liinten durch Kippeliresektion links.
Da ein Kollajis einlrat, wurde die Operalion unterhrochen, nach-
(h'in man sich des Oesopluigns durch zwei Eadenschlingen ver-
sicherl hatte. Nach einigen Wochen erfolgte die zweite Oiieration,
hei der mittels der Leitfäden der Oesophagus leicht gefunden
wurde. Es zeigte sich, daß lediglich eine spindelförmige Er-
weitiM'ung eim's Teiles des Oesophagus vorhig, kein Divertikel.
Es wurde ein Stück aus <ler erweiterten Oesophaguswand heraus-
gesclinilten, dann der Oesophagus genäht. Es elahlierte sich eine
Oeso])hagusfistel und es waren zu der Schließung mehrere Nach-
opei'ationen nötig. Die Patientin, welche sich seit der Operation
sein- erholt hat, ward vorgestellt. Bei der Operation wurde Aveder
die Sauerhruchscho Kammer, noch der Branersche xVpparat
angewendet.
Diskussion ü h e r <1 i e Oes o p h a g u s c h i r u r g i e.
V. Hacker- Graz ist der Äleinung, daß| der M i k u 1 i c z sehe
Kardiospasmus als Ursache für die Oesophagusdilatation nicht
immer in Betracht kommt. In seinen Fällen habe er gefehlt.
Dagegen sei in einem seiner Fälle eine setnvere Diphlhorio mit
.Muskellähmungen vorangegangen; das müsse daran denken lassen,
daß in solchen Fällen von idiopathischer Oesophagusdilatation
])rimäre Schädigungen der Muskulatur vorlicgen könnten. Er
habe seine Fälle nach Anlegung der Magenfistel mit Sondierung
ohne Ende hehandelt und damit gute Besultato erzielt.
Czerny -Heidelberg hat einen Fall von Ocsophagusenveitc-
rung nach einem Trauma Ijeohachtet; auch er glaubt nicht daran,
(laß der Kardiospasmus die Ursache der Oesophagusdilatation
sei. Er glaube, daß nervöse Ursachen bei der Entstehung der
Krankheit eine Bolle spielen.
Glücksmann-Berlin hat mehrere Fälle von spindelför¬
miger Erweiterung des Oesopliagus gesehen, ohne daß Kardio-
si)asmus bestanden hat; die Einführung der Sonde sei ihm immer
gelungen. Er habe in diesen Fällen gute Besultate erzielt durch
systematische Ausspülungen und Faradisation der Oesophagus-
muskulatnr, wobei die eine Elektrode in den Oesophagus ein¬
geführt wurde.
Gaben -Köln berichtet über einen Fall von Oesophagus-
enveitemng mit schweren Erscheinungen, bei denen er die retro¬
grade Sondienmg ausgeführt hat, nachdem alle konservativen
Verfahren erschöpft waren. Zunächst Avurde durch die Operation
eine Avescntliche Besserung erzielt. Später traten dieselben Er¬
scheinungen Avieder auf. Der Patient hat gelernt, sich seihst zu
sondieix'ii und führt dabei ein erträgliches Dasein.
H e n 1 e - Dortmund, Graf- Bonn und Kausch- Schöneherg
treten für die Anschauung Amn Mikulicz ein, daß ein Kardio¬
spasmus die Ursache der Oesophaguisdilatation sei.
A d 1er- Pankow : Uehor die Torsion des Netzes.,
Adler stellte einen Kranken vor, der Avegon Perityphlitis¬
verdachtes operiert Avorden ist. Es bestand zugleich eine rechts¬
seitige Leistenhernie. Es stellte sich bei der Operation heraus,
daß eine Netztorsion vorlag. Das Netz, Avar in einen klumpigen
'rumor Amnvandelt, der bei der mikroskopischen Untersuchung
lipomatöse und niyxomatöse Degeneration erkennen ließ.
T ietze- Breslau : ZavcI Präparate \mn Netztorsion. Es
Averden ZAvei Präparate demonstriert Avie das von Adler gezeigte.
Bakes-Trehitsch : Eine neue Operation des Sand¬
uhrmagens, ucl)st Bericht über 70 operierte benigne
M a g e n a f f e k ti o n e u.
Bakes hat einen Fall Amn Sanduhrmagen heohachtet. Er
versuchte zunächst eine Ma,genplastik nach Art der Heineke-
-M i k u 1 i cz sehen Pylorusplastik anzulegen, die mißlang. Eine
Anastomose ZAvischen den beiden Teilen des Sanduhrmagens an¬
zulegen, ging auch nicht an, da der eine Teil des Magens an der
Leber und am Pankreas fest fixiert Avar. DesAA'egen hat er ZAvischen
jcHler der Hälften des Sanduhrmagens und einer lleumschlinge
je ('ine Gastroenteroanastomose angelegt. Der Patient Avurde
geheilt.
Er hat hei benignen Magenerkrankungen im ganzen 72mal
operiert. Da\mn haben sich sechs Fälle später als Karziiiotn
<‘rwi('scn, diese scheiden aus, ebenso Avie die acht Fälle des
letzten Jahres; A'on drei Patienten ist er ohne Nachricht geblieijen;
fünf Patient, en sind an interkurrenten Kraidvheiten gestorben. Es
hleihen für die Beurteilung also noch 50 Fälle übrig. Von denen
haben ca. 76"/o gute Dauererfolge ergehen durch völlige Heilung
oder sehr Avesentlicho Besserung. A'iermal A\mr ein totaler Miß^
erfolg zu konstalieren. Fünf Patienten starben in urimittelharem
-\nscldusse an die Operation, drei später an ulzerösen Prozessen
des Älagens.
Paul ÄI a nas se - Berlin : Die Bedeutung der arteri¬
ellen G e f ä ß V e r s o r g u n g <1 e s S. r o m a n u m f ü i' (.lie o p c r a-
tive Verlagerung desselben.
Manas se Aveist an der Hand von Korrosionspräparaten,
Avelche den Darm in Verhindung mit den Gefäßen zeigen, auf
die große AVichtigkeit hin, die den verschiedenen typischen und
atypischen VerlaufsAveisen der Arteriae sigmoideae und des von
ihnen gelnldeten „Bandgefäßes“ für die Schnittführung hei der
Durchtrenmmg des ,,Mesosi,gmoi(leums“ zukonnnt und die genauer
als bisher zu heachB'u ist, Avill man nach Exstirpation des obersten
lU'ktuniahschnittes, hzAV. des (dlon pelvinum die gefürchtete post¬
operative Gangrän des zum Ersätze des Defektes heruntergehollen
S. romanum Amrmeiden. Die letzte Arleria sigmoidea (Arteria
sigmoidea ima) ist unbedingt zu schonen, da sie nach der not-
AAmndigen Durchschneidung der Arteria mesenterica inferior die
Verhindung des ernährenden Bandgefäßes mit der Arteria hämor¬
rhagica superior aufrecht erhält. In Auelen Fällen muß das
S. romanum aus seinen normalen Verklebungen auf der linken
Darmheinschaufel gelöst Averden, teils um das Bandgefäß genügend
zu ül)ersehen, teils um für den Defekt nacli der Exstirpation
des Colon ])clvinum ausreichendes Material herunterzubekommen.
Bei mangelnder Uchersicht über den Verlauf des Bandgefäßes
ist das Älesosigmoideum in der Höhe des 5. LendenAvirbels, unter
Schonung des unteren Astes der Aiferia colica sinistra zu durch-
schneiden. Auf Grund der genaueren topographischen Kenntnisse
hat Manasse hei inoporahlen Stenosen des Mastdanns (Lues,
maligne GeschAvülste) zur Vermeidung des Anus praeter nat.uralis
am Bauche eine neue Alethode ausgeführt, um die Stenosen zu
umgehen: Leihschnitt parallel dem linken Ligamentum l^oupartii,
quere Durchtrennung des S. romanum oberhalb der Stenose,
Vernähung des abführenden Darmendes, Durchschneidung des
Mesosigmoideums soAveit, daß das S. romanum in geradliniger Fort¬
setzung des Colon descendens aus der Bauchhöhle über das linke
Ligamentum Poiipartii bis an das Bektum herangebracht Averden
konnte. Darauf ZAveiter Schnitt, ausgehend von der BaucliAvunde
über das linke Ligamentum Poupartii ZAviseben Damm und linken
Oberschenkel durch das linke Cavuin ischiorectale bis an die
Scitenvvand dos Bekliims und genaue Vernähung des in diese
AVunde eingelagerten S. romanum mit dem Mastdarm. Zwei Fälle.
(Selbstbericht.)
(Fortsetzung folgt.)
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzungen vom 6. und 16. März 1907. (Schluß.)
Primarius Dr. AAE Bittner: Der therapeutische AVert
des Heilserums gegen Di])htheiäe ist Avohl über jeden ZAveifel
erhaben, so daß ich mich darauf beschränken kann, Ihnen einige
interessante Daten aus meinen Erfahrungen mitzuteilen. Den
hohen AA^ert dieser AAumderbaren Entdeckung Behrings kann
besonders derjenige ermessen, der, Avie ich, die Diphtherie an
einem großen Krankenmateriale zu einer Zeit zu beobachten
Gelegenheit hatte, bevor das Behring, sehe Serum in Anwmmdung
kam. Die Diphtherieslationen Avaren damals ein Ort des
Schreckejis und Sterbens für die armen Kinder. Die Situation
änderte sich mit einem Schlage, als die ersten Seruminjektionen'
in Veiwendung traten. Die Sterblichkeit sank sofort auf tiefe
Zahlen, die schrecklichen Pinselungen, die ich ührigens immer
perhorresziert habe, A^erscliAvanden von der Bildfläche, zum Woble
und Segen der kleinen Patienten, die Dip'htherieabteilungen
wurden friedliche Stätten, in denen jetzt die Kleinen nach über¬
standener Injektion unbclästigt und fröhlich ihrer Genesung ent¬
gegensehen. Nur ab und zu unterbricht eine Larynxstenose oder
ein ,,zu spät“ zur Injektion eingehrachter Fall die Buhe der
Abteilung. Man muß das mitgeniacht hahen, um sich dieser
epochalen Entdeckung Behrings recht zu freuen.
Auf der D i p h t h e r i e a b t e i 1 u n g des B r ü n n e r Kinde r-
spi tales Avurden seit Bestand dieser Anstalt, seit 1899 bis
Ende 1906, im ganzen 1515 Kinder mit Serum behandelt. Unh'r
diesen Fällen Avaren Avohl einige Kinder, bei denen sich die
Erkrankung nicht als Diphtherie erwiesen hat. Die Zahl dieser
Fälle ist aber so gering, daß sie bei der Berechnung nicht iu
Frage kommt.
Gerade diese Avenigen Fälle bcAviesen aber den hohen prophy¬
laktischen AATrt des Serums, auf den ich noch zurückkommen
Avill, indem sie durch das Serum alle vor der Infektion hcAvahrt
hlh'hen. Ich Avill nur zAvei dieser Fälle kurz erAvälmen, da sie
auch in anderer Beziehung interessant Avaren. Der eine Fall
betraf einen vierjährigen Knaben, der mit den Erscheinungen
zunehmender, scliAverer Stenose auf die Diphtherieabteilung kam.
Bei einer Intnhation AAUirde ein kleines Gewehsstück expekterieif,
das sich bei der bistologischen Unfersuclumg als ein Schleim-
hautpolyp erwies. Durch die nun Amrgenommene Laryngo-
fissur entfernte ich zAvei kirschkerngroße Polypen des, Larynx,
die das Lumen desselben fast vollständig oblitcriert halten. Der
Nr. 18
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCHllIFT. 1907.
zweite Fall betraf ein zebnjähriges Mädchen, das ebenfalls jnit
zuncbniender Stenose des Larynx ins Kinderspiüvl gel)rachL wurde.
Bei der sofort vorgenonnnenen Tracheotomie fand ich als Ur¬
sache der Stenose eine Mnstersäckclienklammer, die aspi-
ricrl, sich iin Larynx festgekeilt hatte. Das Kind erholte sich
darauf sehr rasch. Beide Kinder Ijliehen von der Diphtherie
verschont.
Von den 1515 Kindern star hon 135, i. e. 8-9P/o, nach
A h z n g d 0 r 2G s t e r h e n d E i n g e h r a c h t e n bleiben 109 f o d c s-
fällo, i. 0. 7-T9ho.
Hiebei ist zu erwägen, daß, die meisten Kinder nicht am
ersten Tage der Erkrankung, sondern am zweiten, drilton, ja
noch später eingehracht wurden, meist mit schweren Kompli¬
kationen, denen sie dann erlagen.
Ein operativer Eingriff erwies sich hei 357 Kindern
als notwendig, davon starben 76, i. e. 21-29ho, ein Ergebnis,
das nach Heubner mit zu den besten gehört und .das um so
erfreulicher ist,_ wenn man erwägt, daß die Sekundarärzte des
Kindei-spitales, in deren Hand ja hauptsächlich speziell die Intn-
hationstherapio liegt, relativ rasch wechseln. Der operative Ein¬
griff bestand in der Intubation (249 Fälle mit 35 Todes¬
fällen:, i. e. 140/0), der sekundären Tr ach eo to mie (95 Kinder
mit !35i i. e. 36-8 "/o Todesfällen), der j) r i m ä r e n T r a c h e 0 1 o m i e
(13 Fälle mit 6, i. e. 46To/o Todesfällen). Unter die operierten
Fälle sind bloß die Diphtheriekranken gezählt
Bei 287 (44-5 0/0) Ki ndern, die mehr oder minder
stenotisch eingebracht wurden, ging die Stenose
zurück u. zw. unter Anwendung des Serums und der
Dampfkammer, die ich nach dem Muster des Leipziger Kinder-
spitales im Jahre 1901 einrichten ließ. Sie bewährt sich hei
den stenotischen, aber besonders inluhiertcn und tracheotomieilen
Kindern vorzüglich, indem die feuchte Luft das Ein trocknen der
Sekrete verhindert und damit schon eine hedeütende Erleich¬
terung durch Beförderung der Expektoration verschafft. Die Dampf¬
kammer dürfte besonders dort wertvoll sein, wo, wie hei uns,
die Beheizung der Krankenzimmer mittels Dampfheizung geschieht,
deren Nachteil besonders darin liegt, daß die Zimmerluft stark
der Austrocknung unterliegt.
Noch eines Umstandes will ich Erwähnung tun, der ge¬
eignet ist, den Wert des Diphtherieserumsi hervorzuhehen, das
ist der sogenannten septischen oder gangränösen Diph¬
therie. Diese Form der Diphtherie glaubte man früher als eine
besondere Erkrankung ansehen zu können, hervorgerufen haupt¬
sächlich infolge einer Art Symbiose des Löf fl ersehen Diphtherie-
hazillus mit Staphylo- und Streptokokken. Neuere Untersuchungen
haben aber ergehen, daß wir es nur mit einer besonders schweren
und bösartigen Form der Diphtherie zu tun haben. Bekanntlich
zeichnet sich die septische Diphtherie durcli den bösartigen Ver¬
lauf aus, wobei es zur Bildung: von rasch sich ausbreitenden,
fötid riechenden Belägen, zu .septischen Erscheinungen und bal¬
digem Exitus kommt.
Diese Form der Diphtherie hat man in früheren Jahren,
vor der Anwendung des Serums, viel häufiger gesehen; sie tritt auch
jetzt mitunter auf u. zw. nur bei Fällen, die nicht sofort unter
Serumbehandlung genommen werden. Ich wenigstens habe
das Auftreten der septischen Diphtherieform nie¬
mals bei Kindern gesehen, die rechtzeitig der Serum¬
behandlung unterworfen wurden, daher es für mich
f es ts teilt, daß' die rechtzeitige Anwendung des Se¬
rums verhindert, daß die D i p h the ri e f äl 1 e „septisch“
werden.
Nachdem nun die gangränöse Form schon am zweiten odei-
dritten Tage der Erkrankung bei einem nicht injizierten Kinde
ein treten kann, heißt es eben, sclmell handeln, sobald man die
Diphtherie konstatiert. Jede Stunde ist da kostbar. Es empfiehlt
sich daher, nicht erst das Ergebnis einer a k t e r i o-
logischen Untersuchung abzuwarten, sondern zu¬
erst injizieren, dann eventuell abimpfen.' Ich will
aber hie mit keineswegs den Wert der bakteriologi¬
schen Untersuchung in Abrede stellen. Theoretisch ge¬
nommen, wäre es ja richtig, in jedem Falle zunächst das Ergeb¬
nis der bakteriologischen Untersuchung abzuwarten und dann
erst zu injizieren. In der Praxis sieht es aber anders aus. Zur Er¬
zielung eines richtigen bakteriologischen lUntersuchungsergebnisses
gehören vor allem zwei Faktoren. Erstens eine richtige Ent¬
nahme des Sekretes, zweitens die richtige Untersuchung: mit allen
ihren Hilfsmitteln. Gesetzt den Fall, daß der letztere Faktor,
wie bei uns in Brünn, wo wir einen hervorragenden Bak¬
teriologen haben, tadellos ist, ;so ist es mit dem ersten Faktor,
der Sekretentnahme in der Praxis, oft recht schlecht bestellt.
Wie schwer wird es oft bei mangelhaftem Lichte, bei einem
ungebärdigen Kinde, bei oft unvernünftiger Umgebung eine hin¬
reichende Inspektion des Rachens vorzunehmen ! Wie leicht kann
da ein Fehler bei der Abimpfung unterlaufen.
Ich möchte ferner bemerken, daß' ich auch bei klinisch
zweifellos sicheren Diphtheriefällen (Reaktion auf das Serum etc.)
ein negatives bakteriologisches Ergebnis an unserem Material
erlebte. Dies war z. B. besonders' bei einer gefährlichen Diph¬
therieform der Fall, bei dem sogenannten primären Larynxkrupj),
bei dem die Erkrankung primär im Larynx auftritt, während die
Uiitersuchung des Rachens nichts Auffallendes ergibt. Gerade
bei diesen Fällen kann die bakteriologische Untersnehung des
Rachensekretes ein negatives Resultat ergeben. Ich habe erst
vor kurzem einen solchen Fall gesehen.
Die h a k te r i o 1 o g i s c h e U n t e r s u c hu n g t r i 1 1 a 1) e r b e-
sonders in jenen Fällen in ihre vollen Rechte, wo
es sich um lakunäre Diphtherieformen handelt. Ich
habe auf der chirurgischen Abteilung des Kinderspitales' im vorigen
Jahre eine Reihe von follikulären Halsentzündungen auf treten
gesehen, bei denen die bakteriologische Untersuchung Löffler¬
bazillen fast in Reinkultur ergab. Die sofort durchgeführten
Seruminjektionen, teils zU therapeutischem, teils zu prophylak¬
tischem Zwecke, machte der Endemie ein Ende.
Es empfiehlt sich ferner, zur ersten Injektion
in der überwiegenden Zahl der Fälle gleich eine
höhere Zahl von Antitoxincinh ei ten zu verwenden.
Wir injizieren in der Regel 1500 A.-E. bei der ersten Injektion
und lassen die anderen Injektionen nach Bedarf in den ersten
12 bis 24 Stunden folgen. Bei sohweren Fällen, bei Anzeichen
von Larynxkrupp etc. werden sofort 2500 bis 3000 A.-E. injiziert.
Was nun die eventuellen Folgen der Ser uminj ek tio n
.anbelangt, lokale Abszesse, Serumexantheme, so
möchte ich bezüglich der Abszesse bemerken, daß sie bei ent¬
sprechend aseptischem Vorgehen in der Regel vermieden werden
können. Wir erlebten sie sehr selten.
Die Serumexantheme, die in der Regel am zehnten
Tage post injectionem in Form von masem- O'der urtikariaähnlichen
xAusschlägen, manchmal unter Fieber, rheumatiseben Schmerzen,
geringen Eiweißausscheidungen, auftreten, sind harmlose Erkran¬
kungen und wohl nicht so sehr auf die Zahl der injizierten
Antitoxineinheiten, sondern vielmehr auf den Umstand zurück¬
zuführen, daßi ein artfremdes Serum, das ist .ein Serum aus einem
fremden, tierischen Körper, injiziert wird. Es würde sich also
empfehlen, wenigstens in Fällen, wo man' eine hohe Zahl von
Antitoxineinheiten injizieren muß', die sogenannten hochwertigen
Sera in Anwendung zu ziehen, die auf eine relativ geringe
Menge von Serum eine hohe Zahl von Antitoxineinheiten ent¬
halten.
Die Serumexantheme können allerdings mitunter unter einem
schweren Krankheitsbilde — hohes Fieber, Prostration, Delirien,
heftigen rheumatiseben Schmerzen, Eiweiß im Urin — auftreten,
wie ich dies in einem Falle, bei dem 3000 A.-E. injiziert wurden,
sah. Es scheint in dieser Beziehung die individuelle Disposition'
eine große Rolle zu spielen. Ein Todesfall infolge des Serums
ist nicht hekannt, das Auftreten von Lähmungen etc. als Folge
des Serums gehört in das Bereich der Fabel. Die Lähmungen etc.
sind Folgen der Diphtherie u. zw. der zu spät der Serumtherapie .
unterworfenen Diphtherie, nicht der Seruniinjektionen.
Nun noch einige Bemerkungen zu den prophylaktischen
D i p h t h e r i e s e r u m i n j e k t i o n e n .
Ich habe die prophylaktiscben Injektionen mit Behring-
schem Serum seit dem Jahre 1899 wiederholt auf meinen Ab¬
teilungen des Kinderspitales in Venvendung gezogen, z. B. bei
Auftreten von Diphtheriefällen auf der chirurgischen Abteilung.
Jedesmal wurden sämtliche Zimmergenossen des Erkrankten pro¬
phylaktisch injiziert und i m m e r gelange s, d e r Krankheit
Einhalt zu tun und einer Hausendemie vor zubeugen.
Als ich nun im Laufe der Jahre wiederholt die Erfahrung
inacbte, daß die dem Kinderspitale überbrachten Diphtberiekranken
ihre Geschwister daheim infizierten, sobald sie nach Hause, auch
nach niehi*vd)chentlichem Spitalsaufenthalte, entlassen wurden, ein
Umstand, der uns merkwürdigerweise öfters in Konflikt mit den
Behörden brachte, beschloß ich, die prophylaktischen Injektioneh
auch auf externe Fälle, das ist auf die Geschwister der dem
Kinderspitale e i n g e 1 i e f e r t e n D i p h t h e r i e k r a n k e n,
a u s z u d e h n e n.
Seit dem 30. Mai 1905 bis jetzt wurden 246 Kinder
prophylaktisch injiziert u. zw. mit vorzüglichem Erfolge, indem
kei n ei n z i ges di e s e r Kinder an 1) i p h th e rie erkrank te.
Diese wunderbare Wirkung des Serums wurde um so augen¬
fälliger, als ich im November 1906 versuchsweise die prophylakti¬
schen Injektionen bei den Geschwistern von drei ins Kinder¬
spital eingebrachten Dipbtheriekranken (aus drei Familien) ein¬
stellte. Sämtliche sieben Geschwister dieser drei Patienten er-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 18
.= ■ i ■
krankten an Diphllierio. Nachdem wir die Kinder zur tägliclien
Revision vorsichtshalber in die Anstalt bestellt hatten, konnte hei
allen das Senim rechtzeitig in Anwendung gezogen werden, so
daß alle sieben Kinder genasen!
Von da an führe ich die prophylaktischen Injektionen syste-
niatiscli durch und dies auch in finanzieller Hiusicht inn so
leichter, als die Stadlgemeinde Brünn sich bereit erklärt hat,
hei armen Kindern die Auslagen, welche diese Injektionen dem
Spitale venirsachen, der Anstalt zu ersetzen, wie dies übrigens;
mit dem Diphtherieserum, das hei stationär Behandelten in An¬
wendung kommt, schon seit Jahren geübt Avird.
Zum Schlüsse will ich noch bemerken, daß ich die pro¬
phylaktischen Injektionen mit dem Behringschen
Seiaim auch hei a 1 1 e n K i n d e r n an w ende, h e i d e n e n Oper a-
l.ionen in der Nasen-, Rachen- und Mundhöhle dmreh-
geführt werden.
Zu dieser IMaßregel veranlaßte mich ein Fall Amn töd¬
lich e r D i p h t h e r i e, d i e hei einem sechsjährigen Kinde
nach einer T o n s i 1 1 o - A d e n o t o m i e a u f t r a t. Das Kind
Avurde A'on einem meiner Sekundarärzte im Juli 1905 toTisillo-
adenotomiert. Bei der Revision am folgenden Tage Avar außer
dem üblichen Wundl)elag an den Tonsillen nichts Auffalhnides
AvahrAiehmhar. Am vierten Tage nach der Operation Avurde das
Kind mit einer aiisgebreiteten gangränösen Diphtherie, in schwer¬
krankem Zustande eingehracht und starb am sechsten Tage post
Operationen!. Die Seruminjektionen blieben ohne Erfolg, sie kamen
leider zu spät! Seit dieser traurigen Erfahrung Avurde eine große
Zahl von Kindern, hei denen Operationen in obenerAvähnten Höhlen
durchgeführt Avorden Avaren, prophylaktisch gegen Diphtherie in¬
jiziert. Das Gros der Fälle betraf Tonsillo- und Adenotomien.'
ln einem Falle handelte es sich um eine Wolfsrachenoperalion,
ein anderer Fall betraf eine ziemlich schAvierige Nasenoperation
(Entfernung von Exostosen der Nasenhöhlen) etc. etc.
Ich machte hiebei die Wahrnehmung, daß der
Wund verlauf bei diesen Fällen viel reaktionsloser
Avar, als vorher. Die üblichen Wundheläge z. B. nach den
Tonsillotomien traten spärlich auf, AmrschAvanden rasch, die
Kinder fieberten nicht, Erscheinungen, die in mir die Ver¬
mutung Aveckten, daß es sich bei den Wundboi ägon,
die ich vorher l)oi Tonisillotomien und ähnlichen!
Operationen beobachtete und die oft ziemlich in¬
tensiv Avaren, Avobei die Kinder fieberten, mitunter
um leichte, aber echte Diph ther ieerkrankungeii
handelte!
Jedenfalls haben Avir in dem herrlichen Serum, das Behring
uns geschenkt, ein sicheres und harmloses Mittel, um die Patienten
vor einer gefährlichen Erkrankung zu beAvahren, die um so leichter
übersehen Averden kann, da ja die üblichen Wundbeläge, zum
Beispiel nach Tonsillotomien, leicht eine echte Diphtherie ver¬
schleiern können.
Prim. Dr. Mager hebt im Anschluß an die Bemerkungen
des Herrn Dr. JMüller die Wichtigkeit der guten Erfolge der
amhulatorischen Tuherkulosebehandlung mit Kochschom Tuber¬
kulin hcr\mr, da hier alle sonst eine Besserung herbeiführenden
Alomente, Avie sie bei der Spitalsbehandlung in Betracht kommen,
Avegfallen und die spezifische AVirkung des Mittels deutlich her-
A'orlritt. Dr. Mager Aveist ferner auf die guten Erfolge der
Heilsenunbehandlung heim Tetanus hin; er hat bei dieser Therapie
auch von sehr scliAveren Fällen keinen verloren und hält dos-
Avegen entgegen anderen Angahen an der spezifischen AVirkung
dieses Heilmittels fest. Bezüglich der Bekämpfung: der Lyssa
gibt Redner die Anregung, es möge, da alljährlich eine große
Zahl Gebissener aus Mähren in das Wiener Pa;steurinstitut ge¬
schickt AA'crden, analog Avie in CzernoAvitz, auch in Brünn im
Anschlüsse an die Prosektur eine Schutzimpfungsanstalt gegen
Wut errichtet AA'erden.
Prim. Dr. Engel mann berichtet über zehn Scharlachfälle,
die er in den Jahren 1904 und 1905 im hiesigen Kinderspitalo mit
j\I OS erschein Scharlachserum behandelt hat. Alle zehn Fälle
gehörten in die Kategorie des scliAveren, septischen Scharlachs
und zAvar Avaren darunter vier mit Prognose IV und sechs mit
Prognose HI (nach Moser). Die ersteren, besonders scliAveren'
Fälle zeigten keine EiiiAvirkung des Serums und endeten letal,
Avährend die übiigen sechs deutlich reagierten, indem die Tem¬
peratur unmittelbar nach der Injektion steil abfiel im Gegensatz
zu der sonst meist lytisch Amrlaufenden Scharlachfieberkurve
und sich die übrigen scliAAmren Symptome rapid besserten, ln
einem Falle fiel die Temperatur von 40-8 auf 37-8 hinnen Aderzehn
Stunden. Einmal trat 15 Tage nach der Injektion Serumkrankheit
auf, in der Form eines fiber den ganzen Körper Amrhreiteten
hämorrhagischen Exanthems, Amrbunden mit einer Temperatur-
steigcning bis auf 40-2. Nach drei Tagen yerscliAvand mit dem
Sinken der Temperatur das Exanthem. Mit Rücksicht auf die
überaus günstigen Berichte der Wiener Autoren über das Serum
und die demonstrierte, in die Augen fallende Beeinflussung des
Verlaufes, empfiehlt der Vortragende die AiiAAmndung desselben
in jedem Falle scliAvercr Scharlacherkrankung.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. Sternberg (SchlußAvort) faßt die
Ergebnisse der Diskussion zusammen und bemerkt speziell zu
den Ausführungen Müllers, daß' in jenen Fällen, die mit zu
starken Fiebererscheinungen reagierten, vielleicht -der Beginn mit
Avcsentlich kleineren Dosen angezeigt Aväre. Ferner teilt er die
in einem Wiener Krankenhause gemachte Erfahrung mit, daß
bei Aussetzen der Tuberkulininjeklionen bäufig Avieder bald eine
Rückkehr der früher bestandenen Lungenerscheinungen beobachtet
Avurde. Bezüglich der AnAvendung des' Tetanusheilserums Aveist
er, Avie bereits in seinem Vortrage, ausdrücklich auf die prophy¬
laktische AiiAAmndung desselben hin und Avendet sich gegen die
(auch neuestens) in der Literatur vorgebrachte Angabe, es könnte
die Amvendung des Heilserums hei bestehendem Tetanus schäd¬
lich sein. Bezüglich des Rates Bittners, das, Heilserum anzu-
AAmnden, ohne den bakteriologischen NacliAveis der Diphtherie
abzuAvarton, betont AMrtr. den Wert der ätiologischen Diagnose
auch für die Therapie und Avünscht, daß endlich einmal die
nötige Anzahl von Untersuchungsanstalten errichtet Averde, damit
es jedem Arzt möglich Averde, sofort und schnell die nötigen
bakteriologischen, histologischen und chemischen Untersuchungen
ausführen zu lassen. Auf den Vorschlag Mager s, betreffs Er¬
richtung einer Schutzimpfungsanstalt gegen Wut in Brünn, Avill
Vortr. nicht näher eingehen, sondern nur bemerken, daß es zu¬
nächst Avohl viel Avichtiger geAvesen Aväre, nicht, Avie es vor kurzem
in Brünn geschah,- den MaulkorhzAvang ahzuschaffen.
Prosektor Priv.-Doz. Dr. Stern her g )demonstriert im An¬
schlüsse an die letzte Diskussionsbemerkung Prim. Bittners
einige Präparate von septischer und gangränöser Diphtherie und
erörtert in Kürze die hier in Betracht kommenden anatomisclien
und bakteriologischen Verhältnisse.
Dr. Artur F o g e s - W ien (als Gast) : U e b e r K o 1 p o- und
Proktoskopie.
Vortr. bespricht eingehend die Technik des von ihm ge¬
übten Verfahrens, demonstriert die hiezu erforderlichen Appa¬
rate und schildert, zum Teil an sehr instruktiven Wandtafeln
und Präparaten, den Wert dieses einfachen Verfahrens für, die
Diagnose Amn Erkrankungen des Rektums und namentlich der
Flexur; so sind Tumoren derselben, die mit dem Finger nicht
erreichbar sind, mit Hilfe des Apparates sehr gut sichtbar zu
machen; auch lassen sich auf diese Weise kleinere chirurgische
Eingriffe ausführeri. Schließlich demonstriert Vortr. an geeigneten
Fällen sein Verfahren.
Programm
der am
Freitag den 3. Mai 1907« 7 Flir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Chrobak stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Primarius Dr. A. v. Gleicli: Vorläufige Mitteilung.
2. Primarius Dozent Dr. Latzko : Die chirurgische Therapie des
Puerperalprozesses.
Einen Vortrag hat angemeldet: Herr Prof. Benedikt.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Noordeu Donnerstag
den 2. Mai 1907, um 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz: Professor v. Noorden.
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Doz.. Dr. Al. Strasser und Dr. Blumenkranz ; Zur physiolo¬
gischen Therapie der Nephritis.
3. Dr. L. Schweiger: Ueber tabetiforme Veränderungen der
Hinterstränge bei Diabetes. Das Präsidium.
Wiener med. Doktoren-Kollegium.
Programm der Montag den 6. Mai 1907, 7 Uhr abends, im Sitzungs¬
saale des Kollegiums, L, Rotenturmstraße 19, unter Vorsitz des Herrn
Priv.-Doz. Dr. A. Bum stattfindenden
wissenschaftlichen Versammlung.
Prim. Dr. L. MoszkoAvicz: Ueber Fehldiagnose der Perityphlitis.
Die nächste Avissenschaftliche Versammtung findet im Herbste statt.
Wiener laryngologische Gesellschaft.
Nächste Sitzung Mittwoch den 8. Mai 1907, Anfang 7 Uhr.
Programm:
Demonstrationen. Der Sekretär.
Vtrantwortlichtr Rtdakteur: Adalbert Karl Trupp, Vtrlag Ton Wilhelm Branmfiller in Wien.
Druck Ton Bruno Bartelt, Wien XVIII., TbereBiengasBe 8.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Eolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. y. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Sohrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
XX. Jahrgang. Wien, 9. Mai 1907. Nr. 19.
INHALT:
5. Berichtigung zu Hasenfelds Aufsatz : „Die Heißluftbehandlung
in der Gynäkologie.“ Von Primararzt Dr. Pleischmarin, Wien.
II. Sammelreferat: Entwicklung und Ergebnisse der Lumbal¬
anästhesie. Sammelreferat von Dr. E. Venus, Assistenten der
chirurgischen Abteilung der Wiener Poliklinik.
III. Therapeutische Notizen.
IV. Vermischte Nachrichten.
y. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
1. Originalartihel: 1. Aus der gynäkologischen Abteilung des
k. k. Krankenhauses Wieden. Die chirurgische Therapie des
Puerperalprozesses. Von Dozent Dr. W. Latzko, k. k. Primararzt.
2. Aus dem hygienischen Institute der k. k. Universität Wien.
Ueber die Spezifität des Kotes und die Unterscheidung ver¬
schiedener Kotarten auf biologischem Wege. Von Dr. Ernst
Brezina.
3. Zwei Leprafälle in Tirol. Von Prof. Dr. Ludwig Merk in
Innsbruck.
4. Aus der Budapester Rettungsgesellschaft. Bromoformvergiftun-
gen. Von Dr. Wilhelm Löbl, Kontrollarzt der Budapester
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Aus der gynäkologischen Abteilung des k. k. Kranken¬
hauses Wieden.
Die chirurgische Therapie des Puerperal¬
prozesses.*)
Von Dozent Dr. W. Latzko, k. k. Primararzt.
Das Wochenbettfieber ist wahrscheinlich die in bezug
auf Aetiologie und Prophylaxe am erfolgreichsten studierte
Volksseuche. Wenn trotzdem alljährlich viele Tausende
blühender Menschenlehen derselben zum Opfer fallen, so
liegt dies wohl in erster Linie daran, daßi die Lehren, die
Semmel weis vor bald 60 Jahren an dieser historischen
Stätte verkündet hat, noch immer nicht Gemeingut der Aerzte
und Hebammen geworden sind. In zweiter Linie kommt aber
der hemerkenswerte Umstand in Betracht, daßi die Behand¬
lung der einmal ausgebrochenen Krankheit in dieser ganzen
Zeit keinen Fortschritt aufzuweisen bat, der imstande ge¬
wesen wäre, die Statistik wirksam zu beeinflussen.
Die Antisepsis, von der man eine UmWälzung in der
Therapie des Puerperalprozesses hätte erwarten sollen, hat
in jeder Form — als Spülung, Aetzung, Anwendung von
Dauerantiseptizis usw. — dem eigentlich septischen, das
heißt durch Eitererreger erzeugten Wochenbettfieber gegen¬
über vollständig versagt.
Kein Wunder, daß die Ohnmacht konservativer Be-
handlungsmetlioden bald, dazu geführt hat, im’ chirurgischen
Vorgehen gegen den Herd der Erkrankung das Heil zu
suchen.
*) Vortrag, gehalten in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte
in Wien am 3. Mai 1907.
Gestatten Sie, daß ich heute in gedrängter Kürze die
wichtigsten jener Eingriffe, welche in ihrer Gesamtheit die
chirurgische Therapie des Puerperalprozesses aiismachen,
vor Ihnen erörtere. Es wird das vielleicht um sO' weniger
überflüssig erscheinen, als dieses Thema an dieser Stelle
noch nie, in den ärztlichen Gesellschaften des Auslandes,
aber schon wiederholt den Gegenstand eingehender De¬
batten gebildet hat. Sollte mein Referat andere Vertreter
meines Faches zur Mitteilung ihrer Erfahrungen anregen,
so hat es. seinen Zweck erfüllt.
Ich werde nur solche Operationen in den Kreis meiner
Besprechung ziehen, die konteovers sind. Von allen jenen
Eingriffen, deren Nutzen feststeht, die seit jeher regelmäßig
geübt werden, wie Eröffnung parametraner Exsudate, meta-
statischer Abszesse, sehe ich ab. Das Wochenhettfieber
an und für sich kann natürlich nicht Objekt chirurgischen
Handelns sein. Als solches kommen nur die einzelnen, mehr
weniger streng umschriebenen, anatomischen Krankheits-
bilderin Betracht, deren Zugehörigkeit zum Pnerperalprozeß
auf einer gemeinsamen Aetiologie beruht, insofern sie näm¬
lich alle einer bakteriellen Invasion des Geburtssohlauches
ihre Entstehung verdanken. Von diesen sind es hauptsäch¬
lich drei: die Endometritis, die Metrophlebiti|S und die Peri¬
tonitis, welche den modernen operativen Maßnahmen ziim
Angriffspunkt dienen.
Die Erkenntnis, daß in der weitaus überwiegenden
Mehrzahl der Fälle die Uterusinnenfläche die Eintrittspforte
der Infektion, den Ausgangspunkt der Erkrankung darstellt,
hat sich, wenn auch unter Widerspruch, frühzeitig Bahn ge¬
brochen. In Verkennung tatsächlicher Verhältnisse ist hiebei
zurückgehaltenen Plazentar- und Eihautresten eine wesent¬
lich größere Bedeutung zugehilligt worden, als ihnen wirk-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 19
lieh zukommt. Ihre Entfernung galt lange Zeit als wichtigstes
Postulat jeder Puerperalprozeßibehandlung. Man bediente
sich hiezu des Fingers, der Kornzange oder zumeist der
Kürette. Leider hat man die Erfolge, die durdi Kurettenient
in frühen Schwangerschaftsmonaten, hei fieherhaftem Abor¬
tus erzielt wurden, auf die puerperale Endometritis am Ende
der Schwangerschaft übertragen zu können geglaubt und fast
bei jedem Wochenbettfieber die Ut.erusinnenfläche glatt zu
schaben versucht.
Wie aber klinische Erfahrung und theoretische Ueber-
legiing zeigt, liegen die Verhältnisse hei Ahorlus und Geburt
grundverschieden.
Sie sehen hier eine Temperaturkurve, die für die Ex-
kochleati'on hei sogenanntem septischen Abortus charakteri¬
stisch ist. Eine blutende Frau mit retiniertem Ei oder Pla¬
zentarresten wird mit erhöhter Temperatur eingeliefert. Der
Ausräumung ■ — manchmal der spontanen Ausstoßung —
folgt als typische Reaktion hoher Temperaturanstieg mit
Schüttelfrost; am nächsten Tage Abfall zur Norm. Der¬
artige Fälle habe ich 117 beobachtet. Der am weitesten vor¬
geschrittene befand sich im fünften Lunarmonat. Gegen Ende
der normalen Zeit kann ja ähnliches bei Zersetzung von
Nachgeburtresten infolge saprämisclier Infektion Vorkommen,
ln den lälleii aber, in welchen nicht Fäulniskeimo, sondern
Eitererreger Lfrsache des Wochenhettfiehers sind, d. h. in
der übergroßien Mehrzahl der Puerperalprozesse nach recht¬
zeitiger Geburt, stiftet die Kürette fast nie Nutzen, oft aber
Schaden ; und das auch dann ,wenn Plazentar- oder Eihaut-
resle zurückgeblieben sind. Das ist in der deutschen Ge¬
burtshilfe wohl allgemein anerkannt.
Daraus ergibt sich die Konseciuenz, die Kürette regel¬
mäßig nur hei septischem Abortus, nach rechtzeitiger Geburt
aber nur in Ausnahmefällen zu verwendon, wenn die An¬
wesenheit von Eitererregern durch Keimenlnahme ausge¬
schlossen oder durch vorhandene Fäuluis unwahrscheinlich
gemacht ist.
Ich komme zur Besprechung der eingreifenderen
Operationsmethoden, unter welchen die sogenannte
Rad ikaloperation, das ist die Exstirpation der
kranken Gebärmutter a priori am meisten Aus¬
sicht auf Erfolg hätte. Es ist klar, daß es einen
Zeitpunkt gehen muß, in welchem die Gebärmutter allein
Sitz der Infektion ist, in welchem also das Wochen-
bettfieher einen quasi lokalen Prozeß darstellt. Eine Aus¬
rottung des Infektionsherdes in diesem Zeitpunkt müßte
— theoretisch genommen — von Erfolg begleitet sein. Prak¬
tisch beginnt aber sofort die Schwierigkeit, zu entscheiden,
wann die Infektion noch auf den Uterus beschränkt ist.
Wir können eine Thrombophlebitis der Vena spermatica, eine
Eymphangoitis nie mit Sicherheit ausschließen. Noch schwie¬
riger gestaltet sich die Beantwortung der Frage, welcher
Fall prognostisch so ungünstig zu bewerten ist, daß wir
das Recht haben, durch eine schon mit Rücksicht auf den
Allgemeinzusland nichts weniger als ungefährliche Opera¬
tion den Uterus zu opfern, ohne dabei Gefahr zu laufen,
dieses Opfer überflüssigerweise gebracht zu hahen. Wir
dürfen ja nicht vergessen, daß die große Mehrzahl der
Puerperalprozesse spontan ausheilt, u. a. auch solche, die
mit stürmischen Erscheinungen eiiisetzen. Einen bis mehrere
läge wird man wohl in jedem Fälle zuwarlen wollen, um
ein klinisches Bild zu gewinnen. Inzwischen kann es aber
zur Operation zu spät geworden sein.
Relativ einfach lagen die Verhältnisse — natürlich
vom heutigen Standiumkte aus — in den ersten derart
operierten Fällen; bei. Schnitze (1886), wo eine auf eine
andere Weise nicht zu entfernende, verjauchte Plazenta, \ind
hei Stahl (1889), wo ein gangräneszierendes Myom im
\\ ochenbett die Indikation zur supravaginalen Amputation
gaben. Wenn eine derartige Komplikation fehlt, also ins-
hesondere hei reiner Streptokokkenendonietrilis, wird die
Indikation vorderhand nur aus der Schwere des Falles,
d. h. aus seiner üblen Prognose bei konservativer Behand¬
lung gestellt werden können. Derart ist zum ersten Male
Sippel (1894) vorgegangen. Er hat nach Erschöpfung der
üblichen Methoden zur supravaginalen Amputation des sep¬
tischen Uterus als Ultimum refugium gegriffen. Seither ist
von verschiedenen Seiten über Uterusexstirpationen bei
Wochenbettiieber nach verschiedenen Methoden berichtet
Wörden ; das Thema wurde auf Kongressen von den hervor¬
ragendsten Faclunännern diskutiert; immer aber mußte die
Frage der Indikationsstellung offen gelassen, resp. ihre
enorme Schwierigkeit betont werden. Es gibt kein einziges
klinisches Symptom, das an sich oder in Verbindung .mit
anderen eine verläßliche Voraussage zu einer Zeit gestatten
würde, zu welcher die Operation noch mit guten Aussichten
ausgeführt werden könnte. Puls, Temperatur, Leukozyten¬
zählung, Keimentnahme, bakteriologische und zytologische
Blutuntersuchung, sie alle können uns im Stiche lassen.
Immer besteht die Möglichkeit, entweder über¬
flüssig zu operieren oder zu spät zu kommen.
Die Unsicherheit der Indikationsstellung hat hervor¬
ragende Gynäkologen dazu veranlaßt, von der Radikal¬
operation bei septischer Endometritis ganz abzusehen. Ein¬
zelne haben erklärt, nie die Notwendigkeit des Eingriffes
empfunden (Küstner), resp. bei der Nekroskopie die Unter¬
lassung des Eingriffes nie bereut zu haben (Pinard). Prüfe
ich mein Material in dieser Beziehung, so finde ich unter
112 von Herrn Prosektor Zemann ausgeführten Sektionen
neun reine Endometritiden, also Fälle, die an der Aufnahme
von Keimen oder Giften vom Endometrium aus zugrunde
gegangen sind. Die theoretische Möglichkeit, derartige Fälle
durch rechtzeitige Ausschaltung der Resorptionsfläche zu
retten, kann man kaum bezweifeln.
Ich selbst habe mich fünfmal bei Endometritis zu
dieser Operation bestimmen lassen. Fälle, die mit Uterus¬
ruptur, Peritonitis, puerperalen Adnextumoren kompliziert
sind, habe ich als nicht hieher gehörig außer acht gielassen.
Von den fünf Fällen sind zwei geheilt, drei gestorben.
Bei den Verstorbenen ergab die Sektion zweimal Thrombo¬
phlebitis der Vena spermatica bis zur Vena cava, einmal
parenchymatöse Verblutung infolge septischer Blut¬
beschaffenheit. Von den geheilten Fälle ist der erste
Fall A. im Jahre 1904 durch vaginale Totalexstiiiiation ope¬
riert worden; der Verlauf schien gar nicht beeinflußt.
Pat. hatte nachher noch 30 Schüttelfröste und genas dann
langsam. Der entfernte Uterus zeigte septische Endometritis
mäßigen Grades. Ob hier die Operation zum günstigen Aus¬
gang beigetragen hat, ist fraglich. Wahrscheinlich wäre die
Kranke auch ohne Eingriff genesen.
Der zweite Fall G. ist am 20. Januar d. J. operiert
worden, u. zw. mittels supravaginaler Amputation mit extra¬
peritonealer Stielbehandlung. Es bestand jauchige Strepto-
kokkenendometritis ; die Umgebung des Uterus schien frei.
Ich entschloß mich zur Operation wegen des schlechten
Gesamteindruckes, hoher Temperaturen über 40“ durch zwei
Tage mit häufigen Schüttelfrösten (am Vortage der Opera¬
tion drei), hoher Puls- und Atemfrequenz. Bei der Operation
erwies sich die rechte Sperniatika als thrombosiert. Der
Thrombus enthielt Streptokokken. Die Patientin erkrankte
noch an metastatischer Pneumonie und schwerer septischer
Angina und wurde erst drei Wochen post operationem nach
Durchbruch und Aushusten eines Lungenabszesses fieber¬
frei. Schüttelfröste sind nach der Operation nicht mehr
eingetreten. Dieser Patientin hat wohl der Eingriff das
Leben gerettet.
Sie sehen, meine Herren, ich habe mich seit dem Be¬
stände meiner Abteilung selten genug zu diesem heroischen
Eingriff entschlossen ; fünfmal in 4V2 Jahren unter 470 Puer¬
peralprozessen. Die Ursache liegt weder darin, daß ich
übertrieben konservativ oder vorsichtig bin, noch in dem
Umstande, daß ich die Operation für nicht leistungsifähig
oder für zu gefährlich halte, noch in dem Mangel geeigneter
Fälle - — die Sektionsprotokolle weisen ja, wie früher er-
erwähnt, mehrere Fälle aus, die jiiit Aussicht auf Erfolg
hätten operiert werden können — ; die Ursache liegt einzig
in dem Umstande, daß ich stets den richtigen Zeitpunkt zur
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
557
Operation verpaßl habe. Wenn ich sicher war, daß die
Prognose ohne Operation schlecht sei, dann war es in der
Regel zur Operation zu spät — sei es, daßi der Allgeniein-
zushand schon zu sehr gelitten oder daßi der Prozeß den
Uterus schon zu weit überschritten hatte, was sich aus dem
Nachweis von ausgedehnter Metrophlebitis oder Metastasen
ergab. Einfach stünde die Sache, wenn man sich an den
Ausspruch Vine bergs, des begeisterten amerikanischen
Vorkämpfers der operativen Therapie halten könnte, der
an einer Stelle sagt: 95% der Püerperalprozesse heilen
durch Exkochleation und Spülung, die übrigen 5% soll man
unbedenklich laparotonneren. Die Schwierigkeit liegt leider
darin, herauszufinden, welches die gewissen 5% unter den
100% sind. Trotzdem ist an dem paradoxen Ausspruch
ein Körnchen Wahrheit.
Ich zähle unter 470 Puerperalprozessen 112 Todesfälle.
Das heißt, es stirbt ungefähr jeder vierte Puerperalprozeß,
der an meine Abteilung kommt. Zieht man von diesen Zahlen
die 117 septischen Abortus, die in ein bis zwei Tagen ent-
fiebert sind, 42 Fälle mit Temperaturen unter 38-5^, alle kurz¬
dauernden Fieber, dann die parametranen Exsudate und
sonstige lokalisierte Prozesse, natürlich auch die Peritoni¬
tiden mit ihren Todesfällen ab, so bleibt eine verhält¬
nismäßig kleine Grup])e hochfiebernder Puer¬
peralprozesse mit sehr hoher Mortalität von
zirka 30%. Es erscheint doch fraglich, ob man
bei einer Kranken in so gefährlicher Situation
das Eintreten einer Indicatio vitaTis abwarten
mußi, bevor man zum Messer greift, wie das Sippel
verlangt. W ü r d e man sich innerhalb der o b e n e r-
w ä h 11 1 e n Gr u p p e i n j e d e m ¥ alle, d e r e i n bis zwei
Tage lang konstant Temperaturen von 39® bis 40®
oder darüber aufweist, oder überhaupt nach
48 Stunden keine entschiedene Wendung zu m
Besseren zeigt, zur Gpe ration entschließen, so
käme man vielleicht unter noch näher zu formu¬
lierenden Bedingungen zur Erfüllung jener For¬
derung, welche für die Behandlung der Appendi¬
zitis aus analogen Ursachen von allen Chirurgen
akzeptiert ist, nämlich der Forderung der Früh¬
operation.
Damit wäre die Möglichkeit zur Stellung einer bestimm¬
ten Indikation gegeben, allerdings einer relativen Indikation
im Gegensätze zu der absoluten, deren Festlegung durch
zehnjährige Forschung und Erfahrung allseits als Utopie
erkannt worden ist.
In erster Linie sind natürlich solche Infektionen zur
Operation geeignet, die wirklich noch auf den Uterus Ije-
'.schränkt zu sein scheinen. Doch bilden Thrombosen und
nicht zu ausgebreitete Metastasen, sowie Rakterämie, bei
gutem Kräftezustand keine Kontraindikation. Das zeigt mein
Fall G. und das hat auch Asch an der Hand einer Serie
von Operationen ausgesprochen. Der Wegfall des Ilaupt-
giftherdes kann in solchen Fällen dem Organismus erst die
Möglichkeit verschaffen, durch Entfaltung seiner Schutz-
kräfte den Kampf mit den eingedrungenen Bakterien und
Giften zu seinen Gunsten zu entscheiden.
Als Methode käme für große Uteri zunächst die supra-
vaginale Amputation unterhalb der Ringvene mit extraperi¬
tonealer Stielbehandlung, für kleine Uteri eventuell die vagi¬
nale Totalexstirpation in Frage.
Etwas leichter als für die Uterusexstirpation ist für
die Operation hei puerperaler Pyämie, für die der Ohren¬
heilkunde entlehnte Unterbindung oder eventuell
Exstirpation der abführendem Venen eine In¬
dikation zu stellen; nicht nur deswegen, weil wir
uns leichter zu einem Eingriff entschließen, welcher
nicht mit dem Opfer eines Organes verbunden ist,
sondern weil wir vor allem Zeit zur Ueberlegung haben.
Wenn auch die Venenunterbindung hie und da in akuten
Fällen praktiziert worden ist, sO' einmal von Bumrn mit
günstigem Erfolge, sO' werden doch vorwiegend die chroni¬
scher verlaufenden Fälle von Metrophleljilis die Domäne
dieser Operation bleiben. Die Fälle, die rasch sterben, gehen
an den Folgeerscheinungen der Bakteriämie, und Toxämie,
im Anschluß an Endometritis und Peritonitis zugrunde’. Auch
wenn wir dann bei der Sektion eine Metrophlebitis finden,
beherrscht nicht sie, sondern einer der eben erwähnten
Prozesse das Bild. Wo die Metrophlebitis in den Vorder¬
grund tritt, dort handelt es sich um langsamer verlaufende
Prozesse.
Als erster hat im .fahre 1899 W. A. Freund, angeregt
durch die Erfolge der Jugularisunterhindung ‘ und Sinus¬
ausräumung bei otogener Pyämie, die Unterbindung der
Venae spermaticae versucht. Zwei derartige Operationen
blieben erfolglos. Ebenso ungünstig war das Resultat von
drei etwas weiter gehenden Operationen Bumins im Jahre
1900. Erst Trendelenburg hat 1902 durch extraperito¬
neale Ligatur der thrombosierten Vena hypogastrica und
nachträglich hinzugefügte, ebenfalls extraperitoneal ausge¬
führte Ligatur der thrombosierten Vena spermatica eine
Heilung bei chronischer Metrophlebitis mit zahlreichen
Schüttelfrösten erzielt. Von der zweiten Operation ange-
fangen blieben die Schüttelfröste aus und die Kranke
genas.
Seit Trendelenburgs erfolgreicher Operation hat
Bumm 1904 die transperitoneale Venenunterbindung, die
den Vorteil besserer Uebersicht für sich hat, unter Bei¬
bringung zweier geheilter Fälle empfohlen und sind von
zahlreichen Operateuren teils einzelne Beohachtungen, teils
kleine Serien von solchen mitgeteilt worden.
Volle Befriedigung gewährt' auch hier weder die Ope¬
rationstechnik, noch die Indikationsstellung. Wünschens¬
wert wäre ■ — das wissen wir aus der Analogie mit den
Operationen der Ohrenärzte — nicht nur die Unterbindung,
sondern auch die Exstirpation der thrombosierten Venen,
die sonst ihre septischen Produkte auf dem Wege der
Kollateralen ahführen können. Ausführbar ist aber nach
den anatomischen Verhältnissen — wenigstens mit Hilfe
der Methoden von Trendelenburg und Dumm — nur
die Exstirpafion der Spermatika. Der Throinbophlebilis des
utero-vaginalem Plexus gegenüber muß man sich auf die
Ligatur der Vena hypogastrica beschränken; das geben beide
Autoren selbst an.
ln der Indikationsstelhing stehen die meisten Autoren
auf dem Standpunkte, daß die Metrophlel)itis eine außer¬
ordentlich gefährliche Krankheit sei, der ca. 60 bis 70%
der Wöchnerinnen erliegen, daß also hei andauernd hohen
Temperaturen mit stetig v/iederkehrenden Schüttelfrösten
ein Eingriff gewagt werden könne, wenn der Kräftezustand
ein zureichender ist. Trendelenhurg meinte, daß zwei
Schüttelfröste genügen, um die Diagnose zu sichern und
die Indikation zur Operation zu stellen. Dieser Standpunkt
wird wohl von niemandem mehr geteilt, seit Bucura aus
dem Materiale der Klinik Chrohak den Nachweis erbracht
hat, daß erst bei fünf Schüttelfrösten mit Sicherheit das
Bestehen einer Thrombophlebitis angenommen werden darf.
Es ist aher überhaupt mißlich, die Diagnose der Metro-
phlehitis auf die Zahl der Schüttelfröste zu stützen, weil
diese Krankheit häufig ganz ohne Schüttelfröste einher¬
geht. Von 23 auf dem Sektionstische diagnostizierten Metro-
phlehitiden waren sechs ohne Schüttelfrost verlaufen; das
wäre ein Viertel. Tatsächlich liegen die Verhältnisse noch
ganz anders. Bei den Fällen, die zur Heilung kommen,
überwiegen nämlich sicher die ohne Schüttelfrost. Die Dia¬
gnose muß sich hier im wesentlichen a,uf den Tästbefund
stützen, dem im allgemeinen eine viel zu geringe Bedeu¬
tung beigelegt worden ist, s^ielleicht deshalb, weil der Nach¬
weis der thromhosierten Venen für schwierig oder unzu¬
verlässig gilt. Man kann aber sagen, daß fast alle im Ver¬
laufe eines Puerperalprozesses entstehenden, von der Zer¬
vix -Uteruskante gegen die Beckenwand ziehenden, derben
oder derbteigigen, ein bis drei Finger dicken Stränge auf
Phlebitis, resp. Periphlebitis beruhen. Das hat mich der
Vergleich meiner klinischen mit den. Sektionsbefunden mul
das Ergebnis meiner Operationen gelehrt.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 19
üu8
Ich habe seit dem Jahre 1905 siebenmal wegen Metro-
plilebitis operiert. In derselben Zeit sind noch fünf Fälle
zur Sektion gekommen, von denen keiner zur Operation
geeignet war. Von den sieben Operierten sind zwei ge¬
heilt und fünf gestorben. Den ersten, nach der Methode
Burnm operierten und geheilten Fall K. habe ich an
dieser Stelle vor zwei Jahren demonstriert. Im Jahre 1905
habe ich dann noch zwei Fälle nach derselben ]\Iethode
operiert; beide Fälle sind gestorben.
Am 17. Januar 1906 trat nun an meine Abteilung
eine Kranke mit schwerer, beiderseitiger Metrophlebitis ein,
die mir Gelegenheit zur Anwendung einer, wie ich glaube.
neuen, erfolgreichen Operationsmethode bot.
Fall P., am 6. Januar 1906 spontan entbunden; am
11. Januar Fieber, Schüttelfrost; am 17. Januar Spitals¬
eintritt, Temperatur 39-2°, Puls 10.0, in beiden Parametrien
derbe Infiltrate. Diagnose: Metrophlebitis bilateralis. Täg¬
lich Schüttelfrost. Am 21. Januar Operation. Ich beschloß,
den Versuch zu machen, den thrombosierten Venenplexus
per vaginam auszuräumen. Ich schnitt zuerst das
rechte Scheidengewölbe längs des Infiltrates
ein, arbeitete stumpf, nur dem Tastsinne fol¬
gend, mit F i 11 g e r . u n d geschlossener S c h e e r e
gegen das Infiltrat los, das sich unter mäßiger
B 1 u t u n g 1 e i c h t i 11 e i n z e 1 n e, b 1 e i s t i f t d i c k e Stränge
auf lös eil ließ, die ich teils d urchs chnitt, teils
exstirpierte. Dieselben erwiesen sich schon
makroskopisch als thrombosier te Venen mit ent¬
zündeter Wand, was die histoFogische Unter¬
suchung bestätigte. Links ging ich in gleicher Weise
vor. Nach der Operation ivaren die Infiltrate verschwun¬
den, an ihrer Stelle beiderseits große Höhlen mit zerfetzten
Wänden. Die Blutung war durch feste Tamponade leicht
zu beherrschen. Die Patientin genas unter lytischem Tem¬
peraturabfall ; Schüttelfrost trat keiner mehr auf.
Der nächste analog operierte Fall ging zwölf Tage
nach der Operation zugrunde. Die Sektion zeigte einen
Thrombus in der Vena iliaca, der bis in die Kava reichte.
Dieses Vmrkonimnis, das wohl immer tödlich sein dürfte,
hätte, wenn vorher die Diagnose möglich gewesen wäre,
die Operation natürlich als aussichtslos erkennen lassen.
Ein dritter Fall, A., aus dem Jahre 1906 ist gleich¬
falls u. zw. unter bemerkenswerten Umständ m gestorben.
Ich hatte, um die Analogie mit der Operation der otogenen
Pyämie zu einer möglichst vollständigen zu machen, zuerst
per laparotomiam die Hypogastrika der thrombosierten Seite
unterbunden u. zw. aus technischen Gründen sowohl Ar¬
terie als Vene. Dann war ich nach Schluß des Abdomens
in vorhin beschriebener Weise vaginal vorgegangen. Zwölf
Stunden nach der Operation trat noch ein Schüttelfrost
auf, dann keiner mehr. 16 Tage später war die Krankel
entfiebert und blieb es mit Ausnahme einer Temperatur¬
steigerung infolge Serumexanthems bis zu ihrer fünf Wochen
post operationem wegen akuter Manie erfolgten Transferie¬
rung auf die psychiatrische Klinik. Dort erlag sie inner¬
halb weniger Minuten einer profusen, arteriellen Blutung
aus der Vagina, als deren Quelle auf dem Sektionstische
das vereiterte, ligiert gewesene, zentrale Ende der Arteria
hypogastrica erkannt wurde.
Einen vierten Fall, P., habe ich am 2. Februar d. J.
operiert. Es handelte sich um beiderseitige Metrophlebitis
bei Diplokokkeninfektion. Am Tage vor der Operation noch
vier Schüttelfröste, eine Stunde nachher noch einer, dann
kritischer Temperaturabfall auf 36®. Zwei Tage später hoher
Temperaturems lieg mit Schüttelfrost. Erscheinungen, die schoia
am Tage nach dem Eingriffe eingetreten waren, wurden
zunächst falsch gedeutet ,imd führten erst am 9. Februar
zur Diagnose Peritonitis, deren Operation den am 13. Februar
erfolgten Tod nicht mehr abwenden konnte.
Was lehren uns die von anderen und mir mitgeteilten
lälle bezüglich der Indikationsstellung und Technik?
Die Gefahr der septischen Infektion der Bauchhöhle,
die Trendelenburg zu extraperitonealem Vorgehen ver-
anlaßte, scheint auch bei medianer Laparotomie nicht ins
Gewicht zu fallen, wenn man entsprechende Vorsicht übt.
Die Unterbindung der V'enen wird daher am besten jiach
Bumms Methode ausgeführt. Allerdings ist der Eingriff
nur an der Spermatika leicht. Die Isolierung der Vena
hypogastrica ist aber bei bestehender Phlebitis ein tech¬
nisch schwieriger Eingriff, ja die stumpfe Trennung der
Vene von der Arterie kann ganz unmöglich sein. Die Unter¬
bindung der Arterie als Hilfsoperation ist aber, wie mein
Fall A. lehrt, ernstlich zu widerraten, da man Eitenmg
um die Ligatur nicht mit Sicherheit vermeiden kann. Bei
bestehender Thrombophlebitis des utero-vagi-
nalen Plexus ist die von mir geübte Methode der
vaginalen Venenausräumung leistungsfähig und
wohl geeignet, die Ligatur der Vena hypogastrica
zu ergänzen oder zu ersetzen. Sie wirkt dadurch,
daß die durchschnittenen Thromben eitrig einschmelzen und
sich gegen die Vagina entleeren. Der Effekt ist ein ähn¬
licher, wie ihn die Ohrenärzte durch Anlegung einer Jugu-
larishautfistel nach Alexander erzielen. Die Technik der
Operation ist verhältnismäßig einfach. Natürlich muß man
sich auskennen, um Arterien und Ureter zu vermeiden.
Die Blutung aus den nicht thrombosierten Venen war in
allen Fällen mit Ausnahme des ersten bedeutend, ihrem
Charakter nach unheimlich schwammartig; sie ließ sich
aber stets durch Tamponade so sicher beherrschen, daß
nicht ein Tropfen naehsickerte.
Was die Indikationsstellung anbelangt, so würde ich
empfehlen, nicht allzulange zuzuwarten. Andauernd hohe
Temperaturen, Häufung von Schüttelfrösten, Verschleclite-
rung des Allgemeinbefindens drängen zur Operation, ob¬
wohl man auch hier nie Avird sagen können, daß eine
Patientin ohne Operation verloren, daß also die Operation
lebensrettend war.
Zur Illustration diene die Kurve des Falles J., der
wegen täglicher Schüttelfröste bei einer Temperatur von 41®
zur Operation bestimmt war. Dieselbe wurde aus äußeren
Gründen verschoben. Vom nächsten Tage an war die Patien¬
tin fieberfrei und blieb es. Solche Fälle sind mehrfa,ch mit¬
geteilt. .Von Herff stammt diesbezüglich das bezeichnende
Wort: Jeder Schüttelfrost kann der letzte sein. Ich habe
eine Kranke nach mehr als 60 Schüttelfrösten ohne Ope¬
ration genesen gesehen.
Auf sichererem Boden bewegen wir uns bei Betra,chtung
der puerperajen Peritoni tis und ihre r operativen
Behandlung. Allerdings reichen die ersten Anfänge einer
solchen weit zurück. Abgesackte, peritoni tis che Exsudate,
jedenfalls auch solche puerperalen Ursprunges, sind schon
von altersher operiert, seit Recamier (in der ersten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts) sogar auf vaginalem Wege er¬
öffnet worden. Die Operation der diffusen septischen Peri¬
tonitis implicite der puerperalen gehört allerdings der
neueren Zeit an. Als einer der allerersten berichtet ein Ge¬
burtshelfer, nämlich Schröder, im Jahre 1879 über fünf
dureb. Laparotomie behandelte Fälle, darunter eine puer¬
perale Peritonitis, die alle starben. Seither hat man noch
oft versucht, der puerperalen Peritonitis durch Operation
Herr zu werden — mit seltenen Ausnahmen bis jn die
jüngste Zeit ohne Erfolg.
Es blieb Bumm Vorbehalten, als erster über eine
Serie von fünf geheilten Fällen, vor allem über Heilung
eines bakteriologisch sichergestellten Falles von puerperaler
Streptokokkenireritonitis durch Laparotomie, Spülung und
Drainage, im Jahre 1905 zu berichten.
Eine größere Reihe von zum Teil erfolgreich operier¬
ten Fällen von Peritonitis — fünf freie und fünf abgosackte
— liegt auch einer Arbeit von Leopold aus dem Jahre 1906
zugrunde. Ich habe im Jahre 1905 an dieser Stelle meinen
ersten, durch Operation geheilten Fäll von diffuser, puer¬
peraler Peritonitis vorstellen können.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Erfolge
der Chirurgen auf dem Gebiete der vom Appendix aus¬
gehenden Peritonitis dafür maßgebend waren, daß sich auch
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.""
559
die Gynäkologen wieder mehr der Frage der puerperalen
Peritonitis zugewandt haben. Es ist dies um so mehr zu
begrüßen, ajs die Peritonitis in der Pathologie des Puerporal-
prozesses einen hervorragenden Platz einnimmt. Ich komme
liier auf mein eigenes Material zurück. Von 470 Puer-
peralprozesson waren 88 an Peritonitis erkrankt,
also fast ein Fünftel, und bei 112 Verstorbenen
bestand ÖGinal Peritoni tis, also in der Hälfte aller
zur Sektion gekommenen Fälle. Operiert habe
ich 55 Fälle von Peritonitis u. zw. 28 freie und
27 ab gesackte.
Letztere geben naturgemäß eine bessere Prognose. Es
wurden 23 Wöchnerinnen geheilt; vier starben u. zw. eine
an puerperaler Sepsis infolge von Metrophlebitis und drei
an allgemeiner Peritonitis, die keinesfalls durch den Ein¬
griff veranlaßt war. Die Operation der Wahl war die vagi¬
nale Inzision und Drainage; doch wurde je nach der Sach¬
lage auch vom Bauche aus operiert. Nach dem Eingriffe
trat in der Regel rasche Entfieberung ein.
Ganz anders gestalteten sich die Verhältnisse bei den
Fällen, von diffuser, puerperaler Peritonitis. Von 28 ope¬
rierten Wöchnerinnen starben 19 und konnten nur neun
gerettet werden (darunter allerdings die Mehrzahl Strepto¬
kokkenfälle). • Hier ist der Ausdruck gerettet wohl am
Platze, ' denn die diffuse Peritonitis im Wochenbette be¬
deutet fast stets ein Todesurteil.
Als Operationsmethode kam anfangs einige Male die
Colpotomia posterior zur Ausführung; stets mit tödlichem
Ausgange. Die Operation der Wahl war später immer die
Laparotomie mit Kochsalzauswaschung und Drainage.
Bezeichnend für die Entwicklung der Peritoni tisopera-
tion, vor allem aber ihrer Indikationsstellung ist die Ver¬
teilung der Fälle auf die einzelnen Jahre. Es kamen zur
Operation : Im Jahre 1903 zwei Fälle (beide gestorben) ;
im Jahre 1904 vier Fälle (alle gestorben) ; im Jahre 1905
sieben Fälle (drei geheilt); im Jahre 1906 dreizehn Fälle
(fünf geheilt) und zu Beginn des Jahres 1907 zwei, Falle
(einer geheilt).
Es kommen also immer mehr Fälle zur Operation,
nicht weil mehr aufgenommen werden, sondern weil wir
die Peritonitis besser, d. h. früher zu diagnostizieren ge¬
lernt haben, bevor sie sich zum Schulfall entwickelt hat; denn
dann ist es gewöhnlich zur Operation zu spät. Die In¬
dikation ist jetzt eine vollkommen klare. Jede
Peritonitis mit annähernd regelmäßigem, wenn
auch hoch frequentem Puls wird sofort operiert.
Das Vorgehen ist genau wie bei einer geplatzten Extra¬
uteringravidität. Wird eine PeritonitiiS eingeliefert, so wird
sie, wenn es das Allgemeinbefinden erlaubt, in nächster
Stunde — ob Tag oder Nacht — operiert. Nach dem Trans¬
porte befinden sich die Kranken allerdings oft in kolla¬
biertem Zustande, der erst durch Analeptika und Kochsalz¬
infusionen überwunden werden muß, bevor man zur Ope¬
ration schreitet. Als Beispiel demonstriere ich Ihnen die
Kurve der Patientin Z., die elf Tage post partum, anderthalh
Tage nach Einsetzen der ersten Peritonitissymptome ein¬
geliefert wurde. Um V23 Uhr nachmittags bei der Aufnahme :
Temperatur 39®, Puls 150, fadenförmig, Pat. so blaß wie
eine ausgeblutete Extrauteringravidität, macht den Eindruck
einer Moribunden. Um Vsö Uhr nach Kampfer, Digalen,
Kochsalz, Puls 136, von etwas besserer Qualität. Laparotomie
ohne Narkose. Puls .nach der Operation 120, am zweiten
Tage nachher 90. Glatte Genesung.
Bei aussetzendem Puls ist es besser zuzuwarten. Die
Fälle sterben zwar fast durchweg, hie und da kommt es aber
doch noch zur Abkapselung und die Kranken erholen sich,
während die soforlige Operation bei desolatem Zustand des
Herzens nicht ertragen wird. Hier entscheidet die persön¬
liche Erfahrung.
Die Fälle mit langsamerem Verlauf, sowie Fälle, die
längere Zeit post partum oder abortum erkrankt sind, geben
im allgemeinen eine bessere Prognose. Das ist bekannt
und drückt sich in der Tatsache aus, daß meine operierten
28 Fälle 0 bis 30 Tage, durchschnittlich 10 Tage post i;)artum
erkrankten, während dieselbe Durchschnittszahl für die ge¬
heilten Fälle 17, für die 27 Fälle von ahgesackter Peritonitis
gar 23 beträgt; das heißt, je später post partum eine Wöch¬
nerin an Peritonitis erkrankt, desto besser ist sie daran.
Im speziellen Falle ist die Prognose direkt abhängig vom
Zustand des Herzens, indirekt vom Grade der Darmlähniung
und von der Schwere der übrigen puerperalen Prozesse.
Meteorismus, schwere Endometritis sind fatale Komplika¬
tionen. Alle meine Versuche, in solchen Fällen, durch En-
terostomie, bzw. Uterusexstirpation zu helfen, *sind bisher
gescheitert. Meine neun Enterostomien bei puerperaler Peri¬
tonitis sind alle gestorben. Das mag wohl darauf beruhen,
daß die Darmlähmung hier durch die gleichzeitige uterine
Sepsis besonders intensiv ist und daß die Erschlaffung der
Bauchdecken im Wochenbett besonders zu Meteorismus dis¬
poniert. ! . '
Die Diagnose der puerperalen Peritonitis weist einige
Besonderheiten auf, die sie gelegentlich zu einer schwierigen
machen. Temperatur, Pulsfrequenz und Leukozytenzahl
pflegen schon infolge der puerperalen Infektion erhöht zu
sein; die reflektorische Baiichdeckenspannung, die für die
Diagnose der vom Darm ausgehenden Peritonitis von' aus¬
schlaggebender Bedeutung ist, fehlt oft — doch keineswegs
immer, wie dies Barth behauptet; Erbrechen und Druck¬
empfindlichkeit pflegen allerdings selten zu fehlen. Erbricht
eine Kranke mit Puerperalprozeß, ohne daß hiefür eine
andere plausible Ursache zu finden ist, so denke man nicht
nur an Peritonitis, sondern bereite gleich die Operation vor.
Die Diagnose der abgesackten Peritonitis im Wochen¬
bett ist gewöhnlich leicht. Sie erfordert ganz besondere
Beachtung, weil sich nicht allzu selten an ganz kleine ab-
gekapselte Eiterherde im kleinen Becken, besonders in der
Umgebung der Adnexe, diffuse Peritonitis anschließt. Jede
derartige Exsudation verlangt sofortige Operation vom hin¬
teren Scheidengewölbe aus, eine Förderung, die zum Teil
schon von Jakobs, Pryor und Leopold entschieden er¬
hoben wurde.
Die Technik der Laparotomie bei puerperaler Peritonitis
ist die der diffusen, eitrigen Peritonitis überhaupt. Man
trachtet, den, Eiter möglichst vollständig zu entleeren und
sein Wiederansammeln zu verhindern. Zur Erfüllung des
ersten Zweckes genügt es nicht, nur die Bauchhöhle zu
eröffnen und mit Kochsalzlösung zu spülen; man muß mit
der Hand bis zur Leber und Milz Vordringen, um .eventuelle
Verklebungen zu lösen, hinter welchen große Mengen von
Flüssigkeit verborgen sein können. Dapn machen wir
von ausgiebigen Kochsalzspüluiigen Gebrauch. Das Wieder¬
ansammeln des Eiters verhindern wir durch sogenannte
Drainage. Ich sage ,, sogenannte“, weil ich an die Möglich¬
keit, die freie Bauchhöhle durch Gummi, Glas oder Gaze
zu drainieren, nicht glaube. Wohl aber machen wir aus¬
giebigen Gebrauch von der Eigenschaft des Peritoneums,
in der Umgebung der eingeführten Gaze zu verkleben. Wir
benützen diese Eigenschaft, um nicht nur den Douglas-
schen Raum (was ja seit langem geschieht) sondern auch
die beiden Lendengruben von der übrigen Bauchhöhle aus¬
zuschalten. In die Lendengruben, die eine Hauptsammel¬
stelle des Eiters sind, wird Gaze und ein Drain bis zur
Leber, resp. zur Milz eingeführt; das' Drain, damit nach
Entfernung der Gaze die abgekapselte Höhle drainiert bleibe.
Ich verdanke diesem Verfahren nicht nur gute Heilerfolge,
sondern konnte auch bei Seklionen konstatieren, daß die
Peritonitis im Ausheilen begriffen war und daß alle Buchten
und Nischen ganz trocken lagen.
Ich halte ührigens die Technik der Peritonitisoperation
nicht für abgeschlossen, auch nicht für den wichtigsten Teil
der Frage. Entscheidend für den Erfolg sind Früh-
diagnose und sofortige Operation. Es scheint mir
bei allgemeiner Durchführung dieser Prinzipien nicht aus¬
geschlossen, daß die Erfolge der Geburtshelfer im Kampfe
gegen die puerperale Peritonitis sich denen der Chirurgen
bei Perforationsperitonitis einmal nähern werden.
500
WIENER KLINISCHE WOCHENSCIIIUET. 1907.
Nr. 19
Olj eine Ausdehnung der oi)erailiven Tätigkeit bei Endo¬
metritis und Metrophlebitis geeignet ist, die Mortalität des
Wochejibettt'ieljers wesentlich herabzudrücken, darüber wird
erst die Arbeit künftiger Jaliro Aufschluß' geben können.
Docli würde schon die sichere Abgrenzung der Indikationen
der Itadikaloperation und der Venenunterbindung oder -aus-
räuinung gegen die konservativen Behandlungsmethoden des
Puerperalprozesses einen erheblichen Fortschritt bedeuten.
Aus dem hygienischen Institute der k. k. Universität Wien.
Ueber die Spezifität des Kotes und die U.iter-
scheidung verschiedener Kotarten auf biologi¬
schem Wege.
Von Dr. Ernst Brezina.
Die Sekrete und Exkrete des Tierkörpers waren hin-
sichtlicb ihres Antigengehaltes bisher lange nicht so häufig
Gegenstand der Untersnchimg, als das Blut und die zelligen
(h'gane. Wenn man von dem im wesentlichen aus zelligen
Elementen bestehenden Sperma absieht, wurde bisher nur
die Milch aus praktischen Gründen eines eingehenden Stu¬
diums in dieser Richtung gewürdigt.
Im Harn wurden zuerst von Sc hatte nf roh,
dann von Ruffer und Crendiropoulus^) lysogene
und agglutinogene Stoffe für rote Blutkörperchen
nachgewiesen, ihre Herkunft wurde aber bisher noch
nicht näher verfolgt. Präzipitogen wirkt der Harn,
wenn er eiweißhältig ist, nach Leclainche und
Valle,®) Mertens,^) Zülzer,®) Dieudonne®) und
Schütze’'); nach L a n d s t e i n e r und v. E i s 1 e r ®) auch nor¬
maler, also praktisch als eiweißfrei geltender Harn. Michae¬
lis und FTeis chmann®) dagegen erzielten durch Harn-
iiijcktionen kein präzipitierendes Serum. Ueber d_as wechsel¬
seitige Verhalien der Blut- und Blutserum-Seren und der
homologen Harnseren lauten die Angaben der genannten
Autoren verschieden. Während einige ans der älinlichen
Wirkung des Vollblut- (Mertens, Zülzer) oder des Serum-
serums (Dieudonne) auf Serum und Harn des homologen
Organismus den Schluß p,bleiten, daß Harn- und Blut-, be¬
ziehungsweise Serumeiweiß vollkommen oder wenigstens
teilweise identisch seien, bleibt nach Leclainche und
Valle, sowie nach Landsteiner und v. Eisler beim
Versetzen von Blutserum mit homologem Hariiimmun-
seruni ,die Präzipitatbildung ganz oder fast ganz aus. Letztere
Autoren nehmen daher an, daß das Harnpräzipitogen nicht
aus dem Blutserum des betreffenden Organismus stammt.
Bei einigen der genannten Forscher finden sich auch
Angaben über eine ähnliche Präzipitogenwirkung patholo-
scher Transsudate, ferner bei Bioridi^®) über Niederschlags¬
bildung beim Versetzen einer Reihe der verschiedensten
Körperflüssigkeiten mit einem durch Injektion homo¬
logen Blutserums hergestellten Immunserum. Deut¬
lich positiv reagierten mit diesem: Eiweißharn, Speichel,
Tränen, Nasenschleim, Schweiß, vaginales Sekret. Exkre¬
mente gaben dagegen nur eine schwache Trübung.
Eine besondere Stellung nimmt der Darminhalt ein,
interessant, weil er durch die Nahrung verschiedene Arten
fremder Eiweißkörper enthält, miderseits aber ihm in Form
der Verdauungssäfte arteigene Eiweißkörper zugeführt
werden, welche als Sekretionsprodukte der Verdauungs¬
drüsen hinsichtlich ihres Antigengehaltes mit dem Blutserum
zunächst nicht ohne weiteres zu identifizieren sind.
Daß das N a h r u n g s e i w e i ß i in V e r d a u u n g s tr a k t
II. zw. schon im Magen, seines Artcharakters ent¬
kleidet wird, wurde bald bekannt und ist von Hani-
hiirger,^^) Haml)urger und Sperk,^^) Jakusche-
witsch^®) u. a. nachgewiesen worden, während das Auf¬
finden von Nahrimgseiweiß im Milchbrustgang, im Blute
Oller gar im Nephritisharn nur in Ausnahmsfällen gelang
(A scol i,^'^) iMoro,^®) Bauer.^®) Bei den zwei letztgenann¬
ten Aulori'ii helrafen die Befunde atrophische Säuglinge,
also Kinder mit minderwertigem Verdauungstrakte.
Oh der Abhau des Nahrungseiweißes durch die Pepsin-
und Trypsinverdauung bloß so weit geht, daß dieses seinen
Artcharakter verliert, ohne deshalb die Fähigkeit der Anti-
körperhildung überhaupt einzubüßen, oder ob auch dieses der
Fall ist, darüber sind die Meinungen geteilt. Mi cliae 1 i s,’’^)
Michaelis und Oppenheimer,^®) Oppenheimer^®)
konnten weder mit peptischen, noch mit tryptischen Spal¬
tungsprodukten Antikörperbildung hervorrufen, Obermayr
und Pick“®) mit peptischen nicht, wolil aber mit trypti¬
schen (gerichtet gegen diese selbst, nicht aber gegen das
entsprechende native Eiweiß). Nach P. Th. Müller“^) ge¬
lingt die Immunisierung mit peptischen oder tryptischen
Spaltungsprodukten des Kaseins nicht.
Daß auch die unresorbiert bleibenden, in
den Fäzes enthaltenen Reste des Nahrungs¬
eiweißes ihren Artcharakter nicht bei behalten,
hat Knöpflmacher“^) an dem Kote mit Kuhmilch er¬
nährter Kinder naclige wiesen. Beim Versetzen des Kot¬
extraktes mit Laktoserum trat ein Niederschlag
nicht auf. Wie Passini^®) im hiesigen Institute nach¬
gewiesen hat, vermag ein regelmäßiger Bewohner unseres
Dickdarnis, Bacillus putrificus (Biens t o ck), durch sein
Wachstum in Alilcli das Alilcheiweiß derarlig ahzubauen,
daß dieser nach einiger Zeit die Antigenwirkung ver¬
loren geht.
Den äußeren Anläße zu den voiTiegenden Untersuchungen
bot die Anfrage eines Lederfabrikanten, ob es möglich sei,
Beimengungen fremden Kotes zu Hundekot zu
erkennen. Als Beize heim Gerben gewisser feiner Leder¬
sorten wird, wie bekannt, Hundekot verwendet, und auf
eine Verfälschung dieser Substanz mit anderem Kot, wahr-
scheinlicli Schweinokot, glaubte jener Industrielle die
Sebädigung einer Partie Leder in seinem Betriebe zurück¬
führen zu müssen.
Nach unseren bisherigen Kenntnissen über den Nach¬
weis der Artzugehörigkeit tierischer Substanzen auf biolo¬
gischem Wege mußte es aussichtsreich erscheinen, die Her¬
kunft von Kot in dieser Weise zu bestimmen. Reste biolo¬
gisch reaktionsfähigen Nahrungseiweißes, welche einen der¬
artigen Nachweis erschweren könnten, waren nach den oben
genannten Untersuchungen im Kote nicht zu erwarten, da¬
gegen war es wahrscheinlich, daß der Kot durch seinen
Gehalt an Verdauungssäften unabgebaute artspezifische
Eiweißkörijer enthielt. Weniger Sicherheit bestand bezüglich
des einzuschlagenden Weges. Wenn die spezifisch reagie-
renden Stoffe des Kotes von denen des Blutserums nicht
oder nur wenig verschieden waren, sO' konnte die Identifi¬
zierung des Kotes am einfachsten in der Weise gelingen,
daß man d u r c h B 1 u t s e r u m i n j e k t i o n e n h e r g e s t e 1 1 1 e
Ininiunseren auf Kotextrakt einwirken ließ und
die Bildung von Präzipitaten beobachtete. Bestanden jedoch
zwischen Verdauungssekret und Blutscrun ö- -selben Tieres
binsicbtlich ihrer Wirkung als Antigen grö e Differen¬
zen, so war dieser Weg nicht gangbar und man mußte den
technisch schwierigeren und langwierigeren Weg gehen und
Tiere mit Kotextrakt selbst immunisieren. Da
die letztere Möglichkeit a priori nicht ausgeschlossen werden
konnte, u. a. auch auf Grund des oben erwähnten Versuches
von Bi o n di, begann ich die Versuche gleich in doppelter
Weise. I ch behandelte Kaninchen mit H u n d e s e r u m und
anderseits solche mit Extrakten von Hunde ko t.
Die Herstellung des Extraktes erfolgte in nachstehender
W eise : Der Kot wurde niit der sechs- bis achtfachen Menge
physiologischer Kochsalzlösung gründlich verrieben, die
Mischung über Nacht stehen gelassen, dann zentri¬
fugiert und durch Päpierfalten filter, hierauf durch Berke-
felilfilter geschickt. Die in dieser Weise erhaltene,
dunkelgelbe, klare Flüssigkeit war sehr arm an Eiwei߬
körpern. Die nach dem Ansäuern durch Zusatz von
Terrocyankaliumlösung auftrei ide Trübung war nicht
stärker als jene, welche bei der gleichen Probe in
etwa SOOfach verdünntem Hundeserum auftrat. — Bei
den innigen Beziehungen zwischen Antigen und Eiweiß war
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
demnach zu vermuten, daß auch der Antigengelialt des Ex¬
traktes ein sehr geringer sein werde. Die Lösung wurde
daher im Vakuumexsikkator durch Schwefelsäure und
Dhosphorpentoxyd auf den dritten bis sechsten Teil ihres
ursprünglichen Volumensl eingeengt und von der so erhaltenen
dunkelbraunen Flüssigkeit wurden anfangs 5 bis 6 cnF, später
bis zu 20 cnF subkutan injiziert, nachdem sich gleich an¬
fangs gezeigt hatte, daß die Tiere intravenöse Injektionen
— auch in geringerer Menge — schlecht vertrugen.
Von dem Hunde serum genügten drei Injektionen
bei Kaninchen, um ein so weit wirksames Immunserum
herzuslellen, daß heim Mischen der beiden Flüssigkeiten
in den für die Reaktion günstigsten Mengenverhältnissen
sofort in der Kälte e i n rei chli ch e r Ni e d ers ch 1 a g
auf trat. Wurde das Immunserum mit Kotextrakt vom
Hunde (verschiedene Mengen) versetzt, so trat erst nach
zweistündigem Aufentlialt hei 37° C eine leichte Trü¬
bung auf, die sich am folgenden Morgen in Form eines
feinsten Flöckchens zu Boden setzte. Das Sem in- Immun¬
serum erschien demnach wenig geeignet, um Re¬
aktionen mit Kotextrakten herzustellen.
Ein reziprokes Verhalten zeigte das Serum der
mit Hundeko textrakt behandelten Kaninchen.
Nach viermaliger Injektion dieses Extraktes be¬
wirkte ein derart gewonnenes Serum, in der Menge von 0-5 cnF
mit Kotextrakt versetzt, deutliche Trübung nach 15 Mi¬
nuten; am folgenden Tage hatte sich bei Zusatz einer ge¬
nügenden Menge Kot ein zwar nicht reichlicher, doch
deutlicher, flockiger Niederschlag gebildet. Mit
normalem Hundeserum versetzt, blieb dieses Extrakt¬
immunserum entweder dauernd völlig klar, oder es bildete
sich eine kaum merkliche Trübung.
Nach diesen Vorversuchen schien es demnach mög¬
lich, mittels Injektionen von Hundekotextrakt bei Kaninchen
ein wirksames Immunserum lierzustellen.
Obwohl es nach den früheren, zum Teil oben zitierten
Versuchen nahezu sicher war, daß) die mit der Nahrung aufge-
nommenen, der Verdauung entgangenen Eiweißkörper im Kote
nicht mehr in einer Modifikation Vorkommen, in der sie zur
Bildung ihnen homologer, die Hauptreaktion störender
Antikörper führen könnten, wurden vorsichtshalber ver¬
schiedene Kaninchen mit dem Extrakte von Kotportionen
behandelt, welche ein Hund nach verschiedenarliger Er¬
nährung geliefert hatte, u. zw. erhielt der Hund : a) vege¬
tabilische Kost, b) gemischte Kost, c) rohes Rindfleisch
in übermäßiger Menge (ca. 5°/o seines Körpergewichtes pro
Tag). Bei Nahrung a) kamen demnach andere tierische
Eiweißkörper als die vorn Hunde stammenden überhaupt
nicht in Betracht.
In allen drei Fällen lieferten die Kaninchen ungefähr
gleich stark ide Immuuseren, gleich stark reagierend
auf alle drei von Hundekot. Sämtliche Immim seren
blieben o h ne W i r k u n g auf Schweine-, P f e r d e-,
Affen-, Menschen- und Rinderkot, .besonders hervor¬
zuheben wäre namentlich, daß letzterer mit Immimserum c)
durchaus nicht reagierte. Es wurde daher später auf die
Verwendung eines von speziell ausgewählter Nahrung stam¬
menden Kotes verzichtet und die Kaninchen mit Extrakt von
beliebigem Hundekot weiter behandelt. Auch das Serum
eines mit Rindfleischextrakt hehandelten Kaninchens, mit
diesem stark (sowie auch in geringerem Grade mit Rinder¬
kot) positiv reagierend, blieb völlig wirkungslos auf Hunde¬
ko textrakt c).
Um die Artspezifität des Kotextraklserums weiter zu
prüfen, wurden Proben desselben mit den nach gleichem
Verfahren gewonnenen Auszügen des Kotes derjenigen
Tiere versetzt, welche in der Tierreihe dem Hunde am
nächsten stehen, also des Wolfes, des Fuchses, des
Schakals, weiterhin der Hyt" ^e. Der Kot des Wolfes erwies
sich als kaum zu unterscheiden von dem des Hundes. Auch
durch wiederholte Ausfällung des Serums mit WoJfkotextrakt
und nachfolgendem Zusatz von Hundekotauszug gelang die
Unterscheidung der beiden Kotarten nur undeutlich. Schwä¬
cher schon reagierte das Immunserum mit Fuchskotexlrakt,
kaum mit dem Kote des Schakals, gar nicht mit dem der
Hyäne, kür die Reaktion mit Fuchskotextrakt wäre beson¬
ders zu bemerken, daß die dem Optimum entsprechende
Niederschlagsmenge zwar nur wenig geringer war als die
bei Hunde- und Wolfskot auftretende; wurde jedoch diese
Menge nur um. das Doppelte überschritten, so trat rasch
eine Minderung des Niederschlages — anscheinend durch
spezifische Lösung (Dehne^^l — ein, während vom Hunde-
Lind WoF kotauszug ein größerer Ueberschuß, nötig war,
um diese Erscheinung hervorzurufen.
Es sei noch bemerkt, daß' es auch durch Vermehrung
der Injektionen bisher nicht gelang, hochwertige Seren her¬
zustellen, wie dies bei Injektion von Blutserum, Milch usw.
möglich ist. Geringere Mengen als 0-04 cnF Serum gaben
niemals eine deutliche^ Trübung. Bei Anwendung von 0-5 cnF
des höchstwertigen meiner Immunseren und Zusatz der
optimalen Menge des homologen Extraktes (l-o bis 2 cm°)
wurde ein Niederschlag von V40 ciiF Volum (nach kurz¬
dauerndem Zentrifugieren) erzielt.
Das oben erwähnte, zur Prüfung eiugesandte Leder¬
beizmaterial, in gleicher Weise wie der Kot behandelt,
gab, in verschiedenen Verhälluissen mit dem Immunserum
gemischt, eine um vieles schwächere, jedoch deut¬
liche Reaktion. Da es natürlich ausgeschlossen war, daß
das Untersuchungsmaterial etwa Wolfs- oder Fuchskot eut-
halte, so war damit bewiesen, daß es zwar Hundekot ent¬
hielt, doch wahrscheinlich nicht solchen allein. Um über
diesen Punkt genaueren Aufschluß zu bekommen, wurde
in einer Menge von 5 cm^ Hundekotextrakt, sowie in einer
gleichen Menge des Extraktes aus dem fraglichen Kote der
Glühverlust bestimmt und die Differenz zwischen den beiden
Extrakten durch Verdünnen der konzentrierten Lösung mit
physiologischer Kochsalzlösung ausgeglichen. Bestand nun
das genannte Material lediglich aus Hundekot, so mußten
jetzt gleiche Mengen des Extraktes aus diesem und aus-
sicherem Hundekot, mit gleichen Mengen des Immunserums
versetzt, annähernd gleich starke Fällungen ergeben. Es
wurden zwei Reihen von jo fünf Röhrchen in den Versuch
gestellt, alle erhielten 0-3 cm^ Immunserum, die erste
Reihe aufiierdem auf die Hälfte des ursprünglichen Volums
eingeengten Himdekotextrakt u. zw. steigend von Röhrchen
zu Röhrchen: 003, 0 1, 0-6, 1, 2 cnF, die andere Reihe
erhielt den Auszug aus dem Beizmaterialo in gleichen stei¬
genden Mengen (berechnet auf Glühverlust). Das Volum
des ge])ildeten Niederschlages betrug in der ersten Reihe
(Hundekot) 10, 1-5, 2-0, 2-0, 1-5, in der zweiten Reihe
(zu bestimmender Kot) 00, 0-5, 1 0, 2-0, 20 Teilstriche
(1 = ^/lo cm^). Daß das fragliche Material Hundekot
enthält, konnte auch aus diesem Versuche mit Sicherheit
geschlossen werden, doch dürfte dieser nur einen Teil, etwa
ein Drittel seiner Gesamtmenge ausmachen und sonst aus
einer anderen Kotart oder aus mehreren solchen bestehen.
Zusatz eines fremden Extraktes zu der Mischung Immun¬
serum-homologer Extrakt wirkt in keiner Weise störend
auf den Ablauf der Reaktion, wie ich in mehreren Versuchen
feststellen konnte.
Da das fragliche Beizmittel angeblich durch Schweine¬
kot verfälscht sein sollte, trachtele ich, ein spezifisches
Schweinekotimmunserum lierzustellen. Doch sind die be¬
treffenden Versuche liisher zu einem definitivem Abschlüsse
noch nicht gelangt.
Die günstigen Resultate der Versuche mit Hundekot
ließen es aussichtsreich erscheinen, auch die Identifi¬
zierung anderer K o t a r t e n auf d iesem Wege vorzu¬
nehmen.- Praktisch wichtig erschien es hauptsächlich, den
Nachweis von menschlichen Fäzes auf diesem Wege
vorzimehmen, der uider Umsländen forensisch von Be¬
deutung sein könnte. Die Erkennung des Menschen¬
kotes mittels eines .Serum-Immunserums war nach den oben
erwähnten Erfahrungen mit Hundeseruni-Serum und Hunde¬
kot und nach den Befunden Biondis nicht mit Sicherheit
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 19
JÜ^
zu erwarten. Es wurden daher Kaninchen mit reichlichen
i\Iengen in der beschriebenen Weise liergestellten Menschen¬
kotextraktes behandelt. Da die mit dem . Blute oder Serum
des Menschen liergestellten Immunseren, wie bekannt, auch
mit Affenblut und Affen serum reagieren (und um¬
gekehrt), wurden, um gegen die daraus sich ergebenden
diagnostischen Schwierigkeiten in mannigfacher Weise ge¬
rüstet zu sein, gleichzeitig Kaninchen mit Affenkot
behandelt.
Die Gewinnung der Immunseren war hier schwie¬
riger als beim Hundekote. Die Präzipitine traten erst nach
sieben bis acht Injektionen größerer Mengen der Auszüge
auf u. zw. etwas weniger reichlich als dort; ein Kaninchen
zeigte sich sogar vollkommen refraktär nach sechs Injek¬
tionen mit Menschenkotextrakt. In einigen Fällen gelang
es jedoch, Seren zu erzielen, die ziemlich kräftig mit
dem homologen Kotextrakte (0-5 cm^ Serum + 1-0
bis 1-5 Extrakt) reagierten. Die Menschenseren erwiesen
sich als genügend spezifisch für praktische Zwecke,
sie präzipitierten außer dem homologen in geringem Maße
auch Affenkotextrakt, ferner spurenweise Schweinekot, gar
nicht Hunde-, Pferde- und Riuderkot.
Die Affenseren dagegen fällten in gleichem Maße
Affen- und Menschenkot, in sehr geringem Grade auch
Schweinekot.
Das langsame und einmal sogar ganz ausbleibendei
Auftreten der Präzipitine bei den so behandelten Kanin¬
chen legte den Gedanken nahe, daß dip im Menschen- und
Affenkote zweifellos vorhandenen, spezifisch wirksamen
Stoffe bei der Herstellung des Extraktes großenteils vom
Filter zurückgehalten wurden. Es fehlt nicht an Angaben
in der Literatur, welche ein derartiges Verhalten der Anti¬
gene wahrscheinlich machen, und bei der so verschiedenen
Beschaffenheit des Kotes verschiedener Tiere im allge¬
meinen war es wohl möglich, daß auch in dieser Richtung
Differenzen zwischen Hundekot einerseits, Menschen- und
Affenkot anderseits bestehen, deren Ursache einstweilen
nicht zu ergründen ist. Es wurde daher einigen mit Ex¬
trakt l)ereits vorbehandelten Tieren eine möglichst
konzentrierte Aufschwemmung vom Menschen-,
bzw. Affenkot injiziert, nachdem diese lediglich zentri¬
fugiert, nicht aber filtriert, hierauf aber zur Abtötung der
vegetativen Bakterienformen mit Chloroform durchge¬
schüttelt worden war. Da die Tiere mit Filtraten bereits vor¬
behandelt waren, bestand die Hoffnung, daß sie gegenüber
einer eventuellen Infektion schon immunisiert seien. Eine
lokale Reaktion trat nach der Behandlung mit dieser Sub¬
stanz tatsächlich in keinem Fälle auf, doch gingen die
Tiere wenige Tage nach der ersten oder zweiten Injektion
ein. Nur ein Tier lebte bis zum fünften Tage nach der
zweiten Einspritzung, wurde an diesem Tage in moribundem
Zustande aufgefunden und rasch entblutet. Obwohl dieses
Tier früher nur zweimal mit Extrakt, also im ganzen vier¬
mal mit Affenkot behandelt worden war pnd die Entblutung
bereits am fünften Tage nach der letzten Injektion statt¬
finden mußte, gab sein Serum einen deutlichen Nieder¬
schlag mit Affen- und Menschenkotextrakt. Die Ueberlegen-
heit dieser IMethode gegenüber der Anwendung filtrierter
Extrakte ist demnach evident und überwiegt wohl den
Nachteil der größeren Gefährlichkeit, auch deshalb, weil
Tierverluste bei den Injektionen des filtrierten Extraktes
gleichfa.lls nicht selten sind. Vielleicht gelingt es, durch
Vorbehandlung der antigenhaltigen Flüssigkeit (Fällung etc.)
noch bessere Erfolge zu erzielen.
Mit menschlichem Plazentar serum gaben
die untersuchten Meu schenk otimmun seren
keinerlei Reaktion, nicht einmal die geringste
T r ü b u n g.
Aus den Versuchen ergeben sich folgende Resultate :
1. Es gelingt, durch Injektionen von Kotextrakt
(bzw. Kotaufschwemmung) bei Kaninchen Immun¬
seren zu erzeugen, welche spezifisch mit dem
Kote der homologen Tierart, in quantitativ gleicher
Weise außerdem höchstens noch mit dem Kote der nächsten
Verwandten in der Tierreiho reagieren, so daß die Her¬
kunfteiner Kotprobe auf diesem Wege praktisch
in den meisten Fällen sicher zu entscheiden ist.
2. Die Nahrung des den Hundekot liefernden Tieres
ist für seine Wirkung als Antigen bedeutungslos, der
Kot enthält demnach nur das arteigene Eiweiß in
biologisch reaktionsfähigem Zustande.
3. Da Kotextraktimmunseren mit dem homo¬
logen Blutserum, Blutserum immunseren mit dem
homologen Kotextrakte nur ganz schwach oder
gar nicht reagieren, ist es wahrscheinlidi, daß den
reagierenden Substanzen des Kotes eine andere „Zustands¬
spezifität“ zukommt als denen des homologen Blutserums.
Ueber das Verhalten von Blutserum-, Vollblut-Serum
und anderen Immunseren gegenüber dem homologen Kot¬
extraktserum geben die vorliegenden Versuche wegen Mangel
an Material noch kein vollkommen abschließendes (Blut¬
serum-Seren), bzw. überhaupt noch kein (andere Immun¬
seren) Resultat, doch sollen womöglich in dieser Richtung
weitere Versuche angestellt werden.
Was die Herkunft der biologisch wirksamen Stoffe
des Kotes betrifft, welche Drüsen des Verdauungstraktes
an ihrer Bildung in erster Linie beteiligt sind, darüber be¬
halte ich mir vor, sobald als tunlich weitere Untersuchungen
anzustellen. Es würde sich dadurch die Gelegenheit er¬
geben, einer Reihe von Fragen näherzutreten, die für die
Physiologie und Pathologie der Verdauungsorgane von
Wichtigkeit sind (Fünktionsslörungen des Pankreas etc.).
Der k. u. k. Menagerieinspektion in Schönbrunn ge¬
bührt mein verbindlichster Dank für die freundliche Ver¬
mittlung des nötigen Untersuchungsmateriales.
Literatur: h Schattenfroh, Arch, für Hyg. 1902, Bd, 44, S. 339.
— *) Ruff er u. Greiidiropoulos, C. r. d. I. soc. d. biol. 1903, ref.
Zentralbl. f. Bakt., I. Abtlg. 1902, BL 33, S. 743. — Leclä'inche
u. Vallö, ebenda. 1901. — ß Mertens, Deutsche med. Wochenschr.
1901, Nr. 14. — ®) Zülzer, ebenda. — ®) Dieudonn6, München, med.
Wochenschr. 1901, Nr. 14. — ’) Schütze, Zeitschr. f. Hyg. 1901,
Bd. 36, S. 5; 1901, Bd. 38, S. 487. — ®) Landsteiner u. v. Eisler,
Wiener klin. Rundsch. 1903. — ®) Michaelis u. Fleischmann,
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med. Wochenschr. 1904. — P a s s i n i Zeitschr. f. Hyg. 1905, Bd. 49,
S. 135. — Dehne, Wiener klin. Wochenschr. iOÄ
Zwei Leprafälle in Tirol.
Von Prof. Dr. Ludwig Merk in Innsbruck.
Von den Schrecken, welche einstmals die Lepra, in
unseren Ländern verursacht hat, macht man sich nur eine
Vorstellung, wenn man in den Schriften alter Autoren zu
blättern in die Lage kommt. Speziell in tirolischen Landen
mahnen überdies die oft ruinenhaften Reste von Leprosen-
häusern an das Wüten der Seuche. So ist z. B. heute noch
ein derartiges Asyl in der nächsten Umgebung von Bruneck
und Bregenz Leprosenhaus genannt. Diese Erinnerungen
machen es dem Arzte und der Behörde zur Pflicht, wach-
.sam zu sein, damit die vergessenen Zustände nicht wieder
aufleben. Die Richtung, aus welcher für Tirol — und viel¬
leicht auch für andere Länder — diese Gefahr droht, möge
durch die Mitteilung über zwei Fälle illustriert sein, die
ich im vergangenen Herbste im Verlaufe weniger
Wochen — wohl nur ein ganz außerordentlicher Zufall
— zu konstatieren Gelegenheit hatte.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
563
1. Fall. R. F. war zu Begiiui des Jahres 1906 in Südtirol
aufgetaticht. Ei füldto sicdi krank mid wollte in Levico Genesung
finden. Dort nannte er sein Leiden „Morfea“ (bekanntlich in
gewissen Ländern Südamerikas ein Synonyinon für Lepra) und
Ijezeiclniete es als eine Abart von Lepra. Er wurde vom Kur¬
gebranch ausgeschlossen und dadurch verbreitete sich das Ge¬
rücht, in Südtirol gäbe es einen Leprösen. Man wußte aber
nicht, wohin er sich gewendet und so war es, zumal sein Name
unbekannt blieb, unmöglich, exakt feslzustellen, ob seine Krank¬
heit wirklich Lepra wäre. Mittlerweile war es dem Bezirksarzte
in Mezzolombardo gelungen, in seinem Amtsbereiche einen Mann
zu eruieren, dessen Leiden bedenklich schien, auf welchen das
Signalement paßte und er sandte ihn nach Innsbruck zur Fest¬
stellung der Diagnose. Hier gelangte er am 3. November 1906
zur^ Aufnahme und mühelos konnte die Diagnose Lepra tuberosa
gesichert werden.
_ Die Anamnese ergab, daß bis Weihnachten 1888 seine ganze
Familie in Südtirol ansässig gewesen war und damals nach Bra¬
silien u. zw. in die nächste Nähe der Stadt Serra Negra in
der Provinz San Paolo auswanderte. Er selbst war am 16. Ok¬
tober 1875 noch in Südtirol geboren und führt den Beginn seines
Leidens auf August 1905 zurück. Innerhalb kurzer Zeit — Patient
meint in acht bis zehn Tagen — bildete sich der Zustand im
Gesichte und an den Handrücken so aus, wie er zur Zeit der
Aufnahme sich darbot. Einige Knoten hatten sich sogar mittler¬
weile zurückgebildet, indes z. B. am Kinn allmählich neue, kleine
entstanden waren. Noch in seiner zweiten Heimat begannen diese
zu ulzerieren. Man riet ihm, wohl nur um ihn los zu werden,
die erste Heimat aufzusuchen, wo er am 10. Januar 1906 ankam.
Bezüglich des zur Zeit seines Eintrittes erliobenen Befundes
verweise ich auf die in Nr. 51 (1906) dieser Wochenschrift
gegebene Beschreibung.^)
Hier sei nur einiges wiederholt und aus dem Dekursus
vermerkt. Es handelte sich um eine voinviegend tuberöse Form.
Vorwiegend; denn an der Brusthaut sließ man auf die typischen,
teils einzelstehenden, teils zn Netzlinien konfluierenden braunen
Flecke der Lepra maculosa; amd sowohl am linken Unterarme,
wie am rechten Unterschenkel, konnten hypästhetische Gebiete
Andeutungen der Lepra anaesthelica — nachgewiesen werden.
An den Hüften waren während der ersten Tage fast völlig
symmetrisch verteilte, hellrote, zu serpiginösen Linien angeordnete
Erytheme zu sehen, welche aber bald spurlos schwanden. Ob
diese Erytheme essentiell zum leprösen Prozeß hinzuzurechneu
waren, kann ich um so schwerer entscheiden, als in der Folge¬
zeit an ihrer Stelle keine weiteren typisch leprösen Veränderungen
auftraten.
Was dem Falle vom klinischen Standpunkte aus immer¬
hin nicht unerhebliches Interesse beifügte, war die Lokali¬
sation der Knoten an gewissen Hautstellen, welche im all¬
gemeinen den Ruf genießen, seltener ergriffen zu sein. In
der Zusammenfassung von Babes aus dem Jahre 1901
heißt es in dieser Beziehung:^) ,,Der Handteller und die
Fußsohle sollen nach einigen Autoren frei sein, doch habe
ich selbst sowie alle Beobachter, welche ein größeres
Lepramaterial untersucht haben, auch hier Knoten oder
flache, oberflächliche oder tiefe Infiltrate mit rötlicher oder
blasser Verfärbung der Haut beobachten können.“ Ferner;
,, Stellen, an welchen sich die Knoten seltener finden, sind
... die behaarte Kopfhaut, namentlich an kahlen Stellen
derselben.“ Und : ,,Am Penis sind Infiltrationen, Knoten
und Verfärbungen nicht selten, dieselben scheinen bloß an
der Glans und an der Innenseite des Präputiums vielleicht
infolge des Einflusses des Harnes zu fehlen. Allerdings
habe ich an der Spitze der Eichel manchmal Lepromo
gesehen.“
Ungefähr zur selben Zeit beschäftigten sich Glück
und Rille mit demselben J hema.^)
Glück fand im Gegensätze zu einer Reihe von Be¬
obachtern an seinem Materiale (40 Eälle) in 25 «/o deutlich
ausgeprägte, lepröse Veränderungen an der Glans penis.
Rille weist aus der Literatur nach, daß zwar Lepraknoten
b E i t n e r, Ueber den Nachweis von Antikörpern im Serum
eines Leprakranken mittels Komplementablenkung, 1906.
0 Babes, Die Lepra. Wien bei Hölder 1901; Teil der speziellen
Pathologie und Therapie von Nothnagel, S. 192 und 193.
0 Glück, Zur Kenntnis der leprösen Affektionen an der Glans
penis. Lepra. Bibliotheca internationalis. Volumen I, Leipzig bei Barth 1900.
— Rille, J. H., Ein Fall von Lepra tuberosa mit Lokalisation an den
Fußsohlen. Ebenda, Volumen H, 1902.
und Infiltrate an den Fußsolilen von versciiiedetien Beob¬
achtern beschrieben seien, daß aber bis auf ilin noch kein
fall mitgeteilt wurde, wo die fragliche Veränderung unter
den Augen des Beobachters auftrat und ihre Entwicklung
jahrelang verfolgt werden konnte. Zum Teile von diesem
Gesichtswinkel aus beschreibt er seinen Fall.
Angesichts solcher Angaben hört es sich als etwas
ganz Besonderes an, wenn der von mir beobachtete Kranke
nicht nur an den beiden Fußsohlen, sondern auch an der
Glans penis Knoten und Infiltrate hatte. Jene 'der Glans
waren bis linsen- und kirschkerngroß, etwa sechs an der
Zahl, zum Teile einzeln sitzend, zum Teile konfluierend.
Sie nahmen das Gebiet von der Harnröhrenmündung und
rechts heim frenulum vorbei bis an die Corona glandis
ein. Im Verlaufe der Beobachtung zerfiel einer, der Knoten;
die Wunde heilte aber rasch aus.
Die Haut der Fußsohlen fiel zunächst durch ihre
weiß -glänzende, schilfrige Beschaffenheit auf. In diesem
fast gleichmäßigen Kolorit unterschieden sich runde bis
linsengroße f lecke, in deren Bereich eine mattrote Fär¬
bung wahrgenommen werden konnte. Ließ man den Kranken
die Füße ausgiebig waschen und baden, so trat — insbe¬
sondere knapp danach — der Glanz in der Fußsohlenhaut
zurück und die Flecke kamen äußerst deutlich hervor.
Ueber manchen derselben war die Hormnasse leicht ein-
gedellt und die meisten derselben ließen mehr minder deut¬
lich ein Infiltrat tasten. Ihre Zahl war beträchtlich; die
ganzen Fußsohlen waren reichlich damit besät. Auch dieses
Bild änderte sich während der viermonatlichen Beobach¬
tung nicht wesentlich.
Zu irgendwelchen differenlialdiagnostischen Bedenken
bot das deutliche und klare Verhalten des Zustandes an der
Glans und an den Fußsohlen um so weniger, als ja eine
lange Beobachtungszeit zur Verfügung stand.
Anfangs März 1907 begehrte der Patient die Ent¬
lassung und da keine gesetzlichen Bestinnnungen vorliegen,
welche eine Internierung solcher Kranken vorschreiben, so
wurde seiner Forderung entsprochen. Ich gebrauchte nur
die Vorsicht, die Behörde von dieser Absicht des Kranken
zu informieren.
Ueber den zweiten Fall kann ich mich gleichfalls sehr
kurz fassen. Ich entdeckte ihn zufällig in einem hiesigen öffent¬
lichen Lokale. Die typische Facies leonlina, der Anblick der
Haut der Handrücken, ganz ähnlich jenem des im Spitale beob¬
achteten Kranken, ließen an der Diagnose trotz der Oberflächlich¬
keit, mit welcher ich die Betrachtung vornehmen konnte, keinen
Zweifel aufkommen. Ich bemerkte überdies, daß Bat. von seinem
Schnupftuchc reichlichen Gebrauch machte. .Zu einer genaueren
Untersuchung wußte ich den Kranken nicht zu bringen. Die sofort
eingeleiteten Nachforschungen ergaben, daß es sich um einen
etwa 30jährigen jungen Mann aus dem oberen Lechtale handelte,
der seine Jugend in Brasilien — wahrscheinlich in der von
Deutschen stark besiedelten Provinz Bio grande del Sul — zu¬
gebracht hatte und in seine Tiroler Heiznat zurückgekehrt war.
Die Behörden und Aerzte des Heimatortes hatten von der Existenz
des Krankheitsfalles keine Kenntnis erlangt. Erst über meine
Intervention wurde amtlich von ihm und seiner Quartiergeberin
Nasensekret zur mikroskopischen Untersuchung an die Klinik
eingesendet. Ers teres war reich an Leprabazillen. Im weiteren
Verlaufe der amtlichen Nachfragen ergab es sich denn, daß der
nicht mittellose Patient des öfteren München besucht liatte Und
auch eine Zeitlang im allgemeinen Krankenha.use in Wien auf¬
genommen war. Selbstredend war dort aiich die Diagnose Lepra
gestellt worden, aber zu einer sanitätspolizeilichen Anzeige des
Falles fand znan sich nicht veranhißt. So kazn es, daß auch
die heimischen Behörden erst durch die geschilderten Vorgänge
auf den Fall aufmerksam wurden.
Wie man sieht, handelt es sich um zwei sogenannte
importierte Fälle. Trotz der sonderbaren Umstände, welche
zur Feststellung beider geführt haben, trotzdem also Aerzte,
welche in den Fleimatgemeinden mit ihnen in direkte Be¬
ziehung gekommen sind, nicht zur Aufdeckung der Fälle
beigetragen haben, geht es wohl nicht an, zu vermuten,
daß eine wesentlich größere Zahl von Leprösen irgendwo
— und das gilt selbstredend nicht für Tirol allein — in
unseren Ländern verborgen sei. In der Erwartung, daß
564
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 19
diese Hoffnung sich nicht trügerisch erweisen möge, scheint
mir angesichts dieser Fälle am wichtigsten, die Frage zu
erörtern, wie dieselben sanitätspolizeilich zu behandeln
wären.
Es läßt sich sehr wohl hehaiipten, daß Aerzte, selbst
wenn sie sich mit dem Problem der Lepra näher befaßt
haben, solchen singulären Formen wenig Bedeutung zu¬
zumessen geneigt sind. Demgegenüber sind aber auch Stim¬
men laut geworden, welche einer Vorsicht für die Umgebung
nicht eindringlich genug das Wort reden. Theoretisch be¬
trachtet, muß bezüglich jedes frei lebenden Leprösen, ins¬
besondere des an tuberöser Form leidenden und mit
gelegentlich zerfallenden Knoten behafteten zugegeben wer¬
den, daß er die Bildung eines Lepraherdes veranlassen
kann. Diese Annahme erhält praktischen Wert, wenn auch
nur einige Fälle oder auch nur ein Fall bekannt wii'd,
in welchem die Ausbreitung von einem solchen ,, impor¬
tierten“ Kranken stattgefun len hat.
Mit Uebergehung älterer Angaben (siehe ; Mitteilungen
mul Verhandlungen der internationalen wissensichaftlichen
Lepra-Konferenz zu Berlin im Oktober 1897, Berlin
1897, bei Hirschwald. Speziell z. B. : 1. Vierte Abteilung,
Seite 195 ff. ; A. B lasch ko. Die Lepra in Deutschland)
verweise ich hier nur auf einen Bericht aus der neuesten
Zeit, den ich wörtlich zitiere:'*)
,,Die Meinung, .... daß noch niemals ein Leprafall
konstatiert worden ist, der durch einen importierten Lepra¬
kranken in einer bisher leprafreien Gegend verursacht
werden ist, kann durch eine Beobachtung, die ich im Elsaß
gemacht habe, widerlegt werden. Ich halte meinen Fall
für unanfechtbar . Am 2. November 1893 stellte sieh
auf der Klinik ein Patient vor, welcher an ausgesprochener
Impra litt. Er war, nachdem er fünf Jahre in Tonkin ver¬
bracht hatte, in seinen Heimatsort Urbach zurückgekehrt
und nachdem er dort zwei Mrnate bei seiner Familie zu¬
gebracht hatte, zuerst in das Spital von Urbach getreten,
dann nach Straßburg gereist, um sich an der Klinik be¬
handeln zu lassen. Er wurde in der Klinik behalten und
verstarb am 4. Juli 1898 an Lepra.
Am 2. Februar 1902 kam der Neffe des Vorigen, ein
kräftiger junger Mann von 19 Jahren an die Klinik. Er
war bis vor kurzer Zeit immer gesund, erst seit einigen
Monaten will er an heftigen Rückenschmerzen gelitten haben.
Er hatte nie Urbach verlassen, in welchem Ort auch nie¬
mals ein Fall von Lepra beobachtet worden war. Während
des zweimonatlichen Aufenthaltes seines Onkels im elter¬
lichen Hause soll dieser oft mit ihm gespielt, ihn häufig
geküßt haben. Die Untersuchung ergibt eine ausgesprochene
Lepra (Demonstration von Photographien der beiden Fälle).
Ich glaube, daß ein Kommentar überflüssig ist und
daß hier nur von Ansteckung gesprochen werden kann. . . .“
Dieses positive Faktum spricht eindringlicher als De¬
kaden von Beobachtungen, denen zufolge ein- oder rück¬
gewanderte Lepröse für ihre Umgebung ungefährlich blieben.
Man wird seine Lehren um so mehr beherzigen, als ja die
Unterdrückung der Seuche kaum besondere Schwierigkeiten
bereitet. Sachgemäße Behütung der Fälle — es ist nicht
einmal Isolierung derselben erforderlich — führt unschwer
an das Ziel.
Am bedenklichsten erscheint bei diesem Bestreben der
Umstand, daß die Mehrzabl der praktischen Aerzte am I.ande
die Lepra während der Ausbildungszeit an den Hochschulen
kaum zu Gesicht bekommt. Erwägt man überdies, daß der
KraukdJange Zeit ambulant bleibt und die Hilfe des Arztes
nicht '-bedijigt zu suchen gezwungen ist, so erhöhen sich
solche Bedenken.
Deshalb soll im Unterrichte speziell bei klrörterung
differentialdiagnostischer Momente die Lepra möglichst
häufig u. zw. nicht vom Dcrinatologen allein, in Betracht
9 A. Wolff, Straßburg, Ein Fall von Lepraansteckung. V. Inter¬
nationaler Dermatologenkongreß, abgehalten in Berlin vom 12. bis
17. September 1904. Bd. 2, I. Teil, S. 81. Berlin 1905 bei Hirschwald.
gezogen werden. Die Verwendung von Abbildungen, vor¬
nehmlich von Moulagen, liefert hiebei vorzügliche Resultate.
Weiters wäre von den Landes Verwaltungsbehörden im
Verordnungswege darauf zu dringen, daß Ankömmlinge aus
Lepragegenden von seiten der loLalen Aemter dem Bezirks¬
arzte mit dem Beifügen namhaft gemacht werden, ob sich
solche voller Gesundheit erfreuen. Vorkommenden Falles
wäre der Kranke bezüglich seiner Verhaltungsmaßregeln
und Lebensgewohnheiten aufzuklären und er, sowie die
nächste Umgebung sorgfältig zu überwachen. V^or allerii
ist allen Aerzten die strenge Anzeigepflicht dieser Krankheit
in gewissen Intervallen, namentlich in solchen Ländern in
Erinnerung zu bringen, in welchen ein Verkehr der Ein¬
wohner mit Lepraländern eine Erfahrungstatsache ist. Sache
der Landesbehörde wird es dann sein, für die Evidenthaltung
der Kranken Sorge zu tragen.
Was die beiden in Rede stehenden Fälle anlangt,
so ist der Mann aus dem Lechtale in der Lage, für allen
hygienischen Komfort aus eigenem zu sorgen. Der Mann
aus Südtirol hingegen lebt in ärmlichen Verhältnissen und
hier wird die Ueberwachung eine besonders sorgfältige sein
müssen.
Aus der Budapester Rettungsgesellschaft.
Bromoformvergiftungen.
Von Dr. Wilhelm Lobl, Kontrollarzt der Budapester Rettungsgesellschaft.
Das Bromoform (CHB;^) ist eine farblose, charakteri¬
stisch riechende, süßliche Flüssigkeit, die sich in Spiritus
gut, in Wasser schwerer löst.
Nunnely und Suchard haben es gegen 1840 ent¬
deckt und zuerst empfohlen. Systematisch und dauernd
trat es kaum unter die allgemein gebräuchlichen Medika¬
mente; selbst auf dem Gebiete der Narkose konnte es kein
Bürgerrecht erlangen, obzwar es nach Hennoeques Er¬
fahrungen bei längeren Narkosen nicht so gefährlich ist, als
das •.Chloroform, und Rabuteau sich darüber — als Nar¬
kotikum — im Jahre 1876 folgendermaßen äußerte : ,, . . . il
semle que cet agent doit etre egal ou memo superieur au
chloroforme.“
Zur Narkose wird es trotz Albert, Bonome, Mazza
und noch mehreren Empfehlungen nicht verwendet; heute
wird es in der Therapie hauptsächlich nur bei Behandlung
der Pertussis und als Sedativum benützt. Gegen Pertussis
empfahl es zuerst Stepp im Jahre 1889, nach ihm referierten
über günstige Erfolge Neumann, Löwenthal, Cassel
und noch viele andere. Zweifellos ist es erklärlich, daß nach
Stepps Mitteilungen die Anwendung des Bromoform in der
Therapie der Pertussis, die bis dahiu über ein Mittel zur
Stillung oder Herabminderung der Konvulsionen kaum ver¬
fügte, einen großen Aufschwung nahm.
Aufeinander folgten die lobenden Mitteilungen, bis die
immer häufiger auf tretenden Vergiftungen das Augenmerk
der Aerzte dahin richtete, daß Bromoform ein starkes Gift
sei, und schon einige Tropfen über der gebräuchlichen Dosis
Vergiftungssymptome verurs:ichen. Das Bromoform wird,
wenn auch schon seltener, noch immer angewandt, obzwar
die Nützlichkeit mit dem gefährlichen Wesen des Mittels
kaum im Verhältnisse steht. Daher scheint es mir zeitgemäß,
einige jüngsthin beobachtete Bromoformvergiftungen zu
publizieren, um so mehr, da einige der in leUteren Zeiten
gegen Pertussis empfohlenen Spezifika auch Bromoform ent-
iialten.
Am 8. Mai 1904 bekam ich folgenden Fall unter meine
Beobachtung :
S. B. ein Knäblein von sieben Monaten war — laut An¬
gabe der Mutter — bisher vollkommen gesund ; vor drei bis vier
Tagen bemerkte die Mutter, daß das Kind zu hüsteln beginne,
bald traten unverkennbare, mit Erbrechen verbundene Keuch¬
hustenkonvulsionen auf, die es zweifellos von der acht Jahre
alten, an Pertussis leidenden Schwester geerbt hatte. Dem acht¬
jährigen Mädchen wurde vor vier Tagen Bromoform ordiniert
und die Mutter, sehend, daß das Mittel in kurzer Frist die
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
565
Konvulsionen herabsetzte und verminderte, gab auch dem sieben
Monate alten, mit künstlicher Nahrung erzogenen Knaben fünf
Tropfen in einem Löffel gezuckerter Milch. (Das größere Kind
bekam dreimal täglich sieben Tropfen.) Einige Minuten nach der
Anwendung wird das bis dahin weinende Kind plötzlich still,
es erbleicht, der Kopf fällt zurück; Rütteln und Begießen mit
kaltem Wasser bringen es auch nicht zu Bewußtsein.
Ich sah den Patienten ungefähr 15 bis 20 Minuten nach
Darreichen des Medikamentes. Das schwach genährte, magere
Kind liegt ganz matt, unbeweglich; die Haut ist blaß, trocken,
etwas kühl; Lippen, Ohren und Fingerspitzen etwas zyanotisch.
Puls kaum fühlbar, die Herztätigkeit ist eine rasche, sehr
schwache, unregelmäßige; die Atemzüge sind sehr oberflächlich,
rasselnd, zeitweilig ausbleibend. Aus dem Munde strömt Bromo-
formgeruch.
Pupillen sind eng, reagieren nicht. Korneal- wie auch die
übrigen Reflexe fehlen. Die Aussage der Mutter, der Bromoform-
geruch, die übrigen Symptome lassen die Bromoformvergiftung
zweifellos feststellen.
Während ich Vorbereitungen zur Magenauswaschung traf,
machte der Kollege Dr. S. an dem kaum atmenden Kinde
künstliche Atembewegungen (nach Howard) und wendete Haut¬
reize an. Die Atemzüge sind nach der künstlichen Atmung und
den Hautreizmitteln (Abgießen mit kaltem Wasser, Reiben)
tiefere. Magenauswaschung mit lauem Wasser, mittels eines dickeren
englischen Katheters; die ausgehobene Flüssigkeit ist anfangs nach
Bromoform riechend, ' später geruchlos; sodann führen wir un¬
gefähr einen halben Deziliter Milchkaffee durch den Katheter in
den Magen. Nach der Magenauswaschung ist das Atmen zwar
etwas tiefer, aber noch immer sehr oberflächlich und zeitweilig
ausbleibend. Puls und Herztätigkeit haben sich etwas gebessert.
Temperatur 35‘9“ C (im After). Einige Minuten hindurch noch¬
malige künstliche Atmung, sodann abwechselnd warme und kalte
Bäder, Hautreize und Reibungen.
Auf Anwendung schwachen faradischen Stromes, treten in
den Extremitäten, bald auch in den Gesichtsmuskeln Zuckungen
auf, späterhin krampfhafte Zusammenziehungen. Nach neun
Minuten langem Elektrisieren tritt der Kornealreflex wieder ein,
Hautreflexe sind noch schwach, aber das Atmen ist gut, die
Herztätigkeit stärkt sich, Zyanose ist kaum mehr vorhanden,
Muskulatur noch immer schlaff. Pat., der das Aussehen eines
normalen, schlafenden Kindes hat, schläft unter steter Beobachtung
ungefähr noch eine Stunde, nachher ist er leicht zum wecken
und weint heiser; er ist noch etwas matt, Hustenanfall ist auf
Pharyngealreiz nicht hervorzurufen. Puls 120, Temperatur 37‘2“ C.
Das Kind schläft bald wieder ein. Fünf Stunden nach der Ver¬
giftung ist das Befinden des Kindes zufriedenstellend, es ist
noch matt, somnolent, Nahrung nahrn es noch keine zu sich,
urinierte und hatte Entleerung. Der erste Keuchhustenanfall trat
nächsten Morgen, ungefähr 20 Stunden nach der Vergiftung ein.
Nächsten Tag ist das Befinden des Kindes — von katarrhalen
Symptomen der Pertussis abgesehen — zufriedenstellend.
In dem Wirkungskreise der Buda, pester Freiwilligen
Rettungsgesellschaft kamen bis Ende 1903 zwei Bromoform-
vergiftimgen zur Beobachtung.
1. 1900. I. H., der 2jährige Sohn eines Schlossermeisters
bekam irrtümlich zweimal nacheinander je vier Tropfen Bromo¬
form. Mattigkeit, Schwäche, Blässe und Erbrechen sind im Journal
als Symptome notiert. Auf symptomatische Behandlung besserte
sich der Zustand des Kindes.
2. 1902. P. K., der vierjährige Sohn eines Bedienten bekam
von der Bromoform enthaltenden Arznei die vorgeschriebene
Dosis — einen Kaffeelöffel — worauf Vergiftungssymptome:
tonische Krämpfe, Sopor eintraten. Der Zustand besserte sich
nach Anwendung von Exzitantien. Dieser Fall ist auch deshalb
besonders interessant, weil er uns darauf aufmerksam macht,
daß sich Bromoform im Wasser schwer löst und zu Boden sinkt.
Wenn das Aufschütteln der Mischung versäumt wird, befindet
sich am Boden der Flasche eine konzentrierte Bromoformlösung
und bei den letzten Löffeln, wie auch in diesem Falle, treten
Vergiftungssymptome auf.
Auch Burtons und K i w u 1 1 s Fälle erinahnen uns,
(laß es gefährlich sei, Bromoform in aufzuschüttelnden
Mischungen oder Emulsionen zu verordnen, da es schwer sei
und sinkt. Burtons Fall bezieht sich auf ein neunjähriges
Kind, hei dem nach dem letzten Löffel der Bromoform ent¬
haltenden Arznei mittelschwere Vergiftungssymplome ein¬
traten, während im Falle Kiwulls das dreijährige Kind
unter den Symptomen einer Bromoformyergiftung starb.
Deshalb empliehlt Gay, daß das löffelweise zu nehmende
Bromoform vorher in Chloroform aufgelöst werde; selbst
dann ist die Umgehung des Patienten auf das Aufschütteln
strenge aufmerksam zu maidien.
Die Bromoformvergiftung gleiclit sehr derjenigen des
Chloroforms, ln kleineren Dosen verursacht es Kopf¬
schmerzen, Schwindel, Mattigkeit; nach größeren Dosen sind
nach trunkenheitsähnlichem Zustande, Bewußtlosigkeit und
bleiche Gesichts- und Hautfarbe, zyanotische Lippen, küble
Haut, enge, nicht reagierende Pupillen (bei schweren Chloro¬
formvergiftungen sind die Pupillen sehr erweitert!), An¬
ästhesie, das Fehlen der Reflexe, schlaffe Muskulatur, nur
die Masseter sind in Kontraktion (in unserem’ Falle fehlte
dieses Symptom), schwache, arrhythmische, unregelmäßige,
rasche Herztätigkeit, oberflächliche, rasselncle, ausldeibende
Atemzüge, Bromoformgeruch die charakteristischen Sym¬
ptome. Der Urin gibt laut Börgers Untersuchungen Brom¬
reaktion. Von diesen Symptomen fehlen sehr häufig die
engen Pupillen; van Bö mine 1, Müller und Czygan
heben besonders die Anwesenheit sehr enger Pupillen her¬
vor, in den Fällen ‘Szegvärys und Pannovitz’ waren
die Pupillen mittelmäßig, im Falle Schliepers aber ad
maximum erweitert. Der Bromoformgeruch hält recht lang
an, laut Husernanns Mittiulungen ist er noch nach
24 Stunden merkbar. Einige Autoren erwähnen klonische
und Starrkrämpfe der Extremitäten. Lokal verursacht Bromo¬
form Hyperämie der Schleimhaut. Die Autopsien — laut
Leurns, Müllers und van Bömmels Mitteilungen • —
ergaben außer Hyperämie des Gehirns, der Magen- und
Darmschleimhaut nichts besonders Charakteristisches.
Die Größe der Dosis toxica ist allgemein kaum zu he-
stimmen, denn sehr viel hängt von der individuellen Em¬
pfindlichkeit, vom Alter des Kindes, von der Art und Weise
des Darreichens usw. ab. In den oben angeführten Fällen
traten bei einem sieben Monate alten Kinde nach fünf
Tropfen Vergiftungssymptome ein, während beim anderen
zweijährigen Kinde acht Tropfen Bromoform die Vergiftung
verursachten. Die durchschnittliche Dosis toxica der bisher
publizierten Fälle beträgt ungefähr 3 bis 4 g, 15 bis
25 Tropfen. Charpentier veröffentlichte 'einen Fall, wo
ein zweijähriges Kind 34 Tropfen pro die ohne die geringsten
Ver giftungssymp tome einnahm .
In der Literatur sind seit 1890 vereinzelt Bromoform-
vergiftungsfälle publiziert, die meisten im Jahre 1896. Von
den ungarischen Mitteilungen verdient Ladislaus Szeg¬
värys Fall besondere Erwähnung. In diesem Falle trank das
4V2jährige Kind auf einmal 4-5 g Bromoform; Somnolenz,
Betäubung, Taumelu, nach Bromoform riechender Atem,
mittelweite Pupillen, 136 Pulsschläge 'waren die Symptome.
Nach Verabreichung von Brechmitteln und schwarzem Kaffee
kam das Kind zu sich.
Gewöhnliche, selbst kleine Dosen können, wenngleich
selten, Vergiftungen verursachen.
Löwenthal wandte das Bromoform in hundert Fällen
an und sah nur einmal typische Vergiftungssymptome. In
der mir zur Verfügung gestandenen Literatur fand ich
24 Mitteilungen über Bromofornivergiftungen ; die nennens¬
werteren sind folgende: Sachs sah bei einem vierjährigen
Kinde nach IV2 g Bromoform schwere Vergiftung, Pann-
witz bei einem 4V2jährigen Kinde auf 20 Tropfen, No Iden
referiert über zwei Fälle, im Falle Schliepers erlitt ein
5V2jähriger Knabe nach 15 Tropfen schwere Vergiftung (ad
maximum erweiterte Pupillen), in einem Falle Börgers er¬
litt ein fünfjähriges Kind auf 15 bis 20 'Tropfen leichtere,
während ein dreijähriges Kind auf ungefälir: 5 g schwcre^Ver-
giftung, wmbei di{3 langanhalteiide, krampfartige Koiiif-»-’ tion
der Masseter besonders charakteristisch war.
van Bönimel sah bei einem zehn Monate alten Kinde
auf zweimal drei Tropfen eine Vergiftung ; auch hier trat
Trismus auf und in den Extremitäten waren fortwährende
krampfhafte Kontraktionen wahrnehmbar. Czygan sah bei
einem 3V2jährigen Kinde auf 5 bis 7 g sclnvere Symptome,
die Zyanose währte beinahe fünf Stunden; er sah den
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 19
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Vergifleleii sofort nach dem Eiimelimeii, konnte aljer Er¬
brechen selbst mit Apomorphin nicht erzielen.
Reinecke stellte bis einschließlich 1898 16 Vergif-
timgsfälle aus der Literatur zusammen, einen publiziert
er selbst.
Neueslens (1903) verülfentlichte Dillard eine Bromo-
formvergiftung. ln diesem Falle bekam ein 17 Monate altes,
an Pertussis erkranktes Kind zweimal in zweistündigen
Zwischenpausen je vier Tropleii Bromoform; obzwar es die
zweite Dosis erbrach, traten plötzlich Bewußtlosigkeit, Zya¬
nose ein, die Pupillen verengten sich ad minimum, Bromo-
formgeruch. Auf Magenwaschung, Exzitantien, kalte Ab¬
reibungen besserte sich der Zustand.
Letal endeten drei von den publizierten 24 Fällen
und zwar die des Darling-Brown, Kiwull und Müller.
In letzterem Falle bekam ein zweijähriges Kind ungefähr
5 bis 6 g Bromoform; nach trunkenheitähidichem Zustand
bekam es Schwindelanfälle. Obzwar es einige Minuten später
auf warmes Wasser und Pharyngealreize erbrach, fällt es
bald in tiefe Bewußtlosigkeit; Krämpfe, Zyanose, sehr
enge Pupillen, schlaffe Muskulatur, keine Reflexe, kaum
einige Atemzüge : dies waren die Symptome ; nach vier
Stunden letales Ende infolge Asphyxie.
Autopsiebefund : Der Magendarmtrakt enthielt noch
1-16 g Bromoform, Herz und Blutgefäße mit dunkelrotem,
Ilüssigen Blute gefüllt, Hyperämie des Hirns, und des
Magens.
Die Behandlung der Vergiftung ist eine ausschließlich
symptomatische ; natürlich muß vorerst 'die Entleerung des
Magendarmtraktes mittels Magenwaschung, Brechmittel
(Emetika), Darmwaschung oder Abführmittel (Pürgaiitia) vor¬
genommen werden. Ist der Patient zyanotisch und atmet
kaum oder schlecht oder überhaupt nicht, sind künstliche
Atembewegungen vorzunehmen, bei kleineren Kindern nach
Howard, bei größeren nach Sylvester oder nach anderen
Methoden; Hautreize, Abreibungen, kalte Abwaschungen,
abwechselnd warme und kalte Bäder, Oxygeneinatmung,
Massage, Essigklystier, faradischer Strom oder andere Ex¬
zitantien, wie Aether, Kampfer, Koffein etc., können nach
Gutdünken appliziert werden. Czygan und Dellvig sahen
nach Strychnininjektionen die sehr herabgeminderte oder
ganz aufgehörte Beflexreizbarkeit sich bessern.
Die Prophylaxis der Bromofoimvergiftung erfordert hei
Verordnung des Medikamentes die größte Vorsicht und Auf¬
merksamkeit.
Literatur:
Stepp, Rromoform ein Mittel gegen Keuchhusten. Münchn. med.
Wochenschr. 1889. — Le win, Die Nebenwirkungen der Arzneimittel,
11. Aufl. 1893. — Sachs, Ein Fall von Rromoformvergiftung. Therap.
Monatshefte 1890. — Pannwitz, Ein Fall von Rromoformvergiftung.
Therap. Monatshefte 1890. — No Iden, Zwei Fälle von Bromoform-
vergiftung. Therap. Monatshefte 1892. — Schlieper, Beitrag zur
Kasuistik der Bromoformvergiftung. Therap. Monatshefte 1894. —
Szegvari Läszlö, Bromoform-m6rgez6s esete. Gyögyäszat 1897, 20.) —
Börger, Ein Beitrag zur Kasuistik .der Bromoformvergiftung. Münchn.
med. Wochenschr. 1896. — VanBömmc;!, Ein Fall von Bromoform¬
vergiftung. Deutsche med. Wochenschr. 1896. — Schmidt, Ein Fall
von Vergiftung mit Bromoform. Münchn. med. Wochenschr. 1899. —
Müller, lieber Bromoformvergiftung. Münchn. med. Wochenschr. 1898.
— Stockes C. E., Two cases of bromoform poisoning. Brit. med.
Journ. 1900. — Burton-Fanning, Poisoning by bromoform. Brit,
med. Journ. 1901. — Kiwull, Bromoformvergiftung bei einem drei¬
jährigen Kinde mit tödlichem Ausgang. Zentralbl. f. inn. Med. 1902. —
Dillard, Bromoformvergiftung. Therap. Monatshefte 1903.
Berichtigung zu Hasenfelds Aufsatz; „Die
Heißluftbehandlung in der Gynäkologie.“
(Wiener klin. Wochenschrift 1907, Nr. 18.)
Von Primararzt Dr. Fleiscliinanii, Wien.
Herr Pr. Haseufold hat niicli in seinen Erörterungen
über die I leißlulllrehandhing in der Gynäkologie zu den i\.n-
hiingern <lieser Methode in Gegensatz gestellt, indem er sclu-eibt:
,, Nachdem wir von so vielen Erfolgen der Heißhiltbohand-
hmg gcdiört haben, wollen wir, um gerecht zu sein, auch noch
idler F I (‘ i^c h in a n n s .kiMiherungen Ix'richteu, der gar nicdit recht
mit (lein Lolie der Methode einverstanden ist. Er sagt: Es
schwinden ja hei der Behandlung oft überraschend schnell die
Infiltrate, die z. B. einen Tumor umgeben, die Patientinnen er¬
holen sich auch zusehends, bei richtiger Nebenbehandlung, so¬
bald sie aber wieder ihre Arbeit aufnehmen, so kehren die alten
Beschwerden wieder. Und davon werden die Patientinnen dann
erst durch Beseitigung des Eiterherdes geheilt. Wieweit diese
Anschauung berechtigt ist, wird die Zukunft lehren.“
Diesen in einer Diskussion der Wiener gynäkologischen Ge¬
sellschaft (Zentralblatt für Gynäkologie 1906, S. 1075) vertretenen
Standpunkt halte ich auch heute für richtig, aber wie damals nur
ill bezug auf die Behandlung chronischer Tübeneiterungen und
befinde mich mit dieser Anschauinig in Uebereinstimmung mit
zahlreichen Fachmännern, wie Schauta, Bürger u. a. Das
hindert mich aber durchaus nicht, die Heißluftbehandlung bei
Exsudaten, chronisch entzündlichen Adnexschwellungen und ande¬
ren gynäkologischen Affektionen in ausgedehntem Maße zu ver¬
wenden und mich als .einen überzeugten Anhänger derselben
zu bekennen. AVäre Herr Dr. Hasenfeld ebenso gründlich als
,, gerecht“ gewesen, hätte er den Lesern dieser Zeitschrift meine
Berichtigung ersparen können.
Sammelreferat.
Entwicklung und Ergebnisse der Lumbalanästhesie.
Sammelreferat von Dr. E. Venus, Assistent der chirurgischen Abteilung
der Wiener Poliklinik.
Im August 1899 hat Bier zunächst an sich selbst und seinem
Assistenten Ilildebrandt den ersten Versuch unternommen,
durch Injektion von Kokain in den Duralsack eine An¬
ästhesie zu erzielen. Mittels einer sehr dünnen Hohlnadel
wurde die Lumbalpunktion nach Quinke ausgeführt tind
durch diese dann 0 005 bis 0 015 Kokain in den Duralsack ge¬
spritzt. Bei Bier selbst mißglückte der Versuch, da ihm soviel
wie kein Kokain einverleibt wurde, dafür aber sehr viel Liquor
cerebrospinalis abfloß, worauf Bier auch die schweren Nach¬
erscheinungen, unter denen er zu leiden hatte, zurückführt. In
seiner ersten diesbezüglichen Mitteilung verfügt Bier nun über
die Versuche an sich, seinem Assistenten und fünf Kranken. Fünf
Minuten nach der Injektion des Kokains ,,trat eine großartige
Lähmung des Schmerzgefühles“ ein, die gegen drei Viertelstunden
lang andauerte. Ueber den Wert dieser Anästhesiemngsmethode
sprach sich Bier in seinen Publikationen immer sehr skeptisch
aus und warnte zu wiederholten Malen, besonders eindringlich
am Chirurgenkongresse im Jahre 1901 : ,,Mein Urteil über den
Wert der Rückenmarksanästhesie — geht dahin, daß es ein Ver¬
fahren ist, welches noch durchaus nicht für den allgemeinen
Gebrauch reif ist, sich noch gänzlich in der Entwicklung befindet.
So, wie es in der überwiegenden Mehrzald der operierten Fälle
angewandt ist, ist es noch völlig ungenügend. Ich halte es für
sehr verhängnisvoll, daß trotz meiner zweimaligen Warnang vor
Uebereilungen, von verschiedenen Seiten die Sache so dargestellt
ist, als handle es sich hier um ein verhältnismäßig harmloses
und ungefährliches Verfahren.“ Die nächste Mitteilung nach
Biers erster Publikation kam von S e 1 d o w i t s c h, der sowohl
Kokain als auch Eukain gebrauchte. Nach der Operation beob¬
achtete Seldowitsch öfters Frostanfälle mit raschem Tempe¬
raturansteigen bis auf 40“ und nachfolgendem Herabsinken der
Temperatur.
Während die Rückenmarksanästhesie, oder wde sie auch
genannt wmrde : ,,die Kokainisierung des Rückenmarkes“, in
Deutschland zunächst keine Anhänger fand, wurde sie von den
Franzosen, zunächst von Tuffier und den Amerikanern, rasch
und in zahlreichen Fällen angewandt. Besonders Tuffier wmrde
ihr begeisterter Anhänger und schrieb bereits in seiner ersten
diesbezüglichen Mitteilung, daß die mit Vorsicht ausgeführten sub¬
arachnoidalen lumbalen- Kokaininjektionen nach seinen bisherigen
Erfahiamgen ungefährlich erscheinen und ihre Indikation in allen
Fällen finden, in denen bei Operationen an den unteren Extiemi-
läten eine Allgenieinnarkose nicht angebracht erscheint.
Als die Methode der Kokainisierung des Rückenmarkes all¬
gemeiner wurde, entbrannte ein Priorilälsstreit, in dem der Ameri¬
kaner Corning die Methode für sich in Anspruch nahm. Da
Harley gi'zeigt hatte, daß Gifte durch Vennittlung der Gefäß(“
Nr. 19
WIENER Kl.lNlSCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
5G7
auf (las Rttckoiiinark eiuwiikeu koiiiieu, so ging Corning von
der Annahme aus, daß Gifte auf dem Umwege des Kreislaufes
auf das Rückenmark einwirken können und injizierte deshalb
Kokain zwischen die Dornfortsätze der untersten RrUstwirbel,
weil hier heim Menschen die Venae spinosae zahlreiche Ana-
stoniosen mit dem Plexus spinalis internus haben und so durcli
den ausgedehnten Venenplexus die rasche Resorption des Mithds
gefördert wird. Sowohl seine Versuche am Hunde als aucli am
Menschen, ließen ihn eine Anästhesie der unteren Körperhälfto
erzielen, gleichzeitig konnte man die von Hier her hekannten
Folgeerscheinungen des Kokain, wie Kopfschmerz, Schwindel,
beobachten. Corning wies auch auf den therapeutischen Wert
des Verfahrens hin, wenn man statt Kokain andere Mittel inji¬
zieren würde und beschreibt auch in seiner nächsten Mitteilung
im Jahre 1888 vier Fälle von ,,Spinalirrita1ion“, die er durch
Einspritzen von Kokain und Pyrogallussäure in das Rückenmark
behandelt hatte. Auch darauf, daß diese Methode die Narkose
ersetzen könnte, weist Corning hin. Risher hatte Corning
vermieden, die Medikamente in das Rückenmark selbst zu bringen.
Aber in seinem im Jahre 1894 erschienenen Ruche ,,Pain“, spricht
Corning die Absicht aus, die Medikamente direkt in den Lumbal¬
sack und damit auf die Cauda equina und das Rückenmark
zu bringen, gleichzeitig wird hier auch eine Reschreibung der
Technik gegeben. Comings Ideen und Versuche blieben gänz¬
lich unbekannt. Daß er sich selbst der Tragweite seiner Ver¬
suche nicht bewußt war, beweist, wie Bier schreibt, daß es ihm
nie einfiel, einen Chirurgen zu veranlassen, eine Operation unter
seinem Verfahren auszuführen. Es geht nun nicht an, Bier,
der ebenfalls, ohne von den Versuchen Comings zu wissen,
ganz selbständig nicht nur die Idee hatte, durch Kokaininjektionen
in den Duralsack eine Anästhesie der uftteren Körperhälfte her¬
beizuführen, sodann diese Idee praktisch durcharbeitete und für
den Chirurgen verwendbar machte, die Priorität seiner genialen
Erfindung streitbar zu machen. Die Lumbalanästhesie ist das
geistige Eigentum Biers und wird stets mit seinem Namen ver¬
knüpft bleiben. Uehrigens haben sich sowohl ein iVmenkaner
selbst, Robinson, als auch Reclus und Hahn energisch für
die Rückenmarksanästhesie als das geistige Eigentum Biers ein¬
gesetzt. In der allerletzten Zeit haben die Berliner Aerzte Hilde¬
brandt, Bosse und Bockenheimer versucht, die Erfindung
und Einführung der Rückenmarksanästhesie Corning zuzu¬
schreiben, dem sich aber Bier durch klare und objektive Literatur¬
nachweise widersetzte.
Sic card (im Jahre 1899) injizierte zunächst aus experi¬
mentellen Gründen Tieren subarachnoidal Toxine, Toxalbumine,
Mikroben, später aber auch in therapeutischer Absicht Medika¬
mente, Chlor- und Jodsalze, Tetanusserum, bei einer tuberkulösen
Meningitis Jodoformemulsion, doch war das Ergebnis dieser Ver¬
suche ein negatives. Siccard versuchte drei Wege, den kra-
nicllen, den atlantiko-okzipitalen und den luinbalen Weg, von
denen sich die beiden ersten als ungeeignet und nur der letzte
als brauchbar erwies. Fast gleichzeitig machten ähnliche Versuche
Jakob und Jaboulay. Jakob wies auch nach, daß die sub¬
arachnoidale Einführung größerer Flüssigkeitsmengen heim Ge¬
sunden zu einer Drucksteigerung im Rückenmarkskanal führe.
Die ersten Mitteilungen über die Erfolge der Lumbalan¬
ästhesie waren auch von seiten der Franzosen mit Ausnahme von
Tuffier keine sehr begeisterten. Bouebard stellte nur sehr
beschränkte Indikationen für die Kokainisierung des Rücken¬
markes. Chaput hatte bei seinen ersten zwei Fällen nur bei
dem einen Erfolg, bei dem anderen gelang es ihm nicht, in den
Rückgratskanal zu gelangen. Auch am internationalen medi¬
zinischen Kongresse in Paris im August 1900 sprachen sich
Racoviceanu und Severer anu noch sehr skeptisch aus.
Dumont sprach sich nun allerdings auf Grund von drei Fällen
gegen die Kokainisierung des Rückenmarkes aus.
Reclus sprach sich sehr gegen die günstige Meinung
Tuffiers aus, indem er auf 2000 Lumbalanästhesien mit Kokain
die hohe Zahl von sechs Todesfällen zusammenstellte.
Tuffier war es, der immer und immer wieder von den Erfolgen
meldete, die er mit der Kokainisierung des Rückenmarkes er¬
zielte. Im Jahre 1900 verfügte Tuffier über 250 Fälle
von Lumbalanästhesie, hatte aber darunter bereits einen Todes-
lall. Die Kranke war am Tage nacb dc'r ()|)ei'ation an iierz-
affektion gestorben. Von den Todesfälleu, weiche Reclus an¬
führt, sind nach Tuffier nudirere zu enlki'äflen, weil die
Patienten an ihrem Innenleiden und nicht am Kokain zugrunde
gingen. Bemaleci, Lecrenier, .Lugers, Doleris, Tedi'-
prado, Chipault, Ziembicki, Francesco, Vlinz, Meero-
witz äußern sich über die Kokainisierung des Rückenmarkes
im allgemeinen günstig. Vincent, Villar, Dickiason sind
mit dem Erfolge der Kokainisierung des Rückenmarkes sehr zu¬
frieden. Morton, der den Licpior cerebrospinalis als Lösungs¬
mittel für das Kokain gebrauchte, erzielte in 673 Fällen, davon
60 Operationen an der oberen Körperhältte, jedesmal vollen Erfolg.
Von den österreichischen Aerzten hat vor allem Schwarz
die neue Methode aufgenommen und propagiert. Da aber doch
die Folgeerscheinungen der Kokainisierung des Rückenmarkes oft
schwerer waren, der Erfolg unsicher, häufig Versagen vorkam,
so daß man doch dann noch zur Narkose greifen mußte, so konnte
sich die Methode keinen rechten Platz erobern oder behaupten und
Hahn war berechtigt, im Jahre 1901 zu schreiben: „Falls nicht
neue Gesichtspunkte in die Diskussion gebracht werden, dürfte
die Bewegung ihren Höhepunkt bald überschritten haben.“
Da waren es zwei Momente, die die Bewegung in ganz
andere Bahnen lenkten und neue, günstigere Perspektiven eröffneten.
Zunächst fand Braun in Leipzig, daß es gelingt, dem Kokain
seine Intoxikationsgefahr zu nehmen und gleichzeitig die Inten¬
sität seiner Wirkung bedeutend zu erböhen, so daß man mit
viel kleineren Kokaindosen viel höhere Grade von Anästhesie
erzeugen kann, wenn man der Kokainlösung Nebennierenpräparate,
Adrenalin, Suprarenin oder Paranephrin zusetzt. Nicht nur in
der Lokalanästhesie, sondern auch in der Spinalanästhesie be¬
währten sich diese Beobachtungen Brauns und damit war ein
großes Hindernis, ein Stein des Anstoßes aus dem Wege ge¬
räumt. Das zweite Moment, das gerade in den allerletzten Jahren
den Grund zur allgemeinen Verbreitung der Spinalanalgesie gab,
liegt darin, daß man auf der Suche nach ungefährlicheren Ersatz¬
mitteln für das Kokain, auch wirklich solche fand.
Kaum daß die Kokainisierung des Rückenmarkes bekannt
war, suchte man auch schon ungefährlichere Ersatzmittel für das
Kokain. Engel mann versuchte das Eukain, Braun warnt aber
nach einem Versuche an sich selbst dringend vor dessen Gebrauch.
Außer leichten Parästhesien kam es zu keiner Anästhesie, hingegen,
traten Kopfschmerzen, Erbrechen, Temperatursteigerimg, kleiner
unregelmäßiger Puls, Dyspnoe, sowie tagelang andauernde Kreuz¬
schmerzen auf. IVIeerowitz versuchte ebenfalls das Eukain,
neben dem Kokain, ohne aber einen Vorzug des ersteren gegen¬
über dem Kokain finden zu können. Andere wiederum sind mit
Eukain, sei es Erdcainum lacticum, Eukainum hydrochloricum
oder Eukainunr ß als weniger toxisches Ersatzmittel des Kokains
zufriedener, doch wird cs im allgemeinen nicht zu sehr geloht.
Silbermark wendete von ö®/oiger Lösung 2 cnP an und ist
im allgemeinen zufrieden. Unter 100 Fällen waren 41 Störungen
vorgekommen; die Neben- und Nacherscheinungen waren meist
milde; die toxischen Erscheinungen standen unter dem Zeichen
der bulbären Reizsymptome. Ferner gebrauchte es öfter .led-
licka (400 Fälle ohne Neben- und Nacherscheinungen), Pre-
leiter, Zahradnicky, Schnurpfeil, Trzehicky, Plata-
now mit allgemein günstigem Erfolge. Dönitz und Prcindels'
herger haben keine guten Erfahrungen mit dem Eukain ge¬
macht und es deshalb rasch wieder aufgegehen; Kopfstein gibt
dem Tropakokain vor dem Eukain den Vorzug. Schiassi inji¬
zierte neben dem Kokain auch Chloralhydrat und Morphin. P r e i n-
delsberger versuchte Anästhesin, gab es aber wegen seiner ge¬
ringen Löslichkeit wieder ganz auf. Marx versuchte die Injektionen
von Salzlösung, konnte zwar das Ausbleiben übler Folgeerschei¬
nungen, aber keine Analgesie heobachten. Fowler erzielte mit
einer l°/oigen Antipyrinlösung Analgesie bis zu den Brustwarzen.
Haubold und Melzer empfehlen auf Grund ihrer Versuche am
Affen Und sieben Beobachtungen an Menschen zur Spinal¬
anästhesie das Magnesiumsulfat. Zwei Stunden vor der Operation
wird 1 cm^ einer 25‘’/oigen Lösung auf je 20 Pfund Körpergewicht
eingespritzt, außerdem eine kleine Menge Chloroform. Nach der
Spinalanalgesie waschen sie den Spinalkanal aus. In fast allen
Fällen trat nachher Erbrechen und Temperatursteigerung auf. In
WIENER KLINISCHE WOCHENSCIIRIET. 1907.
Nr. 19
einigen Fällen, in welchen nach der Spinalanalgesie nicht aus¬
gewaschen worden war, trat einige Stunden später Bewußtlosigkeit
mit dieselbe überdauernder Blässe und Dannlähmung ein. Dau-
ej'iide schädliche Folgen haben die Autoren zwar nicht beob¬
achtet, doch hat ihr Verfahren keine Aveitere Verbreitung gefunden.
Die beiden Präparate, Avelche der Lumbalanästhesie zu ihrem
Aufschwünge verholfen haben, sind das Stovain und iropakokain.
In letzter Zeit wird auch das Novokain und Alypin als Ersatz¬
mittel für das Kokain angewandt ; auch die Verbindung der fmmbal-
anästbesie mit dem Morphin - Skopolamindämmerschlaf, speziell
in der Geburtshilfe, wurde in neuester Zeit versucht.
Viele Autoren beschäftigen sich auch mit der theoreti¬
schen Frage der Wirkung des An ä s th e ti k u m s auf das
zentrale Nervensystem.
Corning ist der Meinung, daß das Kokain nicht vom
Liquor cerebrospinalis absorbiert wird, sondern das Rückenmark
ausschließlich auf dem Umwege durch den Kreislauf beeinflußt
wird, welcher Meinung sich ganz vereinzelt nur Eskridge an¬
schließt.
Die analgesierende Wirkung des Kokains sucht Corning
auf eine Affinität dieses Mittels zu den sensiblen NervenfasernI
zurückzuführen. Marx ist der Ansicht, daß die Kokainlösung
durch direkten Kontakt die Empfindlichkeit des Plexus lumbalis
abstumpft, während es gleichzeitig zu einer molekularen Re¬
sorption des Kokains vom Rückenmarke aus kommt, woraus
sich die Aveitere Ausdehnung der Analgesie auf die Partien,
Avelche höher oben Amm Rückenmarke aus versorgt werden, erklärt.
Nach Bier Avirkt das Kokain nicht auf die Markssubstanz,
sondern auf die scheidenlosen Spinalwurzeln und Ganglien.
de Nigris und Valliet hetrachten die Analgesie als eine
Folge der direkten KokaiiiAvirkung auf die sensiblen Fasern der
Cauda equina. Nach Tuffier und Hallion beruht die Analgesie
auf einer transitorischen, physiologischen Aktion der hinteren
Wurzeln. Die Lähmung der intraarachnoidalen Nervenelemente,
die mit dem Kokain in Berührung kommen, führt Aveiterhin zu
einer vasomotorischen Paralyse der SAibdiaphragmatischen Gefäße
und dadurch zu einem konstanten Sinken des Blutdruckes durch
eine allgemeine Vasokonstriktion. Nach Tuffier und Hallion
vollzieht sich die Wirkung ^des Kokains in drei Stadien. Zunächst
nach der Einführung des Kokains in den Subarachnoidalraum
Avirkt das Kokain lähmend auf die Medulla spinalis und erzeugt
dadurch Analgesie. Weiterhin kommt es zu einer Diffusion durch
den ganzen Spinalkanal bis in die Gehirnvontrikel, wodurch sich
teihveise die Nebenerscheinungen erklären lassen, die eher als
Reiz-, denn als Lähmungserscheinungen aufzufassen sind und
schließlich geht das Kokain in den Kreislauf über, wodurch ein
anderer Teil der üblen Folgeerscheinungen bedingt ist.
Nicoletti stellte TierAmrsuche an, um festzustellen, Avie
und in Avclcher Ausdehnung das Kokain im Rückenmarkskanal
Avirkt und ob histologische Veränderungen in den Nervenelementen
auftreten. Letztere konnten nicht gefunden Averden. Die Wirkung
des Kokains erklärt Nicoletti als eine vasomotorische, zunächst
konstriktojisch, dann dilatatorisch. Hiedurch kommt es zu Er¬
nährungsstörungen im Marke und infolgedessen zu Funktions¬
störungen, die sich iji Form der Anästhesie äußern. Nico¬
letti erreichte mit anderen vasokonstriktorisch Avirkenden Älilteln
Avie Ergotin, Chinin, Antipyrin, bei gleicher AnAA^endungsAveise
el)enfalls Anästhesie. Nach .lakob ist die Analgesie die Folge
einer Leituiigsunterbrechung in den intraduralen, schmerzleitenden
Wurzelfasern; erst im Aveiteren Verlaufe Avurden die übrigen
sensiblen NerAmnfasern getroffen.
Golel)ski stellte seine experimentellen Untersuchungen an
Hunden und Fröschen an. Was die Reihenfolge aidretrifft, in
Avelcher die Reaktion auf die verschiedenen Reize erlosch, so
vi'i'lor beim Frosche der stärkste Reiz (Betupfen der Haut mit
Säure) zuerst seine Wirkung, AAÜhrend die Empfindung für ein-
fache Beiäibrung am längsten erhalten blieb. Beim Hunde über¬
dauerte flie elekti’ische Reizbarkeit die Schmeizemi)findung. Beim
ScliAvinden der Anästhesie kehrte die Empfindung von der Peri¬
pherie g(!gen das Zentmm fortschreitend Avieder. Die Temperatur-
Steigerung faßt Golebski ausschließlich als eine Intoxikationsi-
erscheinung des Kokains auf, die sich durch gleichzeitige Injektion
von Kokain und Antipyrin vermeiden läßt.
Auf Veranlassung Biers versuchte Eden durch Injektion
A^erschiedener Medikamente in den Duralsack von Katzen, deren
anästhesierende Wirkung zu erproben. Sehr gute Resultate er¬
gaben Kokain (noch in sehr kleinen Dosen, 0 0005 in i cnU
Wasser gelöst), Kokain mit Eukain zusammen (O-OOOI), 0-2äoige
Kochsalzlösung, 1 cnU einer öo.oigen Karbolsäurelösung, Veronin
(O-Ol), Akoin (Va mg), Tropakokain (0-075), destilliertes Wasser
(zAvei bis drei Spritzen). Eukain allein ergab dem Kokain gegen¬
über keine Vorzüge. Tinctura opii simplex und Anästhesin er¬
gaben ZAvar gute, aber nur sehr kurz dauernde Anästhesien.
Aether in kleinen Dosen erzeugte eine gute Anästhesie, Avurde
er aber in größeren Dosen AmrAvendet, so kam es zu bleibenden
Lähmungen, Kollaps, eventuell auch zum Tode. lOVoiger Alkohol
ergab zAvar gute Resultate, doch traten öfters rasch vorübergehende
Lähmungen auf. Morphium und Chloroform hatten ein negatives
Resultat zur Folge. Physiologische Kochsalzlösung hatte keinen
guten Erfolg. Nirvanin ist nicht zu empfehlen, da schon bei
0-05 plötzlicher Tod eintrat.
Im Anschlüsse an die Untersuchungen von Eden stellte
Dönitz an Katzen experimentelle Versuche an, um die Wirkung
des Kokains zu prüfen, Avenn es mit Adrenalin zusammen injiziert
Avird. Die tödliche Dosis Kokain für Kaizen betrug nach den
Untersuchungen von Eden 0-018 cg. Dönitz fand nun, daß,
wenn man dem Kokain drei Tropfen Adrenalin beimengt, die Dosis
letalis 0-06 betrug; AAmrden vorher 0-5 cnU Adrenalin injiziert,
so war die tödliche Dosis des Kokains 0-11. Der gleichzeitige
Gebrauch von Adrenalin drückte also die Toxizität des Kokaiiis
auf ein Drittel, die vorhergehende Adrenalininjektion auf ein
Fünftel der von Eden beobachteten tödlichen Dosis herab. Das
Adrenalin verminderte dauernd die Giftigkeit des Kokains und
erhöhte gleichzeitig dessen anästhesierende Kraft nach Zeit, Aus¬
dehnung und Intensität.
Ausgedehnte experimentelle Studien über die Lumbalan¬
ästhesie AAmrden auch von Klapp vorgenommen. Klapp Avies
nach, daß das intradural injizierte Gift AÜel toxischer Avirkt als
das subkutan injizierte, da die Resorption des Giftes vom Dural¬
säcke aus viel schneller vor sich geht. Klapp Avies dies durch
quantitative Harnuntersuchungen nach, die er an Hunden vor¬
nahm, AA'elche subkutan, bzAV. intradural 1 r Milchzucker injiziert
worden Avar. Bei der intraduralen Einverleibung des Milchzuckers
erfolgte dann Resorption zum größten Teile bereits in den erstoji
Stunden nachher, während bei der subkutanen Einverleibung sich
die Resorption auf mehrere Stunden gleichmäßig verteilte. Zusatz
von Adrenalin zur Injektionsflüssigkeit vermag ihre Resorption
vom Duralsacke aus erheblich zu verlangsamen; ebenso ver¬
langsamt Zusatz Amn schleimigen Stoffen, z. B. Gelatine die
Resorption, doch ist dieses Alittel bei Menschen Avegen seiner
schlechten Sterilisierbarkeit nicht zu empfehlen. Da außer der
schnellen Resorption des Kokains vom Duralsacke aus auch die
direkte Berührung des Kokains mit dem Rückenmarke und Geliirnc
in Betracht kommt, so vermag auch eine Verlangsamung der
Resorption des intradural injizierten Kokains bei Vlenschen die
schädliche Nebemvirkung nicht ganz zu hescitigen. Doch kann man
nach Klap]) hier entgegenAvirken,' AAmnn man das Kokain in einer
Flüssigkeit (z. B. Oel) gelöst injiziert, welche sich mit dem Liquor
cerebrospinalis schlecht vermischt. Da sich Kokainum hydro-
chloricum aber in Oel nicht löst, so gelang cs nach langem Suclien
Klapp endlich, eine Oellösring zu bekommen, das Kokainum
oleinicum, welche Lösung hei Menschen aussichtsvoll zu sein
scheint.
Im Gegensätze zu Klapp fanden Heinecke und LäAven,
daß der Verlauf der Vergiftung hei intraduraler Verabreichung nicht
durch die ResorptionsgeschAvindigkeit, sondern durch die dii'ckte
Wirkung des Giftes auf die Substanz des Zentralnervensystems
bedingt Avird. Um zu erfahren, ob das Anästhetikum durch direkte
Berührung mit Rückenmark und Gehirn oder erst durch Re¬
sorption im Kreisläufe toxisch wirkt, Avurde die giftige Grenz¬
dosis erst iidi'avenös und intramuskulär injiziert, ehe die iiitra-
durale Mdrkung geprüft Avurde. Dabei fanden Heinecke und
LäAven, daß hei gleicher Dosis und Konzentration bei inti'a-
duraler AuAvendung der Blutdruck sofort intensiv und lange ab¬
sinkt, häufig sogar der Tod eintritt, AAdihrend bei intraAmnöser
Injektion der Blutdruck nur auf kurze Zeit sinkt und nur bei
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
grölKor Iiijoklioiisgesclnvindigkeil iMiiliilt mul bei iiilramuskulürer
Einverleibung überluvupL keine Einwirkung auf den Bin Id nick
stattfindet. In ihren weileren Versuclien Iracbtelen die Auloren,
die Resorplion von der Kontaklwirkung getrennt, zu unlersuehen.
Dazu wurde der Duralsack in der Höhe des obersten Bi'uslinarkes
nacli einer eigenen Methode abgesclinürt. Die Grenzdosis von
Novokain und Kokain, mit welchen Mitteln experimentiert wurde,
führte dann zu keiner Verminderung des Blutdruckes, gleicbgüllig,
ob man hohe oder niedrige Konzentration der Gifllösung anwandte,
während wenn der Duralsack nicht ahgeschnürt war, bei höliorer
Konzentration der Lösung der Grenzdosis des anästhesierenden
Giftes bei Injektion in den Duralsack, die Giftwirkung langsam
ein trat.
Oelige Lösungen des Anästhetikums wirkten nicht anders als
wässerige. Auch danach spielt die Resorption, die zur Anästhesie
erforderliche Dosis vorausgesetzt, keine vergiftende Rolle, sondern
ausschließlich der Kontakt mit dem Zentralnervensystem.
Guinard fand, daß Wasser, subdural injiziert, ein heftiges
Gift für Nerven und Rückenmark bildet, da es in den Subarach¬
noidalraum injiziert, zwar eine anästhetische Wirkung zur Folge
hatte, aber äußerst schwere Nebenerscheinungen, vor allem heftige
Zephalalgie, Erbrechen, hohe Temperaturen nach sich zog. Des¬
halb ist jeder Zusatz von reinem Wasser zum Anästhesierungs¬
mittel als unzulässig zu bezeichnen. Auch die von manchen
Chirurgen an Stelle des Wassers gebrauchte isotonische Kochsalz¬
lösung wirkte nicht milder als destilliertes Wasser. Guinard
benützte nun als erster als Lösungsmittel für das Kokain den
Liquor cerebrospinalis in der Weise, daß er dem abgelaufenen
Liquor einige Tropfen Kokain hinzufügte und dann die Mischung
wieder in den Duralsack einspritzte. Nach Guinards Mitteilung
verliefen seine ersten 70 auf diese Weise durchgeführten Rücken¬
marksanästhesierungen ohne die geringsten Neben- oder Nach
erscheinungen. Auch Lazarus fand durch 66 an Menschen vor¬
genommene Untersuchungen, daß eine Herabsetzung der mole-
kulären Konzentration der Zerebrospinalflüssigkeit durch Injektion
mit destilliertem Wasser Schmerz hervorrief.
Das Verhalten des Blutdruckes bei der Lumbalanästhesie
wurde von Mori genauer studiert, indem bei 50 mittels Suprarenin
und Kokain durchgeführten Spinalanästhesien der Blutdruck be-
slimmt wurde. Am öftesten (16 Fälle) wurde eine Erhöhung des
Blutdruckes im Beginne und darauf ein geringes Sinken unter
den normalen Druck beohachtet. Zwölfmal blieb der Blutdruck
während der ganzen Zeit erhöht, achtmal war überhaui)t kein
Einfluß bemerkbar, neunmal fiel der Blutdruck ab und bei diesen
Kranken traten leichte Kollapszustände auf.
Cathel in sucht in seinen Untersuchungen über die Zirku¬
lation den Zerebrospinalflüssigkeit den Beweis zu bringen, daß diese
ähnlich dem Lymphgefäßsystem ein besonderes Zirkulationssystem
bildet. Cathel i n nimmt an, daß die perivaskulären Lymph-
stornata Mündungen des von ihm behaupteten Zirkulationssystems
darstellen, das sich bis in das periphere Nervensystem fortsetzt.
Basiert ist die Theorie einerseits auf Untersuchungen, welche die
Plexus als Entstehungsort des Liquor, infolge einer sekretorischen
Tätigkeit dieses Gebildes annehmen, anderseits auf experimentellen
Untersuchungen, welche den Strom der Zerebrospinalflüssigkeit
in allen Gängen des Körpers nachwiesen, schließlich auf der öfter
von Chirurgen gemachten Beobachtung kontinuierlichen fVbflusses
von Liquor cerebrospinalis nach Verletzungen.
In einer Reihe von Arbeiten suchten verschiedene Autoren
den Nachweis a n a t o m i s c h er V e r ä n d e r u n g e n i m Rück e n-
marke infolge der Lumbalanästhesie zu erbringen, aller¬
dings eigentlich erfolglos.
Carini tötete die Versuchstiere verschieden lange Zeit nach
der subarachnoidalen Kokaininjektion und untersuchte dann das
Rückenmark nach der N i s s 1 sehen Methode. In den Ganglien¬
zellen des Rückenmarkes der drei bis vier Stunden nach der
Lumbalanästbesie getöteten Tiere fand sich eine leichte, granuläre
Veränderung der chromatischen Substanz, die bei acht Ins neun
Stunden später getöteten Tieren bereits zu Fragmentation, even¬
tuell vollständiger Dissolution und vakuolären Degeneration der
Zelle vorgeschritten war; wurden die Tiere 24 bis 48 Stunden
später getötet, so waren die Veränderungen nunmebr ganz im-
be<leutend und bei nach 20 Tagen getöteten Tieren gleicli Null.
Ö6Ü
Dievs beweisl auch Carini, daß es sieb hier iiirlit um gcnuMalive
Verämlerungen handelt, sondern um einbudie reaktive Vorgänge.
va)t L i e r unlei'sucbte ebenfalts histologisch Stücke aus d(Mii
Rückenmark, der Medulla oblongata und den Inlerverlebralganglimi
von Kairincben nach Nissls Methode, welchen ‘Acnr'’ Stovain und
Adrenalin suhdural injiziert worden war. Inder Nähe iler Injektions¬
stelle und bei einem gewissen Abstande von dieser fanden sich
bei gleich nachher getöteten Kaninchen hydropische Schwellung
der Zellen und Veränderungen ihrer feinen Struktur, Zerfall der
Tigroidkör]ierchen, dei‘ Kern zeigte sich wie aufgeblasen, die
aclnomatische Substanz schwach blau gefärbt, während im Rücken¬
mark von 12 bis 14 Stunden nach der Injektion getöteten Tieren
sich diese Veränderungen nur mehr in Spuren fanden. 24 Stunden
nachher fanden sich nur ausnahmsweise in vereinzelten Zellen
Färbung des Kernes und leichte Färbung der Zellperipherie; die
Nisslkörperchen waren wieder ganz normal. In den peripheren
Nerven wurden keine Veränderungen gefunden.
Falkner suchte auf experimentellem Wege die späteren
Folgen der Lumbalanästhesie anatomisch nachzuweisen. Es wurden
a.usgewachsene Kaninchen gebraucht und Tropakokain als An-
ästhetikum in Verwendung gezogen. Die Tiere wurden bis zu
vier Monaten am Leben gehalten und dann teils durch Entbluten,
teils dureb Chloroform getötet. Bei allen wurde das Rückenmark,
bei zweien auch das Gehirn in stufenweisen Serien untersucht.
Das Resultat war ein vollständig negatives, indem weder ein
frischer, noch ein alter Degenerationsvorgang gefunden werden
konnte.
Genaue Untersiichimgen über das Verhalten des Nerven-
status während und nach der Lumbalanästhesie verdanken wir
Finkelnburg, der seine genauen neurologischen Beobachtungen
bei 50 Spinalanalgesien anstellte. Es wurde 004 bis 0-06 Stovain
mit Adrenalin, gemischt mit Liquor injiziert. Bei gut gelungener
Stovaininjektion batte der Kranke, abgesehen von dem Hautstiche
während und nach der Injektion keine unangenehmen Empfin¬
dungen. Nur in vereinzelten Fällen Avurde über einen kurzen,
stechenden Schmerz in einem Beine geklagt und in diesen Fällen
wurde auffallenderAveise das vorübergehend schmerzhafte Bein
früher und in höherem Grade anästhetisch als das andere Bein.
Der Gang der sich entwickelnden Funktionsstörungen des Nerven¬
systems ist kurz folgender: 1. Neben Frühsymptomen der unteren
(dritten bis fünften) Sakralnerven findet man als frühestes Sym¬
ptom eine Herabsetzung, bzw. ein Fehlen des Patellar- und
Achillessehnenreflexes; 2. die im Verlaufe weniger Minuten auf
die unteren Extremitäten und den Rumpf sich erstreckenden Ge¬
fühlsstörungen betreffen anfangs nur die Schmerzempfindung. Das
Berührungs- und Temperaturgefühl erlischt, wenn es überhaupt
schwindet, erst später. Das Lagegefühl war stets noch deutlich
erhalten, wenn schon alle anderen Gefühlsqualitäten aufgehoben
waren; 3. abgesehen vom Hodenreflexe verschwinden die Haut¬
reflexe verhältnismäßig spät; 4. als letztes, wohl hauptsächlich
infolge der anatomischen Lage der Wurzeln in der vorderen
Hälfte des Rückenmarkes, setzten Störungen der Motilität ein;
5. die elektrische Prüfung ergibt weder bei direkter noch indirekter
Reizung für beide Stromarten Aveder quantitatiAm, noch qualitatiAm
Aenderungen der Erregbarkeit. Die Wiederkehr der einzelnen
Funktionen erfolgte viel langsamer als das Eintreten der An¬
ästhesie. Die zeitliche Reihenfolge, in der die einzelnen Funktionen
sich wieder einstellen, vollzieht sich jnit einer geAvissen Gesetz¬
mäßigkeit, indem zunächst Motilität, dann die Sensibilität und
als letztes die Reflexe Aviederkehren. Bezüglich der Reihen¬
folge, in der sich die Motilität Avieder einstellt, ist insoferne eine
gewisse Gesetzmäßigkeit zu erkennen, als in typischen Fällen
diejenigen Muskclgruppen, die zuerst gelähmt Avaren, als letzte ihre
Gelenkigkeit Avieder erlangten. Demnach bleiben Bauchmuskeln
und Fußbeuger am längsten paretisch. Die Wiederkehr, der Sen¬
sibilität setzt annähernd gleichzeitig ein mit der Motilität, nuü
vollzieht sie sich langsamer und außerdem zeigt sich hierin ein
sehr Avechselvolles Bild. Der Ausfall der Sehnen- und Hautreflexe
zieht sich am längsten hin. Das Vriedererscheinen der Flaut-
reflexe geht mit dem der Sehnenphänomen zeitlich etwa parallel.
Das Kokain ergab ein in mancher Beziehung AAmsentlich anderes
Bild. Bei Kokain - Spinalanalgesie zeigten hei ausgesprochener Anal¬
gesie vom Nabel abwärts die Sehnen- und Hautreflexe stets ein
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 19
normales Verhältnis, das Berührungs- und Temperaturgefühl war
nur verhältnismäßig im geringen Grade gestört, das Lagegefühl
und die Mobilität blieben meist ungestört und die bisweilen beob¬
achteten Parästhesicn waren viel weniger ausgedehnt. Nach
Pitres wird die obere Grenze der Analgesie 'nicht durch eine
zur Köi'perachse senkrechte Ebene gebildet, sondern reicht rück¬
wärts immer höher hinauf als vorne, außerdem ist sie durch eine
zwei bis drei Querfinger breite Zone verminderter Sensibilität von
den normal sensiblen Teilen geschieden.
Die Technik der Lumbalanästhesie, welche Bier
in seiner letzten Arbeil auf Grund seiner an über 1000 Fällen
von Lumbalanästhesie gemachten Erfahrung angibt, ist folgende:
Der Kranke sitzt quer auf dem Operationstische, die Beine hängen
seitlich herunter, der Kopf ist vorne übergebeugt, die Wirbelsäule
stark kyphotisch gekrümmt. Jetzt wird zwischen dem ersten und
zweiten, oder zweiten und dritten Lendenwirbel mit der Kanüle,
welche eine kurz abgeschrägte Spitze hat, genau in der Median¬
linie unter mehrfachem Ansaugen von Liquorflüssigkeit das An-
ästhetikum langsam eingespritzt. Um eine hoch hinauf reichende
Anästhesie zu erzielen, empfiehlt Bier zwei Wege: Entweder
man löst das Anästhetikum in viel Liquor (6 bis 10 cm^) und
spritzt die Gesamtmenge ein, oder man bringt den Kranken sofort
in K ad ersehe Beckenhochlagerung. Gefahren sind nach Bier
in drei Fällen möglich. 1. Man wählt ein ungeeignetes Mittel
(Kokain); 2. j\Ian überschreitet die zulässige Dosis des An-
ästhelikums; 3. Man macht eine fehlerhafte Punktion und Ein¬
spritzung. Nie soll man das Anästhetikum früher inji¬
zieren, bevor nicht der Liquor in rascher Tropfen-
folge oder im Strome hervorquillt. Den rechten Punkt
zum Einstiche findet man am besten, wenn man, nachdem der
Kranke in der angegebenen Stellung sitzt, eine die Höhe der
Dannbeinkämme verbindende Querlinie zieht, welche bei stark
kyphotischer Haltung der Wirbelsäule den vierten Lendenwirbel
schneidet. Der nächsthöhere Zwischenwirbelraum (zwischen dem
dritten und vierten Lendenwirbel) oder der darauffolgende
(zwischen dem zweiten und dritten Lendenwirbel) wird dann
in der Regel zur Punktion gewählt. Manche Chirurgen lassen
den Kranken zur Punktion nicht sitzen, sondern in stark
gekrümmter Seitenlage liegen. Den Einstich machen viele ohne
jede Lokalanästhesie, manche unter Aethylchloridspray oder unter
Schleichscher Lokalanästhesie; manche machen zuerst unter
Lokalanästhesie mit dem Skalpell eine kleine Inzision und stoßen
erst dann in diese die Nadel. Läuft nach der Injektion kein
Liquor ab, oder ersebeint er rosa oder gar stärker blutig tingierL
dann liegt die Nadel nicht in der Cysterna terminalis. Nun ver¬
suche man durch Drehen, vorsichtiges Vorschieben oder Zurück-
zichen der Nadel, eventuelle Erneuerung des Einstiches, einen
kontinuierlichen Liquorabfluß zu erzielen. Gelingt dies nicht, so
versuche man im nächsthöheren Intervertebralraume zu punk¬
tieren. Auf keinen Fall darf man nach übereinstimmender Ansicht
aller Autoren das Anästhetikum injizieren, bevor nicht klarer,
absolut nicht blutig tingierter Liquor abtropft. Das Rückenmark
endet ja mit seinem Conus terminalis in der Höhe des Bogens
des zweiten Lendenwirbels, während der Duralsack bis zu dem
zweiten Kreuzbeinwirbel sich nach abwärts erstreckt. In letzteren
verlaufen die beiden Hälften der Cauda equina u. zw. nicht
(licht nebeneinander, sondern einen schmalen, langgestreckten,
liquorhaltigen Raum von. 2 bis 5 mm Rreite zwischen sich lassend,
in dessen Tiefe die Spitze des Conus terminalis und das Eilum
terminale liegen, welchen Spaltraum Dönitz die Cysterna tor-
minalis nennt. Er ist oben gewöhnlich etwas breiter als unten.
Wichtig ist es, daß in der Cauda ecpiina sensible und motorische
Nervenfasern noch ganz getrennt voneinander verlaufen, so zwar,
daß die motorischen Faseinbündel die vordere Seite, die sen¬
siblen dagegen die hintere Seite der Kauda einnehmen. Das Liga¬
mentum dendiculatum trennt den Rückenmarkskanal ziemlich scharf
in eine voi’dere motorische und eine hintere sensible Hälfte und
der Durchtritt der Wurzelfasern des Bandes gestaltet die Scheidung
ziemlich vollkommen. Um hohe Anästhesie zu erzielen, wurde
nach Biers Angabe auch die Kopfstauung durch Anlegen der
('lastiseben Binde um den Hals versucht. Nach Dönitz kann
man sie auf dreierlei Art gebrauchen: a) nach der von Bier
ursprünglich angegebenen Methode, d. h. Anlegen der Binde und
Liegenlassen derselben nach der subarachnoidalen Injektion; b) An¬
legen der Binde, hierauf Injektion und dann Abnahme der Binde ;
c) Injektion und dann Anlegen der Binde. Im ersten Falle bleibt
das Anästhetikum an Stelle; der absteigende Liquorstrom soll
lediglich die langsame Ausbreitung nach oben bezwecken. Im
zweiten Falle verschiebt sich ylas injizierte Anästhetikum sofort
in toto nach oben. Die Wirkung ist ähnlich, aber anscheinend
geringer als bei der Beckenhochlagerung. Im dritten Falle wird
das Anästhetikum sofort nach abwärts gedrückt. Doch ist die
bisher auf diesem W''ege gewonnene Erfahrung eine zu geringe,
als daß Dönitz schon ein Urteil fällen würde.
Ueber den Wert der extremen Beckenhochlagerung nach
Kader, die, wie schon erwähnt, ebenfalls zur Erzielung hoher
Anästhesien angewandt wird, sind die Meinungen der Autoren
noch verschieden. Während manche von ihrer Anwendung üble
Folgeerscheinungen sehen und sie deshalb wieder verließen,
rühmen andere, besonders Gynäkologen, ihre guten Erfolge. Für
ihre WTrksamkeit ist nach Dönitz unbedingt notwendig, daß
das Anästhetikum in einen Teil der Liquorsäule eingespritzt wird,
die auch wirklich frei verschieblich im Duralsacke liegt. Gelangt
man bei der Punktion in den zwischen beiden Kaudahälften
liegenden, mit Liquor gefüllten Spaltraum, was stets an dem
raschen, reichlichen Liquorabfluß erkenntlich ist, so kann dus
injizierte Anästhetikum nach allen Richtungen hin sich frei ver¬
breiten und durch Lagerung verschoben werden. Verliert sich
hingegen bei Abweichung von der Medianebene die Nadelspitze
zwischen den Fasern der einen Kaudahälfte, so kann sich das
injizierte Anästhelikum sehr schwer ausbreiten, da die Nerven¬
bündel dicht nebeneinander liegen und zwischen sich einen längs-
verlaufenclen, röhrenförmigen Hohlraum einschließen. Dönitz
wies nach, daß Mißerfolge der Spinalanästhesie, wie Hemian-
ästhesie, unvollkommene oder ganz ausbleibende Anästhesie, so¬
genannte Versager, nicht von der individuellen Disposition oder
dem refraktären Verhalten des Patienten gegenüber dem An¬
ästhetikum, sondern von der Ausbreitung der anästhesierendcTi
Flüssigkeit abhängt. Injizierte Dönitz an der Leiche in die
eine Hälfte der Cauda e'quina, dicht unterhalb des Conus ter¬
minalis Tusche, so lief dieselbe zwischen den Nerven nach auf¬
wärts und färbte ausschließlich diese eine Seite des Rückenmarkes,
während die andere Seite ungefärbt blieb. Vorbedingung f ü r
ein sicheres Eintreten hoher Anästhesie ist, daß
die Injektion in den L i q u o r r a u m an der h i n t e r e nl
Seite der Cauda equina gemacht wird.
Von den Einflüssen auf eine hohe Ausdehnung der An¬
ästhesie sind nach Dönitz: 1. Lageveränderungen; 2. das Blut¬
druckverhältnis im Innern der Schädelkapsel ; 3. die Menge des
Lösungsmittels für das Anästhetikum. Es gibt drei verschiedene
Methoden der Lagerung: a) Injektion des Anäslhetikums, während
der Kranke liegt und nachher Liegenbleiben des Kranken; b) In¬
jektion im Sitzen, darauf Horizontallagerung des Kranken; c) In¬
jektion im Sitzen und dann starke Beckenhochlagerung. Dönitz
erklärt dies auf folgende Weise; Vertauscht man die liegende
Stellung mit der sitzenden Position, so läuft der Liquor cerebro¬
spinalis aus der Schädelhöhle in den Spinalkanal hinein; legt
man sich, so läuft er wieder in die Schädelhöhle zurück; bei
Beckenhochlagerung fließt natürlich eine noch größere Liquor¬
menge kopfwärts. Es handelt sich also um Verschiebung der Gleich-
gewicbtslage des Liquor, die im Augenblicke des Lagewechsels
ein tritt. Im Falle a) reicht die Anästhesie bis zum Leislen-
bande; im Falle b) fast stets über das Leistenband (aber doch
nicht immer für Herniotomien ausreichend); im Falle c) bis zum
Nabel; von hier aufwärts wird die Anästhesie unsicher. Besonders
wichtig scheint nach Dönitz die Wechselbeziehung zwischen
Venenfüllung und Liquordruck im Schädel zu sein. Der Schädel
bildet eine stari-e Kapsel; wird Blut in seine Bahnen und Sinus
gebracht, so entweicht eine entsprechende Menge Liquor in den
Spinalkanal; wird das Blut wieder angesaugt, so geht der Iii([uor
wieder schädelwärts. Als Beispiel führt Dönitz hiefür Herz¬
kranke mit venöser Stauung an.
Einem Manne mit schwerem Vitium wurde behufs Kastratio
004 Stovain injiziert; darauf Beckenhochlagerung. Dabei wurde
der Kranke ganz blau im Gesichte und die Anästhesie reichte
gegen sonstige Erfahrungen nur bis zum Leistenbande.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. igO?.
Auch hei (iesuiulen scheint eine ul)iioi'male Füllung der
Schädelvenen hei ßeckenhuchlagerung die ludie Aushreilung der
Anästiiesie zu heschränken und vielleichl. kann tlie sicldhare
Blaufärbung des Gesicldes hei Beckenhochlagerung als Alaßstab
der \ enenerweilerung im Schätlelinnern angesehen werden. Sollte
dies richlig sein, dann konnte man Kranke, die bei versuchs¬
weiser Beckenhochlagerung blau im Gesichle werden, als zur
Lumbalanästhesie ungeeignet, von dieser ausschalLen. Aehnliche
Vorgänge kann man bei Gesunden durch Halsslauung willkürlich
erzeugen. Verniinderl man den Blutdruck in der Schädelhöhle,
so fließt der Liquor mehr kopfwärts. Tritt also die Ctehirnanämie
erst nach der Injektion aus, so nimmt der aufsteigende Liquor¬
strom das Anästhelikum mit, was eine höher hinaufreichende
Anästhesie zur Folge hat. Legt man die Stauungsbinde am Halse
an, so daß vor der Injektion Stauung entsteht und entfernt sie
hierauf, so fließt das überflüssige Blut ab und der Liquor steigt
dementsprechend in die Höhe. Ferner kann man den Einfluß
der Atmung auf den venösen Blutdruck ausnützen. .ledes Ein¬
atmen wirkt nämlich wie eine Säugpumpe auf die Schädelvenen.
Am stärksten ist der Einfluß., Avenh man gewaltsam inspirieren'
läßt und dabei den Zutrilt von Luft durch gewaltsames Zuklemmen
der Nasenflügel erschwert, während man das Ausalmen frei läßt.
Die hochreichenden Anästhesien geben nach Dönitz auch den
Beweis für seine Anschauung ab, daß die Begleiterscheinungen:
der Lumbalanästhesie (Erbrechen, Schweiß-, Blässe etc.) als eine
Intoxikationserscheinung, ausgehend von seiten des Blutes zu
betrachten sind. Da bei hohen Anästhesien die Medulla geradezu
von vergiftetem Liquor unispült wird, so müßten, wenn das
Anästhetikum direkt auf das Gehirn wirken würde, die schwersten
Intoxikationserscheinungen die Folge sein. ^Aber gerade hier ist
dies nicht der Fall, im Gegenteile gerade hier hatte Dönitz nie
Erbrechen heobachtet.
Kroner nimmt an, daß bei der Spinalanalgesie ein Teil
der eingebrachten Flüssigkeit eine Verbindung mit der nervösen
Substanz eingeht, während der Rest für die Anästhesie nicht
verwertet wird. Von dieser Annahme ausgehend, sucht Kroner
einen Weg, um die schädlichen Nachwirkungen der Lumhalan-
ästhesie zu beseitigen. Während z. B. das Stovain sich nur
sehr langsam verbreitet, tritt die Anästhesie sehr schnell ein;
daraus schließt Kroner, daß schon eine geringe, ])ald nach
der Injektion in die Nerven eintretende Stovainmenge zum Her¬
vorrufen der Anästhesie genügt. Die großen Dosen, die injiziert
werden, dienen nur dazu, die Spinalflüssigkeit zu verdrängen
und einen Teil des Alittels an die Nervenwurzeln, tlie wir nicht
direkt erreichen können, heranzubringen. Da also zum Hervor¬
rufen der Anästhesie kleinere Mengen hinreichen, so muß es
auch möglich sein, den überschüssigen Rest zum Teile wieder
zurückzugewinnen. Gelingt dies, so ist der Weg gegeben, die
Nachwirkungen auf ein Minimum zu beschränken. Dies suchte
Kroner durch Ablassen der Flüssigkeit unmittelbar nach Eintritl
der Anästhesie zu erreichen. Nach Injektion von 008 Stovain
wurde die Nadel und Spitze in ihrer Lage belassen, bis nach
zwei bis fünf Minuten die gewünschte Anästhesie eingetreten
war, dann wurde die Oeffnung der Nadel frei gegeben und 5 bis
10 cm^ Spinalflüssigkeit abgelassen, Ausbreitung, Intensität und
Dauer der Anästhesie hatten dadurch nicht gelitten. Die Erfolge
waren zufriedenstellend.
Hof mann zeigte, daß man mit einer viel kleineren Dosis
Anästbetikum als bisher ausreichende Anästhesien erzielt, wenn
man es in dünner Lösung verabreicht; Utwli seiner Erfahrung
erzielt man mit einer verhällnis'mäßiig kleinen Dosis eine mindest
ebenso gute, wenn nicht bessere Anästhesie wie früher mit einer
größeren Dosis. Mit Herabsetzung der Konzentration steigt natür¬
lich das Quantum der einzuspritzenden Flüssigkeit, ein äWrzug,
der für die Spinalanalgesie, besonders für eine Höhenwirkung
günstig zu sein scheint. Im allgemeinen gibt Hofinann ein
Drittel oder die Hälfte dei' sonst usuellen Dosis.
Kokain mit dem Zusatze von Adrenalin, Suprarenin oder
Paranephrin wurde von mehreren Chirurgen in Anwendung ge¬
bracht, mit gutem Erfolge. (Bier, Braun, Dönitz, Kurzwelly,
Marlin, Mori, Müller, Stumme). Doch Avurde es nach und
nach ganz verdrängt durch Stovain und Tropakokain, in allcj'-
letzler Zeit auch Novokain und Alyj)in, alle mit oiler ohne Zu¬
satz von Nelienniereiipräparalen in Gebrauch gezogen. Das Slo-
vain AVii'd l)esonders von den Franzosen und Deutschen, das
I roiiakokain insbesondere von den Oesterreichern angewandt, doch
erobert sich in letzter Zeit das Tropakokain auch in Deutschland
immer mein' Anhänger auf Kosten des Stovaius.
Das Stovain wurde von dem französischen Chemiker
F o u r n i e r dargestelll, von Reel u s zuerst als lokales Anästhetikum
hei dem Menschen benützt und von Cbap u t zuerst in der Rücken-
marksanäslbesie angewandt. Seine phannakologischen Eigen-
schaRen Avurden zuerst von Billon und Pouchet-am Tierver¬
suche studiert. Billon und Pouchet fanden, daß bei Herhivoreti
Einverleibung toxischer Dosen von Stovain in einigen Fällen
allgemeine Analgesie oder andere nervöse Störungen eintratem
Diese treten in Gestalt von Lähmungen der Extremitäten, Inkoor-
ilination der BeAvegungen, tonischen und klonischen Krämpfen,
die unmittelbar oder nach einem komatösen Stadium durch Respi-
rationslähniung zum Tode führen, bei Hunden und Katzen in
den Vordergrund. Nach Billon wirkt das Stovain auf den Herz¬
muskel erregend, auf die Blutgefäße dilatierend. Nach Pouchet
macht die anfängliche Gefäßeiweiterung und Blutdruckveränderung
bald Avieder normalen Verhältnissen Platz. LäAven stellte ver¬
gleichende, experimentelle Untersuchungen über die Wirkung von
Novokain, StoAuin und Alypin mit isotonischen, Lösungen dieser
Mittel am Ischiadikus des Frosches an und fand, daß alle drei
die Erregbarkeit der Nerven in gleiche-m Grade auf ungefähr 40%
herabsetzen. Die Wirkung blieb hinter der des Kokains etwas
zurück, was für StOAuain auch Billon fand. GeAvölmlich ist die
nach Injektion solcher Lösungen in den Duralsack des Menschen
auftretende starke Wdrkung auf motorische Nervenstämme nur
eine Folge davon, daß die Mittel in höherer Dosis und Konzen¬
tration eiiiAmrleibt Averden, als dies beim Kokain der Fall ist.
Die Wiederherstellung der Erregbarkeit, d. h. also die Entgi flung
tritt am ehesten beim Novokain ein, bedeutend länger dauert
es beim Alypin, Avährend beim Stovaain die Erregbarkeit der
Nerven nie ganz wiederkehrte, Aveil Avahrscheinlich durch die
AiiAvesenheit dissoziierter Salzsäure, eine materielle Nervenschädi-
gung eintritt. Es sind also beim Stovain materielle Nervenver-
ändenmgen am ehesten am xknAAmndungsorte zu befürchten, avo
das Mittel in verhältnismäßig hoher Konzentration die intra¬
duralen Nervenbündel trifft. Die Urteile über das Stovain als
lumbales xVnästhetikum sind im allgemeinen günstig. Gebraucht
Avird das Stovain in der Dosis' von 004 bis 006 cg; höhere
D-osen Avurden zAvar öfter in AuAvendung gezogen, scheinen aber
nicht ungefährlich zu sein.
Caplescu sieht die Vorzüge des Stovain darin, daß es
weniger toxisch Avirkt und dabei bessere Resultate als andere
Aniästhetika gibt; Lazarus ebenfalls darin, daß es Aveniger
toxisch ist und keine Vasokonstriktion erzeugt. Dean zieht
es Avegen seiner gefäßerweiternden und auf das Herz tonisierend
Avirkenden Eigenschaften vor. Tuffier führt das fast gänzliche
Fehlen der Nebenerscheinungen hei Stovain auf eine geringe
Diffusion des StoAmin zurück. Ueber gute Erfahrungen, die Stovain
hei der Spinalanalgesi-e ergab, berichten unter anderen: Anghe-
lovici, Bai sch, Becker, Bier, , Bonachi, Boeckel,
Brehni, Deetz, Hacke nbruch, Hermes, H ohmeier, Kin-
dirdy und Burgand, Kümmel, Pforte, Pochhammer,
Rusch hau pt, Saxdorf, Steiner, Tillmann, Varvaro.
Nach Dönitz ist das Stovain ZAvar ungiftiger, seine Wir¬
kung hat aber eine kurze Dauer, doch kann diese durch Zusatz
von Nebennierenpräparaten verlängert Averden. Urban verließ
Avegen mehrmals vorgekommener Atemstörungen das Stovain und
ging zum Tropakokain über. Her esc u gebrauchte das Stovain in
zehn Fällen bei Operationen im Bereiche der Haiaiorgane, ist
aber mit den Erfolgen .unzufrieden ; ebenso ist P r e i n d e 1 s b e r g e r
mit dem Resultate der Stovainlumbalanästhesien nicht zufrieden.
x-Vlessandri empfiehlt für lange dauernde Anästhesien folgende
Lösung: StoAuin, Kochsalz aa 1-0, Acid. lact. gtt. I, Acpia
destillata 10-ü.
Fast allgemein wird jetzt das Tropakokain dem Stovain
vorgezogen. x4n der Klinik Bier selbst Avird jetzt Tropakokain
zur Spinalanästhesie gebraucht. Bier wendet es in der Ri'gel
in der Dosis von 0 05 cg in isotonischer Lösung ohne Zusatz
von Nel)enniemq)räparatien an. Die gewöhnliche Dosis, die meist
0/2
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 19
bei Tropakokain gebraucht wird, ist 0 06 bis 0 08 cg. Nacli J)önit/.
l)estehen die ^'orzüge des Tropakokain gegenüber dem Stovain
in folgendem: 1. Avirkt das Tropakokain bedeutend geringer auf
<]ie Äfemmuskulatur ein ; 2. fallen die Augenmuskellälimungen,
Avelche bei StOAmin und Novokaingebrauch beobaclitet Avnrden,
fort; 3. sind Begleit- und Nacherscheinungen viel geringer. Er-
hrechen Avährend der Opei’ation gehört zu den größiten Seltenheiten,
ln der CieburLshilfe Aväre das Tropakokain noch besonders des¬
halb Amrzuziehen, Aveil es durch seinen geringen Einfluß auf
die Muskelkräfte die PreßA\mhen am geringsten heeinflußt. Spe¬
ziell in der Geburtshilfe Avuiale es von Stolz und Trautenrot
empfohlen. Nach letzterem ist es dem Stovain Aveitaus vorzu¬
ziehen. Trautenrot injizierte sogar 012 und einmal 0-21 Tropa¬
kokain ohne fnloxikationserscheinungen. Die größte Erfahrung
über Tropakokain in der Lumbalanästhesie besitzen Avohl
ScliAvarz und Slajmer. Sclnvarz Avandte nach seiner letzten
l’ublikation das Tropakokain in 1000 Fällen mit dem hesten Er¬
folge an, so daß er schreibt: „Die Erzielung der Anästhesie ist
nichts als eine Frage der Technik. Bei richtiger Technik gibt
es keine Versager.“ Slajmer hatte unter 1200 Fällen nur 54
minder gute Residtate. Fitster hatte unter 235 Fällen in 74”/o
vollständiges Gelingen, in 5-6°/o eine gerade ausreichende An¬
ästhesie, in 6-3 “/o mangelhafte Anästhesie, 21 Fälle versagten
vollständig. Es äußern sich üher ihre Erfahrungen mit Tropa¬
kokain sehr günstig: Colombani ,(100 Fälle), Preindels-
l)erger (331 Fälle), Defranceschi (420 Fälle), Neugebauer
(170 Fälle), PlatanoAv (238 Fälle), ferner Bosse, v. Karas,
K o p f s t e i n, M ü 1 1 e r, S t u m m e, V ö 1 k e r, Z a h r a d n i c k y.
lieber den Wert des Novokain sind die Meinungen noch
sehr geteilt. Sonnen bürg findet es dem Stovain ebenbürtig;
Pantovits stellt es dem StoAuain an Wert gleich, ohne daß
es dessen unangenehme Nachwirkungen im anästhetischen und
l)Ostanästhetischen Stadium besitzt. Henkiny, Stein und Kolk
mann sind mit seiner Wirkung zufrieden;, Liiidenstein gibt
ihm den Vorzug vor dem Stovain, weil es keinen Einfluß auf
die GeAvebe ausübt und seine NachAvirkungen einerseits selten,
anderseits sehr gering isiiid. Dem entgegen fand Hofmeier die
gelindeste NacliAvirkung gerade bei Stovain. Brunner rübmt
dem NoAmkain nach, daß es Aveniger toxisch sei als das Kokain
und zwei bis dreimal Aveniger als die anderen Ersatzmittel des
Kokain. Dagegen fanden Heinecke und Läwen bei ihren ex¬
perimentellen Untersuchungen, daß der Unterschied der Giftig¬
keit ZAvischen Novokain und Kokain bei subduraler Injektion
ein sehr geringer ist. Die Grenzdosis beträgt für das Novokain
003 cg, für das Kokain 002 cg pro Kilogramm TiergeAvicht.
Dagegen ist die Dosis minima letalis bei der subkutanen Injektion
des Novokain 0-75 cg, für das Kokain schon 0-2 cg pro Kilogramm
TiergeAvicht. Subdural injiziert ist also das Novokain in seiner
Wirkung viel toxischer. Auch fanden Heinecke und UäAven,
welche das Novokain in 400 Fällen zur Lumbalanästhesie herati-
zogen, daß es 2Vi-’mal öfter Neben- und Nachersclieinungen her-
Au)rruft als das Stovain, daß es die stärksten NacliAvirkungen,
mit sich bringt, insbesondere die Kopf-, Nacken- und Kreuz¬
schmerzen viel stärker sind. Bier selbst nennt das Novokain
für die Spinalanalgesie ungeeignet. Baisch empfiehlt Novokain
nicht, Aveil man von ihm eine viel höhere Dosis hraucht, die
Apästhesie sehr langsam eintritt, dann aber sehr rasch ansteigt,
so daß es öfters v_zum Kollaps kommt.
Auch bezüglich des Alypin, das erst Avenig Chirurgen
und diese noch nicht an einer großen Anzahl von Fällen prüften,
sind <lie Meinungen geteilt. Die größte Erfahrung mit Alypin
hat Prein d elsberger, der es emi)fiehlt, da die Folgeerschei¬
nungen eher leichter als scluverer als heim Gebrauche von Stovain
sind. Baisch erklärt es dem Stovain für gleichAvmrtig. Dagegen
halten es Bier, Heinecke und LäAven fürdie Lumbalanästhesie
ungeeignet.
Krönig versuchte zuerst die Lumbalanästhesie mit
dem Sk o }) ol am i n m o r j) h i n d äm m e r s c h 1 a f e zu koml)i-
nieren. Maßgebend Avar hiefür, idaß die Kranken bei den unter
Lumbalanästhesie- A'orgenommenen Operationen zAvar keine
Schmerzen empfinden, aber doch mit vollem, klaren BeAVußtsein
der ()])eralion folgen können, Avas oft für den Kranken sowohl
als auch für den Operateur sein' peinlicdi ist. Um dem Kranken
den unangenehmen Eindruck und die Erinnerung an die Operation
zu ersparen, griff Krönig zu dieser Verhindung zweier, eigent¬
lich verschiedener Anästhesierungsmethoden. Nach den Vor¬
schriften Krönigs bekommt die Patientin (Krönig sammelte
nämlich seine Erfahrungen in der Gynäkologie) ZAvei Stunden
vor der Operation 0 0003 Skopolamin und 001 Mor]Dhin subkutan
injiziert; nach einer Stunde jvird eventuell dieselbe Dosis noch
einmal injiziert, Avenn nötig, bekommt die Kranke nach einer
Aveiteren Stunde noch allein 0 00015 Skopolamin. Bei herahgekom-
menen Frauen wird dies als zweite Dosis allein gegeben. Gleich¬
zeitig kommt die Kranke in ein dunkles Zimmer, in das keine
Geräusche dringen, bekommt Antiphone in die Ohren, schwarze
Gläser vor die Augen. An die letzte Skopolamininjektion wird
sofort die Lumbalanästhesie angeschlossen. Zur Vermeidung Amn
Atmungsstörungen läßt Krönig nicht sofort die Kranke in Becken-
hocblagerung l)ringen, nimmt aber eine größere Dosis Stovain
(bis zu 0 10 bis 012). Die Vorteile dieser Anästhesierungsweisc
erblickt Krönig darin, daß sie die humanste Analgesie bildet,
die Gefahren der postoperativen Bronchitiden und Pneumonien
verringeit, dadurch die Sicherheit des Lebens bei Laparotomien
erhöht, eine bessere Entspannung der Bauchdecken herbeiführt,
die Rekonvaleszenz abkürzt, Nausea und Erbrechen nach der
Operation kaum beobachtet Avird. Peukert arbeitete eine eigene
Technik für die Lumbalanästhesie 'in Verbindung mit dem Skopo¬
laminmorphindämmerschlafe in seiner Amvendung Lei der Ab¬
dominalchirurgie aus, durch Avelche starke Druckerscheinungen
vermieden Averden und eine viel langsamere, allmählich chemische
Verbindung des Giftes an die Rückenniarksubstanz eintritt, so-
Avie ein Aufsteigen des Stovain zum Atemzentrum vermieden
wird. Peukert empfiehlt größere , Dosen von Stovain, 001 bei
vaginalen Operationen mit Eröffnung des Peritoneums, 0-12 für
Laparotomien. Das Stovain ist nach Peukert deshalb besonders
empfehlenswert, weil nur durch das Stovain die vollkommenste
Entspannung der Bauchdecken, Ruhigstellung des Darmes und
vollkommenste Analgesie und Anästhesie, soAvie kein erheblicher
Einfluß auf das Atemzentrum konstatiert Averden konnte.
Busse Avandte ebenfalls die Kombination des Skopolamin-
rnorptiindämmerschlafes mit der Spinalanalgesie zusammen an
und gebrauchte mit Ausnahme von zehn Stovainfällen in 170 Fällen
Novokain. Der Erfolg war im allgemeinen befriedigend. Die Skojm-
laminwirkung äußerte sich heim Einschlafen in mehr oder weniger
starkem Erröten des Gesichtes, Pulsbeschleunigung, gelegentlicher
Unruhe und VerAvirrung, die sich bis zu typischen Halluzinationen
steigerte. Ein großer V^orteil liegt nach Busse darin, daß oft
am ersten oder zAveiten Tage nach der Operation die Darmtätig-
keit Avieder spontan einsetzte. Die Nachteile sind nach Busse
von seiten der Lumhalanästhesie die subtile Technik, Unsiclier-
heit des Erfolges, das Auftreten einiger lästiger Begleiterschei¬
nungen Avährend dei' Operation, von seiten des Skopolamin die
Unsicherheit seiner Wirkung und Nacherscheinungen.
Baisch tritt Avarm für die Methode ein und zieht der
reinen Lumbalanästhesie die vorherige Injektion von Skopolaniin-
morphin vor. Die Dauer der Anästhesie ist hei allen Mitteln
ziemlich die gleiche; sie schwankt durchschnittlich zwischen einer
halben und drei bis vier Stunden; in der Regel hält sie eine bis
zAvei Stunden an.
Ein sehr Avichtiges Kapitel in der Besprechung der Lumbal¬
anästhesie sind die Neben- und Nacherscheinungen. Unter
Nebenerscheinungen verstehen wir die während der Operation,
unter Nacherscheinungen die nach der Operation auftretenden
Folgeerscheinungen der Lumhalanästhesie. Ihre Erklärung Avird
eigentlich in zAvei Amrschiedenen Gründen gesucht. Die einen
nehmen eine direkte Intoxikation des Gehirnes und verlängerten
Markes an, Avährend die anderen sie als eine Folge der Aufnahme
des Giftes in die Blutbahn, also als eine allgemeine Intoxikation
an nehmen.
Bier selbst hält in seiner ersten Mitteilung die Nachwirkun¬
gen der Lumhalanästhesie Aveniger für Intoxikalionserscheinungen
als für die Folgen von Kreislaufstörungen im Zentralnervensystem.
Doch schon SeUloAvitsch, der bereits Experimente an Hunden
Amrgenommen hatte, schiebt die Neben- und Nachersclieinungen
direkt der toxischen Wirkung des Kokain zu. In seinen näclislen
Arbeiten erklärt Bier sellisl die Folgeerscheinungen als toxische
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Wirkiingei), olieuso Tiiffior mid Kamiuercr. Jakob orklärto
(lie Nelieii- iiiid Nachersclieiiiimgeti dor Spinalaiialgcsie als Folge
eines cliemischeii Reizes der freindarügen Flüssigkeit aid das
zenirale Ncn^ensystem. Nach Klapp kommen sowohl die rasche
Resorption der Kokainlösimg vom Duralsacke aus als auch die
direkte Berührung des Kokains mit dem Rückenmarke und Ge¬
hirn in Betracht. Dönitz betrachtet die Intoxikalionserschei-
nimgen als von seiten der Blutbahn ansgehend. Jedlicka er¬
blickt die Gefahren der Lmnhalanästhesie in vier Gründen: 1. in
der Toxizität der Gifte; 2. in der lokalen, speziellen Nebenwirkung
der injizierten Substanz in Form einer Veränderung der Leistungs¬
fähigkeit der Medulla und Nerven u. zw. zuerst der sensiblen,
hei stärkeren Dosen auch der motorischen Nerven; 3. in der
Störung des Flüssigkeitsdruckes irn Lumhalkanal oder im Shock;
4. in Veränderungen im Piaarachnoidalraume infolge des injizier¬
ten Fremdkörpers. Dem dritten Grunde läßt sich vorheugen, wenn
man dem Kranken die Injektion langsam in sitzender Stellung
macht und die Flüssigkeit vorher auf den kryoskopischen Punkt
gebracht und auf 38** C erwärmt hat. Dem vierten Grunde läßt
sich entgegenwirken, wenn man eine kleine Menge Liquor entleeid.
AVenn es auch noch nicht ganz klar und aufgeklärt ist, worin
in jedem Falle die Ursache für die Neben- und Folgeerscheinungen
zu suchen ist, so sind sie doch gewiß in den meisten Fällen In¬
toxikationserscheinungen, venirsacht durch das injizierte An-
ästhelikum, manchmal Avird von dem einzelnen Autor ein reich¬
liches x4hströmen der Zerebrospinalflüssigkeit beschuldigt, manch¬
mal auch die veränderten Druckverhältnisse im Wirbelkanale.
Technische Fehler spielen, Avie Dönitz erst jüngst Avieder nach¬
drücklich betonte, gewiß auch eine Rolle. Wichtig ist, Avie Liebl
nachweist, daß die suprareninhaltigen Lösungen rein seien. Die
Verwendung gehrauchsfähiger Ampullen hezeichnet Liebl als
unzulässig. Liebl hezeichnet es auch als unrichtig, immer nur
von Stovain-Novokainschädigungen zU sprechen und das (juoad
Nachwirkung sicher nicht harmlose Suprarenin so vollständig
hei der Beurteilung zu vernachlässigen, wie es bisher immer ge¬
schah. Die richtige, vollwirksame, Suprarenin enthaltende Lösung
muß vollständig farblos sein, während gefärbte Lösungen in der
Intensität und Verläßlichkeit der anästhesierenden AVirkung varia¬
bel und unzuverlässig sind Und konstant Reizerscheinungen setzen.
Farblose, wasser klare Lösung ist nach Liebl ein ab¬
solutes Kriterium der Güte und Brauchbarkeit der
Lösung. Auch Biberfeld hält die AiiAvendung von Supra¬
renin zur Lumbalanästhesie in den geluäuchlichsten Dosen für
nicht ganz ungefährlich und sicherlich ist nicht in allen Fällen von
Nebenerscheinungen das Anästhetikum zu beschuldige]i, sondern
oft auch das Suprarenin schuldtragend. Weniger gefährlich scheint
das synthetisch hergestellte Suprareninderivat; Dioxyphenylätba-
nolamin zu sein.
Die häufigsten und nicht gefährlichen Neben¬
erscheinungen Av äh rend der Operation sind Sin-
g u 1 1 u s, E r b r e c h e n, G ä h n e n, J\I u s k e 1 z i 1 1 e r n u n d
ScliAveißausbrucb. In zwei von Kümmel beobachteten
Fällen Avar das Muskelzittern so intensiv, daß man nicht operieren
konnte. Senni sah einmal bei Lumbalanästhesie mit Kokain
tetanische Kontraktion der gesamten Kör])ermuskulatur, die jedoch
durch eine Morphininjektion zum Schwinden gebracht Averden
konnte, so daß man die Operation fortsetzen und beenden konnte.
Die häufigsten und nicht bedrohlichen N ac h er¬
sehe i nun gen sind Singultus, Nausea, Erbrechen,
Kopfschmerzen, Schmerzen im Nacken und leichte
Nackensteifigkeit, K r e u z s c h m e r z e n und T e m p e r a t u r-
stei gerungen. Diese Erscheinungen treten meist am Tage der
Operation selbst oder am Tage nach ihr, selten in den nächsten
zwei Tagen auf, dauern Av^enige Stunden bis zu ein bis ZAvei
Tagen an und halten sich meist in engen Grenzen. Die Kopf¬
schmerzen können aber auch sehr heftig und direkt (|ualvoll
Averdeii und Tage, ja manchmal, allerdings in abgeschAvächtem
Grade, ein bis ZAvei Wochen andauern. Opitz z. B. Imobacbtele
einen Fall, in dem nach mit Novokain vorgenommener Lumbal¬
anästhesie die Kopfschmerzen in fast unerträglichem Grade über
acht Tage anhiellen. Opilz gibt hier einem zu reichlichen Ab¬
flüsse von Liquor die Schuld. Deetz beobachtete nach einer
Stovain- Lumbalanästhesie einen sechs Wochen lang andauernden.
intensiven Kopfschmerz. Chai)ut empfiehlt gegen diese inten-
siAmn Ko])fscbmerzen die neuerliche Lumbalpunktion und das
Ablassen einiger Kubikzentimeter Spinalflüssigkeit; wurden deii
Kranken schon vorher 10 enP Liquor abgelassen, so beobachtete
Chaput nie nachherige Klagen über Kopfschmerzen. Gegen die
Koi)fschmerzen wurden auch die üblichen Medikamente, wie Brom,
Chinin, Antipyrin, Phenazetin, Migränin, Pyramidon etc. em¬
pfohlen, ohne jedoch Avesentlichen Erfolg zu haben. Offer ge Id
sah manchmal günstigen Erfolg von Coffeinum nalrio benzoicum
(0-25 bis 0-3), nie aber Erfolg von Morphin. Offergeld gibt
für den Kopfschmerz nach Lumbalanästhesie folgende Flrklärung :
Infolge akuter Drucksteigerung kommt es in der Endolymphe
des Gehirnes zu einer Reizung der sensiblen Fasern der Dura.
Es scheint, daß eine Resorption der in dem Duralsacke injizierten
Flüssigkeit nur in sehr 'geririigem Maße erfolgt und daher lauge
Zeit erforderlich ist, bis die ganze Mejige Avieder ausgesebiedeui
ist. Hier wirkt nun die Lumbalpunktion sehr druckentlastend.
Offergeld empfiehlt nun eine möglichst geringe Menge zu in¬
jizieren und vor der Injektion schon 1-5 bis 2 0 cm^ Liquor
abzulassen. Treten trotzdiem Kopfschmerzen auf, so ist eine Iloch-
lagerung des Kopfes Und Lumbalpunktiou immer günstig.
Das Erbrechen ist nur in seltenen Fällen andauernd
und intensiv. Chaput erwähnt zwei Fälle von fünf Tage lang
anhaltendem, sehr scliAverem, durch nichts zU stillendem
Erbrechen. In der Regel dauerte das' Erbrechen, wenn
es überbaujrt auftritt, einige Stunden, höchstens noch'
(len der Operation folgenden Tag an. Die Temperatur¬
steigerungen sind eine sehr häufige, Avohl die häufigsten)
Nacherscheinungen der Lumbalanästhesie. Meist gebt dann die
Temperatur noch am Tage der Operation atif 37-8'’ bis 38-5'’ empor,
seltener auf 39‘’, aber auch Fälle bis zu 40'’ Temperatur sind
beobachtet Avorden. Die Temperatursteigerung kehrt in der Regel
am nächsten oder zAveitnäc listen Tage der Operation wieder zur
Normalen zurück Und ist ganz ungefährlich und folgenlos.
Oefters AAUirde nach Lumbalanästhesie Incontinentia
urinae et alvi beobachtet (Preleiter, Henking, Herescu)
u. ZAV. soAVohl nach Anwendung von Kokain und Stovain, als
auch von Novokain Und Alypin. Die Inkontinenz dauerte meistens
zwei bis drei Tage an. Henking sab zwei Fälle, in denen die
inkontinenz acht bis zehn Tage dauerte; Racoviceanu beob¬
achtete eine einen Monat andauernde BlasenlähniUng nacliKokaini-
sierung des Rückenmarkes. Aber auch Har iiAmr halten Avurde
einige Male beobachtet (Bier und Dönitz, Bai sch, Beckei-,
Herescu); aueb diese ging meist raseb zurück und machte nur
in sehr Avenigen Fällen den Katheterismus notwendig.
Starke Erektionen des Gliedes nach Lumbalan-
ästbesien Aväbrend des Heilungsverlaufes beobachtete Urban
und führt diese auf eine Ueberreizung des Goltz sehen Erektions¬
zentrums im Lendenmarke, respektive der Nervi errigentes zurück.
Zu den sclnveren Nebenerscheinimgen der Lumbalanästhesie
gehören Re s p i r a ti o n s 1 ä h ni u n gen Und Kollaps. Kopf¬
stein beobachtete Respirationsläbmungen öfters bei Eukain und
zieht schon aus diesem Grnude das Tropakokain vor. Die Respi¬
rationslähmungen kommen besonders bei Gebrauch von Stovain
vor. Greiffenhagen beobachtete unter 30 Rückenmarksan-
ästliesien mit, Stovain ZAvei schwere Respirationsläbmungen. Ein¬
mal bandelte es sich um einen 46jährigen Mann, dem Avegen
doppelseitiger Inguinalhernie ein Bassini gemacht werden sollte.
Unmittelbar nach der Injektion von OTO Stovain trat sclnvere
Ohnmacht ein. Nach dem Erwachen aus ihr Avar die Atmung
erscliAvert; bald darauf hörte die rein kostale Atmung auf, der
Kranke Avurde zyanotisch, der Puls klein, es trat Amllkonnnene
Lähmung der unteren Extremitäten, des ZAverchfelles und der
Interkostalmuskeln, sowie eine komplette Anästhesie bis zur
ZAveiten Rippe reichend, ScbAvächc in den Armen und erscliAverte
Sprache auf, Aväbrend das BeAvußtsein erhalten blieb. Nach un¬
gefähr 20 Minuten trat auf künstliche Atmung Besserung ein.
Im zweiten Falle handelte es sich um einen 46jährigen Mann
mit einem Nierentumor. Gleich nach der Injektion von 0064
Stovain traten AtembeschAA^erden auf; die Sprache Avurde ruck¬
weise, der Puls kliün Und unter .\usdelinung der Anästhesie
bis zur Mamillarlinie scdiwindet die Brust- und Bauebatmung,
uni unter künstlicher Atmung nach 15 ^Minuten Aviederzukehren.
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Steiner beol)aclitete bei einer 37jährigen Frau, welche wegen
einer freien Kniralhernie operiert werden sollte, sechs Minuten
nach der Jnjektion von 006 Stovain Respiralionsparalyse, die
erst nach 33 Minuten, nach künstlicher Atiiiung sistierte. Hier
erstreckhi sich die Analgesie bis zum Halse hinauf, die oberen
Exlremitälen waren paraplegisch, das Sensorium blieb frei lind
der Puls zeigte keine Veränderung, so daß Steiner anniinint,
daß nicht das medulläre Respiraiionszenlrum getroffen war,
sondern dieser Zustand durch die Einwirkung des Stovains bis
zum obersten Halssegmentc verursacht Avorden war. Sandberg
beoliachtete in einem Falle von unilateraler Nieren tuberkulöse
nacli der Injektion von 0075 Stovain eine 25 Minuten anhaltende
Respirationslähmung, die ebenfalls durch künstliche ^ Ahnung
wieder hehoben Avurde. Dünitz beobachtete an der Klinik Hier
nach 0;04 Stovain Atmungslähmung.
Der Kollaps tritt meist nach der Injektion, manchmal
unini fiel bar im Anschlüsse an diese auf. Gleich nach der Respi-
rationslähmung wird auch Kollaps am häufigsten bei Stovain-
gebrauch beobachtet. Racoviceanu sah öfters hei Kokaini-
sierung des Rückenmarkes scluvere Synkopen. Nach Stovaini-
salion des Rückenmarkes Avurde von verschiedenen Chirurgen
Kollaps beobachtet. Einen sehr schweren Kollaps sah Greiffen-
hagen, ZAvei sehr scliAAmre Fälle von Kollaps sah Decker unter
137 Rückenmarksanästhesien mit Stovain, leichtere Kollapse beob¬
achteten Kümmel unter 131 Fällen einmal, Freund unier
209 Fällen viermal, Rai sch unter 85 Fällen zAveimal, Hermes
unter 205 Fällen fünfmal. He in ecke Unter 70 Fällen zAveimal.
Ronachi beobachtete bei einem Neurastheniker Avährend der
Operation Auftreten von kaltem Sclweiß, Erbrechen, Präkor¬
dialangst.
Rei TropakokainanAvendung wurde Kollaps selten beob¬
achtet. Sc h Avar z sah unter 1000 Füllen hier nur fünf Kollapse,
davon zwei bei sehr herabgekonimenen, ausgebluteten Frauen
und ZAvei bei bereits durch längere Zeit inkarzerierten Hernien.
Preindelsberger beobachtete einen schweren und sechs
leichtere Kollapse unter 430 iFällen; Füster beobachtete unter
233 Fällen 4mal am Schlus'se der Injektion Kollaps ; 2 von diesen
AA’aren sehr schwerer Natur, doch scheint in einem von diesen
die bereits mebrtägige bestehende inkarzerierte Hernie Schuld
geAvesen zu sein. Zahradnicky sah unter 14 Fällen einen
Kollaps.
Bei Gebrauch von Eukain sah Silbermark unter un¬
gefähr 200 Fällen fünfmal Kollaps auftreten; Preleiter einmal,
Zahradnicky unter 88 Anästhesien fünfmal.
Reim Gebrauch Amn Novokain beobachtete Hermes unter
150 Fällen mehrere leichte Kollapszustände, die aber nie be-
droblicben Charakter annahmen. Heinecke und Läwen sahen
unter 70 Anästhesien Auer Kollapse, K recke unter zehn Fällen
ZAvei scliAvere Kollapse, Henking unter 100 Fällen einen sehr
scliAveren Kollaps.
Rei den mit Alypin ausgeführten Lund)alanästhesien sah
P r e i n d e 1 s b e r g e r unter 96 F älleh viermal leichten Kol taps,
Bai sch unter 37 Fällen zAvei leichtere Kollapse.
Stumme, Avelcher Kokain 0015g einer 2Coigen Lösung
gibt, sah ZAveimal, stets vom Peritoneum ausgetösten Kollaps.
Leichte Kollapszuslände nach Kokainaiwendiing erwähnen auch
KurzAvellig, Mori, Senni.
Hermes beohachtete bei der AiiAvendung von Stovain zAvei-
mal Aväbrend der Operation vorübergebend Amaurose, die in
einem Falle, allerdings einem Neurastheniker, mit starken Auf¬
regungszuständen verbunden Avar. In beiden Fällen wirkte die
Anästhesie bis zur Klavikula hinauf.
Puls Verlangsamung Avird öfters beschrieben. Colom-
bani beobachtete einmal ein Herabgehen der Pulsschlägo bis auf
50 Schläge in der Minute. Finkelnburg beolnuditete in lOCo
der Fälle eine selten länger als zwei Stunden nach der Luinbal-
auästhesie andauernde PulsA’erlangsamung ; einmal hei einem
54jährigeu Manne mit intaktem Herzen eine starke Irregularität
des Pulses.
Feber scluvere Nachblutungen mudi Luml)alanästhesien
beiüdden Hohmeier und Kopfstein. H o h m ei c r beobaclilete
zweimal Jiach mit Stovainadrenalin ausgeführter Lundjalanästhesie
schAvere Nachblutungen. Das eine Mai handelte es sich um einen
bilateralen Rassini, das zAveite Mal um die Exzision eines hand¬
tellergroßen Ulkus am Unterschenkel. Die Avährend der Operation
auffallend geringe Blulung führt Hohmeier auf die Wirkung
des Adrenalins zurück, Avährend die scliAA’ere folgende Nachblutung
auf die gefäßerAA^citerndc Wirkung des Stovains zu beziehen ist.
Irn Falle von Kopfstein handelt es sich um einen 56jährigen,
sonst gesunden Epileptiker, dem der Amputationsstumpf tlei’ Tibia
reseziert Avurde. Zur Lumbalanästhesie AAUirde 005 Treqiakokain
gebraucht. Fünf Minuten nach der Injektion trat vollständige
Anästhesie und Parese beider Beine ein, gleichzeitig Avurde die
Haut beider Beine his zu den Hüften hinauf rasch hellrot, Avährend
der Kranke • gleichzeitig über heftigen ScliAAnndel klagte. Nach
drei Minuten AVurde die Haut allmählich wieder normal gefärbt.
Die Resektion des Amputationsstumpfes wurde ohne nennenswerte
Blutung durchgeführt. Drei Viertelstunden nach der Operation
trat eine sehr scliAA^erc parerichymatöse Nachblutung auf, Avährend
Avelcher die Haut beider Beine gerade so rot gefärbt war Avie eine
Stunde Amrher. Die Blutung konnte nur scliAver gestillt werden.
Diese parencbymatöse Blutung steht nach Kopfstein sicher
ini kausalen Zusammenhänge mit der spinalen Injektion. Kop'f-
stein erklärt sie durch vasomotorische Störungen, Erschlaffungen
oder Lähmungen der Vasokonstriktoren. Da der Kranke ein Epi¬
leptiker Avar, so ist es nach Kopfstein nicht ausgeschlossen,
daß dieser Zustand unter dem Einflüsse der spinalen Injektion
zur EntAvickelung der vasomotorischen Störungen beigetragen hat.
Ueber den Einfluß der Lumbalanästhesie bei Diabetes
liegen Avenig Mitteilungen Amr. Nach Klemperer scheint bei
Diabetes die Chloroformnarkose Avie die Lumhalanästhesic gleich
schädlich zu Avirken. Becker beobachtete einen Diabetiker, bei
dem der Zuckergehalt vor der Operation (Fistel eines Amputations¬
stumpfes) nur sehr gering Avar und nach der Operation auf
3-65 h<> und der EiAveißgehalt auf 4V2'Vo stieg. Gleichzeitig bestanden
SchAvindelgefühl, Koi)fschnierzen, Erbrechen, die jede Nahioings-
aufiialmie unmöglich machten und Schlafloisigkeit; erst am vierten
Tage nach der Operation trat Besserung ein. Becker gibt hier
dem Umstande die Schuld, daß der Kranke gleich nach der
Operation heirafuhr Und nicht, Avie Bier verlangt, Avenigstens
24 Stunden ruhig liegen blieb. Gebraucht Avurde 006 Stovain.
Hohmeier exstirpierte einem Diabetiker unter Lumbalanästhesie
(006 Stovain) ein großes GescliAvür der linken großen Zehe. Am
Tage nach der Operation trat schweres, drei Tage anhaltendes
Erhrechen auf; infolge der durch das Erbrechen bedingten Unter¬
ernährung entging der Kranke nur knapp einem letalen Endo.
Hermes sowohl als auch Bai sch berichten über je einen
Fall Amn Nephritis, die nach Lumbalanästhesie eine Steigerung
erfuhr. Baischs Kianker hatte vor der Operation etAvas Ehveiß
im Harne. Nach der Lumbalanästhesie mit Alypin trat eine starke
hämorrhagische Nephritis auf, welche aber nacb einigen Tagen
wieder scliAvand. In dem Amn Hermes mitgeteilten Falle Avurdo
zur Lund)alanästhesie Stovain verwendet. A. Schwarz unter-
siicbte in ungefähr 50 Fällen, bei denen zur Rückenmarksan¬
ästhesie stets 0 04 Stovain angeAAumdet wurde und vor der Lumbal¬
anästhesie normalen Harn aufAviesen, nachher denselben. In den
meisten Fällen konnten bereits vier bis fünf Stunden, in einigen
erst ZAVei bis drei Tage nachher im Harne für eine Nephritis
charakteristische Bestandteile gefunden Averden. ln leichtenm
Fällen Avar der Urin in zAvei bis Auer Tagen Avieder Amllständig
normal, in schweren Fällen konnten noch nach acht Tagen und
später Zylinder usav. im Sedimente nachgeAviesen Averdem Ein
Fall zeigte beinahe drei Wochen lang pathologischen Harn und
Avies tagelang EiAveißgehalt von 7Fo auf. Bleibende Niereii-
schädiguugen Avurden bis jetzt nicht beobachtet.
Schlaflosigkeit Avird öfters als Folgeerscheinung der
Lumbalanästhesie heobachtet. E p i 1 e p t i f o r m e K r ä m p f e nach
Lumbalanästhesie beschreiben Löffler, Slajmer. Löffler sah
ZAveimal bei Kranken im Anschlüsse an die Injektion von 006
Stovain in den Duralsack mit folgender Beckerdiochlageniug, epi-
leptiforme Krämpfe auftreten. Slajmer beobachtete eine Stunde
nach Injektion von 004 Tropakokain eineti epileptiformeii Anfall.
Rsychos(‘n mudi Lumhalanästhesic' Avenh'ii von lre,u-
dois und von Zahradnicky bescdirieben. Im Falle von
Landois trat die Psychose am neunten Tage nach Kokainisierung
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dos Riickoiiinarkes auf und dokuiuenlierte sicdi als inauiakalischei'
Zuslaud. abwccliselnd mit der Domeulia und Bewußtlosigkeil.
Finkelnburg konnte häufig eine pathologische
Steigerung der S e h ne n r e f 1 e x e nach Slovainisation des
Rückenmarkes beobachten, einmal sogar vorübergehenden leichten
Fußklonus.
Parästhesien nach Injektion in den Duralsack werden
öltei-s beobachlel. Chienne und Saxtorph sahen Irritalious-
erscheinungen in Form von Spiiialanalges ie nach Slovain-
injeklionen.
Paresen kamen nach Lumbalanästhesie öfter vor. Füster
beobachtete nach Tropakokainanästhesien zweimal Paresen der
oberen Extremitäten; Lang sah nach Novokainverwenduug zwei¬
mal Paresen; in einem Falle eine linksseitige Peroneuslähmung
und Atrophie des rechten Thenar, im zweiten Falle eine leichte
Parese beider oberen Extremitäten. Henking beobachtete nach
Novokaingebrauch eine Parese des linken Beines. Die Paresen
waren stets leichter Natur und gingen immer in kurzer Zeit
zurück. Th orbecke sah eine Deltoideus- und eine Peroneus-
parcse nach Novokaingebrauch.
Meningitis spinalis nach Lumbalanästhesie wurde von
11 ohmeier. Traute nrotli nach Stovainanwendung gesehen,
von Füster nach Tropakokaingebrauch, von Henking nach
Novokainanwendung, von Walther nach Kokainisienmg. Im Falle
II ohmeier wurde bei einem 21jährigen Manne 006 Stovain
injiziert; am dritten Tage nach der Lumbalanästhesie bot der
Kranke bei leichter Benommenheit das Bild einer Meningitis spi¬
nalis, am neunten Tage begannen die Symptome derselben wieder
abzuklingen und 14 Tage nach der Operation war der Patient
wieder bescl-iAverdefrei, nur bestanden noch zehn Wochen nach
der Operation Kopfschmerzen und leichte Ermüdung der Beine.
Trautenroth sah 14 Tage nach einem bei unter Lundjal-
anästhesie (0-06 Stovain) ausgeführten Forzeps die Zeichen lo¬
kaler Meningitis spinalis und Wurzelneuritis. Im Falle Henking
dauerte die aseptische Meningitis vier Tage.
Eine bisher noch nicht wieder beobachtete Folgeerscheinung
der Spinalanalgesie beschreibt Goldmann. Einem ö2jährigen
iManne, der außer Arteriosklerose mäßigen Grades weiter keine
abnormen Veränderungen seines Organismus zeigte, wurde uider
Lumbalanästhesie (Novokain) eine Hernie operiert. Die Anästhesie
überdauerte die Operation um fünf Stunden, dann .1 raten
Schmerzen in den Fersen und Waden auf, welche in den nächsten
Tagen Zunahmen, allmählich traten auch Schmerzen in den Armen
auf, welche 14 Tage lang anhielten. Am zweiten Tage nach
der Operation trat eine schneeweiße Verfärbung der Haut über
den Fersen auf, welcher eine symmetrische Gangrän an
der Fersenhaut folgte. Da jede andere allgemeine' oder lokale
Ursache fehlt, so führte Go Id mann die Gangrän auf trophische,
durch die Lumbalanästhesie bedingte Störungen zurück und
fordert, daß bei alten Leuten und Kranken, welche durch Gefä߬
oder anderweitige Erkrankung zu Spontangangrän prädisponiert
sind, jenen Körperteilen besondere Aufmerksamkeit zu schenken,
wo dann eine Druckgangräu am leichtesten zustande komnd.
Den schwersten Fall von folgender Lumbalanästhesie be¬
schrieb König. Einem 35jährigen Manne wurde behufs Naht
der vor sieben Tagen frakturierten Patella 0 06 Stovain zur Lum¬
balanästhesie injiziert. Von der Stunde der Operation kehrten
die erloschenen Funktionen vom Nabel abwärts (d. h. Blase,
Mastdarm und untere Extremitäten) nicht mehr zurück. Der Patient
hatte eine für Motilität und Sensibilität gleichmäßige, komplette
Lähmung, Haut- und Sehnenreflexe waren erloschen. Für einige
Tage reichte die Lähmung sogar bis zum Zwerchfell hervor und
beeinträchtigte die Atmung; im übrigen blieb das Gefühl vom
siebenten Dorsalwirbel an von abwärts tot, wie bei einer Total-
läsion des Rückenmarkes. Unter den gewöhnlichen Folgeerschei¬
nungen einer solchen starb der Kranke vier Monate später.
H ohmeier berichtet noch ausführlicher über diesen Fall. Die
Autopsie ergab: Meningitis spinalis, Myelitis diffusa lumbalis et
dorsalis. Durch den Sturz hatte der Kranke sich wahrscheinlich
eine Kommotio des Rückenmarkes zugezogen und so hier einen
Locus miuoris resisleutiae geschaffeu. Daher soll Jiian nach H oh¬
meier bei bestehendem Verdachte auf eine Rückenmarksläsion
die Lumbalanästhesie ganz unterlassen oder erst dann vornehmen,
wenn eine genaue neurologische Untersuchung normale Verhült-
nisse ergehen hat.
Eine, besonders in der letzten Zeit verhältnismäßig häufig
beobachtete Nacherschieiuuug der Lumbalanäslhesie sind Augen¬
muskellähmungen. Solche wurden erwähnt von Ach, Adam,
Bai sch, Becker, Deetz, Fe i 1 che n f e 1 d. Ha über, Hen¬
king, Hermes, H ohmeier, Landois, Lang, Loeser,
M ü h s am, Rausche r, R ö der, T h o r b e c k e. Die Lähmungen be¬
trafen vor allem den Abduzens, aber auch derTTochlearis undOkku-
lomotorius waren betroffen und traten meist in der ersten Woche,
manchmal aber auch in der zweiten und dritten Woche nach der
IJumbalanästhesie auf und erstreckten sich über einige Tage, bis
zur Dauer mehrerer Wochen. Alle gingen ohne jede Therapie
von selbst wieder in Heilung über, so daßi sie zwar als eine un¬
angenehme, aber keine gefährlichere Folge der Lumbalanästhesie
zu betrachten sind.
Hohmeier erwähnt nur, daß er mehrere Male nach
Rachistovainisation des Rückenmarkes Augennmskellähmungen
fand, die besomlers den Nervus abducens, aber auch den Troch-
learis helrafen, gibt aber keine genauen Zahlen an. Sonst findet
man betroffen den Nervus abducens allein, einseitig 19mal, iloppel-
seitig viermal, die Nervi abducens und occulomotorius zusammen
einmal, den Nervus trocblearis allein einmal. Bei V^erwenduug
von Stovain wurden elf einseitige Abduzenslähmungen und einmal
die Lähmung des Abduzens uml Okkulomotorius beobachtet, nach
Novokain fünf einseitige und fünf doppelseitige Abduzens¬
lähmungen, sowie die Lähmung des Trochlearis nach Alypiii
eine doppelseitige Abduzensparese, nach Tropakokain eine einzige
Augenmuskellähmung. Zweimal trat Abduzensparese nach Sko¬
polamin -Morphin -Stovainisierung auf. Die Aetiologie der Augen¬
muskellähmungen nach Lumbalanästhesie ist noch nicht ganz
klargestcHt. Adam führt sie zurück auf eine Kontaktwirkung des
Stovains der Nerven, eventuell auf seinen Kern, wahrscheinlich
aber auf kleine Blutungen im Innern des Abduzens, etwa als
eine Folgeerscheinung der Druckherabsetzung durch den Abfluß
von Liquor cerebrospinalis. Röder und andere sind aber gegen die
Annahme, daß Blutungen im xUbduzenskerne die Ursache der
Augenmuskellähmungen seien. Gerade das spätere Auftreten der
Lähmungen spricht nach Röder mit viel mehr Wahrscheinlichkeit
für eine toxische Wirkung des Stovains. Auch Laeser faßt
die Lähmungen als eine toxische Paralyse auf. Lang ist auch
der Meinung, daß die Lähmungen viel eher in das Gebiet der
toxischen Neuritis gehören, als daß Blutungen im Kerninnern die
Ursache wären und gilrt in seinem Falle einem eigenartigen toxi¬
schen Spätwirken des Novokains die Schuld. Gerstenberg
glaubt auch, daß die Abduzensparesen durch Einwirkung des
Anästhetikums auf den in der Basis des vierten Ventrikels ge¬
legenen Abduzenskern zustande kommt. Kroner sieht zwei Mög¬
lichkeiten, wie das Stovain zu dem Abduzens gelangen kann.
Die erste Möglichkeit, daß der Transport durch die Spinalflüssig¬
keit bis zu den Nerven gelange, ist die unwahrscheinlichere. Viel
wahrscheinlicher ist nach Kroner die zweite Möglichkeit, daß
nämlich das unzersetzt oder gespalten in das Blut auf genommene
Anästhetikum an einer Stelle der nervösen Substanz, die einen
Locus minoris resistentiae bildet, wieder ausgeschieden wird und
hier zu einer vorübergehenden oder bleibenden Schädigung führt.
Daß gerade der Abduzens am häufigsten getroffen wird, ist nach
der Meinung mehrerer Chirurgen gerade nicht auffallend, wenn
man an die Häufigkeit von Abduzenslähmungien bei der Lues
denkt. Gewiß hat die Annahme, daß die Augenmuskellähmungen
die Folge toxischer Wirkung des Anästhetikums seien, die meiste
Berechtigung. Ach macht darauf aufmerksam, daß derzeit nur
Lähmungen zu verzeichnen sind bei Gehirnnerven, die in einer
Zysterne liegen und einen längei’en Verlauf innerhalb der Zerebro¬
spinalflüssigkeit im Subarachnoidalraume aufweisen und nicht
sehr schnell die Dura durchbrechen. Das späte Auftreten in den
Lähmungen ist nach Ach vielleicht einesteils mit dem langsamen
Fortschreiten der Flüssigkeit durch die physiologischen Engen
zu erklären, anderseits damit, daß die Flüssigkeit durch die
Ai'achnoidea diffundiert und auf die Nerven noch während ihres
Verlanfes zwischen Dura und Araclmoidea einwirkl öderes handelt
sich um die Wirkung von Abbauprodukten des Anästhetikums,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 19
die auf die relativ dünnen Nerven in langer Ausdehnung chemisch
eiuwirken und vielleicht eine Art Neuritis erzeugen.
Ein nichtiges Kapitel in der Besprechung der Lumbal¬
anästhesie bilden die Todesfälle. Hahn hat im Jahre 1901 in
seinem ausführlichen Sammeh’eferate über Kokainisierung des
Uückenmarkes auf 1708 Kokainisierungen acht Todesfälle be¬
richtet, also dcj' hohe Prozentsatz von einem Todesfall auf 200 An¬
ästhesien. Die von Hahn damals zitierten Todesfälle sind
folgende :
1. Fall von Tuffier. Tod am Tage der Operation. Die
Sektion zeigte sclwere Veränderungen in Herz und Lungen, so
(Iah nach Tuffier die Lumbalanästhesie nicht direkt beschuldigt
werden darf.
2. Fall von Dumont. Tod sechs Tage nach der hei einem
17jährigen Knaben ausgeführten Kniegelenksresektion. Die
Autopsie ergab allgemeine Tuberkulose, das Rückenmark war
sehr anämisch ;ider Tod ist wohl keine direkte Folge '-1er Anästhesie,
hat aber durch sie eine Beschleunigung erfahren.
3. Der hei Dumont einvätmte Fall von Hacker. Nach
einer hei einem Knaben ausgeführten Füßgelenksresektion trat
])ald darauf der Tod unter den Erscheinungen einer Menin¬
gitis ein.
4. Fall von Cavazzoni. Der Tod trat unter Erscheinungen
von seitC^i des Zerehrums ein, Rückenmarkserscheinungen fehlten.
5. Fall von Foote. Eine sehr altersschwache Frau starb
drei Tage nach der Operation, wohl infolge der Schwäche.
(5. Fall von Lilienthal. Gehirntumor, keine Autopsie.
7. Fall von Goilav. Bei einem 67jährigen Manne wurde
wegen arteriosklerotischer Gangrän die Amputation des Beines
aus geführt. Tod.
8. Fall von Draghenn. Nähere Details fehlen.
Die Angaben sind zu kurz, daß man die Fälle ganz genau
kritisch besprechen und jedesmal beurteilen könnte, inwiefei'ue
der Tod direkt der Lumbalanästhesie zuzuschreihen ist, gewiß
sind ihr aber nicht alle Fälle zur Last zu legen. Am ehesten dürfte
der von Dumont envähnte Fall Hacker und der Fall Cavaz-
zoni auf die Lumbalanästhesie zuriickzuführen sein, während
dies in den Fällen 1, 2, 5, 6, 7 noch sehr fraglich ist und man
wegen IMangel der Angaben über Fall 8 überhaupt nicht disku¬
tieren kann. Wenn jemand nach der Operation stirbt und es
finden sich schwere Veränderungen in Herz und Lungen, so
ist es doch wohl sehr unwahrscheinlich, daß die Lumbalanästhesie
für den Exitus verantwortlich 'gemacht werden kann; viel eher
muß man annehmen, daß solch ein Patient einer fnhalations-
narkose erst recht erlegen wäre. Aebnlicbes gilt von dem Falle
Dumont. Daß eine schwache Greisin am dritten Tage
nach der Operation an Sclnväche stirbt, dürfte wohl auch nicht
die Folge der Lumhalanästhesie sein. Der Fall Li lien that
ist auch nicht einwandfrei, denn erstens ist wohl Tumor cerebri
schon an und für sich genug Ursache für einen Exitus, außer¬
dem fehlt die Autopsie. Und im Falle von Goilav ist ja hoi
einem 67jährigen Manne, dem wegen arteriosklerotischer Gangrän
das Bein amputiert werden mußite, die Prognose von vornherein
(une sehr zweifelhaRe und die Frage wohl eine berechtigte, wie
hätte ein 67jähriger Arteriosklerotiker mit diesem Leiden eine
lidialatiousnarkose vertragen ?
Seit dem Erscheinen von Hahns Saminelreferate konnten
wir in der Literatur 17 Todesfälle im Anschlnsse oder währeud
der Lumhalanästhesie mitgeteilt finden. Bei diesen wurde die
Lumhalanästhesie ausgeführt: fünfmal mit Kokain, oiiimal
mit Eukain, sechsmal mit Stovain, einmal mit Stovain
und Skopolaminmori)hin, dreimal mit Tropakokain,
einmal mit Novokain.
Die Todesfälle, welche der Kokainisierung d es
Rückenmarkes zur Last geschoben werden, sind: ein Fall von
(’ha])ut, zwei Fälle von Legneu, ein Fall von Hildebrand,
ein Fall von Michel is. Chai)ut führt in dem \mn ihm mit¬
geteilten Falle den Tod aber nicht auf die Kokaininjektion zu¬
rück, sondern nach seiner eigenen Ansicht dürfte der Exitus
auf die jilötzlicdie Entleerung eines großen Pleuraexsudates zu-
rückzufiihren sein. Tiegne u s Inddc Kranke, die nach Kokainisie¬
rung des Rückenmarkes starben, waren schon vor der Operation
in einem so desolaten Zustande, daß von einer Chloroformnarkose
von vornherein Abstand genommen werden mußte. Tm Falle
von Hildebrand starb die Patientin, bei der der vaginale
Kaiserschnitt vorgenonimen wurde, plötzlich während der Opera¬
tion. Michelis ist im Zweifel, oh der von ihm heobachteto
Todesfall der Lumbalanästhesie mit Kokain zuzuschreihen ist
oder nicht. Nach einer Hernienoperation trat am dritten Tage
unter hohem Temperaturanstiege unter Auftreten eines Erythems
um die Einstichstelle der Exitus ein. Da sich bei der Autopsie
der Leiche keine objekfiven Veränderungen nachweisen ließen,
so wurde der Tod einer beginnenden Infektionskrankheit zuge¬
schrieben.
Also aucli in diesen weiteren fünf Todesfällen nach Kokaini¬
sierung des Rückenmarkes ist es sehr zweifelhaft, wie oft dabei
diese die Ursache des Todes war. Chaput selbst schließt in
seinem Falle die Lumbalanästhesie aus; daß in den beiden Fällen
von Legneu der Tod eintrat, dürfte auch kaum dem Kokain
zuzuschreiben sein, denn wenn ICranke schon vor der Operation
so herabgekommen sind, daß man vor einer Narkose zurück¬
schreckt, so wäre es wohl unbillig, den nach der Operation ein-
fretenden Exitus der Lumbalanästhesie zuzuschreihen. Wahr¬
scheinlicher ist der Fäll Hildebrand und wohl auch der Fall
Michelis der Lumbalanästhesie zuzuschreihen. Schnurpfeil
erlebte bei einem sehr herabgekommenen Menschen mit Eukain
einen Todesfall ; auch dieser ist, weil es sich um ein dekrepides
Individuum handelt, nicht mit Bestimmtheit der Spinalanalgesie
zur Last zu schieben.
Die nacli Sto vainisier ung des Rückenmarkes beobach¬
teten Todesfälle sind; ein Fall von Sonnenburg, ein Fall
von Freund, ein Fall von Deetz, ein Fall von Krecke, ein
Fall von Urban, ein Fall von König.
Sonnen bürg beobachtete im Anschlüsse an die bei einem
pyämischen Kranken ausgeführte Lumbalanästhesie eine aufstei¬
gende eitrige Meningitis, die wahrscheiidich mit der Pyämie in
Zusammenhang zu bringen ist. Nach Sonnenburg ist die In¬
fektion beim Einstiche eine unwahrscheinliche; wahrscheinlich
wurde durch sie im Rückenmarke, resp. in dessen Häuten
ein Locus minoris resistentiae geschaffen, an dem sich dann
die Meningitis als Teilerscheinung der Pyämie etablierte. Freund
sah bei einer 73jährigen asthmatischen Frau acht Vlinuten nach
der Injektion des Stovains in den Duralsack plötzlich starkes
Erbrechen und Eintritt des Todes Unter Atmungsstillstand. Ebenso
starb im Falle Deetz ein 72jäbriger, elender Mann vier Minuten
nach dem Eintritte der Anästhesie plötzlich unter dem Bilde
der Respirationslähmung. Deetz selbst läßt die Frage offen,
ob hier der Tod durch das Stovain und Adrenalin oder durch
die bestehende Peritonitis herbeigeführt wurde, was auch durch
die Obduktion nicht festgestellt werden konnte. Krecke ope¬
rierte einen 70jährigen Mann mit IleuserscheinUngen infolge einer
inkarzerierten, fast mannskopfgroßen Hernie, deren Inhalt (Dünn¬
darm) schon zum Teile gangränös war. Als die Bruchpfoite
eröffnet werden sollte, trat plötzlich Kollaps und Exitus ein.
Die Sektion wurde verweigert. Bei der Punktion des Wirbel¬
kanales war ziemlich viel blutig fingier te Flüssigkeit abgelaufen.
Der von Urban beobachtete Falt ist, was seinen Zusammenhang
mit der Stovainisierung des Rückenmarkes anbelangt, nach Urban
selbst sehr fraglich. Am dritten Tage nach einer Bassinioperation
frat bei einem sonst gesunden Manne Temperatursteigerung bis
zu 40'^, Kollaps und am 24. Tage nach der Operation der Exitus
ein. Die Sektion ergab keine Verändenmg im Gehirn und Rücken-
niarke, leicht fettige Degeneration der parenchymatösen Organe.
Ferner ist der bereits besprochene Fall von König, auch wenn
der Tod erst mehrere IMonate nach der Rückenmarksanästhesie
eintrat, doch gewiß hieber zu rechnen, weil ja hier bestimmt die
Lumbalanästhesie die eigentliche Grundursache des tödlichen Aus¬
ganges war.
Bei der Kondnnation des Morphinskopolamindäm¬
merschlafes und der Rachistova inisation heschreil)t.
König einen Todesfall. Bei einer 65jähngen PTau, welche wegen
Carcinoma uteri operiert wurde, trat während der Operation der
Tod unter dem Bilde der Respirationslähmung ein. Bei Tropa¬
kokain gebrauch zur Lumhalanä.slhesie finden wir drei Todes¬
fälle herichtel. 1) ö ii i t z sah einen Fall an der Klinik Bier
(den ersten Todesfall an dieser Klinik). Einem 75jährigen Manne
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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wurden beluit's Enllernuiig eines Carcinoina penis 018 Trona-
kukain, mil 10 cnr^ Liquor vermengl, in den Duralsaek inji/deiL
Cileicdi daran!' i)i'eileto sieh ^dic Aiiäslhesie rapid l)is zum Halse
ans und nach mehreren Minuten trat nnter Aussetzung der Atmung
und des Pulses der Exitus ein. Die heiden anderen Todesfälle
nach Tropakokainanwendimg werden von Urhan mitgeteill. ln
einem Falle handelte es sich um einen kräftigen, Sljähiigen
Mann, dem eine doppelseitige Leistenhernie operiert wurde. Am
dritten Tage nach der Operation starh der Mann unter dem Bilde
einer akuten Infektionskrankheit. Dem entsprach der Ohduktions-
hefund ; im zentralen Nervensysteme waren weder makroskopisch,
noch mikroskopisch irgendwelche pathologische Veränderungen
zu finden. Ini zweiten Falle handelte es sich um einen 24jährigen
Mann mit geringer Zystitis und Nephritis, dem seine narbige
Harnröhrenstriktur durch forcierte Dilatation der Urethra in Lum-
halanästhesie operiert wurde. Vier Stunden nach der Operation
traten Schüttelfrost, Kollaps, später Delirium, aber keine Kon¬
vulsionen auf und am Tage nach der Operation starb der Kranke.
Auch hier fanden sich keinerlei pathologische Veränderungen
im Gehirne und Rückemnai’ke ; dafür fand man hei der Sektion
chronische Pyelonephritis und akutes iLungenödem, so daß sich
hier der Tod nur mit Rücksiiclit auf die bestehende Nephritis auf
eine akute, alleixiings atypische Urämie (Fehlen der Krämpfe)
zurückführen ließ. Den ersten Fall erklärt sich U r h a n mit Rück¬
sicht auf das klinische Bild und den Obduktionsbefund (starke
Fragmentierung der Muskelfasern des Herzens) als erstes Stadium
beginnender Metamorphose, Veri'ettung der Leber und Nieren am
ungezwungensten durch toxische Wirkung des Tropakokains, ana¬
log dem protrahierten Chloroformtode. Da die einzelnen Zentren
gelähmt werden können, konnte man sich auch eine komhinierte
Lähmung u. zw. des Atem- und Herzzentrums einerseits, der vaso¬
motorischen und trophischen Zentren anderseits vorstellen.
(Schluß folgt.
Therapeutisehe JJotizen.
Aus der medizinischen Universitätspoliklinik in Leipzig
(Direktor Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Hoffmann). Hydrargyrum
p r a e c i p i t a t u m a 1 1) um p u 1 1 i f o r m e. Von Dr. Hans V ö r n e r.
Wie bei der gelben Quecksilhersalhe (Hydrargyr. oxydat. flav^.
Pagenstecher) der Niederschlag auf nassem Wege hergestellt wird,
um eine möglichst feine Verteilung des Medikamentes zu erzielen,
ließ Vörner auch das Hydrargyrum praecipitatum album auf
nassem Wege iierstellen. Der Niederschlag wird so<lann getrocknet
und verarheitet; man kann aber auch den noch feuchten, aus
äußerst feinen, gleichgroßen, reichen Elementen bestehenden
Niederschlag direkt mit weißem Vaselin in gewünschtem Prozent¬
satz verarbeiten. Die so dargestellte Salbe wurde in allen Fällen
angewandt, in welchen die weiße Präzipitatsalhe bisher gebraucht
wurde; sie wies aber geringere Reizbarkeit, also bessere Ver¬
träglichkeit und raschere Wirkung auf. Er benützte sie auch
zu Schmierkuren, indem er SOToige Salbe herstellen nnd 8 bis 9 g
pro die verreiben ließ. Man könnte auch öü^/oige Salben ver¬
wenden und weniger pro dosi verordnen. In Fällen von sekun¬
därer Rezidivlues und frischer, sekundärer Lues wurden derlei
Schmierkuren vier bis sechs Wochen lang durchgetührl, wobei
die Symptome ebenso schwanden wie bei Verwendung von grauer
Salbe. Die weiße Salbe hat den Vorteil, daß sie nicht sclunutzt.
Das hat auch zur Empfehlung des Uniguentum Heyden (Verwen¬
dung des kolloidalen Kalomels) geführt. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1907, Nr. 10.) E. F.
\/0rmisehte Kaehriehten.
Ernannt: Dr. A. R. Bielka v. Karl treu in Wien zum
k. u. k. Hofarzte 11. Klasse. — Dr. Rernedi zum a. o. Professor
der Chirurgie in Modena. — Dr. Roncoroni zum a. o. Professor
für Nervenheilkunde in Parma. — Dr. Vicarelli zum a. o. Pro-
b'ssor der Geburtshilfe in Turin.
*
Verliehen: Dem Oberstabsärzte Dr. .losef D u h s k y der
Titel und Charakter eines Generalstabsarztes. — Dr. Klaudius
Schmid in Wien das Ritterkreuz des französischen Ordens der
Ehrenlegion. — Dr. Demetrius Galatti in Wien das Ritterkreuz
des griechischen Erlöserordens.
Habilitiert: Dr. M. Koch m a n n in Greifswald für
Pharmakologie. — Privatdozent Dr. Mangold in Jena für
Physiologie in Greifswald. — Dr. Purpura für externe Patho¬
logie in Pavia. — Dr. M e m m i für interne Pathologie in Siena.
— Dr. Fon tan a für operative Medizin in Pisa.
*
Gestorben: Prof. Dr. Poirier in Paris. — Dr. Gabri-
ischewsky, Piivatdozent für Bakteriologie in Moskau.
*
Der bekannte Meraner Arzt, Sanitätsral Dr. B. Hausmann,
erreicht am 9. d. M. sein 70. Lebensjahr. Der Jubilar hat siidi
im Jahre ,1866 in Meran niedergelassen und wurde bald einer
der angesehensten Aerzte dieses Kurortes. Wiegen seiner .sitrengen
Rechtlichkeit, seiner humanen, edlen Gesinnung und seines ernsten
wissenschaftlichen Strehens ist er ebensosehr von seinen Patienten
als von seinen Kollegen geschätzt. — r.
*
Die Generalversammlung der Writwen- und Waisen¬
sozietät des Wiener medizinischen 1) o k tore n k o 1 1 e-
giums vom 12. März 1907, hat, dem Sachverständigengutachten
gemäß, den einstimmigen Beschluß gefaßt, die Prämientabellen
auf Grundlage eines niedrigeren Zinsfußes und der neuen Sterb-
licbkeitstabellen und mit Sicherstellung einer Jahrespension von
K 1400, umrechnen zu lassen. Mit dieser Umrechnung ist eine
Prämienerhöhung verbunden, welche nach Genehmigung durch
das k. k. Ministerium voraussichtlich im Laufe des nächsten Jahres
in Kraft treten wird. Die Direktion der Sozietät folgt einer alten
Gepflogenheit, wenn sie die Aerzteschaft von der bevorstehenden
Prämienerhöhung rechtzeitig in Kenntnis setzt. Die Sozietät sichert
den Witwen ihrer iVlitglieder eine Jahrespension von K 1400
und nach dem Tode der Mutter, den Waisen eine Pension in
der gleichen Höhe, so lange noch eine minderiährige Waise vor¬
handen ist, bei einem Tarife, wie ihn keine Assekuranzgesell¬
schaft gewährleisten kann; es liegt daher im eigenen Inter¬
esse der Kollegen, der Writwen- und Waisensozietät des
Wiener medizinischen Doktorenkollegiums beizutreten, insbe¬
sondere, so lange noch der niedrigere Tarif in Geltung ist. Aus¬
künfte erteilt die Kanzlei: Wien 1., Rotentunnstraße 19.
*
Verordnung des Justizministeriums im Ein¬
vernehmen mit den Ministerien des Innern und für Kultus und
Unterricht vom 23. März 1907, V.-BI. d. J.-M. Nr. 14, an sämt¬
liche Gerichte und Staatsanwaltschaften, betreffend die
biochemische Untersuchung von Blutspuren im
Strafverfahren. Mit der Verordnung vom 13. August 1903,
J.-M.-V.-Bl. Nr. 25, wurde den Gerichten und Staatsanwaltschaften
bekanntgegeben, daß vorläufig in dem gerichtlich-medizinischen
Institute der Wiener Universität Einrichtungen getroffen wurden,
um die neue biochemische Methode, Blutspuren auf ihre Her¬
kunft zu untersuchen, für strafgerichtliche Zwecke zu verwerten.
Die hier und in anderen in- und ausländischen Instituten durch¬
geführten zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen haben
ergeben, daß die Eiweißdifferenzierung in der Form der bio¬
chemischen Methode tatsächlich ein verläßliches Mittel sei, um
frisches sowie eingetrocknetes Blut nach seiner Herkunft zu be¬
stimmen, Menschenblut vom Tierblut und Blut verschiedener
Tiergattungen zu unterscheiden. Um die Benützung dieser Methode
für gerichtliche Zwecke zu erleichtern, werden vom 1. Mai d. J.
angefangen auch die gerichtlich-medizinischen Institute der Uni¬
versitäten Prag, Krakau, Lemberg, Graz und Innsbruck derartige
Blutuntersuchungen auf Ersuchen der Gerichte vornehmen und
es werden sich die Gerichte der Oberlandesgerichtssprengel Wien,.
Prag, Krakau, Lemberg, Graz und Innsbruck an die gerichtlich¬
medizinischen Institute der in ihrem Oberlandesgerichtssprengel
gelegenen Universitäten, die Gerichte des Oberlandesgerichts-
sprengels Brünn an die Institute der Universitäten Wien oder
Prag und die Gerichte der Oberlandesgerichtssprengel Triest und
Zara an das Institut der Universität Graz zu wenden haben.
Die Zahl der an das gerichtlich-medizinische Institut der Wiener-
Universität gelangten Ersuchen war eine verhältnismäßig geringe
und es werden die Gerichte angewiesen, in allen Fällen, in denen
Blutspuren auf ihre Provenienz zu prüfen sind und nicht be¬
sondere Umstände eine Ausnahme rechtfertigen, die vorgenannten
Universitätsinstitute wegen Vornahme der Untersuchung in An¬
spruch zu nehmen. Bei diesem Ersuchen sind die in Absatz 3
der Verordnung vom 13. August 1903 gegebenen Direktiven über
die Verwahrung und Bezeichnung der einzelnen Gegenstände,
über die Bekanntgabe der für die wissenschaftliche Untersuchung
relevanten Ergebnisse des Verfahrens und die dem Institute vor-
1 zulegenden Fragen zu beachten. Die Institute werden neben der
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 19
biocliemischen Methode auch noch die mikroskopische oder die
spektroskopische Älethode, nach Erfordernis alle drei Methoden
anwenden, um dadurch eine erhöhte Garantie zu erreichen. Das
erforderliche Serum wird von dem staatlichen serotherapeutischen
Institute in Wien heigestellt. Die Vorschrift des letzten Absatzes
der Verordnung vom 13. August 1903 über die Vergütung der
Kosten hat für alle Institute zu gelten.
*
In Mannheim findet Freitag den 24. Mai und Samstag
den 25. Mai 1907 im Versammlungssaale des „Rosen¬
garten“ der dritte Kongreß der Deutschen Gesell¬
schaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten statt. Die Tagesordnung ist folgende: 1. Ein¬
leitung : Dr. B 1 a s c h k o (Berlin) : Die Aufgaben der Deut¬
schen Gesellschaft auf dem Gebiete der Sexualpädagogik.
Prof. Fr. W. F o e r s t e r (Zürich) : Hauptgesichtspunkte für die
Jugenderziehung auf sexuellem Gebiete. 2. Sexuelle Aufklärung.
Frau Prof. Krukenberg (Kreuznach) : Die Aufgabe der Mutter,
des Hauses. Hauptlehrer E n d e r 1 i n (Mannheim) und Lehrer
Holler (Hamburg): Sexuelle Aufklärung in der Volksschule.
Direktor Prof. Ke ms i es (Berlin) und Prof. Schäfenacker
(Mannheim): Sexuelle Aufklärung in den höheren Schulen. Doktor
von den Steinen (Düsseldorf) und Dr. Fürstenheim (Ber¬
lin) : Sexuelle Aufklärung für Abiturienten. Hauptlehrer Lacroix
(Mannheim) : Sexuelle Aufklärung für Seminaristen. Prof. K o p p
(München) und Regierungs- und Gewerbeschulrat Beckert
(Schleswig): Sexuelle Aufklärung für die schulentlassene Jugend.
Lehrer Köster (Hamburg) : Jugendliteratur. 3. Sexuelle Diätetik.
Geh. Medizinalrat Prof. Eulenburg (Berlin) und Frau Dr. rned.
Adams-Lehmann (München). Die Verhandlungen des Kon¬
gresses sind öffentlich. Der Zutritt zu denselben und die Be¬
teiligung an den Diskussionen ist jedermann gestattet. Für die
Teilnahme am Kongreß als Mitglied ist der Betrag von M. 10 zu
entrichten.
*
Wir erhalten folgende Mitteilung: Internationaler
Laryngo-Rhinologen - Kongreß (Türck-Czermak-
Feier). Laryngo-Rhinologische Ausstellung in
Wien, 21. bis 25. p r i 1 1908. Gleichzeitig mit dem in Wien
vom 21. bis 25. April 1908 tagenden „Internationalen Laryngo-
Rhinologen-Kongreß“ wird in den Räumen der k. k. Universität
eine Ausstellung von Objekten, welche auf die Laryngologie und
Rhinologie, Oesophagoskopie und Bronchoskopie Bezug haben,
stattfinden. Die Interessenten, welche sich an der Ausstellung
zu beteiligen wünschen, wollen ihre Beteiligung dem Sekretär
des Kongresses (Herrn Prof. Dr. Michael Großmann, Wien IX.,
Garnisongasse 10) bis spätestens 31. Dezember 1907 unter genauer
Beschreibung jedes einzelnen auszustellenden Gegenstandes an¬
melden, damit danach der Katalog zusammengestellt werden kann.
Die Ausstellungsobjekte sind bis spätestens 15. Februar 1908 an
Herrn Oberingenieur Jaroschka, Inspektor des k. k. Universitäts¬
gebäudes in Wien, zu senden, der dieselben in Verwahrung nimmt.
Gegen Feuersgefahr, Diebstahl und Beschädigung werden die ein¬
gesandten Objekte durch das geschäftsführende Komitee versichert.
Die zollfreie Ein- und Ausfuhr ist von den kompetenten Behörden
bewilligt und wollen die Herren Aussteller die dazugehörigen
Dokumente vom obgenannten Sekretär ansprechen. Wien, im
April 1907. Für das geschäftsführende Komitee: Der Präsident:
Prof. Dr. 0. Chiari, Wien I., Bellariastraße 12. Der Sekretär:
Prof. Dr. M. G r o ß m a n n, Wien IX., Garnisongasse 10.
*
Nach dem ärztlichen Berichte über das Rath sehe x\ 11 ge¬
rn ei ne öffentliche Krankenhaus in Baden, erstattet von
Prim. Jaegermayer und Prim. Stuchlik, sind daselbst im
.lahre 1906 1548 Kranke in Pflege gestanden. Zahl der vorge¬
nommenen größeren Operationen 151, der ambulanten
Kranken 2239.
*
Im x4uftrage der niederösterreichischen Statthalterei hat
Maler Erwin Pen dl einige A (ju ar e 1 1 b i 1 d e r aus der neuer-
baulen Pollacks eben K i n d e rsp i ta 1 sab l e i 1 u n g im Franz-
loseph- Spital in Wien ausgeführt. Dieselben stellen einen der
Krankensäle, das Säuglingszimmer, Einrichtung, Terrasse zum
Aufenthalte der Kinder im Freien und eine perspektivische An¬
sicht beider Pavillons von außen dar.
♦
Von der Enzykopädie der praktischen Medizin,
welche von Dr. Schn i rer- Wien und Prof. Vier ordt-Tübingen
im Verlage von A. H öl der in Wien herausgegeben wird, ist
die 13. Lieferung (.Muskelatrophien — Nikotianavergiftung)
schienen.
11 a n d 1) u c h d e r t o p o g r a p h i s c h e n A n a t o m i e, heraus¬
gegeben von Prof. xM e rk e 1 - Götlingen. Verlag von Fr. Vieweg
in Braunschweig. Vom genannten Handbuebe ist die vierte
Lieferung (Schluß des dritten Bandes) erschienen, welche die
Schilderung der unteren Extremität enthält. Preis .Mk. 10.
*
In J. D. Sauerländers Verlag in Frankfurt a. M. sind
Heft 5 bis 9 des zweiten und Heft 1 und 2 des dritten Jahr¬
gangs der Zeitschrift „Mutterschutz“, Zeitschrift zur Reform der
sexuellen Ethik (Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz),
herausgegeben von Dr. phil. Helene Stöcker, Berlin-Wilmers¬
dorf, erschienen. Preis : Halbjährlich (6 Hefte) M. 3 ; Einzelhefte
60 Pfg.
*
Dr. .Josef Jirsa, gewesener Primarius und Kurarzt in
Meran, ordiniert im Sommer in Grado (Sand- und Seebäder).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle für den neusystemisierten Sanitäts¬
sprengel Stawezan mit dem Amtssitze in Stawezan (Bukowina). Die
mit diesem Posten verbundene Jahresdotation beträgt K 1200. Für
Dienstreisen erhält der Gemeindearzt die normierten Gebühren. Bewerber
um diesen Posten haben nachzuweisen: 1. Die Berechtigung zur Aus¬
übung der Heilkunde in den im Reichsrate vertretenen Königreichen
und Ländern; 2. die österreichische Staatsbürgerschaft; 3. daß ^ie der
Sprache, welche von der Mehrzahl der Bevölkerung gesprochen wird,
d. i. in diesem Falle der ruthenischen Sprache, in hinreichendem Grade
mächtig sind. Die hienach ordnungsmäßig instruierten Gesuche sind bis
zum 25. M a i 1. J. an die Bezirkshauptmannschaft Kotzman einzusenden.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel 1 1 li-
s c h e s t i e (Bukowina). Die Jahresdotation beträgt K 1200. Bewerber
um diesen Posten haben nach § 5 des bezogenen Gesetzes nachzuweisen:
1. die Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde in den im Reichsrate
vertretenen Königreichen und Ländern; 2. die österreichische Staats¬
bürgerschaft ; 3. daß sie der deutschen und rumänischen Sprache in
hinreichendem Grade mächtig sind. Die entsprechend instruierten Gesuche
sind im vorschriftsmäßigen Wege binnen vier Wochen, vom Tage der
ersten Einschaltung dieser Kundmachung in der »Czernowitzer Zeitung«
an gerechnet, bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft in Gurahumora
einzubringen.
Hil fs ar zt e s s t e 1 le in der Kaiser-Franz-Joseph-Landes-
Heil- und Pflegeanstalt zu Mauer-Oehling (Niederösterreich).
Mit dieser Stelle ist ein Honorar monatlicher K 100, das Kostrelutum
von monatlich K 50 und der Genuß einer Dienstwohnung samt Be¬
heizung und Beleuchtung verbunden. Bewerber um diesen Posten haben
die Erlangung des Doktorgrades der gesamten Heilkunde an einer
inländischen Universität, die österreichische Staatsbürgerschaft, die deutsche
Stammesangehörigkeit, ferner die bisherige Tätigkeit im ärztlichen Dienste
nachzuweisen und ihre mit einer 1 K-Stempelmarke versehenen Gesuche
unter Anschluß des Tauf- und Heimatscheines sowie eines amtsärztlichen
Gesundheitszeugnisses bis längstens 15. Mai 1. J., 2 Uhr nachmittags,
tunlichst im Wege persönlicher Vorstellung beim Landesausschusse des
Erzherzogtums Oesterreich unter der Enns in Wien, I., Herrengasse 13,
einzubringen.
Gemeindearztesstelle für die Gemeinde Cittanova in
Istrien. Mit der Stelle sind zugleich die Funktionen eines Klosterarztes
von Daila und Krankenkassenarztes der »Socielä operaia« verbunden.
Jahresremuneration K 3000. Ueber die näheren Vertragsbedingungen
erteilt das Gemeindeamt in Cittanova Auskunft.
Gemeindearztesstelle im Sanitätssprengel Vigo Rendena
(politischer Bezirk Tione, Tirol), bestehend aus den Gemeinden Dare,
Javre, Pelugo, Yerdesina, Vigo Rendena und Villa Rendena. Jahresgehalt
K 3600. Der Dienst ist im Sinne der Instruktion für Gemeindeärzte
(L.-G. und V.-Bl. Nr. 8 ex 1885) auszuüben. Gesuche sind bis
10. Mai 1. J. an die Gemeindevorstehung von Rigo-Rendena zu richten.
Bei der k. k. Tabakfabrik in Monasterzyska gelangt die
Stelle eines Fabriksarztes II., eventuell vorläufig HI. Kategorie
(Jahreshonorar K 2200, bzw. K 1600) und Fuhrenpauschale jährlicher
K 360 zur Besetzung. (Konkurstermin 22. Mai 1907.) Die vollständige
Kundmachung kann bei der k. k. Tabakfabrik in Monasterzyska, beim
Sanitätsdepartement der k. k. Statthalterei in Lemberg und bei der
k. k. Generaldirektion der Tabakregie in Wien IX., Porzellangasse 51,
eingesehen werden. Wien am 20. April 1907. K. k. Generaldirektion
der Tabakregie.
Spezialarztesstelle für Radiographie bei der Arbeiter-
Unfallversictierungsanstalt für Niederösterreich in Wien I., Schotten¬
bastei 10, mit zweistündiger Arbeitszeit an allen Wochentagen; Gehalts¬
ansprüche sind bekauntzugeben. Gesuche mit Angabe der bisherigen
Tätigkeit im genannten Fache sind bis 15. Mai 1907 an die Direktion
der Anstalt einzubringen.
Im Wiener Sanatorium Dr. Anton Loew gelangt die Stelle
eines Assistenzarztes zur Besetzung. Auskünfte erteilt die Direktion
des Sanatoriums.
er-
Nr. lü
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
579
Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nnd Kongreßberichte,
INH
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 3. Mai 1907.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzuno-
vom 6. März 1907.
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in Böhmen.
ALT:
Der 24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden, vom
26. April 1907.
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
2. Sitzungstag 4. April 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 3. Mai 1907.
Vorsitzender: Hofrat Prof. R. Chrobak.
Schriftführer: Prof. R. Paltauf.
Der Präsident teilt mit, daß der Venvaltungsrat als Dele¬
gierten der k. k. Gesellschaft in die neugegründete Gesellscliaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Herrn Hofrai Pro¬
fessor Mracek nominiert hat. Ferner verliest der Präsident
ein Schreiben des Chefarztes des österreichischen Lloyd, Doktor
Castiglione, nach welchem der österreichische Lloyd Aerzten,
welche an der nächsten Vergnügungsfahrt des Dampfers „Thalia“
nach Griechenland und Konstantinopel teilnehmen, eine 20Toige
Preisermäßigung gewährt.
Prim. Dr. Lotheissen demonstriert zunächst zwei Patienten,
die wegen ausgedehnter Lungengangrän operiert wur¬
den. Die Frau (sie ist 33 Jahre alt und wurde von Prim. Türk
der chirurgischen Abteilung zugewiesen) hat viel auf einmal durch¬
gemacht:. Zuerst hatte sie Typhus mit starken Bildungen, aliorti’orte,
da sie im vierten Monat schwanger war und bekam endlich in¬
folge von Pneumonie noch Lungengangrän. Ihr Sputum betrug
damals täglich 600 cm^ war aashaft stinkend, die Temperatur
Avar stets um 39°. Die Frau war höchstgradig ahgemagert und
mußte als verloren gelten. Trotz ihres elenden Zustandes wagte
man doch noch die Operation in Lokalanästhesie. Nach der
Resektion der Rippen stieß man auf einen zirka faustgroßen
Gangränherd, der entleert und tamponiert wurde. Im Eiter Avurdcn
Typhusbazillen nachgewiesen. Später müßte noch ein zweiter
Herd eröffnet Averden, der erst jetzt ganz ausgeheilt ist. Hier
fanden sich nur Streptokokken.
Der Vortragende hat schon vor drei Jahren hier über sieben
Fälle von operiertem Lungenhrand berichtet (13. Mai 1904); in-
ZAvischen sind ZAvölf neue Fälle dazugekommen, von denen zAvei
direkt die chirurgische Abteilung aufsuchten, zwei von Primarius
Türk, die übrigen acht von Prof. Schlesinger transferiert
Avurden. Wenn diese Menge sich auch nicht mit der imposanten
Zahl Amn 60 Operationen messen kann, die Lenhartz Amr kurzem
aus seinen Hamburger Abteilungen veröffentlichte, so ist die
Zahl doch nicht klein, wenn man bedenkt, daß die 19 Operationen
aus vier Jahren, die 60 Fälle aus sieben Jahren stammen. Wesent¬
licher erscheint aber der Umstand, daß Lotheissens Fälle nur
Herde A^on Faustgröße und darüber betreffen. Bei
dem ZAveiten Patienten, den der Vortragende Prof. Schlesinger
verdankt, Avar der ganze rechte Unterlappen gangrä¬
nös zerstört. Es mußten Teile der siebenten, achten, neunten
und zehnten Rippe reseziert Averden. Die Wundheilung ging sehr
langsam von statten, doch erholte sich der Kranke rasch und
nahm um 18 kg (von 53 auf 71) zu.
Die restierende gesunde Lunge zieht sich immer stark an die
IVunde heran und meist ist nach acht bis zehn Wochen bei
kleineren, drei bis vier Monaten bei größeren Höhlen die Wunde
geschlossen. Hier blieb eine Höhle zurück. Es wurde alles. Mög¬
liche versucht: die Lunge durch Naht an die Haut fixiert, ver¬
schiedene plastische Deckungen gemacht; die Ausdehnung der
Lunge durch das Aspirations verfahren nach Perthes zu er¬
zielen versucht, man erreichte nur, daß der Lungendefekt sich
überhäutete. Der Mann ist aber in keiner Weise in seiner Arbeit
als Tischler gehindert. Vorderhand verrichtet er nur leichtere
Arbeit; er legt sich selbst einen Schutzverband mit Zinksalbe auf.
Es ist begreiflich, daß so ausgedehnte Herde eine Aveniger
günstige Prognose geben als kleinere. Wenn man sogar einen
Fall mitrechnet, der .völlig sep lisch eingebracht wurde und noch
am selben Tage starb, naebdem noch rasch ein kleines Fenster
zur ' Drainage gemacht umrden Avar, hat der V ortragende trotz¬
dem mit etwa 40% Morhalität fast die Resultate von Lenhartz,
der 37% aufweist, erreicht. Dabei sind multiple i\bszes:se ein¬
gerechnet. Für die einfachen Abszesse (Lenhartz hat viele,
die nur Avalnußgroß waren) erreicht auch er etwa 25% der Mor¬
talität. Das sind ganz erfreuliche Resultate, Avenn man erfährt,
daß früher (nämlich ohne Operation) 75 bis 80% starben. In
den Berliner Kranketdiäusern Avurden von 1897 bi^ 1900 ohne
Operation sogar nur 7% der Lungengangränkranken geheilt.
Keiner der Todesfälle kann der Operation zur Last gelegt
werden. Insbesondere, da der Vortragende seit drei Jahren alle
Thorakotomien nur mit Lokalanästhesie ausführt, Avas freilich
mehr Zeit und Mühe kostet, sieht man unmittelbar nach der
Operation nur günstige Markung. Der Auswurf verliert sogleich
seinen aashaflen Geruch, die Kranken bekommen Avieder Appetit.
ZAvei Kranke bekamen drei Wochen nach der Operation, der eine
hei einer anstrengenden Defäkation, eine Gehirnembolie uml
starben später an den Gehirnabszes'sen.
Das Wichtigste ist bei der operativen Behandlung der Lungen¬
gangrän entschieden, die Lokaldiagnose richtig zu stellen. Nur bei
sicher lokalisiertem Herde darf man operieren.
Kleinere Herde sind fast nur unter Zuhilfenahme des Röntgen-
i Verfahrens zu finden. Der Vortragende hofft, bald auch mehr
solche kleine Herde zur Operation zu erhalten, die Aveit günstigere
Prognose geben.
Prim. Lotheissen stellt im Anschlüsse an <liese aus¬
gedehnte Thoraxresektion Avegen Lungengangrän noch einen
Patienten vor, der, nachdem er ein Jahr lang eine stark eiternde
Empyemfistel getragen, in seine Behandlung kam. Es lag ein
Totalempyem der linken Brusthälftc vor. In zAvei Sitzun¬
gen wurde soviel Amn den Rippen und auch die untere Hälfte
der Skapula reseziert, daß sich der größte Teil der Höhle mit
Haut überkleiden ließ', der Rest wurde durch Transplantation
nach Thiersch gedeckt. Der anfangs recht elende Patient, der
auch eine]i kariösen Herd an der rechten Klavikula zeigte, erholte
sich Amllständig und ist nun seit Ader Jahren vollkommen geheilt
und arbeitsfähig.
Von einer Patientin, die \mr dVs Jahren AA'egen Totalempyem
operiert Avurde, Averden Bilder heiumgereicht. Hier ließ sich die
linke Mamma sehr gut zur Deckung der Höhle verAvenden. Die
Patientin lebt in Spitz a. d. D. und befindet sich sehr Avohl.
Diese beiden Fälle dürfen deshalb etAvas Interesse bean¬
spruchen, da heutzutage so ausgedehnte Empyeme, daidc früh¬
zeitiger Behandlung, selten geAvor.Um sind.
Prim. Dr. A. v. Gleich: Ueber M^undbehandlun g mit
0 z 0 n . (V orl äuf ige Mitteilung. )
In der vorantiseptischen Zeit Avaren manche Heilanstalten
als besonders günstige Heilplätze bekannt und viele hervorragende
Chin,irgen AAUirden durch die Güte ihres Heilplatzes zur Ausfüh¬
rung kühner Eingriffe ermutigt. So Avar in Deutschland zum Bei¬
spiel Kiel als guter Heilplatz bekannt.
Nach Listers epochaler Entdeckung und nach Aveiterer
Einführung der Asepsis trat zwar eine AA-esentliche Aenderung
der Verhältnisse ein, doch mehren sich die Antiseptika von Tag
zu Tag.
In der neuesten Zeit hat sicli eine besondere Vorliebe für
jene Antiseptika gezeigt, deren Avirksames Prinzip der Saucj’-
stoff in statu nascendi ist.
Die bekannte unerreichte, bakterientötende Eigenschaft des
Ozons hat zur Wiederaufnahme der Versuche mit dem (Avie icli
glaube) von Neudörfer in die Chirurgie eingeführten Wasser¬
stoffsuperoxyd geführt.
Die Idee nun, das AA’irksame Prinzip, nämlich Ozon ohne
Wasser, also gewissermaßen die Seele allein zu verAverten, hat
mich zu dem Versuche gebracht, Ozon, Avenn nicht in der Wunde
selbst, so doch in unmittelbarer Nähe derselben darzustellen
und in möglichst aktivem Zustande zu verAvenden.
Ich habe daher Ozon in der Weise erzeugt, daß ich durch
Induktionsstrom käuflichen Sauerstoff aktivierte und Wunden,
resp. Wundhöhlen mit Ozon beblies. Der Vorgang ist eigentlich
derselbe Avie bei der zeitlichen oder permanenten Irrigation, nur
ohne AnAvendung einer Flüssigkeit. Bei dem heutigen Stande
der Elektrotechnik ist es leicht mügliclr, mittels hoch gespannter
Ströme bei gleichzeitiger Zufuhr von Sauerstoff in jeder Tiefe
Ozon in regulierbarer Menge zu erzeugen und hoffe ich dadurch
die VerAvertungs weise eines bekannt kräftigen Antiseptikums zu
erweitern.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 19
iMannigfaclio Versiiclie, welclie iiiil gewülinliclieiu Sauer-
slolfo angeslelll wurden, haben Ei'folge gehal)l, doch hoffe ich
.seihe durch aktiven Sauerstoff zu verbessern.
In mir klingen noch die Worte unseres großen Kleisters
Theodor Dillrotli nach, welcher in der aseptischen Zeit anläßi-
li(di schwerer Eiferungsprozcsse ausgesprochen hat: ,,lch inöchte
am liebsten mit <len nötigen Kautelen zur offenen Wundbeliand-
lung zurückkehren!“ Billroth verdankte seine guten Heilerfolge
mit der offenen Wundbehandlung, vielleicht auch ilem Ozonreich-
tume der Luft in dem als gutem Heilplatze bekannten Zürich.
Ich werde mir erlauben, zu geeigneter Zeit die hohe Gesell¬
schaft zu einer Demonstration auf meine Spilalsahteilung ein-
zu laden.
l)r. Hans Lorenz: Das Präparat, das zu demonstrieren ich
mir erlaube, sfammt von einem 17jährigen Patienten der Klinik
Höchen egg, der an dieser .Klinik vorher schon zweimal operiert
wmrden war. Am 28. Februar 1906 war hei ihm ein großer
perityi)hlitischer Abszeß inzidiert und isechs Wochen später war
der Wurmfoj'tsatz cxstirpiert \vorden. Jn der von der Abszeß'-
inzision herrührenden, im Bereiche der schiefen Bauchmiiskulatur
befindliche Narbe war anfangs dieses Jahres eine tauheneigroße,
leicht reponihle Ventralhernie entstanden und obwohl diese dem
jungen Manne keine nennenswerten Beschwerden verursachte,
fand er sich doch am 8. April d. J. mit der Bitte um Operation
ein. Er wurde aufgenommen. Bei- der Nachmittagsvisite desselben
Tages sah ich ihn -das erstemal. Er hatte Fieber, 38-5. Im Ab¬
domen war dafür keine Ursache zu finden, wohl aber fanden
sich über beiden Lungen Giemen, Schnurren und zahlreiche
feuchte Rasselgeräusche. Am nächsten Morgen wurde mir ge¬
meldet, der Kranke hätte nachts um 1 Uhr ]jlötzlich über sehr
starke, kolikartige Leibschnierzen und Brechreiz geklagt und bald
darauf hätte er mehrmals erbrochen. Ich fand ihn schwer kolla¬
biert, das Gesicht zyanotisch, von kaltem Schweiße bedeckt. Der
Puls war ziemlich kräftig und merkwürdigerweise nicht frequent,
das Abdomen aber in toto etwas aufgetrieben, überall druck-
schmerzhaft, namentlich in der rechten Unterbauchgegend, medial
von der kleitien Ventralhernie und dort konnte ich hinter dem
rechte]! Musculus rectus einen ^wurstfönnigen, helltympanitisch
schallenden Tumor palpieren. Diesen sprach ich als lokalmeteo-
ristisch geblähte Darmschlinge an und in Anbetracht der ganzen
Vorgeschichte des Falles diagnostizierte ich Dünndarmstrangu-
hvtion durch ein peritonitisches Pseudoligament. Ich mußte mich
daher, trotz der vorhandenen fieberhaften Lungenaffektion, zur
unverzüglichen Laparotomie entschließen. Sie bestätigte die Dia¬
gnose. Sofort nach Eröffnung des Peritoneums floß hämorrhagi-
sclies, fade riechendes Exsudat in größerer Menge aus, von dem
auch das ganze kleine Becken ausgefüllt war und vor mir lag
eine tiefdunkelblaurote, zum Teil schon schwarz verfärbte, mächtig
geblähte Dünndarmschlinge, deren Fußpunkte durch ein faden¬
förmiges Pseudoligament bis zur Unwegsamkeit abgeschnürt waren.
Jlit größter Vorsicht entwickelte ich die zum großen Teil im kleinen
Becken liegende, bereits stinkende, mißfärbige Schlinge, deren
Mesenterium gleichfalls hochgradige hämorrhagische Infarzierung
zeigte.
Es war klar, daß die ganze abgeschnürte Partie, obwohl
die Sirangulation erst wenige Stunden alt war, dem Untergange
geweiht war und daß ich nur durch Resektion Hilfe bringen konnte.
Ich resezierte daher die ganze brandige Schlinge und aus tech¬
nischen Gründen auch das anstoßende Cökum mit nachfolgender
Implantation des Ileumstumpfes ins Querkolon, wodurch ich ein
sehr instruktives Präparat gewann (Demonstration desselben; man
sieht, Avie scharf der Dünndami und sein Älesenterium durch das
vorhandene Fseudoligament abgeschnürt sind, sieht das mitrese¬
zierte Cökum und ein Stück des zuführenden Darmes, das gleich¬
falls aus opei'ationstechnischen Gi-ünden noch mitentfernt wurde,
übrigens auch eine Gruppe hirsekorngrofier Knötchen zeigte, deren
histologische Untersuchung Tuberkulose ergab).
Das Pseudoligament, das unstreitig auf die seinerzeitige
schwere Appendizitis zunickzuführen ist, entsprang am Ileum,
knapp ober der Ileocökalklappe, inserierte sich mit seinem zweiten
Ende gleich neben der Ursprungstelle, am Mesenterialansatze und
bildete dergestalt eine lose Schleife. Diese hatte eine Drehung
um 180° erfahren und in den so entstandenen Ring war der an¬
stoßende Dünndarm hineingekrochen und hatte sich so gewisser¬
maßen selbst stranguliert.
Der Vei'lauf schien anfangs ein günstiger zu sein. Nicht
ein einziges iMal nach der Operation mußte der Kranke erbrechen
und schon am zweiten Tage nach dem Eingriff erfolgte reichlicher
Stuhl. Leider machte aber der schon vorher vorhandene Lungen¬
prozeß, der sich durch die Sputumunlersuchung und durch den
Verlauf als progrediente Phthise entpuppte, rapide Fortscliritte,
so daß ich heute, fast vier Wochen nach dem Eingriffe, ein ,\uf-
kommen des Patienten nicht mehr erhoffe.
Im Verlaufe der letzten dVa Jahre war ich dreimal gezwungen,
wegen Strangulationsileus nach Appendizitis einzugreifen. Meinen
ersten derartigen Fall operierte ich im Oktober 1902. Auch da¬
mals war Abszeßinzision und spätere Appendektomie vorherge¬
gangen. Der Fall ist mir in sehr lebhafter Erinnerung geblieben,
schon wegen des ganz ungewöhnlichen Befundes, der sich damals
ergab. Eine Dünndarmschlinge war, schon eine ganze Anzahl von
wand durchgekrochen uml dadurch aus der Blutzirkulation aus¬
geschaltet worden. Ich fand einen mächtig geblähten, papierdünuen
Zylinder, von stinkendem Eiter umspült, fast so durchsichtig
wie Glas und von einer mißfärl)igen Jauche erfüllt, in der man
Obstkerne schwimmen sah. Muskularis und Vlukosa waren gan¬
gränös zugrunde gegangen, zerflossen, nur die Serosa Avar er¬
halten gehlieben. Um bei dem elenden Allgemeinzustande mit
der Operation rasch fertig zu Averden, verAvendete ich nach der
Darmresektion zur Darmvereinigung den Murphyknopf. Leider!
Die Patientin, ein junges Mädchen, überstand überraschen-
denveise die diffu.se Peritonitis. Aber es entstand eine Darm¬
fistel und der Knopf ging nicht ab. Neuej'liche Laparotomie zeigte,
daß der Knopf auf seiner Wanderung von der Resektionsstelle
zum Anus durch Adhäsionen, die den Darm abknickten, aufge¬
halten worden Avar, es Avar zum Dekubitus und zur Kotfistel ge¬
kommen. Auch nach dieser Operation entwickelten sich neuer¬
lich Dünndarmfisteln und einem 'dritten Eingriffe ist die furcht¬
bar geschwächte Patientin erlegen.
Der zAveite Fall, eine 39jährige Frau, die längere Zeit vor¬
her an der Klinik Gussenbauer mit bestem Erfolge Avegen
vorgeschrittener Appendixperforationsperitonitis operiert Avorden
Avar, bekam ich im Juli 1906 unters Messer. Auch diesmal gab
es einen sehr interessanten Operationsbefund. Die Fußpunkte
einer tiefen Ileumschlinge Avaren breit miteinander verwachsen und
dadurch Avar zwischen den zwei verAvachsenen Schlingenschenkeln,
ihren Mesenterien und der GekrösAvürzel ein schmaler Spalt ent¬
standen, der für die nächsthöhere Ileumschlinge zur Fälle Averden
sollte. Sie kroch durch den Spalt hindurch und konnte nicht
mehr zurück. In diesem Falle Avar ich so glücklich, die Verän¬
derungen an der inkarzerierten Schlinge so geringfügig zu finden,
daß ich mit der Lösung der VerAvachsungen und einigen Ueber-
nähungen alrskam und so mit einfachen Mitteln in kurzer Zeit
Heilung erzielte.
.Mancher Amn den AiiAvesenden Avird sich vielleicht gefragt
haben, Aveshalb ich über diese Fälle Bericht erstatte. Daß auch
nach jeder noch so umschriebenen Peritonitis Pseudoligamente
sicli ausbilden können, daß jedes Pseudoligament in irgendeiner
W-eise zur inneren Inkarzeration führen kann und daß man bei
gangränösem Darme resezieren muß, das alles ist ja sattsam
bekannt.
Meine drei Fälle ereigneten sich bei Patienten, die wegen
Amrschleppten Appendizitiden operiert Avorden Avaren; sie liefern
den BeAveis, daß hei verschleppten Appendizitiden selbst durch
die Appendektomie nicht alle Gefahr für die Zukunft gebannt
werden kann. Denn daß in solchen Fällen eher Pseudoligamente
Zurückbleiben Averden, die ihrem Träger eine lebensgefährliche,
ständige Gefahr l)edeuten, als nach glatteren Appendektomien in
einem früheren Stadium, Avird wohl von niemandem angezweifelt
Averden.
Ich glaube also auch die eben mitgeteilten Beobachtungen
für die frühzeitige Operation der Appendizitis ins Feld führen
zu können und das Avar der Hauptgrund, Aveshalb ich sprach.
Prim. Dr. Latzko hält seinen angekündigten Vortrag; Die
chirurgische Therapie d es Tue rp e r al p r o z e s s e s. (Siehb
unter den Originalien dieser Nummer.)
Zum Worte melden sich Prim. Dr. Fahricius und Privat¬
dozent Dr. Halban. Letzterer stellt gleichzeitig den Antrag,
die Diskussion auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu
setzen. Wird angenommen.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
Sitzung am 6. März 1907.
V orsitzender : Finge r.
Schriftführer : B r a n d av e i n e r.
S p i e g 1 e r demonstriert :
1. eine 45jährige Frau mit Psoriasis vulgaris,
welche hauptsächlich die Beugeseiten betrifft und deren Handteller
und Fußsohlen auch in ihrem größeren Anteil in zusammen¬
hängendem Herde von Psoriasis vulgaris ergriffen sind.
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
.581
2. eine SOjährige Frau, welche an der VVangenschleimhaut
und an der Zungensclileimhaut Lichen ruber planus hat.
Obwohl an der äußeren Haut nicht die geringste Eruption vor¬
handen ist, so ermöglicht das charakteristische Aussehen der
Krankheitsherde doch leicht die Diagnose. In der Mitte des
Zungenrückens befindet sich nämlich eine ca. kronengroße leicht
vertiefte Stelle, deren Schleimhaut vollkommen narbig atrophisch
ist, deren steile Ränder jedoch deutlich die ursprüngliche Zu¬
sammensetzung aus kleinsten Knötchen erschließen lassen. Aehn-
liche Herde befinden sich an der Wangenschleimhaut. Die
wünschenswerte histologische Bestätigung war aus äußeren
Gründen untunlich.
3. einen Fall von Herpes labialis von besonderer
Ausbreitung an der äußeren Haut um den Mund, an der Lippen-,
Zungen- und Wangenschleimhaut.
E. Spitzer bemerkt, er habe in der letzten Woche drei
ähnliche Fälle von Herpes faciei im Ambulatorium des Dozenten
Oppenheim gesehen. Einer habe die vordere und rückwärtige
Seite der Ohrmuschel eingenommen, der zweite das ganze Ge¬
sicht ohne jede Einhaltung eines Nervenverlaufes, der dritte be¬
stand nur in zwei kronengroßen Plaques an der Wange. Wie¬
wohl die mikroskopische Untersuchung des Bläscheninhaltes
keinen Aufschluß ergab, scheint das Auftreten dieser Herpes-
effloreszenzen unter Fieber, Abgeschlagensein und Kreuzschmerzen
epidemischer Natur zu sein.
E h r m a n n demonstriert einen Fall von Acne varioli¬
formis.
Reines demonstriert einen Fall von Lupus verru¬
cosus.
E. Spitzer demonstriert aus dem Ambulatorium
des Doz. Oppenheim einen Farbenarbeiter, bei dem im Nacken
und an beiden Stirnscheiteln auf geröteter, infiltrierter und
schuppender Haut sich das Auftreten von follikulären Knötchen
zeigt. Im Bereiche dieser entzündeten, ziemlich scharf begrenzten
Hautpartie ist ein starker Haarausfall eingetreten. Die Hautstellen
an den Augenbrauen und an der Oberlippe unter dem Schnurr¬
bart und die Kinngegend haben schuppenden ekzematösen
Charakter und sind mit kleinen Eiterpusteln um die Haare be¬
setzt. Der Mann hat bereits vorher an seborrhoischem Ekzem
der Kopfhaut gelitten; im Verlaufe der Zeit, vielleicht begünstigt
durch die Beschäftigung in der Farbenfabrik mit Anilin und
Glyzerin, ist es zu einer Infektion an diesen seborrhoischen
Stellen gekommen, so daß wir heute das kombinierte Bild eines
Ekzema sycosiforme vor uns haben.
E h r m a n n möchte nicht Ekzem und Sykosis als zwei
gleichwertige Erkrankungen betrachten, die sich gegenseitig er¬
setzen. Ekzem der Kopfhaut und des Bartes gibt nur die Ver¬
anlassung zur Sykosis. Ekzem entsteht durch Jucken, Sykosis
durch Ueberimpfung der Streptokokken durch den kratzenden
Finger. Zuerst entsteht ein Furunkel; dessen Eiter wird aus¬
gebreitet.
Spitzer erwidert, daß zuerst Ekzem bestanden und sich
dann durch das chemische Agens Ekzema sycosiforme ge¬
bildet habe.
No bl demonstriert: 1. Das singuläre Vorkommnis eines
erworbenen lymphatischen Var ix am Genitale eines
jungen Mannes. Die seit acht Tagen unverändert fortbestehende
Formation soll im Anschlüsse an eine forcierte Kohabitation zur
Entwicklung gelangt sein und präsentiert sich als federstieldicker,
gewundener, glasigtransparenter, äußerst derber, nicht komprimier¬
barer, von kleinsten Einschnürungen durchsetzter Strang, der am
Frenulum beginnend, den Sulkus rechts umgreift und sich all¬
mählich am Dorsum des Gliedes verliert. Zahlreiche Seitenäste
springen gleichfalls als lympherfüllte resistente Reiser stark her¬
vor. Der im subkutanen Zellager eingeschaltete, plastisch vor¬
gewölbte Strang ist frei verschieblich, schmerzlos, das über¬
schichtende innere Präputialblatt frei von entzündlichen Er¬
scheinungen. Es besteht keinerlei venerische Erkrankung. In
einer die erworbene genitale Lymphangiektasie
behandelnden Arbeit (Wiener med. Wochenschr. 1906, Nr. 47
und 48) hat Vortr. an der Hand einer Eigenuntersuchung auch
auf das anatomische Substrat der Läsion näher einzugehen ver¬
sucht; dasselbe ist in einer einseitigen, extremen, mit Rare¬
fizierung der Wandelemente einhergehenden Dilatation der
koronaren und dorsalen Lymphäste, sowie Lymphgerinnung
und Endothelabstoßung in den alterierten Bahnen ge¬
geben. Stärkere entzündliche Veränderungen oder das die
Lymphabfuhr aufhebende Hindernis waren nicht aufzufmden.
Bei andauernder Unwegsamkeit ist die Resektion des ektatischen
Segments der einzig indizierte Eingriff.
Finger bemerkt, daß die entzündliche Aetiologie die
häufigere ist. Daß die entzündlichen Erscheinungen ephemer sind
und die Lymphangiektasie zurückbleibt, ist ganz gewiß. Er er¬
innert an einen kürzlich an der Klinik beobachteten Fall, wo
sich entlang dem Sulcus coron. und wo die beiden Lymphäste
zusammentlossen ein Strang und deutliche Entzündung vorfanden.
Vielleicht spielen Traumen eine Rolle.
2. Einen Fall von Bromexanthem. Nach einer fünf¬
monatlichen Brommedikation (täglich zwei Kaffeelöffel Bromnatroii)
traten bei einem 30jährigen, an Epilepsie leidenden Manne die
typischen akneiformen Knötchenausbrüche an Armen und
Brust, sowie die dem Bromoderm a tubero-.ulcerosum
zugehörigen bis ganseigroßen, von mißfärbigen, fettigen Krusten
bedeckten blauroten und lividen Knoten am Rücken, Nates und
Unterschenkeln auf. Mit den floriden Infiltraten alternieren
dunkelbraun pigmentierte Narben als Residuen abgeheilter Akne¬
knoten.
3. Das kombinierte Symptomenbild eines skarlatini-
formen Erythems mit Ichthyosis serpentina. Das
bei einem 40jährigen, mit hochgradiger Ichthyosis hehafteten
Kutscher vor wenigen Tagen zum Ausbruch gelangte Exanthem
setzte mit Fieber und fingernagelgroßen, am Stamm lokalisierten
lividroten Flecken ein, die bei der an venerischen Attacken
reichen Vergangenheit (Ulc. ven. Lymphadenitis, Phimosenoperation,
Exstirpation der Leistendrüsen beiderseits etc.) des Patienten für
ein Rezidivexanthem imponierten. Nach 24 Stunden trat margi¬
nale Vergrößerung, zentrale livide Verfärbung und alsbald auch
vielfache Konfluenz der Herde ein. Nach vier Tagen ein univer¬
selles, bis zum Hals reichendes saturiertes Erythem, Abfall der
Temperatur. Bei der Demonstration ist ein Abblassen des Aus¬
schlages, sowie enorme Steigerung der im übrigen der Ichthyosis
zukommenden Abschilferung zu gewahren. Für die Annahme
eines medikamentösen Ursprungs des Erythems fehlen alle An¬
haltspunkte.
Ul 1 mann demonstriert 1. einen Fall von syphili¬
tischer Sklerose der Nase durch Nasenbohren. Skler-
adenitis. Beginnendes Exanthem. 2. einen Fall von eigen¬
tümlicher Alopecia circumscripta multiplex.
Der 25jährige Mann, Postbeamter, ist seit zwei Jahren mit
fleckiger Kahlheit behaftet. Einzelne Plaques im Hintergründe und
an den Seitenteilen, im ganzen sechs oder sieben, sind mehr
weniger kreisförmig begrenzt, glatt, von der Beschaffenheit der
Alopecia areata. Auf leichten Zug fallen Haare in der Begrenzungs¬
zone aus.
Am Vorderhaupt befindet sich ein halbkreisförmiger Plaque,
der eine von den übrigen abweichende Beschaffenheit zeigt. Die
Färbung der Haut ist hier leicht rosarot, von der rasierten Um¬
gebung deutlich different. Ferner einzelne klaffende Talgfollikel
mit Zeichen einer Seborrhoe, die auf Druck Sekretspuren ent¬
leeren. Die Umgebung dieser Partie ist etwas atrophisch. Die
Differenz dieses Plaque von den übrigen, ganz im Niveau der
Haut liegenden, blassen, der gewöhnlichen Alopezie ganz glei¬
chenden ist auffallend. Gesicht, besonders Ohren und andere
Körperregionen zeigen keine Alienationen. Es ist fraglich, ob
diese der Alopecia areata ganz ähnlichen Formen mit dem Plaque
gleichen Ursprungs sind. Ich habe Kombination von Alopecia
areata mit anderen zirkumskripten Haarausfällen bereits be¬
obachtet. In der französischen Literatur sind solche Fälle von
Besnier u. a. beschrieben. Es besteht bei solchen Individuen
Neigung zu atrophischen Prozessen überhaupt.
B r a n d w e i n e r bemerkt, daß er die von U 1 1 m a n n ge¬
stellte Diagnose Alopecia areata nicht akzeptieren könne.
U 1 1 m a n n habe selbst hervorgehoben, daß an den alopezischen
Plaques Entzündung, Ausgang in Atrophie und erweiterte Follikel
wahrzunehmen seien. Diese Momente sprechen dafür, daß es sich
um einen Lupus erythematodes der behaarten Kopfhaut
handle. Die Form der Plaques — sie sind unregelmäßig, eckig
begrenzt — spricht gleichfalls gegen die Diagnose Alopecia areata,
bei der es immer zur Bildung kreisrunder, höchstens ovaler
Herde kommt.
Spie gier: Die Gründe, die gegen Alopecia areata
sowohl als Lupus erythematodes sprechen, wurden bereits
von den Herren Vorrednern auseinandergesetzt. Gegenüber Lupus
erythematodes füge ich noch den Mangel der entzündlichen Er¬
scheinung und jeglicher Schuppung bei. Hingegen erscheint mir
an der Stelle, an der der Prozeß noch auf der Höhe ist, eine
andere Krankheit in Betracht zu kommen, nämlich die Folli¬
culitis decalvans. Jeder einzelne Haarfollikel ist nämlich um
das Haar herum deutlich prominent und über die Oberfläche
deutlich erhaben; dieses klinische Bild entspricht histologisch dem
kleinzelligen Infiltrat, welches zur Atrophie des Haarfollikels und
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damit zur lokalen Kalvilies und Narbenbildung führt, ein Prozeß
der eben der Folliculitis decalvans entspricht.
Finger schließt sich der Diagnose Folliculitis decalvans
nicht an. Da müßten an den Haaren in Kreisform weiterschreitende
Folliculitiden bestehen. Hier sind zwei Herde zu sehen. Der eine
ist frisch, zeigt klaffende Follikel, deutliche Schuppen, wie bei
Lupus erythematodes, der zweite Herd bietet eine atrophische Haut
dar, wie bei Lupus erythematodes. Die Diagnose Lupus
erythematodes ist mit Rücksicht auf das plaqueweise Auftreten
vorzuziehen.
U 11 mann: Das Vorhandensein allgemeiner Seborrhoe und
der Mangel an eigentlichen Narben neben deutlicher Atrophie im
vordersten Plaque, schließt für diesen Fall die gewöhnliche Form
der Alopecia areata gewiß aus. Eine solche habe ich ja auch
gar nicht angenommen und nur von zirkumskripter, ev-entuell
Kombinationsform gesprochen. Daß die übrigen der Alopecia
areata ganz ähnlichen Plaques derselben Provenienz sein können,
wäre ja möglich; ihr Aussehen spricht jedenfalls nicht dafür und
deshalb erfolgte die Vorstellung des Falles. Histologische Unter¬
suchung, vielleicht schon die weitere Beobachtung dürfte den jeden¬
falls eigenartigen Fall vollständig aufklären.
U 11 mann demonstriert 3. einen Fall von Atrophia
cutis idiopathica mit Akrodermatitis vergesellschaftet.
Eine beginnende Nekrose an dem Malleolus externus ist nach vier
Thiosinamininjektionen wesentlich zurückgegangen.
Oppenheim demonstriert 1. einen Fall von Lupus
erythematosus. Ein hochgradiger Fall im Gesichte und an
den Fingern, der dadurch ausgezeichnet ist, daß er sich im An¬
schlüsse an die große Kälte die im Dezember herrschte, besonders
stark verschlechterte; Pat. ist Kutscher. Gesicht, Nase, Ohren sind
von stark elevierten, scharf begrenzten, lebhaften roten Plaques
bedeckt. An den Fingern ist die Aehnlichkeit mit Perniones be¬
sonders hervorzuheben, doch besteht zentrale Narbenbildung.
Finger bemerkt mit Rücksicht auf die Diskussion in der
letzten Sitzung, daß die Veränderungen an den Händen typischer
Lupus pernio Kaposi sind.
2. einen 30jährigen Arbeiter, dessen Haut über den Schultern,
der Streckseite der Oberarme und über der Brust ein Exanthem
zeigt, bei dem differentialdiagnostisch Ekzema seborrhoi-
cum, Pityriasis lichenoides chronica und Pity¬
riasis rosea in Betracht kommen. Die Primärefloreszenzen
stellen hellrote hirsekorngroße Knötchen dar, welche sich zu
ovalen oder kreisförmigen Herden gruppieren und leicht braun
gefärbte Felder begrenzen, in denen stellenweise die Epidermis
leicht parallel gefältelt ist. An manchen Stellen sind die
Herde mehr flächenförmig, unregelmäßig begrenzt mit hellroter
Peripherie und braungelbem Zentrum, beide von einander durch
einen Schuppenkranz begrenzt. Diese Herde sind sehr spärlich.
Ueber der linken Hüfte findet sich ein doppeltflachhandgroßer
Plaque, zusammengesetzt aus einzelnen Gruppen von hellroten
schuppenden Knötchen, die um abgeheilte Zentren gestellt sind.
Dieser ganze große Herd zeigt ebenfalls geringere Krankheits¬
erscheinungen im Zentrum und stärker betonte an der Peripherie.
An der Streckseite der oberen und unteren Extremitäten zeigen
sich flach linsengroße Papeln, über denen die Epidermis gelblich
gefärbt ist, und sich mit dem Fingernagel als zusammenhängende
Lamelle abkratzen läßt. Die Affektion besteht seit sechs Wochen
und juckt mäßig. Gegen die Diagnose Ekzema seborrhoicum
spricht hauptsächlich die Lokalisation, Freibleiben des Kopfes
und der Schweißrinnen, sowie die klinische Beschaffenheit der
spärlichen Herde mit der Schuppenkollerette; gegen die Diagnose
Pityriasis lichenoides chronica ebenfalls der letztere Umstand, die
Pigmentierungen nach Abheilung und die Anamnese. Für die
Diagnose Pityriasis rosea sind die vereinzelten flächenhaften, gelh-
roten Herde mit Kollerette, die Tendenz der zentralen Abheilung
und des peripheren Weiterschreitens hei den einzelnen und zu¬
sammengesetzten Herden, sowie der Umstand des gegenwärtigen
Bestehens einer Epidemie von Pityriasis rosea ins Feld zu führen.
Wir halten daher den Fall für einen eigentümlichen Fall von
Pityriasis rosea oder Herpens tonsurans maculosus.
U 1 1 m a n n : Ich habe sehr viele Fälle von Pityriasis rosea
gesehen und systematisch auf Pilze untersucht. Schon vor
mehreren Jahren berichtete ich hier über 190 solche Fälle. Sehr
oft findet sich ein primärer Plaque, daß aber wie hier an drei
verschiedenen Regionen solche elevierte Kreise entstehen, sah
ich nur bei Herpes tonsurans orbicularis. Nach dem Befunde und
nach den Ausführungen des Herrn Vortr. würde ich hier —
wenn Pilzbefunde fehlen — doch eher an Parapsoriasis ge¬
dacht haben.
Das klinische Bild der Pityriasis rosea ist ein sehr mannig¬
faltiges. Ich habe in den letzten Jahren zahlreiche Fälle klinisch
und bakteriologisch genau beobachtet. Die Pityriasis rosea kann
auf eine Körperseite streng lokalisiert, auf eine Körperstelle be¬
schränkt auftreten, ohne daß eine Universalität der Eruptiori die
Folge ist und trotzdem kann diese lokalisierte Form bei einem
anderen Pat. eine generalisierte Eruption durch Kontaktinfektion
veranlassen, wie zwei Fälle lehren, die an der Klinik Finger
beobachtet werden konnten. Das Auftreten der Pityriasis rosea
hat im Frühjahre und im Herbst epidemischen Charakter, wenn
die Feuchtigkeit der Luft eine große ist, obwohl natürlich immer
sporadische Fälle Vorkommen.
In diesem Falle ist die Diagnose nicht so schwer, weil wir ■
typische, spindelförmige, lachsfarbene Herde mit deutlicher
Kollerette und zentraler Abheilung sehen.
S p i e g 1 e r hält die Affektion für Pityriasis rosea.
Oppenheim: Schon jetzt ist auf Salizylspiritus eine be¬
deutende Besserung eingetreten, während Parapsoriasis ja als
unheilbar gilt.
Kren demonstriert aus der Klinik Prof. Riehl:
1. Eine 34jährige Patientin mit Lupus erythema¬
todes discoides im Gesicht. Gleichzeitig, bestehen auch
zwei Herde, die von der Ober- und Unterlippe auf das Lippenrot
übergegriffen und hier typische Veränderungen gesetzt haben.
Das Lippenrot, das mit blutig durchtränkten, sich abblätternden
Lamellen bedeckt war, zeigt jetzt nach Mazeration derselben
feine weiße Streifchen, welche dicht gedrängt, parallel zu ein¬
ander verlaufen, dazwischen hie und da weiße Pünktchen. Der
Rand dieser Plaque — an der Lippenrot-Schleimhautgrenze —
ist hellrot, eleviert und zeigt außerdem einzelne Gefäßektasien.
2. Eine 42jährige Patientin mit Pemphigus vulgaris
chronicus, der auf der Haut reichliche Blasen und an der
Schleimhaut des weichen Gaumens leicht blutende Erosionen
gesetzt hat. Auch die Blasen auf der Haut zeigen in diesem
Falle einen häufig blutig imbibierten Grund und geringe Heilungs¬
tendenz, was den Fall in die Gruppe der maligner verlaufenden
einreihen dürfte.
Fasal kennt die Patientin seit zwei Jahren. Die Er¬
krankung begann mit einem krustös-ekzematösen Herd am Kopfe.
Erst später traten Blasen an den Extremitäten auf.
3. Ein zwei Jahre altes Kind mit Ekthyma gangrae-
n 0 s u m im Gesicht. Sowohl durch diese Lokalisation wie durch
gleiche Effloreszenzen an der Konjunktiva palpebrarum erscheint
der Fall ungewöhnlich.
4. Einen 30jährigen sehr kräftigen Patienten, der seit fünf
Jahren an prämykotischen Exanthemen leidet. Am
Stamm und an den oberen Extremitäten finden sich hellrosarote,
ziemlich derbe Knötchen, die in Kreisform angeordnet sind. Sie
umgeben eine etwas braungefärbte, sonst aber normal aussehende
Zone. Solche Plaques finden sich in geringer Zahl ; gehen teils
zurück und bilden sich an anderen Stellen wieder von neuem.
Mucha demonstriert aus der Klinik Finger:
1. Einen Fall von Psoriasis vulgaris mit ausgebreiteter
Arsenmelanose, die zu einer teils flächenförmigen, teils herd¬
förmigen, schiefer grauen Färbung der Haut geführt hat.
2. Einen Fall von Hypertrichosis circumscripta.
Die Patientin zeigt am Rücken zwischen den Angulis scapulae
eine über handtellergroße behaarte Stelle ; das Haar ist dem
Kopfhaar vollständig analog.
Ferner heben Mucha und Landsteiner anläßlich
der Demonstration von lebenden Spirochäten hervor, daß sie sich
bei Vergleichung verschiedener Apparate für Dunkelfeldbeleuchtung
davon überzeugen konnten, daß der von Siedentopf kon¬
struierte Paraboloid - Kondensor optisch dasselbe leistet,
wie der von ihnen empfohlene und bisher verwendete Kondensor
von Reichert.
Mucha und Landsteiner berichten weiters über ihre
Untersuchungen betreffend die Einwirkung verschiedener Stoffe auf
die lebende Spirochaete pallida. Sie fanden dabei, daß Saponin,
ein Stoff, dessen Giftigkeit für eine Anzahl von Protozoen fest¬
steht (L a n d s t e i n e r, R u s s, v. Prowazek), auch eine
Schädigung der Spirochaete pallida und refringens hervorrufe.
F i n g e r demonstriert einen 30jährigen Mann mit einem
Ulzerationsprozeß am weichen Gaumen, der bezüglich der
Differentialdiagnose zwischen Syphilis und Tuberkulose Schwierig¬
keiten bereitete. Sprechen einerseits die blaßrote Farbe, die
scheinbar anämische Beschaffenheit und große Oberflächlichkeit,
der zum Teil zarte, zackige Rand, das Vorhandensein gelblich
durchschimmender Knötchen am Grunde für Tuberkulose, so
spricht anderseits ein tiefer zerfallendes, eitrig belegtes, scharf-
randiges Geschwür an der hinteren Rachenwand, der partielle
Defekt der Uvula, das Fortschreiten des Affektes mit einem
braunroten, nicht zerfallenden Infiltrate nach der Richtung des
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harten Gaumens, der hie und da nachweisbare infiltrierte Rand
für Lues. Pat. hat vor zwölf Jahren eine Sklerose mit Konsekutivis
gehabt, ist mit Tuberkulose hereditär belastet, reagiert auf
Tuberkulin weder lokal noch allgemein. Mit Rücksicht auf einen
Patienten, der vor Jahren an der Klinik Neumann zur Beob¬
achtung kam, hei welchem zuerst die Diagnose auf Tuberkulose
und dann auf Lues gestellt worden war, antiluetische Therapie
dann Heilung brachte, der im Vorjahre mit einem Rezidive des¬
selben Krankheitsprozesses einer analogen, oberflächlichen, den
ganzen weichen und einen Teil des harten Gaumens einnehmenden
Ulzeration auf die Klinik zurückkehrte und durch antiluetische
Therapie ausgeheilt wurde, dann aber mit einer luetischen, auf
Jod prompt reagierenden Periostitis des Sternums wiederkam —
sowie unter Berücksichtigung des negativen Ausfalles der
Tuberkulinreaktion — stellte Finger die Diagnose Lues und ist
auf die Darreichung von Jod bereits der Beginn der Verheilung
nachzuweisen. (NB. Pat. wurde am 21. März geheilt entlassen.)
Ullmann bemerkt zum Protokoll der Sitzung vom 20. Fe¬
bruar 1907 (Wiener klin. Wochenschrift Nr. 14), daß er Lupus
erythematodes mit irgendeiner lokalen Hauttuberkulose keines¬
wegs identifiziere, sondern nur in 707o seiner Fälle von Lupus
erythematodes der letzten zehn Jahre, klinische Beziehungen
desselben zur Tuberkulose u. zw. im Vorhandensein von Organ¬
tuberkulose, Koinzidenz mit anderen papulo-nekrotischen Tuber¬
kuliden oder wenigstens mit ausgesprochen tuberkulöser Heredität
nachweisen konnte. In mehreren Fällen von Lupus erythematodes
konnte er allgemeine, in einzelnen Fällen auch lokale Tuberkulin¬
reaktion nachweisen. Niemals behauptet habe er aber auch den
positiven Ausfall der Tuberkulinreaktion in 707() seiner Fälle,
da er ja nur in einem kleinen Teil der Fälle überhaupt Tuberkulin
injiziert hatte. _ _
Wissenschaftliche Gesellschaft deutscher Aerzte in
Böhmen.
19. wissenschaftliche Sitzung vom 5. Dezember 1906.
R. V. Zeynek: lieber den Nachweis kleiner Brom¬
mengen in Organen. Das Prinzip desselben ist die elektro¬
lytische Fixierung von Brom (und Jod) als Silberverhindung,
unter Verwendung eines elektrischen Stromes, dessen Spannung
nicht hocli genug ist, um Chloride, Sulfate und die Mehrzahl
etwa vorhandener organischer Säuren zu zerlegen. Dies wird
hei Verwendung einer Silberanode durch ein Strompotential von
0-45 Volt erreicht. Brom i.wird so bis zu einer Verdünnung der
Lösung im Bromgehalt auf 000008 °/o ausgefällt, während eine
3-50/oige chlorhaltige Lösung an der Elektrolyse sich noch nicht
beteiligt. Die Genauigkeit dieser Fällung dürfte der direkten
Silberfällung entsprechen, da die Löslichkeit von Bromsilber durch
die Gegenwart von Salzen beträchtlich erhöht ist. Die Fixierung
des Broms wuide nach Specketers in Nernsts Jjaboratorium
ausgearbeitetem Verfabren unter Einleitung von reinem, elektio-
lytischen Wasserstoff ausgefübrt. Halogensilber ist leicht durch
Lauge und Hyclrazinhydrat zersetzlich, wobei metallisches Silber
abgeschieden wird. Die klare, das sämtliche Brom enthaltende
Lösung wird durch Destillation mit Eisenoxydsulfat und Schwefel¬
säure von etwa vorhandenem Jod befreit und kann nach Aus¬
fällung des Eisens direkt auf Brom geprüft werden.
Untersuchte Organe Gesunder, plötzlich Verstorbener er¬
wiesen sich sämtlich frei von Brom (auch Scbilddrüsen).
Durch die Methode wären etwa 0 002 g Brom zu erkennen.
Weiter spricht Zeynek: Ueber die Abspaltung dei
prosthetischen Gruppe bei den Ei weiß färb st offen.
In den Organismen sind in reicblicher Menge sogenannte kom¬
plexe Eiweißkörper enthalten, die bei der Spaltung neben Eiweiß
eine Gruppe von Nicbteiweißnatur, von Kos sei als prosthetische
Gruppe bezeichnet, geben. Begreifljcberweise wurde in erster
Linie dem Studium dieser prosthetischen Gruppe Aufmerksam¬
keit gewidmet. Bei den meisten komplexen Eiweißarten ist ihre
Bindung an die Eiweißkomponente als recht hartnäckig erwiesen
(so bei den Nukleoproteiden, den Glykoproteiden, Chondroniukoid)
untl bei der Spal tung bleibt vorerst ein Teil des Eiweißes _ noch
in Verbindung mit dem prostbeliscben Komplex. Nur die Eiweißr
farbstoffe sollen den prostbetischen Farbstoff locker gebunden,
entbalten.
Der Vortragende zeigt an zwei Beispielen, daß diese An-
nabme irrig ist; sie ist hervorgebracht durch die Empfindlichkeit
der Farbkomplexe gegen Reagenzien. Es kann allerdings bei der
Reagenzienwirkung eine J^ockei'Ung in der Bindungs weise der
Farbstoffe mit der Eiweißkomponente eintreten, aber eine voll¬
kommene Loslösung findet erst nach eingreifender Zertrümme-
laing des Eiweißmoleküls statt.
ln der Haut des Fisches Crenilahrus pavo fiiulet sich zur
Paaiungszeit ein blauer Eiweißkörper, dessen Farbenänderungen
liei der Pepsinsalzsäurcverdauiing spoktrophotometrisch gleich¬
zeitig mit der Fällbarkeit der Verdauungsprodukte durch Neutral-
salzc beobachtet wurden. Dabei wurde erkannt, daßi der Farb-
komjilex lange an Eiweiß gebunden bleibt.
Anderseits zeigt sich beim Hämoglobin, welches der Pepsin¬
salzsäurewirkung unterworfen wird, daß die Hämalinkomponente
lange an Eiweiß gebunden bleibt. Es zeig^ sieb dabei aber eine
auffallende Empfindlichkeit des Hämatineisens gegen Säure. Dieses
wird aus der ,, maskierten“ Bindungsform zum Teil in den lonen-
zustand übergeführt. Das freie Hämatin, etwa nach Nencki
oder Schalfejew dargestellt, ist gegen 0-5%ige Salzsäure
resistent. Ein ähnliches Verhalten hat v. Klaveren bei der
Behandlung von Hämoglobin mit Alkalien gefunden: daß näm¬
lich aus der prosthetischen HämatingiUppe leicht eine Eiweißi-
spaltung. erfolgt.
Diese Beobachtungen scheinen physiologisch interessant zu
sein in bezug auf die Frage, wie Blutfarbstoff noianalerweise im
Organismus zersetzt werde. Noch niemals ist als normales Ab¬
bauprodukt von Hämoglobin im Organismus Hämatin erhalten
worden.
Eine auffallende Reaktion, durch welche das gesamte Eisen
aus Blutfarbstoff und Hämalin ausgelöst werden kann, wobei
aus Hämoglobin ein roter Eiweißköaimr mit bämatoporphyrin-
artigem Spektmm, anderseits aus Hämatin eine optisch dem
Hämatoporphyrin nahestehende, schwefelhaltige Substanz gebildet
wird, gibt die Einwirkung von schwefliger Säure im Lichte auf
Hämoglobin, resp. Hämatin (oder Hämin). Künstlicb war der
Ersatz des Lichtes weder durch hohe Temperatur, noch durch
viel stärkere Säuren zu erreichen. Es dürfte dieser Prozeß die
erste, sicher nachgewiesene Lichtwirkimg auf Blutfarbstoff sein;
vielleicht ist er auch von pharmakologischem Interesse, da bei
der Einnahme von Schlafmitteln, welche die Sulfogruppe ent¬
halten, oft Hämatoporphyrinurie eintritt.
Schenk: Neue Beiträge zur Kenntnis der meta-
stä tischen Tumoren der Ovarien und des Uterus.
13 Monate nach Gastrektomie wegen Magenkarzinom und Ex¬
stirpation der metastatischen Ovarialtumoren suchte die Patientin
wieder die Klinik auf. Die Untersuchung ergab an der hinteren
Muttermundlippe einen etwa haselnußgroßen Knoten und an diesen
anschließend harte Infiltration des Zervixgewebes. Die Probe¬
exzision ergab Karzinom. Die Operation wurde wegen Verwach¬
sungen und Infiltration der Iliakaldrüsen, sowie der Drüsen ent¬
lang der Aorta bis hoch hinauf abgebrochen. Pat. ging nach
mehreren Wochen kachektisch zugrande.
Schenk berichtet über einen zweiten ähnlichen Fall, bei
welcbem bei der Exstirpation des kleinfaustgreßcn linken und
des kindskopfgroßen, zum Teil zystischen, reebten Ovariums ein
kleinfaustgroßes Pyloruskarzinom entdeckt und entfernt wurde.
Acht Monate nachher traten wieder Beschwerden auf, denen die
Patientin nach weiteren zwei Monaten erlag.
Nach Besprechung der einschlägigen Literatur befaßt sich
der Voitragende mit der Frage nach der Art und Weise der
Metastasierung im Uterus und in den Ovarien.
Nach Ansicht des Vortragenden sollten die Chirurgen bei
Exstirpation von Magen- und Dannkarzinomen nicht nur ver¬
größerte oder verdächtig erscheinende Ovarien entfernen, sondern
auch Ovarien, welche makroiskopisch noch nichts Verdächtiges
aufweisen, mit entfernen, sofern es sich um Frauen im geschlech ts-
reifen Alter handelt.
Sitzenfrey: a) Demonstration makro- und mikro¬
skopischer Präparate eines sekundären, die Wan¬
dungen fast s u b s t i t ti i e r e n d e n G a 1 1 e r t k a r z i n o m s des
Uterus bei primärem Magen- und sekundärem, beider¬
seitigen Ovarialkarzinom.
b) Vortr. stellt eine 50jährige Frau vor, an der er^ vor
214 Jaiiren wegen Carcinoma ovarii utriusque die abdominale
Totalexstirpation des Uterus vorgenommen bat. Bei der Operation
worden hämorrhagischer Aszites und ausgedehnte, flächenhafle
Venvachsungen mit den Nachbarorgmien, insbesondere der Flexura
sigmoidea coli nnd Dünndarmschlingen konstatiert. Nach drei¬
stündiger mühsamer Arbeit gelang die Auslösung der Ovarial¬
tumoren ohne allzu gefährliche Nebenverletzungen. Die Frau siebt
blühend aus; ein lokales Rezidiv ist nicht nachweisbar.
20. wissenschaftliche Sitzung vom 12. Dezember 1906.
Springer berichtet über experimentelle Untersuchungen be¬
treffs Ueborpflanzungun gestielter Lappen des großen
Netzes beim Hunde. Es gelingt, große Stücke desselben auf
Darmschliitgon zu überpflanzen, ohne daß sie nekrotisc.li
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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wenden. Nach 48 Siundeii siiul dieselheu sehr fesl ver¬
klebt und haben bereits ausgedehnte (lefäßanastomosen einge¬
gangen. Nach etwa acht Tagen bilden sie eine fest verwachsene
Auflagerung. Springer denionsiriert Präparate: intakte und nach
Resektion wieder vereinigte Darinschlingen, eine Cxastroentero-
stoniie nach Wölf 1er, eine Leberresektion, alle mit Netzlappen
gedeckt, die bei glattem Verlaufe fest anheilten.
Einen Nachteil haben diese Lieberpflanzungen; sie geben
Anlaß zur Bildung breiter, peritonealer Adhäsionen. Springer
sieht den Giaind darin, daß bis zur Ausbildung genügender Ana-
stoinosen in den ersten beiden Tagen der unterernährte Ivappen
als Fremdkörper Avirke und fand eine Bestätigung dieser An¬
nahme in der Tatsache, daß nach experimenteller Quetschung des
zentralen Teiles der Netzschürze diese <lann peripher vielfach
adhärent Avurde. Zur Deckung unsicherer Nähte ist das Verfahren
nur dann geeignet, Avenn durch Drainage oder Tamponade Siche¬
rung gegen Insuffizienz der Naht geschaffen Avird.
Springer Aveist weiter darauf hin, daß bei der Ueber-
pflanzung auf die parenchymatös blutende Leberresektionsstelle
die Blutung auffallend rasch stand und empfiehlt das Ver¬
fahren mit gestielten Netzlappen nachzuprüfen. Springer spricht
sich über die praktische Verwendbarkeit der ungestielten Netz¬
lappen skeptisch aus, hält, aber ihre AiiAvendljarkeit an Blase,
Dickdarm und Genitale für möglich in einzelnen geeigneten Fällen.
Aus der bei diesen Experimenten gemachten Erfahrung, daß der
zentrale Nelzslumpf bei der geAvöhnlich geübten einfachen Ab-
bindung starke Adhäsionen macht, empfiehlt Springer prin¬
zipiell bei allen Netzresektionen den abgebundenen Stumpf durch
einige Nähte nach Lembert einzustülpen.
Pohl berichtet über Versuche aus seinem Laboratorium,
die das Ziel hatten, den Einfluß der Reaktion auf 'lie Wirkung
des D i g i t a 1 i s i n f u s e s festzus teilen. Es ergab sich eine Ueher-
einstimmung mit den Untersuchungen von D eucher für das
Digitalin, daß das Digitoxin enthaltende Infus durch Digestion
mit Verdauungssalzsäure beträchtlich abgesclmächt Averde. Da
beim Stehen eines nativen Digitalisinfuses auch dieses in seiner
AVirkung rasch zurückgeht, so müßte auclr hiefür die Ursache
gesucht AA'erden und diese fand sich in einer o r g a n i s c h o n,
Säure der Digitalisblätter, die in das Infus übergeht. Neutra¬
lisation des Infuses vermochte des, sen Wirksamkeit andauernd
zu erhalten. Zum Schlüsse Averden einige in der Praxis übliche
Aledikationsformen Amn Digitalis mit Rücksicht auf diese Er¬
fahrungen besprochen.
Oskar Adler demonstriert die Amn ihm und Rudolf .4 dl er
angegebene Benzidinprobe zum Naclnveis Amn Blut. Der
negative Ausfall dieser empfindlichen Probe spricht hei rich¬
tiger Ausführung mit großer Sicherheit für die Abwesenheit von
Blut. Bei Stuhluiitersuchungen ist die Probe bei positivem Aus¬
fall AmrvA'ertbar, Avenn geAvisse Kautelen (mehrtägige Probediät,
Aufkochen der zu untersuchenden Prohe) eingchalten Averden.
Oskar Adler bespricht die Wirkung' der Gl yoxyl säure
im Tierkörper. Mit Hilfe der Glyoxylsäure ist man imstande,
den beim Menschen zuerst von H. E. Hering; beschriebenen
Pulsus alternans mit Sicherheit experimentell hervorzu rufen.
Von der im Tierkörper aus Glyoxylsäure entstehenden Oxalsäure
gelangt nur ein kleiner Teil mit dem Harn zur Ausscheidung,
ein großer Teil Avird in den Organen (Niere) als Kalziumoxalat
zurückbehalten.
*
1. Avis sen Schaft liehe Sitzung vom 16. Januar 1907.
Chefarzt Dr. E 1 b o,ge n - Kladno demonstriert eine 26 Jahre
alte Patientin, die er am 9. November 1906 AA'egen der Erschei¬
nung einer vor sechs Jahren ganz allmählich entstandenen chro¬
nischen D ün n d a r m ste n OS e operiert- hat.
Er fand in einer Ausdehnung von 53 cm drei Jiaibige
Stenosen, die das Ileum auf Bleistift- bis Sondendicke verengten;
ol)eilialb der proximalen Striktur AAuar der Dünndarm magen-
älmlich ei’AA’eitert, die Wandungen hypertrophisch, ZAvischen der
zAA’eiten und dritten Striktur Avar der Darm sackartig erweitert
und die Wandungen ebenfatls hypertrophisch.
Die oberste Striktur Avar mit zahlreichen Kirsch- und
Pflaumenkernen gefüllt.
Der Appendix Avar seilartig gespannt, mit dem unteren,
kollamartig aufgetriebenen Ende mit der mittleren Striktur A^er-
Avachsen. Das Netz war in Strängen abgeteilt und jeder dieser
zahlreichen Stränge Avar an dem unteren Ende mit dem Peri¬
toneum parietale venvachsen.
Dr. Elbogen resezierte den stenosierten Darm mit dem
Wurmfortsatz in einer Ausdehnung von 55 cm, führte die laterale
Enteroanaslomose zAvischen dem oberhalb der ersten und unter¬
halb der dritten Striktur liegenden Darmabschnitt aus und ent-
feride die Nelzslränge.
Heilung per pi imam ; die vorher bestandenen Beschwerden,
Avie Erbrechen, Koliken, Darmsteifung, sind nach der Operation
gescliAvunden, nur die schmerzhaften Koliken und die vermehrte
Peristaltik verschwanden erst allmählich im Verlaufe der zAveiten
WWehe nach der Operation.
Die mikroskopische Untersuchung der GescliAvüre ergab, daß
es sich im vorliegenden Falle um Darmtuberkulose gehan¬
delt hat.
Der Vortragende demonstriert die Patientin and das makro-
und mikroskopische Prä])arat und macht besonders auf die hoch¬
gradige Anämie aufmerksam, die er als Folge der Darmstenose
auffaßt, erzeugt durch ein im Intestinaltraktus entstandenes Gift,
Avelchem die Destruktion der roten Blutkörperchen zu Amrdanken
ist. Der Fall avird anderweitig ausführlich publiziert Averden.
Vien dl: Zur Frage der akuten H e r z d i 1 a ta t i o n.
Bekanntlich ist die Frage, oh es infolge übermäßiger Körper¬
anstrengungen zu einer Dilatation des Herzens kommt, noch
nicht entschieden. Während Moritz, Hoffmann, de la Camp
die Existenz der akuten Dilatation des Herzens beim gesunden
Herzen auf Grund orthoradiodiagraphischer Untersuchungen in
ZAveifel ziehen, geben Schilt und Stark die Möglichkeit einer
solchen zu, auch die letzteren Autoren bedienten sich des Böntgen-
verfahrens zum Naclnveise ihrer Untersuchungen. Eine zweite
Reihe der Autoren bedient sich jedoch nur der physikalischen
Untersuch'ungsmethoden beim Studium der obengenannten Frage.
Zu diesen Autoren gehören Alt, C a s p a r i, B a 1 d e s, H e i c li e 1-
heim und Metzger. Auf Grund dieser Untersuchungsmethoden
allein ist man jedoch nicht berechtigt, eine akute Herzdilatation
nach forcierten Muskelanslrengungen annehmen zu können. Zum
sicheren Nachweis derselben dient nur das Röntgenverfahren,
bzAv. die Orthoradiodiagraphie. Dr. Men dl und Dr. Selig stu¬
dierten an ZAvei Ringkämpfern, die sie bis zur vollständigen
Ermüdung ringen ließen, die Größe des Herzens vor und nach
dem Ringkampfe, außerdem Avurden dabei Blutdruck, Puls und
Harnausscheidung kontrolliert. Es ergab sich, daß sich bei keinem
der Ringkämpfer eine Herzdilatation auf orthoradiographischem
W-ege nacliAveisen ließ, die Pulszahl nahm über das Doppelte zu,
Avährend der Blutdruck in beiden Fällen beinahe um ein Drittel
des normalen Wertes sank. Nach dem Ringkampfe konnte man
hei dem einen Ringkämpfer EiAAmiß nachweisen, im Harnsedimente
hyaline und granulierte Zylinder, Leukozyten und rote Blut¬
körperchen. Das spezifische Gewicht des Harnes Avar in beiden
Fällen nach dem Kampfe erhöht.
Redner schließt sich auf Grund dieser Untersuchungen der
Ansicht von de la Camp an, die dahin zielt, daß eine akute
Dilatation des Herzens infolge forcierter Muskelarbeit Avohl nur
dann eintritt, AAmnn der Herzmuskel ernstlicher erkrankt ist.
Dr. Rotky: Ueber Viskosität des Blutes.
Nach einer kurzen Einleitung demonstriert Rotky das von
Hirsch und Beck konstruierte Viskosimeter und erklärt die
Methode der Viskositätshestimmung. Das Blut Avurde nach J a-
koby und Bence mit Hirudin ungerinnbar gemacht. Als Normal-
Averte für Blut gibt Rotky R = 503 und für das Plasma
R — 1-77 an. Hierauf referiert. Rotky über seine auf der Klinik
R. V. Jaksch angestellten Versuche und teilt mit, daß bei
Nephritischen die Viskosität des Blutes immer niedrigere W^erte
gab als bei Normalen, auch bei Schrumpfniere und Urämie —
letzteres im Gegensatz zu Hirsch und Beck. Interessant Avar
die Erhöhung des Plasmas in acht Fällen von Nephritis, mög-
licherAveise bedingt durch die Anhäufung exkrementieller Stoffe.
Bei Anämien Avar die Viskosität des Blutes meist stark vermindert,
nicht konstant die des Plasmas, Avelche mitunter auch eine leichte
Steigerung erkennen ließ. Höhere Vierte AAmrden bei Leukämien
gefunden, bedingt durch die hohe Leukozytenzahl. Durch Zentri¬
fugieren Avurden die Erythrozyten ausgeschieden und so ein Plas¬
ma-Leukozytengemisch (mit 350.000 Leukozyten im Kubikmilli¬
meter) und zellfreies Plasma erbalten. Die Viskositätsbestim-
mungen ergaben R = 5-33 und R = 2-62. Bei Ikterischen'
wurde stets, außer bei gleichzeitiger, durch Karzinom bedingter
Kachexie, höhere Werte für-Blut und Plasma ei-mittelt, desgleichen
bei Zyanotischen. In einem dieser Fälle Avar die Viskosität des
Blutes R = 16-93, Avelche nach vierzehntägiger Sauerstoffinlia-
lation auf R “ 10-79 gesunken ist, Avährend die Plasmawerte
nur eine Verminderung um 0-4 zeigten. Ob der durch Erhöhung
der Idskosität gesteigerte WTderstand Avirklicli auf das Herz so
rüclvAvirkt, Avie es einzelne Autoren annehnien, erscheint frag¬
lich, Avenn man den Fall Lommel Avürdigt, avo man bei einer
Polyzythämie von 7 bis 10 Millionen Erythrozyten und R ~ 11
absolut keine Blutdrucksteigerung und Hypertrophie des Herzens
Avahrnehmen konnte. Untersuchungen bei Phosphoiwergiftung er¬
gaben, daß das Plasma konstant eine Viskositätserhöhung zeigte*,
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die Viskosität des Hlutes dagegen wecliseliide Werte erkennen ließ,
die anch Unabhängigkeit von der EryUirozylenzahl aufwiesen.
Bei Diabetes mit erböbler Viskosität des Blutes kann man die
durch Polyurie bedingte Eindickung des Blutes verantwortlich
machen, in ähnlicher Weise wie auch Lommel und üeterniann
nach energischen Schwitzprozeduren im elektrischen Lichtbade
die Viskosität, wenn auch vorübergehend, steigen sahen. Bei
Pnemnonie, Nervenkrankheiten, Lues etc. läßt die Viskosität keine
Konstanz erkennen. Rotky schließt mit der Ansicht, daß man
dieser Methode der Blutuntersuchung keine wesentliche klinische
Bedeutung prognostizieren kann.
*
2. wissenschaftliche Sitzung vom 28. Januar 1907.
Li eh lein stellt einen ISjährigen jungen Mann vor, bei
Avelchem er wegen einer Schußverletzung der Milz die Exstir¬
pation des Organes gemacht hatte. Trotzdem sich der Einschuß>
im achten Interkostal raum links, nach innen von der Alamillar-
linie befand, war die Milz und kein anderes Organ verletzt.
Operiert wurde unter der Annahme einer Magenverletzung. Der
postoperative Verlauf war kompliziert durch sehr schwere Magen¬
darmblutungen, welche zu einem exzessiven Orade von Anämie
führten. Trotzdem trat Heilung ein, nachdem der Patient außer¬
dem noch eine schwere Thrombose der rechten unteren Extremität
glücklich Überstunden hatte. Der Vortragende macht auf die Blu¬
tungen nach Milzexstirpation aufmerksam, bespricht die verschie¬
denen Möglichkeiten ihrer Entstehung und macht speziell darauf
aufmerksam, daß die Arteriae gastricae breves sehr häufig ihren
Urspmng nicht vom Stamme der Arteria splenica, sondern von
einem ihrer Aeste nehmen und deshalb bei der Unterbindung
des Milzstieles sehr leicht mit unterbunden werden können. Die
dadurch gesetzte Ernährungsstörung eines izirkumiskripten Teiles
der Magenwand kann die Gelegenheit abgeben, daß es unter der
Einwirkung des Magensaftes zu Geschwürsbildung und infolge¬
dessen zu Magenblutungen kommt.
D oberauer stellt eine Kranke vor, bei der er wegen
zentralen Sarkoms des Tibiakopfes das obere Drittel
der Tibia reseziert, den Defekt, nachdem Einpflanzung der Fibula
in das Femur keine genügende Tragfähigkeit ergab, durch einen
Knochenlappen aus der Patella zum Teile ersetzte und
gute Konsolidation und Tragfähigkeit des Beines erzielte.
Doberan er bespricht weiter die Indikationen für konser¬
vative und verstümmelnde Operationen bei den Sarkomen der
langen Böhrenknochen, lehnt die Exkochleation und subperiostale
Besektion als allzu unsicher puncto Dauerheilung ab und stellt
für die Besektion die beschränkende Bedingung auf, daß es ge¬
lingt, den Defekt funktionstüchtig, wenigstens so weit zu er¬
setzen, daß keine auffallende Verkürzung bleibt. Für die untere
Extremität kommt nur autoplastisches Verfahren in Betracht;
an der oberen Extremität können heteroplastiscbe Methoden mit
Erfolg angewendet werden und kann man darum hier die Grenzen
für dje Besektion wesentlich weiter stecken. Dobe rauer zeigt
die Böntgenbilder von einem Falle, wo er nach Besektion des
Humeins wegen Karzinom einen 14 cm langen ElfeidDeinstab
implantierte, welcher bis zu dem zwei Jahre später erfolgten
Tode des Patienten (Carcinoma ventriculi) getragen wurde und
eine leidliche Brauchbarkeit des Armes vermittelte.
G a r k i s c h : U e h e r Tuberkulose der Portio v a-
ginalis. . .
G a r k i s c h demonstriert makroskopische und mikroskopische
Präparate von einer 28jährigen Patientin, die nie geboren, nie
menstruiert hatte. Bei der Untersuchung im Spekulum fand man
eine hanfkorngroße, dunkelrot verfärbte, polypöse Wucherung im
äußeren Muttermund. Man dachte zuerst an eine sarkomatöse
Degeneration der Zervixschleimhaut. Die histologische Unter¬
suchungergab Tuberkulose der Portio. Vaginale Totalexstirpation,
der Uterus zeigt deutliche Hypoplasie. Pat. wurde am 20. Tage
post operationem geheilt entlassen. Sechs Monate nachher hatte
sie 5 kg an Körpergewicht zugenommen. Die histologische Unter¬
suchung des übrigen Genitaltrakies ergab ruberkulose der Zervix,
des Korpus und beider Tuben. Garkisch glaubt, daß es sich
im vorliegenden Falle wegen der in allen Abschnitten des Genilal-
traktes fast gleich starken üdierkulöscn Veränderungen um eine
auf hämatogenem Wege entstandene sekundäre Genitaltuberkulose
handelt.
*
3. wissenschaftliche Sitzung vom G. Februar 1907.
Ulbricb schildert eingehend den Befund eines Koloboms
der Iris, welches durch eine beweglicbe Membran verschlossen
war. Aus den Bewegungen dieser Membran glaubt der Voitiagende
einen Beweis gegen die von Weiß und von Hamliui gei \ei-
Ireteiien Ansiebten ülier die Entstellung des Kammerwassers ab¬
lei ten zu können.
Fick: Demonstration His-S legerscher Modelle,
nebst Bemerkungen über die Bedeutung derselben für Forschung
und Unterricht.
*
4. wissenschaftliche Sitzung vom 13. Februar 1907.
V. Jak sch: Demonstration eines Mediastinal-
tum 0 r s.
Das 28jährige Mädchen leidet seit mehreren Wochen an
Atemheschwerden, für welche weder die physikalische, noch die
laryngoskopische -und tracheoskopische Untersuchung Aufklärung
gaben. Das Blut zeigt außer einem geringen Grade von klein¬
zeiliger Lymphozytose keine Veränderungen. Die Böntgenunter-
suchung envies das Vorhandensein eines Tumors hinter dem
Oesophagus, den Vortragender wegen seiner scharfen Abgrenzung
nach unten für eine Zyste hält.
Sitzenfrey: Zur His to genese der Mammakarzi-
11 o m e.
Ein primäres Adenokarzinom des linken Ovariums hatte
zur Bildung eines metastalischen Tumors im rechten Ovarium,
zu vereinzelten Lymphgefäßmetastasen im Uterus und möglicher¬
weise zur Bildung eines Krebsknotens in der rechten Mamma
geführt, in der sich außerdem ein sicher primäres Karzinom
entwickelt hat.
V. Franciue: Demonstration zur Diagnose der
Genital tuberkulöse.
1. Es wird durch Nebeneinanderstellung eines Präparates
von Tubenkarzinom und eines solchen von Tubenluberkulose
gezeigt, daß der Tastbetund die Differentialdiagnose meist nicht
erlaubt, welche jedoch aus den Begleitumständen und gelegentlich
per exclusionem möglich ist (hier entzündlicher Tubentumor bei
einer Virgo) ;
2. frische deszendierende Tubentuberkulose, entstanden im
W'^ochenbett nach Abortus, bei vorherbestehender Bauchfelltuber¬
kulose mit großem Erguß;
3. doppelseitige Tubentuberkulose, diagnostiziert aus dem
gleichzeitigen tuberkulösen Aszites und der Anamnese;
4. tuberkulöse Pyosalpingen, welche durch besonders hohe
Lagerung im großen Becken ausgezeichnet waren, aber wegen
der gioßen Beweglichkeit, bei vollständig fehlendem Einfluß auf
das Allgemeinbefinden, als Ovarialdeimoide betrachtet worden
waren;
5. typisches Präparat von Tuberkulose der inneren Geni¬
talien, mit ausgedehnten Verwachsungen, Pseudozystenbildung,
Ovarialabszeß (kein Fieber — Unzuverlässigkeit der Temperatur¬
verhältnisse für die Diagnose);
G. Obduktionspräparat eines tuberkulösen, von den Adnexen
ausgehenden Abszesses hinter dem Uterus, mehrfach in das
Rektum und in die Blase durchgebrochen.
Am Schlüsse tritt der Vortragende unter Hinweis auf die
günstigen, von Birnbaum aus der Göttinger Klinik mitgeteilten
Erfahrungen für die Anwendung diagnostischer Tuberkulininjek¬
tionen ein, um eine möglichst frühzeitige Operation zu ermöglichen.
*
5. wissenschaftliche Sitzung vom 20. Februar 1907.
Ulbrich: Plastische Bildung eines neuen oberen
Augenlides.
Ulbrich demonstriert einen durch eine plastische Operation
geheilten Fall von vollständiger Zerstörung des Olmrlides durch
Karzinom. Deckung des Defektes aus dem Unterlide, Ersatz der
Haut des letzteren durch einen ungestielten Oberarmlappen.
V. Jak sch demonstriert:
a) Vermutliche Manganvergiftung bei einem Manne,
der im Manganbetrieb von 1902 bis 190G beschäftigt war. Er
zeigt etwas skandierende Sprache, ferner den für Mangantoxikose
charakteristischen spastischen Gang, Steigerung der Sehnenreflexe
und das Symptom der Retropulsion.
b) Lokale elektrische Lichtbäder. Sie bestehen aus
verschieden gebogenen Metallrahmen, an welchen Gliddampen
montiert werden, die mit Stoff überzogen werden.
c) Böntgenbilder und ndkroskopische Präparate eines Falles
von N i e r e n t u b e r k u 1 o s e. Im Harnsediment charakteristische
Anhäufung von Tuberkelbazillen in Nestern; im Böntgenbild ein
Schatten in der Gegend der rechten Niere.
d) Färbung von Meningokokken mit Methylgrün-
Pyronin Merck.
Münzer: Objektive Blutdruckmessung.
Demonstration zweier Einrichtungen, durch welche es mög¬
lich ist, die in der Ri va-Bocci sehen Armmanschette vor sich
gehenden pvdsatorischen Druckschwankiiugen graphisch zu ver-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 19
zcicliueii. Die eine derseli)en entspricht im Prinzip jener Er¬
langers, die andere ist dadurch ausgezeichnel, daß die von
der Puini)e zur [Manschette führende Lei lung auf eine kleine SLrecke
durch ein dünnes Guinmirohr ersetzt erscheint. Dieses ist von
ein^m kleinen Glasgehäuse luftdicht umgehen und überträgt die
pulsatoris(dien Druckschwankungen auf die im Glasgehäuse be¬
findliche LufI, hzw. auf den Tambour und Schreihhehel. [Macht
dieser die größten Ausschläge, so entspricht der Manschettendruck
dem diastolischen Blutdruck; schreibt der Hebel mehr oder minder
gerade Linien, so übersteigt der Manschettendruck den systolischen
Blutdruck.
11 o k e ; U e b e r A g g r e s s i n e im Bl u t e bei P n e u m o n i e.
Bei einem Falle von schwerer Diidokokkenpnemnonie konn ten
im Senun infektionshefördernde Eigenschaften nachgewiesen
werden, indem die mit Serum und Kultur geimpfte Maus zehn
Stunden früher starb als das Kontrolltier. Das mit Semm allein
injizierte Tier blieb am Leben. Derartiges findet sich nur bei
sehr schweren Fällen von Pneumonie.
*
G. wissenschaftliche Sitzung vom 27. Februar 1907.
Waelsch: a) Demonstration eines Falles von Ar sen¬
ke ratose.
Der jetzt 34jährige Patient leidet seit dem 14. Lebens¬
jahre an Psoriasis, die seit der letzten energischen Teer- und
Arsenbehandlung nur mehr in rasch und spontan verschwindenden
Schüben auftritt. Jetzt weist er die Erscheinungen einer typischen
Arsenkeratose mit Bildung zahlreicher Warzen auf. Auch ein
Versuch mit Rontgenbehandlung blieb in diesem Falle erfolglos.
b) Demonstration eines Falles von Psoriasis verrucosa.
Die Erkrankung besteht bei dem nun 36jährigen Manne
seit 22 Jahren. Die Psoriasis war von Haus aus atypisch, ging
mit starker Entzündung und Exsudaten einher (Psoriasis rupoides),
war im Anfang auf der rechten Körperhälfte stärker entwickelt
als links. Auch' die warzigen Wucherungen begannen auf der
rechten Seite, um sich dann auch an den symmetrischen Stellen
links zu entwickeln. Am' Stamm beginnen sie sich in Form
von Streifen zu erheben, die der Interkostalnervenausbreitung ent¬
sprechen.
Kreibich: 1. Demonstration eines Falles von Pseudo¬
leukämie der Haut.
Die Haut des Kranken zeigt eine große Zahl von Tumoren,
die nach Klinik und Histologie mit den wahren leukämischen Tu¬
moren der Haut vollkommen identisch sind. Dabei besteht keine
absolute Vermehrung der Leukozyten (w:r — 1:700), wohl aber
eine prozentuale Vermehrung der Lymphozyten (69 o/o). Daraus geht
mit großer Wahrscheinlichkeit hervor, daß Pseudoleukämie und
lymphatische Leukämie nur verschiedene Grade derselben Vege¬
ta! ionsstömng sind und beide von der myelogenen J^eukämie
zu trennen sind.
2. - Demonstration eines Falles von 1 ymp ha tisch- snyelo-
gener Leukämie, mit einem Exanthem des Stammes,
das im Aussehen an die Tumoren des ersten Falles erinnert,
nach der Aal des plötzlichen fieberhaften Auftretens, nach der
Schmerzhaftigkeit, der raschen Rückbildung und der Histologie
aber als Erythema nodosum zu deuten ist.
3. Eines Falles von chronischer, zwei Jahre lang be¬
stehender Urtikaria, atypischer Prurigo, bei welchem
seit einem Jahre mächtige Lymphdrüsentumoren in der
Achselhöhle und am Halse aufgetreten sind. Das Blut ergibt Ver¬
mehrung der Leukozyten (30.000), aber nicht der Lymphozyten,
sondern der neutrophilen, polynukleären Zellen (88o/o).
4. Eines Falles von R e i n f e c t i o syphilitica.
5. Demonstration eines Präparates der Arteria basi-
laris cerebri mit Heubnerscher Endar terii ti s. Der
Kranke war ein Jahr nach der Infektion unter den Symptomen
der Pseudobulbärparalyse gestorben. Die Arterie zeigt prolife-
rierende Endaiieriitis, gummöse Infiltration der Media und Ad¬
ventitia.
6. Demonstration eines Präparates nach T^evaditi von
Pemphigus lueticus mit deutlichen, zahlreichen, echten
Spirochäten im Blaseninhalt, in der Kutis und in der Gefäßwand.
Bohac: Demonstration des L i c h t i n s t i t ii t e s der
Klinik.
Der 24. Kongreß für innere Medizin
Sitzung vom 26. April 1907. (Fortsetzung.)
Vorsitzender: Prof. Finger.
Schriftführer: Dr. v. Haberer.
Das zweite Referat hatte S c h 1 ö s se r- München : Erfah¬
rungen in der N e u r a 1 g i e b e h a n d 1 u n g m it A 1 k o h o 1 c i n-
s [) r it z u n gen.
Schlösser fand nach vielen Versuchen, daß Alkohol, in
70 bis 80“/üiger Konzent, ration an den Nerven gebracht, diese
Stelle des Nerven zur Degenerierung und alle seine Teile mit
Ausnahme des Neurilem zur Resorirtion bringt. Seine Erfahrungen
bendien auf 209 Fällen, zum Teil mit mehreren Rezidiven, im
Laufe der letzten fünf Jahre. Die Fälle sind durchweg alte, die
psychischen sind ausgeschlossen worden. Die Methode besteht
darin, daß möglichst große Strecken des erkrankten Nerven und
möglichst zentralwärts injiziert werden. Zur Vermeidung von
Nebenverletzungen wird eine kräftige Nadel mit möglichst stumpfer
Spitze und um gut am Knochen entlang tasten zu können, von
möglichst geradem Verlauf gewählt. Bei Erkrankungen des dritten
Trigeminusastes sind allerdings gebogene Nadeln erforderlich. Nach
der Art der Nerven ist der Einspritzungsmodus verschieden :
1. Sensible Nerven sind mit wiederholten Einspritzungen von
2 bis 4 g- Dosen zu behandeln. 2. Bei motorischen Nerven muß
ein Zustand der leichten Parese durch sukzessive Injektion kleiner
Quantitäten des Alkohols erzielt werden, indem nach Abwarten
von etwa fünf Minuten immer wieder etwas Alkohol zugefügt
wird. 3. Die gemischten Nerven sind wie die motorischen, nur
etwas energischer zu behandeln.
Der Redner erläutert sein Verfahren an einem supponierten
Fall von Trigeminusneui’algie. Um sicher den dritten Ast zu
treffen, fühlt er vom Munde aus mit den Fingerspitzen das
innere Ende des großen Keilbeinflügels, durchbohrt mit einer
langen Nadel die Wange und kommt etwas unterhalb der innen
liegenden Fingerspitze in die Mundhöhle, tastet sich unter dem
Finger an dem großen Keilbeinflügel in die Höhe bis zur Schädel¬
basis. Aus der nun angeschraubten Spritze wird 0-5 g Alkohol
injiziert, was der Patient mit der Angabe lebhaften Schmerzes
im Unterkiefer beantwortet und nach kurzer Zeit erneute 0-5 bis
10 g. Der Schmerz läßt allmählich nach, die Dosis wird noch
einmal wiederholt. Es tritt ein Gefühl von Brennen im Unter¬
kiefer auf, doch kann der Patient schmerzlos sprechen. Kommt
am nächsten Tage der Schmerz wieder, so wird am Tage darauf
mit der Knienadel von dem Unterkiefeinvinkel aus an der Innen¬
seite des Unterkiefers bis zum Foramen mandibulare in die Höhe
gegangen und hier injizieil. Die Unterlippe wird gefühllos, der
Kiefer fühlt sich geschwollen an. Die Anfälle kommen nun nicht
mehr wieder. Wenn der Patient aber noch über eine peinliche
Empfindung im Oberkiefer klagt, so wird von der vorderen
Massetergrenze etwas unterhalb des unteren .Jochbeinrandes ein¬
gegangen, der Masseter umstochen und mit der Nadel am Ober¬
kiefer entlang nach der [Mitte und etwas nach oben hinten vor¬
gegangen. Bei 4V2 cm Tiefe ungefähr kommt man in den Engpaß
der Fossa pterygomaxillaris, in welcher man noch 1 cm vor¬
dringt. Jetzt wird wegen der großen Schmerzen langsam und
sukzessive injiziert.
Die Heilung ist nur eine zeitweise, sie hält ungefähr ein
Jahr an, die Behandlung muß dann wiederholt werden. Wo man
bezüglich der Lokalisation im Zweifel ist, muß in den Kauf
genommen werden, daß in diesem Fälle ein Nerv zu viel injiziert
wird. Narkose ist nicht ratsam, da ja dann die für die Beurteilung
der Prozedur so wichtigen Schmerzen ausfallen. Als üble Zufälle
hat der Vortragende Paresen, in einem Falle eine Paralyse gesehen,
die in spätestens drei Monaten geheilt waren. Ferner kann durch
Bindegewelisentwicklung zwischen den Kaumuskeln und an der
Schädelbasis eine Kieferklemme zustande kommen. Hier helfen
mechanische Uebungen und schließlich Fibrolysineinspritzungen.
Von den behandelten Fällen waren 123 Tregeminusneur-
algien. Die Dauer bis zum Auftritt des Rezidivs betrug im Durch¬
schnitt 10-2 Monate. Von 38 Ischiasfällen sind bei 36 bisher
keine Rezidive aufgeti'eten, bei zwei Fällen nach drei bis sechs
Monaten. Bei 46 Okzipitalneuralgien, acht Armneuralgien, einer
Interkostalneuralgie, zwei Neuralgien nach Amputationen, zwei
Fällen von lanzinierenden Neuralgien bei Tabes kein Rezidiv.
Von elf Fällen von Fazialisklonus sind in neun Fällen Rezidive
nach drei bis sieben Monaten aufgetreten.
I Was die Endresultate betrifft, so ist die Kr a use sehe
Operation fraglos vorzuziehen bezüglich des Dauereffektes, doch
spricht gegen sie die hohe Mortalität. Schließlich scheint jetzt
nach fünfjähriger Erfahrung festzustehen, daß bei wiederholten
Einspritzungen die Rezidive immer später auftreten.
In der Diskussion schilderte zunächst Lang e- Leipzig
die Behandlung der Neuralgien durch Injektionen unter hohem
Druck. Die injizierten großen Flüssigkeitsmengen dehnen Und
lockern den Nerven. 75 bis 450 g werden direkt in den Nerven
gespritzt, worauf in manchen Fällen sofortige Schmerzlosigkeit
eintritt. Wenn auch mit reinem Kochsalz wohl dieselben Resul¬
tate zu erzielen sind, so empfiehlt es sich doch, wegen der ge¬
ringen SchmerzhaRigkeit zur 8%oigen Kochsalzlösung iVoo Eukain
Nr. 19
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
587
zuzüsetzen. Das Verfahren bei Ischias ist folgendes: Zunächst
wird zwischen Trochanter major und Tuber ischii eine Schl ei ch-
sche Quaddel angelegt, dann durch allmähliches Tiofergehcn das
darunterliegende Gewebe langsam infiltriert und in den Nerven,
der sich durch eine lebhafte Schmerzäußerung des Patienten als
richtig^ getroffen kennzeichnet, eine gewisse Quantität injiziert.
Ein his zwei Stunden nach der Injektion setzt ein lebhaftes
Spannungsgefühl ein, das allmählich ahklingt. Auffallend ist, daß
Vs aller Fälle eine nur Avenig Stunden anhaltende Temperatur¬
steigerung haben. Ein Nachteil der Methode ist, daßi man so große
Flüssigkeiten, wie zu gutem Gelingen erforderlich sind, nicht
an alle Nerven heranbringen kann. Ambulant darf das Verfahren
nicht ausgeführt werden; die Rezidive sind erklärlich, da der
Nerv ja durch die Injektion keine Veränderung erleidet. Der große
Vorteil liegt darin, daß die Methode von jedem aseptisch ar¬
beitenden Arzte ausgeführt werden kann. Von zwölf akuten Fällen
von Ischias sind elf geheilt, von zehn subakuten neun und von
21 chronischen Fällen (bis elf Jahre dauernd) 17 und einer ge¬
bessert. Vier Fälle rezidivierten, zwei Fälle von Femoralisneu-
ralgie, drei Peroneus-, eine Tibialis-, zwei Interkostalneurälgienl
sind glatt geheilt und von vier Trigeminusneuralgien drei.
Alexander-Berlin legt keinen Wert darauf, den Nerven
selbst zu treffen, sondern injiziert 10 cm^ der Schleichschen
Lösung II an den Ort des Schmerzes, der für jeden Fall genau,
bestimmt werden muß. Die Schmerzpunkle bei Ischias z. B.
sitzen oft an dem Tuber ischii, dem Trochanter und der Kreuz¬
heinwand, wo gar keine größeren Nerven verlaufen und die
Muskeln und , Aponeurosen schmerzhaft sind. Von zehn Fällen
sind sieben geheilt und zwei gebessert worden, von den geheilten
bestanden einige Jahre lang (bis zu 20); es wurden ein bis
sieben Injektionen in den einzelnen Fällen ohne .alle Neben¬
wirkungen ausgeführt. Die Injektionen lassen sich auch mit gutem
Erfolge bei myalgischen Schmerzen, 'wie bei Lumbago, Nacken¬
myalgien anwenden. Da bei den Neuralgien stets die Mus¬
kulatur beteiligt ist, ist sorgfältige Behandlung derselben zur Er¬
reichung guter Resultate unerläßlich.
G 0 1 d s c h e i d e r - Berlin glaubt, daß die endoneurale Be¬
handlung stets die Domäne 'einzelner Spezialisten bleiben wird.
Er hat die vom Vorredner mit Schleichschen Injektionen belian-
delten Fälle gesehen und rühmt die guten Resultate. Die Wirkungs¬
weise der Injektionen beruht auf einer Herabsetzung der Erreg¬
barkeit des Nerven. Ehe man sich zu den endonc'uralen Injektionen
entschließt, sollten zunächst die von Alexander empfohlenen
Injektionen eventuell bei Ischias, z. B. in Kombination mit Dehnung
und Wärme versucht werden.
F. Krause -Berlin wendet sich gegen die von anderer
Seite aufgestellte Behauptung, daß nach guter Entfernung der
Ganglien jemals Rezidive der Neuralgien möglich sind. Es werden
trotz aller empfohlenen Methoden immer Fälle übrig bleiben,
wo die Ganglienresektion die letzte Hilfe ist. Eine doppelseitige
Operation ist allerdings der Ausfallserscheinungen wegen unmög¬
lich. Krause hat bis jetzt 56 Resektionen mit acht Todesfällen
ausgeführt. Die Resultate haben sich in letzter Zeit verschlechtert,
weil außerordentlich desolate Fälle zur Operation zugeschickt
wurden, bei denen Morphium und alle anderen Mittel erfolglos
blieben.
Pe ritz - Berlin glaubt, daß ein Teil der Neuralgien, be¬
sonders die Brachialgien, keine echten Neuralgien sind. Unter¬
sucht man Kranke mit derartigen Schmerzen, so kann man immer
feststellen, daß neben den Schmerzen in der Haut Druckschmerzen
in typischer Verteilung in ganz beslimmten Muskelpartien Amr-
hanclen sind. In akuten Fällen ist die Sonderung scliAver vorzu¬
nehmen, weil meistens dann viel größere Bezirke des Gliedes
erkrankt sind. In chronischen Fällen kann man immer finden,
daß der Deltoideus, der oberste Teil des Korakoideus, der mittlere
Bauch des Bizeps und der Supinator longus schmerzhaft sind
u. zw. auch in der anfallsfreien Zeit. Ueber diesen Stellen ist
die Haut hyperästhetisch, hyperalgetisch gegen Nadelstiche Und
vor allem gegen faradischen Reiz. Gegen die Diagnose Neuralgie
spricht in diesen Fällen, daß die Schmerzstellen der Muskeln
von anderen Nerven versorgt werden als die darüberliegenden
Hautpartien. In Analogie zur Dermatomyositis ist es Aveit ver¬
ständlicher, eine Miterkrankung der über den Muskelpartien liegen¬
den Haut als eine Neuralgie der verschiedensten Nerven an¬
zunehmen.
Daß die Brachialgien und andere derartige Erkrankungen auf
IMyalgien zurückzuführen sind, geht ferner aus den erfolgreich'
in die Muskeln und nicht in die Neiwen ausgeführten Injektionen
von 0'20/oiger Kochsalzlösung, der Novokain und Adrenalin zu¬
gesetzt ist, hervor. Was den Zusammenhang von Myalgien mit
Hysterie betrifft, so ist für den hysterischen Charakter die Art,
wie das Nervensystem auf die i\Iyalgien reagiert, bestimmend.
Der einfache Schmerz ist nicht hysterisch. Bildet sich aber bei
derartig erkrankten Individuen die Vorstellung aus, den Arm
nicht bcAvegen zu können, so ist das hysterisch. So ist eine
Abasie, eine Astasie hysterisch, Avähreud die Myalgien, die die
Vorstellung des Nichtgehenkönnens erzeugen, nur rhcumalisch,
nicht hysterisch sind.
Brieger-Berlin trilt delu Schemalismus in der Nouralgie-
behandlung entgegen. In 600 Fällen von Ischias hat er bis 80^, o
Heilungen erreicht. Schädlich ist die kritiklose Massage akuter
Fälle. Neben anderen physikalischen Prozeduren ist die trockene
Wärme bei oberflächlichen, die nasse bei tiefergelegenen Neural¬
gien Amn guter Wirkung.
Han au -Frankfurt macht auf die Saugbehandlung mittels
trockener Schröpfköpfe aufmerksam, die gut Avirkt, genau lokali-
sierbar und leicht anwendbar ist. 10 bis 15 Minuten Averden alle
zAvei bis drei Tage bis zum VerschAvinden der Schmerzpunkte
die Schröpfköpfe auf den genau aufgesuchten Druckpunkten be¬
lassen. Im allgemeinen sind drei bis sieben Sitzungen nötig
geAvesen.
MinkoAvski-GreifsAvald hat gute Erfolge bei Ischias mit
der Stovainlumbalanästhesierung gehabt.
F i n k e 1 e n b u r g - Bonn hat pathologisch - anatomische
Studien über die Einspritzung von Alkohol, Kochsalz, Kokain etc.
an Tieren gemacht und hat starke Degenerationen bei Alkohol,
geringere bei den anderen Mitteln gefunden. Immer haben die
Tiere aber Lähmungen bekommen, so daß der Widerspruch nicht
erklärljar ist, daß man beim Menschen keine Lähmungen oder
doch nur sehr selten sieht. Auch haben sich die Injektionen
in den Nerven hinein sehr scliAvierig gezeigt, so daß die Annahme
gerechtfertigt scheint, die meisten Injektionen Averden nicht in
den Nerven, sondern in seine Nähe gemacht.
V. N 0 0 r d e n - Wien betont nachdrücklichst, daß jeder Patient
einer länger dauernden Bettruhe bedarf. Unbedingte Bettruhe
und einige Aspiringaben verhüten viel späteres Leiden. Akute
Neuralgien im Anschlüsse an akute Infektionskrankheiten Averden
oft in zAvei bis drei Tagen durch nicht zu kleine Dosen iMethylen-
blau geheilt.
Stintzing- Jena kann nicht zugeben, daß die meisten
Neuralgien neUritischer Natur sind. Eine Entzündung müßte den
ganzen Querschnitt des NcrAmn befallen und also auch die mo¬
torischen Fasern und diffuse Symptome hervorrufen. Man muß
Störungen toxischer Natur annehmen. .Stoffwechselprodukte, die
eine Affinität zu den sensiblen Fasern haben. Die künftige
Forschung Avird auch hier auf dem Gebiete der Chemie anzusetzen
haben.
(Fortsetzung folgt.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin. (Fortsetzung.)
Referent : Dr. ]\Iax L i t th a u e r.
2. Sitzungstag, 4. April 1907.
Sudeck-Hamburg hat Injektionspräparate mittels Auf-
schAvemmung Amn Älonninge in (3el hergestellt und ist zu dem
gleichen Resultat gelangt, Avie Manas se.
Blumberg: Zur Bauchschnittechnik (mit Kranken¬
vorstellung).
Da die aseptische Heilung bei Laparotomien etc. besonders
leicht durch ein stark entAvickeltes Fettpolster Störungen erleidet,
so exstirpiert Blumberg, nachdem ein kleiner Schnitt durch
Haut und Pannieuius adiposus geführt ist, das subkutane Fett-
geAvebe in seiner ganzen Dicke auf einige Zentimeter hin keil¬
förmig .Amn der SchnittAAmude aus. Dadurch Avird zugleich er¬
reicht, daß der Schnitt bei starkem Pannieuius nicht größer zu
sein braucht als bei mageren Patienten. Da ferner die Festigkeit
der Bauchnarbe fast ausschließlich Amn der lückenlosen Verheilung
der Aponeurose abhängt, so Avird eine postoperative Hernie
um so eher vermieden, je kleiner der Aponeurosenschnitt ist;
deshalb macht Blumberg nur eine kurze Inzision der Aponeu¬
rose und unterminiert dieselbe stumpf in der Umgebung des
Schnittes, an den Schnilträndern und besonders in den Wund-
Avinkeln, auf einige Zentimeter, Avas sehr leicht geschieht. Durch
diese Mobilisierung der Aponeurose Avird die Zugäng¬
lichkeit zum Abtlomen erhöht. — Bei der primären Vernähung
Avird bei der Aponeurosennaht der darunler liegende Muskel ober¬
flächlich mitgefaßt; die subkulane Fettschicht Avird durch isolierte
fortlaufende Naht vereinigt. Auf den Verband kommt für einige
Tage ein Sandsack von Va bis 1 kg. Alle so operierten Fälle
sind per piimain inten tionem geheilt. Selbst bei starkem Fett¬
polster Avar nur ein Schnitt von ca. 4cm Länge nötig und
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 19
r-- ■
Irolzdcni es sieli bei den vorgestelUen Palionteu, bei denen Hluin-
bei'g die InlerVallopeialion der Appendizilis ausgefnhrl., ‘nni
seluversie fläclienballe Adhäsionen liandcUe, koniiLe der Api)cndix
trolz (b'r Khdidieit des Scdinittes mit (lern Ange anfgesucht Averde}i.
])i(3 Exstirpation des Fettg’ewej)es hat t5lnnil)org iiicht
nur l)ei Laparotomien, sondern ancdi bei Operationen von Hernien
und so weiter angewandt. (Selbstberielit.)
W 11 1 1 s te i n - Halle demonstriert drei Präparate. Das ('rste
stellt eine gastrodnodenale Erwciterüng in Sandnhrform vor. Heim
Pylr)i'us findet sich ein Ulkns; das Dnodennm ist fixiert und ali-
geknickt. Das zweite Präparat ist ein Sandnbrmagen, der von
einer Sollislmördcrin stammt. Die sandnbrförmigc Erscheinung
ist durch starkes Schnüren hervorgerufen. Das dritte ih'äparat
stammt von einem Patienten, der an Oesophagnskarzinom litt.
Es wurde eine Ciaslroslomie gemacht, ])ei der sich der Magen nur
s(dir schwer hervorziehen lieh. Hei der Sektion zeigte sich, daß
ein Eiliromyom der liinteren Magenwand das Hervorzieheii ver¬
hindert hatte.
Schmitt-IMünchen hat in 14 Fällen von Sanduhrmagen
oiteriei't n. zw. wurden verschiedene Eingriffe vorgenommen. Die
Noi'maloperation ist für ihn die Gastroonteroanastomia. retrocolica,
mit der gute HesPltate erzielt Avurden.
Heerink-Fieibui'g i. H.; Ueber einige Wirkungen
des sogenannten i n t r a a b d om i ne 1 1 e n 1) ruck es.
Heer ink berichtet über Experimente, durch welche er
den Nachweis erhringen konnte, daß in der Abdoniinalhöhle. ab¬
gesehen von dem Magendarmkanal, ein negativer Druck herrscht.
S c h in it t- München : Komplikationen nach Magen¬
resektionen.
Schmitt herichlet zunächst über einen Fall von Magen¬
resektion, in dem mehr als die Hälfte des Magens reseziert!
Avnrde. Hat. stand am zwölften Tage nach der Operation auf,
mit gut funklionierendem Magenrest. Einige Tage s[)äter ging die
Laparotomiewunde teilweise auseinander. Es iirolabierte das Netz,
das abgetragen ^Avurde. Dann nochmaliger Nelzprolaps, der wieder-
nm abgetragen Avnrde. Es residtiertc eine Zeitlang eine Fistel,
die sich nach einiger Zeit spontan schloß.
Der zweite Fall betrifft eine 48jährige Patientin, bei der
eine Pyloj'usresektion gemacht Avurde. Es mußte ein großes Stück
vom Dnoilenüm entfernt AA^erden, daher konnte das Duodenum nicht
an den Magen herangebracht werden. Es Avurde deshalb die ZAveite
H i 1 1 r ot h sehe Operation ausgeführt. IV2 Jahre Avar die Kranke
gesund. Da erkrankte sie an einer doppelseitigen Pneumonie,
die kritisch abheilte. Während dieser Erkrankung mußte die
Ikitientin sehr viel husten. Dadurch entstand in der Narbe eine
Vorwölbung; schließlich öffnete sich an einer Stelle eine Duo¬
denalfistel an der Stelle, avo das Duodenum zirkulär vernäht Avar.
Die Fistel Avurde operativ geschlossen.
Heile- Wiesbaden: Neue H eo b ach 1 n 11 g e n über die
Eilt Stellung und Hehandlung p o s t o p e r a ti v e r Darm-
s t ö r u n gen.
Heile macht auf hartnäckige Darmkalarrhe und Diarrhoe
aufmerksam, Avelche nach Darmoperationen auftraten. Er ist auf
Grund seiner Versucdie und Beohachtungen zu der Anschauung
gedangt, daß diese Patienten zu viel' Alkali ausscheiden. Durch
diese Alkaliarmut Avird der dtarminhalt nicht genügend neutrali¬
siert. Der nicht neutralisierte Darminhalt reizt zu Diarrhöen.
Schließlich kommt es zu vergiftungsähnlichen Zuständen. Man
muß bei am Darm oder Magen zu Operierenden nach früheren
Diarrhöen fahnden und nötigenfalls schon prophylaktisch Alkaliim
zuführen. Auch A\"enn die Zustände eingetreten sind, müssen sie
diindi Alkalien bekämiift Averden. Eventuell ist es erforderlich,
Lösungen von NallCO^ in die Venen einzuspritzen. Die erwähnten
Darmstöiungen kündigen sich durch das Auftreten von Azet-
essigsäure im Urin an. Tritt Heilung' ein, so verscliAvindet die
Azetessigsäure Avieder.
P a y r - G raz : E x p e r i in e n 1 e 1 1 e Unters u c h u n g e n
über Magenveränderungeil als Folge von Thrombose
und Embolie im Pf o r t ad e r g e b i e t.
SoAvohl durch Vereisung des Netzes mit dem Chloräthyl¬
strahl als auch durch hoho Temperaturen gelingt es, Venenthrom-
bosc zu erzeugen und Averden die gebildeten Pröpfe leicht t^e-
lockert und lehciAvärts verscliAvemmt. Als Folge finden sich in
einem Teile der Fälle Magenveränderungen.
Eine andere \'ersuchsanortlnUng besteht darin, daß in die
\Mnen des Netzes mittels feiner Kanide korpuskuläre Elemente
in Emidsion (Tusidie, Dermatol) oder fettige Substanzen (Oel,
\ aseline, Paraffin) oder endlich Gelatine eingespritzt Averden.
Diesellien gelangen auf dem Wege der retrograden Embolie in
die submukösen und präkapillaren MageiiAxmen, verstopfen
diese und erzeugen dadurch Blutung, hämorrhagische Infarzierung,
Erosionen und GescliAvüre.
Auch durch fortgcleitete Veiienthronibose entstellen älmiiche
Veränderungen. Hei embolischer Genese sind die zu beobachten¬
den Magenveränderungen meist mulli])cl.
Hei Kindern Averden dieselben fast nie beoliachtet; hiefür
sind eigentümliidie K 1 ap pe 11 b i 1 d u n ge n in den Magenvenen,
die nur dem kindlicben Alter zukominen, Amrantworilich zu imachen.
Endlich berichtet der Vorlragende noch über mehrere ein¬
fache Exjieriniente an den Älesenterialvenen, um das Wesen
der sogenannten retrograden Embolie im Pfortader-
kroislaufe zu studieren. Es gelingt durch Verlegung einer
größeren Gekrösveno unmittelbar nach Vereinigung zAveier Aeste
durch Füllung des Gefäßes mit gefärliter Flüssigkeit, den Vorgang
derselben direkt der Heobachtung zugänglich zu machen (Ver¬
schleppung künstlicher Emholic in periphere Darmvenen).
Die so geAvonnenen Ergebnisse lassen sich auch auf Netz-
und Magenvenen übertragen.
Der Vortragende erläutert seine Ausführungen durch Demon¬
strationen von Präparaten, soAvie makroskopischen und mikro¬
skopischen Bildern der Vorgefundenen Magenveränderungen (Ab¬
bildungen zabli'eicher embolischer Magenidzera). (Selbstbericht.)
Deutsch 1 än der: V e r r e nk u n g s b r ü c h e des Os na-
V i c Li 1 a r e pedis und deren F 0 1 g e n.
De u ts c h I ä n d e r glaubt, daß diese Fiaktnr häufiger vor¬
kommt, als man bisher angenommen hat. Er hat selbst fünf Fälle
beobachtet. Hei allen handelt es sich um geringfügige Traumen,
welche die Fraktur hervorgerufen haben. Klinisch stellt sich
die Erkrankung nur als eine Distorsio pedis dar. Die Diagnose
Fraktur kann erst tlurch das Höntgenbild gestellt werden. Die
Entstehung d(‘r Fraktur ist leine indirekte. Die Brüche des Os
naviculare haben eine praktische Bedeutung. Es entwickelt sich
häufig eine, schwer deformierende lEiitzündung des Chopart-
schen Gelenkes nach diesen Frakturen. Für die Nachl)ehandlung
em])fiehlt er unter Umständen auch operativm Eingriffe: Talus-
exstirpali’on oder Resektion. Er hat damit befriedigende Erfolge
erzielt. Die Patienten sind schmerzfrei geworden tmd konnten
den Fußi Avieder •gehrauchen.
S e ni e 1 e d e r - Wien d emonstriert einen Schub zur H e-
handlung des Plattfußes.
Durch Ahbildungen Avird die Wirkung dieses Schuhs er¬
läutert; es handelt sicdi dabei um HebelAvirkungen. Das Avichtigste
Prinzip des Schuhs ist ein federnder Absatz. Semeleder hat
durch die Hehandlung mit diesem Schuh seihst in sehr sclnveren
Fällen \mn Plattfuß noch gute Erfolge erzielt.
S ch 1 o f fe r - Innsbruck : Allmähliches Entstehen
einer zentralen 11 ü f t g c 1 e 11 k is 1 u x a t i o n.
Sch hoffe r herichlet über einen Fall, in dem eine Hecken-
fraktur, welche auch die l^faune getroffen hatte, aufgetreten war.
Ohne daß eine Dislokation der Fragmente Vorgelegen hätte, Avar
allmählich der Kopf ties Femurs durch die Fraktur in die Hecken-
höhlo eingedrungen. Schl offer ist der Meinung, daß die vom
Hecken zum Oherschenkel ziehenden Muskeln allmählich den
Schenkelkopf durch den Bruchspalt in die Beckenhöhle hinein¬
gepreßt hal)en.
K ü ste r- Marbuj'g protestiert dagegen, daß man in diesem
Falle von einer Luxati(m spricht. Es hat sich um eine Hecken-
fraktur gehandelt, mit sekundärer Dislokation des Schenkelkopfes.
Sc hl off er gibt das zu, betont aber, daß bei der von
ihm goAvählten Bezeichnung dem allgemeinen klinischen Sprach-
gebrauche gefolgt sei.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitas: den 10. Mai 1907, 7 Ulir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Professor Dr. Leopold Königsteiu
stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Diskussion zum Vortrage des Herrn Primarius Doz. Dr. Laizko :
Die chirurgische Therapie des Puerperalprozesses. (Zum Worte gemeldet:
Primarius Dr. Fabriciiis und Priv.-Doz. Dr. Halban.)
2. Professor Dr. M. Benedikt: Physiologie und Pathologie der
Zirkulation.
Bergmeister, Paltauf.
Ophthalmolo gische Gesellschaft in Wien.
Programm zu der am MittATOch den 15. Mai 1907, 7 Uhr abends
im Hörsaal der Klinik Fuchs staltfindenden Sitzung.
1. V. Hanke: Ueber einige seltenere Infektionen des Auges.
2. V. lleiiß : Ueber eine optische Täuschung.
Nach der Sitzung gesellige Zusammenkunft im Riedhof.
V«rtntworUich«r Radakttor: Adalbert Karl Tmpp. Yarlag ron Wilhelm Branmfiller in Wien.
Drnok ron Bruno Bartelt, Wien XVIII., Theresieneasse 8.
rr ^
Die
„Wiener klinische
Wochenschrifl**
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an dieVerlags-
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^ . — ^
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof, Dr. Alexander Fraenkel.
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Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokeuburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
XX. Jahrgang. Wien, 16. Mai 1907. Nr. 20.
INH
1. Origiiialartibel; 1. Erkältung. Von Prof. Dr. K. Chodounsky
in Prag.
2. Aus der Prosektur der mährischen Landeskrankenanstalt in
Brünn. (Vorstand: Prosektor Priv.-Doz. Dr. Carl Sternberg.)
Zur Kenntnis des myeloiden Chloroms. Von Dr. Karl Meixner,
Assistenten.
• 3. lieber die Frühdiagnose des Magenkarzinoms. Von Dr. Ludwig
V. Äldor, Karlsbad.
4. Ueber den Einfluß der Sänglingsernährnng auf die körperliche
Rüstigkeit der Erwachsenen nebst Bemerkungen über Still¬
dauer. Von Dr. Josef K. Fried jung.
Erkältung.
Von Prof. Dr. K. Chodounsky in Prag.
Meine letzte Publikal.ion über Erkältung^) liai, in der
Presse manche Einwendungen hervorgerufen, welche mir
Anlaß gehen, nochmals in allgemeinen Zügen auf diese
wichtige Frage znriickziikommen.
Unter Erkältung versteht man allgemein den krank¬
machenden Einfluß irgendeiner Kältewirkimg, aber schon
die Deutung des Vorganges ist divergent und hypothetisch
und die Ansichten über die aiislösenden k'äktoren einander
widersprechend. Bezüglich der letzteren werden alle Ah-
stufungen, was Dauer und Intensität von Kältereizon be¬
trifft, angenommen und wieder von einzelnen Autoren ver¬
worfen, je nachdem sie zu der jeweiligen Auffassung paßten
oder nicht.
Zu den Vertretern der Ansicht, daß schon die schwäch¬
sten thermischen Reize eine. Erkältung bedingen können,
gehört Rnbner,^) der ans seiner Arbeit folgert: „Die ge¬
ringfügigste Luftströmung (Temperatur hei Menschenver¬
suchen nicht angegeben), für unsere Instrnmeinle nnmeß-
har und für die Haut nicht wahrnehmhar, wird wirksam.
Was man Zug nennt, sind immer schon gröbere Lyfthewc-
giingen; nach meinen Ergehnissen kann man, also von einem
,Zng‘ getroffen werden, den wir nicht ahnen und dem wir
nicht answeichen können, weil wir ihn nicht sofort, son¬
dern erst an den Folgen und vielfach za spät erkennen.* *
Riihner erklärt die scliädigende Wirkung insensibler
Luftströmungen, daß diese unter der Reizschwelle des regu-
1) Erkältung und ErkälUmgskrankheiten. Wien 1907, J. Safdf.
*) Ueber insensible Luftströmungen. Archiv für Hyg., Bd. 50.
ALT:
5, Die geschichtliche Entwicklung der Lehre vom Basalzellen¬
krebs. Von Dr. Hermann Coenen, Assistenten der königl.
chirurgischen Universitäts Klinik in Berlin.
II. Referat; Der Arzt. Von Ernst Schweninger. Besprochen
von Alex. Fraenkel.
III. Sammelreferat: Entwicklung und Ergebnisse der Lumbal¬
anästhesie. Sammelreferat von Dr. E. Venus, Assistenten der
chirurgischen Abteilung der Wiener Poliklinik.
IV. Aus verschiedenen Zeitschriften.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften nndKongreßberichte«
latorisclien Apparates liegen, wodurch solche Stellen, die
der bewegten Luft ausgesetzt waren, nicht genügend mit
Rillt versehen werden, ,,was natürlich mit Leichtigkeit hätte
geschehen müssen, wenn die Reize richtig emptundeii und
vorn Körper verarbeitet worden wären“.
Das Angeführte involviert zwei Bohaiiptimgen von prin¬
zipieller Redeutung n. zw. erstens, daß thermische Reize
nur dann verarbeitet werden, wenn uns diese bewußt
werden, und zweitens, daß selbst solche unempfundene'
Reize pathogen werden können (denn kommen dieselben
nach einer Wirkungsdauer znm Bewußtsein, dann ist schon
nach Ruhner die Erkältung geschehen).
Demgegenüber stehen bis heute unwiderlcgie physio¬
logische Lehren, ,,daß eine jede Aenderung der Aiißien-
temperatur eine bewußte oder unbowußite Reizung er¬
zeugt und daß das Wäfnicgleichgewicht dnrcli eine kon¬
stante, automatische, imhewußfe Regulation nnterhalten
wird“ (Richet^). Und ,,das Optimum der Anßentempciratur
erzeugt weder Kälte- noch Wärmcempfindiing, aliei auch
dann ruht die Regulation, sfnnktion nicht, sondern regelt die
11 i c h tp e r z i p i e r t e n W ärrneschwankungen (Ti a ii 1 a n i 6 ).
Und die Bebaiiptimg Rnbners, daß selbst nicht empfundene
thermische Reize krankinachend sein könnten, ist eine An¬
nahme, für welche gar keine Stüteen vorliogen.*)
») Diet, de la physiol., Bd. 3, Paris 1899.
h Traitö de phys. biolog., Paris 1901. „ j i.
*) Die Kritik meiner Publikation in der »Hyg. Rundschau« aus
dem Berliner hyg. Institut von K. K iß kalt wirft mir mangelhafte
Kenntnisse über Wärmeregulation vor, obzwar da ausdrücklich bemerkt
ist, daß nur das notwendige kurz hervorgehoben werden soll. Auch
zitiere ich nebst R i ch e t und Laulan iö auf den weiteren acht Seiten
noch andere Namen, aber zur Widerlegung der obigen Ansicht Rubners
reichen schon Rieh et und Lau 1 an i 4 allein aus.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
jyu
lliid Ru 1)11 er solbsi liat ja auch weder hei diesen,
iiocli anderen zahlreichen Versuchen ini(. Källereizen nie¬
mals schädliche Folgen heohachten können und sagt an
einer anderen Stelle;^) ,,Die Ertragharkeit hoher und
niederer Teinperaturen umfaßt hier volle, 38'^ für dieselbe
Bekleidungsweise. Allerdings sind die erregten Emyiindun-
gen nicht immer behagliche, aber sie wurden von uns allen
ohne jeglichen Schaden ertragen . Eine Erkältung ist
niemals trotz dieser niedrigen Temperaturen eingetrclen.“
Den Kampf gegen Ahkiihliing kann der Organisnius wirklich
l)is zu weiten Grenzen mit Erfolg führen, ein Tier kann^
sich spontan und folgenlos erholen, wenn demselben die
Reklaltemperatur bis auf 2F’ bis 30'* (je nach der Tierarl)
erniedrigt worden ist, obgleich seine Wärmeregulation weit
unvollkommener ist als die des Menschen, dessen Wärme¬
gleichgewicht durch Kältereize imherührt bleibt, welche
heim Tiere einen Fall von lO'* und mehr verursachen.
Aber auch durch stattgefundene Störung des Wärme¬
gleichgewichtes bis zu bestimmten Grenzen, welche durch
eintretendc zentrale Paralysen scharf gezogen sind, wird
die spontane und folgenlose Wiederherstellung des Tieres
nicht beeinträchtigt, was erst unter dieser kritischen Tem¬
peratur grenze geschieht und von welchem Moment an
der Erfrierungsvorgang beginnt.
Auch heiin Menschen manifestiert sich der Beginn der
Erfrierungsphase mit Depressionserscheinungen (unbezwing¬
barer Schlaf, Paralysen) fortschreitend zum Erlöschen aller
Reaktivität..
Auf die Frage, in welcher Weise Kälte die Tiere tötet,
welche lebenswichtigen Funktionen durch sie betroffen
werden, und in welcher Reihenfolge, gibt Giesc'’’) folgende
Antwort :
,,Nach Al)kühlung auf 32*^ bis 30*^ wurde nur eine unbe¬
deutende Blutdrucksenkimg beobachtet, von da ah erfolgte
dieselbe allmählich, aber konstant, gleichzeitig mit Pulsver¬
langsamung bis zum Tode. Nach Abkühlung unter 32'* nimmt
die Reaktion auf Aphyxie graduell ah, auf sensible Reizung
verschwindet sie ausnahmslos bei 26*’; periphere Vaso¬
motoren verlieren die Erregbarkeit unter 29'*, die Respira¬
tion wird bei 28'* oberflächlich und verlangsamt, hei 19**
steht die Atmung still.
Die Motilität zeigt hei 28** bis 26** ausgesprochene
Störung, die Sensibilität bei 25** für Berührung erloschen.
ln p athobogis ch-anatomis eher Hinsicht
wurden hei Kältetieren mikroskopisch keine be¬
merkenswerten, bzw. bestimmt definierbaren
pathologischen V eränderun gen wahr genomm cn.
D e r T o d d u r c h E r f r i e r u n g t r i 1 1 e i n d u r c h L ä h m u n g
des Zentralnervensystems.“
Die Ahkühlungsphasc muß man also yon der
Erfrierungsphase auseinander halten und es
'■■■ •' ‘1 Vorgänge, welche letztere begleiten, für die Erkäl-
tun^oii. je nicht verwertet werden. Das Arrangement und
die Ergebnisse der Mehrzahl von Versuchen zum Zwecke des
Studiums des Erkältungsvorganges (wie die von Reine-
both, Lassar, Nebelthau, Affanazjew u. a.) sind
analog dem Arrangement und den Ergebnissen der Erfrie¬
rungsversuche (Nikolski, Wertheimer, Giese) und
könnten als Beitrag zu letzteren angesehen werden. Gar
nichts Gemeinschaftliches mit dem Erkältungsvorgang im
klinischen Simie haben Versuche an Tieren, bei denen man
die Abkühlung durch Injektion von antii)yretischen Mitteln,
durch Aether, Marke! urchschneidung erzielte, und kaum zu
verwerten sind die \'ersuche an Tieren, die ihres Jiatürlichen
Schutzes durch Rasieren oder ,, sorgfältiges“ Ausrupfen be-
raubt wurden und obendrein vor der Abkühlung längere
Zeit im Thermostaten gehalten wurden. Es ist ja zweifellos,
daß Tiere, deren Vitalität in irgend weicher Weise gröber
gestört worden ist, einer Infektion leichter unterliegen, als
9 Die Gesetze der Eiiergieverbr. Leipzig und Wien 1902, !S. 204.
®) Experim. Untersuchungen über die Erfrierungen. Vieiteljahrschrift
für gerichti. Med. Berlin 1901.
normale Konlrolltiere, aber für die Deutung eines Erkältungs¬
vorganges sind solche Versuche ganz belanglos.
*
Die verschiedenen Theorien über das Wesen der Er¬
kältung darf ich in diesem kurzen Abriß übergeheji und
will nur die Frage erörtern, wie man sich die Wirkungs¬
weise von thermischen Reizen als direkte oder indirekte
Krankheitsursache dachte.
Es werden als Ursache einer direkten Wirkung ange¬
führt: Störung des Wärmogleichgewichtes, lokale Einwir¬
kung von Källereizen auf bestimmte Stellen der Körperober¬
fläche und Auslösung von Veränderungen ,a,uf reflektori¬
schem AVege.
Störungen des Wärmegleichgewichtes können für den
Menschen rundweg ausgeschlossen werden, nachdem solche,
wie experimentell nachgewiesen wurde, durch die angenom¬
menen, auch intensiven und hinlänglich dauernden Erkäl¬
tungsfaktoren nicht zustande kommeti.
Die lokale Kälte Wirkung hetrachtet man als Ursache
von peripheren Erkältungsneuriliden und Paralysen und
lokale Ahkühlung durch Einatmuugsluft als Ursache von
akuten Affektionen des respiralorischen Apparates. Tier¬
versuche bieten hiefür keine Stütze. Bezüglich der lokalen
Einwirkung von Kälte auf" die Funktion von peripheren
Nerven wurde gefunden, daß man durch Abkühlung der
Haut dieselbe progressiv abschwächen kann bis zu ihrem
Erlöschen, aber daß dieselbe nach Beseitigung des Kält.e-
reizes ganz und prompt wieder erscheint. Und Versuche an
Kaninchen, welchen Heiden ha in') durch eine Kanüle
eisige Luft oder alternativ eisige und heiße luift hat einatmen
lassen, blieben negativ und alle Tiere zeigten ])ei der Sek¬
tion ausnahmslos die Brouchialschleimhaut, sowie das
Lungengewehe intakt.
Ebenso blieben meine Selbstversucho negativ und
über die Divergenz der ätiologischen Ansichten betreffs der
genannten Krankheiten verweise ich auf meine Publikation.
Eine viel wesentlichere Rolle spielt hei der Auffassung
des Erkältungsvorganges die - Deutung der reflektori¬
schen Hyperämie. Ich muß es mir versagen, in theore¬
tische Erwägungen einzugehen und liehe nur folgendes
hervor :
Hyperämien von längerer Dauer (wie sie z. B. nach
Durchtrennung von vasomotorischen Nerven zustande
kommen) sind nach Erkältungstrauma imdenkhar und ein
Wechsel von einer mehr oder weniger dauernden Hyper¬
ämie und Anämie in den verschiedensten Gefäßbezirken
findet stets auch in normalem Zustande statt. Die Blutzirku¬
lation in erweiterten Bahnen, eine bloße Hyperämie oder
Stase können unmöglich einen pathologischen Prozeß hervor-
rufen, denn norm ales Blut kann keine pathologischen Ver¬
änderungen des Endothels veranlassen, es ist ja kein patho¬
logischer Reiz-, .la Bier benützt sowohl aktive als passive
Hyperämie zu therapeutischen Zwecken mit überraschendem
Erfolg und man muß demnach die reaktive Flyperämie als
eine Schutzvorrichlung des Organismus hetracliten.
Eine Reihe von Autoren (8 trass er, Roßbach und
Aschonbrandt, dvolinstamm u. a.) nehmen an, daß eine
reflektorische Hyperämie nach Abkühlung insbesondere zu
Katarrhen und Entzündungen führen kann, olme Intervention
von Mikroorganismen. Die Ansicht basiert auf Versuchen
(Schüler,^) Roßbach und A s che nh ran dt**), in denen
nach Kältereizen reflektorisciie Erscheinungen als Hyper¬
ämie, vermehrte Sekretion der Schleimhäute erzielt wurden.
Aber pathologische Veränderungen sind weder in den ge¬
nannten, noch anderen Versuchen zustande gebracht worden,
auch dann nicht, wenn man die Tiere unter die kritische
Temperatur abgekühlt hat (Nebelthau, Giese, Zil-
lesen,-***) Mas salon go**). Auch sprechen gegen die
9 Virchows Archiv Bd. 70.
®) Zit. Winternitz, Hydroth.
9 Monatsschrift für Ohrenheilkunde, Bd. 15.
*“) Ueber Erkältungen. Marburg 1899.
I “) Archiv de phys. 1855.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WÖCäENSCHRIF't. 1907.
591
obige Amiahine alle die Masseiiyersuclie aii Kranken, bei
denen inan nacli den intensiYSten und dauernden Kälteappli¬
kationen auf die verscliiedensten Kori)eiTegionen ausnalnns-
los niemals Katarrhe und Entzündimgen innerer Organe er¬
zeugt hatte.
Prof. Win ter nitz sagt hei seiner ohjektiven Be¬
sprechung meines Buches (obgleich er in der Frage mein
(legner ist), daß nicht so leicht für reflektorische Hyperämie
als für reflektorische Anämie die Genese mancher
Erkältungskrankheiten zu erweisen ist. Diese Ansicht he-
gründet Winter nitz in einer anderen Arbeit mit den
Worten : ,,Eine lange dauernde Gefäßkonlraktion, die die
Wechselwirkung von Blut und Gefäßwand hemmt, könnte
zur Alteration der Gefäßwand fülmen. Also wäre es' möglich,
daß in dieser Weise ein Schnupfen entstehen könnte, wenn
die Nasenschleimhaut durch thermisch bewirkte Gefäßr
enge anämisch, die Sekretion spärlich oder ganz versiegt ist.“
Er führt weiter aus, daß durch die verminderte Zufuhr des
alkalischen Blutes das Sekret qualitativ und quantitativ ver¬
ändert werden kann, die quantitative Veränderung bedeute
den trockenen Stockschnupfen, die qualitative (saure Be-
aktion) fülne zum infektiösen Schnupfen.
Gegen diese Anschauung muß ich anführen, daß nach
Kältereizen keine dauernden reflektorischen Hyperämien
folgen und daß bei eipfachen Hyperämien ein nonnales
Blut die Gefäßwand nicht schädigen kann. Quantitativ kann
die Sekretion der Schleimhaut verändert werden, aher mit
dem Aufliören des Kältereizes hört die Hypersekretion wieder
auf. Ob eine qualitative Aendernng des Schleimhautsekretes
nach Kältereizen, insbesondere saure Reaktion des Nasen-
schleimhautselcrets eintreten kann, ist meines Wissens experi¬
mentell nicht erwiesen, während anderseitis daran bei schon
erfolgtem Schnupfen nicht zu zweifeln ist.
Noch allgemeiner als an der direkten Wirkung einer
reflektorischen Hyperämie, wird an der Lehre festgehaltcn,
daß diesel be eine Disposition zu I n f e k t i o n s k r a n k-
heilen schaffen kann.
Die Versuche, welche dies dartun sollen, basieren auf
der Voraussetzung, daß eine regionäre Hyperämie von blei¬
bendem Charakter (was freilich hei Erkältung nicht vor¬
kommt) das betreffende (iewebe schädige, wodurch dieses
gegen Invasion von Mikroorganismen weniger widerstands¬
fähig wird. Leider widersprechen die angestellten Versuchs¬
anordnungen jeder Analogie mit dem Erkältungs Vorgang.
Liparis Versuche bedeuten einen brutalen Eingriff in die
Vitalität der Tiere, wodurch schon eine gesteigerte Dis¬
position erklärt ist und dasselbe gilt von Fi lehn es Ver¬
suchen mit Erysipelkokken. Versuche von Becker, Krause
und anderen mit intravenöser Injektion virulenter Kulturen
nach Quetschung und subkutanen Knochen frakturen sind
auch unbegreiflicherweise als Beilrag zur Bedeutung der
reflektorischen Hyperämie nach Kältereizen herangezogen
worden und ebensowenig können die Versuche von Kiß-
kalt u. a. verwertet werden, der die Hyperämie durch
Durchtrennung des Nervus ischia,dicus erzielte.
*
Bei brüsken und dauernden Abkühlungs-, resp. Er¬
frierungsversuchen wurden Sugillationen und Ekchy-
mosen an verschiedenen Organen vorgefunden, die man
als Folgewirkung von Kältereiz auf die Köii)eroherfläche er¬
klärt; ausgetretenes und abgestorbenes Blut könnte unter
Umständen pyrogen werden. Es ist aber eine Frage, ob
überhaupt Ekchymosen eine Folge von KälteAvirkung sind.
Heinz^'^) schreibt u. a. : „Ursache der Ekchymosen ist
nicht der hohe arterielle Druck, denn bei curarisierten Tieren
findet man beim Erstickungsversuch (wiewohl der arterielle
Druck sehr hoch ansteigt) derartige Ekchymosen nicht. Es
ist also die heftige Zugwirkung der Brustwand hei den
krami)fhaften Inspirationen, die jene Gefäßzerreißungen zu¬
stande bringt.“
Bl. für klin. Hydrother., Bd. 17.
BI. für klin. Hydrother., Bd. 6.
Handbuch der exper. Pathol, und Pharm., Bd. 3, Jena 1906.
Reineboth,^^) der den Entstehungsmodus von Su¬
gillationen nach Abkühlung bespricht, lAcmerkt, daß die
morphinisierten Tiere ,,beim Eintauchen imd während des
eiskalten Bades keine Ahwehrhewegungen rnacliten und sicli
wie leblose Körper verhielteu“ und es fanden sich bei ihrer
Sektion auch keine Sugillationen vor oder nur in Aus¬
nahmsfällen.
Und wenn auch hei brüsken und äußerst intensiven
Kältereizen durch veranlaßte heftige Abwehr nnd infolge
von krampfhafter Respiration es zu Ekchymosierungen
kommen könnte, wird niemand behaupten wollen, daß ähn¬
liches nach den angenommenen Erkältnngsfaktoren erfolgen
könnte, zumal nach solchen, die z. B. Kißkalt anführt
(ein kalter Luftzug, der uns anfänglich gar nicht gcnieii,
die unmerkhar einwirkende Kälte eines feuchten Rasens,
kalte Füße nach längerem Stehenbleihen auf der Straße,
nach Haarschneiden an einem kühlen Tage).
*
Erkältung als direkte Krankheitsursache wurde von
einer großen Anzahl Forscher abgelehnt, aber dafür hat
man sie zur disponierenden Ursache voui Refrige¬
rationskrankheiten erhoben, Avomit alle vermeintlichen
Erkältungsfaktoren voll rehabilitiert wurden.
Der Kern der Theorie beruht auf der Annahme, daß
Erkältungseinflüsse den saprophytischen, latenten Mikro-
Ijismus virulent machen können, was experimentell nicht
erwiesen ist.
Meine Tierversuche mit Infektion durch abgeschAvächte
Kulturen und meine Selbstversuche sprechen gegen diese
Annahme und diese meine Resultate sind auch in vollem
Einklang mit Versuchsergebnissen über die Wirkung der
Abkühlung auf die natürlichen Abwehrvorrichtungen des
ürganismus.
Der supponierten Wirkung von Erkältungseinflüssen
widerspricht noch eine Reihe anderer Tatsachen. Es Avird
angenommen, daß eine Erkältungsursache die- Erkrankung
prompt und rasch auslöst und daß also die auf inneren
Schleimhäuten zufällig Amgetierenden Krankheitskeime
prompt und rasch virulent werden können. Wie schwer
und auf welch langen Wegen es gelingen kann, sehr ab¬
geschwächte oder sogar avirulente Keime virulent zu
machen, ist aus Versuchen vmii Pasteur, Ch arain und
Vincent zu ersehen. Und das sollte durch eine EiiiAvirkung
\mn irgendwelchem der bekannten Erkältungsfaktoren prompt
und rasch, ja auch unmittelbar nach ihrer Einwirkung zu¬
stande gebracht werden können? Das ist doch nach den
bisherigen Erfahrungen in dieser Hinsicht ganz undenkbar.
Aber die Erkältungs theorie steht so unerschütterlich
fest im Sinne der Aerzte, daß eine jede erklärende An¬
nahme willkommen aufgenommen Avird und so überAviegt
auch heute die Vorstellung Amn der ausnahmsvollen Wir-^
kung der Erkältung in dieser Hinsicht und es Avirtl gc ojirt,
daß die Morbidität der Refrigerationskrankheiten in erster
Linie durch den latenten, saprophytischen Mikrobismus .be¬
dingt wird und daß die direkte Infektion erst in zAveiter
Linie zur Berücksichtigung kommt. Und sichtet und ordnet
man eine ausreichende und verläßliche Statistik von allen
Gesichtspunkten, Avelche die Frage erfordert, dann ergibt
sich zweifellos, daß die Morbidität der Erkältungskrahkheiten
mit Infektions-, aber nicht mit Erkältungsgelegenheiten
parallel Amrläuft, Avas nicht stattfinden könnte, wenn die
obige Annahme wahr Aväre. Uehrigens leiden auch, Avie
schon erwähnt wurde, die natürlichen AhAvehrvor-
r ich tu Ilgen, soAveit diese mitersucht wurden, nicht.
Bezüglich der Blutzusammensetzung, insbesondere des
Hämoglobingehaltes, Leukozytose, Alkaleszenz, fand nian
selbst nach intensivsten Kältereizen keine in irgendeiner
Hinsicht helangreichercn Veränderungen, nur hei Erfrie¬
rungsversuchen einen sehr unkonstanten Befund Amn einem
Grade Hämoglobinämie, der sich durcliAveg in den mög¬
lichen Fehlergrenzen beAvegte.
**) Deutsches Archiv für klin. Med. Separatabdruck.
o92
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
Na gel Schmidt^®) untersuchte das Verhallen der
flämolysine nach Kälteapplikation, nach denen SOVo der
Tiere in den nächsten Stunden eingegangen sind und irolz-
dem waren seine Resultate schwankend und ,,eine erheb¬
liche Anzahl, wo keine Ahnahme der bakteriziden Eigeii-
schaft des Serums, zuweilen sogar eine Zunahme nachzu¬
weisen war“. Ganz negative Resultate bezüglich der Serum-
hakterizidität und der zellularen Abwehr halte Lotle.^^)
Störungen der W.ärmeökonomie können nicht, weil sie
nach Erkältungsformen nicht vorkonmien, als disponierend
für Infektion herangezogen werden und die Redeulung der
reflektorischen Hyperämie wurde bereits in den oberen
Zeilen erledigt.
*
Die Frage der ätiologischen Bedeutung der Erkältung
erfordert auch eine ßeleuchtung vom klinischen und stati¬
stischen Standpunkte, worauf ich in diesem kurzen Abrisse
nicht eingehen kann und mich beschränken muß, auf das
in meinem Ruche zusammengestellte Material hinzuweisen.
Es sind hier die betreffenden Beziehungen einzelner ,, Er¬
kältungskrankheiten“, sowie das Verhältnis der Witterung
zu ihrer Morbidität (S. 14 bis 37 und 43 bis 82) erwogen.
Es sei mir nur ein Wort über die geographische
Verteilung der Krankheiten erlaubt.
Bis zum heutigen Tage wird kaum daran gezweifelt,
daß ein rauheres Klima gesundheitsschädigender ist als ein
milderes und daß im ersteren mehr Erkältungsgelegenheiten
sind und deshalb mehr Erkältungskrankheiten auftreten.
Autoren, die sich mit geographischer Verteilung von Krank¬
heiten beschäftigen, zwingen sich, wie ich dargetan habe,
dieser Annahme sich anzupassen und finden hei wider¬
sprechenden Resultaten immer eine plausible Deutung. Das
hat mich sowohl zur Revision der Angaben als auch zur
Zusammenstellung einer eigenen, wie ich meine, vielleicht
hinreichenden Statistik bewogen (S. 82 bis 112). Das Re¬
sultat spricht einheitlich gegen die allgemein geltende Be¬
deutung des Klimaeinflusses.
Bezüglich meines Materiales dürften kaum Bemänge¬
lungen erhöhen werden, naendem es nur offiziellen Quellen
ontnommen ist und auch bezüglich der Quantität dürfte es
ausreichend sein, da z. B. nur für Oesterreich und Deutsch¬
land alle Krankheitsfälle von sämtlichen Krankenhäusern
und Krankenkassen von drei sich folgenden Jahren meinen
Berechnungen zugrunde liegen.
Berücksichtigt wurden: akuter Gelenksrheumatismus,
akuter und chronischer Bronchialkatanh, Pneumonie, Pleu¬
ritis, Angina und Rachenenizündung. Die Einteilung der
klimatischen Bezirke in Oesterreich und .Deutschland ist
der betreffenden Fachliteratur entnommen.
Ueher diese stalistischen Ergebnisse äußert sich
K iß kalt in seiner Kritik: ,,Die Resultate geben gegenüJjer
schon oft zitierten und wiilerlegten Angaben nichts Neues
. unmöglich ist deshalh, aus dieser Statistik Schlüsse
zu. ziehen, weil die darin angeführten Krankheiten auch
ohne Erkältung, einfach durch Ansteckung zustande kommen
können.“
Mir ist absolut unbekannt, daß eine ähnliche Zusam¬
menstellung oft publiziert gewesen wäre und weiß nur aus
einem Referate von Sanders (Atner. Journ. of Med. 1882),
welcher nachwies, daß die Pneumoniemorbidität mit der
zLinelmienden Durchsclmittswärme bis zum Aeciualor parallel
gehl. Ich stehe im Gegenteil mit meiner Zahleiizusammen-
steltung und lolgerung ziemlich vereinsamt in der Eitcratur
und es konnte eine analoge Statistik daher „weder oft
zitiert, noch widerlegt werden“.
Und Schlüsse sind aus dieser Statistik eben deshalh
zu ziehen, weil es notorische Infektionskrankheiten sind,
hei denen es sich um Belege handelt, daß sie nicht weiter
zu l'..rkällungskrankheileji gerechnet werden, weil ihre Mor¬
bidität eben als von Erkältung unabhängig dargetan wird.
'®) Beiträge zur klin. Med. 1904.
Archiv für Hyg. 1897.
Uehrigens mache ich aus meiner Statistik nicht den
Schluß, daß sie die, Unhaltbarkeit der Erkältungsannahme
beweise, sondern nur, daß im rauhen Klima nicht mehr,
sondern durchgehends merklich weniger ,, Erkältungskrank¬
heiten“ auftreten und daß deshalb die Lohre vom gegen¬
teiligen Einflüsse des Klimas kaum richtig ist.
Freilich ist das besagte Ergebnis auch ein Argument,
welches hei einer allseitigen Beurteilung unserer Fra, ge mit
in die Wage fällt und seine Bedeutung, Im Zusammenhänge
mit den übrigen Beweisführungen erlangt..
♦
Um zur Lösung der Frage weiter beizutragen, habe
ich sowohl Tier- als auch Selbstversuche ausgeführt.
Vor allem sollte die 4 rage heantwortet worden, ob
Abkühlung des Tieres vor oder nacli einer Infektion einen
Einfluß auf den Verlauf und Ausgang der verursachten Er¬
krankung hat.
Es wurde eine gleiche Anzahl (100) von abgekühlten
und Kontrolltieren verglichen, welche mit Pneumokokkus
F. W., Bazillus Friedländer, Cholera de poule, Bacillus an-
thracis, Cladothrix art., Asperg. niger, Bacillus pyocyaneus
und Bazillus diphtheriae infiziert, das folgende Resultat er¬
gaben: 1. Von ahgekühlten erlagen der Infektion 58-8)^/o,
von Kontrolltieren 62-7 Vo; 2. der Krankheitsverlauf war bei
beiden ziendich gleich, ln sechs Versuchsreihen überlebten
abgekühlte die Kontrolltiero,'in zwei erlagen die abgekühlten
früher; 3. die Sektion hatte bezüglich der Intensität der
ürga,nveränderungen keine Unterschiede aufgewiesen; 4. es
war gleichgültig, ob die Infektion unmittelbar yor oder bis
zehn Stunden nach der Ahkühlung erfolgte.
Zweitens sollte untersucht werden, ob Abkühlung eine
Steigerung der Virulenz bei Infektion mit ab geschwäch¬
ten Kulturen verursachen ka,nn. Die Abschwächung der
Kulturen von Bazillus hriedländer, Bacillus diphtheriae, Ba¬
cillus diphtheriae mit Streptokokken und Pneumokokkus
F. W. gc'schali durch Erwärmen auf einen bestimmten Grad
und von einer hestipimten Dauer und die Abkühlung der
Tiere (B Hunde [per tracheam], 18 Ratten [subkutan],
16 Meerschweinchen [subkulaji], 11 Kaninchen [intravenös])
durch eiskalte Bäder, nach welchen sie abgetrocknet und
bei Zimmertemperatur gehalten wurden. Der Temperatur¬
verlust war nach der Tierart verschieden und erreichte
biis 10-5L
Sämtliche Versuchsreihen ergaben, daß die Virulenz
durch Ahkühlung nicht erhöht wird.
Obgleich ich auf geringere Differenzen betreffs des
Verlaufes und Ausganges der verursachten lufektionskrank-
heit kein besonderes Gewicht lege, bemerke ich doch, daß
die abgekühlten in überwiegender Anzahl die Kontrolltiere
überlebten und daß auch die Mortalität der ersteren eine
kleinere war [im ganzen erlagen 38-8 Vo der ahgekühlten
gegen 62-ö^yo der Kontrolltiere).
Ganz recht gebe ich Kißkalt und anderen, daß
Tierversuche alleip in dieser Frage namentlich, nicht ent¬
scheiden können, a,her auch solche tragen zu ihrer Beurtei¬
lung bei; aber es gibt viele, auch Kißkalt nahestehende
forscher, welche die Realität der Erkältung auf Tierver¬
suchen allein zu fundieren suchten.
Das kann aber nach meiner Ansicht mit sicherem Er¬
folge durch systematische Mens clienyer suche ge¬
schehen, bei denen die Versuchsanordnung Mlen Anfor¬
derungen entsprechen würde, die zur Auslösung des Er¬
kältungsvorganges als hinreichend angenommen werden und
die Reihe derselben habe ich begonnen.
Ich hoffe, daß es leicht sein wird, für Versuche mit
den geringfügigsten Kältereizen Menschenmaterial zu ge¬
winnen, um auch jener Anschauung genug zu tun, welche
gerade diese als gesundheitsschädigend betrachtet. Für
meine Person sah ich davon ab, seitdem ich seit meinen
ersten Versuchen vor sieben Jahren von aller Erkältungs-
furclit frei geworden bin und mich mit meiner f amilie nebst
einigen Freunden von Tag zu Tag allen den geringen und
auch intensiveren Erkältungsfaktoren folgenlos preisgebe.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCIIENSCHRIET. 1907.
59; I
Für midi erülirigten Fersnchsbodiiiguiigen, welche die
Forderungen jener erledigen sollten, welche iiilensive,
dauernde Kältewirkungen auf die gesamte. Körperoherfläche
oder auf mnschrieheiie Regionen als krankheitseiTegend be¬
trachten. Bezüglich des Details muß ich auf mein Buch
verweisen und erwähne hier nur summarisch folgendes :
In 27 Selhstversuchen habe ich mich Kälteeiuflüssen
ausgeselzt, welche von der üherwiegenden Anzahl von For¬
schern und Aerzten als sicher direkt oder indirekt schädi¬
gend erklärt wurden. Nach eiskalten und heißen (44*^) Bädern
hlieh ich nackt und naß im schärfsten Luftzuge der Winter-
temiieraturen im Durchschnitte eine Stunde lang am kalten
Steinpflaster stellen oder nachdem, ich den Körper durch
Laufen in Schweiß gebracht habe oder nachdem ich den
eisigen Luftzug auf den nur mit vom Wasser (5*’) triefenden
Wollhemd bedeckten Körper blasen ließ und im nassen
Hemde angekleidet zur Winterszeit ins in die Nacht meinen
Pflichten nachgiug. Ich habe Fazialis, Ischiadikiis, Nieren,
Herz, Nacken und Oberarmregion denselben schärfsten Kälte¬
einwirkungen durch eine Stunde lang ausgesetzt, auch nach¬
dem ich diese durch Danipfeinwirkung vorher erhitzt hatte.
Alle diese Versuche wurden, wie zu erwarten war,
‘abgelehnt, es wurde Individualität und Ahhärtung ins Feld
geführt und vor der Wiederholung der Versuche gewarnt.
Von anderer Seite (Ruhe mann) wurde bedeutet, daß
meine Schleimhäute zu den Versuchszeiten von kultur¬
fähigen, pathogenen Erkältungserregern sicher frei waren
und daß ich demnach gegen das Erkältungstrauma immun
gehliehen sei.
Mit neuen Versuchen konnte ich nur auf die letzte Ein¬
wendung antworten und bin zu solchen geschritten. Un-
miifclhar vor ihrem Beginne und während ihrer Ausfüh¬
rung wurden aus meinem Sputum (chronischer Bronchial¬
katarrh) und aus meiner Mandelschleimhaut von Professor
J. Ho ul folgende Kulturen gezüchtet: Pyozyaneus, Eluores-
zeiiz, Streptokokkus, Staphylococcus aureus und albus,
Sarcina lutea, B. albus, Microc. albus und Saccharom. albus.
Also waren meine Schleimhäute mit patho¬
genen u n tl k u 1 1 u r f ä h i g e 11 Bakterien h e s c h i c k t
u n d d i e V e r s u c h e, wie die E 0 r d e r u n g lautet e, z u r
Zeit der Akme des internen Mi kr oh i sinus im Fe¬
bruar und März ausgeführt.
Die Versuchsanordnung war: Bäder von diirch-
stdmittlich fünf Minuten Dauer im Wasser von 2‘\ 5'\ 9°,
40*^, 40*^, und 41®; umnittelhar nach dem Bade ließ ich auf
den nackten und nassen Körper den schärfsten Luftzug
einwirken von Temperaturen von 0®, 0-5®, 1®, 4-5‘’ und 10” C.
Versuchsdauer 54, 38, 50, 40, 38 und 38 Minuten.
Das Resultat blieb durchaus negativ, mein Wohl-
hefindeu blieb vollständig ungestört.
K iß kalt spricht auch diesen meinen Versuchen, weil
sie negativ blieben, alle Bedeutung ah, ,, nachdem dense! lien
positive Erfahrungen gegenüberstehen von hervorragen¬
den xVerzten, an deren,, Selhstheobachtungen nicht zu zwei¬
feln ist“. Das ist jedenfalls eine sonderbare Argumentation;
es handelt sich doch bei der ganzen Frage darum, oh gerade
diese klinischen und praktischen Erfahrungen nicht auf
Täuschungen beruhen, was eben nur Llurch systematische
Menschenversuche erwiesen werden kann, nach deren
positiven oder negativen Itrgebnissen. Und weiter ist es
ja ein Prärogativ wissenschaftlichei' Forschung, an Lehren
seihst der eminentesten Autoritäten zweifeln zu dürfen.
Z u s a m m e n f a s s u n g.
Die Frage, ob Erkältung eine Disposition zu Infek¬
tionskrankheiten schaffen kann u. zw. in erster Linie da¬
durch, daß sie den latenten Mikroliismus zum Lelien anzu¬
fachen imstande wäre, muß ich nach meinen Studieiiergeh-
nissen verneinend beantworten.
Die Auslösung einer Erkältungskrankheit nach einem
Erkältungstrauma geschieht nach der allgemein geltenden
Annahme prompt, was eine rasch zu erlangende \ iruleuz
des latenten Mikrobismus voraussetzen würde; diese Mög¬
lichkeit ist nach dem hisherigen wissenschaftliohen Ergeb¬
nisse völlig unwahrscheiidich, ja unmöglich.
Durch Versuche wuirde erwiesen, daß alle natürlichen
Ahwehrvorrichtuiigen des Orgauisnius auch durch inten¬
sive, die Wärmoregidaliou störende Ahkühhmgen nicht
altericrt werden.
Meine Tierversuche haben dargetan, daß auch ahge-
schwächte, aber noch immer ziemlich virulente Kulturen,
entsprechend dem ürganismus einverleiht, durch intensive
Abkühlung desselben keine erhöhte Virulenz erlangen und
meine Selbstversuche haben gezeigt, daß ein latenjer Mikro-
hismus des Menschen (kulturfähige und pathogene Bakterien)
seihst durch solche Kälteei uflüsse unberührt hleiht, welche
an Intensität und Dauer sämtliche Erkältungsfaktoren über¬
treffen.
Weitere Stützen gegen die Bedeutung der Erkältung,
als für Infektionskrankheiten disponierend, ist die außer
allem Zweifel konstatierte Unabhängigkeit der iMorbidität der
letzteren von Erkältungsgelegenheiten (Witterung u. a.), ihre
Frühlingsakme gegenüber dem Herhstminimum, die niedrige
Morbidität in kalten Monaten (November, Dezember, .Tanuar)
und die geographische Verbreitung mit Hinsicht zur Rauhig¬
keit oder Milde des Klimas.
Dagegen ist die Verhreilung der infektiösen ,, Erkäl¬
tungskrankheiten“. in vollem Einklang nnt Infektionsgelegen¬
heiten, wie sie der menschliche Verkehr oder die günstigen
Bedingungen für die Entwicklung des extrahumanen Mikro¬
bismus schaffen.
Die Möglichkeit einer direkten pathogenen Wirkung
der Erkältung erwies sich ebenso unhaltbar. Die supponierte
Bedeutung der reflektorischen Hyperämie nach Kältereizen
brach durch erhärtete Versuchsergebnisse und durch thera¬
peutische Erfahrungen zusammen, eine Störung der Wärme¬
ökonomie als Ursache von Krankheiten kann nach Erkäl-
lungsfaktoren beim Menschen nicht zustande kommen und
eine Auslösung von Krankheiten durch lokale Kältewirkung
(Neuralgien, Paresen, akute Affektionen der Atemwege)
konnte durch Versuche nicht annähernd waihrscheiidich ge¬
macht werden. Pathologisch-anatomische Veränderungen der
inneren Organe wurden auch dann nicht zustande gebracht,
wenn man normale Tiere durch Eishäder zu Tode abge¬
kühlt hat.
Für die Erkältungstheorie erübrigen nur die über¬
raschend positiven Versuchsergebnisse von D ü r c k, L a s s a r,
Affanazjew u. a. an Tieren, deren Vitalität aufs gröbste
beeinträchtigt wurde, und je.ner, deren Versuchsanordnung
jeder Analogie der Erkältung widersprach und endlich auf
Krankenangahen und Selbstheohachtungen die unter der
Wucht der herrschenden Theorie registriert werden.
Zum Schlüsse noch ein Wort. Kißkalt sagt in seiner
Kritik, daß ich die Bedeutung der Abhärtung leugne, wo¬
gegen wahr ist, daß ich nur die Deutung der Ahhärtungs-
maßregeln als Prophylaxe gegen Erkältungskrankheiten voll¬
ständig ahlelme ; Abhärtung involviert Uehungsmethoden
und soweit sie dem Ziele zu streben, eine normale Funk¬
tionsfähigkeit des Organismus zu erhalten, empfehle ich
dieselben in voller Harmonie mit Anhängern der Erkällungs-
theorie.
Kißikalt versagt sich nicht, meine Publikation als
überflüssig in der ohnehin so anschwellenden Literatur zu
hezeichnen, nachdem mir ,, leider“ ein tieferes Eindringen
in den hehandelten Gegenstaml versagt war. Dieses Urteil
überlasse ich getrost dem Urteile der Zukunft.
Aus der Prosektur der mährischen Landeskranken¬
anstalt in Brünn. (Vorstand : Prosektor Priv.-Doz. Doktor
Carl Sternberg.)
Zur Kenntnis des myeloiden Chloroms.
Von Dr. Karl Meixner, Assistenten.
Durch eine Reihe jüngerer Milleilungen ist die Natur
des Chloroms wesentlich geklärt worden, so dab über seine
' Zugehörigkeit zu den Erkrankungen, des lymphatischen Appa-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
rates lieu to kaiiui iiielir ein Zweifel besieht, ln der Arbeit
von liisel^) und der kürzlich erschienenen von Wein¬
berger^) ist die Litera.tnr über diesen (iegenstand so aus-
fübiiich wiedergegeben, daß ich mir eine neLierliche Bo-
Siirechnng der einschlägigen Fälle ersparen und mich auf
die IMilteilung eines Falles heschränken kann, der unlängst
in der mährischen Landesla’ankenanslalt in Brünn beob¬
achtet worden ist. Abgesehen davoiii, daß die Zahl der
liisber bekannten Fälle von Chlorom sehr gering ist, scheint
gerade dieser Fall von Wichtigkeil, weil in ihm die Eigen¬
art dieser seltenen Erkrankung mit besonderer Reinheit zu¬
tage tritt.
Es handelte sicli um eine Sljälirige ledige Taglölmerin,
die am 23. Januar 1907 auf die innere x\bteiliing des Herrn
Primarius Brenner aufgenommen wurde.
Anamnese: Seit Herbst Schwäche in den unleren Extremi-
lälen, Schmerzen, auch in anderen Körperteilen. Seit zwei
.Monaten Menopause, in den lelzten Tagen Nasenbluten.
Status praesens: Patientin ist von mittlerem Ernäh¬
rungszustand, l)laßi, Temperatur 38-3°. Von seiten des Zentral¬
nervensystems keine pathologischen Erscheinungen. Nasenlöcher
mit Blulborken verstopft. Zalinfleisch, namentlich an den oberen
Sclmeidezäbnen, aufgelockert, von den Zahnhälsen abgelöst,
blutend. Heber den Lungen voller Perkussionsscball. Rechts hinten
unten feuchtes, großblasiges Rasseln. Abdominalorgane ohne be¬
sonderen Befund. An der inneren Seite der Unterschenkel einige
|)is bellerstückgroße Hautbämorrbagien, daneben zahlreiche Peto-
ebien. Gelenke frei. Patientin geht mühsam, in gebeugter Stellung.
Im Harn Si)uren von Eiweiß..
24. Januar: Kein Eiweiß, Nasenhluten.
2. Februar: Lungenhefund negativ. Naseidjluten heim ge¬
ringsten Anlaß. In der Wangenschleimluud, linsengroße Blutextra¬
vasale. Im Stuhl nie Blut. Zunebmende Anämie und Mattigkeit.
Gelalineinjektionen in die Brust. Intern Licfu. ferri sesquichlorati,
•Icpia cinnamomi, Tami)onade des rechten Naseidoches mit Ferro-
pyrinwattc.
9. Februar: In der Nacht ist Bewußtlosigkeit eingetreten.
Pat. ist morgens reftoxlos. Rechts Ptosis, weite Pupille, Spasmen
der unteren Extremitäten.
11. Februar: Exitus.
Mhlbrend der ganzen Zeit der Beobachtung hesland Fieber.
Die Temperatur stieg täglich über 38®, nur wenige Male über
39®. Am Morgen regelmäßiges Absinken fast bis zur Norm.
Sektionshefund : Körper untermittelgroß, von kräftigem
Knochenbau, mäßig eniwickelter Muskulatur, mäßig genährt. Die
allgemeine Decke sehr hlaßi, rückwärts kaum angedeutete hlaß-
violetle Totenfleckc. Keine Oedeme. Konjunktiven, Skleren und
Lii)i)cn blaß. Das Zalnifleiscb oherfialb des zweiten linken
Schneide- und des Eckzahnes rauchgrau bis grauschwarz ver-
färld. und ehvas verdickt. Oberhalb dieser Stelle findet sich
ein kleines, etwa stecknadelkopfgroßes, hellrölliches Gescbwülst-
chen. In der Haut des Thorax, oherhalb der linken Mamma,
mehrere punktfönnige Stieböffnungen (Injeklions'stellen) ; in ihrer
Umgelntng ist das Unterbau tzellgewelje ausgedehnt blutig suf-
fundiej't. In der Haut der Unterhauchgegend nach links unten
vom Nabel ebenfalls eine Injektionsstelle, in deren Umgebung
sieb gleichfalls eine blutige Suffusion des ZellgeAvebes findet, die
nacli rechts bis über die Mittellinie binüherreicht. An der Streck¬
seite des rechten Oberarmes ist die Haut ausgedehnt blaurot
verfärbt, auf dem Einschnitte erweisen sich das Zellgewebe, sowie
die olleren Sebiebten der Muskrdatur blutig unterlaufen. Ein¬
zelne kleine Ekcbymosen finden sieb an der Innenseite des liidcen
Unlerscbenkels. Sonst an der Haut keine Veränderung.
Die weichen Scbädeldeckon blaß, das Scbädeldacb dünn,
die Spongiosa erhalten. Im oberen Teile des Stirnbeines, sowie
in beiden Scheitelbeinen sebimmern im durcbfallendcn läcbte
(‘inige durcbscbnilllicb zebnbellerstückgroßie, annähernd runde,
scheinbar in der Di[)loe gelegene Herde grün durch den Knochen
durcli. AVeder an der Innen-, noch an der Außenseite des Schädel¬
daches ist eine Auftreibung oder anderweitige Veränderung sicht-
bar. Desgleichen sind auch die übrigen Scbädelknochen ohne
\ eränderung. Die Dura mater stark gespannt, in ihren Rlutleitcrn
dünnflüssiges Blut. Die inneren Hirnhäute stellenweise leicht ge¬
trübt und veitlickl, sonst durchsicblig, von mittlerem Blutgebaltei,
lliiuwindtmgcn stark ahgeflacbt, Fiiradien verscbmälert. Die Mark-
lag<'r beider Hemispbärrm ziemlich blaß, etwas zäher. Das Sple-
nlmn des Balk(Mis durch eine etwa nußigroße Blutung, weiche
9 Risel, Ai’chiv für klinische Medizin Bd. 72, S. 31.
) Weinbe’rger, Zeitschrift für Heilkunde, Bd. 28, Abteilung
für interne Medizin, H. 1.
beiderseits in die Hemisphären sich bineiir m'streckt, vollständig
zerstört. Die Fornix erhaltejr. Die Seitenventrikel, sowie der dritte
und vierte Ventrikel von gewöhnlicher Weile, mit blutiger Flüssig¬
keit erfülll, ihre Airskleidung zart und glatt. Sonst die Substanz
des Groß- und Kleinhirns ohne Veränderung; insbesondere sind,
abgesehen von dom hescbriebonen, nirgends kleinere BlutaUs-
tritte wahrnelnnhar.
Das Unterhautzellgewebe fettarm, die Muskulatur welk und
blaß. Die Lagerung der Bauebeingeweide normal.
Beide Lungen frei, ziemlich groß, ihre Pleura glatt und
glänzend, von der Schniltfläcbe beider Lungen fließt reicblicb
dünne, schaumige Flüssigkeit ab, das Gewebe von mittlerem Luft¬
gehalte, sehr hlaßi. In der linken Lunge Ober- und Unterlappen
mileinander verwachsen, das Septum zwischen beiden stark ödema-
tös durchtränkt und gelb gefärbt.
Im Herzbeutel einige Tropfen klaren Serums, im Epikard
an der Rückfläche des Herzens nahe der Ikuzbasis eine linsengroße
Ekchymose. Der linke Ventrikel etwas weiter, die Klappen zart
und schlußfähig, das Herzfleisch blaß, sonst ohne Veränderung.
Die Aorta in ihrem ganzen Vculaufe eng, sehr elastisch, ihre
Wand sehr dünn, ihre Innenfläche im aufsteigenden Teile fast
durchwegs glatt und glänzend, nur oherhalb der Klappen, sowie
nanientlicb im Bereiche der Aorta descendens mit reichlichen
hellgell)licben Fleckchen und Streifchen gesi)renkelt. Auch die
größeren Gefäße, wie z. B. die Karotiden, auffallend eng und
elastisch.
Die Alilz, auf das Zwei- bis Dreifache vergrößert, selir plump,
mit glatter, gespannter Kapsel, auf dem Durchschnitte dunkelrot ge¬
färbt. Die Pulpa sehr reichlich, aber ziemlich fest, wenig aus¬
streifbar. Nirgends ii’gendwelcbe Einlagerung erkennbar. Leber
etwurs größer und plumper, namentlich im linken Lappen ver¬
größert, ziemlich schlaff, mit glatter, blaßbrauncr Oberfläche. Die
Farbe auf dem Durchschnitte ebenfalls blaßbraun, die Azinus-
zeichnung deutlich, keinerlei Eitdagerung wabrnelnnbar.
Beide Nieren auffallend blaß, sonst ohne Veränderung.
Der Magen ausgedehnt, seine Schleimhaut blaß und ziemlich
glatt, im Dünndarm dünnhreiiger, gallig gefärbter Inhalt, seine
SchleindiauL in ganzer Ausdehnung blaßi, glatt, ohne jegliche
Follikel- und Phutuesschwellung. Im Dickdarm reichlich wässeriger
Inhalt, die Follikel allenthalhen, geschwellt, annähernd gleich größt
ettva von Hirsekorngröße. Die mesenterialen Lymphdrüsen leicht
vergrößert, bis zu Bohnengröße, auf der Oberfläche und auf dem
Durchschnitte grauweiß. Die retroperitonealen sowie die inneren
inguinalen Lymphdrüsen nicht vergrößert.
Die Schleimhaut des weichen Gaumens und der hinteren
Rachenwaml blaß und zart, die Follikel am Zungengrund und
die Tonsillen voiv gewöbnlicber Größe, ohne jede Veränderung. Die
Schleimhaut des Kehlkopfes und der Trachea blaß und glatt,
Oesophagus ohne Befund. Die Lymphdrüsen am Halse beiderseits
leicht vergrößert, bis bobnengroß, ziendich fest,' scharf begrenzt,
auf dem Durebsebnitte grauweiß gefärbt. Die Lymphdrüsen der
Axillae nicht vcrgi'ößort, die äußeren inguinalen I^ympbdrüsen bis
höchstens hobnengroß, von der gleichen Beschaffenlieit wie die
Halslymphdrüsen. >
Das Sternum äußerlich ohne Veränderung, auf dem Durch¬
schnitte die Spongiosa etwas rarefiziert, in den Markräumen
Aveiches Mark, das auffallend grasgrün gefärbt ist. Sämtliche
Ripi)en schimmer]i durch das Periost grün durch; auf der Säge¬
fläche findet sich in allen Rippen, die eröffnet werden, an Stelle
des Markes eine grasgrüne Gewebsinasse, innerhalb deren spärliche
Knochenbälkchen sichtbar sind. Die Korükalis ist überall erhalten,
stellenweise, so namentlich gegen das sternale Ende der Rippen zu,
sehr dünn. Bei Hcj’ausnahme der Brust- und Baucheingeweide
treten überall längs der ganzen Wirbelsäule an der vorderen
Fläche der Wirbelkörper grüne Gewebsmassen zutage, die zum
Teil flache, beetartige, bis kronenstückgroßio Herde bilden, welche
mit den Wirhelkörpcrn in innigem Zusammenhänge stehen, zum
T(‘il in Form schmaler Streifen allenthall)en in die Muskulälur
längs der Wirbelsäule eindnngen und dieselbe durchsetzen. Im
Zellgewebe des Douglas sehen Raumes, sowie hinter dem Rek¬
tum finden sich ebeid'alls große“, flache, grasgrüne Placiues',' die
mit dem Kreuz- und Steißbein zusanimenbängen. Auf einer media¬
nen, durch die ganze AVirbelscäule und das Kreuzbein geführten
Sägefläcbe finden sich in allen AVirhelkörpern grasgrüne, ziemlich
Aveiche Knot(“n, die oft konfluiereu, meist bis hart an die Korti-
kalis hei'anreicben, oft auch dieselbe durchsetzen ujid, Avie be¬
schrieben, in Form Amn flachen Pb'Kiues oder schmalen Streifen
an der Außenfläche der Wirbel sicldhar sind. Die Spongiosa-
bälkcben der Wirbel sind zum Jeil erbalteu, zum Teil fehlen
sie in größerer Ausdehnung. ZAAUSeben den grünen Gewebsmassen
findet sich rotes Knochenmark. Der linke Humerus zeigt an seiner
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
595
Aiil.k*nlläcli(> in der l'iug(;l)uiig dos K()i)l’es und den oberslen
Anleih'ii tier Diapliyse l'laelie, giäuie Aiil'lagerungen. Auf dem
Dnrehselmil (y enveisl sich die Mai'kliölde als sehr geräumig und
in den beiden oljeivn DriKeilen ganz von mäßig weiclicn, gras¬
grünen Massen ausgel'ülU. Die Korlikalis ist daselbst selir dünn,
slellenwadsc von dim grünen iMassen dnrcliwachsen. im unteren
Dritfidl der Diapliyse findet sich weiches rotes Mark, das isolicrle,
gut umschrieliene, kleine, grüne Knoten einscldießit, von welchen
einer gut bolmengroß isl, die anderen viel kleiner sind. Der litdce
Femur wird an seinem Jlalso von einer grasgrünen Crewcbsmasse
übei'lagert, die mit den Knochen in innigem Zusammenhänge
stehl. Auf der Sägefiäche ist die obere Hälfte des Knochens fast
völlig von einem grasgrünen Gewebe eingenommen, das an meh-
i’eren Stellen, so namentlich am Schenkelhals, die Korlikalis
durchselzt. Im übrigen Anteil <les Knochens teils weiches, rotes
(,,lymphoides“) Mark, in welchem einzelne, bis erbsengroße, grüne
Knoten zu sehen sind, teils (in dem distalen Anteil) noch Fett-
niark erhalten. Der rechte Femur an der üherflächc ohne Ver¬
änderung. Auf dem Durchschnitte findet sich weiches, rotes Mark,
Kopf und Hals auffallend grasgrün gefärbt, indem in den Maschen¬
räumen der Spongiosabälkchen weiche grüne Massen, die sich
stellenweise mit dem Skalpell herausheben lassen, eingeschlossen
sind. Gegen das Kniegelenk zu ist auch hier noch Fettmark er¬
halten. Das Becken außen ohne Veränderung. Auf Sägeschnitlen
durch beide Darmbeinschaufeln erscheinen dieselben im Innern
intensiv grün gefärbt, indem ebenfalls in den Maschenräunien der
Spongiosa weiche grüne Massen eingeschlossen sind.
Die grüne Farbe sämllicher Knochen blaßt bei längerem
Liegen an der Luft zusehends ab und geht in ein schmutzi,ges
Hauchgrau oder blasses Grasgrün über.
Einige frisch durchsägie Knochen wurden in Kai¬
ser lingscher Flüssigkeit im Dunkeln konservieiä. An diesen
Fräl)araLen ist das Gescluvulslgewebe wohl deutlich vom roten
Mark zu mderscheiden, seine Farbe aber ist in ein schmutziges Grau¬
grün ühergegangen.
Fassen wir (Jas Wesentliclie aus Kraiikengeschiclile
und Sekt iousbef und zusaiinmeu, sO' ergibt sich:
Eine scliwere Allgemeiuerkra,ukiiug, die wenige Monate
nach dem Auftreten der ersten Symptome zum Tode führt.
Allmäldicb entwickelt sicli unter den Erscbeimingen einer
bämorrhagisclien Diatliese eine Irodigradige Anämie, doch
erst während der letzten Woclien ist ein rasch znnelnnender
Kräfteverfall, begleitet von einem remittierenden Fieljer zu
verzeichnen. Die Leiche bot die Zeichen einer schweren,
clironischen Anä,niie, Hämorrhagien der Haut und einen
chronischen Milztnmor mäßigen Grades. Fast das gesamte
Knochenmark ist durch ein weiches grasgrünes Gewebe
ersetzt, das in den Diaphysen der langen Röhrenknochen
bloß in Form einzelner, häufig konfluierender Knoten in¬
mitten roten Alarkes auf tritt, während die spongiösen Teile
der Knochen (Wirbel, Rippen, Becken, Ei)iphysenenden der
Ilöbrenknochen) nahezu vollsländig davon 'durchsetzt sind.
Nur in den distalen Enden der Röhrenknochen sind Reste
gelben Alarkes zu sehen. Kein einziger Knochen des ganzen
Skelettes, soweit es der Untersnehung zugänglich gewesen
ist, war von dieser Veränderung frei. iVn verschiedenen
Stellen, besonders an der Vorderfläche der Wirbelkörper und
des Kreuzbeines und an den Flals teilen der Röhrenknochen,
findet sich die grüne Aftermasse auch an der Oberfläche
der Knochen und infiltriert die benachbaiden Gewebe, so
daß Geschwülste in Form flacher Knoten und Plalten ent¬
stehen. Wie Sägeschnitte erkennen lassen, ist die Korlikalis
stellenweise rarefiziert, so daß die grünen Alassen an der
Überfläche mit denen im Innern der Knochen unmitlelbar
Zusammenhängen.
Nach diesem Befunde: Entwicklung mullipler, grüner,
weicher Geschwülste im Periost und Knochemnarke, kann
wohl kein Zweifel bestehen, daß wir es mit einem Fälle
von Chlorom zu tun haben.
Was diesen Fäll aber von allen bisher Ijekannt ge¬
wordenen Fällen unlerscheidet, ist der ünisland, daß die
Geschwulstbildung ausschließlich aut das Skelett beschränkt
ist und am übrigen lymphaliscben Ai)i)arate, abgesehen von
dem Alilziumör, mit freiem Auge nirgends eine wesentliche
Veränderung zu bemerken war. ln allen anderen Fällen
fanden sich an einer oder der anderen Stelle des Körpprs
Tumoren, die olfenlpir vom lympbatischen Gewebe atdler-
halb des Skelettes (Lymphdrüsen, Thymus, adenoidem Ge¬
webe der Konjunkliva usw.) ihren Ausgang genommen
hatten oder als Metastasen aufgefaßt werden junßten und
nebenbei sehr InUd'ig eine Schwellung des gesanden oder
einzelner Teile des lymphatischen Api)arales, die teilweise
auch durch die eigentümliche grüne Färl)nng ausgezeiebnet
war. Von den allen Fällen, aus der Zeil, in der das Chlorom
noch als ein Rundzellensarkom periostalen Ursprunges auf-
gefaßt wurde, sehen wir hier natürlich ab. Die besi)rochene
eigentümliche Lokalisation der pathologischen Voränderung
berechtigt in unserem Fälle zu der Annahme, daß sie vom
Knochenmark ihren Ausgang nehme, und es handelt sich
nun noch um die Frage, ob von der lymphoiden oder niye-
loiden Komponente dieses Gewebes. Während nändich in
der Mehrzahl der F'älle von Chlorom die Tünioren eljeiiso
wie die vergrößerten Lymphdrüsen und die grünen Teile des
Knochenmarkes aus Anhäufungen großer lymphoider Zellen
bestanden, sind bisher vier Fälle (Klein-Stein h, aus,
Türk,^) Sternberg,^) Weinberger) bekannt geworden,
in denen die cbloromatösen Bildungen aus myeloiden Zellen
auf gebaut waren. Möglich, daß diese Art nicht so selten
und der myeloide Charakter der Zellen in früheren Fällen,
die nicht mit der unserer lientigen Auffassung vom Wesen
des Chloroms entsprechenden Genauigkeit untersucht sind,
übersehen worden ist. Wir unterscheiden demnach zwischen
einer lymphoiden und myeloiden Form des Chloroms (Chloro-
dymphosarkomatose und Chloromyelosarkomatose), die beide
in der Regel wohl auch durch einen entsprechenden Blut-
Ijefund zu unterscheiden sein werden. Im anatomischen
Befunde läßt sich jedoch ein Unterschied zwischen diesen
beiden iVrten maikroskopisch einstweilen noch nicht fest¬
stellen. Im vorliegenden Fälle war es nun unsere Aufgabe,
durch die histologische Untersuchung zn entscheiden, ob
es sich um eine lediglich im Knochenmark lokalisierte Chloro-
lymphosarkomatose oder um eine Chloromyelosarkoma-
tose handelte.
Zu diesem Zwecke wurden Stückchen aus den roten
und grünen Teilen des Knochenmarkes der Röhrenknochen
in Alkohol, Formalin, Alüllerformalin, Pikrinsubliniat und
Flemming scher Lösung, Stückchen von den periostalen
Geschwülsten, Milz, Lymphdrüsen, Dickdarmschleimhaut,
Leber, Nieren und das Geschwülstchen im Zahnfleisch in
Pikrins ublimat fixiert.
In den unlcrslicliten Teilen des Knoclieinnaikes erweist sieh
das Feltmark vollständig ersetzt durch ein sehr zellreiches Ge¬
webe. jlasselhe besitzt ein zartes Helikulinn, in dessen weite
iMaschen dichtgedrängte Zellen eingelagert sind. Nur in wenigen
Präi)araten sind vereinzelt Feltzellen zu sehen. Schnitte aus ilen
grünen Markteilen zeigen niikroskopisch ein sehr einförmiges Bild.
Die Zellen, die das Belikuluni füllen, sind fast alle einkernig,,
von ziemlich gleicher Größe, etwa doppelt so groß wie ein rotes
Blutköiperchen oder etwas größer, rund, oval oder leicht gegen¬
einander abgeplattet. Ihr Protoplasma ist trüb, dicht von fcinslen
Körnchen durchsetzt. Ihr Kern besitzt etwa den halben Durcli-
niesser der Zelle, ist meist rund und liegt exzentrisch. Er färbt
sich mit den verschiedenen Kernfärhen zart und zeigt ein deutliches
Kerngerüst. Hie und da besitzt der Kern eine leichte Einschnü¬
rung oder es liegen zwei getrennte, runde Kerne gleicher Art
wie in den eiidvernigen Zellen oder etwas kleiner in einer Zelle.
Mitosen waren nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Zwischen den
bisher heschi liehe neu Zellen sieht man spärlich polynukleäre Leuko¬
zyten und fast noch spärlicher rote Blutkörperchen. Von kern¬
halligen roten ließen sich in allen untersuchten Schnitten nur
wenige auffiuden. Von einkernigen ungranulierten und Knochen-
niarksriesenzellen ist in diesen Teilen nichts zu sehen. Die Kapil¬
laren sind sehr eng. Soweit sie ühei'haupt erkennbar sind, läßt
sich weder ein auffallender [nhall, noch auch eine besondere
Lageheziehung tier heschiiehenen Zellarlen zu ihnen beobachten.
Vereinzelt finden sich kleine, unregelmäßig begrenzte Blutauslritte.
K 1 e i n - S t e i n h a u s, Zcntralhlatt für allgemeine Pathologie
v:m, ßd. 2.
b Türk, Verhandlungen der Gesellschaft für innere Medizin in
Wien vom 12. Februar 1903.
b S t e r n b e r g, Beiträge zur pathologischen Anatomie, Bd. 37, H. 3.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Bei Triazidl'iirliiiiig (.‘rsclioiiieii die eiiikci’iugi'ii Zellen last
dimd)W<‘g iieuli'epldl graiudierl (iieiili'ophilc Myelozyten), nur sehr
spärlicdi findet inan <laz\vischen Zellen mit azidophilen (iranidis;
ebenso sind die [lolyimkleären Leukozyten neutrophil granuliert.
Ziemlich zahlreiche Retikulumzellen erscheinen dicht erfüllt
mit Kügelchen verschiedener Größe bis zur Größe eines roten
Blutköi'perchens, die in Eosin- wie in Triazidpräparaten intensiv
rot gefärbt sind. Einzeln finden sich solche Kügelchen auch im
1'rotopla.sma von neutrophilen IMyelozyten, meist von einem hellen
Hofe, ähnlich einer Vakuole, umgehen, ln Eosinophilen sind solche
Einschlüsse nicht zu beobachten.
Schnitte aus üen roten Teilen des Knochenmarkes gewähren
ein viel bunteres xVussehen. Auch hier finden sich reicldich die
eiid^ernigen Zellen, die in den grünen Anteilen das - Bild he-
herr.schen. Doch ist die Zahl der Eosinophilen hier be-
trächtlich größer. Während diese unregelmäßig zerstreut im
Gewebe liegen, bilden die Neutrophilen meist kleinere
o(h‘r größere Nester. Ferner sind sehr reichlich kleine Zellen
mit intensiv dunkelgefärbtem Kern ohne erkennbare Struktur und
ganz schmalem Brotoplasmasaum (kleine Lymphozyten) und große
Z(dlen mit rundem, sehr blalt gefärbtem, häufig sehr großem Kerne
und Lingranuliertem Brotoplasmasaum von wechselnder Breite
(gi'oße Jjymphozylen und einkernige Jjcukozyten Ehrlichs)
zu sehen. Die polymorphkernigen Leukozyten sind gegenüber nor¬
malen Vei'hältnissen an Zahl vei'niindert, jedoch reichlicher als in
den grünen Teilen, die eosinophilen mder ihnen bleibim an Zahl
hinter den eosinophilen Einkernigen bedeutend zurück. .Nebeir
typischen Knochenmarksriesenzellen finden sich reichlich große
sc.liollige, ahgernndele Gebilde von gleicher bis zur (ioppelten
Größe der letztgenannten Zellart. Sie zeigen in der Mitte des.
homogenen, mit Eosin sattrot gefärbten Leibes diedd gehäufte,
runde Chromatintröpfchen von wechselnder Größe, die von einem
sehr zarten, gekrümmten, Kernfarbstoff annehmenden Saum imi-
faßt sind, der einer schlauchförmig gewundenen Kernmembran
zu entsprechen scheint und innerhalb dessen die Grundfarbe
heller ist als das umgebende Protoplasma. Er ist nicht überall
deutlich erkennbar.
Das Zahlenverhältnis der einzelnen Zellarten zueinander
we(diselt in verschiedenen Präparaten sehr stark, so daßi das
mikroskopische Bild des roten ^Markes sich in einzelnen Teilen
dem eben beschriebenen des gninen Markes sehr nähert, indem die
neutrophil granulierten einkernigen Zellen stellenweise auch im
roten Marke die IMehrzahl ausmachen, während die anderen Ele¬
mente an Zahl beträchtlich zurücktreten.
Irgendein auffall rnder Pigmentgehalt ist weder an unge¬
färbten Schnitten, noch auch nach F.ärbung mit Scharlach R oder
an Gsmiumpräparaten zu bemerken. Ebensowenig sind in
Schnitten Charco t-Leyd enschc Kristalle zu finden, nach denen
Under im fiischcn Ausstrich nicht gesucht worden ist.
Die grünen Geschwulstmassen, die sich vor der Wirbel-
säide finden, bestehen aus dichten Anhäufungen einkerniger, in
ein feines Ihdiknlum eingelagerter Rundzcllen, die Periost und
Bandmassen in breiten Lücken durchbrechen, das Fettgewebe
größtenteils 'ei'setzen und in Form einzelner gegen die Peripherie
an (.Iröße immer mehr abnehmender Stränge und Haufen in die
.Muskulatur eindiingen. Die Muskelhündel werden dadurch aus-
(ünandergedrängt und stellenweise in einzelne Fasern aufgespallen.
die dann, vielfach versclnnälert, isoliert innerhalb der Rund¬
zellenmassen liegen. Die nähere Beschreibung der Infiltrate wäre
eine bloße Wiederholung des über das grüne Mark Gesagten. Sie
bestehen fast ausschließlich aus neutrophilen IMyelozyten.
Zu bemerken ist nur, daß hier eosinophile Zelten nicht mit
Sichei'heit nachzuweiseJi waren und daß die Granulierung der
Z(dlen an einzelnen Stückchen überhaupt undeutlich ist (anschei'
nend Folge mangelhafter Fixierung).
Das Geschwülstchen im Zahnfleisch besteht aus einer An¬
häufung von Rundzcllen, die in den mittleren und unteren
Schichten der Schleimhaut liegen. Teilweise sind sie sehr dicht
gedrängt und an solchen Stellen in ein feines Rclikulum einge-
lagerl, teilweise jedoch ist die Anhäid'ung weniger dicht. Sie
ist unscharf begrenzt, indem SIränge und Haufen von Zellen
sowohl nach oben gegen das Epithel, wie auch seitlich in das an-
gi’cnzendc Gewebe sich erstrecken. Der überwiegenden Älehrzahl
nach sind es große einkernige Zellen. Reichlich finden sich dar¬
unter Zellen mit größerem hellen Kern und relaliv schmälerem
‘oplasma. Giunnla sind hier nicht deutlich zu sehen. Auch in
d(‘n zahlreichen Zellen, die die Form der iMyelozylen zeigen, ist
die Granulation größtenteils undeutlich. Einzelne sind eosinophil
granuliert. Dazwischen finden sich spärlich i)olymorphkernige
]j( ukozyten, kleine Lymphozylen, Zellen ähnlich diesen, jedoch
mit blassem Kerne verseilen und fleckenweise reichlich rote Blut-
körpei'chen.
Die Milz ist sehr zellreich, ihr Stroma von normaler Aus-
hildung, die Follikel stärker entwickelt, indem sie in Form kon-
linuierlicher Scheiden die Arterienästchen umhüllen; auch ihr
Durchmesser ist etwas vergrößert; sie hestrdien aus kleinen
Lymphozyten. Die Pulpa enthält sehr reichlich rote Blutkörper¬
chen. Außerdem finden sich in großer Menge regellos verteilt ein¬
kernige granulierte Zellen, wie sie im Knochenmark beschrieben
sind. Sehr zahlreich sind darunter die Eosinophilen. Doch ist
hier die Entscheidung über die Art der Granula bei der IMehr¬
zahl der Zellen sehr schwielig, indem sie sehr häufig von un¬
gleicher Größe, dabei aber intensiv i'ot gefärbt sind (mangelhafte
Fixierung?). Von anderen Elementen finden sich ziemlich reichlich
IMegakaryozylen sowohl intra- als cxtravaskulär. Innerhalb der
weiten Kapillaren sind häufig kleine nestförmige Anhäufungen von
Zellen mit großem runden Kern mit deutlichem Kerngerüst und
meist schmalem, scheinbar ungranülierten, oft zackigen Proto¬
plasmasaum zu beobachten. An der Zusammensetzung der Pulpa
nehmen außerdem kleine Lymphozyten und reichlich ])olyniorpli-
kemige Leukozyten teil, unter denen wiedorum die eosinophilen
stark vei'lreten sind.
Die Lymphdrüsen zeigen normalen Aufbau. Nirgends ist eine
Infillralion der Kapsel wabrzunehmen. In geringer Zahl finden
sich in IMarksträngen und auch in den Follikeln, die gut gegen¬
einander abgrenzhar sind, einzelne neutrophil und eosinophil
granulieite einkernige Zellen und etwas reichlicher polymorph¬
kernige Leukozylen beiderlei Granulation.
Die vergrößerten Lymphfollikcl des Dickdarmes bestehen
nur aus Lymphozyten.
Die Niere bietet außer degenerativen Veränderungen keinen
■wesen 11 ic hen Befund.
Die Leber zeigt noj'inale Struktur. Das Protoplasma der
Leberzellen ist allenthalben ziemlich gleichmäßig in Zentrum und
Peripherie der Azini von feinen hellen Lücken durchsetzt. Weder
im inlerazinösen Binilege’webe, noch innerhalb der Läppchen sind
Zellanhäufungen zu sehen. Innerhalb der Gefäße jedocli scheinen
die 'weißen Blulkörpcrchcn leicht vermehrt zu sein u. zw. sieht man
kleine Lymphozyten, große einkernige Zellen mit sehr großem
hellen Kern und meist sehr schmalem ungraiiulierten Protoplasina-
saum, der an einzelnen Exemplaren wie aüsgenagt aussieht, manch¬
mal auch vollkommen fehlt, polymorphkernige, neutrophil granu¬
lierte Leukozyten, neutrophile und eosinophile einkernige Zellen
von der im Knochenmark vorherrschenden Art und einzelne Mega-
karyozylen. Ueber das Zahlenverhältnis der einzelnen Zellarten
zueinander läßt sich nichts aussagen, denn der Versuch, durch
Auszählung dieses Ziel zu erreichen, scheitert daran, daß wohl
bei der Hälfte der kernhaltigen Blulzcllcn eine Bestimmung ihrer
Art unmöglich ist; doch gewinnt man den Eindruck, daß die
polymorphkernigen Formen den einkernigen ungefähr das Gleich¬
gewicht halten, daß also die letzteren im strömenden Blute ver¬
mehrt sind.
In Kürze zusammengelaßl ist das Ergebnis der histolo¬
gischen Untersnchiing folgendes: Die grünen Teile des
Knochenmarks bestehen fast ansschließlich aus Myelozyten,
zwischen denen sich nur ganz vereinzelt andere Elemente
finden. Doch auch im roten Marke sind die Myelozyten be¬
trächtlich vermehrt. Die grünen GescliwulsHnassen an der
Oberfläche der Knochen gleichen in ihrer Zusammensetzung
vollständig den grünen Teilen des Markes und' dringen diffus
infiltrierend in Binde- und Fettgewebe und in die benach¬
barte Muskulatur ein. Ein kleines, aus älndichen Elementen
l)estehendes Infiltrat findet sich im Zahnfleisch, ln der
Milz sind ziendich reichlich Myelozyten und Knochenmarks¬
riesenzellen zu sehen, erstgenannte Zellart auch vereinzelt
in den Lymphdrüsen, tlie sonst normalen Aufl)au zeigen.
Die Leber ist frei von Infiltraten. Nach dem Inhalte ihrer
Kapillaren zu schließen, sind im Blute vor dem Tode die
weißen Blutköiirerchen gegenüber der Norm vermehrt ge¬
wesen. Unter den einkernigen Formen, die scheinbar
in mäßigem (Irade auch relativ vermehrt waren, finden sich
neutrophile und eosinophile Myelozyten. Außierdeni waren
Knochenniarksi'iesenzellen zu finden.
Wdr haben es also hier mit einer fast ansschließilich
am Knochensystem, sp0zi(dl am Knochenmark lokalisierten
Wucherung zu tun und jnüssen nach dem histologischen
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 1907.
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Befiiiiclo das niyeloide Gewebe als ihren Ausgangspunkt be-
Iracdileu. Die Entstehung der periostalen Geschwülste läßt
sich zwanglos in der Weise (uhlären, daßi die Wucdierung
(uitweder enllang der Knochengefäßie aus dein Markraxinie
an die Außienfläche fortsclireitet, wotür sich Hisel aus-
sprichl, oder die IvortikaJis einfach durchbrochen hat, wofür
in unserem Falle nach dem obigen anatomischen Befunde
der teilweise Schwund der Korükalis spricht. Die zur histo¬
logischen Untersuchung bestimmten Geschwulstteile wurden
mit scharfem Messer hart am Knochen abpräpariert. Sie
zeigten, wie oben beschrieben, daßi die Infiltrate die unter¬
sten Bindegewebslagen in breiten Lücken durchbrachen. Das
kleine Infiltrat im Zahnfleisch dürfte wohl auch vom Knochen
ausgegangen sein.
Der Aufbau der grünen Geschwülste aus myeloiden
Zellen reiht den Fall unter die Erki’ankungen des Myeloid-
ge wehes ein.
Wir kennen drei Kraukheitsprozesse, die durch eine
Wucherung des myeloiden Gewebes gekennzeichnet sind,
das myeloide Myelom, die niyeloide Leukämie und das mye-
loide Chlorom. Das erste stellt eine meist in Form um¬
schriebener Knoten auftretende Hyperplasie des Myeloid-
gowebes dar, die myeloide Leukämie ist eine mehr diffuse
Hyperplasie desselben Gewebes mit Ausschwemmung von
Myelozyten in das Blut und myeloider Umwandlung anderer
Teile des lymphatischen Apparates. Bezüglich der Stellung
des Chloroms .jedoch sind vlie Meinungen der Autoren ge¬
teilt. Da auch beim myoloirlen Chlorom bisher noch stets
ein myeloidleukäinischer Bluthefund beohachtet wurde,
rechnen es einige zur myeloiden Leukämie, von der es
andere scharf getrennt wissen wollen.
Sehen wir nun, wie weit die bisher bekannten Fälle,
einschließlich dem unsrigen, ein Urteil in dieser fhage ge¬
statten. Zweifellos zeigen sie in mancher Beziehung eine
große Aehnlichkeit mit der myeloiden Leukämie, wie jedoch
gleich betont werden soll, bloß, mit der akuten Form dieser
Erkrankung, von der auch nur wenige Fälle bekannt sind.
Die Aehnlichkeit äußert sich sowohl im Krankheits verlaufe,
wde auch im Blutbilde, das oft erst kurze Zeit vor dem
Tode einen krankhaften Charakter annimmt. Das Zahlen¬
verhältnis der einzelnen Zellarten zueinander kann bei
beiden Erkrankungen beträchtlich schwanken, übereinstim¬
mend jedoch wird der Mangel der Mastzellen und das spär¬
liche Vorkommen eosinophiler Zellen beschrieben.
In unserem Falle können wir leider über den Blut¬
befund nichts berichten, da seine Aufnahme zu Lebzeiten
der Patientin unterblieben ist. Präparate aus dem Leichen-
blute, das fast überall geronnen war, erwiesen sich als
ganz unbrauchbar. Doch scheint, nach dem Inhalte der
Leberkapillaren zu schließen, eine Vermehrung der ein¬
kernigen Elemente im Blute bestanden zu haben, unter denen
Myelozyten reichlich vertreten waren.
Im anatomischien Befunde aber besteht ein wesentlicher
und konstanter Unterschied zwischen dem myeloiden Chlo-
' rom und der myeloiden Leukämie. Das Wesen dieser liegt
in einer Hyperx)lasie der myeloiden Elemente des Knochen¬
marks und einer myeloiden Umwandlung anderer Teile des
lymphatischen Apparates. Auf keinen Fall jedoch koninit es
bei der Leukämie zu einem Einwachsen des Myeloidgewebes
aus dem Knochenmarke oder den Lymphdrüsen in die
Umgebung, ,,in fremde Texturen“. Dies gilt auch für die
akute myeloide Leukämie, bei der die anatomischen Ver¬
änderungen meist weniger ausgesprochen sind als bei der
chronischen und bei der besonders der Milz tumor, ähnlich
wie beim Chlorom, nur einen geringeren Grad erreicht. Ver¬
gleichen wir damit die bisher bekannten Tälle von niyeloi-
dem Chlorom. Im Falle von Klein-S teinhans fanden sich
grüne Geschwulstmassen am Sternum, an den Hippen, an
I der Wirbelsäule und am Schädel, im Fälle Turks an den
Lendenwirbelkorpern, Sternbergs lall zeigte eine chloro-
ftmatüse Geschwulst am Perineum und einen zerfallenden,
sämtliche Schichten der Wa.ud infiltrierenden Tumor im
untersten Ileum! und an der B a u h i n scheu Klappe und W e i n-
berger beschreibt eine nekrotisch ulzeröse Wucherung am
Gaumen mit Zerfall der Gaumenbögen und der Uvula, die
,, vielleicht als myclosarkonialös gedeutet werden“ kann, ln
den beiden letztangeführten Fällen fehlen die Wucheruugeii
am Perioste, die in unserem Fälle an der Wirbelsäule und
auch an Höhrenknochen reichlich entwickelt sind. Durch
dieses eigentümliche Wachstum, das bisher in keinem Falle
vermißt wurde, ist das Chlorom scharf von der Leukämie
getrennt und verhält sich in dieser Hinsicht wie ein maligner
Tumor. Mithin dürfen wir das myeloide Chlorom nicht der
myeloiden Leukämie, auch nicht ihrer akuten Form zu¬
rechnen, es ist nicht als eine hyperplastisclie, sondern als
eine maligne Wucherung des myeloiden Gewebes aufzu¬
fassen.
Versuchen wir, ihm eine Stellung im Systeme an¬
zuweisen, so ist auf die volle Analogie mit der anderen,
lymphoiden Form des Chloroms hinzuweisen, von der es
sich nur durch die Granulation der Zellen unterscheidet,
während es im übrigen als Systemerikrankung des
lymphatischen Apparates, sowohl in Lokalisation als
auch Art des Wachstumes vollständig mit ihr über¬
einstimmt. Das lymphoide Chlorom ist nun im mikro¬
skopischen Bilde von der Lymphosarkomafose (K\ind-
r at- Pal tauf) überhaupt nicht zu unterscheiden. Diesem
Verhalten trägt schon Pal tauf Hechnung, indem
er in seinem Systeme das Chlorom als Anbang zur
Kund rat sehen Lymphosarkomatose stellt. In ähnlichem
Sinne äußert sich Hisel, „daß wir es hier mit einer grün
gefärbten, der Lymphosai-’koniatose nahestehenden Neu-,
bildung, Wiichemng lymphadenoiden Gewebes zu tun
liaben, die in ihrem Verhalten vielfach Analogien mit den
leukämischen, bzw. pseudoleukämischen Tumoren darbietet.“
Denselben Standpunkt vertritt auch Sternberg, der das
Chlorom als ,,eine atypische, der Lymphosarkomatose nahe¬
stehende Wucherung“ auffaßt. Die beiden Prozesse mit¬
einander zu identifizieren, wäre zu weit gegangen. Denn
auch gegenüber der Lymphosarkomatose zeigt das Chlorom
Verschiedenlieiten, vor allem das Auftreten einer leukämi¬
schen Blutveränderung.
Halten ,wir uns vor Augen, daß das myeloide Chlorom
sich vom lymphoiden nur dadurch unterscheidet, daß die
Geschwülste anstatt aus ungranulierten, aus granulierten
Zellen bestehen, die auch im Blute erscheinen, so folgt
tlaraus, daß es unter den Erkrankungen des myeloiden Ge¬
webes dieselbe Stellung einnimmt, wie das lymphoide Chlo-
roni unter denen des lymphoiden Gewebes. Das myeloide
Analogon der Kundratschen Lymphosarkomatose, eine
Sarkomatose des Myeloidgewebes ohne Grünfärbung der
Geschwülste und ohne leukämischen Blutbefund kennen
wir derzeit noch nicht.
Will man also den Chloromen im Systeme der Er¬
krankungen des lymphatischen Apparates eine Stellung ae-
weisen, so scheint es jedenfalls ungezwungener, sie zu den
Sarkomatosen zu rechnen und dementsprechend die lym¬
phoide T'orni als Chlorolymphosarkomatose (Hisel) oder
Chloroleukosarkomabose (Sternberg) zu bezeichnen, welch
letzteres Wort dem Symptome des leukämischen Blut¬
befundes Hechnung tragen soll und für die myeloide Form,
zu der unser ball gehört, den Namen Chloromyelosarkonia-
tose zu wählen.
Wenn Weinberger sagt, daß erst größere Beob¬
achtungsreihen entscheiden werden, inwieweit die Chlorome
als selbständige, von der akuten Leukämie getrennte Er¬
krankungen zu betrachten seien, so spricht unser Fall, ob¬
zwar er bei Lebzieiten hämatologisch nicht verfolgt worden
ist, wegen seines x)rägnanten anatomischen Befundes, wohl
für die Verwandtschaft der Chlorome mit der LymphosaU- '
matose. i > i .
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
9»
Ueber die Frühdiagnose des Magenkarzinoms."^)
Von Dr. Ludwig t. Äldor, Karlsbad.
• Das Bestreben, die Diagnose des Magenkrebses schon
in einem Stadium zu ermöglichen, wo noch kein Tumor zu
l>alpieren ist, hat im Laufe der letzten Jahre eine ganze
Beihe neuer Untersuchungsvmrfahren liervorgebracht. Ich
möchte mich hier bloß mit denjenigen unter ihnen beschäf¬
tigen, über deren Wert ich Gelegenheit hatte, mir mit Hilfe
systematischer Untersuchungen Erfahrung zu verschaffen.
■ E/S fiilden' sich unter , diesen neueren Untersuchungs-.
methoden meJirere, z. 13. das Salomon sehe Verfahren,
welche auf diesem Gebiete in kurzer Zeit eine ähnliche Popu¬
larität gewonnen haben, wie der Nachweis vorhandener
Milchsäure oder der mangelnder freier Salzsäure.,
In erster Linie möchte ich auf die Bedeutung
d e r A 1 b u m o s u r i e f ü r d i e s e F r a g-e die Aufmerksamkeit
lenken.
Im Wintersemester 1898/99 habe ich mich in Berlin
im Sal kow.sk i sehen Institute mit dem Nachweise der
Albumose im Harne beschäftigt. Mein nächstes Ziel war,
ein Verfahren ausfindig zu tnachen, mit dessen Hilfe wir
den den Wert des Salko wski sehen Albumosennachweises
wesentlich schmälernden Umstand, daß nämlich der phos¬
phor-wolframsaure Niederschlag außer der Albumose auch
Urol)ilin enthält (welch letzteres gleichfalls eine positive
Biuretreaktion gibt), nach Tunlichkeit zu eliminieren.
Dies habe ich durch eine ganz einfache .Alodifikation
des Sal ko wski sehen Verfahrens erreicht, und die von
mir empfohlene Methode^) hat alsbald eine ziemlich weite
Verbreitung gewonnen. Die zur .Ausführung bloß einige
Minuten beanspruchende und keineriei komplizierteren Vor¬
richtungen eiTordernde Methode ist folgende: Einige Kubik¬
zentimeter Harn säuern wir mit ein bis zwei Tropfen Salz¬
säure an und fügen insolauge 5®/oige Phosphorwolframsäure¬
lösung hinzu,, als noch Niederschlag entsteht. Nach einer
kurzen Zentrifugierung erhalten wir auf dem Grunde ^ des
Reagenzröhrchens ein kompaktes Sediment, gießen die dar¬
über stehende Flüssigkeitssäule ab und schütteln den
Niederschlag mit 4 bis 5. ’cm^ absoluten Alkohols energisch
durch. Nach wiederholter; stets nur einige Sekunden; in
Anspruch nehmender Zentrifugierung erhalten wir wieder
einen Niederschlag auf dem Grunde der Reagenzröhre und
der darüber stehende Alkohol zeigt je nach dem Urobilin¬
gehalte des Harnes eine gelbliche Färbung verschiedener
Intensität. Das Durchschütteln mittels Alkohol und das un¬
mittelbar darauf folgende Zentrifugieren setzen wir inso-
lange fort, bis Alkohol und Niederschlag vollständig farb¬
los erscheinen.. Selbst hei stark gefärbten Harnen genügt
schon eine zwei- bis dreimalige Wiederholung dieses Vor¬
gehens. Schließlich gießen wir den Alkohol ab, suspendieren
den Niederschlaig in einer geringen Menge Wasser, wo¬
rauf eine mehr oder weniger intensive bläuliche Färbung
auftritt, welche jedoch nach energischem Durchschütteln
mit Luft vollkommen verschwindet, so daß wir das schwefel-
saure Kuijfer zur Heryorrufung der Endreaktion (Biuret¬
reaktion) einer vollkommen farblosen Lösung hinzufügen.
Um den Wert dieses A^eifahrens feststellen zu können,
habe ich von 56 Kranken stammende Harne geprüft und
mich der Fälle ganz wahllos bedient. Beim Ueberblicken
der Untersuchungsergebnisse zeigte es sich, daß die Al-
bumosereaktion fast bei jedem Fieberkranken positiv war
und überdies bloß noch fünf Fälle Albumosurie zeigten
und zwar vier an Magenkrebs und ein an Bauchfellkrebs
leidende Individuen, die mir der Zufall ins Beobachtungs-
material gelangen ließ. Dies will so viel besagen, daß ich
bei diesem Beobachtungsmaleriale außer bei Fieberkranken
*) Der Hauptinhalt dieser Mitteilungen stammt aus Ausführungen,
welche der Autor im Anschlüsse au einen von Prof. A. v. Koränyi
am 15. November 1906 am Landeskongreß zur Krebsforschung unter dem
gleichen Titel gehaltenen Vortrag zur Kenntnis gebracht hat.
9 V. Aid or, Berliner klin. Wochenschrift 1899, Nr. 28 (Vortrag
im Berliner Verein für innere Medizin, Sitzung vom 30. Januar 1899)
und Orvosi Hetilap 1899, Nr. 16 und 17.
bloß bei sämtlicheu zur Untersuchung gelaugten Krebs¬
kranken Albumosurie konstatieren konnte.
Sowohl die febrile als die bistogene Albumosurie
mußte icb für eine Stoffvvechselanomalie halten, bei welcher
eine Spaltung des Eiweißmoleküls im Sinne einer Hydration
zustande kommt.
Auf diesen Befund habe ich in meinen Mitteilungen,
ohne weitergehende Folgerungen zu ziehen, ganz besonders
die Aufmerksamkeit gelenkt; während aber das Verfahren
selbst eine ziemlich rasche Verbreitung gewann, begegnete
der das Karzinom betreffende Teil meiner Mitteilungen bis
zur letzten Zeit einer ziemlichen Gleichgültigkeit. Meines
Wissens geschah bloß in der im Jahre 1893 erschienenen
,, Diagnose und Therapie der Magenkrankheiten“ von. Boas
darüber insoferne eine Erwälmung, als es da heißt: ,,Äldor
fand Albuminurie in vier Fällen von Magenkarzinom und
einem Falle von Peritonealkarzinom. Äldor ist geneigt,
die Albumosurie beim Karzinom als Stoffwechselanomalie
zu betrachten.. Eine diagnostische Bedeutung kömmt der
Albumosurie vor der Hand nicht zu.“
Meines Wissens waren die ersten und einzigen, die
den das Karzinom betreffenden Teil meiner Mitteilungen
zum Gegenstände einer direkten Nachprüfung gemacht
haben: Ury und Lilientha 1.“) Sie betonten, daß ich der
erste war, der bei Karzinom in einwandfreier Weise die
Albumosereaktion nach wies und fanden es recht auffallend,
daß mein das Karzinom betreffender Befund bisher von
keiner Seite einer Nachprüfung unterzogen wurde. Ury
und Lilieiithal erklären: ,,Die Resultate, zu welchen
dieser Autor (Äldor) gekommen ist, sind recht bemerkens¬
werte, etc.“ Sie benützten zu ihren Untersuchungen, die
sie an dem reichen Kranken materiale der Bo as sehen Poli¬
klinik auszuführen in der Lage waren, zum Nachweise der
Albumose die von mir empfohlene Modifikation des Sal¬
ko wski sehen Verfahrens und ihr ausgesprochener Zweck
war eben die Nachprüfung meiner das Karzinom betreffen¬
den Untersuchungsergebnisse. Unter 76 Fällen — so
viele haben sie untersucht — waren 40 karzi-
nomatö s e In dividuen; in zwei Drittel dieser Fälle
(56 o/o) konnten sie Albumosurie nach weisen. Ihre
Hauptschlußfolgerung ist folgende : eine die Dia¬
gnose zwei fellos bekräftigende Bedeutung .kann
man der Albumosurie bei Karzinom des In-
testinaltraktus nicht zuschreiben, aber ein
wiederholter positiver Ausfall der Reaktion be¬
kräftigt wesentlich einen schon vorhandenen
Verdacht auf eine Erkrankung maligner Natur.
Derlei Untersuchungen habe ich seither am Materiale
meiner Privatpraxis ohne Unterbrechung fortgesetzt und
zwar in der Art, daß ich beim allergeringsten Verdachte
auf einen malignen Hintergrund nach Albumosurie gefahndet
habe; erleichtert wurde mir dies durch die einfache Be¬
schaffenheit des Verfahrens, deren Ausführung bloß einige
Minuten in Anspruch nimmt. Meine Erfahrungen decken
sich vollständig mit den Ergebnissen von Ury und Lilien¬
thal; ich kann dieselben kurz dahin zusammenfassen, daß
die Probe auf Albumosurie ein recht wertvolles
diagnostisches Hilfsmittel bei Erkrankungen
des Intestinaltraktes dar stellt, welchem haupt¬
sächlich im Hinblicke auf Erkrankungen des
Verdauungskanales bösartiger, insbesondere
krebsiger Natur, in vielen Fällen eine wesent¬
liche differentialdiagnostische Bedeutung zu-
z uschreiben ist.
Noch zwei neuere Melhoden gibt es, über deren Wert
ich meine Erfahrungen kurz mitteilen möchte. Die eine
ist die Salomo 11 sehe Probe, •'’) die andere die diagnostische
Bedeutung okkulter Blutungen. Das Wesen des Salomo ri¬
schen Verfahrens ist, daß ein krebsiger Magen eiweißhalliges
Sekret ausscheidet und ihre Ausführung die folgende : Am
*) Ury und Lilienthal, ArchivfürVerdauungskrankheilen 1905, XI.
Salomon, Deutsche med. Wochenschrift 1903, Nr. 31.
Nr. 20
599
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Vormittage des der Untersiicliiing vorangehenden Tages er¬
hält der Kranke bloß) flüssige Nahrung (Milch, Suppe), am
Nachmittage dagegen eine flüssige und eiweißfreie
Nahrung (Tee, Kaffee). Am Abend wird der Magen des
Kranken insolange gewaschen, bis das Spülwasser voll¬
kommen rein zurückfließt; tags darauf mhält der Kranke
kein Frühstück und sein Magen wird mit 500 cm'^ physio¬
logischer Kochsalzlösung gründlichst derart gewaschen, daß
dieselben 500 cm^ physiologischer Kochsalzlösung drei- bis
viermal in den Magen hinein- und wieder herausgelassen
werden. Die zu dieser Spülung verwendete Flüssigkeit gibt
uns das Untersuchungsmaterial; wir prüfen sie mit E߬
bachs Reagens und bestiminen nach Kjeldhal ihren Stick¬
stoffgehalt. Nach Salomon zeigt sich in negativen Fällen
bei dpr Eßbachprobe keine Trübung oder nur eine ganz
geringe Opaleszenz und der Stickstoffgehalt beträgt 0 bis
15 mg. Positiv ist die Probe zu nennen, wenn die durch
Eßbachs Reagens ausgeschiedene Eiweißmenge Vi6 bis
V2V00 ond die Stickstoffmenge 10 bis 70 mg beträgt. Mit
der Restimmung des Wertes dieser Probe haben sich meh¬
rere Autoren beschäftigt. (Reicher,^) Siegel,^) Deren t
und Guttmann,®) Tabora,^) Sittenhelm und Lower®)
Zirkelbach.^) AIP diese Nachprüfer schreiben dem Ver¬
fahren eine diagnostische Bedeutung zu. Die Erfahrungen,
welche ich mit Rücksicht auf das Salomon sehe Verfahren
teils in meiner Privatpraxis, teils im Laufe der Unter¬
suchungen, die ich im Budapester poliklinischen Labora¬
torium des Herrn Priv.-Doz. Bernhard Vas auszuführen
Gelegenheit hatte, sprechen gleichfalls insgesamt dafür, daß
wir in der Salomon sehen Methode ein wertvolles dia¬
gnostisches Hilfsmittel zu erblicken haben. Ihre diagnosti¬
sche Bedeutung möchte icli, wie folgt, zum Ausdrucke
bringen: Die Salomonprobe ermöglicht uns einen
im Intestinaltraktus sich abspielenden ulzerie-
renden Prozeß auch zu einer Zeit zu erkennen,
als ein Tumor noch durchaus nicht palpabel ist.
Den gutartigen oder bösartigen Charakter eines
solchen ulzerativen Prozesses selbst kann sie
wohl nicht entscheiden. Sie ermöglicht weiters
beiAbwesenheiteinespalpablenTumors die Dia¬
gnose eines auf alle Fälle geschwürigen Magen¬
karzinoms — und gerade in dieser Hinsicht er¬
weist sich der besondere diagnostische Wert der
Probe — wo die klinischen Symptome auf eine
chronische Gastritis hinweisen. Wo aber das
Karzinom.mit diffuser Infiltration beginnt, wird
uns diese Methode vollständig im Stiche lassen..
Die Bedeutung stärkerer aus dem Intestinaltraktus stam¬
mender Blutungen für die Diagnose des Karzinoms ist wohl
seit langem bekannt; ebensogut wissen wir, daß solche inten¬
siveren Blutungen meistens als Spätsymptome aufzutreten
pflegen. Unsere Kenntnisse hinsichtlich der sogenannten
okkulten Blutungen knüpfen sich der Hauptsache nach an
den Namen von Boas;^®) mit dieser Bezeichnung belegen
wir die minimalen, mit freiem Auge nicht konstatisrbaren
Blutungen, welche, je nachdem sie aus höheren oder tieferen
Anteilen des Verdauungskana les stammen, im Mageninhalte
und im Kote oder nur im Kote auftreten. Zum Nachweise
dieser von Boas bezeichnenderweise ,, okkult“ genannten
Blutungen stehen uns recht empfindliche Reagenzien zur
Verfügung. Erstens die von Weber empfohlene Gua.jak-
probe, dann die empfindlichere Rosse Ische Aloinprobe
und schließlich als die empfindlichste 0. Adlers Ben-
h Reicher, Archiv für Verdauungskrankheiten 1906, Heft 3.
Siegel, Berliner klin. Wochenschrift 1904, Nr. 12 bis 13.
8) Be rent und Guttmann, Deutsche med. Wochenschrift 1904,
Nr. 28.
’) T a b 0 r a, Deutsche med. Wochenschrift 1905, Nr. 15 bis 16.
8) Sittenhelm und Lower, Zentralblatt lür Verdauungs¬
krankheiten 1905, Nr. 98.
9) Zirkelbach, Orvosi Hetilap 1906 und Archiv für Ver¬
dauungskrankheiten, Bd. 12, Heft 6.
19) Boas, Volkmanns Sammlung, Neue Folge, Nr. 387, und
Gesammelte Beiträge 1906, Karger.
zidinprobe. Alle diese ziemlich einfach ausführbaren Proben
sind Reaktionen des Hämatins; ihr Wesen ist, daß wir
mit ihnen das Hämatin jn eine in Aether vollkommen lös¬
liche essigsaure Verbindung überführen. Infolge ihrer Uebor-
empfindlichkeit müssen wir die Untersuchung mit ganz be¬
sonderer Vorsicht einrichten. Abgesehen von dem Blute,
welches während der Mageauntersuchung teils von oben
(Nasen- und Mundhöhle, Pharynx, Oesophagus) in den Magen
gelangt, teils während der Uutersjuchung durch die Sonde
selbst künstlich hervorgerufen wird, können wir, falls wir
den Mageninhalt nach eineni Probefrühstück untersuchon
und keine wesentliche Herabsetzung der Magenmolilität vor¬
handen ist — in diesem Falle ist der Magen vor Verab¬
reichung des Probefrühstückes gründlich zu säubern —
an die Ausführung der Untersuchung ohne besondere Kau-
telen gehen.
Strauß hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß
es eine bei Magenkrebs häufige Erscheinung ist, daß man
im Mageninhalte kein Blut nachweisen kann, im Kote da¬
gegen sich okkulte Blutungen vorfinden. Aus dieser voll¬
kommen erwiesenen Tatsache folgt wohl, daß in Fällen,
wo nur der allergeringste Verdacht auf Karzinom besteht,
einem negativen Ergebnisse einer Mageninhaltuntersuchung
unbedingt eine Untersuchung der Fäzes auf okkulte Blu¬
tungen folgen müsse. Doch muß eine solche mit Rücksicht
auf die großie Empfindlichkeit der erwähnten Proben und
auf die Gegenwart von Blut alimentären Ursprungs mit
ganz besonderer Vorsicht unternommen werden.
' Unter den drei oben erwähnten Proben ist wohl die
am wenigsten empfindliche die Guajakprobe, doch gibt sie
nach den Untersuchungen Webers schon nach Genuß von
3 g rohen Fleisches ein loositives Resultat. Ich selbst be¬
nütze zum Nachweise des Blutes in der letzten Zeit die
Aloin- und die Benzidinprobe; wo ich jedoch die Gegen¬
wart okkulter Blutungen feststellen will, lasse ich dem
Kranken durch drei Tage eine Probekost verabreichen, von
welcher jegliches rohe Fleisch ausgeschlossen ist. Aus der
großen Zahl meiner Kotuntersuchungen habe ich 50 zu¬
sammengestellt, wo ich die Prüfung auf okkulte Blutungen
bald ohne Probekost, bald mit Probekost anstellte. Bei
20 Individuen konnte ich im Kote Blut nachweisen, wobei
die Aloinprobe bei denselben nach Probekost sich zu wieder¬
holten Malen als negativ erwiesen hat.
Was die praktische Bedeutung dieser Blutungen betrifft,
so muß man ihrem Nachweise wohl hauptsächlich vom
Standpunkte der Prophylaxis der Blutungen eine wesentliche
Wichtigkeit zuschreiben ;. denn bei allen Zuständen, wo
okkulte Blutungen auftreten, können wir stets auch mani¬
feste Blutungen gewärtigen. Bei der Beurteilung des prophy¬
laktischen Wertes des Nachweises okkulter Blutungen ist
wohl der Umstand von besonderer Wichtigkeit, daß man
gar häufig Mageinsaft und Darminhalt zu Gesicht bekommt,
deren makroskopisches Anssehen nicht nur nicht für das
Vorhandensein von Blut, sondern direkt dagegen spricht.
Wer viele solche Untersuchungen a.uszuführen Gelegenheit
hat, den wird in solchen Fällen der positive Ausfall der
Aloin- oder einer d.er anderen Hämatinprobeii wohl kaum
überraschen. Und doch müssen wir uns in solchen Fällen,
was unser therapeutisches Vorgehen betrifft, ebenso sehr
nach dem Vorhandensein solcher Blutungen richten, als
nur irgend bei einer manifesten Blutung.
Der Nachweis von Blut im Magensafte oder irn Kots
spricht für die Gegenwart eines mit einer Ulzeration ver¬
bundenen Prozesses. Da nun das Karzinom sehr rasch
zur Entwicklung solcher uizerativer Prozesse führt, bei
welchen eben bloß minimale Blutungen zustande kommen,
so hat der Nachweis der letzteren in bezug auf die Dia¬
gnose des Karzinoms hauptsächlich nur in negativern
Sinne eine Bedeutung, indem — wie dies Boas, A. v. Ko-
ränyi und andere betonen — derjenige auf Krebs ver¬
dächtige ball, in welchem eine wiederholt auf okkulte
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 20
öOU
rniilutig goriclitete llnl ersuch uiip; l)estän(lig negativ ausfällt,
mit großer Wahrsclieiiilielikeit kein Krebs ist.
Erwägen wir di(i IJeileuLung nur dieser drei Unler-
sncluingsinetliotlen, so müssen wir wohl anerkennen, daß
auf dem (ielhete der Krehsdiagnose jedes dieser Verfahren
einen Fortschritt bedeutet. Doch können wir leider der
frage, was wohl diese Untersuchungsmetlioden für die Früh¬
diagnose dc-s Magenkrebses ^yert sind, ziemlich pessimistisch
begegnen. Ausnahmsweise A\ird es wohl mal Vorkommen,
daß es uns mit Hilfe der einen oder anderen neueren Me¬
thode gelingen wird, den Magenkrebs in einem Stadium zu
diagnostizieren, wo ein radikaler chirurgischer Eingriff noch
einen dauernden Erfolg erzielen kann; doch wie es von
Boas mit Bücksicht auf die okkulten Blutungen vollkommen
richtig ist, zu behaupten, daß solche iVusnalimserfolge viel
mehr von den Launen eines günstigen Zufalles abhängig,
als das Resultat eines zielbewußten Vorgehens sind, so
läßt sich mehr oder weniger wohl das gleiche im Hinblicke
auf sämtliche übrigen Untersuchungsmetlioden sagen, in¬
sofern e wir nämlich eine Frühdiagnose im strengen Sinne
des Wortes uns vor Augen halten. Bemerkenswert ist eine
von Boas in der letzten Zeit mitgeteilte Statistik. Unter
243 k rebskranken Fällen gelangten GO, also 24-7 Uo, inner¬
halb tier ersten tlrei Alonate seit Beginn der Beschwerden
zur Beobachtung und Behandlung; und unter diesen kmii
es bloß in drei Fällen zum radikalen Eingriffe der Re¬
sektion.
Die Gründe, weshalb die Frülidiagnose des Magen¬
krebses heute noch eine ziemlich triste Perspektive bietet,
sind hauptsächlich in zwei Umständen zu erblicken. Ver¬
gleichen wir die neueren, als wertvoll erwiesenen Unter¬
suchungsmethoden (Salomons Probe, Giuziiiskys Ver¬
fahren, okkulte Blutungen, Albumosurie) mit den älteren,
schon eingeltürgerten (Nachweis von Alilclisäure, Mangel
an freier Salzsäure, Gegenwart von Boas-Opp ler sehen Ba¬
zillen), so zeigt sich als eine sämtlichen Methoden gemein¬
same bedauerliche Bedingung, daß am Karzinom bereits
sekimdäre Vorgänge Platz gegriffen haben. So annonciert
uns der Nachweis von Milchsäuregärung, die Anwesenheit
der Boas-Opplerschen Bazillen eine gestörte Magemnoti-
iität; die Salomonscbe Probe und der Nachweis oldmlter
BlutuiLgen, das Vorhandensein eines ulzerativen Prozesses;
die Albumosurie tritt wahrscheinlich bloß' dann auf, wenn
der karzinomatöse Prozeß bereits den Gesamtstoffwechsel
alteriert hat. Der zweite Umstand, der uns erklären kann,
daß wir in der Frage der Frühdiagnose des Magenkrebses
selbst für die nächste Zukunft nicht die günstigsten Aus¬
sichten haben — hierauf hat meines Vvhssens bisher bloß
Boas IhngeAviesen ist die Tatsache, daß das Stadium,
in weichem die frühzeitige Erkemiung des Alaigeirkrebses
noch zu einer radikalen Entfernung führen könnte, meistens
klinisch vollkonunen latent ist. Die Verdauungsstörungen,
weldie das Anfangsstadium des Karzinoms begleiten, pflogen
den Kranken w'ohl selten zu belästigen; sind die Klagen
des Kranken dagegen bereits heftiger und dauernder ge¬
worden, dann schreitet die krebsige Degeiieralion wohl schon
rasch vorwärts. ' ' ’ ' 4 ■
Haben unsere diagnostisfdieir.Verfabrr;H.,pn Laufe der
letzten Jahre mit Rücksicht auf deii) Ahigeiijkrebs wobl eine
ziemliche Bereicberung erfahren, so konnten sie keineswegs
jene Schwierigkeit beseitigen, welche'B r i n to n vor mehreren
Dezennien in den klassischen Worten ausgedrückt hat:
,, Obscure in its symptoms.“ Möchte doch .J. C. Hemmeters
vor kurzem geäußerte Ansicht, diuß wir auf dem Wege der.
bio(diemischen Fntersuchung des Blutpiasmas und der Blut-
körp('rchen binnen kurzem daJiiii gelangen würden, die noch .
vorhamlenen l)edeulendeii Schwierigkeiten auf diesem Ge-!
bieP' zu überwinden, sich baldigst als berechtigt erweisen.
lieber den Einfluß der Säuglingsernährung auf
die körperliche Rüstigkeit der Erwachsenen
nebst Bemerkungen über Stilldauer.
Von Dr. Josef K, Friedjuiig.
Die allerorts aufgenoimnene, namentlich von den
Kinderärzten geförderte Propaganda für die natürliche Er¬
nährung des Säuglings bezieht ihre überzeugejiden Argu¬
mente vor allem aus den Erhebungen über die Säuglings¬
sterblichkeit,. die die Ueberlegenheit der Alutterbrust über
jede andere Methode unwideiTeglich dartun. Dazu kommt
die Einzelerfahrung des Praktikers, der das Brustkind meist
schon an seinem berzerfreuenden Ilabifus erkennt,, zum
Unterschiede vom klaschenkinde, das häufig die Zeichen
mannigfacher Ernährungsschäden aufweist. Wie sich aber
das Schicksal der beiden Typen weiter entwickelt, nachdem
das unnatürlich ernährte Kind alle Klippen des Säuglings¬
alters umschifft hat, ob die Fährlichkeiten des ferneren
Lebens den anfangs so charakteristischen Unterschied all¬
mählich verwischen oder ob das Flaschenkind für sein
ganzes Leben mit dem Male der Mbiderwertigkeit behaftet
bleibt, darüber sind bisher mehr tendenziöse Vermutungen
als verwertbare Beol)achtungen geäußert worden. Was ich
in der Literatur .ermitteln kminte, dreht sich eigentlich fast
immer nur um die eine Alitteilung Alonots, aus dem
Jahre 1874, daß sich im ackerbautreibenden Arondissement
Chateau Chi non, in dem wegen ausgedehnter Ammen¬
industrie den einheimischen Kindern die Aluttermilch vor-
enthalten wird, auch in den späteren LebensalteTii die
mangelhafte Säuglingspflege noch verrät, ln den zehn Jahren
1860 bis 1870 sind dort von 5374 Rekruten 31 Vo als un¬
tauglich befunden worden, in dem industriellen Arondisse¬
ment Nevers, ohne Ammenindustrie dagegen nur 18®/o. Das
Alittel in 1 rankreich ist HU/o. AI o no t kann für diesen auf¬
fallenden Unterschied nur zwei Ursachen angeben: das
Unterlassen des Selbstslilleiis und die zeitweilige Auswan¬
derung der AIütterA) Die von Klose (Archiv für Kinder¬
heilkunde, Bd. 45, Heft 3 und 4) neuerdings in der gleichen
Sache zitierten Autoren Schloßmann und Prinzing
scheinen, so weit ich sehen konnte, nur bei der Berliner
Ausstellung 1906 Angaben ähnlichen Spines gemacht zu
haben. Dagegen bezieht sich Prinzing in seinem jüngst
erschienenen Handbuch der medizinischen Statistik auf
A. V. Vogel, der in einer im Jahre 1905 erschienenen Arbeit
über die wehrpfliebtige Jugend in Bayern ähnliche Schlüsse
zieht wie AI o not.
Verweilen wir einen Augenblick bei diesen AngaJien!
Das Ergebnis der militärischen Assentierung ist gewiß mit
einer ganzen Reihe von Fehlerciuellen behaftet: Der vorher
festgestellte Alannschaftsbedarf, das Subjektive im Urteile
bei einer nur oberflächlicben Untersuchung, die Steigerung
dieses Fehlers bei der gleichzeitigen Tätigkeit verschiedener
Assenlkonimissionen in verschiedenen Bezirken, die weit¬
verbreiteten Versuche, der Dienstpflicht zu entgehen. Dazu
kommt, daß wir nicht erfahren, wie viele denn unter den
Nichtassentie|’tejti etwa doch Brustkinder waren, und ob
nicht noch ancfqrä'Einflüsse auf die Bevölkerung von Chateau
Chinon oder Oberbayern depravierend wirkten neben der
Stilhiot im erMbh Lebensjahre. Es ist doch zu vermuten, daß
die Ammenindustrie z, B. iiur in einer armen Bevölkerung
solche Ausdehnung gewinnen kann. Wemi also die dort be¬
sprochenen Assentieruiigscr^^ebnisse auch sO' krasse Unter¬
schiede zeigen, daß man '"binßh Z.uf^Bl nicht leicht an¬
schuldigen kann, so muß doch zugegeben worden, daß solche
Angaben dringend weiterer Bestätigungen liedürfen, um vor
einer Vpraussetzungslosen Kritik bestellen zu' können.
Der idealen Forderung könnte nüA' eihd' Ujnias-
sendc Baiimicifoi'schun g über den G e sani ts ta t'us
- fl
‘b Zitieit nach Pfeiffor in Gerhardts Handbuch für Kinder¬
heilkunde. I. Die KinderslerblichkeiL
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
einer großen Zahl von Individuen von minde-
siciis 14 Jahren genügen, die nach dein Abschluß
der 11 r ii s t- o d e r F] as c Ii euer näh r u n g oh ne wesent¬
liches toning n liter gün sti gen Verhall niss e n sich
weiter entwickelten. Das kann ein einzelner nicht
leisten. Ich ergriff daher gerne eine Geleigenheit, die auch
auf anderem Wege einen hescheidenen Beitrag zu der hier
behandelten Frage an etwas verläßlicherem Materiale ge¬
winnen ließ.
Der größite Arbeitertiirnverein von Wien, der unter
einer zielbe wußten Leitung steht, hält alle Jahre unter den
strengsten Kautelen Leistungsprüfungen ab. Eine Reihe so¬
genannter volkstümlicher Uelyungen und eine weitere Reihe
von oft geübten Geräteübungen, im ganzen 18 Aufgaben,
werden von jedem Türner verlangt und von einem unab¬
hängigen Richterkollegium nach Türnerart mit Punkten
klassifiziert. So sollen die turnerischen Leistungen
und Fortschritte des Vereines und der einzelnen Türner
kontrolliert werden. Diese Prüfungen benützte ich zu einer
Umfrage nach verschiedenen Richtungen, namentlich auch
nach der Ernährung im Säuglingsalter. Der Zweck der Um¬
frage wurde den Turnern erklärt, ihre Gewissenhaftigkeit
eindringlich herausgefordert, und in der Tat antworteten
viele erst, nachdem sie daheim Erkundigungen eingezogen
.hatten, andere erklärten, keine zuverlässige Angabe machen
zu können. Folgendes waren die Gründe, die mir ein so^ ge¬
wonnenes Material besonders schätzenswert erscheinen
ließen: Hier hatten wir keine oberflächliche, höchst subjek¬
tive Beurteilung des Körperzusfandes, sondern eine gleich¬
mäßige, mannigfaltige Prüfung von physischen Leistungen;
allerdings ist auch" da die Klassifizierung mit Punkten ein
subjektives Moment, da sie aber nach einheitlichen Grund¬
sätzen und immer von denselben Urteilern geschieht, so
vermindert sich die F'ehlerbreite. Dann wird hier keine so
unnatürliche Scheidung in Taugliche und LIntauglicdie vor¬
genommen, sondern das Prüfungsergebnis mit seinen Ab¬
stufungen von der besten bis zu der schwächsten Leistung
spiegelt die natürlichen Verhältnisse viel getreuer wider.
Ferner wird hier die individuelle Leistung mit der indi¬
viduellen Ernährung im Säuglingsalter verglichen, während
bei den Assentierungen nur Prozentzahlen, aus großem Ma¬
teriale gewonnen, gegeneinander gehalten werden. Ein
weiterer Vorteil schien mir in der Aehiilichkeit der wift-
schaitlichen Verhältnisse zu liegen, in denen die Prüflinge
leben, meist qualifizierte Arbeiter und kleine Beamte, so
daß krasse Unterschiede hier nicht so ins Gewicht fallen
wie etwa bei der Assentierung der allgemeinen Wehrpflicht.
Selbstverständlich sind meine Zahlen nur klein und wollen
nichts weiter sein, als der Anfang einer exakteren Sammel¬
forschung, zu der ich gerne die. Anregung gegelien hahen
möchte.
Die PrüRmg und Umfrage erstreckte sich auf 155
Turner. Davon sind nach ihren Angaben 100 längere oder
kürzere Zeit aiusschliießlich mit der Brust genäbrt worden,
1 eiliielt neben der Brust Zukost, 13 wuchsen lieipler Flasche
heran, 41 konnten keine verläßlichen Angaben machen.
Wenn man alle diese noch den Flaschenkindern zurechnen
will, wofür ja eine ‘gewisse psychologische Wahrscheinlich¬
keit spricht, so machen die reinen Brustkinder 64-5 ®/o aus,
eine nicht gerade ungünstige Zahl, wobei allerdings zu ber
denken ist, daß die Stillzeit in einzelnen Fällen nur IV2 bis
2 Monate betrug.
Die beste turnerische Leistung erzielte 49 Punkte,
die schwächste einen Punkt. Ich teilte danach die Turner
■in drei Kategorien : die guten mit 30 bis 49 Punkten, 33 an
der Zahl, die mi;ttehnäßigen mit 15 bis 29V2 Punkten zählten
66 Älann, die schlechten mit 1 bis 14 V2 Punkten, im ganzen
56 Mann. Lhrd nun war zu ermitteln, welchen Anteil diese
Kategorien an der Brusternährung hatten, nicht nur hin¬
sichtlich der Za, hl der Gestillten, sondern auch der Zahl
der Stillmonate. Da ergaben sich denn folgende Verhältnisse
(Tafel 1) :
fiOl
Tafol 1.
Kategorie
Davon
wurden als Säuglinge
genährt mit
•S
S-2
XI rt
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milcli
Fla¬
sche
Unbe¬
kannt
s 2
d
(S
E E
cfi S
im
Dnrc-h
schnitte
1
Insgesamt
155
100
1 •
13
41
6i.-5
731
7-3
6
Gute Turner
H3
24
—
1
8
72
240
10
9—10
Mittelmäßige
Turner
G6
44
—
7
15
66
289'5
6-6
3
Schlechte
Turner
56
32
1
5
18
57
201 -h
6-3
3
Beste Turner
11
10
—
—
1
91
72
7-2
6
Schlecht. »
11
5
—
1
5
45-5
38
7-6
8
Von den 33 guten Turnern waren demnach 24 Brust¬
kinder, also 72^/0. Sie waren insgesa,mt 240 Alonate an der
Brust, das sind im Durchschnitte zehn Monate oder, wenn
wir die Mittelzahl nach Kräpelin^) als exakter vorziehen,
neun bis zehn Monate. Mittelmäßige Türner gab es 66;
davon waren 44 oder in Prozenten 66 an der Brust g'O-
nährt. Ihre Stilldauer umfaßte 289-5 Monate, so daß im
Durchschnitte auf einen Mann 6-6 Stillmonate, entfallen.
Das Zahlenmittel beträgt aber nur drei Monate. Von den
sclilechten Turnern, 56 an der Zahl, waren nur 32 Brust¬
kinder, das sind 57 0/0. Die Slilldauer dieser 32 betrug im
ganzen 201-5 Monate, es entfielen also auf einen 6-3 Monate
im Durchschnitte. Die Mittelzahl betrug auch hier drei
Monate.
Wir sehen also ein Ergebnis zutage treten, das den
Vorkämpfern natürlicher Säuglingsemährung gewißi Freude
bereiten kann. Weist die Gesamtzahl der geprüften Turner
einen Prozentsatz von 64-5 Brustkindern auf und entsprechen
die mittelmäßigen Turner mit ihren 66”/o natürlich Ernährten
diesem Durchschnittswerte recht gut, so erheben sich die
guten Turner mit ihren 72Ao nicht unwesentlich über diesen
Durchschnitt, während die schlechten Turner mit ihren 57 ^/o
weit unter ihm bleiben. Diese Unterschiede werden aber
noch krasser, wenn wir unter den Gestillten schlechtweg
noch Umschau halten nach der Stilldauer: alle 100 an der
Brust Genährten erfreuten sich dieser Wohlta.t zusammeai
731 Monate, im Mittel 7-3 oder nach der exakteren Alethode
6 Monate. Die 24 guten Turner aber allein nahmen fast ein
Drittel der Stillzeit, 240 Mona,te, für sich in Anspruch, so-
daß auf einen von ihnen 10 oder ge.nauer 9 bis 10 Still¬
monate entfielen. Die 44 mittelmäßigen Turner waren nur
mit 289-5 Mona.ten beteiligt, einer also im Mittel mit 6-6
oder richtiger mit 3 Monaten. Und die 32 schlechten Turner
gar sahen auf nur 201-5 Stillmonate zurück, sO' daß einer
im Mittel mit 6-3 oder wieder genauer mit 3 Monaten zu¬
frieden sein mußte. Wir sehen .also, daß unter den guten
Turnern nicht nur relativ die meisten als Säuglinge natür¬
lich genährt worden waren, sondern daß diese Ernährung
auch zumeist in ausreichendem Maße geschah, daß dagegen
den ahnehmenden turnerischen Leistungen nicht bloß immer
weniger Natüiiiichgenährte entsprechen, sondern daß auch
diese vielfach nur durch allzu kurze Zeit der Mutterbiaist
teilhaftig wurden. In beiden Beziehungen erkennen wir also
eine gleichsiimig abfallende Linie, ihre Kombination kann
nur eine Verstärkung der supponierten IVirkimg zur Folge
haben. In der letzten Zeile der Tabelle wurden noch die
Daten der 11^) besten Türner mit 37 bis 49 Punkten zu-
h Diese Mittelzalil wird erhalten, wenn man alle zugehörigen
Posten in aufsteigender Reihe neben einander stellt und die Zahl auf¬
sucht, welche von beiden Zahlenreihenenden gleich weit entfernt ist.
Man macht sich so von einzelnen abnorm hohen oder niedrigen Werten
unabhängig.
h 11 deswegen, weil bis dorthin eine fast lückenlose Reihe von
Angaben über die Säuglingszeit reicht.
Nr. 20
j02 wiener klinische WOCHENSCHRIFT. 1907.
sammengefaßit und den 11 schlechtesten mit 1 l)is dVs Punk¬
ten gegeniibergestellt: hier nur 5 Brustkinder unter 11,
dort doppelt so viele. Die Stilldauer ergibt keinen nennens¬
werten Unterschied. Bei. der Kleinheit der Zahlen ist diese
(Jegenüberstellung natürlich von mehr agitatorischem als
wissenschaftlichem Werte .
Ich bin weit entfernt, die Bedeutung dieser kleinen
Umfrage zu überschätzen und habe mir selbst alle wich¬
tigeren Einwände gemacht. Vor allem sind die verarbeiteten
Zahlen viel zu klein, um das Spiel des Zufalls auszuschalten.
Darum ist es notwendig, weiteres Material dieser Art zu
sammeln. Ferner aber, und das ist noch wichtiger, ist die
turnerische Leistungsfähigkeit gewißi von mannigfachen Fäk-
toren abhängig, die neben der Säuglingsernährung nicht
vernachlässigt werden dürfen. So bemühte ich mich also,
einige andere biographische Daten zu gewinnen, die hier
von Bedeutung sein könnten. Von ausschlaggebender Wich¬
tigkeit ist vor allem, wie lange einer schon das Turnen
pflegt; man kann erst nach mehrjähriger Entwicklung gute
Leistungen erzielen. So sind auch in meinem Materiale
die alten Turner zumeist unter den guten zu finden, während
die schlechten auch zumeist junge Turner sind. Der Zufall
spielt aber dabei nur scheinbar eine Rolle. In Wahrheit
fallen von den neu eingetretenen Turnern immer wieder
viele nach kurzer Zeit unbefriedigt ab, weil sie in dieser
körperlichen Betätigung keine Befriedigung finden und weil
sie zu geringe Fortschritte machen und nur eine kleine
Truppe harrt treu aus und rückt allmählich unter die guten
Turner vor, eine einem jeden Turner bekannte Auslese der
Rüstigsten. Meine Erhebung ergäbe also, daß sich der Abfall
vornehmlich aus früheren Flaschenkindern rekrutiert, so
daß der Prozentsatz der Brustkinder mit dem turnerischen
Alter und damit im allgemeinen mit der turnerischen
Leistung steigt. Diese Betrachtung spricht also gleichfalls
im Sinne einer größeren Tüchtigkeit der Brustkinder.
Bei dieser Erörterung wird auch verständlich, warum
die guten Turner durchschnittlich an- Jahren die ältesten
sind, im Durchschnitte 24 Jahre gegen 22^/ii bei den mittel¬
mäßigen und 19-3 bei den schlechten Turnern.
Ich habe ferner nachgefragt, wie lange etwa jeder
Turner auf dem Lande gelebt hat, weil nach Prinzing
tatsächlich die ländlichen Bezirke bessere Assentierungs¬
ergebnisse liefern als die städtischen. Da zeigte sich, daß
von guten Turnern 30% durchschnittlich 7^/5 Jahre, von
den mittelmäßigen 12% durchschnittlich Jahre, von
den schlechten 25% durchschnittlich 10^/7 Jahre auf dem
Lande gelebt haben. Wenn also die kleinen Zahlen auch
keine sicheren Schlüsse zulassen, — keinesfalls sprechen
die Zahlen in dem Sinne, als wäre das mehrjährige Land¬
leben von einem erheblichen Einflüsse auf die turnerischen
Leistungen.
Die Nachfrage nach dem Alkoholgenuß ergab, daß
sich 26 von den 155 Turnern als abstinent, 3 als starke,
126 als mäßige Trinker bekannten. Schon wegen der Un¬
bestimmtheit der zwei letzten Bezeichnungen ist ihre Ver¬
wertung nicht zu empfehlen. Immerhin darf man vermerken,
daß unter den 33 guten Turnern allein 9 abstinent sind.
Auch Erkundigungen über das sexuelle Verhalten ergaben
nichts, was für unsere Frage von Belang wäre.
Auf frühere Erkrankungen konnte sich die Umfrage
leider ebensowenig erstrecken wie auf Verhältnisse der Here¬
dität. Von den ökonomischen Lebensbedingungen wurde
nur der Beruf jedes Türners notiert. Dabei, ergaben sich
keine irgendwie bedeutsamen Unterschiede in den von mir
gebildeten Gruppen, die qualifizierten Berufe sind da ziem¬
lich gleichmäßig verteilt; allerdings ist damit nicht ausge¬
schlossen, daß mancher der Turner in früheren Jahren unter
schweren Entbehrungen zu leiden hatte. Alle diese Betrach¬
tungen aber konnten den früher gewonnenen Eindruck, als
wären die Turner im allgemeinen leistungsfähiger, die als
Säuglinge an der Brust lagen, nicht abschwächen.
Weim ich noch einen Augenblick bei der Stilldauer
verweile, so ergeben sich einige Aufschlüsse über Still¬
sitten in unseren Ländern, die ich nicht übergehen möchte,
obgleich sie nicht unmittelbar zum Thema gehören. Die
Tabelle 2 zeigt die Stilldauer nach den mir gewordenen An¬
gaben aufsteigend geordnet.
Tabelle 2.
Stilldauer in
Monaten
IV2
2
3
5
6
8
9
10
11
12
13|l4jl5
16
I8I22
2436
Zahl der
zugehöiigen Fälle
2
3
43
1
7
4
5
5
3
19
1
1
1
1
1
1
1
1
Die größte Ai^^ahl der Kinder wurde drei Monate ge¬
stillt; gewiß nicht mit Unrecht scheint im Volke vielfach
die Meinung zu gelten, im ersten Vierteljahre brauche das
Kind die Brust am dringendsten. Der nächste Zeitpunkt
häufiger Abstillungen ist das Ende des ersten Halbjahres,
sieben Fälle. In den folgenden Monaten ist das Entwöhnen
nicht selten, aber erst am , Ende des ersten Jahres kommt
wieder eine große Zahl, 19. Noch längere Stilldauer, bis
zu 36 Monaten, kommt dann nur noch vereinzelt vor. Be¬
merkenswert ist immerhin, daß die von uns Aerzten im
allgemeinen empfohlene Stilldsuer von etwa neun Monaten
in der Bevölkerung wenig praktiziert wird.
Die geschichtliche Entwicklung der Lehre vom
Basalzellenkrebs.
Von Dr. Hei'inaiiii Coeiicu, Assistenten der königl. chirurgischen Univer¬
sitäts-Klinik in Berlin.
Der auf dem 36. deutschen Chirurgenkongreß (Berlin 1907)
von C 1 a i r m o n t - Wien gehaltene Vortrag über Diagnose und
Therapie des Basalzellenkrebses und die sich daran anschließende
Diskussion gibt mir Veranlassung, auf die Geschichte des Basal¬
zellenkrebses näher einzugehen.
Im Jahre 1900 (Zieglers Beitr., 28. Bd.) wies Krem¬
pe eher auf eine drüsenartige Form des oberflächlichen Haut¬
krebses hin, die bis dahin, wenn auch nicht ganz unbekannt,
doch nicht in der richtigen Weise gewürdigt war. Diese Arbeit
wurde im allgemeinen mit Verständnis aufgenommen und die be¬
schriebene Krebsform von da ab als K r o m p e c h e r scher Krebs
bezeichnet. In einer späteren Monographie (Jena 1903) baute
Krompecher die mikroskopische Anatomie und die klinischen
Merkmale dieser Basalzellengeschwülste mehr aus und ging darin
auch wohl etwas zu weit.
Inzwischen hatte sich in der Onkologie die Lehre von den
Endotheliomen, die in ihrem Ursprung weiter zurück lag, ziemlich
rein auskristallisiert. Sie hatte sich langsam aus der Lehre von
den Zylindromen (Billroth, 1854), namentlich seit der Arbeit
Kösters in dieser Frage (1867), entwickelt, obwohl die Be¬
zeichnung „Endotheliom“ nicht von Anfang an bestand, sondern
erst allgemeiner wurde, seit Golgi ein Psammom der harten Hirn¬
haut so benannte (1869). Von da ab wurden die Endotheliome immer
häufiger. Diese Endotheliomliteratur entstand hauptsächlich auf
Grund der Speicheldrüsen- und Gaumentumoren. (C. Fried¬
länder, Virchows Archiv 1876; Kaufmann, Langen-
becks Archiv 1881 ; Felix Franke, Virchows Archiv 1890 ;
Nasse, Langenbecks Archiv 1892; Marchand, Zieglers
Beiträge 1893; v. Ohlen, ebenda; Eisenmenger, Deutsche
Zeitschr. f. Chirurgie 1894; Rudolf Volk mann, ebenda 1895 u. a.)
Als charakteristische Zeichen der Endotheliome galten ihre ab¬
gekapselte Umgrenzung, ihr langsames Wachstum, ihr strang¬
artiger, oft drüsenartiger Bau, ihr Mangel an Drüsenmetastasen,
ihre hyaline Entartung.
Diese Lehre übertrug man nun auch auf die Hautgeschwülste.
Eine der ersten dieser Arbeiten stammt von H. Braun (Langen¬
becks Archiv 1892). Mulert beschrieb 1897 (Langenbecks
Archiv) eine multiple Geschwulstform der Kopfhaut, die drüsen¬
ähnlich gebaut war, aber für ein Endotheliom gehalten wurde;
und P u p o V a c bildet in seiner Arbeit über die Histologie der
sogenannten Hautendotheliome (Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1898)
Geschwülste mit hohen zylindrischen Drüsenzellen als Endothe¬
liome (!) ab. Der Japaner Tanaka (Deutsche Zeitschr. f. Chir.
1899) betrachtet als Merkmale der Hautendotheliome das pilz¬
förmige Wachstum, den Sitz nicht an den Schleimhäuten oder
deren Uebergängen. So hielt man denn lange Zeit fast alle kuge¬
ligen, von normaler Haut überzogenen und alle tief liegenden,
leicht verschieblichen Gesichtstumoren von gutartigem Charakter
für Endotheliome. Diese Annahme und Lehre hielt sich fa,st hift
Nr. 20 WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. : 6üji
heute allgemein. Nach und nach ist aber von dem großen hypo¬
thetischen Gebäude der Endotheliome vor unseren Augen manches
abgebröckelt.
Es ist ein großes Verdienst der B o r r m a n n sehen Arbeit
(Zeitschr. f. Krebsforschung 1904), daß sie uns das Wachstum
der kleinen Hautkarzinome an der Hand zahlreicher^ Serien klar
vor Augen führt. Dies sind aber gerade die Hautgeschwülste,
die man für Endotheliome nahm und Bi» rr mann stimmt in der
Hauptsache, nämlich der epithelialen Natur dieser Tumoren, völlig
mit Krompecher überein, wenn auch die Autoren in den
Details der Histogenese auseinandergehen. Während nämlich
Krompecher diese Geschwülste durch kontinuierliches Tiefen¬
wachstum der basalen Zellen des Rete Malpighi erklärt und dabei
der embryonalen Gesichtsspaltenbildung eine ätiologische Rolle
zumißt, erklärt Borrmann alle diese Geschwülste aus em¬
bryonal ins Korium versprengten Basalzellen und schlägt deshalb
hiefür den Namen Koriumkarzinom vor; auch er glaubt der
fötalen Gesichtsspaltenbildung eine ätiologische Rolle für ihre
Entstehung zuerkennen zu müssen.
Seit ich in die v. Bergmann sehe Klinik eingetreten bin
(1901), habe ich auf die Geschwulstgruppe der Endotheliome,
namentlich auf die der Gesichtshaut, besonders geachtet. Es
wurde damals im allgemeinen ein Endotheliom im Gesichte
diagnostiziert, wenn man einen gutartigen, kugeligen, von
normaler Haut überzogenen Tumor von glatter glänzender Ober¬
fläche vor sich hatte. Auf Grund vielfacher Studien an diesen
Geschwülsten — besonders an kleinen, nicht ulzerierten — bildete
ich mir die Ansicht, daß diese sogenannten Endotheliome
fälschlich ihre Bezeichnung trügen, daß es im Gegenteile Epi¬
theliome seien und daß sie mit den epithelialen Anhangsorganen
der Haut — den Talgdrüsen, Schweißdrüsen und Haarbälgen —
einen genetischen Zusammenhang hätten ; daß sie also ähnlich
wie die mikroskopisch ihnen ähnlichen Parotistumoren, deren
endotheliale Auffassung inzwischen durch H i n s b e r g (Deutsche
Zeitschr. f. Chir. 1899) und R i b b e r t (Geschwulstlehre 1904)
erschüttert war, zu den Hautdrüsen ein ähnliches Verhältnis
hätten, wie die Parotistumoren zur Ohrspeicheldrüse. Für
manche Gaumentumoren, die man wegen ihres submukösen ab¬
gekapselten Sitzes für Endotheliome hielt, hatte ich vorher schon
die epitheliale Genese erwiesen und die Bezeichnung „Adeno¬
karzinom“ gewählt. (Langenbecks Archiv 1904.)
Ich hatte meine Studien über die ,,Hautendotheliome“ noch
nicht ganz abgeschlossen, als die zitierte hochbedeutende Arbeit
Borrmanns erschien. Ich war mit ihm in der epithelialen
Auffassung dieser Tumoren völlig einig; er suchte aber die
Genese ausschließlich auf embryonalem Gebiete und nahm
embryonale Versprengung von Basalzellen oder zu Drüsengewebe
differenzierten Basalzellen in das Korium an, die bei der Drüsen¬
oder Haarbalgbildung oder beim Schlüsse der fötalen Gesichts¬
spalten vor sich gegangen wäre.
Am 13. März 1905 konnte ich in der Freien Vereinigung
der Chirurgen Berlins eine größere Anzahl dieser fälschlichen
Endotheliome demonstrieren alsZystepitheliome, Trichoepitheliome,
einfache und drüsige oder zystische Basalzellenkrebse und
Zylindrome. (Langenbecks Archiv, Bd. 76.) Die Basalzellen¬
wucherung war für alle diese Tumoren das Entscheidende, mit
dem Oberflächenepithel des Gesichtes hatten sie nichts zu tun ;
sie trieben im Gegenteil dasselbe verdünnt vor sich her. ln
weiteren Arbeiten (Bericht über poliklinische Geschwülste,
Langenbecks Archiv 1905, Bd. 78, und Zur Kasuistik und
Histologie des Hautkjebses, Langenbecks Archiv 1906, Bd. 78,
und in einer Demonstration in der Berliner medizinischen Ge¬
sellschaft, referiert in Berliner klin. Wochenschrift 1906, Nr. 28)
konnte ich weitere Fälle dieser Basalzellengeschwülste vorführen,
von denen die nicht ulzerierten die histologischen Verhältnisse
am klarsten vor Augen führen.
So hatten wir allmählich in der v. B e r g m a n n sehen
Klinik die übliche Lehre von den Gesichtsendotheliomen ganz
fallen gelassen und uns gewöhnt, diese Geschwülste als Epi¬
theliome zu bezeichnen, als Basalzellengeschwülste, an deren
Entstehung wir den epithelialen Anhangsorganen der Haut, den
Drüsen und Haarbälgen eine genetische Grundlage zuerkannten.
Wir haben auch andere als ,, Endotheliome“ angesprochene
Tumoren in dieser Beziehung revidiert und deren histologische
Bezeichnung klargestellt.
G u 1 e k e konnte in der Festschrift für Exzellenz v. B e r g-
mann (Langenbecks Archiv 1906) eine Serie von sub¬
kutanen, leicht verschieblichen Geschwülsten des Gesichtes be¬
schreiben, die sich aus abgesprengten Keimen der Parotis oder
der Tränendrüse entwickelt hatten, dieselben Typen, die
Pupovac (1. c.) fälschlich als Endotheliome bezeichnet hatte.
Somit war es für mich eine willkommene Bestätigung, daß
C 1 a i r m o n t in dem erwähnten Vortrag hinsichtlich der Gesichts-
endotheliome zu ganz denselben Resultaten gekommen war und
auch fast dieselben Typen, wie ich, wieder gefunden hatle. Be¬
züglich der Histogenese blieb er auf dem Standpunkt Krom-
pechers, daß sie sich kontinuierlich aus wuchernden Basalzellen des
Rete Malpighi entwickelt hätten, stehen, während ich den Hautdrüsen ^
und seltener den Haarbälgen bei ihrer Entstehung eine ätiologische
Rolle einräume und jedenfalls annehme, daß die Basalzellenkrebse
subepithelial entstehen und die Verbindungen der Ausläufer dieser
Geschwülste mit den Basalzellen der Deckschicht der Haut, die
Krompecher als deren Ausgangspunkt betrachtete, sekundär
sind. Leitet man nun diese Basalzellenkrebse von fertig ent¬
wickelten postembryonalen Hautdrüsen oder Haarbälgen ab, so
muß man annehmen, daß infolge der Entdifferenzierung oder
Anaplasie die Drüsenzellen oder Haarbalgzellen sich wieder rück¬
bilden zu ihren Ausgangszeilen, das sind die Basalzellen; dabei
bildet ihre Wucherung häufig drüsenartige Hohlräume, kurz das
Zerrbild einer Drüse. Wenn man aber die Genese auf embryonalem
Geriet sucht, entsprechend der jetzt in der Onkologie herrschenden
Anschauung, so kann man mit Borrmann annehmen, daß sich
bei der Bildung der epithelialen Anhangsgebilde der Haut Basal¬
zellen aus dem Verbände auslösten und ins Korium verschlagen,
hiör zum Geschwulstkeim wurden. Im großen und ganzen ent¬
spricht aber auch dies dem Zerrbild einer Drüsenentwicklung,
denn diese ist in ihren primitivsten Anfängen charakterisiert durch
sprossendes Tiefenwachstum des Basalepithels ins Korium. Wir
können also auf jeden Fall sagen, daß der Basalzellenkrebs ein
Drüsenkrebs der Haut ist, deren drüsenartige Struktur ja auch
für die erste Bezeichnung Krompechers „drüsenartiger Ober¬
flächenkrebs“ bestimmend war. Es ist Tatsache, daß dieser Krebs,
der Basalzellenkrebs (Krompecher) oder das Koriumkarzinom
(Borrmann), auch tiefes Adenoidkarzinom genannt, der häufigste
Ki^bs im Gesicht ist und daß das Ulcus rodens meist diesen
Typus zeigt, wenn auch oft der drüsige Bau einem strangartigen
gewichen ist, was ja oft bei Tumoren der drüsigen Organe vor¬
kommt, z. B. auch beim Brustkrebs. Ob der Basalzellenkrebs mit
einer Störung in der Bildung oder dem Schluß der fötalen Ge¬
sichtsspalten zusammenhängt, ist fraglich. Dafür könnte sprechen,
daß diese Krebse im Bereich der schrägen Gesichtsspalte sehr
häufig sind. Anderes spricht dagegen. Die häufigste Störung in
dem Schluß der Gesichtsspalten spielt sich nämlich in der Spalte
zwischen äußerem und innerem Nasenfortsatz ab und führt dann
zur Hasenscharte. Nun müßte man, wenn die fötale Spaltbildung
eine ätiologische Rolle für das Entstehen der flachen Hautkrebse
spielte, auch im Bereich dieser Spalte häufig Basalzellenkrebse
sehen. Das ist aber nicht der Fall, Oberlippenkarzinome sind
selten.
Die Karzinome, die von der Deckschicht der Haut, dem
verhornenden Epithel, ausgehen, sind die Kankroide ; sie haben
keinen drüsenartigen Bau, zahlreiche Hornperlen und sind bös¬
artiger. Die Unterlippenkrebse, die Zungenkrebse, die Wangen¬
schleimhaut-Krebse, die Nasenschleimhaut-Krebse sind alles
Kankroide.
Natürlich gibt es zwischen den Kankroiden und Basalzellen¬
krebsen Uebergänge. Diese beiden Typen kann aber jeder
Mikroskopiker aus den Gesichtskarzinomen herausfinden.
Berlin, 14. April 1907.
{Referate.
Der Arzt.
Von Ernst Schweninger.
Frankfurt a. M. 1907, Rütten u. L o e n i n g.
Besprochen von Alex. Eraenkel.
Das Arztthema ist gerade häufig genug literarisch abge¬
handelt Wörden. Im Dämmerscheine des sinkenden Lebeustages,
wenn es Abend werden will, die Stimmung sich einstellt für rück¬
schauende Prüfung, das Bedürfnis nach ehrlicher Rechenschalt,
die des Lebens Summe und Lehre ziehen läßt, da haben Aeizte
seit jeher gerne zur Feder gegriffen, um sich über Sinn und Zweck
ärztlichen Wirkens zu äußern. Pts ist von recht verschiedenem
Werte, was in diesem Sinne niedergeschricben wurde.
Wenn aber der Mann seine Anschauungen über den ärzt¬
lichen Beruf vor der Oeffentlichkeit darzulegen sich entschlielh,
der den Vorzug hatte, eines Bismarcks Arzt zu sein, als solcher
dessen vertrautem Kreise anzugehören, so ist einem solchen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
Unternehmen von vornlicrein die allgemeinste Beachtung ge¬
sichert..
Der Schluß, daß hedeutende Menschen sich wieder nur von
hedeutenden Aerzten beraten ließen, ist zwar erfahmngsgemäß
durchaus nicht gerechtfertigt und die Bewertung des Arztes nach
der geistigen Hölie des Pat. gewiß itii allgemeinen nicht zulässig,.
Daß aber Bismarcks ärztlicher Berater eine scharf ausgeprägte
Persönlichkeit und durch eine geistige Eigenart ausgezeichnet er¬
scheint, die es ausschließt, ihn nach dem gewöhnlichen Durch¬
schnittsmaße zu beurteilen, dessen wird man — wenigstens hei
der Lektüre dieses Buches — schon auf den ersten Seiten ge¬
wahr. In diesem Falle stimmt also die Voraussetzung und der
Verfasser fesselt uns, auch ganz abgesehen von seinen Be¬
ziehungen zU seinem berühmten Klienten, sozusagen, ganz auf
eigene Kosten, nicht am wenigsten auch durch die vollendete
Beherrschung der Form der Darstellung.
iSchweninger will in dem ^Verhältnis' Arzt^ — Patient zu¬
nächst und vor allem Austausch und Betätigung von Humanität
sehen u. zw. dieser im wöilliclisten Sinne. Das istund bleibt für ihn
die Gnmdlage dieses Verhältnisses. Auf der einen Seite Schwäche,
hilflose Not, Betrübnis, Furcht und Schmerz, die sich mitzuteilen,
eine geängstigte Seele, die sich zu erschließen sehnen ;
auf der anderen Seite verständnisvolle Aufnahmsfähigkeit, durch
Anlage und Begabung vorbereitete, durch Erziehung und Er-
fahrang erworbene Fähigkeit und Kraft, der körperlichen und
seelischen Not des anderen abzuhelfen.
Nicht jedermann kann jedermanns Arzt sein und mit jedem
neuen Kranken ist dem lArzte auch eine neue Aufgabe gestellt,
in die er sich erst einzuleben hat. Er muß Verständnis für die
Individualität seines Kranken zu gewinnen verstehen und diesen
durch die freudige Einsicht, daß er an den richtigen Mann ge¬
kommen, dazu bringen, ihm sein Innerstes aufzutun, sich ihm
ganz anzuvertrauen, aus freier Entschließung, aus Ueberzeugung
sich ihm zu unterwerfen.
So wird der 'Arzt zum Herrn seines Kranken, zum Führer
seines Lebensschiffes, wie es der Steuermann auf offenem Meere
ist, der die Zeichen kennt, die auf Sturm deuten, und es durch
Erfalirung gelernt hat, sein Fahrzeug vor Schaden und Irrgang
zu bewahren. Um es auch bei wogender See dem sicheren Hafen
zuzuführen. ^
Freilich schließt diese Auffassung .des ärztlichen Berufes
und des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient jede Art von
Massenbehandlung aus; das ärztliche Wirken wird zur intim¬
sten Angelegenheit zwischen zwei Menschen, die für einander
gestimmt sind. Einem 'Arzte, der sich ein solches Maß von Ver¬
trauen Zu erwerben weiß, braucht auch um den Lohn nicht
hange zu sein.
Gestehen wir nur, daß die Formen und die Art ärztlichen
Wirkens, wie man sie heutigen Tages eingebürgert sieht, weit
entfernt sind von dieser idealen Gestaltung des Verhältnisses
Arzt — Patient. Wenn wir aber davon hören und lesen und hie
und da auch heute noch einem derartigen Verhältnisse begegnen,
dann winkt es wie aus alten Zeiten und in der Erinnerung
taucht der alte Hausarzt auf, der die Menschen auf all ihren
Lebenswegen begleitet, „vom ersten Bad bis zum Begräbnis“,
und über allem Wechsel der Beziehungen für seinen Kreis von
Schutzbefohlenen der Fels blieb, an dem Generationen Halt und
Stütze in allen Lebenslagen suchten und fanden.
Dieser menschlich schöne Typus ist in unserer Zeit durch
andere ersetzt worden. Der Arzt für viele und der Spezialist.
Behandlung von Krankheiten, Von Erkrankungen bestimmter
Körperteile und Spezialisierung nach bestimmten Heilme¬
thoden. Zumal die Entwicklung des Spezialistentums wird
vielfach als Fortschritt gepriesen, indem man darin den Ausdruck
der wissenschaftlichen Veiiiefung der Heilkunde sehen will. Das
mag ja bis zu einem gewissen Grade stimmen; zweifellos wird
Fertigkeit und Sicherheit durch Beschränkung auf ein begrenztes
Arbeitsgebiet gefördert und namentlich die wissenschaftliche For¬
schung kann der Kleinarbeit des Spezialisten nicht entbehren. Aber
ebenso klar ist es, wie sehr hiebei Erfahrung, Urteil und Leistungs-
fälrigkeit der Einseitigkeit zu verfallen Und das ärztliche Wirken
zur Ilandwerksniäßigkeit herabzusinken bedroht sind. Das gilt
in gleichem Maße für diagnostisches und tlierapeutisches Spezia¬
listentum, denn beide verstoßen gegen das individualistische
Grundgesetz ärztlichen Wirkens. Vom Ziele aber, Krankheiten
zu behandeln, sind wir noch recht weit entfernt und wir dürfen
uns auch die Bedenken nicht verhehlen, die in der Verfolgung
dieses Zieles liegen. Die Gefahr der Schablonisiening und Sche¬
matisierung, der künstlichen Schaffung von Systemen und
hiemit des Rückfalles in jene Zeiten, wo man die Krankheiten
als etwas dem Körper Fremdes betrachtete, ihnen besondere
Wesenheit zuschrieb und die Krankenbehandlung zum Kampfe
gegen die vermeintlichen Eindringlinge ausartete. „Krankheit“
ist — das müssen wir uns mit Schweninger gegenwärtig
halten — im Grunde genommen nur eine Abstraktion von Vor¬
gängen im Leben des Organismus, eine Vorstellung, der Ter¬
minus für einen Begriff, den das Bedürfnis geschaffen hat, nach.
Verständigung über eine große Anzahl in ihren Aeußerungen
und Wirkungen zum Teil ähnlicher, zum Teil verschiedener
Lehensvorgänge. Begriffe sind aber keine Angriffspunkte ärzt¬
licher Behandlung, behandeln sollen und können wir nur den
kranken Menschen.
Die Bedingungen für diese Aufgabe sind aber seit jeher
nahezu unverändert dieselben gehlieben; seit jeher hat sich der
Menschen tausendfaches Weh und Ach in denselben Formen
geäußert und diejenigen waren immer die berufenen Berater und
Helfer, die die Erfahrensten waren, das reifste „Wissen vom Leben“
hatten. Die wissenschaftliche Forschung 'hat uns dabei mächtig
gefördert — wer könnte dies leugnen! — aber nur insofern
hat sie den Arzt auch vor neUe Aufgaben und zu neuen Lösungen
dieser Aufgaben geführt, als sie die krankmachenden Bedingungen
genauer kennen gelehrt hat und hiemit auch die Mittel und Wege
wies, vor diesen zu schützen. Ist aber der Mensch einmal diesen
krankmachenden Bedingungen verfallen, ist er krank geworden,
dann steht der Arzt von heute vor denselhen, ewig gleich bleiben¬
den Situationen, wie sein beruflicher Vorfahre vor Jahrtausenden;
ihm stehen andere Erklärungen und Deutungen, aber im wesent¬
lichen keine anderen wirksamen Mittel zur Verfügung, um dem
kranken Menschen zu helfen, wie dem Hcilkünstler in grauer
Vorzeit. Mag die Mode in der Anwendung der Heilmittel und
Heilmethoden noch so wechseln, mehr oder weniger ist auch
das Allerneueste, womit wir unsere Kranken behandeln, in irgend¬
einer Fonn schon einmal dagewesen. Trotz aller vorgeschrittenen
Wissenschaft können wir nichts anderes tun, als in jedem ein¬
zelnen Falle die Angriffspunkte suchen, um das Kräfteverhältnis
der Organe und ihrer Funktionen zu regeln, hier ein Zuviel zu
mindern, dort ein Zuwenig zu mehren, um, wenn wir mit unserem
Latein zu Ende sind, wo es angeht, zum Messer zu greifen und
nach dem bekannten hiblischen Rezepte radikale Therapie zu
treiben.
Das letztere können wir allerdings heutzutage weit besser
und sicherer als je und daß wir das können, verdanken wir ge¬
wiß nur der Wissenschaft, es ist eine ihrer glänzendsten Errungen¬
schaften. Dürfen wir aber, ira Grunde genommen, eine solche
Therapie eine wissenschaftliche nennen ? Dürfen wir ihre Er¬
folge — so groß und erfreulich sie auch sind — als Heilungen
bezeichnen ?
Noch ehe es eine Wissenschaft gab und vor aller Ueher-
lieferung, in prähistorischen Zeiten, wurden kranke .Menschen
operiert.. Die Idee, das Auskunftsmittel, einen kranken Menschen
dadurch gesund machen zu wollen, daß man ihm einen offen¬
baren Krankheitsherd entfernt, gehört gewiß zu den überhaupt
allerältesten tlierapeutischen Einfällen. Sie entsprang, wie die
größte Mehrzahl u. zw. gerade der wirksamsten Heilmethoden,
teils instinktiven Handlungen, teils naiv empirischer Ueberlegung,
etwa so, wie man darauf kam, Feuer durch Wasser zu
löschen, den Durst durch Trinken zu stillen, einen bewußtlos
und hilflos Daliegenden durch allerlei äußere Reize zum Leben
zurückzUrufen u. a. m. Es wäre ein Leichtes für den medizinisclien
Historiker, den Ursprung fast unserer gesamten Therapie auf
diese reine Empirie zurückzu führen. Unser S treben ist es und
soll es sein, für all das die wissenschaftliche Grundlage zu
finden, um unsere Anordnungen zu ziel- und zweckbewußten zu
machen und darauf eine Lehre zu gründen, durch welche das
empirisch Erreichte mit der Wissenschaft in Einklang gebracht
werden kann und soll; kurz, das zu erreichen, was man seit
Nr. 20
605
WIENER KJ.INMSCHE WOejIENSCnRTFT..'1907.
jeher erstrcbL nml schon so oft erreicht zn hahen glaubte: eine
rationelle Heilkunde.
Hie Lehre, die Schuhneinnng, die ,, ratio“ ändert sich aber
im Laufe der Zeiten oft so rasch, daß man in einem Älenschenlehen
dem raschen Wechsel der wissenschaft'ichen Anschauungen kaum
irachkommen kann. Die wissenschaftlichen Gründe und Voraus¬
setzungen für die Anwendung kalter und warmer Umschläge sind
seit jeher immer wieder andere gewesen, das einzig bleibende im
Wechsel ist die Anwendung des Umschlages' und die Tatsache
seiner wohltätigen Wii'kung. Der eine Arzt verahreiclito seiner¬
zeit ein Abfühnnitlel, weil er eine „ahleitende“ Wirkung er¬
zielen wollte, der andere verordnet es heute, um den Blutdruck
herabzusctzen, der dritte, um damit toxische Substanzen aus
dem Köi-per zu entfernen — ein vierter aus der einfachen humani¬
tären Ueberlegung, daß den Leib offen zu halten, erfahrungsgemäß
kranken Menschen noch immer zum Vorteil gereicht hat. So
war es mit dem Aderlaß, den man noch übte, ehe man vom
Blutkreislauf, so war es mit der Trepanation, die man aus¬
führte, noch ehe man von der physiologischen Bedeutung des
Gehirns, geschweige denn vom Hirndruck auch nur eine Ahnung
hatte, so war es mit der Impfung, noch ehe man sich von
einer Lehre der aktiven oder passiven Immunität etwas 1 räumen
ließ und so war es fast mit jeder Art von Therapie.
Auch hier gilt das Wort; „Ist es der Sinn, der alles wirkt
und schafft? — • Im Anfang war die Tat!“ . Der Sinn ist
es’, den nachträglich unser KaUsalitätshedürfnis hinter den Dingen
sucht oder nachträglich mit mehr oder weniger Berechtigung
diesen hinzufügt. Die Vorgänge, ihre Beobachtung, die Erfahrung,
die ziel- und zweckbewußte Ausnützung der Erfahrung, die
Leistung, die Tat und ihr Erfolg, das sind die bleibenden Grund¬
lagen des ärztlichen Handelns, nicht die Wissenschaft, mit ihrem
wechselnden Inhalt und ihren strittigen Interpretalionen. Darum
ist auch das Ärzten nicht Wissenschaft, es hat vielmehr die
Bedeutung einer empirisch geübten Kunst, bei der es vor allem
darauf ankommt,, eine gegebene Aufgabe auf Grund einer durch
verständnisvolle Beobachtung erworbenen Erfahrung zweckent¬
sprechend zu lösen.
Wissenschaft betreibt der Anatom, der Physiolog, der Bak-
teriolog etc. ■ — der Arzt, der ausübende Arzt vollfübrt „Täten“,
er verwertet Erfahrungen, die aus der Beobachtung des Lebens
sich ergeben, zu Nutz und Frommen des kranken Menschen.
Die Wissenschaft bringt die Erläuterung für das in der Erfahrung
begründete äi’ztliche Handeln, sie soll diesem auch neue Ziele
und neue Wege weisen, um die Grenzen des Könnens möglichst
zu weiten — sic hat dies auch geleistet — trotzdem aber wurzelt
das eigentliche Ärzten derzeit noch in der naiven Empirie und
besteht in deren kunsl gerechter Uehung.
*
Der Gelehrte, der Mann der Wissenschaft, ergründet die
Voi'gänge in der Natur, der Künstler beobachtet sie, um sie für
seine Zwecke zu nützen. Das Ärzten ist eine aus der Be-
ohachtung schöpfende Kunstübung, vor allem schon deshalb, weil
im Begriffe selbst schon der Zweck entlialten ist. Der Arzt,
der sich etwas darauf zugute hält, vor allem ein ,, Wissenschaftler“
zu sein, verkennt die raison d’etre seines Berufes.
Es ist geboten, eine reinliche Scheidung vorzunehmen,
Grenzen aufzurichten, wenn man praktischen Zielen zustrebt und
sich bewähren will. Nur für die Leistungsfähigkeit gottbegnadeter
Geister gibt es keine abgesteckten Gebiete. Will man aber einem
Beiaife seine naturgemäße Richtung weisen, so muß das Ziel
klargestellt werden. Der Arzt muß vieles wissen, noch mehr
aber muß er können. Auf das Können kommt es an, auf ein
Können, das sich im richtigen Momente und in richtiger Weise
betätigt, das bei dem einen schon in der Anlage, der eigenartigen
Begabung w'urzelt, der andere aber erst durch emsige Hebung
sich ei’werhen muß. Der Arzt hat eine Leistung aufzubringen.
Er muß im richtigen Moment das richtige Wort, die geeignete
Verordnung, die erfahrungsgemäß beste Verrichtung wirken lassen.
Es ist nicht seines Amtes, Probleme zu lösen. Er hat im gegebenen
Falle das zu leisten, was dieser von ihm erheischt, auf Grund er¬
worbener oder überlieferter bewährter Empirie von ihm erheischt.
Seines Amtes ist es, die Vorgänge zu beobachten, für ihre semio-
tische Bedeutung das richtige Maß zu suchen und wo es. gestört
erscheint, all das vorzunehmen, ,was zum Ausgleich erfahrungs¬
gemäß dienlich ist.
Soll dies also eine Absage an die Wissenschaft sein? Nichts
wäre unerwünschter, ja verhängnisvoller. Aber es ist Zeit, uns
zu besinnen, damit wir die Aufgaben des Arztes, die vorwiegend
humanitären Verpflichtungen seines Berufes, besser und schärfer
ins Auge fassen; Zeit, Uns zu besinnen, daß das Ärzten eine Kunst
ist, welche zwar die intimsten Berührungspunkte mit der Wissen¬
schaft suchen muß, von dieser und aus dieser die Förderung ihrer
Leistungsfähigkeit erhofft, aber es ist und bleibt Kunst und ist
derzeit wenigstens noch nicht oder nur zUm sehr geringen Teile
Wissenschaft. Wir müssen uns vor allem besinnen, daßi, wer
als Arzt seinen Alann stellen will, wer die redliche Absicht hat,
von Berufs wegen kranken Menschen zu helfen, dies nur erlernen
und erreichen kann im ununterbrochenen Verkehr mit den Kranken,
durch vertiefende Beobachtung der wechselvollen seelischen und
körperlichen Zustände des kranken Menschen, durch intensive
Berücksichtigung seiner Bedürfnisse.
Die, Wissenschaft und die ärztliche Kunst — das Reich
beider ist heute zu groß’, um gleichwertig von einem beherrscht
werden zu können; der eine wäre denn ein Leonardo oder ein
Goethe. Es ist schon viel, wenn der Arzt und der medizinische
Wissenschaftler sich gegenseitig immer verstehen. Das soll sein,
darüber hinaus beginnt aber die Trennung, die unerläßliche Teilung
der Arbeit. Wer Wissenschaft betreiben will, der verbringe seine
Tage im Laboratorium, im Seziersaal, im Institute. Der Arzt ge¬
hört in den Krankensaal, dort gibt es für ihn Arbeit die Fülle.
Hat er Scharfsinn, so kann er ihn nirgends besser betätigen als
liier und er verschwende ihn nicht auf Dinge und Arbeiten, die sieb
nicht so nebenbei ahtun lassen, zu denen andere berufen sind,
weil diese sie viel besser verstehen. Er verliere seine kostbare
Zeit nicht in dilettantischer Uebung von Wissenschaften, die er
nicht fördern kann, um darüber 'die Kunstübung zu vernachlässigen,
die seines Lebensberufes Inhalt und Zweck ist.
Unser Studium sei so eingerichtet, daß dem Anwärter für
<len ärztlichen Beruf der bestmöiglichste und breiteste Untergrund
wissenschaftlicher Ausbildung geboten werde, zur Sicherung des
tieferen Verständnisses und der richtigen W^ürdigüng der innigen
Beziehungen seines Beiärfes zu den W^issenschaften. Diese Aus¬
bildung soll ihm Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln, ihn in
natui*wissenschaftlicher Denkmethodik erziehen, zur unvorein¬
genommenen Beobachtung befähigen und ihm zur Grundlage
werden, um von der Beobachtung zur Erfahrung zu gelangen.
Der junge Arzt aber, der zur richtigen Erkenntnis gelangt ist,
daß zu dem erworbenen Doktorhüte ihm noch gar manches
Rüstzeug fehlt, um wohlgewappnet vor den Förderungen seines
Berufes bestehen zu können, dem möge es auch klar werden,
wo und wie dieses zu holen ist. Zu Kimstleistungen be¬
rufen, muß er vor allem in seiner Kunst sich üben, sich
üben, intrner wieder den Situationen ins Auge zu seheii, die von
ihm dereinst, wenn er auf sich seihst gestellt ist,' eine Tat erfordern.
Möge es ihm an Vorbildern nicht fehlen in der Vollführung von
ärztlichen Leistungen, an nachahmungswürdigen Beispielen künst¬
lerischer Ausübung des Berufes. Möge er den Blick sich- schärfen,
um das Wesentliche zu erfassen, um ihn nicht über die Bedürfnisse
und die Not des Kranken hinaus in weite Ferne schweifen zu
lassen, aus denen nur die Inspiration zu allerlei Gedanken sich
einstellen mag, nicht aber der kategorische Imperativ der beraif-
lichen Pflicht vernehmbai' wird. Er verbringe seine Tage in der
Klinik und sehe sich im Laboratorium um, so weit es das drin¬
gende Interesse seiner Kranken, so weit es das Verständnis
der Klinik erfordert. Was darüber hinaus im Laboratorium zu
leisten ist, bleibe Sache derer, die sich der Wissenschaft er¬
gehen haben und durch Forschung die Ergänzung zum ,, Wissen
vom Lehen“ beibringen wollen und sollen. Aber aus der Klinik
ein Laboratorium machen und die Klinik in das Laboratorium
verlegen, heißt, die Zwecke um! Ziele beider verkennen. Freilich
sollen beide Arbeitsstätten Zusammenwirken, einem großen ge¬
meinsamen Ziele in gegenseitiger Fördeiaing dienstbar, hier der
Theoretiker, der Forscher, dort der Praktiker, der Arzt des kranken
Menschen — aber jeder fülle seinen Platz ganz aus, an den ihn
Wissen und Können weist, wo er hingchört vermöge seines Be-
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rufes, vermöge der eigenartigen Pflichten, die jedem sein Beruf
auferlegt.
»C
Da-s ist die Lehre, die aus Schweningers Buch zu holen
ist. j\Ian sollte nicht achtlos daran vorühergehen, dieses Mannes
Winke und Mahnungen beherzigen. Man mißversteht ihn, wenn
man in ihm einen Gegner der Wissenschaft sieht. Aber den ärzt¬
lichen Beruf will er nicht als wissenschaftlichen aufgefaßt und
betrieben und dadurch in seinen Zielen , und Zwecken verkannt
wissen. Für Schweninger ist das Ärzten Verstandes- und er¬
fahrungsgemäße, aus künstlerischen Impulsen geübte Humanität.
Der Vorwurf scheint nicht unbegründet, daß die zeitgenössische
Richtung der Heilkunde diese Ziele vernachlässigt und andere
höher hält, die nicht die eigentlichen des ärztlichen Beiaifes
sind und sich mit dessen vorwiegend humanitären Aufgaben
nicht decken.
Sammelreferat.
Entwicklung und Ergebnisse der Lumbalanästhesie.
Sammelreferat von Dr. E. Yemis, Assistent der chirurgischen Abteilung
der Wiener Poliklinik.
(Schluß.)
Der von Hermes mitgeteilte Todesfall nach Novokain¬
gebrauch kam an der Klinik Sonnenburg vor und ist dem
von Sonnenburg beschriebenen Falle nach Stovaininjektibn
ganz analog. Auch im Falle von Hermes handelte es sich um
eine im Anschlüsse an die Lumbalanästhesie auftretende, auf-
steigende, eitrige Meningitis bei einem pyämischen Kranken.
Da ja heute das Kokain als Anästhesierungsmittel für sub¬
durale Injektionen kaum mehr gebraucht wird, so betrachten wir
die Todesfälle nach Anwendung von Stovain, Tropakokain und
Novokain genauer. Es sind dies elf Todesfälle. Von diesen starben
plötzlich während der Operation fünf Fälle (Freund, Deetz.
K recke, Krönig, Dönitz) unter dem Bilde der Respi¬
rationslähmung und des Kollapses ; von diesen drei nach
Injektion von Stovain, einer ibei der Kombination von Stovain-
injektion mit dem Skopolamimnorphindämmerschlafe, einer nach
Tropakokaininjeklion. Diese fünf Fälle sind wohl mit ziemlicher
Sicherheit der Lumhalanästhesie zur Last zu legen, aber doch
nicht so, daß man sagen könnte, diese fünf Fälle hätten eine
Narkose sicher tadellos überstanden, denn es handelte sich regel¬
mäßig um alte, herabgekommene Individuen; in einem Falle läßt
Deetz z. B. selbst die Frage unentschieden, ob die Stovain-
injektion oder die Peritonitis aii dem plötzlichen Exitus Schuld
war. Daß z. B. in dem Falle Kr ecke bei einem 70jährigen
Manne mit einer so großen, inkarzerierten Hernie, bei welcher
der Dünndarm zum Teile gangränös ist, die Prognose da nicht
schon an und für sich eine sehr ungünstige ist und die Möglich¬
keit nahe liegt, daß so ein Kranker auch in der Inhalationsnarkose
stirbt, wird kein Chiiurg bestreiten. Wenn man von Todesfällen
infolge der Lumbalanästhesie spricht, um die Gefahren dieser
mit jenen der Allgemeinnarkose 'zu vergleichen, so ist es wohl
nur recht und billig, wenn man nicht einfach, jeden Exitus während
einer Lumbalanästhesie dieser zur Last legt und sich nicht frägt,
wie denn dieser Patient voraussichtlich eine Allgemeinnarkose
überstanden hätte.
Es kommen auf ungefähr 10.000 mit Stovain, Tropakokain
und Novokain ausgeführte Lumbalanästhesien fünf plötzliche
Todesfälle während der Operation; von diesen ist einer von Deetz
selbst nicht ganz bestimmt der Lumbalanästhesie zuzuschreiben
und besonders in dem iFalle von K recke ist es auch zweifel¬
haft, ob nicht schon die Inkarzeration, Gangrän des Darmes und
der Ileus an sich die Ursachen plötzlichen Todes waren. Bleiben
also als mit Sicherheit der Lumbalanästhesie zuzuschreiben
drei Fälle (Dönitz, Freund und Krönig).
Von den anderen sechs Fällen, die nach der Lumbal¬
anästhesie, als deren Folgeerscheinungen zum Tode führten, sind
drei von Urban, einer von König und je einer von Sonnen¬
burg und Hermes mitgeteilt. Ganz sicher trat der Tod als
Folge von Liimbalanästhesie in dem Falle von König ein, wohl
auch in den von Sonnenburg und Hermes mitgeteilten Fällen;
die drei von Urban mitgeteilten Fälle sind fraglicher Natur,
besonders der Fall, in dem Rückenmarksanästhesie mit Stovain
ausgeführt wurde. Mehr Wahrscheinlichkeit haben die beiden
anderen Fälle für sich. Resümieren wir, so haben wir auf Un¬
gefähr 10.000 Spinalanalgesien sicher drei Todesfälle während
der Operation und drei als Folgeerscheinungen der Lumbal¬
anästhesie. Von diesen werden sich pach den aus ihnen hervor¬
gehenden Erfahrungen manche in Zukunft vermeiden lassen; so
wurde z. B. im Falle Dönitz wahrscheinlich die Dosis des
Tropakokains zu hoch genommen (013 g) und nach den Erfah¬
rungen von Sonnenburg und Hermes wird man in Hinkunft
die Lumbalanästhesie bei pyämischen Kranken vermeiden.
Es dürfte also die Zahl der während der Operation infolge
der Lumbalanästhesie eingetretenen Todesfälle kaum mehr größer
sein als die plötzlichen Narkosetode; worin sich aber die Be¬
urteilung der Lumbalanästhesie gegenüber der Narkose sehr zu¬
gunsten der ersteren verschiebt, das ist, wenn wir die Todes¬
fälle nach der Lumbalanästhesie gegenüber denen der Narkose
vergleichen. Vollständig fallen schon die postoperativen Bronchi¬
tiden und Pneumonien weg, die ja trotz aller Verbesserung der
Narkosetechnik noch lange nicht geschwunden sind und selbst
wenn wir die drei von Urban erwähnten Todesfälle als Folgen
der Lumbalanästhesie kritiklos anerkennen wollen und sie der
Spätwirkung des Chlorofonns gleichsetzen, so haben wir hier
drei Fälle, w.ährend jeder Chirurg weiß', wie viele seiner Kranken,
speziell der Laparotomierten, in den nächsten Tagen nach der
Operation an Herzinsuffizienz zugrunde gehen, an Herzinsuffizienz
infolge der Einwirkung des ^Narkotikums.
Die sogenannten ,,Versager“, d. h. jene Fälle; in welchen
die Anästhesie entweder gar nicht oder nur mangelhaft eintritt,
sind fast immer auf eine, von den meisten Autoren auch offen
zugestandene, mangelhafte Technik der Ausführung der Injektion
zurückzuführen, sind daher auch in der Regel nur so lange zu
verzeichnen, als der betreffende Operateur mit der Technik noch
nicht ganz vertraut ist. Wer einmal die Technik der subduralen
Injektion ganz beherrscht, dem kommen „Versager“ auch selten
vor. Und selbst wenn man infolge mangelnder oder nicht lange
genug anhaltender Anästhesie während der Operation zur In¬
halationsnarkose übergehen muß, so ist dann in diesen Fällen
der Gebrauch des Anäs the tikums, wie allgemein betont wird,
ein sehr geringer.
Wenn man auf Grund der mitgeteilten Neben- und Nach¬
erscheinungen die jetzt gebräuchlichsten Anästhetika, Stovain,
Tropakokain, Novokain und Alypin, vergleicht, so muß man dem
Tropakokain vor allen anderen den Vorzug geben und auch dem
so viel gebrauchten Stovain vorziehen. Kollapszustände, speziell
die schweren Kollapse, kommen bei Stovainanwendung ungleich
häufiger als bei TTopakokaingebrauch vor; Respirationslähmungen
werden nur nach Stovaininjektion erwähnt. Augenmuskellähmun¬
gen kamen nach Stovain dreizehnmal, nach Kokain sechsmal und
nach Tropakokain einmal vor. Die noch sonst bei Stovaininjek-
tionen verzeichneten Neben- und Nacherscheinungen, wie vorüber¬
gehende x4maurose, Nachblutungen, Incontinentia urinae et alvi,
Querschnittmyelitis, wurden bei Tropakokain nicht beobachtet und
doch wurde das Tropakokain noch häufiger als das Stovain ge¬
braucht. Das Novokain scheint den mitgeteilten Erfahrungen nach
zur Lumbalanästhesie wenig geeignet. Bei einer verhältnismäßig
noch geringen Anzahl von Rückenmarksanästbesien mit Novokain
werden häufig Kollapszustände berichtet, aber auch Augenmuskel¬
lähmungen, die im Vergleiche zu dem viel häufigeren Gebrauche
des Stovains beim Novokain prozentual viel öfter verkommen.
Auch das Alypin scheint, so gut es sich! in der Lokalanästhesie
bewährt, in der Lumbalanästhesie keine guten Resultate zu geben ;
kann man doch unter 133 mit Alypin ausgeführten Spinalanal¬
gesien sechs Kollapszustände verzeichnen.
Ein großer Vorteil der Lumbalanästhesie liegt darin, daß
sie gerade von alten, idekrepiden Individuen sehr gut vertragen
wird, also von Menschen, bei denen die sonst für die Operation
nötige Narkose mit besonderer Gefahr verbunden ist. Die Alters¬
grenze für die Spinalanalgesie ist nach oben hin unbeschränkt,
denn es vertragen 70- und SOjälirige Menschen die Lumbal¬
anästhesie sehr gut, während man im allgemeinen nach unten
hin die Altersgrenze mit 14 bis 16 Jahren zieht. Allerdings wurde
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die Rückenmarksanästhesie auch in einigen Fällen bei Kindern
iin Alter von sieben bis zehn Jahren mit günstigem Erfolge an¬
gewandt, jedoch geht die allgemeine Ansicht der Chirurgen dahin,
bei Operationen an Individuen unter 16 Jahren die Allgemein¬
narkose vorzuziehen.
Die Indikationen der Lumbalanästhesie sind: höheres Alter
oder besonderes herabgekommenes Allgemeinbefinden, Arterio¬
sklerose, Herz- und Lungenkrankheiten, Nierenerkrankungen, also
Erkrankungen, bei welchen die Narkose entweder kontraindiziert
ist, oder wenn schon unumgänglich notwendig, so doch eine
schwere Komplikation bedeutet. Kurz welly findet die Lumbal¬
anästhesie auch indiziert bei allgemeinen oder lokalen, ebenso
wie bei latenter oder okkulter Tuberkulose, die durch eine Nar¬
kose wieder aufflackern könnte.
Als Kontraindikationen zur Vornahme der Lumbal¬
anästhesie gelten : akute, septische oder pyämische Erkrankungen,
sowie überhaupt akute Infektionskrankheiten, im Körper vor¬
handene Eiterungen, schlechte Pulsfüllung (Busse), Lues im
ersten oder im zweiten Stadium (Lin den stein), Erkrankungen
des zentralen Nervensystems (Jedlicka), Verdacht auf llücken-
marksläsion (H ohmeier), große Fettleibigkeit, da diese technisch
große Hindernisse bereitet (Busse). Gerstenberg erblickt in
einer druckempfindlichen Wirbelsäule eine Kontraindikation zur
Vornahme der Lumbalanästhesie, da sie vielleicht das einzige
Symptom chronischer Verändeiamgen im Arachnoidalsacke bildet:
Synechien, Meningitis sicca potatoram etc.
Bezüglich des Diabetes, des Potus, der Hysterie und der
Neurasthenie divergieren die Ansichten über Indikation und
Kontraindikation noch. So bildet z. B'. vorhandener Diabetes für
Braun und Steiner die Indikation zur Lumbalanästhesie, wäh¬
rend H ohmeier bei Diabetikern die möglichst ausgedehnte An¬
wendung der Lokalanästhesie, eventuell des Aetherrausches em¬
pfiehlt. Potus halten die meisten für eine Indikation (Braun,
Füster, Hildebrand, Tillmann). Silbermark erblickt in
ihm eine Kontraindikation zur Vornahme der Lumbalanästhesie.
Hysterie, sowie sehr ängstliches, aufgeregtes Wesen halten viele
für eine Kontraindikation der Spinalanalgesie (Bai sch, Braun,
Henking, Pforte, Steiner, Steim), während z. B. nach
Füster und Sandberg Hysterie keine Kontraindikation bildet.
Die Lumbalanästhesie bildet einen vollständigen Ersatz der
Allgemeinnarkose bei allen Operationen am Damme, dem äußeren
Genitale und am After, sowie bei allen Operationen an den unteren
Extremitäten. Ferner wurden unter Lumbalanästhesie mit gutem
Erfolge Hernien operiert; hier war öfters das Zerren am Perito¬
neum oder am Samenstrange schmerzhaft empfunden. Aehn-
liches gilt von Laparotomien; auch hier empfanden die Patienten
oft das Ziehen und Zerren am Peritoneum schmerzhaft, besonders
ist dies bei gynäkologischen Laparotomien der Fall, wenn die
entzündlichen, veränderten Adnexe aus festen Adhäsionen her-
ausges'chält werden müssen. Doch wurden viele Laparotomien, wie
Ovariotomien, Exstirpationen des karzinomatösen oder myoma-
tösen Utems, Appendizitiden, Gastroenterostomien etc., ganz
schmerzlos unter Lumbalanästhesie ausgeführt. Fernei wai dies
auch der Fall bei Rektumexstiiiiationen, Nephrektomien, Nephro¬
tomien etc.; doch scheint die Anästhesie vom Nabel aufwärts nicht
mehr ganz zuverlässig zu sein. L ee r e nie r machte untei voll¬
ständiger Anästhesie eine Amputatio mammae mit Ausräumung
der Achselhöhlen. Doch gehören solche Operationen, unter Lum¬
balanästhesie ausgeführt, zu den Seltenheiten und es dürfte
sich nach den bisherigen Erfahrungen nicht empfehlen und zu
gefahrvoll sein, die Anästhesie so hoch hinauf zu treiben, um an
dem Thorax operieren zu können.
Eine besondere Besprechung verlangt noch die Anwendung
der Spinalanalgesie in der Geburtshilfe.
Kreis hat auf Anregung Bumms die Lumbalanästhesie
mit Kokain bei sechs Gebärenden versucht. Die Analgesie reichte
nach 0-01 g Kokain bis zum Nabel. Die Wehen, welche mit der¬
selben Frequenz und Intensität als vor der Injektion erfolgten,
wurden nur als Spannung im Abdomen perzipiert. Als einzige
unangenehme Erscheinung zeigte sich das Sistieren der spon¬
tanen, reflektorischen Aktion der Bauchpresse. Die Nachphurts-
periode verlief normal ohne Komplikationen. Marx war in allen
40 Fällen, in denen er bei Entbindungen die Lumbalanästhesie
anwandte, mit dem Erfolge derselben sehr zufrieden; in einem
Falle gelang cs ihm, die Frau durch acht Stunden schmerzfrei
zu erhalten. Nach Doleris steigert das Kokain die Dauer,
Frequenz und Intensität der Wehen, wodurch der Gehurtsverlauf
eine wesentliche Beschleunigung erfährt und versetzt die IJterus-
mUskulatur vielleicht durch vasomotorische Einflüsse auf die Blut¬
gefäße in einen besonderen Spannungszustand, den Doleris
als pseudotetanisch bezeichnet. Gleichzeitig wirkt nach Doleris
das Kokain auch hämostätisch, wovon er sich bei einer Sectio
caesarea einmal überzeugen konnte. 'Der Uterus war besonders
hart und kontrahiert und die Blutung minimal. Auf diese Er¬
fahrung gestützt, versuchte Doleris, das Kokain zur Einleitung
des künstlichen Ahortus und der Frühgeburt zu verwerten. In
ztvei Fällen gelang es auch, durch subarachnoidale Injektion von
OOl g Kokain die Entbindung in vier bis sechs Stunden herbei¬
zuführen. Zugunsten der subarachnoidalen Kokainanwendung in der
Geburtshilfe sprechen sich auch Dupäigne, Dudley, Stouffs
und Gueniot aus. Sehr zurückhaltend äußern sich Ehren¬
fest, Gran dis, Poruk, Dumont; ebenso ziehen Goldan
und Adams das Chloroform in der Geburtshilfe vor. Hawley
und Taussig beobachteten in fünf Fällen toxische Einflüsse
äes Kokains auf den Fötus, darunter drei schwere Asphyxien.
In letzter Zeit liegen Mitteilungen von Anwendungen der Lumbal¬
anästhesie in der Geburtshilfe vor von Bai sch, Dönitz, Mar¬
tin, Müller, Offergeld, Stolz, Trautenroth. Die Erfah¬
rungen sind im allgemeinen sehr günstige, nur wurde von ver¬
schiedenen Autoren als Uebelstand angegeben, daßi die Austrei-
jjungsperiode infolge Mangels der Bauchpresse eine verlängerte
sei, da wegen Lähmung der Bauchmuskulatur die Preßiweh'en weg¬
fallen. Deshalb empfiehlt Dönitz besonders in der Geburts¬
hilfe das Tropakokain wegen seines geringen Einflusses auf die
Muskulatur. Martin gebraucht die Lumbalanästhesie in der Ge¬
burtshilfe in ausgesprochenen pathologischen Fällen, bei ordent¬
licher Schmerzhaftigkeit der Uteruswehen, bei Entbindungen
Eklaprptischer und überall dort, wo wegen Flerz- und Lungen¬
erkrankungen der Allgemeinnarkose Bedenken entgegenstehen.
Ueble Folgen, besonders in der Nachgeburtsperiode (Atonien),
oder toxische Einflüsse 'auf die Kinder (Asphyxien) wurden nicht
beobachtet. Manche, wie Bai sch, Busse, Henking und Krö-
hig haben auch in der Geburtshilfe die Kombination der Lumbal¬
anästhesie mit dem Skopolaminmorphindämmerschlafe angewandt.
Neugebauer empfiehlt, die Spinalanalgesie für die Diagnose
und Therapie der Erkrankungen des Anus und des Rektums
heranzuziehen. Infolge der Parese klafft in der Regel der Anus
soweit, daßi man ohne weiteres den unteren Teil des Rektums he-
sichtigen kann.
In der internen Medizin wurde bereits die Lumbal¬
anästhesie diverse Male herangezogen. Monega gelang es, durch
Injektionen von 0-015 g Kokain in den Duralsack die hartnäckigen
Schmerzen eines Hemiphlegikers zu beseitigen. Gegen Ischias
haben mit Erfolg die Lumbalanästhesie angewandt: Pulle,
A c h a r d, T i 1 1 m a n n , L a u b e r g und L a z a r u s ; die Schmerzen
blieben bei Ischias oft mehrere Tage ganz weg. Tillmann
führte in fünf Fällen von Ischias unter Lumbalanästhesie schmerz¬
los die unblutige Dehnung des Nerven aus. In einem Falle wurde
'vollständige Heilung erzielt, andere wurden bedeutend gebessert,
während ein Fall rezidiv wurde. Bei den lanzinierenden Schmer¬
zen der Tabiker hat schon Pitres mit Erfolg die Kokainisierung
des Rückenmarkes vorgenommen. Linden stein und Lazarus
haben bei den tabischen Krisen Lumbalanästhesie empfohlen.
Lazarus wandte außerdem die Spinalanalgesie zur Mobilisie¬
rung eines versteiften, gonorrhoischen Kniegelenkes, zurSchmerz-
betäuhung bei hochgradigen, motorischen und sensiblen Reiz¬
zuständen, bei welchen die Lokalanästhesie oder die üblichen
Analgetika nicht ausreichten, z. B. bei multipler Sklerose, in
einem Falle von Paraplegia dolorosa infolge von Rücken märks-
kompression durch ein Wirbelkarzinom. Auch für die Diagnostik
empfiehlt sie Lazarus, weil durch die Lumbalanästliosie eine
Erschlaffung der Bauchmuskel eintritt, die eine genaue Palpation
der Bauchorgane gestattet. A chard und Lau berg versuchten
die Kokainisierung des Rückenmarkes zu therapeutischen Zwecken
außer bei Tabes und Ischias, bei chronischem Lumbago, Herpes
zoster in allen Partien unterhalb des Zwerchfelles und bei Blei-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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kolik. Spczioll in einigen Fällen von Herpes zoster alxloniinalis,
in (lenen selbst 006 g Älorpliin keine Erleichterung der (pialvollen
Schmerzen bringen konnten, konnte nach snbarachnoiflalei’ Kokain¬
injektion ein anffallencler Erfolg konstatiert werden. Wilms Imd
E obrer heilfen mit Lumbalanästhesie hysterische Kontrakturen,
Wil ms eine schwere hysterische Kontraktion des Beines, Löh rer
(‘inen hysterischen Pes equinovaitis.
Sicher ist die Lumbalanästhesie hetite noch kein indifferen¬
tes Anästhesierungsmittcl und hirgt unleughar ihre Gefahren in
sich. Wenn wir diese aber mit jenen der Narkose in Vergleich
ziehen, so wird derselbe zugunsten der Lumbalanästhesie aus-
fallen müssen. Die Todesfälle der Lumbalanästhesie haben wir
bereits kritisch besprochen. Was die anderen Zwischenfälle, be¬
sonders Respirationslälnnungen und Kollapse, die wieder behoben
werden konnten, betrifft, so kommen gewiß ebenso häufig, wenn
nicht öfter, Asphyxien und Kollapse in der Narkose vor, nur
daß niemand davon spricht. Gerade solange man die Narkose
immer den jüngsten unter den Aerzten an der Klinik c)der Ah-
teilung anvertrauen wird, die, wie dies so richtig Witzei sagt,
das Narkotisieren höchstens als ein lästiges Amt auf sich nehmen,
werden die Zwischenfälle bei der Narkose nie aufhören, während
die Lumbalanästhesie immer in ihrer Ausführung in der Hand des
Chefs oder des Assistenten liegen wird. Infolgedessen wird die
Beherrschung der Technik, und darauf kommt es ja vor allem an,
eine immer sicherere werden und damit die üblen Folge- und
Nel)enerscheinungen auf ein Minimum heraljgedrückt werden.
Erbrechen und Kopfschmerzen sind nach Lumbalanästliesie
häufig, aber nach einer Narkose bilden sie die Hegel, so daß
wir höchst erstaunt sind, .wenn einmal ein Patient nach der Nar¬
kose nicht erbricht. Das Erbrechen nach der Lumhalanästhesie
dauert in der Regel, wenn es überhaupt eintritt, einen Tag, nacli
der Narkose ist Erbrechen in der Dauer von zwei bis vier Tagen
sehr häufig. Wie verhältnis'mäßig oft kommen hei jungen, unge¬
schickten Narkotiseuren Verschorfungen des Gesichtes oder des
Halses, sowie auch der Kornea des Kranken mit dem Anästheti-
kum vor, Narkoselälnnimgen worden immer wieder beobachtet usw.
Den Wegfall der postoperativen Bronchitiden und Pneumo¬
nien, sowie der Herzschwäche infolge der Narkose haben wir
schon erwähnt.
Will man das Pro und Kontra der Lumbalanästhesie gegenüber
der Narkose abwägon, so darf man nicht auf der einen Seite alle
genau vorzeichneten Zwischenfälle und Folgen der Lumbal¬
anästhesie nehmen, aber auf der anderen Seite, Avie dies gerne
geschieht, die Zwischenfälle der Narkose vergessen und sich
höchstens einiger Narkosestatistiken erinnern, in denen mif so
und so viele tausend Narkosen ein Todesfall ausgerechnet wurde.
Die Lumhalanästhesie hat sich auch schon einen dominierenden
Platz in der Chirurgie erobert und Avird diesen Amraussichtlich
im Laufe der nächsten Zeit festigen und sich neue Anhänger
geAvinnen.
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August
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Van Lier, Tiidschr. voor Geneeskunde 1900, Nr. 21. — Van Lier,
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P9(jß — Villar, Ref. Z^mtralbl. f. Chir. 1902, Nr. 9. ^
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Zahradnicky, Ref. Zentralbl. f. Chir. 1901, Nr. 11. — Ziembicky,
XIII. polnischer Chirurgenkongreß 1901. (Ref. Zenlralbl. f. Chir. 1901,
Nr. 51.) — Nachtrag bei der Korrektur: Th or b ecke, Naturwissen-
schalll.-hisl.-med. Verein in Heidelberg. (Ref. Münch, med. Wochenschr.
1907, Nr. 17.)
Aus versehiedenen Zeitsehriften.
246. Aus der I. inediziii. Universitätsklinik in Hudaiiest
(Direktor : Prof. Ur. Fr. v. K o r ä n y i.) Weitere Beil r ä g e z n r
Behandlung inedias tinaler Tumoren mit Böntgen-
s trail len. Von Dr. J. v. E lisch er, Assistenten und Doktor
K. Engel, Internem der Klinik. Wir liahen Ende des Vorjahres
(siehe Nr. 48, 1906, dieser Wochenschrift) üher die Puhlikalion
der Verfasser, welche drei durch Ilöntgenbestrahlungen gehesserle
Fälle von Mediastinal tumoren helraf, ausführlich herichtet. ln
vorliegender Arheitwird üher das weitere Schicksal zweier Kranken
— sie starhen beide — über den Sektionsbefund und über das
Ergebnis der histologischen Untersuchung referiert. Bei lieiden
Kranken waren die Symptome einer mediastinalen Geschwulst
so deutlich, daßi die Diagnose mit Sicherheit gestellt wurde. Im
ersten Falle bedrohte das Leiden bereits unmittelbar das Leben,
er wurde mit Röntgenstrahl-en behandelt und so wesentlich ge¬
bessert, daß er objektiv als heinalie geheilt betrachtet werchui
konnte. Ein Jahr lang ging es gut, Pat. arlieitete fleißig, llann
kehrte aber die Atemnot wieder, es stellte sich Paraplegie der
unteren Extremitäten ein, heftige Schmerzen, Drüsenschvvellungeu,
Vergrößierung des Tumors etc., einem Erstickungsanfalle erlag
der Kranke. Der zweite Fall verlief ähnlich, nur daß die Besse¬
rung nach der Böntgenhehandlung nicht so lange Zeit anhielt.
Die Sektion zeigte, daß' an Stelle des mediastinalen Tumors sich
Narhengewehe befand, daher die Verkleinerung der Geschwulst,
die Abnahme der bedrohiiehen Symptome. Das Narhengewehe war
stark vaskularisiert, die Vaskularisation entsprach einerseits dem
gefäßreichen Stroma des Sarkoms, war anderseits auch für die
durch Röntgenstrahlen verursachten Veränderungen cluirak-
teristisch. Auch im zweiten Falle war an. Stelle des mediastinalen
Tumors das Narhengewehe, danehen waren infolge Einwirkuug
der neueren Bestrahlungen an der das Brustbein durchwachsenden
Gesclnvulst die verschiedensten nekrohio tischen Veränderungen
(Karyorrhexis und Karyoschisis, die Zellen werden gekörnt, unför¬
mig, zerfallen schließlich in strukturlo.se, körnige Massen) bis zur
ausgesprochenen, wenn auch strangförmig auftretenden Narhen-
hiklung wahrzunehmen. In der Literatur finden die Verfasser
nur einen Fall (Torrey), wo das Endergebnis der Röntgenbehand¬
lung eines Sarkoms durch die histologische Untersuchung kon¬
trolliert Averden konnte. Ein Sarkom der Brusthaut heilte nach
mehrmonatlicher Behandlung vollständig. D'er Kranke starb an
Typhus, hei der Sektion fand man an Stelle der Geschwulst
bloß NarbengeAvebe. Auch Kienböck hat sich dahin geäußert,
daß tatsächlich die zellreichen, rasch Avachsenden Sarkome am
meisten durch die Röntgenstrahlen beeinflußt Averden können.
Die Analogie der Wirkungsweise der Röntgenstrahlen auf Krebse
und Sarkome ist eine vollstlüidige. Anfangs Averden mir die
Zellkerne verändert (Karyorrhexis, Karyoschisis), dann schwillt
die Zelle an, kann nicht mehr gefärbt Averden und zerfällt endlicli
in eine körnige Masse. Diese Neki'obiose vei’ursacht eine leak-
tive Entzündung mit nachfolgender' Narhenhildung. Die Kranken
erlagen der Rezidive und den Metastasen (in beiden Fällen neben
dem derben, festen Tumor auch große, Aveiche GescliAvillste, dann
Kompression des Rückenmarkes durch medulläre Gescluvulst-
niassen, resp. Uchergreifen auf die IlerzAvand, auf eine Lunge),
und es ist zu bedauern, daß die Behandlung infolge Weigeiung
der Kranken nicht genügend lange Zeit fortgeführt, resp. nicht
zeitlich genug wieder aufgenommen A\mrden konnte. (Deidsche
medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 13.) E. 1.
247. Ueher psychische Störung depress iver Na¬
tu r, entstanden auf dem Boden der gegenwärtigen
politischen Ereignisse. Von Dr. J. S. Hermann, Direktor
des Irrenhauses des Goirverrrernents Orel. \erf. hatte Gelegenheit,
auf Grund eines ziemlich reichen Materiales der frage des Ein-
fhrsses aktueller polilisclrer Ereignisse auf die EntAvicFlung vorr
Psychosen, ferner der Forrir und des Charakters der letzteren
WIE^IER KLINISCHE WOCIIENSCIHUET. 1907:
Nr. 20
luiherzntreten. Er . fand in. klassischen, sämtliche Symptome
hietenden Fällen ein Krankheitshild, welches charakteristisch war
durch den unmittelbaren, oder doch baldigen Beginn der Bsy-
chose nacli der Einwirkung <les psychischen Traumas, durch hoch-
gra<lige Angst, Wahnideen der drohenden Gefahr, sowie des un¬
vermeidlichen Zugrundegehens, ohne daß sich jedoch diese Wahn¬
ideen systematisierten, durch Seelenangst, optische und akustische
Halluzinationen beängstigender Natur, endlich durch den Aus¬
gang in Heilung. Bei sämtlichen Kranken, mit Ausnahme eines
einzigen, waren körperliche Degenerationszeichen vorhanden, rf—
(Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche
Medizin, Band 64, Heft 1.) S.
*
248. Ein Fall von multipler, tuberkulöser M y o-
sitis hei einem Kinde. Von E. Kirmisson. Der 10jährige
Patient zeigt hei der Untersuchung der unteren Extremitäten
eine große Anzahl unregelmäßig geformter Knoten in den Mus¬
keln, außerdem multiple Lymphdrüsenschwellung am ganzen
Köiirer. Gleichzeitig mit den Lymphdrüsenschwellungen und intra¬
muskulären Tumoren ist eine schmerzhafte Schwellung des Meta-
tarsophalangealgelenkes der kleinen Zehe des linken Fußes aüf-
ge treten. Im weiteren Verlaufe der Krankheit traten auch Tumoren
in den Muskeln der oberen Extremität und des Stammes auf.
Die Untersuchung mehrerer exstirpierter Tumoren ergab, daß
diese aus Knötchen zusammengesetzt waren, welche im intra¬
muskulären BindegeAvebe saßen oder auch die Muskelfasern selbst
auseinander drängten. Histologisch bestehen die Knötchen zuiil
größten Teil aus epitheloiden Zellen, im Zentrum einer Anzahl
dieser Knötchen fand sich eine,, ausnahmsweise auch zwei Riesoif-
zellen. Käsige Degeneration Avar niemals nachweisbar, an der
Peripherie waren die Knötchen von einer feinen, stellenweise
durch embryonale Zellen infiltrierten BindegeAAmbszone umgehen.
Die Vorgefundene Läsion der Muskelfasern war sekundär durcfi
Kompression oder Irritation bedingt. Die Tuberkeln hatten sich
im inter- und intrafaszikulären Bindegewebe entwickelt und es
begann die Erkrankung mit einer Rundzelleninfiltration um die
Gefäße. Tuberkefbazillen oder andere Mikroorganismen konnten
in dem untersuchten Tumor nicht nachgeAviesen werden, ebensö
gab die Ueberimpfung auf zwei Meerschweinchen ein negatives
Resultat. Trotz des negativen Ausfalles der bakteriologischen
Untersuchung und der Impfversuche liegt eine tuberkulöse Er¬
krankung vor, Avofür der histologische Befund von Riesenzellen,
die multiple LymphdiüsenschAvellung und der Charakter der G^-
lenkserkrankung am Fuße spricht. Als Ausgangspunkt kann die
Gelenkserkrankung betrachtet Averden, von avo aus die Infektion
auf dem Wege der Lymphbähnen erfolgte und einerseits die
multiple LymphdrüsenschAvellung, anderseits die intramuskulär
sitzenden Tuberkeln produzierte. Die Ablagerung des tuberkulösen
Materials erfolgte um die Gefäße und im intrafaszikulären Binde¬
geAvebe, Avährend die Muskelfasern auseinandergedrängt wurden
und dann der sekundären Degeneration anheimfielen. — (Bull,
de TAcad. de Med. 1907, Nr. 6.) a. e.
; i • : *
249. Ueher frustrane H e r z k o n tr ak t i o n e n. Von
Prof. Dr. H. Hochhaus in Köln a. Rh. Diese eigentümliche
Herzstörung besteht darin, daß trotz einer energischen Herz¬
kontraktion, die durch einen besonders kräftigen Spitzenstoß aus¬
gezeichnet ist, kein entsprechender Puls gefühlt werden kann.
Dagegen konstatiert man häufig statt dessen einen deutlichen
Venenpuls; gleichzeitig hört man über Spitze und Basis nur einen
stark paukenden, systolischen Ton, Avährend der zAveite fehlt.;
denselben Ton hört man seihst auch dann, AAmnn systolische Ge¬
räusche an der Spitze normalerweise vorhanden sind. Damit sind
häufig auffallende subjektiAm Sensationen verbunden. Manche
Patienten bemerken schon an einem eigentümlichen beklommenen
Gefühle, Avann eine frustrane Kontraktion herannaht, die dann
sellrst als ein heftiger Stoß in der Herzgegend verspürt Avird.
Andere haben bei dem unregelmäßigen Schlage das Gefühl, als
ob dius Herz plötzlich stillsteht; zugleich geht damit ein Ruck
am Halse die Karotiden entlang bis zum Kopfe und ein leichtes,
momentanes ScliAvindelgefühl ist häufig die Folge. Die Art und
Meise des Auftrotens ist sehr A'erschieden ; häufig fühlt man am
Pulse den sonst ganz regelmäßigen Rhythmus ah und zu einmal
durch eine Inte.nnission, herrührend von einer solchen Kontrak¬
tion, ujiterbrochen ; andere IMale tritt die Erscheinung mit einer
geAvissen Regelmäßigkeit auf; nicht selten ist jede zweite Kontrak¬
tion frustran, so daß jeiler zAveibe Puls ausfällt und eine ausge¬
sprochene Bradykardie vorgetäuscht werden kann. Dasselbe kann
auch bei jeder dritten, vierten oder fünften Systole regelmäßig
der Fall sein und dann entstehen die sogenannten Allorhythmien,
die Bigemie, Trigemie ustv. Bei Herzfehlern, besonders bei in-
kompensierten, ist die Zahl nicht selten eine sehr große und
das Auftreten ein ganz unregelmäßiges. Das Vorkommen dieser
Herzstörung ist außerordentlich häufig. Man findet dieselbe so-
Avohl bei organischen als auch bei den sogenannten funktionellen
Herzkrankheiten und bei den letzteren sind die subjektiven Be¬
gleiterscheinungen in der Regel am ausgesprochensten. Bei der¬
artigen Menschen genügt oft schon, ohne daß Krankhaftes am
Herzen nachgeAviesen werden kann, eine leichte Aufregung; mäßiger
Weingenuß oder eine starke Zigarre, um ausgesprochene frustrane
Kontraktionen hervorzurufen. Eine bestimmte Prognose läßt sich
aus dem Auftreten dieser HerzalLeration nicht stellen. Als Er¬
klärung für diese Merzanomalie schien dem Verfasser auf Grund
früherer Arbeiten schon am einleuchtendsten, daß hier eine Ko¬
ordinationsstörung des Herzens zugleich mit einer qualitativen
Verändenmg der Muskelzuckung Arorliege. Quincke meinte, daß
vielleicht der Reiz in der Ventrikelmuskulatur selbst einsetzt,
aber nicht, Avie der normale, an der Atrioventrikulargrenze Und
dann in die Ventrikehnuskulatur fortschreitend, sondern an
mehreren Stellen gleichzeitig oder doch an einer ganz anderen
Stelle, z. B. an der Herzspitze einsetzend. Diese Erklärung deckt
sich mit der derzeit allgemein gültigen Auffassung über die Ent¬
stehung der sogenannten Extrasystolen, wie sie durch Engel¬
mann und Hering bekannt geworden sind. Die Natur der
Reize, Avelche diese Herzstörang hervorrufen, kaun eine ver¬
schiedene sein : die Reize können mechanischer Natur sein, sie
können von chronisch entzündlichen Prozessen im Herzfleische
herrühren, sie können auch durch das Blut zugeführt werden.
Verf. ist jedoch, im Gegensatz zu Hering, geneigt, anzunehmen,
daß auch auf nervösem Wege direkt frustrane Kontraktionen
hervorgerufen werden können. Die Therapie dieser Herzstörang fällt
mit der Behandlung des Grandleidens zusammen. Bei organischen
Herzaffektionen schAvindet dieselbe durch Anwendung der be¬
kannten Herzmittel oft auffallend schnell. Bei allgemeiner Ner¬
vosität kann Verf. nach vielfacher Erfahrung besonders das Chinin
empfehlen, das ihm in Verbindung mit geringen Dosen Kampfer
oder Digitalis häufig sehr gute Dienste geleistet hat. Zuweilen
hat aber auch diese Medikation wenig Einfluß. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 9.) G.
>1«
250. (Aus dem Isolations-Hospital für Hinckley und den um¬
gebenden Distrikt.) U e b e r d i e Inkubationszeit des Schar¬
lachs. Von E. L ynn - Jenkins. Im allgemeinen wird die In¬
kubationszeit des Scharlachs mit 24 Stunden bis zu einer Woche
angenommen. Nur einige Autoren halten dieselbe für länger.
Lynn-Jcnkins ist geneigt, sich letzteren anzuschließen. Durch
die besonderen räumlichen Verhältnisse seines Spitals mußten
hie und da Kinder, die mit scharlachähnlichen Erkrankungen
aufgenommen Avuiden, mangels eines speziellen Beobachtungs¬
zimmers zAAÜschen die sicher scharlachkranken Patienten gelegt
werden. 13 so behandelte Patienten erkrankten drei bis vier
Wochen nach der Aufnahme an tyiiischen und unzAveifelhaften
Scharlachsymptomen. Der Charakter der Erkrankung Avar bei
diesen Fällen ziemlich bösartig. Verf. glaubt wegen der relativ
großen Zahl der Fälle ein Rezidiv und zufälliges Zusammen¬
treffen der Umstände ausschließen zu können. — (British medical
Journal, 26. Januar 1907.) J. Sch.
*
251. Kont usion spneumonie. Von Professor Doktor
M. Litten in Berlin. ZAvei Fälle aus der jüngsten Zeit. Im
ersten Falle fiel ein Sljähriger Arbeiter von einer Leiter und
mit dem Thorax auf eine scharfe Holzrinne auf. Er wurde sofort
schwindelig, taumelte und erbrach, arbeitete nicht am nächsten
Tage, bekam am Morgen des dritten Tages einen Frostanfall;
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
611
der Arzt konstatierte abends den Beginn einer Pneumonie. Am
vierten Tage stürmische Erscheinungen, ^m Morgen des fünften
Tages Exitus. Der Kassenarzt erklärte den Fall für eine Kon-
tusionspnenmonie und sprach den Hinterbliebenen die ünfalls-
rente zu. Ein anderer Arzt begutachtete, daß ein Zusammenhang
zwischen Unfall und Pnetimonie nicht bestände, ein solcher Unfall
könne keine Pneumonie zur Folge haben; der Mann habe auch
äußerlich keine Zeichen eines Unfalles aufgewiesen. Nun appel¬
lierte die Witwe, Litten erstattete vor dem Schiedsgerichte ein
Obergutachten. Er gibt den Zusammenhang zu. In diesem Sinne
wurde auch entschieden. Der Verfasser spricht von einer „Kon¬
tusionspneumonie“, um im Gegensätze zur traumatischen Pneu¬
monie (Eindringen von scharfen, resp. spitzen Gegenständen und
Projektilen in den Thorax) zum Ausdruck zu bringen, daß es
sich hier lediglich um die Einwirkung stumpfer Gewalten, vor¬
zugsweise eine plötzliche und ausgiebige Kompression des Lungen¬
gewebes, um rein physikalische Bedingungen handelt, ln diesen
Fällen treten fast ausnahmslos keinerlei körperliche Erscheinungen
auf der äußeren Haut auf, selbst bei den schwersten inneren
Läsionen (Zerreißung ganzer Lungenlappen und des Herzens)
brauchen keine äußeren Zeichen des stattgehabten Traumas nach¬
weisbar zu sein. Anderseits sah man ausgedehnte Sugillationeri
auf dei- Brust, wo die Lunge absolut nicht Schaden gelitten bat.
Die Pneumonie braucht auch nicht da zu sein, wo der Stoß direkt
eingewirkt hat, sie kann selbst auf der entgegengesetzten Seite
auftreten. Aeltere Veränderungen (tuberkulöse Infiltrationen)
können als Loci minoris resistentiae gelten. Sie kommt fast
nur bei jüngeren, schwer arbeitenden Männern vor. Neben den
bekannten Traumen (Fall, Stoß, Hufschlag, Ueberfahrenwerden,
Verschüttung, Mißhandtung des Thorax durch Daraufknien, Faust¬
schläge etc.) ist als ätiologisches Moment das Heben von
schweren Gegenständen zu betonen. Der zweite ball
Lit tens betrifft diese, noch vielfach stark bestrittene Ursache)
der Kontusionspneumonie. Auf einem Bahnhofe sollte eine schwer
beladene Lowry wieder auf die Schienen gebracht werden. Ein
Mann half mit, klagte sofort über heftige Bruststiche, mußte zu
Boden gelegt werden. Er war sehr bleich. Er kränkelte am zweiten |,
Tage zu Hause, am dritten Tage konstatierte der Arzt eine Pneu- .
monie. Er starb. Zwischen dem Unfall und dem Tode lagen
fünf Tage und eine Nacht. Es wiederholte sich das oben Berichtete.
Der behandelnde Arzt erkannte auf Unfall und Zuspruch einer
Rente an die Hinterbliebenen, der Arzt der Berufsgenossenschaft
negierte den Zusammenhang mit dem Unfälle; Litten sprach
sich in seinem Obergutachten dafür aus, daß nach seinen Ei-
fahrungen die Pneumonie sehr wohl mit dem schweren Heben
in ursächlichem Zusammenhänge stünde, daß die Rente zu zahlen
sei. Litten weiß nicht, wie der Fall endgültig entschieden
worden ist. Er hat aber schon drei derartige Fälle, in welchen
das Heben von schweren Gegenständen, z. B. von bteinplatten,
zur Pneumonie geführt hatte, zu begutachten gehabt. Einmal war
sogar eine profuse Hämoptoe (Zerreißung eines Lungenab¬
schnittes?) erfolgt. Es muß nicht immer eine richtige kruppöse
Pneumonie gewesen sein, es kann sich auch um eine hämoriba-
gische Infiltration der Lungen gehandelt haben. Der Verfasser
teilt sodann einen von der medizinischen Fakultät in Beilin
begutachteten Fall von Kontusionspneumonie mit und begründet
es, wie nach schwerem Heben selbst eine gesunde Lunge ein
reißen könne. Der Mann inspiriert tief, seine Glottis ist ge¬
schlossen, er hebt also bei angehaltenem Atem nach tiefer In¬
spiration die schwere Last; die Lunge ist ad maximum mit
Luft .gefüllt, wie eine Blase ausgedehnt. Eine solche Lunge kann
gelegentlich einreißen, es kann eine Pneumonie entstehen und
zwar infolge der starken Kompression des Lungengewebes bei
fixiertem Thorax. Wenn Gerhardt sich auf einen Ausspruch
von Demuth beiuft, daß man nur dann von einer Kontusions¬
pneumonie sprechen sollte, wenn der Betreffende voihei eine
gesunde Lunge besessen habe, so sieht Litten nicht ein, waium
ein Mann, der eine Bronchiektasie besessen und dabei ganz arbeits¬
fähig war, wenn er plötzlich einen Stoß vor die Brust und da¬
nach eine' tödliche Pneumonie bekommen hat, anders begutachtet
werden sollte. Soll man etwa deshalb, weil der Mann schon vorher
lungenkrank gewesen, den Hinterbliebenen die Rente verweigern?
Sehr viele Arbeiter leiden an Bronchitis oder Emphysem, an pleu-
ritischen Verwachsungen oder tuberkulösen Infiltrationen, sie sind
aber arbeitsfähig und die Rentenenlschädigung ist keine Prämie
für die Krankheit, sondern für die A r he i tsu n f ä h i g k ei I ! Man
könnte höchstens sagen, der Mann dürfe früher keine Pneumonie
gehabt haben, denn es kommt sogar das vor, daß jemand mit
einer Pneumonie arbeitet (Fall). Eine zweite Forderung ist die,
daß ein Trauma von gewisser Art eingewirkt habe und daß die
Zeit zwischen Trauma (Unfall) und Pneumonie keine allzulange
sei. Gemeinhin sind es ein bis zwei Tage, die kürzeste Zeit
betrug zehn Stunden, doch sollten nach Litten auch Pneumo¬
nien, die am vierten, eventuell auch am fünften oder, gelegentlich
sechsten Tage nach dem Unfall einsetzen, noch als Kontusions¬
pneumonien angesehen werden dürfen, v. Leyden hat sogar in
einem Falle, wo die Pneumonie 14 Tage nach dem Unfälle ein¬
setzte, sie als Kontusionspneumonie anerkannt und demgemäß
begutachtet. Senator hebt hervor, ,daß man im Gutachten be¬
tonen solle, daß selbst in dem Fälle, wenn man annehme, die
(spät, einmal zehn Tage nach dem Unfälle einsetzende) Pneu¬
monie wäre aus anderen Ursachen entstanden, müsse man sagen,
daßi der schnelle und tödliche Verlauf durch den Umstand herbei¬
geführt, resp. begünstigt worden sei, tlaßi hier ein traumatischer
Shock eingewirkt, also der Körper durch den Unfall geschwächt
und in seiner Arbeitsfähigkeit ^wesentlich herabgesetzt gewesen sei.
IVlinisch unterscheidet sich die Kontusionspneumonie wenig von
jeder anderen Pneumonie. Vielleicht ist charakteristisch, daß der
blutige Auswurf sehr profus sein kann. Sie verläuft häufig auch
mit einer trockenen Pleuritis. , Die Sterblichkeit solcher Fälle
ist groß', doch schwanken die von den einzelnen Beobachtern
angegebenen Zahlen stark. Die Kontusionspneumonie ist eine sehr
schwere Krankheit, der Tod tritt rasch ein; die Kranken gehen
ungleich schneller zugrunde, als andere Pneumoniker ; Shock-
\yirkung und Verfettung des Herzens. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1907, Nr. 13.) E. F.
♦
252. Die Entlassung geisteskranker Rechts¬
brecher aus Irrenanstalten. Von Oberarzt Dr. v. Ku-
11,0 wski in Leubus. Zur Lösung der Frage bezüglich der Ent¬
lassung geisteskranker Rechtsbrecher aus Irrenanstalten liefert
die vorliegende Arbeit insofeme einen Beitrag, als der Verfasser
an der Hand eigener Erfahrungen schildert, wie die gegenwärtig
ip. Preußen geltenden Bestimmungen über die Entlassung geistes¬
kranker Rechtsbrecher sich bewähren und an diese Schilderung
kritische Betrachtungen knüpft. ■ — (Allgemeine Zeitschrift für
Psychiatrie und psvchisch - gerichtliche Medizin, Band 64, Heft 1.)
S.
^T'
*
253. Ueber die Heilbarkeit des Krebses im all¬
gemeinen und die Behandlung des Zungenkrebses
im besonderen. Von Fournier. In der Aetiologie der Mund¬
höhlenkarzinome, insbesondere des Zungenkrebses, ist die Syphilis
von wesentlicher Bedeutung. Die Syphilis produziert in der Mund¬
höhle nicht nur spezifische Läsionen, sondern ist auch die Ur¬
sache einer gleich der Tabes und progressiven Paralyse, para¬
syphilitischen Erkrankung, nämlich der Leukoplakia buccalis et
lingualis, welche ein besonders günstiger Boden für die Ent¬
wicklung von Karzinom ist. Diese Leukoplakie entwickelt sich
besonders bei solchen Syphilitikern, welche zugleich starke
Raucher sind. Bei Kranken mit Mundhöhlenkarzinomen konnte
Syphilis in 84o/o der Fälle mit Sicherheit festgestellt werden. Das
Zungenkarzinom ist in der überwiegend großen Mehrzahl eine
Erkrankung des männlichen Geschlechtes und des mittleren und
vdrgerückten Lebensalters, woraus sich der Schluß' ergibt, daß
das Zungenkarzinom erst nach langem, manchmal jahrzehnte¬
langem Bestand der Syphilisinfektion auftritt.. Für sich allein
ruft die Syphilis jedoch nur -selten Zungenkrebs hervor, es muß
noch ein zweiter Faktor mitwirken, nämlich intensives Tabak-
rauchen, so daß' das Zungenkarzinom eine Erkrankung der syphi¬
litischen Raucher ist. Die große Seltenheit des Zungenkarzinoms
bei Frauen erklärt sich daraus, daß diese gar nicht oder nui
wenig rauchen. Von den beiden ätiologischen Faktoren ist die
Syphilis insoferne wichtiger, als Zungenkarzinom manchmal bei
syphilitischen Nichtrauchern, dagegen nur höchst selten beistaiken
Rauchern auftritt, wenn dieselben nicht syphilitisch sind. Be-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
sonders beweisend ist der Fall eines starken Rauchers, welcher
keinerlei \’eränderungen der i\rundschlciinhaut aufwies, sich dann
mit Syphilis infizierle und schon nach zwei .lahrcui (dne starke
Leukoplakie hekani. Die Syphilis führt auf dem Wege der Leuko¬
plakie zum Karzinom, doch ist zu bemerken, daß auch echte
Leukoplakie ausnahmsweise ohne voraugegaugene Syphilis ;iuf-
Iritt. Remerkenswert ist die Häufigkeit vorangegangener Syphilis
hcdin Karzinom des jMastdarms und der Vulva, hei welcher gleich¬
falls Leukoplakie als Vorstadium des Karzinoms heohaclitet wird
und es fragt sich, oh die Syphilis nicht eine allgemeine Frädis-
position für Karzinomentwicklung schafft. Das ZungenkarzinPni
beginnt hoi der Leukoplakia huccalis als kleines Knötchen. Sobald
ein solches Knötchen nacliweishar ist, darf keine Zeit mit Ver¬
suchen spezifiscligr Therapie verbracht werden, wxdl die Leuko¬
plakie, . gleich den anderen parasyphili tischen Affektionen, Tabes
und progressive Paralyse einer antisyphilitischen Therapie nicht
zugänglich ist. Sobald in einem Fall von Leukoplakie ein Knötchen
manifest wird, so ist sofortige Operation indiziert, weil hei Zungen¬
karzinom nur ein möglichst frühzeitig vorgenommener Eingriff
Aussichten auf Erfolg bietet. — ■ (Bull, de l’i-Vcad. de Med. 19()ü,
Nr. 40.) a; e.
Vermisehte l^aehriehten.
Ernannt: Prof. Dr. Rudolf K 1 a p p, Assistent der chirur¬
gischen Klinik in Bonn, zum a. o. Professor der Chirurgie an der
medizinischen Fakultät in Berlin und zum Leiter der chirurgischen
Poliklinik. — ■ Pi’of. Klapp ist bis zur definiliven Dehernahme
der ehcmialigen Bergmannschen Klinik durch Prof. Bier mit
dessen Sliellvertretung betralut.
*
Verliehen: Dem Direktor des Kaiserin-Elisabeth-Spitais
in W' ien Dr. Josef Novak der Orden der Eisernen Krone dritter
Klasse. — Dem Oberbezirksarzt kais. Rat Dr. Heinrich Mayr-
gündter in Graz anläßlich der erbetenen Versetzung in den
dauernden Ruhestand der Titel eines Landessanitätsinspektors. -
Dem Bürgermeister der Stadt Böbrka, prakt. Arzt Dr. Thaddäus
Gabryszowski, der Titel eines kais. Rates. — Dem praktischen
Arzte Dr. S. Aronsohn in Podgorze der Titel eines kais. Rates.
— Dem Privatdozenlen für innere Medizin in Berlin Dr. xVd. La¬
zarus der Professorlitel.
*
11 a b i 1 i ti e r t : Dr. Alia r d für innere VIedizin in Greifs¬
wald.
Gestorben: Dr. F. Klug, Privatdozent- für Ohrenheilkunde
in Budapest. — Dr. J. Nassilow, ehern. Professor der Chirurgie
an der militärmedizinischen Akademie in Petersburg.
*
In der am 4. Mai 1907 abgehaltenen Sitzung des
Obersten Sanitäts rates wurden nachstehende Gegen¬
stände in Beratung gezogen: 1. Feststellung der Grundsätze einer
Regelung des Verkehrs mit sero- und organottierapeutischen Prä¬
paraten. (Referent: Hofrat v. Vogl; Korreferenten: Professor
Paltauf und Hofrat Wagner v. Jauregg.) 2. Referat über
die spezialistische Ausbildung der Aerzte. (Referent : Hofrat
E X n e r.) 3. Gutachten über die Verwendung des zur Bekämpfung
der Tuberkulose aus Staatsmitteln gewidmeten Kredits. (Referent:
Hofrat W e i c h s e 1 b a u m.) 4. Referat über das Gesuch eines
Eaboratoriumsinhabers um Bewilligung zur Vornahme von Unter¬
suchungen menschlicher Se- und Exkrete. (Referent: Derselbe.)
5. Gutächtliche Aeußerung über die Zulässigkeit des Vertriebes
eines Apparats zur Beseitigung von Zahnschmerzen. (Referent:
Hofrat Ludwig.) ß. Gutächtliche Aeußerung über die Qualifi¬
kation der Bewerber um mehrere erledigte Stellen im staatlichen
Sanitiltsdiensle (Niederösterreich, Böhmen und Galizien). (Referent:
Ministerialrat D a i m e r.) 7. Referat betreffend das von einer
Landesstelle vorgelegte Programm der Bekämpfung der Pellagra
für 1908. (Referent: Derselbe.)
*
Die diesjährige ärztliche S t u d ie u r c i s e, welche
am ß; September beginnt, verbindet mit dem Besuche der deutschen
Ost Seebäder zugleich den von Kopenhagen und Stock-
iiolm. Da die Teiluehmerzahl aus technischen tiründen eine
begrenzte sein muß, ist recht baldige Anmeldung dringend zu
emj)fehleu. .\lles Nähere wird binnen kurzem bekanntgegeben
werden. .Anträgen sind zu richten an das Komitee zur Veran-
sial.nng ärz'licher Studienreisen, zu Händen des Generalsekretärs
Dr. .A. Oliven, Berlin, Luisenplatz 2/4 (Kaiserin -Friedrich-
Haus).
Dr. Siegfried Frankl, einer. 1. Sekundararzt des k. k.
Stephaniespitals, gewesener Opeia'.eur der Hl. Universitätsfrauen-
ktinik in Wien, wurde zum Badearzt in Luhatsidiowitz ernannt
und übt dasellist (Altdeutsches Haus) ab 1. Mai 1907 seine
Praxis aus.
♦
Dr. Ludwig Mandl, Privatdozent für Geburtsbilfe und Gynä¬
kologie, ordiniert ab ß. Mai 1907 Wien VHI., Alserstraße 41.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 16. Jahreswoche (vom 14. bis
20. April 1907). Lebend geboren, ehelich 694, unehelich 300, zu¬
sammen 994. Tot geboren, ehelich 59, unehelich 23, zusammen 82.
Gesamtzahl der Todesfälle 734 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 19T Todesfälle), an Bauchlyphus 0,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 21, Scharlach 0, Keuchhusten 0,
Diphtherie und Krupp 9, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 4,
Lungentuberkulose 130, bösartige Neubildungen 46, Wochenbett¬
fieber 5. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlaul 55 (-J- 21), Wochen-
betlfieber 3 ( — 3), Blattern 0 ( — 1), Varizellen 51 ( — 20), Masern 427
(-1-68), Scharlach 106 (-j- 2), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 11 ( — 9),
Ruhr 3 (-j- 3)) Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 85 (-L 13), Keuch¬
husten 52 (-j- 8), Trachom 4 (-f- 2), Influenza 0 ( — 1).
17. .lahreswoche (vom 21. bis 27. April 1907). Lebend geboren,
ehelich 611, unehelich 278, zusammen 889. Tot geboren, ehelich 53,
unehelich 27, zusammen 80, Gesamtzahl der Todesfälle 800 (i. e. aul
1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden 208 Todesfälle), an
Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 18, Scharlach 4, Keuch¬
husten 3, Diphtherie und Krupn 8, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0,
Rotlauf 2, Lungentuberkulose 138, bösartige Neubildungen 56, Wochen-
hettfieber 6. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 45 ( — 10),
Wochenbettfieber 5 (-)- 2), Blattern 0 (0), Varizellen 86 (-j- 35), Masern
450 (4- 23), Scharlach 93 ( — 13), Flecktyphus 0 (0), Banchtyphus
6 ( — 5), Ruhr 0 (—3), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 64 ( — 21),
Keuchhusten 54 (-^ 2), Trachom 1 ( — 3), Influenza 0 (^0).
Eingesendet,
Internationaler Kongreß für Rettungswesen.
Unter dem Ehrenpräsidium des Staatssekretärs des Deutschen Reiches
Grafen Posadowsky und des Geh. Rates Exzellenz Piof. v. Es m a rch
hat sich ein Komitee der bedeutendsten Männer aus Deutscliland und
Oesterreich zur Abhaltung eines internationalen Kongresses für Retiungs-
wesen gebildet. Als Ort des Kongresses wurde über Einladung der Sladt-
repiäsentanz die Stadt Frankfurt a. M. gewählt und die Pfiiigstwoche 1908
für die Abhaltung des Kongresses festgesetzt.
Lleberall wo Menschenleben und Gesundheit, auf dem Spiele stehen,
hat das moderne Reltungswesen einzuselzen. Was aber diesen Be¬
strebungen bislang fehlt, ist die gegenseitige Berührung und der gegen¬
seitige Austausch der Erfahrungen.
Auf dem Gebiete des Rettungswesens können und müssen alle von¬
einander lernen. Das Komitee wendet sich an alle maßgebenden Faktoren
mit der Bitte, ihr Interesse dem Kongresse zuzuwenden und an den Ar¬
beiten teilzunehmen.
Der Organisationsausschuß hat folgenden Arbeitsplan für die ein¬
zelnen Abteilungen festgesetzt:
1. Erste ärztliche Hilfe bei Unglücksfällen; 2. Ausbildung von Nicht¬
ärzten in der ersten Hilfe (Samariterunterrichti; 3. Rettungswesen in
Städten; 4. Rettungswesen auf dem Lande, in Industriezentren und in
kleinen kommunalen Verbänden; 5. Reltungswesen im Landverkehr
(Eisenbahn-, Automobilverkehr usw.); 6. Reltungswesen auf See-, Binnen-
und Küslengewässern; 7. Rettungswesen in Bergwerken und verwandten
Betrieben; 8. Rettungswesen bei den Feuerwehren; 9. Reltungswesen im
Gebirge; 10. Rettungs wesen und Sport.
Die Vertretung für Oesterreich wurde dem Chefärzte der Wiener
Freiwilligen Reltungsgesellschaft, Herrn kais. Rat Dr. Heinrich Charas
übertragen und wurde derselbe gleichzeitig zum korrespondierenden Mil-
gliede des Kongresses ernannt.
Die hohe Entwicklung, welche das Reltungswesen in Oesterreich
genommen und die es an die Spitze aller diesbezüglichen Bestrebungen
gestellt hat, läßt mit Zuversicht erwarten, daß die Beteiligung aller hieran
interessierten Kreise eine recht zahlreiche sein und daß unser Vaterland
auf diesem Kongresse in würdiger Weise vertreten sein wird.
Mit der Anssendung der Einladungen wird demnächst begonnen
werden. Der Chefarzt der Reltungsgesellschaft Dr. Charas erklärt sich
zu allen weiteren Auskünften gerne bereit.
Freie Stellen.
Bei der k. k. Tabakfabrik in Joachimsthal gelangt die
Stolle eine Fabriksarztes III. Kategorie (Jahreshonorar K 1600 und
Fnhrenpauschale jährlicher K 400) zur Besetzung. Konkurstermin 31. Mai
1907. Die vollständige Kundmachung kann bei der k. k. Tabaklabrik in
Joachimsthal, beim Sanitätsdeparlement der k. k. Stalthallerei in Prag
und Brünn sowie bei der k. k. Generaldireklion der Tabakregie in Wien
IX.. Porzellangasse 51 (Dep. I), eingesehen werden. Wien, am 29. April
1907. K. k. Generaldirektion der Tabakregie.
Im Wiener Sanatorium Dr. Anton Loew gelangt die Stelle
eines Assistenzarztes zur Besetzung. Auskünfte erteilt die Direktion
des Sanatoiiums.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Glä
Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 10. Mai 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung vom 2. Mai 1907.
Der 24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden, vom
15. bis 18. April 1907.
30. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Ileriin.
2. Sitzungstag 4. April 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 10. .Mai 1907.
Vorsitzender: Orof. I)r. L. Königsiein.
Sehril'tfülirer : l’riv.-Doz. Dr. K. Stejskal.
Präsident llofrut Clirobak teilt mit, datt er lieute llertn
Priv.-Doz. Dr. Fieber zum 70. Cieburtstage, im Namen d('r (Ic-
sells(diat't beglückwünscht bat.
llol'rat Clirobak teilt ferner mit, daß im lieurigcn Sommer
eine Anzahl französischer Aerzte unter Patronanz von Prof. Roux
auf ilirer Studienreise nacli Wien kommen werden, um liier
klinische und Krankenanslalten zu besuchen. Nach dem Pro¬
gramme werden sich die französiseben Gäste vom 15. Iiis
18. August hier aufballen, es wäre nun wünschenswert, daßi eine
Anzahl zu dieser Zeit in Wien Aveilender Kollegen sich bereit
(M'klären würde, den Gästen zur Erfüllung ihres Zweckes l)c-
bilflicli sein zu wollen und ihre Lokalkenntnisse ihnen zur Ver¬
fügung zu stellen, begreiflicherweise ist es erwünscht, daß die
betreffenden Herren der französiseben Sprache mächtig sind.
Der Präsident erlaubt sich, einen diesbezüglichen Api)ell
an die Mitglieder zu richten, daß sich .jene Herren freiwillig
melden möchten (im Bureau der Gesellschatt), welche den aus¬
ländischen Gästen sich zu widmen bereit sind, damit ein Komitee
konstituiert werden könnte, welches über das Programm der
den Gästen zu bietenden Veranstaltungen schlüssig werden sollte.
Es meldeten sich freiwillig Prof. v. Zeißl, Prof. AVinter-
nitz, Prof. Königstein, Dr. Kapsammer, Privatdozent Doktor
Eisenschii I z.
Prof. Dr. Königstein daidvt für die ihm durch die AVahl
zum A^orsitzenden erwiesene Ehre.
Prof. V. Zeißl: Meine Herren! Das AVeib, welches ich
Ihnen hier vorstelle, zeigt einen schönen Fall von Lichen ruber
verrucosus der linken unteren Extiemität. An den übrigen Körper¬
stellen sind keine Erscheinungen dieser Dermatose zu sehen.
Die Kranke wird .seit acht Tagen einer Arsenkur untei'zogen.
Der zweite Fall betrifft ein Jahre altes' Kind. Bei diesem
möchte ich die Diagnose in suspenso lassen. Nach Angaljo der
Alutter soll das Alädchen seit der ersten Januarwoche 1907 krank
sein. Schon damals soll das liidce große und kleine Labium, so¬
wie das Praepulium clitoridis gerötet und geschwollen gewesen
sein und das Kind beim Harnen über Beschwerden geklagt haben.
Ein <lamals zu Rate gezogener Arzt applizierte, ohne Erfolg zu
erzielen, graues Pflaster.
Am 10. A])ril kam das Kind das erstemal in das Kaiser-Franz-
Josepb-Ambidatori’um. Die erwälmten Genilalr)artien boten den¬
selben Anblick wie heute, nur fanden sich noch am großen und
kleinen Labium je sechs hanfkoi'ngroße, hellrote Knöteben, von
welchen vier oberflächlich exkoriiert waren. In der liid<en Leisten¬
beuge waren drei Lynii)hknoten, in der rechten ein Lymphknoten
geschwellt, letzterer etwas elastisch. Punktion dieses Lymph¬
knotens behufs Untersuchung wurde verweigert.
Das Sekret der exkoriierten Knötchen, der Vagina und der
Urethra ergab bei wiederholter Untersuchung keinerlei patho*
gene Organismen. _ ■ j
Mehrere Tage, ehe this Kind zu mir kam, soll es getieber'n
und gehustet haben. Außer dem Genitalbefunde bestanden an
der Zunge und an der AVangenschleimhaut, mehrere cpitlu^lialü
Ahhebungen, ähnlich den Alundkatarrhen, wie man sie bei In¬
fluenza zu sehen pflegt. Die Alundalfeklion schwand unter Aus-
spiden mit Wasser und Borax. Die Genitalaffektion hlieb so,
wie sie heute erscheint, trotz Reinigung und Anfstreuen von
AToform und Dermatol.
Seither schAvollen die Inframaxillarlymphknoten an und
entwickelten sich an der Haut des Stammes die in Gruppen
angeordneten Knötchen. Da bisher keinerlei Allgemeinerschei¬
nungen der Lues auftraten, wird das Kind weiter (jxspektalivi
behandelt und die Rückenhaut mit Schmierseife gewaschen. Die
Ernährung ist eine möglichst roboricreude.
Alöglicherweise steht die Genitalerkrankung mit einem In¬
fluenzaanfall in Zusammenhang und scheint sich dem Kinde
jetzt ein Lichen scrophulosorum zu mitwickeln. Mehr über diesen
Fall auszusagen, wage icb jetzt nicht und werde; ich das Kind
in einiger Zeit wieder vorstellen.
Da die Erkraideung seit nahezu vier Monaten besteht, midi
die Vermutung, eiaß doch noch Allgemeinerscheinungen der Sy¬
philis auf treten können, mit Reserve im Auge behalten werden,
doch dürfte es sich vielleicht um Tuherkulosc, welche sich an
die Influenza anschloß, handeln. Ich werde den rechten Lymph¬
knoten exstirpieren, vielleicht liefert die mikroskopische Pnler-
suchung desselben eine entscheidende Diagnose.
Prof. Dr. Urbantschitsch stellt eine 27jährige Frau vor,
die seit zehn Monaten Anfälle von Schmerzen der linken Schulter,
parctisebe Erscheinungen der linken oberen und unteren Extremi¬
tät und leiebtes Stottern aufweist. Als in einem dieser Anfälle
aus den liidcen Mittelobrräumen, die vor zebn Jahren operativ
eröffnet wordem waren, eingedickte Ei'.erniassen entfernt wurden,
waren die genannten Erscheinungen unmittelbar nach der Rei¬
nigung des Obres verschwunden. Dieselbe Beobachtung ergab
sich im V'erlaufe der folgenden AA'ochen zu wiederholten Malen.
Anderseits konnte außerhalh des Anfalles durch Einiräufeln von
Spiritus und dem dadurch erregten Brennen im Ohre, der ge¬
nannte Anfall ausgelöst werden, während wieder eine xAnästhesie-
rung des Ohres mit Kokain einen vorhandenen Anfall zu kui)ieren
vermochte. Demzufolge sind in diesem Falle die Schulter¬
schmerzen, die Paresen der linken oberen und unteren Extre¬
mität, sowie das Stottern als vom linken Alittelohre ausgelöst
zu betraebten und gehören der Gruppe von Fällen an, über die
Urbantschitsch bereits vor drei Jahren in dieser Gesellschatt
berichtete.
Urban tschitsch- hat in letzter Zeit noch zwei weitere
Fälle von Reflexparesen der Extremitäten infolge eines Mittel¬
ohrleidens beobachtet. In dem einen Falle trat an einem Manne
des mittlei’en Lebensalters nach einer eitrigen Mittelohrentzün¬
dung des rechten Ohres an der linken Ober- und Unterextremi-
tät eine auffällige Muskelschwäche ein, die mehrere AVochen
aidiielt und nur durch Lufteintreihungen in das rechte Mittelohr
vorübei’gehend günstig beeinfkdk wurde. Nach ahgelaufener Ohr¬
entzündung schwanden die Paresen. Der andere Fall betraf einen
sechsjährigen Knaben, der, an einer bilateralen, akuten tMittelohr-
eiterung erkrankt, von einer Parese beider Unterexlremitäteu be¬
fallen wurde, die nach Ablauf der Ohrentzündung bleibend zu¬
rückging.
U rban tschif sch stellt ferner eine öljährign Frau vor,
die iAiifälle von sensorischer Aphasie und Agraphie aufgewiesen
hatte, die nach Ausspülung der eitrig erkrankten rechten Kieter-
höhle jedesmal wesentlich gebessert wurden, bei erneuter Eiter¬
ansammlung in der Kieferböhle wieder stärker hervortraten und
seit Eröffnung der Kieferhöhle vollständig geschwunden sind.
Urbantschitsch erinnert aidäßlich dieses Falles an einen von
ihm vor drei Jahren erwähnten Fall, wo eine Alitfelohrentzünduiig
anfallsweise ai)hasische Erscheinungen hervorgerufen hatte, die
sich als eine vom Ohre ausgelüste Reflexerscheinung erwiesem
Schlicßlich demonstriert Urbantschitsch die Schrilt-
proben eines Mannes, der jetlesmal beim Tami)onieren der rechten
Nasenhöhle von einem heftigen Zittern der rechten Hand be¬
fallen wird, so daßi er kaum leserlich oder überhaupt nicht zu
schreiben vermag. Unmittelbar nach Entfernung des Tampons
aus der rechten Nase tritt wieder die gut leserliche Schrift ohne
Spur von Zitterbewegungen auf.
Prof. Dr. Maximilian Sternberg stellt einen Fall voii
Tetanie vor, der sowohl in bezug auf den Verlauf, als in
bezug auf die Aetiologie bemerkenswert ist. Der Fall spricht
für die /Annahme einer Ueberti’agbarkeit der Krankheit. (Erscheint
ausführlich.)
Diskussion: Hofrat Prof. Dr. E scher ich: Der von dem
Vorredner vorgestellto Fall ist in der Tat, namentlich in bezug
auf den /Ausgang in si)aslische Lähmung, so eigenartig, daßi man
wohl die Frage aufAverfen kann, ob es sich hier wirklich um
einen Fall von idiopathischer /Arbeiterletanie und nicht etwa
um eine symptomatische Tetanie im Amrlaute einer anderen
' Nervcnki'ankhoit handelt. Daß solche Fälle Vorkommen, kann ich
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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(luicli {jiiic j|(“(»l)aclüuiig orliärieiij die wir kürzlich auf der Kinder¬
klinik zd nlaclieh (ielegeiilielt hatleil. Eiil -elwd siebenjähriger
Knabe wii’d mil den Erscheinnngen einer sehweren 'rctanie, iniL
.Muskelkräni])fen, leichler Nackonslarre, Oiiis'liotonus und leichtem
Eicher in das Spiial gebracht. Die Erkrankung ist plötzlich ausge-
hr<jch(‘n, es isl das C h v o s tek sehe, das E r fische undT r o u s se a u-
sche l’hänoinen auf das deut'ichste nachweisbar, also ein Zweifel
in d(*r Diagnose Telanie ausgeschlossen. Der Verlauf zeigt jedoch
in ilen nächsten Tagen nicht die erwarlele günslige Wendung,
vielmehr stelll sich ein zUiKdimendcr Soiior und deulliche Sym¬
ptome einer KiherkulösMi Meningitis ein, die nach und nach
(las liild voilslfindig heherrschen nnd in der Zeit vüil etwa acht
Tagen zum Exitus führen. Jedoch is' i)d zum Tode die elektrische
Uehei'erregharkeit vorhanden. Die Obduktion ergab eine typische
tuberkulöse IMeningilis. In den anscheinend iidaklen Epithel¬
körperchen fimlen sich nach der von Dr. Jana s se yorgenommenen
Untersuchung dtmtliche Anzeichen einer afigcdaufeuen Erki’ankung,
die sehr wohl zu einer F’unktionsschwäche Veranlassung ge¬
geben haben kann.
Daß es sich in dem Falle Sternbergs um echte Tetanie
gehamlelt hat, wurde datlurch wahrscheinlich, daß auch der andere
tnil ihm zUsainlneiiVvolnu'iide Lehrjunge an typischer Telanie er¬
krankte. Ich kann mich aber der Annahme, daß hier eine Koidakt-
infektioli vorliegl, nicht anscldk^ßeii. Ich hatte zwar wiederholt
flelegeiiheit, zU lieobachteu, wie im Krankenhause plötzlich hei
einer größeren Anzahl von Kindern tetaliolile Symidome in Er¬
scheinung treten, <lie sie augenscheinlich im Spilale erworben
hallen. Allein <1ieso Tatsache kann nicht ■ — und dies gilt auch
für deii Stern h e t^gsdien Fall ohne weiteres für die An-
nalime einer Konlaklinfeklion verwertet Werden, da alle Kinder
auch den gleichen respiratorischen Schädlichkeilen ausgesetzt
waien. .'\uffallend ist ja auch, daß diese Infektionen stets in
den Friihjahrsmonalen, fast niemals im Sommer zur Boohachtung
kommen. Nach ausgedehnten Uidersuchungen, die an meiner
Klinik gegenwärtig an, gestellt werdem, zeigt sich eine ausge-
spi'ochene Abhängigkeit der elektrischen Erregbarkeit der kind¬
lichen Nerven nach der Jahreszeit, so daß ich geneigt hin, den
kl i malischell Faktoren die hervorragendste Rolle in der Aus¬
lösung der Tetanie z'uzuschreihen.
Prof. V. Frau kl-IIochwart sieht in den Fällen Sterii-
hergs einen wichtigen Beitrag zur Hypothese von der Infek-
liosilät der Tetaule. BcU der Zusatiimenstellung der Literatur
und der eigenen Fälle für die Neuauflage der Tetaniemonographie
hat V. Frankl -II och wart nicht wenige Fälle von gemein¬
samem Vorkomlnen der genannten Krankheit in einer Familie
gefunden. So sah er eine mit 'retanie behaftete Fiaiu, deren
beide Söhne (‘henfalls die Krämpfe hatten. kTir diese Art Fälle
kann aber auch die Hypothese slatthahen, daß es eine ange¬
borene Disiiosilion für Telanie gälx; — z. B. eine angeborene
Unl(n'werligkeit der Epithelkörperchen (Uhvostek jun.). Viel
wichtiger sind die Beohachtungen von N. Weiß und V au g haus.
Weiß demonstrierte einmal in einem Ahleilungszimmer,
wo 21 Nerveidu'anke (darunter drei Telanhdälle) lagen, das Vor-
haiiihmsi'in des Fazialisphänomens hei letzteren. An den übrigen
(daruid<“r auch hei einem Epileptiker) war es nicht zu finden.
Am Ahmid hekain der letztgenannte Kranke Krämid'e und Par-
äslhesitm; den anderen Morgen konnte W e i ßi hei ihm typische
Telanii^ und Clivoslekphtinomen nachweisen. Noch wichtiger ist
die B(‘ohachlung Vaughans aus New- York, einer Stadt, wo
sonst kaum je Malerniläts- und Arheitertelanic* konslatiert wurde,
ln eituMu italienischen Ar])eilerc[uarliere tauchlen jdötzlich der¬
artige Fälle auf; Vaughans konnte in einer lichllosen Sou¬
terrainwohnung sieben Tetaniekranke auffinden: fünf gehörten
einer Familie an, zwei standen außerhalb der.selhen.
V. Fra n k I - II ochwa rt kann den Ihnfluß von Wohnung
und Klima nicht als genügend für <lie Erklärung derarliger Fälle
anselum. Die Wolmungsverhällnisse der Schuster und Schneider
sind auch außerhalt) Wiens besonders schlechte; auch sind na-
tüilich di(' klimatischen Verhällnisse an vielen anderen Orten
ganz ähnli(die, ohne daß es zu (diun' Häufuug derartiger Fälle
kommt. .Man wird unwillkürlich daher zur Hypothese der An¬
nahme eiiK's infektiösen Agens gedrängt.
Prof. Dr. Maximilian Sternberg: Die Häufung der Telanie
im .März und .\])ril spi'i(dd. nicht geg(m die Infektionsl heorie,
w(m1 die großsiädlische .Morhidilälskurve in diesem Monaten üher-
haupt ihi- Maximum hat. Es gibt hiefür ve'rschiedene Erklärungen.
Sehr i)lausihel klingt ji'iu“, <lie die Häufung der Kraidvlunlen da-
flurch (uklärt, daß es siedt nichl sowohl um den .'\nfang des
Eridilings, als um das Lude des Mhnters tind die Summations¬
wirkung aller sciiu'r Schädlichkeiten handelt.
Prof. Dr. S. Ehrmann stellt drei Fälle vor, hei welchen
er ilen Einfluß des an ultravioletten Strahlen reichen Oueck-
silherhogenlichtes (Uviollampe) auf die Abheilung von Psoriasis
demonstriert.
Dell Ausgangspunkt für seine Versuche liildete ein Fall,
hei welchem der iKdreffende Patient nach (unem Bade in der
See sich am Strande in die Sonne lagerte, dann ein Erythema
solare bekam, wehdies mmdi M'o'dien in eine braune Haul|)ig-
mentic'rung übeigiiig, die länger als ein Jahr andauerte und von
rundlicdicn konfluiereiHleii, pigmentarmen Stellen durchsetzt war.
Der anfangs rätselhafte Fall zeigle dann an den wenig oder
gar nicht, belichteten Stellen, Rasen von Pityriasis versicolor,
die an (liöße und Verteilung den pigmenllosen Flecken ehlsprach.
Mithin war es klar, daß die Wirkung der Sonnenslralilen an der
normalen Haut Erythem mit nachfolgejider Pigmentierung, aid'
den Pilzrasen dagegen eine Ahhehung der Epidermis ohne Pig¬
mentierung und Aveiterhin eine definitive Heilung der Pityriasis
versic o I or 1 le w i rk te.
Danach unterzog der Vortragende einen jungen Mann in
denselben Jahren wie der ersterwähnte der Bestrahlung mit Uviol-
licht. Der Effekt, war dei'selhe wie der (h'r Sonnenstrahlen. Er be¬
schloß nun, Fälle von Psoriasis derselben Behandlung zu unter¬
ziehen, in welchem Besclilusse er durch eine kurze Angabe Ax-
manns über den günstigen Einfluß des Uviollichles auf Pso¬
riasis bestärkt wurde, wenn auch Joseph und einige amerikani¬
sche Autoren angx'hen, daß durch starke Sonnenwirkung auf un-
hedeckte Körperstelhm (wie im Fädle Josc|)h, ilie Produktion
Von Psoriasis auf Hals Und Brust einer dekolletierten Dame) her-
vorgerufen wird.
Die Versuche nun, die in 15 Fällen bisher durchgeführt
wuixhui, zeigten folgendes: Durch das Uviollicdit wird ein mäßiges
(hei einiger Vorsicht nicht blasenhildendes) Erythem erzeugt, das
mit Pigmentierung ahheilt, während die Psoriasisphuiue sich ab¬
schilfert und an dei'cn Stelle bleibt eine pigmentarme Area, die
genau der früheren Psoriasiseffloreszenz entspricht. Die dem
Erythem folgende Pigmentieiung ist um so intensiver, je brünetter
die Haut des betreffenden Individuums ist. Es entspricht das
der Fhtahrung, welche wir bei Sonnenerythem, nameid.lich bei
sogenanntem (1 letscherb rand machen. Besonders das vom
Cdetschereis reflekliorte Sonnenlicht ist reich an ultravioletten
Strahlen, und wir wissen, daß hellhäutige, hellblonde Indivi¬
duen nach einer Gletscherwanderung eine leichte, gelblichhräun-
liche Färbung bekommen, die etwa in 14 Tagen schwindet, während
Brünette dauernd fi'ir viele IMonate eine dunkle Färbung bei-
behalten. Auch bei Albinismus partialis, sowie bei der Vitiligo
macht man die Flrfahrung, daß ij'geudwelche erylhemerze'ugende
Flinflüsse, chemischer oder ])hysikalischer Natur, also nicht bloß
Vesikantien, sondern auch Sonnen- und Röntgenlicht nur eine
vorübergehende Rötung Und gelbliche Tingierung der weißen
Stellen erzeugen, die bald schwindet, Avährend die Umgebung
der weißeji Stellen für lange Zeit dunkel pigmentiert wird.
Die Abheilung der Psoriasis mit Hinteriassuug vt)n weißen
Stellen, also ein Leukoderma irsorialicum, älndich wie das Leuko¬
derma syphiliticum, ist 'uus ja in den letzten Jahren bekannt
geivorden — auch unter gewöhidichen Umständen und nach .An¬
wendung der verschiedenslen Mittel. Anderseits wissen wir aber,
daß langdaueriule Psoriasisphuiues l)ci ihrer Ahheilung eine duidde
Pigmenüeruug hiiderlassen, besonders, Avenn die Kraidcen auch
Arsen genommen hatt(m. Diesidbe Flrfahrung machte Vortr. hei
Bestrahlung mit Uviollicht. Bei psoriatischen Fdächen, die von
einem älteren Phujue durch periphere Zunahme entstanden sind,
konnte der Vortragende nach der Bestrahlung drei Zonen finden.
Im ältesten Zentrum eine duidvle Pigmeidierung, dann eine iiig-
mentlose Zone, die Perii)hene vom Erythem Aviedejum pigmentiert.
In jenen FTillen, wo ein lokales Rezidiv eintrat, schossen gerade
an der Gicmze zwischen der i)igmeutierlen Umgehung und der
pigmentlosen Haut, neue liiiseugroße EffloJ'eszenze'n hervor; in
den meisten Fällen blieben <Iiese aus. Der ältesle Fall ist jetzt
seit der Behandlung zwei IMonate alt.
Von einer Provokalion neuer Psoriasis Avar in keinem dieser
F’älle etwas zu merken, so daß' man zu dem Schluß gedangen
mußi, daß' die Provokation nur (hm tief ins GoAvadie dringemhm
Wäimestrahlen und dem Strahlen vom i'olen Ende des Souiien-
si)ektnnns zu danken ist, wekdie im Uviollicdite vollständig fehlen.
Diese dringen bekanntlich dunh die ganze Haut oft bis an den
Kmadien, Avährend die ulti'aviohdlen und die dem A'ioletteu Finde
des Spektrums näheitiegenden S'j’ahlen nur auf die oberen llaiil-
schichien eiiiAvirken.
'Auf alh^ Fälle habim Avir mit dem Uviollicht ein sehr
becpiemes Mittel der lokalen 'l'herapie, wehdies wedei' dem
Patienten, no(di der Umgehung lästig fällt. Verbände unuölig
macht und M’äsche und Kleidung spart. Nur für ganz invetiuierte,
jahrelang dauernde Plaques, Psoriasis Amrrucosa, Averden Avohl
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intensivere Wirkungen notwendig sein, mit deren tStudiuin man
sieli auf der Abteilung des Redners beseliäl’ligt.
l’rof. Dr. Spiegler: Verehrte Versammlung! Der elfjährige
Knabe, den vor/aislellen ieli mir erlaube, ist seit fünf Tagen
(‘rkrankl. Die Möglicdikcdl, ihn hier vorzustellen, verdanke ich
ilci’ Lielwmswürdigkeit dc's Kollegen Dr. Siegmund Adler. An
seiner Unterlippe fehlt die Sebleimbaul, die Oberfblcbe ist leicht
gewncherl, oberflächlich mit sednnierigem Relag, heim Ahwischen
mit dem feuchten Tupfer blutet sie leicht, Reim ersten Anblicke
könnte man an luetische Rapedn denken, ein Irrtum, vor dem
man indes durch nähere Relrachtung lei(dit bewahrt wird. Der
harte Raumen ist mit schlappen, trüben Rlasen belegt, das ganze
Rild dem des beginnenden Pem[)higus mucosae oris, d('r be¬
kanntlich häufig das Inilialsladiuin des gefürchteten Pemphigus
vegetans bildet, sehr ähidich. Ebenso finden wir Epilhclverlustc
an der K o n j u n k t i v a de r u n t e r e ii A u g e n 1 i d e r beiderseits,
ja an einer Stelle ein seichtes Geschwürchen. Dieses Kivinkheits-
hild ist von einem heginnenden Pemphigus klinisch mir sehr
schwer unteischeidhar. iVuf <!ie diesbezüglichen differenlialdia-
gnostischen Momente will ich hier nicht näher eingelien. In¬
dessen finden wir glücklicherweise ein Symptom, das die Dia¬
gnose mit einem Schlage klä.rt: der Knabe hat nämlich au den
Streckseiten beider Unterarme typische Effloreszenzen eines Ery¬
thema niultiforme, speziell jener Form, welche als Erythema
ins bekannt ist. Es handelt sich also hier um ein Erythema,
niultiforme mit Be!<‘iligung der Lippen, der Mundschleimhaut und
was als hesonders seltenes Vorkommnis namentlich hervorgehohen
sei, der Konjunktiven. Die Prognose ist daher eine sehr gute.
Dr. Artur Foges: Uemonstration einer Ovarientransplan¬
talion in die Milz.
Im vorigen Jahre hat Payr über gelungene SchiUldrüsen-
transplantalionen in die Milz henchtet und in ausgezeichneter
AVeise dargelegt, dah die Milz infolge ihrer besonderen Rlutzirku-
lationsverhältnisse für die Ein])flanzung anderer Organe sehr gün¬
stige Redingungen hietet. Ich liahe diesen Gedanken Payrs auf-
genomnien und hehufs Süidium einiger Fragen der inneren Se¬
kretion in die Milz Eierstöcke und Hoden implantiert.
Als vorläufiges’ Resultat dieser im Wiener physiologisclien
Institute angcstellten Versuche erlaube ich mir, ein Präparat
zu demonstrieren, an welchem man die gelungene Einheilung
eines Ovariums in die Milz sehen kann.
Bei einer Häsin wurde das linke Ovarium entfernt und
hierauf die Milz vor die Bauchdecke vorgezogen; nach den .An¬
gaben Payrs wurde die Kapsel gespalten und duridi stumpfes
Wegkratzen der Puljia eine Tasche gebildet, in welche das Ovarium
.geschoben wurde; durch einige Seidensuturen wurde die Wunde
geschlossen und mit Netz ühernäht. Bei iler sechs Wochen später
vorgenoinmenen Sektion zeigte es sich, daß die Milz mit dem
.Ma gen und dem Darme fest verwachsen war; ents])rech(Mid der
Operalionsstellc war eine leichte Anschwellung der Alilz sichthar,
auf deren Durchschnitt das eingelieilte Ovarium sich scharf ah-
grenzte.
Ich will auf histologische Details heute hier nicht eingehen,
sondern nur das eine bemerken, daß, wenn aücli ein Teil der
Follikel verändert erscheint, zahlreiche Follikel ein vollkommen
normales Aussehen zeigen. Es spricht schon dieser eine positive
Versuch an der wegen ihrer Kleinlieit nicht sehr geeigneten
Kaninchenmilz für die Anschauung Payrs, daß die Milz für
Einheilung von Organen ausgezeichnete Ernährungsliedingungen
aufweist. Vielleicht werden mm auch Heleroplastiken, die üeher-
IragLing der Keimdri’ise von einem Tiere auf das anderi*, so noch
besser gelingen als hei den peritonealen Transplantationen
Knauers und Hai bans; vielleicht wird es z. B. nun durch
.Austausch von Hoden und Ovarien möglich sein, Hai bans Hypo-
Ihese zu pri’ifen, <laß mäiinliidie und weibliche Keimdrüsen in
bezug auf <lie innere Sekretion identisch seien. Zum Schlüsse
möchte ich nur noch bemerken, daßi es wohl der Mühe wert sein
könnte, hei den so oft gescheiterten Versiudien maligne Neo-
plasnien auf Tiere zu übertragen, die Milz als Einiiflanzungsstellc
zu verwerten, was meines W'issens bisher noch nicht ge¬
schehen ist.
Diskussion: Prof. Kreidl berichtet über Versuche von Im¬
plantationen von Nebennieren in die Alilz. Drei Monate nach der
0{)cration ergab die histologische Untersuchung normales Nehen-
nierengewehe. Die Versuche, die in Gemeinschaft mit Privaldozent
Dr. Mandl ausgeführt wurden, werden fortgesetzt.
Prof. Dr. Biedl: Im .Anschlüsse an die intoressaide Demon¬
stration von Kollegen Dr. Foges möchte ich auch fiber einige
Transplantalionsversuche von Organen mit innerer Sekretion he-
ricliten, welche ich nach der Methode von E. Payr ausgeführt
habe. Schon vor mehreren Jahren habe ich anläßlich meiner
Untersuchungen über die funktionelle Bedeutung der Schilddrüsen
und der Glandulae parathyrisoideae Transplantationen der
Epithelkörperchen versucht, allerdings mit wenig hetrie-
digendtm Erfolge. Mdr wissen ja, daß auch die erstell VenSüdie
V. Eiselshergs, Scliilddrüscn in (bis subkutane und suhfasziah!
Gewebe zU Iransiiiaulieren, nur in wenigen Füllen gelungen sind;
diesen mUß allerdings eine große Beweiskraft zuerkannt werden.
Das Payrsche A^erfahrcu, die Organe in die Milz zu implantieren,
habe ich nun an mehreren Tieren (Hunden und Kaizen) mit
je zwei Eiiithelkörperchen ausgeführt und konnte stets ihn
promptes Einheilen, das sich durch die ausreiidiende Funktion der
transplantierten Ejiithelkörperchen feststellen ließ, beobachten. Ich
verfüge gegenwärtig über zwei Hunde, welchen Vor uugeführ
einem Monatie zwei eigene Eiiithelkörperchen in* die Milz
verpflanzt wurden. Das eine Tier üherstand die dreizehn
Tage später vorgenommene Tolale.xslirpalion der Schild¬
drüsen und der anderen zwei Parathyreoiden ohne irgend¬
welche Störungen. Der zweite Hund zeigte vier Tage nach der
Exstirpation der Schilddrüsen ilas Bild der schwersten Tetanie.
Auf Grund meiner früheren Erfahrungen habe ich dem Tiere
große Dosen von vSchilddrüsentahleiten (30 Stück im Laufe des
Tages) mittels Schlundsonde in den Magen eingeffihrt. Nach einer
vorühei'gehenden Besserung traten noch am selben Ahmid aus-
gehreitete klonische Aluskelzuckungen und Iclanische Respirations-
muskelkrämpfe auf, so daß <Ias Tier als verloren gelten mußte.
Am nächsten Morgen war aher der Hund ganz frisch, zeigte
keinerlei Symptome von Tetanie, hingegen große Freßlust und
er befindet sich nunmehr seit einer Woche vollkommen wohl,
hat an Körpergewicht zugenommen. Icli helmchte diese transi¬
torische Tetanie als ein Zeichen der funktionellen Insuffizienz
der in der Alilz eingeheilteii Epithelkörperchen, gegenülier den
erhöhten Anforderungen, welche an ihre Tätigkeit mit der Ent¬
fernung der zwei anderen Eiiithelkörperchen plötzlich gestellt
wurden.
Außer diesen Autotransplanlationen habe ich noch je zwei
Epithelkörperchen von anderen .Tieren derselhen Art in die Alilz
verpflanzt und liesitze jetzt einen Hund und eine Katze mit
je zwei überschüssigen, in die Alilz implantierten Epithelkörpcr-
•cheii. .An diesen Tieren ist bisher nichts Besonderes wahrzu¬
nehmen.
Weiters habe ich auch die Transplantation der einem frisch
getöteten Tiere steril entnommenen Hypophyse in die Alilz einer
Katze ausgeführt.
Transplantationen von Nebenniere in die Alilz endlich sind
in der Absicht unternommen worden, um die von mir vertretene
Anschauung von der funktionellen Bedeutung der Nebennieren-
rinde auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Wie ich vor fi’inf Jahren
an dieser Stelle auseinandergesetzt habe, kommt die wohlbekannte
physiologische Wirkung, welche wir dem Extrakte der Neben¬
nieren schlechtweg zuschreihen, nur der Alarksuhstanz dieses
Organes, oder richtiger nur den chromaffinen Zellen zu. Die
letzteren sind eben im Nehennierenniarke zu einer größeren Gruiipe
vereinigt, finden sich aber zerstreut aueb in den sympathischen
Ganglien. Die Rinde der Nebenniere hingegen ist ihrer
Struktur nach eine Drüse mit innerer Sekretion und der für
die Erhaltung des Lehens unei'Iäßlich notwendige
.Anteil des Organes. Die bekannten Tatsachen, daß einerseits
hei den meisten Tierarten die Entfernung beider Nebennieren
nach wenigen Tagen sicher zum Tode fi’ihrt, während die Exstir¬
pation einer Nebenniere ohne weitere Folgen bleibt und daß
anderseits bei jenen Tieren, welche nach der Totalexstirpation
des Organes am Leben geblieben sind, stets akzessorische Nehen-
nieixm anzulreffen waren — z. B. die fast immer überlebenden
weißen Ratten haben in ßöAo der Fälle gewöhnlich an den
Hoden schon makroskopisch sichtbare akzessorische Neliennieren
— diese Tatsachen haben zur Untersuchung der Frage Veran¬
lassung gegeben, welche Alenge von Nchennierensubstanz zur
Eihaltung des Lebens notwendig sei. Alan fand Vn, Vs, ja ^/u
des Gesamtgewichtes der Nebennieixm hinreichend, ohne näher
zu herücksichtigen, welcher Teil des Organs ziirückgehliehen ist.
.Auch das wiederholt festgesicllle völlige Versagen der Sub-
stitulionslherapie, die Fütterung oder subkutane Einverleibung
von Nelieiinierenoxtrakt hei nebennierenlosen Tieren, blieb iin-
heachtel. Von der Erwägung ausgehend, daß die echten akzc'ssori-
schen Nehimnieren ihrem Baue nach der Rindensuhstanz ghdehen,
daß weiters stets nur die Rindensuhstanz eine kompensatorische
Hypertrophie aufweist, habe ich zunächst an Selachiern, die, den
zwei Teilen der Nebenniere entsprechend, zwei voneinander ge¬
trennte Organe hesilzen, die der Rinde der Neliennieren analogen
Interrenalkörper exstirpiert und feslstellen können, daß die
Tiere nach einiger Zeit unter allgemeiner Prostration in gleicher
Weise zugrunde gehen, wie die Säugetiere nach Thitfernung der
Nebennieren. Später habe ich unter Zuhilfenahme einer voran-
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"clicndon Traiis]danfalif)ii oder ricdilis«'!' Dislokation der (diieii
.N(diciiiii(“io zwistdien Haul und Aluskulalur des Ilückens aucli
itei einigen Hunden zeigen können, daß' die Tiere ülierlelien
können, wenn sie nur ein Stückchen Rindensubslanz nocli tie-
halten.
Hei der Transplantation in die Alilz liatie icli nun ge-
Iractdel, aus.scldi(dilicti Rindensubstanz einzupfropfen, in der
Weise, daß icli eine Netienniere durcti einen Sektionssctinill lial-
bierti', die sicdifbai'e Alatksulislanz mit. A'Iesser und scliarfem laiffel
enifernte und dann erst beide NetiennicrenliälfLen an zwei ver-
sctiiedenen Stellen in die Alilz versenkte. Die Kntfernung der
anderen Netienniere und die liislologisclie Untersu(dnnig der ein-
g(di('illen Stücke tvird, wie icli lioffe, den eiiuvandfreien Rcweis
ertiringen, daß die Tiere zuin Ueberleben keine AI a r k s u ti s ta n z,
sondi'rn tiloß Rinde der Nebenniere lienötigen.
Zum Scldusse niöctite icli nochmals hervorhehen, *daß die
Aletliode von Payr auch nach meinen Erfahrungen ein äußerst
einfache.s, sehr leicht ausführhares und sicheres Transplantations¬
verfahren darstellt. DieRluhmg aus der Alilzwunde kann wenigstens
hei der sehr muskelreichen Alilz von Hunden und Katzen schon
dnndi eine Naht leicht gestillt werden; eine plastische Deckung
durch Annähen des Netzes war niemals notwendig.
Dr. Ruciira: Da Dr. Foges in seiner vorläufigen Alit-
teilung die Frage der heteroplaslischen Transplantation und der
Ih'berpflanzung von Hoden auf weihliche Tiere lierührl hat, so
(“i'lauhe ich mir, über meine diesbezüglichen A^ersuche Alilteilung
zu maidien. Auch ohne nach, der Alethode Payrs zu operieren,
ist es mir gelungen, sowohl ein Aleerschweinchenovar als auch
Kaniiudienhoden auf kastrierte weibliche Kaninchen mit Erfolg
zu lraiis])lanlieren. R: i der he'eroplastischen Trans[)lanl.ation des
Ovars heilte dassellx' ein und bei Tötung ties ßieres zu einer
Zeit, wo an Konirolllieren die Kastrationsalropbie weit vorge-
schrithm war, zeigte der Uterus absolut keine Zeichen von
.Atrophie. Im auf das Kaninchen überpflanzten Aleerschweinchen¬
ovar fanden sich wohlentwickelte, tadellos erhaltene Follikel. Es
vermochte also das artfremde Ovar die Kastra.lionsatrophie des
Uterus aufzuhalten. Auch die Hodeniransplantation gelang inso-
ferne, als nach einem ungefähr zweimonatigen Zeiträume ein’
Teil der Hodenkanälchen intakten, zelligen Inhalt aufwies Und
Spermatozoen iii densedben iiachgewiesen werden konnten. Die
Kaslrationsairophie des Uterus wurde aber ilurch die eingeheilten
Hodeidvanälchen nicht aufgehalten.
Pi'iinararzt Dr. Fabricius; Ich hatte schon gelegentlich der
Demonstration der Präparate von Extrauteringravidität erwähnt,
daß wir nicht, selten A'erwachsungen der Adnexe mit dem Appendix
finden. Das henlige Prä|)arat, das ich Ihnen vorstelle, stammt
von einer ßUjähiigen Ikilientin, rvelche mir von einem Kollegen
zugeschickt wurde, weil die Patieniin starke Rlutungen hatte und
nebenbei auch über Kreuzschmerzen klagte. Die gynäkologische
Untersuchung ergab, daß es sich um ein ungefähr kindskopf¬
großes Alyom handelte.. Ich machte hei der ziemlich anämiscdien
Patientin die Laparotomie u. zw. die supravaginale Amputation
des Uterus, wobei ich in solchen Fällen nur einen kleinen Rest
der Zervix zurücklasse. Der Verlauf war ein vollkommen nor¬
maler. Interessant ist am Prä])arate die A'^erwachsung des Ova-
riums mit dem .Appendix, dim ich mitenifernte. Beide sind durch
einen ungefähr 2 mm dicken und 2 cm langen Strang mitein¬
ander vei’hunden. Im Appendix waren die Erscheinungen eines
Kalari'hes vorhanden. Den Grund, warum ich Ihnen das Prä¬
parat hier vorslelle, wird Ihnen der nächste Fall heweisen. Er
erinnerte mich in mancher Hinsicht an jenen, den Herr Kollege
Lorenz vor acht Tagen hier besprach.
Ich wurde am 5. April 1904 von Herrn Dr. Pollak zu
einer ()7.jährigen, schwächlichen, anämischen Patientin geiufen,
welidie fünfmal gelmren halte und bis auf eine Erkrankung vor
20 Jahren, die eine Retroversion des Uterus zur Folge halle, stets
gesund war. Seit, einigen AVochen litt Pal. an Diarrhöen. Am
2. Aiuäl traten heftige Koliken auf, am 4. April intensives
galliges und <lann kolartiges Erbrechim, es gingen keine AVindc
ab mul auf Klysma nur Stuhl aus den unteren Darnribscimitlen,
der Pauidi war mcleoristisch aufgetrieben. Da sich das Refinden
weseidlich verschlimmerte, wurde iidi am 5. April zugezogen.
Ich fand die Patientin sehr schwach, das Abdomen slaik
meleoristisch aufgelrieben, die Gegend des Appendix wmr imi-
])findli(di, ich hatte hier das Gefühl, als oh auch eine leichte
Dämpfung vorhanden sei. Die Untersuchung per rectum ergab,
daß (mtsiu’echend der recblen Seite ein über faustgroßer, ]n'all
gespannter Tumor vorhanden sei, wehdier das Rektum kompri¬
mierte. Dil' Ti'inperatur betrug am Abend ßSo”, Puls 120 bis 125.
Alil. Rücksicht auf diesen Refund und das kontinuierliche
gallige Erbrechen hielt ich die Operation für angezeigt und nahm
diesi' noch am selben .Abend im Sanatorium Löw vor.
• Bei der Lajiarotomie entleerte sich aus der freien Bauch¬
höhle eine große Alenge blutig seiüser Flüssigkeit, hdi ging gleich
auf den in der rechten ReckenhäUäe vom Rektum aus gefaßten
Tumor los und da zeigtii sich, daß dieser Tumor, der wie eine
slielgedrehle Zyste aussah, einer stark gehlähten, dunkel hiaurot
gefärhten Dünndarmschlinge entsprach, welche hier inkarzeriert
\var. Diese iid^arzerierle Darmschlinge w'ar von normalen Därmen
üheriagerl. Ich zog die Därme auf die Seite und fand, daß unge¬
fähr 25 cm Dünndarm inkarzeriert waren; die Inkarzeralion wurde
dundi einen dümren Strang hedingt, welcher von der Spitze
des Apjiendix zu <len Adnexen zog. Die Dünndarnischlinge war
von der Seite der rechten Heckenwand durch den zwischen Appen¬
dix und Adnexen gebildeten Spalt nach der Reckenmilte getreten.
Der Darm war so intensiv dunkel verfärhl, daß ich eine (langrän
hefüi'chlete. Das hohe Aller und der elende Zustand, in dem
sich die Patieniin befand, veranlaßten mich, die Operation schnell
zu Ende zu führen. Diese bestand darin, daß ich die .Adhäsion
durchlrennte und den Appendix samt der Adhäsion entfernte.
Der Heilungsverlauf war ein vollkommen ungestörter und glatter.
Es war also in diesem Falle die Adhäsion zwischen Appendix
und Adnexen die Ursache der Inkarzeralion.
Dr. Rudolf Pollak berichtet über einen Fall, den er vor
drei Wochen an der Kinderspitalsahteilung tier allgemeinen Poli¬
klinik (Vorstand: Prof. Alonti) zu heobaclilen Gelegenheit halte.
Es handelte sich um einen Ißjährigen Knahen, der seit zirka
zw’ei Alonaten über Appetitlosigkeit, zunehmende Schwäche klagte;
auch bemei'kte er, daß das Abdomen in der letzten Zeit sich
auffällig vergrößerte. Aus dem klinischen Status seien hervor-
gehohen : Auffallende Blässe der Haut und Schleindiäule, systo¬
lisches Geräusch an der llerzsiiitze ; eine exquisite Druckem¬
pfindlichkeit des Sternums und der langen Röhrenknochen; ein
kolossaler Alilzlumor, der nach rechts bis in die recht verlängerte
Alamillarlinie unit nach abwärts bis ins kleine Becken reichte.
Lehe)- gleichfalls vei'größert, die Drüsen zu heiden Seiten des
Halses, in der Achsel- und Leistengegend his pflauniengroß. Rlut-
befund : 2,200.000 rote Blutkörperchen, Hämoglohingehalt dOT»
(Sahli), 11.200 Leukozyten. Unter diesen fanden sich 97 Vo
Lymphozyten und von diesen waren 68A'o große atypische, <'in-
kernige Zellen, mit großem, hie und da leicht eingebuchteten
Kern und schmalem, basophilen Protoplasma. Die roten Rlut-
kör))i‘)-chen zeigen leichle Größendifferenzen, keine Polichromato-
philie. In sämtlichen durchmusterten Präparaten konnte nur ein
kerid)altiger Erythrozyt (Normohlast) gefunden wei’den.
Alit Rücksicht aut die geringgradige Vermehrung der Ge-
samtleukozylenanzahl und die hochgiadige re'aüve Lymijhozytose
wäre der Fall als ,,sublymphämische Lymiihomatose“ ('Pürk)
zu hezeiclmen. Im weiteren Verlaufe trat nun eine bedeutende
Verminderung der Leukozytenzahl bis zu beträchtlicher Leuko¬
penie ein, so daß am dritten Tage 5200, am fünften Tage 3000
und am sieben tmi Tage bloß 1400 Leukozyte)i gezählt wurden.
Das pi'ozeiduale A'erhältnis hielt sich dabei in den oben ange¬
führten Grenzen. Am achten Tage der Spitalsheobachtung kam
es zu einem Anstieg der Leukozytenanzahl i(l3,500). Am sellien ,
Tage ging der Knaho, der die ganze Reohachtungszeit hindurch
kontinuierlich hoch fieberte (zwischen 39*’ und dO**) unter Stau-
ungs- und Herzinsuffizienzerscheinungen zugrunde. Bei der Ob¬
duktion (Prof. Albrecht) fanden sich sämllich'C Drüsen be¬
deutend vergrößert ; die enorm große Alilz hat ein Gewicht von
2500 g, die Leber ein solches von 2300 g. Die Nieren hedeu-
tend vei'gi'ößerl (9X7X5 cm) und infil liiert. Das Knochenmark
dunkelbluti'ot mit kleinen grauen Herden.
Die histologische Untersuchung (Pi'of. Alhrecht) ergibt
nicht nur eiidache lymphozytärc Infiltration der Organe (Drüsen,
Alilz, Leher, Niere, Dura mater, Darmschleimhaut, A[)pendix),
sondern auch überall sarkomatöses Uebergreifeu auf die Um¬
gebung. Die Zellen, große Rundzellen mit großem Kerne, ent-
sprechen dui'cbaus den im Blute gefundenen grolk'ii einkei-nigen
Zellen.
Vortr. weisl darauf hin, daß derartige Fälle von Lymph-
ämie, wie die der oben beschriebene, mit Rücksicht .auf den
hämalologische)! (niakrolymi)hozytäre Form) und den hislologi-
sidien Befund (aggressives sai’komal.öses AVachslum), von Slern-
herg als selbständiges Krankheilsbild von der lymphatischen
Leukämie abgelrennl und als Leukosarkomalose hezeicluiet
wui-ilen. Lehnd orf konnte in vier Fällen von großzelliger Lymph-
ämie schon makrosko])isch oder wenigstens histologisch Sarkoni-
hildung nachweisen. Gegen die Auffassung Sl.ej' n h e i' g s wenden
sich Pap pen heim und Türk. Letzterer hat Fälle von miki'O-
lymphozytäii'i' Form ndt aggi'cssivem Wachstum beobachtet, andei’-
seils bei der großzelligen Form manchmal nur reine Hyper¬
plasie gefunden.
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
617
Dio in deni ohigini l)ool);tclil(ete l^oukoiK'nio findet
unter undereni ein Analogon in zwei Fällen Türks ((mikm' mit
einer Leukozytenanzalil von 1700) lind in einem jüngst, von
Sluka aus der Fseheric lisclien Klinik deinonstrimlen Fall.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 2. Mai 1907.
A. S c h ü 1 1 e r stellt eine F rau mit Spondylitis der
L e n d e n w i r b e 1 s ä u 1 e vor. Pat. bekam Schmerzen im
Kreuz und in den Beinen, beide Patellarreflexe fehlen,
alle übrigen ReQexe sind lebhaft. Dqi’ 3. bis 5. Lenden¬
wirbel sind druckempfindlich. Die Röntgenuntersuchung ergab
eine Destruktion des 4. Lendenwirbels, welche zur Ver¬
schiebung des 3. Lendenwirbels geführt hat. Der Destruktions¬
prozeß hat das 4. lumbale Nervenwurzelpaar in Mitleidenschaft
gezogen. Die Behandlung wird im Tragen eines geeigneten Mieders
bestehen.
Ferner demonstriert A. Schüller das Röntgenbild eines
Falles von asymmetrischer Assimilation des
5. Lendenwirbels an das Kreuzbein. Der linke Quer¬
fortsatz ist normal, der rechte ist massiv entwickelt und hängt
mit dem Kreuzbein zusammen. Diese Abnormität ist bei dem
20jährigen Mädchen seit 2' Io Jahren die Ursache von Kreuz¬
schmerzen, welche namentlich das Gehen sehr erschweren
und früher von einer Spondylitis oder von Hysterie hergeleitet
wurden.
Al. Strasser weist darauf hin, daß von Jul. Braun im
Jahre 1875 zahlreiche ähnliche Fälle beschriehen worden sind ;
dieser führt die Aetiologie des Leidens auf eine rheumatische
Affektion zurück, welche zur Osteophytenbildung und durch
Druck derselben zu Reizerscheinungen an den Nerven¬
wurzeln führt.
Herrn. Schlesinger bemerkt, daß die pathologisch-ana¬
tomische Stellung der Affektion noch nicht sichergestellt sei.
Al. Strasser und Pu. B 1 u m e n k r a n z : Z u r p h y s i-
kalischen Therapie der Nephritis. Gestützt auf
onkometrische Studien über die Blutversorgung der Bauchorgane,
insbesondere der Niere, welche von Strasser und Wolf
durchgeführt worden sind, dachten die Vortragenden die besten
Bedingungen für den Nierenkreislauf dann gefunden zu haben,
wenn jedweder Reiz von der Körperoberfläche ferngehalten wird,
also z. B. in einem indifferenten Wasserbade. Die Auffassung
von der Wirkung der Hautreize im Sinne einer ,, Ableitung“ von
der Niere halten die Vortragenden für unrichtig, da die Haut¬
reize in der Niere stets dieselben Kreislaufveränderungen hervor-
rufen wie in der Haut selbst, speziell Kälte ruft in der Niere
dieselbe Gefäßkontraktion hervor wie in der Haut und bei
dauernder Kälte (auf die Haut appliziert) sind lange dauernde
Krämpfe der Nierengefäße zu sehen, welche wahrscheinlich Kreis¬
laufstörungen im Sinne von Ischämie oder Stase machen. In
gleichmäßig warmer Umgehung findet in breiten Bahnen eine
unbehinderte gute Durchströmung der Niere statt. Die Vortragenden
prüften an einer Anzahl von Nephritikern verschiedener Art den
Einfluß von Bädern von 34 his 35" C und einer Dauer von 1 bis
172 Stunden u. zw. den Einfluß auf die Diurese, auf die Stick¬
stoff-, Eiweiß- und Kochsalzausscheidung und kamen zu dem
Resultate, daß die genannten Bäder alle Ausscheidungen der
Niere ganz wesentlich bessern. Die Versuche im Nahrungs- und
Wassergleichgewicht, in Tages- und Stundenperioden unter viel¬
facher Kontrolle ergaben stets dasselbe Resultat. Auch haben
die Vortragenden die üblichen Wasser- und Kochsalzbelastungs¬
proben auf Verdünnungs- und Verdichtungsfähigkeit der Niere
angestellt und sie fanden, daß die Bäder die Niere in ihrer Be¬
strebung, bei übermäßiger Zufuhr von Wasser und Kochsalz das
Gleichgewicht dennoch aufrecht zu erhalten, bedeutend unter¬
stützen. Die Erörterung der Wirkungsweise führt die Vor¬
tragenden in eine Kontroverse mit der gangbaren klinischen Auf¬
fassung über die ,, Ablenkung“ des Wassers etc. von der Haut
zur Niere oder umgekehrt. Sie beweisen an der Hand der er¬
haltenen Versuchsresultate, daß man die Erscheinungen mit der
„Ablenkung“ nicht erklären könne, sondern vielmehr annehmen
müsse, daß die Bäder eine echte Funktionssteigerung Besserung
der Niere — bewirken. Ein Schweißversuch zeigt sehr
interessante Resultate. Es wurde wieder festgestellt, daß Schwitz¬
bäder trotz des Wasserverlustes durch die Haut die Diurese noch
heben können und daß die Stickstoff- und Salzausscheidung im
Harn durch Schwitzbäder bedeutend gesteigert wird. Die Vor¬
tragenden sahen aber, daß im Verlaufe der Schwitzbäder bei
vollständigem Wasser- und Kochsalzgleichgewicht unter urämischen
Erscheinungen ein deutliches HauLödem auftrat. Da die neuer¬
dings für das Entstehen von Hautödem in Anspruch genommene
Betention von Wasser oder Kochsalz sicher nicht vorlag, glauben
die Vortragenden, daß es sich in dem beobachteten Falle um ein
Gedern handelte, welches durch Gefäßschädigung entstand, und
sic suchen den Grund für diese letztere in der Richtung der
urämischen Intoxikation. Die Wirkung der verschiedenen Bäder
auf die Albuminurie ist in kurzen Versueben nicht ersichtlich ;
lange dauernde Behandlung mit indifferenten Bädern hatte eine
sehr gute Wirkung, die Albuminurie verschwand in mehreren
Fällen. Die Vortragenden zeigen noch an der Hand eines genau
beobachteten Falles von akuter hämorrhagischer Nephritis die
ausgezeichnete Wirkung von indifferenten Bädern auf Diurese,
Stickstoff- und Kochsalzausscheidung. Zuletzt hesprechen sie die
Technik der verschiedenen Bäder (indifferente Bäder, 1 bis 1 V2 Studen)
und heben die Notwendigkeit der systematischen Anwendung
indifferenter Bäder hervor. Bei Schwitzbädern ist es wichtig,
darauf zu achten, daß die Körpertemperatur nicht rasch und
nicht für lange Zeit wesentlich in die Höhe getrieben werde.
K. V. N o o r d e n bemerkt, daß vieles bisher empirisch
in der Therapie Bekannte durch den Vortrag eine Erklärung ge¬
funden hat.
H. Schur bemerkt, daß sich Kochsalz zur Probe auf die
Verdichtungsfähigkeit der Niere nicht eigne, da es ihm bei seinen
Versuchen nicht gelungen ist, durch Verabreichung von Kochsalz
die molekulare Konzentration des Harnes zu erhöhen. Vortragender
habe über die Herkunft des Wassers bei dem Oedem nach
Schwitzbädern nichts erwähnt; da vollständiges Wassergleich¬
gewicht bestand, könnte diese geringe Flüssigkeitsmenge inner¬
halb der Ver.suchsfeblergrenze liegen. Schur hat ebenfalls die
günstige Wirkung der Schwitzbäder auf die Nierenfunktion her¬
vorheben können.
K. V. Stejskal weist darauf hin, daß bei seinen Unter¬
suchungen über Diuretinwirkung bei Nephritis durch dieses
Mittel die Albuminurie herabgesetzt wurde.
K. V. No Orden bemerkt, daß das Diuretin bei ver¬
schiedenen Menschen und auch bei demselben Individium zu
verschiedenen Zeiten einen wechselnden Effekt zeigen kann, man
kann auch die Untersuchungsergebnisse nicht vom Gesunden auf
Kranke übertragen.
L. Hofbauer betont, daß auf das Ergebnis eines Ver¬
suches auch das Alter der Tiere einen Einfluß hat. Es wäre die
Beantwortung der Frage wichtig, ob es eine Erkältungsnephritis
gibt oder nicht.
A. Strasser erwidert, daß er die Verdichtungs- und Ver¬
dünnungsproben nur nebenbei ausgeführt und auf dieselben kein
großes Gewicht gelegt habe ; übrigens sprachen sie in seinem
Sinne. Das Wasser in den Oedemen nach protrahierten Schwitz¬
bädern rührt nicht von retinierter Flüssigkeit her, welche infolge
eines Versuchsfehlers der Beachtung entgangen wäre, da der
Körper immer in sich so viel Wasser hat, daß ein Oedem ent¬
stehen kann. Die Tierversuche vieler Autoren kann man nicht
auf die Therapie übertragen, da sie unter Bedingungen angestellt
waren, durch welche die so empfindliche Niere geschädigt werden
mußte. Das Vorhandensein einer Erkältungsalbuminurie ist fest¬
gestellt, sie beruht wahrscheirdich auf Zirkulationsstörungen und
geht vorüber. Wahrscheinlich existiert auch eine Erkältungs¬
nephritis. Abgekühlte Tiere bekommen durch Erkältung nicht nur
Albuminurie, sondern auch Nephritis. Es ist andrerseits aber
auch festgestellt, daß Erkältung nicht von Albuminurie gefolgt
sein muß, hier zeigt sich ein deutlicher Einfluß bei der Abhärtung,
wie dies auch bezüglich der Albuminurie nach Muskelanstrengung
der Fall ist.
K. V. No Orden hat bei seinen Versuchen gefunden, daß
Kaninchen, welche an Wärme gewöhnt waren und dann der Kälte
ausgesetzt wurden, Albuminurie bekamen, dagegen abgehärtete
Tiere nicht. Die Möglichkeit einer Erkältungsnephritis läßt sich
nicht leugnen ; ob dieselbe durch Zirkulationsstörungen, welche
sich von der Haut auf die Niere übertragen, oder durch
Toxine, welche durch die Kälte in der Haut analog wie bei Haut¬
verbrennungen gebildet werden, entsteht, ist noch fraglich.
W. W i n t e r n i t z hat wiederholt vorübergehende Albuminurie
nach Erkältung beobachtet. Nach den Selbstversuchen von
C h 0 d o u n s k y kommt die Erkältungsalbuminurie nicht hei
jedem Individuum zustande, es müssen da noch andere Verhält¬
nisse eine Rolle spielen.
618
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
Der 24. Kongreß für innere Medizin
zu Wiesbaden, 15. bis 18. April 1907.
Referent: N. Äleyer-Bad Wildlingen.
(Forlselzuiig.)
Treu pol -Frankfurt hat in den refraktärsten Fällen mit
<l(Mi La n gesellen Injektionen Heilungen erzielt.
G ara-Pistyan bat, veranlaßt durch die häufig anamnestische
.Milteihing der Palieiden, daß, ihrer Ischias Tage, oft Wochen
vorhei' heftige hexenscbußarlige Kreuzscbmerzen vorangingen, an
(li(' sich ei'sl die Schmerzen in einer unteren Fxlreinität an-
schlosscn, die Kreuzschmorzen einer .genauen Prüfung unterzogen.
El- fand nämlich konstant, daß der Dornfortsatz des letzten
Lendenivirbels ungemein druckempfindlich war, der nächst höhere
schon Aveniger, alle weiteren Dornfortsätze jedoch schmei'zlos
waren. Diesen Druckpunkt zeigten auch jene Patienten, welche
ülier keine vorangehenden Kreuzschraerzen klagten. Auf Grund
von Krankengeschiclvten weist er den differentialdiagnostisclien
Wei t dieses Symptoms nach .jenen Krankheitsformen gegenüber,
welche der Ischias ähnliche Symptome zeigten, wie z. 11. hei
Metastasen in den Lendenwirbeln bei Mammakarzinom, bei
Schenkelhalsfraktnr, bei Prostatatumor. Anderseits war es dadurch
mögliidi, die Ischiasdiagnose dort zu sichern, wo .das Ilild eine
amlerci Krankheit vortäuschte.
Th. Schill ing-Nürnherg berichtet über Erfolge hei Trige¬
minusneuralgie schwerster Art, wo alle chemischen und jihysi-
kalischen Mittel versagt hatten, ,wo die Patienten mit extrahierten
oder der Nerven heraubten Zähnen kamen, bei Anwendung der
Hier schon Stauung. Der Erfolg .tritt ziemlich rasch ein und
('S seien wohl auch ,Dauerresultale zu erzielen (ein Fall rezidiv¬
frei 41/2 Monate). Vorsichtig und unter ärztlicher Kontrolle an¬
gewandt, seien ivohl seihst bei älteren Patienten Schädiguhgen
v(*rmeidbar.
Ouincke-Kiel hat bei 42 Fällen von Ischias mit den
Langeschen Injektionen in 60Tu Heilungen erzielt. Der Effekt
kommt Avohl durch Einwirkung -auf die äußere Nervenscheide
zustande. Die Methode scheint ihm von jedem Arzte aiiAvendbar
zu sein.
11 u i s m a n s - Köln hat als ungeAvöhnliche Aetiologie bei einer
Trigeminusneuralgie (HL Ast) ein Odontom in- einem Zahne durch
eine Rontgenaufnahme entdeckt. Die Schmerzen verschwanden
nach Exiraklion des Zahnes. i
Bäum 1er- Freiburg hält die Neuralgien für Affektionen der
Vasomotoren der Neiwen. Es handelt sich dahei um die ersten
Anfänge einer Neuritis.
11 i s - Göttingen glauht, daß es eine Reihe von Neuralgien
gibt, die durch angeborene oder ei’Avorbene Dispositionen aiiliri-
tischer Natur bedingt sind (etat arthrilique der Franzosen).
Le nh art z -Hamburg erinnert an die Rehandlung mit Vesi-
katoren und
Sternberg- Wien an die mit Blutegel; beide gäben oft
ausgi'zeichnete Resultate.
1 1. Sitzung: Montag 15. April 1907, nachmittags.
Pel- Amsterdam : Myasthenia pseudoparalytica
und H y p e r 1 e u k o z y t o s e.
P e 1 hat diese Krankheit hei einer 38jährigen Frau heobachlet,
die seit 7 Jahren die Zeichen der Erbschen Krankheit hat
(typische Physiognomie nebt Asthenie, Ptosi.s, Diplegia facialis,
Dysphagie, ersclnverte Sprache, myasthenische Reaktion, Anfälle
von Dyspnoe, keine Muskelatrophie). Aetiologisch kommen hier
kolossale Ueberanstrengung und psychisch deprimierende Um¬
stände in Betracht. An den Tagen, avo die Kranke sich matt und
elend fühlte, fand sich eine Leukozytose (bis IG. 000 Leukozyten
im Kubikmillimeter), während in guten Tagen die Zahl kaum
GOOO —7000 betrug. Diese Leukozytose sieht P e 1 als die Folge
positiv chemotaktisch Avirkender Gifte an, die das subjektive Be¬
finden der Kranken beeinträchtigen. Die Möglichkeit einer Er¬
krankung der lymphatischen Gewebe hält er allerdings neben der
Intoxikation nicht für ausgeschlossen.
V. J a k s c h - Prag : Uelier chronische Manga n-
toxi kosen, v. Jak sch hat bereits 1901 drei Fälle von Man-
gantoxikose beschrieben (Zwangslachen, ZAvangsweinen, Rück¬
wärtsgehen, sehr stark gesteigerte Reflexe und starke Alterationen
der Psyche). 1902 Avar ein neuer Fall zur Beobachtung gekommen,
der an der Stelle des ZAvangslachens und -weinens maskenartige
Gesichtsverzerrungen zeigte. Krankmachend Avirkt nur das Man-
ganoxydulsalz. Wenn hei Tieren, denen der Vortr. lange Zeit
(Ixydulsalze durch Einatmung heigebracht hatte, auch keine Ver¬
giftung einirat, so ist doch die Zeit der Versuche zu kurz geAvesen.
Im Februar 1907 stellte sich eia Arbeiter aus derselben Fabrik
vor, aus der die ersten Fälle stammten, der hochgradige psy¬
chische Erregung, Rückwärtsgehen und den für Mangantoxykose
verdächtigen Gang hatte. Zwangslachen- und -weinen fehlte. In
20 Tagen Avar dieser Pat. durch die Behandlung mit hochfre-
(fuenten Strömen geheilt. Allerdings ist zu bemerken, daß das
Gesichtsfeld hochgradig eingeengt Avar. Vielleicht lag hier eine
funktionelle Neurose, eine Manganophohie, vor.
Fedor K r a u s e - Berlin : Zur Kenntnis der Rücken¬
mark s 1 ä h m u n g e n. Krause hat acht Fälle in Behandlung
gehabt, bei denen die schwersten Lähmungen bedingt Avaren
durch Ansammlung von Liquor cerehrospinalis im Wirhelkanal.
So fand er hei einer Frau mit deutlichen Tumorerscheinungen
nach Entfernung von vier Bögen der Halswirbelsäule an der
Arachnoidea eine eigentümliche Hervorwölbung mit deutlichem
Lichtrellex. Es handelte sich um eine chronische Arachnitis. Die
Symptome schwanden nach Entleerung der Flüssigkeit. Die an¬
deren Fälle lagen ähnlich. Die Ansammlung kann auch durch
Gicht oder Lues bedingt sein. In einem dieser Fälle hatte sich
eine Eiteransammlung gebildet, nachdem infolge einer Schu߬
verletzung eine Nekrose aufgetreten war, die aber unmittelbar
keine Eiterung in dem Duralkanal veranlaßt hatte. Da diese acht
Fälle unter 20 derartigen Operationen vorkamen, kann die Er¬
krankung nicht als seltene bezeichnet Averden.
II. G u t z m a n n - Berlin : Zur Behandlung der
Aphasie. Die Regel, daß die Uebungsbehandlung der Aphasie
bei älterenLeuten keine günstige Prognose habe, ist in dieser
allgemeinen Fassung nicht richtig. Die Indikation für die
U e b u 11 g s t h e r a p i e muß sorgfältig geprüft werden. Außer
von manchem anderen hängt sie ab :
1. Von dem allgemeinen Zustande des Pat.
im Anschlüsse an die Attacke. Es müssen sämtliche akute Er¬
scheinungen abgeklungen sein, ein chronischer Zustand relativen
Wohlbehagens bestehen, der sprachliche Zustand mindestens
'U — V2 Jahr unverändert gebliehen sein. Zu früher Beginn der
Uebung ist wegen der schweren Ermüdungs- und Reizzustände
gefährlich.
2. Vom Zustande des Intellekts. Bei größeren in-
telektuellen Defekten ist es zAvecklos, die Uebungstherapie zu be¬
ginnen, die ja von seiten des Pat. einen hohen Grad von Auf¬
merksamkeit und Verständnis erfordert.
3. Von der Affektlahilität des Pat. Wenn diese
direkt abhängig ist von unlustbetonten Vorstellungen, so stellen
sich bei der Uebung Schwierigkeiten ein, und man hat oft große
Mühe, die Pat. hei guter Stimmung zu erhalten. Es ist daher
sehr wesentlich, das Fortschreiten in den Uebungen dement¬
sprechend einzurichten.
4. Vom Alter. Es ist natürlich, daß selbst schAvere Aus¬
fallserscheinungen bei Kindern und jugendlichen Personen sich
überaus häufig spontan ausgleichen. Man soll sich aber auch bei
älteren Personen von der systematischen Uebung nicht abhalten
lassen. Gutzmann erwähnt eine Anzahl von Pat. zwischen
40 — 50 Jahren, die mit gutem Erfolg behandelt wurden, einen
Prediger von 65 Jahren, der nach IV2 Jahren bestehender Aphasie
Avieder dienstfähig geAvorden ist und seit mehreren Jahren wieder
seinen Amtshandlungen obliegt, einem 74jährigen Herrn, der nach
4 Jahre lang unverändert bestehender kortiko-motorischer Aphasie
Avieder zum Sprechen einfacher Worte und kleiner Sätze gebracht
Avurde, so daß er seinen Wünschen Ausdruck verleihen konnte
und anderes mehr.
5. und 6. Die Dauer des Bestehens der Aphasie
beschränkt die Indikation zur Uebungsbehandlung ebensowenig,
wie der Grad der ap basischen Störung.
Auf die Therapie selbst geht Vortr. nur insoAveit ein,
als er die systematischen Schreibübungen mit der
linken Hand noch besonders hervorhebt. In einem Falle
mußten die Uebungen, da rechts komplette Lähmung bestand,
links die Hand aus Holz Avar, mit dieser Holzhand gemacht
Averden : mit günstigem Erfolge, wie die Vorlage der Schrift¬
proben erweist.
H o n i g m a n n - Wiesbaden : UeberKriegsneu rosen.
Unter dem Namen,, Kriegsneurosen“ beschreibt Vortr. nervöse
Erscheinungen, die er hei einer größeren Anzahl von russischen
Offizieren nach im japanischen Kriege erlittenen Traumen be¬
obachtet hat. Die Störungen verliefen, Aviewohl die Traumen
unter zum Teil ganz anderen Bedingungen den Verletzten be¬
trafen, als es bei den geAverblichen Unfallneurosen zu geschehen
pflegt, doch in vielfacher Hinsicht ganz im Rahmen dieser
Störung, teils in Gestalt von neurasthenisch-hysterischen und
hypochondrischen Allgemeinerscheinungen, teils als hysterische
Monoplegien, Hyperästhesien und Hemianästhesien. Die Mehrzahl
der Fälle, die sich an schwere Gehirnemotionen anschlossen,
Nr. 20
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
619
hatte dagegen einen von dem bei traumatischen Neui'osen
üblichen Krankheitshild abweichenden Verlauf. Bei ihnen handelte
es sich nicht allein um Zustände, die als rein psychogenen
Ursprungs aufgefaßt werden dürfen und deren Veranlassung nur
in der lebhaften Erschütterung des Vorstellungslebens gesucht
werden kann, sondern auch um nervöse Folgeerscheinungen, die
auf physikalische Veränderung des Zentralorgans zurückgeführt
werden müssen, wenn es sich auch nicht um ausgesprochene
llerderscheinuungen handelte. Die Behandlung der fraglichen
nervösen Erscheinungen wies viel größere Erfolge auf, als dies
hei den gewerblichen Unfällen der Fall zu sein pflegt, wahr¬
scheinlich, weil die meisten psychischen Momente, die sich bei
jenen einer Heilung in den Weg stellen, hier in Wegfall kommen.
V e r a g u t h - Zürich : Ueher eine Methode des
objektiven Nachweises von Anästhesien.
Die Methode beruht auf den Tatsachen des psycho-galvanischen
Retlexphänomens. Wenn man eine galvanische Batterie von nie¬
derer aber konstanter Spannung leitend verbindet mit einem
Drehspulengalvanometer mit Nebenschlußwiderstand einerseits
und dem menschlichen Körper in bestimmter Kontaktanordnung
anderseits, so zeigt nach Schließung dieser Kette und bei Ver¬
meidung von willkürlicher Aenderung des Kontakts das Galvano¬
meter Schwankungen, die in kausalem Zusammenhang stehen mit
Vorgängen im Körper des eingeschalteten Menschen. Zu den Ur¬
sachen, welche eine solche Galvanometerdrehung provozieren
können, gehören u. a. auch sensorielle Reize. Dem auf diese
Weise manifest werdenden Phänomen kommt der Name psycho-
galvanischer Reflex zu. Die Eignung dieses Phänomens zur
objektiven Sensibilitätsuntersuchung gründet sich auf die Tat¬
sachen, daß die Galvanometerschwankungen der Willkür der
Versuchspersonen entzogen sind und daß es nicht die Reizung
der sensiblen Nervenbahnen tiefer Ordnung ist, welche die
Galvanometerschwankung provoziert, sondern der Affekthetrag,
der sich in der Psyche der gereizten Versuchspersonen an den
Reiz heftet. Die Galvanometerdrehungen werden, durch Spiegel¬
vorrichtungen meßbar', ln Millimetern einer Skala ausgedrückt.
Bei der Anwendung von sensiblen Reizen sind unter Beobachtung
der nötigen Kautelen klare positive Resultate zu erlangen,
indem heim Reiz anästhetischer Hautslellen keine oder kleine
Galvanometerausschläge, beim Reiz normaler H au t s t e 1 1 e n
größere und heim Reiz hyperästhetischer Stellen noch größere
resultieren. Dies wird an Tabellen über Untersuchungen von
Fällen von künstlicher lokaler Anästhesie, peripherer Nerven¬
durchtrennung, Plexusdurchtrennung, Syringomyelie, Druck¬
schmerzhaftigkeit nach Kontusionen und Druck auf V a 1 1 e i x-
sche Druckpunkte bei Neuralgie demonstriert. Vortr. schildert
auch sein photographisches Verfahren, mittels dessen die Galvano¬
meterbewegungen automatisch registriert und zeitlich gemessen
werden können.
Auf den Prioritätsanspruch Stickers antwortet V e r a-
g u t h mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß dieser Autor mit
einer elektrologisch grundsätzlich anderen Methode (keine
körperfremde Stromquelle, keine Metallelektroden) negative
Resultate erzielt und die Verwertbarkeit seiner Untersuchungen
für die objektive Registrierung von Sensibilitätsstörungen selbst
ausdrücklich verneint hat.
Sternberg - Wien : D y n a m o m e t r i s c h e Studien.
Stern b erg demonstriert ein verbessertes D y n a m o-
meter und bespricht die Ergebnisse von Untersuchungen, die
damit ausgeführt worden sind. Wenn ein Gesunder in jede Hand
je ein Dynamometer nimmt und maximal drückt, so ist die Kraft¬
leistung die gleiche, ob nun abwechselnd oder gleichzeitig ge¬
drückt wurde. Die maximale Innervation der einen Extremität
beeinflußt die der anderen normalerweise so gut wie gar nicht.
Bei H e m i p 1 e g i k e r n soll nach einer Angabe von Pitres
eine Verstärkung der Leistung auf der gelähmten Seite eintreten.
Diese Angabe bestätigt sich bei genauerer Untersuchung nicht.
Der Effekt der gleichzeitigen maximalen Innervation beider oberen
Extremitäten (Simultaneffekt) ist in verschiedenen Fällen von
Hemiplegie verschieden, er kann in einer Erhöhung der Leistungen
bestehen, er kann aber auch eine Verminderung u. zw. von be¬
trächtlicher Größe ausmachen (positiver und negativer Simultan-
elfekt). Entweder werden durch das ,, Schisma“ im Sinne v. Mo¬
nakows Hemmungen und Bahnungen frei, die sich sonst im
Gleichgewicht befinden oder es wird die Art der Beanspruchung
der doppelseitigen Hemisphäreninnervation durch den Hirnherd
geändert. Mit der Angabe von Pitres fallen manche Theorien
der hemiplegischen Kontraktur.
(Fortsetzung folgt.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin. (Fortsetzung).
2. Sitzungstag, 4. April 1907.
L amp c - Brom borg : Ueher das funktionelle Resuf
t a t n a c h a u s g e d (\ hüte r Resektion des d i s t a 1 e n F c nn i i'-
endes wegen Sarkom.
Redner stellt einen Kranken vor, lici dem er das unlere
l''eniurende wegen eines Sarkoms reseziert ha(. Nach der Be-
seklion hat er das reslierende Fenuirendi^ ni<'lit in die d'ihia
eingepflanzt, wie es gc'wöhnlich gemacht wird, da das lesezierte
Stück dazu zu groß war. Er hat die Wnnd(! unter ExUmsion
(leis Beines zuheilen lassen. Dadurch ist das Bein ganz schloticnig
geworden; Durch einen Schienenhülsenappai'at ist der Patient
aber imstande, sehr gut zu gehen.
Ri edel -Jena warnt auf Grund scdncr Erfahrungen vor
diesen Dperationen, er hat immer Rezidive hekommen und (^x-
artikuliert daher immer im Hüftgelenk.
Demgegenüber treten, K ö r t e - Berlin und B o r c h a r d t - Posen
für die Opeiation ein und berichten von Fällen, die nach dei’
Dperalion sieben, bzw. secbs Jahre völlig gesund sind.
V oel ke rs-Heidelb(‘rg bmäclitet über einen Fall von so¬
genanntem schiefen Biß, bei dem der Unterkieferast der einen
Seite; 2 cm länger war als der andere. Die Verlängerung war
bedingt durch eine Hyperostose des llnterkieferkiöpfchons. Ans
welchen Grümlen cs zu der Bildung der llyiierostosc gekommen
war, ist nicht aufzuklären. Durch die Resektion des byperostoti-
schen UnlerkicTcrköpfchens erzielte er ein gutes funktionelles
Resultat.
R a n z i - Wien demonstriert d e s i n f i z i e r b a r e P r o t h e s e n
z u m E r s at z e des Mittelst ü c. k e s d c s Unterkiefers o d e r
des aufsteigenden Astes desselben nach Resektion.
Da die Prothesen leicht desiidizierbar sind, so können sie
unmittelbar nach der Operation eingefügt werden. Dadurch wird
eine Narbenverziehung verhindert, ohne die Heilung der Wunde
zu gefährden. Nach vollendeter Heilung werden diese Immediat-
du'othesen durch definitive Ersalzstücke ersetzt. Ranzi bej’ichtet
über versebiedene Fälle, in denen bei Anwendung der geschilderten
Prothesen an der v. E i se 1 s b e r gschen Klinik sehr gute Resultate
erzielt wurden. •
G 0 e b c 1 1 - K iel ; Ueher die T o t a 1 c x s t i r p a t i o n von
P a n k r e a s z y s t e n.
Da nach der G u s s e n b a u e r sehen Operation — Einnähen
der Zyste, Eröffnung derselben und Drainage — • häufig langdau¬
ernde Fisteln Zurückbleiben, so empfiehlt Go ehe 11 in geeigneten
Fällen, die Zysten zu exstirpierem. Freilich tlürfe die Exstirpation
luir ausgeführt werden bei echten Zysten und nicht bei Zystidem,
welch letztere nach Traumen oder nacli Entzündungen des Pan¬
kreas sich bildeten. Er bat in einem Falle, bei dem es sich um
einen 23jährigen jungen Mann gehandelt hat, die Exstirpation
der Zyste mit sehr gutem Iri'folge gemacht. Er batte mit Sicher¬
heit angenommen, daß es sich in diesem Falb; um eine echte
Zyste gehandelt hätte, da in der Anamnese nichts von einem
Trauma, auch nichts von entzündlichen Prozessen in abdomine
zu eruieren war. Trotzdem ergab die mikroskopisebe Untersuchung,
daß es sich nicht um eim; Zyste handelte. Es waren in den
Präparaten weder Epithel nach sonst Irinkreasgewehe nach¬
zuweisen.
E h rb a r dt- Königsberg : Echte und falsche Diver¬
tikel der Gallenblase. Ein Beitrag zur Aetiologie der Pseudo¬
rezidive nach Gallcnsteinoperationen.
In der Gallenblasenschleimhaut kommen zwei Arten von
Drüsen vor, einmal die Schleimdrüsen und zweitens die soge¬
nannten Luschka sehen Gänge, welche Einstülpungen der
Schleimhaut darstellen und bis unter die Serosa der Galierd:)lase
reichen. Diese Gänge kommen schon normalerweise vor, ver¬
mehren sich aber Ixd der Cbolelitbiasis sehr reichlich. Diese nor¬
malerweise vorkommenden Schleindiautausbuchtungen erinnern an
Darmdivertikel und es können sich aus ihnen Gallenblasendiver¬
tikel entwickeln. Die Bedeutung der L u s c h k a sehen Gänge nun
sieht Redner darin, daß' sich in ihnen Schleim, Eiter und auch
kleinste Steinchen ablagern können. Läßit man bei der Operation
der Gallensteine die ganze Gallenblase oder Teile derselben zu¬
rück, so kann es durch Steinbildung in den Krypten zu ecblen
Rezidiven kommen, aber auch zu Pseudorezidiven, dadurch, daß
in den Krypten zurückbleibender Eiter neue Entzündungen der
Gallenblase und damit Schmerzanfälle hervorruft. Ehrhardt rät
daher, die Gallenblase bei Gholelithiasiso])erationen stets zu
entfernen.
Sprengel -Braunschweig: Ueher den retroperito¬
neal en Abszeß der Gallenwege.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 20
b;iO
Die retroperitonoiil gelegenen Abszesse ini Ansclilusse an
Kikrankungen der Gallenwege sind sehr selten. In der Literalur
sind bisher nur secdis Fälle hekannt geworden uml in den großen
.Monograj)hien von Kürte, Kehr und Riedel wird diese Er¬
krankung ül)erha:upt nicht erwähnt. Redner hat 170inal Gallen-
sleinoperalionen ausgeführt, nur einmal hat er unter allen diesen
Fällen einen retroperilonealen Abszeß beobachtet. Es liandelte
sich um eine 42jährige Frau, die fast 15 Jahre Lehersymptome
darhi(‘1el. 14 Tage vor der Aufnahme erkrankte sie akut mit
hohem Fieber. Rci der Aufnahme Temperatur 39'’; Puls 100;
Erin ikterisch. Im Abdomen Symptome von einer Entzündung
unter der Lel)er. Die Diagnose wurde auf Cholelithiasis mit Ent¬
zündung der Gallenhlasenumgehung gestellt. Rei der Operation
war die Gallenblase ganz mit Steinen angefüllt und es fand sich
zugleich ein retroperitonealer Tumor unter der Leber; der retro-
])eriloneale Tumor wird inzidiert und erweist, sich als stark galle¬
haltiger Abszeß. Die Ikatientin erlag der Krankheit. Rei der Ob¬
duktion fand sich eine Perforation des Choledochus gleich hinter
der Einmündungsstelle des Zystikus. Sprengel stellt sich den
Vorgang so vor, daß eine Verlütung des Gallenganges mit dem
Peiitoneum stattgefunden hat. Allmählich findet eine Ein¬
schmelzung der verlöteten Gewebe statt, so daß nunmehr der
infektiöse Inhalt der Gallenwege zum retroperitonealen Gewebe
Zutritt findet und die retroperitoneale Eiterung entstehen kann.
Auch alle sonst in der Literatur bekannten Fälle endigten tödlich.
H a a s 1 e r - Halle ; lieber Cholezystektomie.
H a a s 1 e r hat das Material der Hallenser Klinik bearbeitet.
Aus den daselbst mit Cholezystektomie operierten 50 Fällen ergibt
sich, daß die Gefahren, welche nach den Angaben anderer der
Cholezystektomie anhaften sollen, nicht bestehen. Man solle die
Cholezystektomie entweder vom Pol der Gallenblase aus be¬
ginnen oder, wo das nicht angängig ist, vor den Gallengängen be¬
ginnen, diese freilegen, unterbinden und von hier aus die Aus¬
lösung der Gallenblase vornehmen. Er schlägt vor, in geeigneten
Fällen die subseröse Methode der Gallenblasenexstirpation vor¬
zunehmen.
A n s c h ü t z -Breslau : Beiträge zur Leberresektion.
Bei den Operationen an der Leber sind drei Punkte zu
berücksichtigen : 1. Die Blutstillung. 2. Die Freilegung des Opera¬
tionsfeldes. 3. Die Versorgung der Leberwunde. Auf Grund von
20 • Fällen, welche Anschütz beobachtet hat, kommt er zu
dem Schluß, daß es keiner komplizierten Methode bedarf, um den
oben genannten Forderungen gerecht zu werden. Er hat niemals
nötig gehabt, die Leber extraperitoneal zu lagern, noch hat es in
seinen Fällen der Anwendung von irgendwie gearteten Koin-
pressorien bedurft. Anschütz ist immer mit den einfachen
und gewöhnlichen Mitteln ausgekommen. Man müsse sich vor
allem der Tatsache erinnern, daß die Lebergefäße Gefäße wie
andere auch seien, daß man sie daher ebenso unterbinden könne
wie andere Gefäße. Nur müsse man das Lebergewebe nicht
zerreißen, sonst ziehen sich die der Stütze beraubten Gefäße
elastisch zurück und werden den fassenden Instrumenten unzu¬
gänglich. Man müsse das Lebergewebe mit scharfen, raschen
Schnitten durchtrennen und die Gefäße auf der Schnittfläche
fassen (G a r r e), oder man kann die Gefäße vorher intra¬
hepatisch abklemmen und das Gewebe dann durchtrennen, wie
es Mikulicz getan habe. Zu den intrahepatischen Ligaturen
kann man gewöhnliche Deschamp sehe Nadeln, elastische
Sonden oder sonst geeignete Instrumente verwenden. Auch können
die Leberwunden durch Naht verschlossen werden.
Die Bauchwunde wurde gewöhnlich ganz geschlossen.
Zur Freilegung sind die Bauchschnitte groß anzulegen.
Eventuell müßte der Rippenbogen reseziert werden ; auch könne
man ohne Gefahr die Leberbänder durchtrennen.
W u 1 1 s t e i n - Halle empfiehlt ebenfalls die Resektion des
Rippenbogens.
Braun- Göttingen warnt vor der Durchschneidung der
Leberbänder ; er habe damit sehr schlechte Erfahrungen gemacht.
Schöne bestätigt die Angabe von A n s c h ü t z über die
intrahepatische Ligation. Er habe unter ihrer Anwendung ein
Gallenhlasenkarzinom unter Resektion eines Stückes der Leber
mit gutem Erfolge entfernen können.
Riedel- Jena hat bei schweren Leberoperationen auch
von der Resektion des Rippenbogens Gebraueb gemacht, doch
tut er das nur im Notfall. Es kann nämlich bei einer eventuellen
Infektion zu Entzündungen und Nekrosen der Rippenknorpel
kommen, die sehr langwierig seien und der Heilung große
Schwierigkeiten bereiten.
Zur Frage der Gallenblasenexstirpation bemerkte er, daß
die subseröse Methode nur bei aseptischen Gallenblasen in Frage
käme ; sie habe nach seiner Meinung keine wesentliche Bedeutung.
Kotze nberg - Hamburg : Füllung der Knochen-
h ö b 1 e n mit W a 1 r a t g e m i s c h.
Bei früheren Versuchen mit der Mose tig sehen Jodoform¬
plombe hatte man im Hamburger Krankenhause schlechte Er¬
fahrungen gemacht. In der neueren Zeit, wo sie sich streng an
die M o s e t i g sehe Vorschrift hielten, wären die Resultate
wesentlich bessere geworden.
Die VVundhöblen werden zunächst sorgfältig ausgekratzt,
dann mit konzentrierter Karbolsäure ausgetupft, darauf mit
Alkohol ausgespült und endlich mit heißer Luft völlig ausge¬
trocknet. Dann wird das Walratgemisch eingegossen und nach
der Erstarrung die Haut vernäht. Auf diese Weise hätten sie in
sieben Fällen gute Erfolge erzielt.
L i n d h o r s t hat die Methode auch zur Füllung von
Weichteilhöhlen angewendet und gute kosmetische Resultate erzielt.
B o c k e n h e i m e r - Berlin : lieber die Behandlung
des Tetanus auf Grund klinischer und experi¬
menteller Studien.
Die Antitoxinbehandlung des Tetanus ist nach Ausbruch
der Krankheit erfolglos. Das haben auch die Fälle der v. B e r g-
mann sehen Klinik gezeigt. Von 19 mit Antitoxin behandelten
Fällen sind 16 gestorben. Die drei Ueberlebenden wurden ampu¬
tiert und durch die Amputation geheilt. Bezüglich der prophy¬
laktischen Behandlung liegen Gutachten von Tierärzten vor. Aus
ihnen geht hervor, daß die frühzeitig einsetzende prophylaktische
Behandlung Erfolg haben könnte, doch müßten die Schutzdosen
wiederholt werden. Dieses Verfahren wäre aber zu kompliziert
und zu teuer. Es würde auch unmöglich sein, alle verdächtigen
Wunden so häufig einzuspritzen; das würde zuviel Arbeit ver¬
ursachen. Es wurde nun verschiedentlich versucht, ob man unter
den tetanusverdächtigen Wunden nicht die wirklich tetanus¬
infizierten Wunden herausbekommen könnte. Alle Methoden waren
aber zu zeitraubend und kompliziert. Nun war aus dem russisch¬
japanischen Kriege bekannt geworden, daß die Japaner, welche
das Antitoxin lokal anwandten, bessere Resultate erzielt hatten
als die Russen. Bockenheimer hat seine Versuche an Meer¬
schweinchen angestellt. Eine Anzahl von Tieren wurde durch
mit Tetanusbazillen getränkte Holzsplitter infiziert. Ein Teil der
infizierten Tiere wurde nun behandelt. Das Antitoxin wurde mit
lipoiden Substanzen zusammengebracht und entweder auf die
infizierte Wunde direkt gebracht oder in ihrer Nähe eingespritzt.
Bei diesem Vorgehen zeigten sich gute Erfolge ; das Inkubations¬
stadium wurde verlängert ; der Tetanus verlief milder. In der
letzten Zeit hat Bockenheimer das Antitoxin mit Salben
zusammen angewendet; dann trat entweder gar kein Tetanus
auf oder die Erkrankung verlief sehr leicht. Auch diese Versuche
ergaben, daß man die Behandlung frühzeitig beginnen müsse,
bevor die Krankheit zum Ausbruch gekommen sei. Diese Salben¬
behandlung empfehle sich besonders da, wo sich tetanusver¬
dächtige Fälle häufen; die Verbände müßten häufiger gewechselt
werden. (Fortictzung folgt.)
Programm
der am
Freitag: den 17. Mai 1907, 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat V. v. Ebner stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Diskussion zum Vortrage des Herrn Primarius Doz. Dr. Latzko :
Die chirurgische Therapie des Puerperalprozesscs. (Zum Worte gemeldet;
Fabricius, Halban, Peliam und Scliauta.)
2. Professor Dr. M. Benedikt: Physiologie und Pathologie der
Zirkulation.
Einen Vortrag hat angemeldet: Herr Prof. S. Stern.
Bergmeister, Paltauf.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Escliericli Donnerstag den 16. Mai 1907, um 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz: Professor Dr. Unger.
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Dr. Schick : Ueber die Nagelfurchen beim Neugeborenen.
Das Präsidium.
VtrantwortlichvT Bidakttur: Adalbert Karl Trapp« Vtrlag Ton Wilhelm Braamftller in Wien.
Drnok tob Bruno Bartelt, Wien XVIII., Thereaiensaaae 3.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Sohrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
XX. Jahrgang. Wien, 23. Mai 1907. Nr. 21.
Ce — - . ^
Die
„Wleuer kliulsclie
'Woclieuscbrlfl*) **
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags-
handlung.
ALT:
INH
1. Originalartikel: 1. Aus der chirurgischen Klinik in Innsbruck.
Erfolgreiche Operation eines Hypophysentumors auf nasalem
Wege. Von Prof. Dr. H. Schloffer.
2. Beiträge zur Lehre von der Tetanie. II. Das kausale und die
auslösenden Momente. Der akute Anfall von Tetanie nach
Tuberkulininjektion. Von Prof. Dr. P. Chvostek.
3. Aus der chirurgischen Abteilung der mähr. Landeskranken¬
anstalt in Olmütz. lieber einen Fall von intraabdominaler
Netztorsion bei gleichzeitiger Brucheinklemmung einer Appendix
epiploica. Von Primararzt Dr. F. S mol er.
4. lieber Silberimprägnation von Bakteriengeißeln. Von Professor
Dr. K. Kreibich.
5. Aus der Prosektur des Kaiser-Franz-Joseph-Spitales in Wien.
(Vorstand: Prof. Dr. Kretz.) Geißeln bei vom Jahre 1904 bis
1907 in zugeschmolzenen Eprouvetten aufbewahrten Kulturen.
Von Dr. Alexander Hinterberger, Wien.
II. Referate: Sonnenstrahlen als Heil- und Vorbeugungsmittel
gegen Tuberkulose. Von W. Graff. Die Bekämpfung der
Tuberkulose innerhalb der Stadt.VonErnst Pütt er. Behringwerk-
Mitteilungen. Ref : J. Sorgo (Alland). — Beitrag zur gefechts¬
sanitären Applikatorik im Gelände. Von Regimentsarzt Doktor
Franz Kroath. Der operative und taktische Sanitätsdienst
im Rahmen des Korps nebst einer Aufgabensammlung. Von
Maximilian Ritter v. Hoen. Ref.: Johann Steiner. — Aerzt-
liche Wirtschaftskimde. Von Dr. Alexander Rabe. Ref.:
Ellmann (Wien). — Die Trunksucht und ihre Abwehr. Von
Dr. A. Baer und Dr. B. Laquer. Ref.: Sofer.
III. Ans verschiedeueu Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
y. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften uudEougreßberichte.
Aus der chirurgischen Klinik in Innsbruck.
Erfolgreiche Operation eines Hypophysen¬
tumors auf nasalem Wege.^)
Von Prof. Dr. H. Schloffer.
Die bi'sherige Diskussion über die Exstirpation von
Hypophyseiitumoreü hat sicli vor allein nni zwei., Punkte
bewegt, um die prinzipielle Bereclitiguiig solcher Opera¬
tionen und um den We,g, der zur F'reilegiiug der Hypo^-
pliyse diene|n sollte. In eine'r im vorigen Sommer erschie-
nejnen Arbeit^) habe ich die' wichtigsten Angaben, die über
den Gegehstaiid in der Literatur vorliegen, znsammerigestellt
und aln der Hand von pathologisch-anatomischen Präparaten
und auf Gruind von Leichenversuchen meine Anschauungen
über die Berechtigung U(nd übeb die Technik von Hypoi-
physenoperatioinen niodetgeiegt. Da die Untersuchungen
namhafter Antorejn die funktionelle! Bedeutung der Hypo¬
physe noch keineswegs klargestellt haben und vor allem
der Beweis für die Entbehrlichkeit dieses Orgajnes noch
nicht vorliegt, schiein mir beim Adenom der Hypophyse', dem
weitaus häufigsten Tumor derselben, die Totalexstirpation
— wenigstens derzeit — noch nicht gerechtfertigt. Aber eine
partielle Exstirpation schien mir in jenen Fällen angezeigt,
bei denen eine Beseitigung der durch die Geschwulst be¬
dingten Druckwirkung durchaus wünschenswert ist, zurrial,
wenn sich bewahrheiten sollte, dah bestimmte Krankheits-
*) Vorgestellt in der Sitzung der wissenschaftlichen Aerztegesell-
sehaft in Innsbruck, vom 26. Aprü 1907.
b Zur Frage der Operationen an der Hypophyse. Beiträge zur
klinischen Chirurgie Bd. 60, Heft 3.
ersclieiiiungen in solchen l'ällen mit einer Hyperfimktion '
der vergrößerten Hypophyse in Zusammenhang stehen.
Zur k'reilegung der .H7pophyse waren bereits zahl¬
reiche Methoden vorgeschiagen worden, extrakranielle
mit Vordringen zur Hypophyse von der Keilbeinhöhle aus
und intrakranielle, bei denen man durch die vordere
oder mittlere Schädelgrube zur Sella turcica gelangt. Unter
den letzteren schien mir damals die' von Krause empfohlene
Methode, bei der das Stirnliirn samt der Dura e'mporgehoben
werden soll, noch die beste.
J edenfalls aber mußte d ie e x t r a k r a n i e 1 1 e Freilegung
der Hypophyse nach temporärer Aufklappung der äußieren
Nase, eventuell vereiiit mit der temporären llesektioii ein-
I zehier Teile des Oberkiefers oder — bei Erblindimg eines
i Auges — mit Ausräumung einer Orbita, als das techriisclj^
einfachere Verfahren bezeichnet werden. Gegen dies.es Ver¬
fahren sprach nur eines, die nach der Operation unver¬
meidliche Kommunikation der Wunde an der Schädelbasis
mit dem Nasenracheinraume und die damit verbundene Ge^
fahr einer postoperativen Meningitis. Aber auf Grund ver¬
schiedener Erwägungen konnte ich mich nicht entschließen,
diese Gefahr allzuhoch einzuschätzen und so habe ich mich
damals dafür ausgesprochen, dem extrakraniellen Verfahren
iiisolange den Vorzug zu geben, als keine ungünstigen Er¬
fahrungen uns eines Besseren belehren sollten.
■ Nunmehr kann ich Ihnen einen Patienten vorstellen,
bei dem die extrakranielle Freilegung und partielle Exstir¬
pation eines Hypophysentumors tatsächlich gelungen ist.
Ich hähe die Operation vor acht Wochen ausgeführt und
die Meningitis ist bisher nicht eingetreten. Es handelte
sich um keine Akromegalie, sondern um klinische Erschei-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
nmigen, die vorwiegend durch den lokalen Druck des Tu- j
mors auf seine Umgebung erklärt werden müssen.
Der Mann (Franz R., SOjähriger Schneider aus Prag, Prot.- |
Nr. 217, aufgenommen 25. Februar 1907) datiert sein Leiden auf j
etwa sieben Jahre zumck. Schon 1900 litt er oft durch mehrere !
Wochen an anhaltenden Kopfschmerzen. Seit 1901-, nach einem \
fünf bis sechs Wochen dauernden ,, Ikterus“ stets schlechter Appetit,
zeitweise Kopfschmerzen. Seit zwei bis drei Jahren sei er „bleich¬
süchtig“ geworden, er sehe seitlier schlecliler ans als vorher.
Bald darauf soll sich Ohrenfluß eingestellt haben, eine Otitis
media supp., nach einer Narbe zu schließen, die am rechten
Trommelfell zu finden ist. Vor sechs Jahren begannen die Kopf¬
haare auszufallen, später die Haare am übrigen Körper, so daß
nun Brust und Achselhöhlen ganz haarlos sind; Kopf- und Bart¬
haare haben wesentlich abgenommen, der Backenbart ist fast
ganz ausgegangen. Am wenigsten sind die Schamhaare betroffen.
Seit Beginn des Jahres 1906 ist der Kranke seiner Kopfschmerzen
wegen arbeitsunfähig; Mai 1906 nahmen dieselben an Heftigkeit
noch wesentlich zu; sie dauerten fast beständig an. Tag und
Nacht, exazerbierten aber anfallsweise zwei- bis dreimal des Tages.
Die Anfälle dauerten 10 bis 20 Minuten und waren oft vorf*'
Schwindel und Ohrensausen, seltener von Erbrechen begleitet.
K = verengte Keilbeinhöhle, H = Hypophysentumor, f = Sinus frontalis,
0 = Orbitaldach, sm = Sulcus für die arteria meningea media,
sph = Fossa sphenomaxillaris. .
Die Schmerzen begannen dabei oft im Nacken und verhinderten
dann jede Bewegung des Kopfes oder wurden in der Tiefe quer
durch den Kopf, von einem Ohre zum anderen empfunden.
Seit Februar 1906 besteht eine hitemporale Hemianopsie.
Nach der Schilderung des Patienten ist sie, nachdem er vorher ein
halbes Jahr etwas schlechter gesehen hatte, plötzlich gekommen
und gleich von Anfang an haarscharf gewesen. Er hemerkte
mit einem Male auf der Straße die neben ihm gehenden Leute
nur, wenn er den Kopf entsprechend drehte. Während die Seh¬
störungen unverändert blieben, sind die Kopfschmerzen in den
letzten drei Monaten etwas besser, die Anfälle etwas seltener
geworden.
Auch die Potenz hat im Verlaufe der Krankheit gelitten.
Geschlechtlicher Verkehr wurde mit 16 bis 17 Jahren begonnen.
Mit 24 Jahren Gonorrhoe, die ohne Folgen ausheilte. x\bnahme
der Potenz seit Beginn des Jahres 1905. Während vordem der
Koitus wöchentlich zwei- bis dreimal ausgeübt wurde, fehlte jetzt
die Lust und die Kraft, wie der Kranke sagt. Irn Jahre 1905 kam
es noch dreimal zum Beischlaf, 1906 gar nicht mehr, Erektionen
fehlten. Die Hoden sollen kleiner geworden sein.
Die Verschlimmerung der Kopfschmerzen im Mai 1906 führte
den Kranken zum erstenmal in Spitalsbehandlung. Er will da¬
mals vier Wochen im Hedwigs-Krankenhause in Berlin gelegen
sein; hernach ging es ihm durch ein paar Wochen besser, aber
der Sommer 1906 sah ihn wieder für mehrere Monate im Kranken-
hause am Urban. Später stand er in seiner Heimat Prag in
ärztlicher Behandlung, von wo er mir durch Herrn Privatdozent
Dr. Margulies zur Operation zugeschickt wurde.
Das Ergebnis der in Prag von seiten verschiedener Kliniker
und Aerzte vorgenommenen Untersuchung des PatioJiten deckt
sich mit dem bei uns erhobenen Befund. Der Kranke war sehr blaß
und sah recht leidend aus. Die Behaarung, dünne Augenbrauen,
fast kein Schnur- und Backenbart, war in der Tat danach angetan,
einen fast puerilen Eindruck zu erwecken. Die inneren Organe
holen nichts Abnormes. Pulsfrequenz zwischen 72 und 80. Der
neurologische Befund (Piiv.-Doz. Dr. Mar g u 1 i e s- Prag und Pro¬
fessor May er- Innsbruck) ergab nur eine leichte rechtsseitige
Fazialisparese, auffällige Beklopfungsemplindlichkeit der Tubern
frontalia, besonders rechts und des rechten Scheitelbeines. All¬
gemeine Kraftlosigkeit der Muskelleistung, ohne daß etwa eine
umschriebene Lähmung nachweisbar wäre.
Die ophthalmologische Untersuchung (Priv.-Doz. Hirsch-
Prag und Prof. Bernheim er-Innsbruck) ergab hitemporale
Hemianopsie. Die Sehschärfe betrug am 4. März 1907 am rechten
Auge Vo bis Ve mit +0-5 D, am linken ®/i2 bis Va mit +0-5 D;
Der Spiegel befund bot normale Verhältnisse.
Die Diagnose Hypophysentumor war durch die Hemi¬
anopsie und durch das Höntgenhild gegeben. Dieses zeigte
eine deutliche Erweiterumg der Sella turcica zu einer fast
nuß'großen Höhle, deren Inhalt einen gleich tiefen Schatten
gab, wie das benachbarte Gehirn (siehe Fig. l).
Daß die Vergrößerung der Seile turcica auf guten
Röntgeinbildern deutlich zum Ausdruck kommt, hat Oppen¬
heim gezeigt. Aber die Äusdehnung und Form der Sella
am Bilde gestatten auch ziemlich weitgehende Schlüsse in
bezug auf die Größe und Wächstumsrichtung des Tümors
Fig. 2.
Schematische Darstellung der Sella turcica am Röntgenbilde, a = normale
Verhältnisse ; b, c, d = die verschiedenen Formen der erweiterten Sella turcica.
Ich möchte hier kurz auf diesen Gegenstand eingehen.
Die Vergrößerung der Hypophyse kann zunächst in der
! - Weise erfolgen, daß dieselbe zu einer Erweiterung der
Sella turcica nach unten führt, der Eingang der Sella aber
ziemlich unverändert bleibt (big. 2 b). Die zweite Möglich¬
keit liegt in einem Emporwachsen der Hypophyse gegen das
Gehirn, wobei die Sella turcica verbreitert, namentlich aber
ihr Eingang erweitert ist (Fig. 2 c). In der Mitte zwischen
diesen beiden extremen Formen stehen jene Fälle, in denen
eine Vergrößerung der Sella turcica und eine Erweiterung
ihres Einganges vorhanden ist (Fig. 2d). Zweifellos eignen
sich für die Operation Hypophysentumoren vom Typus
Fiig. 2 b, während Fig. 2 c exquisit inoperable Tumoren dar¬
stellt. Bei Fällen, die Verhältnisse wie Fig. 2d aufweisen,
scheint die Beurteilung, inwieweit der Tumor gegen das
Gehirn emporwächst, von vornherein schwierig. Da aber
Hypophysentumoren, welche das Dach der Sella turcica
nur unwesentlich nach oben verdrängen und nicht gegen
das Gehirn emporragen, doch sehr häufig im ITöntgenbilde
neben einer Erweiterung der Sella selbst auch eine solche
ihres Einganges zeigen, sind Fälle mit solchem Röntgen¬
befund keineswegs von vornherein als inoperabel zu be¬
zeichnen. Ich konnte im Gegenteil schon in meiner obeji
erwähnten Arbeit an der Hand von anatomischen Prä¬
paraten darauf hinweisen, daß das Dach der Sella nicht
wesentlich nach oben verdrängt zu sein pflegt, wenn der
(Schüller, Erdheim).
c.
Nr 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
623
Sagittaldurehiniesser der Sella am Bilde 2 cm nicht über¬
steigt ; es eignen sich also solche Fälle ganz gut zur Opera¬
tion und es kann hiebei der Hypophysentumor von der Keil¬
beinhöhle aus exstirpiert werden. Die Röntgenbilder in
unserem Fälle (Fig. l) zeigen, daßi auch er in diese Gruppe
gehört.*
Die Indikation zur Operation war bei meinem 'Patienten
durch die unerträglichen Kopfschmerzen gegeben ; sie
raubten dem Kranken jede Lebensfreude und er iwünschte
die Operation, obwohl er über ihre' Schwere genau orientiert
war. Er hatte auch ohne Bedenken seine Zustimmung dazu
gegeben, dah. Wenn dies zum Herankommen an die Ge¬
schwulst sich nötig erweisen sollte, ein Bulbus geopfert
werde.
Ich beabsichtigte, nach temporärer Aufklappung der
äußeren Nase, Ausräumung der inneren Nase und Entfernung
der inneren 'Wand der linken Orbita und Highmorshöhle, die
Entfernung des Tumors zu versuchen und nur im Notfälle
diese Orbita auszuräumen. Der Kranke war nämlich in
einem zu elenden Zustande, als daß) ich eine ausgedehntere
Resektion am Oberkiefer ins Auge fasisen wollte und zur
Entfernung eines ^Bulbus konnte ich mich mit Rücksicht
auf die, abgeseihen von der Hemianopsie, doch gute Seh¬
kraft beider Augen schwer entschließen.
Die Operation wurde am 16. März ausgeführt. Nar¬
kose mit Billrothmischung. Aufklappung der ganzen Nase
(v. Bruns) nach rechts. Exzision sämtlicher Muscheln und des
Septums. Tamponade, worauf die anfangs ziemlich beträchtliche
Blutung bald sisüerte. Entfernung der inneren Wand der linken
Orbita, bis nahe an das Foramen opticum; Entfernung der
inneren Wand der linken Highmorshöhle und eines Teiles des
Nasenfortsatzes des linken Oherkiefers. Die Blutung dabei war
unbeträchtlich. Es folgte die Eröffnung und Ausräumung der
Siebbeinzellen und Eröffnung der Keilbeinhöhle.
Das Schwierigste wmr nun die Orientieruug darüber,
wie nalhe man schon der Sella turcica gekommen sein
mochte und ob die vorliegenden Hohlräume noch Siebbein¬
zellen oder schon die durch die Ausweitung der Sella turcica
verengte Keilbeinhöhle waren. Hier erwies sich die von
mir schon 'früher als Hilfsmittel empfohlene genaue Be¬
stimmung der Distanz zwischen der knöchernen
Nasenwurzel und der vorderen Wand der Sella
turcica (siehe Fig. Id) als unerläßjich für den Fortgang
der Operation. Wir hatten im Röntgenbilde diese Distanz
mit 6 cm gemessen. Da aber das Röntgenbild die wahren
Verhältnisse in etwas vergrößerter Weise wiedergibt, mußten
diese erst durch Umrechnung bestimmt werden, wobei sich
die wahre Distanz zwischen den genannten Punkten mit
5-3 ein ergab. Beim Arbeiten in der Tiefe brauchte ich mich
bloß davon 'überzeugen, ob ich schon 5-3 cm hinter der
Nasenwurzel mich 'befand ; solange dies nicht der Fäll war,
konnte ich getrost weiter eindringen. In der Tat kam ich in
der angegebenen Entfernung von der Nasenwurzel auf eine
quergestellte, 'dünne Knochenwand, die sich mit der Pin¬
zette wie ein Schale losbrechen ließ und hinter der sich
eine kugelige Geschwulst zeigte, die deutlich pulsierte. Nun
wurde mit Kneipzangen die Oeffnung in dieser Knochenwand
nach unten und nach den Seiten vergrößert und hernach
ein Fenster von etwa IV2 cm Breite und 1 cm Höhe in
den Duraüberzug des Tumors geschnitten ; sofort wölbte sich
die bläuliche Geschwulst aus dem Fdnster hervor.
Zur Entfernung der Geschwulst hatte ich mir Spatel
aus biegsamem Blech konstruieren lassen, welche sich
mit ihren stumpfen Rändern sehr gut dazu eigneten, Scheiben
und Stücke vom Tumor abzuschneiden, ohne daßi man eine
unbeabsichtigte Verletzung der Dura und der benachbarten
Gefäße zu fürchten brauchte. Es wurde auf diese Weise
der Tümor stückweise abgetragen und herausbefördert, er
war aber so weich, daß er zum Teile zerbröckelte. Die
Bröckel fielen auf den im Nasenrachenraum liegenden Tam¬
pon mischten sich mit Blut und gingen der Untersuchung
verloren ; mehrere größere Stücke wurden aber erhalten. Die
Ausräumung des Tumors gelang fast 'O'hne jede Blutung.
Als man dabei aber nach oben an das Dach der Sella
turcica gelangte, floß eine größere Menge blutig fingierter
Flüssigkeit ab, offenbar Liquor cereljrospinalis. Man konnte
sich über die Förm und Größe der Sella turcica sehr gut
orientiereu, indem eingeführte Sonden nach obenhin das
Konvergieren der Wände (ukennen ließen. Nur bis in die
Gegend des Hypopyhsenstieles wagte ich beim’ Sondieren
nicht vorzudringeii, weshalb ich über die Dicke desselljen
nichts angeben kann. Ich ließ auch in jener Gegend einen
Rest des Tumors zurück, meiner Schätzung nach ein
Fünftel 'der Ges,amtmasse der Geschwulst, gewiß nicht mehr
als ein Viertel derselben. ^
Die große Höhle in der Sella turcica wurde nun mit in
PerubalsanU) getauchter Gaze ausgeslopft, ein ebensolcher
Tampon weiter vorne an die Schädelbasis gelegt, beide Tampons
durch die Nase herausgeleitet. • Die aufgeklappte Nase wurde zu¬
rückgelagert und in gewöhnlicher Weise durch Weich teilnähte
in normaler Lage fixiert. Dauer der Operation . fünf . Viertel¬
stunden.
Die ganze .Operation in der Tiefe, für welche ein Stirn¬
reflektor vorbereitet war, konnte ohne diesen vorgenommen
werden, was um so be'merkenswerter ist, als während der
Operation ein. mir gerade gegenüber liegendes Südfenster
meines provisorischen Operationssaales (die Operation wurde
an eiimm Nordfenster gemacht) unerwarteterweise vO'ii der
Sonne beschienen wurde, was vorübergehend recht störte ;
aber dennoch war der Einblick auch ohne Reflek¬
toren für eine genaue Orientierung in der Tiefe
vollkommen genügend.
Histologisch erwies sich der Tumor als Adenom. ,
Was den Verlauf nach der Operation betrifft,,
so schicke ich voraus, daß irgendwelche Ausfallsersche.U
nun gen, welche auf den Verlust von Hyp'ophysengewebe
zu beziehen wären, nicht aufge treten sind. . ;
In den ersten Tagen nach der Operation floßi hesländig
Liquor cerebrospinalis ah. Alle paar Minuten tropfte cs von
der Nasenspitze. Dabei war der Kranke ziemlich schmerzfrei
und bald hei entsprechemlem x4ppe;it. Temperatur im allgemeinen
unter 37, Puls um 80. .
Der Tampon in der Nase belästigte den Kranken. Am
sechsten Tage wurde der vordere Gazestreifen entfernt, am neunten
Tage jener in der Sella turcica.^) Die Entfernung des zweiten
Streifens verursachte Schmerzen, die auch an den nächsten beiden
Tagen anhielten, aber mit den seinerzei igen Kopfschmerzen nichts
gemein hatten.
Am 14. Tage nach der Operation versiegte der Liquor¬
abfluß. Die Kopfschmerzen geringer. Kein Fieber, guter Appetit.
Am 2. April, 17 Tage nach der Operation, Kopfschmerzeh
etwas stärker, Appetit schlecht, Brechreiz. Nachts darauf zwei¬
mal Erbrechen, desgleichen an den beiden folgenden Tagen. Am
Nachmittage des 4. April verschAvanden . die Kopfschmerzen,
Appetit wurde gut und von da ab gab es keine Störungen, außer
zeitweise ganz geringen Kopfschmerzen, die vom 10. April ab
vollkommen verschwanden.
16. April. Leichte Anschwellung der rechten, Tags darauf
auch der linken Gesichtshälfte, speziell der: oberen Lider. NoiTiiaip
Temperatur. ...
18. April. Schüttelfrost, Erbrechen, 39-6, starke Anschwellung
und scharf begrenzte Rötung der Unken Gesichtshälfte. Keine
Kopfschmerzen. Es handelte sich zweifellos um ein Erysipel,
das aber in zwei Tagen unter Abfall der Temperatur zurück¬
ging; ausgegangen ist dasselbe offenbar von einer Borke an
der Narbe im Gesichte, an der der Kranke zu kratzen pflegte.
Von nun an ungestörtes Wohlbefinden, vollkom,
mener Wegfall der Kopfschmerzen,, der Kranke geht umher, hat
guten Appetit und wird wieder des Lebens froh. Die Hemianopsie
hat sich nicht geändert. Die Untersuchung am 2.6. April (Bro-
fessor -Bernheim er) ergibt die gleiche Gesichtsfeldeinschrän¬
kung wie vor der Operalion. Außerdem besteht eine leiehte
Schwächung des Rectus internus am linken Auge, infolge des
Eingriffes an der Orbita (gekreuzte Doppelbilder bei extremer
Blickrichtung nach rechts).
9 Schl offer, Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
1905 und Suter, Beiträge zur klinischen Chirurgie.
Der in die Sella eingelegte Tampon roch, als er neun Tage später
entfernt wurde, intensiv nach Perubalsam. Es sind also wohl auch dann
noch an der Wand der Sella Reste von Balsam hängen geblieben. Es
ist deshalb wohl möglich, daß die Balsamwirkung anhielt, solange über¬
haupt Liquor cerebrospinalis abfloß.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
Die sechs Wochen nacli der Operation antgenonnnonen
Röntgenhihler zeigen keinen nennenswerten Unterschied gegen¬
über jenen vor der Operation; nur ist die knöcherne Begrenzung
der Sella turcica nach vorne undeutliclier geworden, vielleicht ist
aucli der Schatten, den der Inhalt der Sella gibt, etwas weniger
dicht.
Das wichtigste Ergebnis dieser Operation knüpft sicli
an die Tatsache, daß. der H y p o p h y s e n t u mo r a u f d i e a n-
gegehene Weise unerwartet leicht frei gelegt und
entfernt werden konnte. Ich hatte wohl schon seiner¬
zeit die Vermutung ausgesprochen, daß man an die ver¬
größerte Hypophyse am Lebenden ungleich leichter heran-
kommen*werde,als an die normale Hypophyse an der Leiche,
aber ich konnte damals noch nicht ermessen, ob nicht viel¬
leicht die am Lebenden zu gewärtigende Blutung diesen Vor¬
teil wieder in Frage stellen würde. Die Blutung war in
meinem Falle aber lediglich bis zur vollendeten Ausräumung
der inneren Nase nennenswert; dann konnte man fast
ohne jede Blutung operieren, kaum unbequemer als an der
Leiche. Speziell die Entfernung des Tumors selbst ging wie
an einem blutleeren Organe vor sich. Die Sella turcica
konnte mittels des oben beschriebenen Kunstgriffes leicht
aufgefunden werden. Chiasma und Karotiden Icamen mir dabei
überhaupt nicht zu Gesicht. Ich bin der Ueberzeugung, daß
die Entfernung eines Hypophysentumors nach der geschil¬
derten Methode keineswegs ein Kunststück ist und kaum
schwieriger als etwa die Exstirpation des Ganglion Gasseri.
Die Operation kann gewiß von jedem geschulten Chirurgen
ausgeführt werden.
Als ein zweites wichtiges Ergebnis meines Falles be¬
trachte ich es, daß der Patient den Eingriff überstanden hat,
ohne daß, es zur Meningitis kam. Seitdem der Kranke
vor kurzem von seinem Erysipel genesen ist, ohne eine
Meningitis zu bekommen, habe ich in Anbetracht der acht
Wochen, die seit der Operation verstrichen sind, in dieser
Richtung wenig Sorge mehr. Offenbar ist die Narbe an der
Schädelbasis schon derb genug, um einer Infektion der
Meningen Widerstand zu leisten.
Es stellt somit fest, daß die nach der Exstirpation
an der Schädelbasis zurückbleibende Wunde keineswegs
zu einer Infektion der Meningen zu führen braucht. Damit
aber wird die Exstirpation von Hypophysentumoren von
der Keilbeinhöhle aus zu einer Methode, die praktisch immer¬
hin in Betracht kommt.
Für die Frage der Berechtigung des operativen Ein¬
griffes an Hypophysentumoren von einschneidender Bedeu¬
tung ist auch die Tatsache, daß nach der partiellen Ex¬
stirpation in meinem Fälle .Ausfallserscheinungen in keiner
Weise eingetreten sind. Da etwa ein Fünftel des Tumors
zurückgelassen wurde, so heweist dies natürlich nichts für
die physioloigische Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit des
Organes, aber doch so viel, daßi man ohne Rücksicht auf
eine etwaige bestimmte Funktion der Hypophyse Adenome
derselben — um . ein solches handelte es sich in meinem
Falle ■ — ohne Schaden zum .größeren Teil abtragen kann,
ähnlich wie dies ja auch bezüglich der Schilddrüse gilt.
Hypophysentumoren galten bisher als inoperabel. Auch
neuere Arbeiten und Lehrbücher teilen diese Auffassung,
z. B. eine in jüngster Zeit erschienene Arbeit von Braun^)
aus dem Krankenhause im Friedrichshain in Berlin über
diesen. Gegenstand und ein im März 1907 erschienenes Hand¬
buch über Hirnchirurgie von Ballance,^) der neben
Horsley als Chirurg am National hospital in London
tätig ist.
Dennoch muß ich aus einigen kurzen Mitteilungen aus
dem JaJire 1906 entnehmen, daß Horsley Hypophysen¬
operationen bereits ausgeführt hat. Es handelt sich um
■*) Zur Freilegung der zentralen Teile der mittleren Schädelgrube
(Ganglion Gasseri und Sinus cavernosus) und der Hypophyse. Deutsche
Zeitschrift für Chirurgie, 87. Band, 1. bis 3. Heft.
0 Some points in the sugery of the brain and its membrans.
London, Mac Millan and Co. 1907.
das Referat über einen Vortrag Horsleys in Plymouth*’)
und eine Arbeit über die Technik ,der Hirnoperationen. ’^)
Leider ist, was Horsley zur Sache mitteilt, nur sehr knapp
gehalten und zur Beurteilung der näheren Einzelheiten un¬
zureichend. Es ist in dem genannten Referate*’) von neun
Hypophysenot)erationen mit zwei Todesfällen die Rede, an
einer Stelle in der zwei (genannten Arbeit^) sogar von
zehn intrakraniellen Operationen an der Hypophyse. Dann
werden in ebendieser Arbeit in einer Tabelle über den
weiteren Verlauf bei 55 Fällen exstirpierter Hirntumoren
aus dem National hospital drei Fälle von Adenom, be¬
ziehungsweise Adenosarkom der Hypophyse registriert, wor¬
unter einer mit Rezidiv. Bezüglich der Technik wird der
Weg von vorne mit Emporheben des Stirnhirns erwähnt,
aber jenem von der mittleren Schädelgrube aus mit Empor¬
heben des Schläfelappens der Vorzug gegeben. Horsley
erwähnt zwei Fälle, in denen er, nachdem er die Hypophyse
auf diesem Wege entfernt hatte, die Hirnbasis mittels eines
in clie Sella turcica geführten rhiiioskopischen Spiegels be¬
sichtigte.
Bei dem Mangel näherer Angaben verbietet sich natür¬
lich jedes Polemisieren; nur möchte ich bemerken, daß
mir die Freilegung der Hypophyse von der mittleren Schädel¬
grube aus denn doch ein un gleich schwierigerer und wahr¬
scheinlich auch weit gefährlicherer Eingiff scheint, als die
extrakranielle Operation. Namentlich hätte ich Bedenken,
das erstere Verfahren einer allgemeinen Anwendung
zu empfehlen; nur unerwartet ungünstige weitere Er¬
fahrungen in bezug auf die Meningitisgefahr nach der
extrakraniellen Operation könnten dies rechtfertigen.
Nachtrag. Erst nach der Demonstration des Kranken
in der wissenschaftlichen Aerztegesellschaft in Innsbruck
hat uns der Patient auf eine interessante Erscheinung auf¬
merksam gemacht; es sprießt dem Kranken seit kurzem
ein dichter Flaum an den unteren Teilen der Backe, wo
vorher nur spärliche Härchenreste des verloren gegangenen
Backenbartes gestanden waren.
Vielleicht ist diese Tatsache geeignet, eine Vorstellung
über die Ursachen gewisser trophischer Störungen zu geben,
die bei vielen Hypophysentumoren gefunden werden. Ich
glaube nämlich nicht, daß man für diesen Umschwung in
bezug auf den Haarwuchs einfach den Wegfall der Kopf¬
schmerzen oder die besseren Ernälirungsverhältnisse nach
der Operation verantwortlich machen kann ; eher wird man
denselben so erklären dürfen, daß früher eine Hyperfunk¬
tion der vergrößerten Hypophyse zu einem Ausfall ider Haare
geführt hat, während jetzt, nach der partiellen Exstirpation
des Organes die den Haarwuchs schädigenden Momente in
Wegfall gekommen sind. Vlit dem histologischen Befunde
des exstirpierten Tumors wäre die Annahme insofern in
Einklang zu bringen, als es sich dabei lediglich um eine
Vermehrung des Hypoi)hysengewebes gehandelt hat; wenig¬
stens unterschied sich das Gewebe der Geschwulst nicht
wesentlich von dem des drüsigen Vorderlappens der nor¬
malen Hypophyse. Und die Vorstellung, daß die Hyper¬
funktion in einem gewissen Verhältnisse steht zur Masse
des vorhandenen Drüsengewebes ist zwar primitiv aber
plausibel. Bei der Akromegalie hat man bekanntlich sogar
den gesamten Symptomenkomplex auf eine Hyperfunktion
der Hypophyse zurückgeführt (Benda u. a.).
Auf das WTedereinsetzen des Bartwuchses werde ich
zugleich mit einer Reihe anderer klinischer Details und einer
näheren Würdigung des histologischen Befundes nach Ab¬
lauf längerer Zeit in einer ausführlichen Publikation des
Falles zurückkommen.
9 Brit. med. Journ. 1906, II, p. 325.
9 Brit. med. Journ. I, p. 411.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
625
Beiträge zur Lehre von der Tetanie.
II. Das kausale und die auslösenden Momente. Der akute
Anfall von Tetanie nach Tuberkulininjektion.
Von Prof. Dr. F. Chvostek.
Wenn die Tetanie eine typische Erkrankung sui generis
ist, woran wohl nicht gezweifelt werden kann und nicht bloß
ein Symptomenkomplex, der im Verlaufe verschiedener krank¬
hafter Störungen auftritt, dann ist es aber auch zweifellos,
daß für pathogenetische Erwägungen nur zwei Möglichkeiten
in Betracht kommen ; entweder liegt der Erkrankung ein
ganz spezifischer Erreger zugrunde, der allein imstande ist,
die Erkrankung hervorzurufen, oder aber die Eigenart der
Erkrankung ist durch Veränderungen ganz bestimmter Organe
bedingt, deren gestörte Funktion dann das charakteristische
Krankheitsbild der Tetanie zur Folge hat. Für die erste Mög¬
lichkeit ist bisher auch nicht im entferntesten der Nachweis
erbracht worden, die einfache Ueberlegung muß allein schon die
Suche nach solchen Erregern als aussichtslos erscheinen lassen.
Wie kann der Tetanie ein spezifischer Erreger zugrunde
liegen, wenn wir sehen, daß sie sich bei den verschiedensten
Infektionen und Intoxikationen, bei Erkrankung verschiedener
Organe mannigfachster Art, im Anschlüsse an körperliche
und psychische Insulte, nach Erkältungen etc. findet, wenn
unter Umständen eine Ausheberung des Magens, eine Morphin¬
injektion imstande ist, die Erscheinungen der Tetanie zutage
treten zu lassen ? Alle diese Momente können nur als auslösende,
nie als kausale in Betracht kommen. Das wesentliche der Erkran¬
kung muß in den Individuen selbst gelegen sein, Störungen ganz
bestimmter Organe nur können es bewirken, daß auf die
verschiedensten auslösenden Ursachen hin, immer dieselben
Erscheinungen sich einstellen. Nicht ein spezifischer
Erreger kann es sein, der die typischen Erschei¬
nungen der Tetanie hervorruft, sondern ein kon¬
stitutionelles Moment bewirkt es, daß -die ver¬
schiedensten auslösenden Faktoren eine spezi¬
fische tetanische Reaktion der so beschaffenen
Individuen zur Folge haben.
Sprechen die angeführten Umstände schon a priori gegen
die Möglichkeit, für die Tetanie einen spezifischen Erreger zu
supponieren und muß notwendigerweise die zweite Möglich¬
keit, daß dieser Erkrankung Veränderungen ganz bestimmter
Organe zugrunde liegen, zu Recht bestehen, so können für
diese außerdem noch eine Reihe gewichtiger Beweismomente an¬
geführt werden. Vor allem ist es erwiesen, daß es ganz be¬
stimmte Organe gibt, die Glandulae parathyreoideae, deren
Ausfall dieselben Erscheinungen setzt, die wir bei der Tetanie
beobachten. Die Kongruenz der Erscheinungen der parathyreo-
priven Tetanie des Tieres und der Erscheinungen beim
Menschen ist eine vollständige. Die Differenzen sind nur
solche, wie wir sie durch die Verschiedenheit der Tierspezies
bedingt auch im Experimente sehen können. Wenn, wie
Schnitze^) hervorhebt, thyreoidektomierte Tiere im Gegen¬
satz zur elektrischen Erregbarkeit keine oder nur geringe
Steigerung der mechanischen Erregbarkeit aufweisen, Pineles-j
häufiger bei tetaniekranken Katzen als bei Affen eine Steigerung
der mechanischen Erregbarkeit nachweisen kann, fibrilläre
Muskelzuckungen bei epithelkörperlosen Tieren intensiver
findet als bei tetaniekranken Menschen und konstatiert, daß
die Tetanie bei Katzen mehr akut verläuft, bei diesen Tieren
die Krämpfe prävalieren, während beim Affen die Krämpfe
in den Hintergrund treten, das Muskelflimmern stärker aus¬
gesprochen und der Verlauf ein mehr chronischer ist, so sind
das, wie Pineles’^) mit Recht hervorhebt, keine auffallenden
Erscheinungen, da sie durch die Verschiedenheit der Tier¬
spezies ihre Erklärung finden können. Im wesentlichen
stimmen die Erscheinungen bei allen Tiergattungen überein.
Diese Differenzen sind um so weniger von Belang, als sie
sich nicht nur bei den bisher gesondert angeführten Formen
menschlicher Tetanie finden können, sondern auch bei Indi¬
viduen, die an derselben Art von Tetanie leiden, zur Beob¬
achtung gelangen. Wenn wir z. B. nur Fälle von so¬
genannter Arbeitertetanie ins Auge fassen, so sehen wir
auch hier, ebenso wie bei den übrigen Formen, eine
ungemeine Variabilität der Erscheinungen. Es gibt Fälle,
bei welchen die Krampferscheinungen stürmisch ver¬
laufen, Fälle, bei welchen nach jahrelanger Latenz ein An¬
fall von enormer Heftigkeit durch kurze Zeit auftritt, um
dann wieder vollständig zu zessieren, wofür wir einen Beleg
in den folgend angeführten Krankheitsgeschichten finden
können, oder Fälle bei welchen sich Krämpfe überhauj)t
nicht oder höchstens ganz sporadisch und ganz geringfügig
einstellen. Ebenso sehen wir, daß in einzelnen -Fällen das
Muskelllimmern stark ausgesprochen und ausgebreitet auf¬
tritt, oft das einzige motorische Symptom der Tetanie vor¬
stellt, in anderen Fällen wieder vollständig fehlt. Bei
anderen Kranken kann die mechanische Uebererregbarkeit
hochgradig seiOj die elektrische kaum nachweisbar oder
überhaupt fehlen, in einem anderen Falle gelingt es nur
bei wiederholter Untersuchung, das Fazialisphänomen nach¬
zuweisen. Wir können von der weiteren Anführung des diffe¬
renten Verhaltens der Erscheinungen im Verlaufe der Tetanie
füglich absehen, weil wir bereits wiederholt Gelegenheit hatten,
darauf hinzuweisen. Daraus erhellt aber, daß derartige
Differenzen im Verlaufe und in den Erscheinungen nicht
herangezogen werden dürfen, um eine durchgreifende Ver¬
schiedenheit der parathyreopriven Tetanie des Tieres und
der Tetanie des Menschen darzutun, oder auf Grund solcher
die Identität der verschiedenen Gruppen menschlicher Tetanie
abzulehnen.
Wenn wir uns anschließend, um späterhin Wieder¬
holungen vermeiden zu können, die Frage vorlegen, ob die bisher
übliche Sonderung der Tetanie in die verschiedenen Formen : die
Tetanie der Arbeiter, die Tetanie bei Magendarmaffektionen,
nach Infektionskrankheiten, nach Intoxikationen, die Tetanie
der Schwangeren, die Tetanie nach Kropfexstirpationen etc.
vom klinischen Standpunkte aus gerechtfertigt erscheint, so
muß dies unbedingt verneint werden. Diese Einteilung ver¬
dankt einzig und allein der Unkenntnis über die Pathogenese
der Erkrankung ihre Entstehung, da man sich nicht klar
war, ob den einzelnen für die Differenzierung herangezogenen
Momenten, in deren Anschluß man das Auftreten der Tetanie
beobachtete, eine direkt ursächliche Bedeutung zukomme,
oder ob sie nur als auslösende in Betracht kämen. Vom
rein klinischen Standpunkte aus ist eine solche Trennung
der einzelnen Formen undurchführbar. Wenn Pineies bei
Analyse der einzelnen Symptome der verschiedenen Tetanie¬
formen zu dem Schlüsse kommt, daß bei allen Arten der
menschlichen Tetanie mit ihren mannigfachen Symptomen-
komplexen ihre klinische Uebereinstimmung sehr auffallend
erscheint, so können wir dem nur zustimmen, glauben aber,
daß eine schärfere Fassung den Tatsachen mehr entspricht.
Eine letal verlaufende Tetanie nach Kropfexstirpation unter¬
scheidet sich in ihren Erscheinungen in., nichts von den akut
verlaufenden Fällen der Tetanie bei Magenaffektionen oder
von letal verlaufenden Graviditätstetanien. Eine chronisch
verlaufende »thyreoprive« Tetanie gleicht in ihren Erscheinun¬
gen vollständig den chronisch verlaufenden Arbeitertetanien.
Wir sind nicht imstande, auch nur ein maßgebendes
Differenzierungsmoment zu erheben, das uns ermöglichen
würde, eine Tetanie der Schwangeren von einer Tetanie
nach Phosphorintoxikation oder bei Hirntumor zu erkennen.
Die klinische Beobachtung spricht strikte für die
Zusammengehörigkeit aller dieser Fälle und
nötigt uns zu der Annahme, daß allen als kausal
in Betracht gezogenen Faktoren nur die Bedeu¬
tung auslösender Momente zu kommen kann, sie
zwingt uns ein einheitliches kausales Moment
für alle diese Fälle anzunehmen.
Wenn nun aber die einfache Ueberlegung, die wir ein¬
gangs angeführt haben, zu dem Schlüsse führt, daß das
wesentliche der Erkrankung in den Individuen selbst gelegen
sein muß, daß alle bisher angenommenen Faktoren nicht
als kausale, sondern nur als auslösende in Betracht kommen
WIENER KLINISCHE WOCIJENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
können, wenn die Beobachtung der Klinik uns zwingt, ein
einheitliches kausales Moment für alle Fälle von Tetanie
anzunehmen, wenn der Nachweis geführt ist, daß es Organe
gibt, deren Ausfall die typischen Erscheinungen der Tetanie
setzt, wenn nachgewiesen werden kann, daß diese Erschei¬
nungen mit denen, die wir bei der Tetanie des Menschen
sehen, identisch sind, dann ist wohl auch, glauben wir,
der Schluß gerechtfertigt, daß die Epithelkörper für die
Pathogenese der Tetanie der Menschen von Belang sein
müssen.
Die Uebereinstimmung der Symptome der parathyreo-
priven Tetanie der Tiere und der Symptome der Tetanie beim
Menschen ist nun, worauf P i n e 1 e s zuerst hingewiesen
hat, eine vollständige.
Wenn wir auf die Ergebnisse der bisher vorliegenden
Tierexperimente rekurrieren, so finden wir dieselben Krämpfe,
dieselben Anklänge an Intentionskrämpfe, dasselbe fibrilläre
Zittern der Muskulatur, die mechanische und elektrische Ueber-
erregbarkeit, das Trousseau sehe Phänomen, Parästhesien,
mitunter schlaffe Paresen, epileptiforme Anfälle etc., wie wir
sie auch bei der Tetanie des Menschen sehen. Auch dasselbe
Fluktuieren der Erscheinungen wie bei der menschlichen
Tetanie, beobachten wir beim parathyreopriven Tiere. Ebenso
ist der Nachweis erbracht (Erdheim®), daß Exstirpation
der Epithelkörper trophische Störungen verursachen kann und
Yon demselben Beobachter konnte das Vorhandensein einer
Katarakte bei einer tetaniekranken Ratte konstatiert werden.
Auch kachektische Zustände auf die v. Fr an kl-H o ch w ar t’)
bei der Tetanie des Menschen neuerdings aufmerksam
gemacht hat, finden sich beim Tiere. Wohl in seltener Ueber¬
einstimmung stehen die Ergebnisse des Tierexperimentes mit
den Verhältnissen beim Menschen für die Maternitätstetanie.
Vassales®} Hündin mit einem Epithelkörper hat vorüber¬
gehend einige Anfälle von Tetanie, die dann zessieren, um
ein Jahr später während der I.aktation in Erscheinung zu
treten und mit dem Aussetzen des Stillens wieder zu
schwinden. Erdheim, Adler und Thaler®) konnten bei
partiell parathyreoidektomierten Ratten mit dem Eintritte der
Gravidität (ein- bis mehrmals) den Ausbruch der Tetanie
beobachten. Bei zwei Kranken M e i n e r t s ^®) und v. E i s e 1 s-
bergs^^), tritt nach Schilddrüsenoperation während der Gra¬
vidität Tetanie auf oder exazerbierte während derselben.
Daß nicht die Exstirpation oder Schädigung der Schild¬
drüse das maßgebende für das Auftreten der Tetanie ist, wird,
abgesehen von dem Tierexperiment, auch durch die Ergebnisse
der Pathologie des Menschen immer mehr erhärtet. Dafür
spricht das von Pineies herangezogene Verhalten von
Kranken mit Thyreoaplasie, bei welchen das Fehlen von
Tetanie nur auf das Vorhandensein der Epithelkörperchen
bezogen werden kann, sowie der Umstand, daß bei Exstir¬
pation von Zungenkröpfen, wohl Ausfallserscheinungen von
Seiten der Thyreoidea, nicht aber Tetanie zur Beobachtung
gelängte, weil bei dieser Operation die Epithelkörper ge¬
schont werden. Kocher spricht sich dahin aus, daß
die Erfahrungen am Menschen geeignet sind, die Anschauung
zu stützen, daß nicht der Ausfall der Schilddrüse, sondern
der Parathyreoidea es ist, welcher die akute Tetanie zur
Folge hat. Dafür spricht ihm unter anderen das von Pineies
zuerst betonte Moment, daß besonders bei Entfernung der beiden
unteren Schilddrüsenhälften das Auftreten der Tetanie beobachtet
werden kann, ferner die seltene Kombination von Myxödem
und Basedow mit Tetanie. Er faßt seine Auffassung dahin
zusammen, daß der für das Tier festgestellte Ausgangspunkt
der Tetanie von der Parathyreoidea durch eine Anzahl von
Beobachtungen und Erwägungen auch für den Menschen als
der wahrscheinlichste angesehen werden kann. Erdheim
konnte in drei Fällen von Tetanie nach Kropfexstirpation das
Vorhandensein ausreichender und genügend mit Blut ver¬
sorgter Schilddrüsenreste konstatieren, so daß nur das Fehlen
der Epithelkörperchen für das Auftreten der Tetanie verant-
w’ortlich gemacht werden konnte. In zwei Fällen von Tetania
infantum konnte er Blutungen, resp. deren Residuen in den
Epithelkörpern nach weisen. Mac Callum*^) fand in einem
Falle tödlicher Magentetanie, Veränderungen an den Epithel¬
körpern (zahlreiche Mitosen und besondere Größe der
eosinophilen Zellgruppen), die ihm im Sinne einer Hyperplasie
als Folge von zu großen an die Drüse gestellten Anforderungen
sprechen.
Hieher gehört vielleicht auch eine Beobachtung König-
steins. ^‘‘) ICr fand in einem Falle von Tetanie eine auffallende
Braunfärbung durch Jod in den Epithelkörpern im Gegensatz
zu Kontrollgeweben, bei welchen diese Reaktion teils gar
nicht, teils in geringem Maße nachweisbar war. Die ver¬
sprochene ausführliche Mitteilung steht noch aus. Ebenso
muß hier angeführt werden die in der vorigen Mitteilung
erwähnte Beobachtung der Klinik Hocheneggs mit
Tuberkulose der Epithelkörper und mechanischer Uebererreg-
barkeit der Nerven.
Gegen die Abhängigkeit der Tetanie von Erkrankungen
der Schilddrüse sprechen dann noch, worauf wir bereits an
a. 0. hingewiesen haben, das Fehlen von Tetanie bei ende¬
mischem Kropf und Kretinismus (v. Wagner, v. E i s e l s-
b e r g), die Seltenheit von Tetanie in Kropfgegenden (v.Frankl-
H och wart), das seltenere Vorkommen von Tetanie bei
Frauen gegenüber dem häufigeren Vorkommen von Strumen
bei diesen, das seltene Vorkommen von Schilddrüsen Verände¬
rungen bei tetaniekranken Männern) die relative Seltenheit
von Tetanie bei Schwangeren gegenüber der Häufigkeit von
Veränderungen der Schilddrüse bei solchen.
Dazu kommt, daß wir durch die Annahme, der Tetanie
liege eine Funktionsstörung der Epithelkörper zugrunde,
für eine Reihe von Beobachtungen eine Erklärung zu geben
imstande sind, die uns bei der Annahme einer Schilddrüsen¬
affektion unverständlich blieben. Hieher gehören die Fälle
von Tetanie, bei welchen rezidivierende Kropfgeschwülste, oft
jahrelang nach der Kropfexstirpation die Erscheinungen der
Tetanie hervorrufen, die Fälle, wo bei nahezu vollständiger
Entartung der Schilddrüse die Erscheinungen der Tetanie
fehlen und erst nach dem operativen Eingriff auftreten, ferner
der Umstand, daß das Auftreten der Tetanie nach operativen
Eingriffen unabhängig ist von der Größe des zurückgelassenen
Restes (v. Eiseisberg ^^).
Die bisher gegen die Bedeutung der Epithelkörper für die
Pathogenese der Tetanie von verschiedenen Seiten an¬
geführten Momente, können wohl kaum als beweiskräftig
angesehen werden. So findet der Umstand, daß Trans¬
plantation der Schilddrüse das Auftreten der thyreopriven
Tetanie verhindert, vermutlich durch die gleichzeitige Ein¬
pflanzung der Epithelkörper seine Erklärung. Der Ueber-
gang von Tetanie in Kachexie, wie er nach Kropfexstirpation
beobachtet werden kann, ist kein Beweis für die Zusammen¬
gehörigkeit beider Erkrankungen und ist, wie Erdheim
annimmt, in der verschiedenen Inkubationsdauer beider be¬
gründet. Gegen die Zusammengehörigkeit beider sprechen —
wie wir früher angeführt haben — die Erscheinungen bei
Thyreoaplasie (P i n e 1 e s), die Seltenheit von Myxödem und
Basedow, Erkrankungen sicher thyreoidalen Ursprunges mit
Erscheinungen von Tetanie, das Vorkommen von Tetanie ohne
Kachexiesymptome (Kocher). Daß bei Tetanie trophische
Störungen und auch kachektische Zustände gelegentlich zur
Beobachtung gelangen können (v. Fra n kl-H o ch w art),
deren Vorhandensein auf eine Beteiligung der Schilddrüse
hinweisen könnte, bei welcher derartige Veränderungen sicher
nachgewiesen sind, ist richtig. Nun ist aber durch E r d h e i m
der Nachweis von trophischen Störungen nach Epithelkörper¬
ausfall erbracht worden, so daß auch dieser mögliche
Einwand seine Bedeutung verliert.
Als gewichtigstes Beweismoment gegen den Zusammen¬
hang der Epithelkörper mit Tetanie kämen die bisher in
einzelnen Fällen erhobenen negativen Befunde an diesen
Organen in Betracht. Aber auch diesen kann eine strikte
Beweiskraft wohl kaum zugesprochen werden. Grob ana¬
tomischen Befunden kommt natürlich gar kein Wert zu.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
627
Nr. 21
Aber auch histologische Untersnchungsergebnisse — selbst
wenn sie alle Epithelkörperchen berücksichtigten — be¬
rechtigen derzeit zu keinen weitergehenden Schlüssen.
Es geht nicht an, aus allem Anscheine nach histologisch
normalen Epithelkörpern auch auf eine normale Funktion
dieser Organe zu schließen. Dazu sind vor allem unsere
Kenntnisse über die feinere Struktur dieser Gebilde und
die Veränderungen ihrer Gewebe bei pathologischen
Prozessen zu gering. Aber abgesehen davon, wissen wir
ja, daß selbst histologisch hochgradig veränderte Organe
noch über genügendes Funktionsvermögen verfügen können
und zu keinen Ausfallserscheinungen führen, während histo¬
logisch intakte Organe sich durch die klinische Beobachtung
als in hohem Grade funktionsuntüchtig erweisen ließen.
Positiven Befunden können wir im allgemeinen eine größere
Beweiskraft zusprechen, können sie aber auch nur dann zu
Schlüssen verwenden, wenn entweder ihre Konstanz oder
die Möglichkeit, sie mit den klinischen Erfahrungen und den
Ergebnissen der experimentellen Forschung in Einklang zu
bringen, uns hiezu berechtigt.
Legen wir uns die Frage vor, ob wir bei der Tetanie
des Menschen grobe, sicher erkennbare Veränderungen an
den Epithelkörpern erwarten dürfen, so können wir dies für
die Mehrzahl der Fälle als unwahrscheinlich annehmen. Aus
rein klinischen Erwägungen müssen wir zu dem Schlüsse
kommen, daß der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von
Tetanie nur eine Insuffizienz dieser Organe zugrunde liegen
kann. Wie anders könnten wir uns erklären, daß bei
einzelnen Fällen die Einwirkung der Kälte oder intensivere
Muskelarbeit den tetanischen Anfall auslöst, der dann inner¬
halb kurzer Zeit bei Bettruhe schwindet. Eine Angina, ein
Anfall von Cholelithiasis kann die Erscheinungen manifest
machen und mit dem Schwinden dieser klingen auch alsbald
die Erscheinungen der Tetanie ab. In einem oder dem anderen
Falle mag uns dann vielleicht das Fazialisphänomen die Per¬
sistenz der Veränderung in der Funktion der Epithelkörper
anzeigen. Aber selbst dieses kann vollständig fehlen, even¬
tuell nur zur Zeit der Menstruation zutage treten und eine
Schwangerschaft ruft bei dem scheinbar ganz normalen
Individuum die Erscheinungen der Tetanie in vollem Umfange
wieder hervor. Das sind äußerst milde Formen des schweren
letalen Krankheitsbildes bei parathyreopriver Tetanie des
Tieres und der Tetanie nach Kropfexstirpation beim Menschen.
Bei ihnen bedarf es eines oder mehrerer auslösender
Momente, um die deutlichen Erscheinungen der Tetanie zu¬
tage treten zu lassen und mit dem Schwinden dieser gehen
auch die Erscheinungen wieder zurück. Die Epithelkörper
sind suffizient, so lange keine erhöhten Anforderungen an sie
gestellt werden oder die Verhältnisse, an die sich ihre
Funktion angepaßt hat, nicht geändert werden. Ihre Labilität
und Minderwertigkeit — auch wenn sie uns sonst keine
erkennbaren Erscheinungen dafür bieten — wird manifest, wenn
erhöhte Anforderungen an ihre Funktion gestellt werden und
sie sich den geänderten Verhältnissen nicht mehr anpassen
können. Für diese Formen dürfen wir wohl kaum mit unseren
derzeitig verfügbaren Hilfsmittel nachweisbare Veränderungen
der Epithelkörper erwarten. Bei der Gutartigkeit des Ver¬
laufes dieser Fälle verfügen wir auch über keine histologi¬
schen Befunde.
Günstiger dürften die Verhältnisse für den histologischen
Nachweis in jenen Fällen chronisch rezidivierender Tetanie
liegen, bei welchen die Erscheinungen eigentlich nie zur Ruhe
kommen, mehr oder weniger häufig Krämpfe auftreten oder
wenigstens die Neigung zu Krämpfen persistent bleibt, bei
welchen Parästhesien, Neigung zum Einschlafen der Extre¬
mitäten anhalten und eines oder das andere der Kardinal-
symptomo — in der Regel die mechanische und elektrische
Uebererregbärkeit — sich nachweisen läßt. Für diese Formen
liegt — so weit ich die Literatur übersehe — bisher keine
anatomische Untersuchung vor. Am sichersten, sollte man
annehmen, müßten sich Veränderungen an den Epithel¬
körpern in den letal verlaufenden Fällen von Tetanie bei
Magendarmaffektionen finden. Wenn es richtig ist, daß der
Tod in diesen Fällen auf die Tetanie allein, also auf den
Funktionsausfall dieser Organe ganz oder wenigstens zum
großen Teile zu beziehen ist, dann sollte man — wenn
unsere Hilfsmittel nicht ganz unzulängliche sind — wenn
schon nicht in allen, so doch in einer größeren Anzahl von
Fällen Veränderungen an den Epithelkörpern finden. Und
gerade für diese Gruppe von Fällen liegen bisher ein positiver
und drei negative Befunde vor. Dieser scheinbare Wider¬
spruch findet seine Aufklärung, wenn wir der Frage näher¬
treten, ob denn — wie bisher vielfach angenomjnen wird
— die Tetanie als eigentliche causa mortis angesehen
werden kann.
Dieser Nachweis erscheint nun keineswegs erbracht und
es bedarf diese Frage dringendst einer Revision. Für viele der
in der Literatur als hieher gehörig angeführten Fälle ist die
Diagnose der Tetanie keineswegs sichergestellt. In anderen
steht wohl die Diagnose fest, aber die Tetanie steht hier
völlig im Hintergründe gegenüber dem Grundleiden und
dieses und nicht die Tetanie führt den Tod herbei, oder ein
operativer Eingriff muß als Todesursache angesehen werden.
Für diese Fälle gilt das für die gutartigen Formen der Tetanie
vorher angeführte. Gelingt es, die die Tetanie auslösende
Magenaffektion zu beseitigen, dann schwinden mit ihr auch
die Erscheinungen der Tetanie. Das den Tod bedingende
Moment kann nicht in einer Funktionsstörung der Epithel¬
körper, sondern in anderweitigen, durch die Magenaffektion
bedingten Störungen gelegen sein.
Nur in einem kleinen Bruchteil der Fälle sind die Er¬
scheinungen so, daß an einen kausalen Zusammenhang des
Todes mit der Tetanie gedacht werden könnte. Doch auch
in diesen Fällen ist das wesentliche Moment die durch das
Grundleiden, das ja an sich meist den letalen Ausgang be¬
dingt, gesetzte Kachexie des Individuums, bei dem schon
das Hinzutreten geringfügiger Störungen genügt, das Ende zu
beschleunigen. Dieselbe Tetanie die von einem sonst gesunden
kräftigen Individuum ohne wesentliche Schädigung vertragen
worden wäre, kann bei einem dekonstituierten Organismus
den Tod herbeiführen, weil eben dieser den Störungen, die
durch das Hinzutreten der Tetanie bedingt sind, nicht mehr
gewachsen ist. Also nicht die Intensität der Scliädigung der
Epithelkörper ist in diesen Fällen das maßgebende, den Tod
bedingende Moment, sondern die durch das Grundleiden be¬
dingte Kachexie. Es ist daher die Annahme nicht zutreffend, daß
in diesen letalen Fällen von Tetanie bei Magenaffektionen der
Funktionsausfall der Epithelkörper die alleinige Ursache des
Todes ist, analog dem Tode des Versuchstieres nach Exstir¬
pation dieser Organe und es ist der Schluß nicht gerecht¬
fertigt, daß wir in solchen Fällen bei so schweren Störungen
der Funktion, die den Tod herbeizuführen imstande sind,
auch nachweisbare Veränderungen an den Epithelkörpern er¬
warten müssen.
Noch eine andere Möglichkeit, die für die Beurteilung
histologischer Befunde nicht ohne Belang ist, muß hier er¬
wähnt werden. Eine an sich gleiche Störung der Epithel¬
körper wird bei einem gesunden, kräftigen Individuum und
bei einem kachektischen Kranken einen total verschiedenen
Effekt haben können und vielleicht in dem ersten Falle zu
leichten tetanischen Erscheinungen, in dem anderen zur
stürmisch verlaufenden Tetanie führen. Daraus erhellt aber
schon, in wie beschränktem Maße verwertbar die histologische
Untersuchung der Epithelkörper für die Entscheidung der
hier in Betracht kommenden Fragen ist. Dazu kommt noch,
daß selbst schwere Schädigungen eines Organes durch einige
Zeit vorhanden sein und schwere Störungen der Funktion
setzen können, ohne daß wir zu dieser Zeit Veränderungen
der Struktur nachzuweisen in der Lage sind. Erst in einem
späteren Zeitpunkte kann uns der Nachweis auch dieser
gelingen. Wir verweisen hier nur auf die Schmausschen
Ergebnisse der experimentellen Rückenmarkerschütterung, wo
zunächst, trotz ausgesprochener Lähmungen des Tieres, am
Rückenmark negativer Befund zu erheben ist und erst
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
späterhin an diesem die Erscheinungen des Zerfalles der
nervösen Elemente zutage treten. Wir müssen daher auch
bei der Beurteilung solcher histologischer Befunde immer
darauf Rücksicht nehmen, ob genügend Zeit für das Auf¬
treten nachweisbarer Veränderungen an den Epithelkörpern
gegeben war. Es ist dieses Moment vielleicht für die Be¬
urteilung solcher Fälle mit negativem Befunde an den Epithel¬
körpern von Belang, in welchen die Erscheinungen der Tetanie
kurze Zeit vor dem Tode auftraten.
Von bisher erhobenen negativen Befunden an den
Epithelkörpern bei Tetanie, teilt E r d h e i m einen Fall von Hirn¬
tumor mit Tetanie mit, bei dem leider genauere Angaben der
klinischen Beobachtung fehlen, um eine Beurteilung zu
ermöglichen. Dann drei Fälle von Tetania gastrica.' In dem
einen Falle traten am letzten Tage vor dem Tode zwei
Krampfanfälle auf ; mechanische Uebererregbarkeit negativ,
elektrische Untersuchung fehlt. Für diesen Fall ist, glauben
wir, die Diagnose Tetanie nicht sicher festgestellt. Der Tod
scheint durch Unterernährung bedingt gewesen zu sein und
die Krampferscheinungen traten erst einen Tag vor dem
Tode auf. In dem zweiten Falle ist die Todesursache Lungen¬
tuberkulose. Ob der Fall als Magentetanie aufgefaßt werden
kann, ist wenigstens nach den vorliegenden Angaben fra^ ’ch.
Bei der Untersuchung wurden nur die _ beiden oberen
Epithelkörper normal gefunden, die beiden’ unteren wurden
nicht aufgefunden. Wie weit diese eventuell verändert waren
und für die Tetanie verantwortlich gemacht werden können,
entzieht sich dadurch der Beurteilung. Im dritten Falle, mit
Karzinom des Magens, treten vier Wochen vor dem Exitus
Parästhesien in den unteren, dann Krämpfe der oberen und
unteren Extremitäten auf, mechanische Uebererregbarkeit an¬
gedeutet, Trouseau negativ, Angaben über elektrische Unter¬
suchungen fehlen. Es traten dann Krampfanfälle mit Bewußt¬
seinstrübung und unter zunehmendem Kräfteverfall der Tod
ein. Nach den vorliegenden Angaben müßte, auch wenn die
Tetanie als sichergestellt angenommen wird, als Todesursache
das Magenkarzinom angesehen werden. In diesem Falle, dem
einzigen von den drei angeführten, der überhaupt in Diskussion
zu ziehen wäre, finden sich die vier Epithelkörper histologisch
normal. Eine Deutung dieses Falles zu geben, ist bei dem
Umstande, daß es keine eigene Beobachtung ist und die
mitgeteilten Angaben über den klinischen Verlauf sehr dürftige
sind, wohl kaum möglich. Es muß also zunächst die Tat¬
sache hingenommen werden, daß in einem Falle von Tetanie
negativer Befund an den Epithelkörpern erhoben werden
konnte.
Ferner teilt Thiemich^*^) drei Fälle von negativen
Befunden an den Epithelkörpern bei Kindertetanie mit. Für
diese Fälle ist das Vorhandensein einer Tetanie mindestens
fraglich. In dem einen Falle mit Stimmritzenkrampf und Konvul¬
sionen fehlen Angaben über die mechanische und elektrische
Uebererregbarkeit, über das Tr o u s s e a u sehe Phänomen;
der zweite Fall, der unter Krämpfen starb, ist ärztlich über¬
haupt nicht beobachtet und nur in dem dritten Falle ist das
Fehlen der mechanischen Uebererregbarkeit, das Vorhanden¬
sein von Krämpfen und der elektrischen Uebererregbarkeit
konstatiert. T h i e m i c h selbst bemerkt, daß keines der Kinder
an manifester Tetanie litt. „Ob eine latente Tetanie in dem
Sinne bestand, daß durch Druck auf die Nerven die typische
Krampfstellung der Hände hätte hervorgerufen werden können,
wurde nicht untersucht und ist nicht einmal sehr wahrschein-
liclL*' Inwieferne daher die Annahme Thiemichs berechtigt
ist, „diese Fälle ebenso zu beurteilen und zu verwerten als
ob sie an Tetanie gelitten hätten“, wollen wir hier nicht er¬
örtern, eines muß nur festgehalten werden, daß nur sicher¬
gestellte Fälle von Tetanie für Schlüsse auf die Pathogenese
dieser Erkrankung verwertet werden können. Abgesehen da¬
von könnten wir aber seinen Befunden auch aus einem
anderen Grunde keine Beweiskraft zusprechen. Es fehlen
alle Angaben in diesen Fällen über die Zahl der vorhan¬
denen und untersuchten Epithelkörper und über die histolo-
gischeh Befunde. Wenn T h i e m i c h, um aus seinen Befunden
Schlüsse ziehen zu können, Serienschnitte nicht für nötig
hält, so ließe sich vielleicht darüber noch diskutieren, wenn
er aber annimmt, daß „wir keine Veranlassung haben anzu¬
nehmen, daß eine nicht durch Operation gesetzte Erkrankung
einige Epithelkörperchen ergreifen, andere verschonen könnte“,
so müssen wir die Berechtigung einer derartigen Annahme
in Abrede stellen. Ebensowenig ist es begründet, wenn er weiter
meint : „zweitens gilt es durch die experimentellen Studien
festgestellt, daß das Intaktbleiben auch nur einer Drüse die
Ausfallserscheinungen verhindert“. Durch das Tierexperiment
ist bloß erwiesen, daß bei Intaktsein auch nur eines Epithel¬
körpers beim Tiere keine Tetanie aufzutreten braucht.
E r d h e i m konnte nach Exstirpation eines einzigen Epithel¬
körpers bei Batten in Vs der Fälle Tetanie beobachten, wenn
auch die Erscheinungen nur flüchtiger Art waren. Das Hinzu¬
treten irgendwelcher auslösender Momente (Gravidität, Laktation)
bewirkt bei solchen Tieren wieder manifeste Tetanie (Vas a He,
Erdheim, Adler und Thaler).
Auch die bisher erhobenen Befunde von Veränderungen
an den Epithelkörpern ohne Tetanie, können nicht gegen
die pathogenetische Bedeutung dieser Organe verwertet werden.
Für diese Fälle muß die Möglichkeit zugegeben werden,
daß noch genügend funktionsfähiges Gewebe vorhanden war,
um das Auftreten der Erscheinungen zu verhindern. Vielleicht
hätte eine darauf gerichtete Untersuchung eines oder das
andere Symptom der latenten Tetanie (Fazialisphänomen)
ergeben oder hätte das Hinzutreten irgend eines schädi¬
genden Momentes genügt, um ihre Insuffizienz darzutun.
Hieher gehört die Beobachtung von Königstein mit
miliaren tuberkulösen Knötchen in den Epithelkörpern und
eine Beobachtung desselben Autors von Karzinom mit aus¬
gedehnten Metastasen an den Halsorganen, bei welcher nur
ein Epithelkörperchen auffindbar und auch dieses zum Teil
karzinomatös entartet war.
Ueberblicken wir alle bisher vorliegenden Ergebnisse
der experimentellen Forschung, der klinischen Beobachtung
und der pathologischen Anatomie, so liegen eigentlich bisher
nur Tatsachen vor, die zugunsten der pathogenetischen Be¬
deutung der Epithelkörper für die Tetanie des Menschen
sprechen, während irgendwelche Beweismomente, die gegen
eine solche Auffassung sprechen könnten, bisher nicht er¬
bracht werden konnten. Der geringen Anzahl von negativen
histologischen Befunden an den Epithelkörpern bei Tetanie
können wir, abgesehen von dem Umstande, daß auch positive
Befunde an diesen Organen vorliegen, aus den früher angeführten
Gründen keine Beweiskraft zuerkennen. Vielleicht gelingt es
späteren Untersuchungen stichhältige Gegenbeweise zu er¬
bringen; vorläufig ist das nicht der Fall. Im Gegenteile, je
mehr Beobachtungen das Aktuell werden der Frage nach dem
Zusammenhänge der Tetanie mit den Epithelkörpern uns
brachte, desto mehr gesichert wurde dadurch die Berechtigung
der Anschauung ; die Tetanie ist eine einheitliche, typische
Erkrankung, der eine Funktionsstörung der Glandulae para-
thyreoideae zugrunde liegt.
Ist diese Anschauung richtig, dann kann all den bisher
für die Tetanie als ursächlich angesehenen Momenten, wie
Erkältungen, Intoxikationen, Infektionen, den verschiedenen
Erkrankungen ganz differenter Organe, der Gravidität etc.,
nur die Bedeutung auslösender Faktoren zukommen, die bei
vorhandener Insuffizienz der Epithelkörper zu den Er¬
scheinungen der Tetanie führen.
So naheliegend diese Auffassung ist, die sich uns auf¬
drängen muß, wenn wir die Verhältnisse, wie sie bei der
Tetanie liegen, überblicken, so wenig Rücksichtnahme fand
sie bisher. * Die Mehrzahl der Autoren steht immer noch auf
dem strikten Standpunkte, in den verschiedenen ätiologischen
Momenten das kausale Moment für die Tetanie zu sehen und
muß dann zu den gewagtesten Hypothesen greifen. Nur eine
geringe Anzahl gibt die Möglichkeit zu, sieht sie aber nicht als
erwiesen an. So spricht v. Frankl-Hochwart der Umstand,
daß die Tetanie bei Infektionskrankheiten nur in Städten
vorkommt, in welchen die Tetanie endemisch ist, fast nur
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
629
stets in den sogenannten Tetaniemonaten und bei Personen,
die auch sonst zu Tetanie neigen, für die Annahme, »daß
den genannten Zuständen wahrscheinlich nur ein auslösendes,
kaum aber ein kausales Moment zuzuschreiben ist«.
Es mußte uns daher daran gelegen sein, Beweis¬
momente zu erbringen, welche die Richtigkeit dieser Auf¬
fassung auch für den Menschen erhärten. Für das Tier¬
experiment liegen ja Beobachtungen vor, die kaum anders
zu deuten sind, wenn sie auch in diesem Sinne nicht allseitig
anerkannt werden. Die Beweisführung für den Menschen
konnte naturgemäß keine direkte sein, wie wir das im Tier¬
experimente durch das Gravidwerden einer der Epithel¬
körperchen beraubten Ratte perlustrieren können. Aber wenn
die Auffassung zu Recht besteht, daß bei den tetanie¬
kranken Menschen eine Funktionsstörung der Epithelkörper
das Wesen der Erkrankung vorstellt, die bewirkt, daß sie
auf verschiedene äußere Momente mit einer tetanischen
Reaktion antwortet, dann müßte es uns wenigstens in dem
einen oder anderen Falle bei solchen Menschen mit insuffi¬
zienten Epithelkörpern gelingen, einen Anfall von Tetanie
auszulösen, wenn wir sie ähnlichen Schädigungen aussetzen,
wie sie eventuell durch das Auftreten einer Angina und
Cholelithiasis gesetzt werden konnten. Da bei diesen Affek¬
tionen wahrscheinlich doch nur die Einwirkung toxischer
Substanzen oder die durch sie bedingten febrilen Prozesse
in Frage kommen konnten, wurde der Versuch nahegelegt,
durch Injektion von Tuberkulin einen Anfall von Tetanie
zu provozieren. Es wurden daher Kranke, bei welchen das
Vorhandensein einer Tetanie festgestellt worden war, nach
dem A-bklingen der Erscheinungen, oder solche Personen, die
ein oder das andere Symptom der Tetanie aufwiesen, ohne
daß die Diagnose Tetanie mit Sicherheit festgestellt werden
konnte, mit Tuberkulin injiziert. Zur Anwendung gelangte
Kochsches Alttuberkulin in Dosen, die das Auftreten einer
febrilen Reaktion erwarten ließen. Im folgenden sind die
Krankheitsgeschichten, soweit sie für die Beurteilung von
Belang sind, auszugsweise angeführt.
I. B. J., 18 Jahre alt, Tischler. Dezember 1906 Krämpfe in
den Händen, die seither nach Erkältungen wiederholt aufgetreten
sind. Auch nach Mißhandlungen von seiten seines Meisters an¬
geblich das Auftreten solcher Krämpfe. 4. Februar Durchfälle.
6. Februar bei kalter Witterung auf der Straße so heftiger Krampf,
daß er nicht weiter konnte und von der Rettungsgesellschaft in
das Spital transportiert wurde.
6. Februar 1907. Typische Krämpfe, Fazialisphänomen
beiderseits deutlich. Trousseau beiderseits. Erb positiv,
Nervus facialis-Stamm links faradisch 105 mm Zuckung, 100 mm
Tet., Ka. S. Z. l'O M.-A., Ka. Ö. Z. 5 M.-A., Nervus ulnaris rechts
Ka. S. Z. 10 M.-A., Ka. S. Z. 2'5 M.-A., Nervus acusticus rechts
Ka. S. Kl. bei 5 M.-A.
15. Februar. Seit 8. Februar keine Krämpfe mehr, Fazialis¬
phänomen noch nachweisbar, Nervus ulnaris und Nervus peroneus
mechanisch nicht erregbar. Trousseau negativ.
20. Februar. Leichte Angina. Zunahme des Fazialisphänomens,
Ueberregbarkeit des Nervus ulnaris. Trousseau negativ.
27. Februar. Fazialis angedeutet. Trousseau negativ,
Nervus facialis-Stamm links faradisch 105 mm, Ka. S. Z. 2'5 M.-A.,
Nervus ulnaris rechts Ka. S. Z. 3’8 M.-A.
28. Februar. Injektion von O'OOl Tuberkulin.
1. März. Temp. 38’2, spontan wieder Krämpfe in
beiden Händen, in dem injizierten Arm stärker, Fazialis¬
phänomen deutlicher, Nervus ulnaris und pero¬
neus mechanischübe rer regbar. Trousseau negativ.
Nervus facialis-Stamm links faradisch 105 mm, Ka. S. Z. 10 M.-A.,
Nervus ulnaris rechts Ka. S. Z. 1 8 M.-A.
12. März. Nach dem Abklingen der eintägigen Temperatup
Steigerung keine Krämpfe mehr, die mechanische Uebererregbarkeit
abnehmend (Ulnaris, Peroneus negativ, Fazialisphänomen rechts
noch vorhanden). Nervus facialis-Stamm links faradisch 110 mm,
Ka. S. Z. 1'8 M. A., Nervus ulnaris rechts Ka. S. Z. 4’0 M.-A.
H. R. J-, 16 Jahre alt, Drechsler. Seit Jpuar wiederholt
Magendarmerscheinungen, Jetzt Erbrechen, Appetitlosigkeit, Obsti¬
pation, Schmerzen in der Magengegend, wegen welcher Beschwerde
Pat. das Spital auf sucht.
5. März. Druckempfindlichkeit der Magengegend, belegte
Zunge, Brechreiz, Erbrechen von schleimigen Massen. Fazialis¬
phänomen deutlich. Ueber Befragen gibt er jetzt an, daß er öfter
an Krämpfen in den Händen und Waden leidet, die Krämpfe
zwei bis drei Minuten dauernd. Trousseau negativ. Erb
negativ.
16. März. Erbrechen seit 8. März geschwunden, Stuhl
normal, Fazialisphänomen kaum angedeutet. Trousseau
negativ. Nervus facialis Stamm links faradisch 105 mm, Ka. S. Z.
3'8 M.-A., Nervus ulnaris links Ka. S. Z. 3 6 M.-A.
17. März. Injektion von 0 001 Tuberkulin.
18. März. Keine febrile Reaktion. F azialisphänomen
deutlich. Trousseau negativ. Nervus facialis-Stamm links
Ka. S. Z. 18 M.-A., Nervus ulnaris links Ka. S. Z. 2'4 M.-A.,
keine Krämpfe.
25. März. Fazialisphänomen kaum angedeutet.
4. April. Nervus facialis-Stamm Ka. S. Z. 3‘0 M.-A., Nervus
ulnaris Ka. S. Z. 2’4 M.-A. Injektion von 0‘005 Tuberkulin.
Trousseau negativ, Fazialisphänomen rechts angedeutet, links
negativ.
5. April. Temp. 38T Trousseau nach längerer Kom¬
pression, Fazialisphänomen rechts deutlich, links
negativ. Nervus facialis-Stamm Ka. S. Z. 2’6 M.-A., Nervus ulnaris
Ka. S. Z. 3 0 M.-A., Ka. Ö. Z. 6 M.-A.
HI. H. L., 16 Jahre alt, Tischler. Früher gesund. 10. Fe¬
bruar 1906 Krämpfe in beiden Händen. 13. Februar Krämpfe in
den unteren Extremitäten. Seither Krämpfe häufig auftretend,
Zucken in den Augenlidern.
15. Februar. Typische Krämpfe, mechanische Uebererreg¬
barkeit des Nervus facialis, Nervus ulnaris. Fazialis-Stamm links
faradisch 110 mm, Ka. S. Z. 1 M.-A., Ka. Ö. Z. 21 M.-A., Nervus
ulnaris links faradisch 125 mm, Ka. S. Z. 1'2 M.-A., Ka. Ö. Z.
3 M.-A., Nervus acusticus Ka. S. Kl. 9 M.-A., Trousseau
positiv.
16. Februar. Keine Krämpfe mehr, Fazialisphänomen und
Trousseau kaum angedeutet.
21. Februar. Weder Fazialisphänomen noch Trousseau.
Seither keine Krämpfe mehr.
27. Februar. Fazialis-Stamm links faradisch 98 mm, Ka. S. Z.
2 M.-A., Nervus ulnaris links 3’6 M.-A.
28. Februar. Injektion von O'OOl Tuberkulin.
1. März. Keine Temperatursteigerung, keine Krämpfe.
Nervus facialis, Nerv usperoneus, Nervusulnaris
deutlich übererregbar. Trousseau negativ. Nervus
facialis-Stamm links faradisch 115 mm, Ka. S. Z.
1'4 M.-A., Nervus ulnaris links faradisch, 105 mm
Ka. S. Z. 2'4 M.-A.
3. März. Typische Krämpfe in beiden Händen,
12. März. Seither keine Krämpfe mehr, Fazialisphänomen
angedeutet, Ulnaris negativ. Trousseau negativ. Fazialis-
Stamm links faradisch 116 mm, Ka. S- Z. 1.8 M.-A., Nervus
ulnaris links faradisch 85 mm, Ka. S. Z. 4 M.-A. Injektion von
0'002 Tuberkulin.
13. März. Zunahme der mechanischen Uebererregbarkeit.
Keine Temperatursteigerung.
14. März. Deutliche mechanische Uebererreg¬
barkeit des Nervus facialis und Nervus ulnaris.
Trousseau positiv, typische Krämpfe. Fazialis-
Stamm links faradisch 105 mm, Ka. S. Z. 1'2 M.-A.,
Nervus ulnaris links faradisch 95 mm, Ka. S. Z. 3 M.-A.
IV. T. L., 25 Jahre alt, Dienstmagd. Vorher nie ähnliche
Erscheinungen. 5. Januar 1907 Magen verdorben, Schmerzen im
Magen. 6. Januar Krämpfe in den Händen durch einige Minuten
anhaltend. Krämpfe seither öfter auftretend.
15. Januar. Temp. 38'7®, Magen-Darmkrämpfe, Diarrhöen.
Tagsüber mehrere typische Krämpfe. Mechanische Uebererregbar¬
keit. Trousseau positiv. Alte Lungenspitzenaffektion.
18. Januar. Langsames Abklingen der Erscheinungen.
Krämpfe seltener.
23. Januar. Fieberfrei, Diarrhöen geschwunden, keine spon¬
tanen Krämpfe. Trousseau und mechanische Uebererregbarkeit
vorhanden, wenn auch nur angedeutet.
3. Februar. Menses. Fazialisphänomen wieder
sehr deutlich. Trousseau leicht auslösbar, spon¬
tane K r ä m p f e.
13. Februar. Seither keine Krämpfe mehr, die Erscheinungen
der Tetanie abklingend. Mechanische Uebererregbarkeit geschwunden.
Trousseau negativ. Injektion von 0'005 Tuberkulin.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 21
14. Februar. Temp. SS", spontane Krämpfe, Fazialis-
phänomen deutlich; Trousseau positiv. Nervus
facialis-Stamm links faradisch 105 mm, Ka. S. Z. 2'5 M.-A.,
Ka. Ö. Z. 12 M.-A. Nervus ulnaris links faradisch 115 mm,
Ka. S. Z. 1’4 M.-A. Nervus acusticus links Ka. S. Kl. 5 M.-A.
17. Februar. Bis heute Krämpfe, heute keine Krämpfe mehr.
Fazialisphänomen links angedeutet.
21. Februar. Angina. Zunahme d er E r s ch e inungen,
häufigere K r ä m p f e.
25. Februar. Seit 2 Tagen Temp, normal. Trousseau
angedeutet, Fazialisphänomen weniger deutlich, keine Krämpfe
mehr.
7. März. Seither Wohlbefinden, Trouseau negativ, Fazialis¬
phänomen fehlt.
8. März. Menses. Typische K r ä m p f e, T r o u s s e a u
positiv, Fazialisphänomen deutlich.
14. März. Während der Zeit der Menses die Er¬
scheinungen anhaltend. Nervus facialis-Stamm links
faradisch 105 mm, Ka. S. Z. 1‘2 M.-A., Ka. (). Z. 5 M.-A. Nervus
ulnaris links faradisch 100 mm, Ka. S. Z. 1*2 M.-A. Nervus
acusticus links Ka. S. Kl. 4 M.-A. Mit dem Zessieren der Menses
Schwinden der Erscheinungen, keine Krämpfe mehr.
23. März. Fazialisphänomen schwach auslösbar. Trouseau
negativ. Nervus facialis-Stamm links faradisch 100 mm, Ka. S.-Z.
2 M.-A. Nervus ulnaris links faradisch 96 mm, Ka. S. Z. 2'2 M.-A.
Nervus acusticus links Ka. S. Kl. 10 M.-A.
V. St. Th., 38 Jahre alt, Magd. Vier Geburten, während des
Säugens des letzten Kindes im November 1906, Krämpfe in den
Händen und Füßen mit Verziehen des Gesichtes, Schwere der
Zunge, Atemnot. Solche Krämpfe die meist Vi Stunde anhielten,
traten besonders hei schnellem Gehen und nach Aufregungen auf.
13. Februar. Momentan keine Krämpfe. Fazialisphänomen
deutlich. Trousseau positiv. Nervus facialis-Stamm links
faradisch 115 mm, Ka. S. Z. 2 M.-A., Ka. S.-Te. 3 M.-A., Nervus
ulnaris links faradisch 115 mm, Ka. S. Z. 0'6. Nervus acusticus
Ka. S. Kl. 10 M.-A. An den Muskeln des Daumenballens und der
Streckseite der Vorderame fibrilläres Muskelwogen. Ahgelaufener
linkseitiger Lungenspitzenprozeß.
18. Februar. Nachts Parästhesien und vorübergehende Krampf¬
stellung in den Händen.
20. Februar. Nachmittags kurzdauernder Krampf in den
Händen.
28., Februar. Seither kein Krampf mehr. Fazialisphänomen
negativ. Trousseau negativ. Injektion von O’OOl Tuberkulin.
1. März, 8 Uhr früh. Temp, im Ansteigen, leichte
K r a m p f s t e 1 1 u n g in beiden Händen, 10 Uhr vormittags
Temp. 37'6°, halbstündiger Krampf in den Händen und
unteren Extremitäten, Atemnot, Schmerzen in der Magengegend.
Fazialisphänomen links angedeutet, rechts negativ. V2IO abends
Temp. 38'6’. Krampf in den oberen und unteren Extremitäten.
Trousseau beiderseits positiv.
2. März. Temp. 37‘1°, keine Krämpfe mehr. Trousseau
beiderseits positiv, Fazialisphänomen negativ, Nervus ulnaris
schwach erregbar. Nervus facialis-Stamm links faradisch 100 mm,
Ka. S. Z. 2'5 ]\I.-A. Nervus ulnaris links faradisch 100 mm,
Ka. S. Z. 0 8 M.-A.
5. März. Seither keine Krämpfe mehr. Abnahme der elektri¬
schen Erregbarkeit. Trousseau und Fazialisphänomen negativ.
16. März. Seither keine Krämpfe. Fazialisphänomen vor¬
handen. Ueber Verlangen entlassen.
VI. ZI. K., 48 Jahre alt, Kartonnagearbeiter. Pat. wird von
der Bettungsgesellschaft am 27. März in das Spital gebracht.
Als er zur Arbeit ging, spürte er plötzlich ein schmerzhaftes
Spannen in Händen und Füßen und konnte sich nicht mehr weiter
bewegen, da er am ganzen Körper ganz steif wurde. Gleichzeitig
trat Zittern der Gesichtsmuskulatur auf. Bei seiner Einbringung
am ganzen Körper starr wie ein Stock, die Hände in Fausf
stellung. Er mußte in das Bett gehoben werden, da er nicht fähig
war irgend eine Bewegung auszuführen. Nach ca. \'4 Stunde
Schwinden des Krampfes, Dauer des Krampfes im Ganzen
ca. IV2 Stunden.
Bei der höchstens V2 Stunde nach Zessieren der Krämpfe
vorgenommenen Untersuchung keine Krämpfe mehr, kein Muskel¬
wogen, Trousseau negativ, Fazialisphänomen kaum angedeutet.
Nervus facialis-Stamm links faradisch 108 mm, Myoklonie,
Ka. S. Z. r3 M.-A. Nervus ulnaris links faradisch 88 mm,
Ka. S. Z. 1’6 M.-A. Ueber Befragen gibt er jetzt an, daß er seit
seinem 14. Jahre zirka alle 2 Jahre an Krampfanfällen leidet,
die immer im März oder April aufgetreten sind. Die letzten Anfälle
hatte er vor 2 Jahren.
28. März. Keine Anfälle mehr, Fazialisphänomen negativ.
Trousseau negativ.
4. April. Keine Krämpfe mehr, kein T r o u s s e a u, kein
Fazialisphänomen, Nervus facialis-Stamm links 103 mm, Ka. S. Z.
2'2 M.-A., Nervus ulnaris links faradisch 90 mm, Ka. S. Z.
3 M.-A. Injektion von 0 005 Tuberkulin 10 Uhr vormittags. 7 Uhr
abends Temp. 39‘1", Parästhesien in den Händen,
10 U h r abends Beginn der Krämpfe, zuerst in den
Händen, dann in den unteren Extremitäten, die die ganze Nacht
anhielten.
5. April, 9Uhrfrüh. Trousseau positiv, Fazialis¬
phänomen rechts deutlich. Nervus facialis-Stamm
links faradisch 100 mm, sofort Tetanus. Ka. S. Z.
1'4 M.-A., Nervus ulnaris links faradisch 95 mm, Ka. S. Z.
1-5 M.-A.
Es mögen hier noch zwei Krankheitsgeschichten angeführt
werden, die für die Beurteilung der hier in Betracht kommenden
Fragen von Belang erscheinen. In den angeführten zwei
Fällen wurden keine Tuberkulininjektionen gemacht.
VH. Cz. M., 21 Jahre alt, Köchin. Vor einem Jahre hie und
da leichte Krämpfe mit Streckstellung der Finger. Diesen Winter
öfter solche Zustände, letzter Anfall vor 2 Tagen.
24. März. Fazialisphänomen beiderseits deutlich, Trousseau
positiv.
26. März. Trousseau negativ, Fazialisphänom.en rechts
deutlich, links angedeutet.
27. März. Trousseau negativ, Fazialisphänomen rechts
angedeutet, links negativ. Erb positiv.
28. März. Eintritt der Menses. Fazialisphänomen
beiderseits lebhaft. Trousseau negativ.
VHI. Su. Ad., 18. Jahre alt, Schneider. Immer gesund. Seit
8 Tagen Magenheschwerden, „indem jeder verschluckte Bissen
wieder heraufgestoßen wurde“, vor 3 Tagen Schmerzen in der
Magengegend. Spitalsaufnahme wegen Krämpfe in den Gedärmen.
24. März. Am Tage der Aufnahme Puls 120. Tremor der
Hände und Zunge, belegte Zunge, Druckempfindlichkeit des Magens.
Fazialisphänomen positiv. Trousseau negativ. Ueber Befragen
gibt er an, vor 14 Tagen vorübergehend einen Krampf in den
Händen gehabt zu haben.
27. März. Auf Regelung der Diät Wohlbefinden.
28. März. Temp. 38'7“. Angina. Zweimal durch zwei
Stunden anhaltende Krämpfe in den oberen Ex¬
tremitäten, deutliche Steigerung des Fazialis-
phän omens, Nervus ulnaris rechts deutlich über¬
erregbar, Trousseau rechts positiv. Erb positiv, Acusti¬
cus positiv.
30. März. Mit dem Abklingen der Angina keine Krämpfe
mehr. Zurückgehen der Tetaniesymptome und Fazialisphänomen
persistent.
Ueberblicken wir die hier angeführten Beobachtungen,
so finden wir durch sie in ganz eindeutiger Weise dargetan,
daß unsere auf dem Wege einfacher Ueberlegung gewonnene
Anschauung richtig ist : daß allen bisher als kausal ange¬
sehenen Momenten nur die Bedeutung auslösender zukommen
kann. Sie zeigen, daß bei einem tetaniekranken Menschen
das Eintreten der Menstruation genügt, um die akuten Er¬
scheinungen des tetanischen Anfalles auszulösen, ein Ver¬
halten, auf das auch Raymond^’) hinweist. Sie zeigen,
daß denselben Effekt das Hinzutreten einer Angina hat. S i e
zeigen uns endlich, daß es gelingt, durch Injek¬
tion von Tuberkulin, dessen Wirkungen für den
Menschen uns vollständig geläufig wird, eine
Reaktion zu erzielen, die wir bei anderweitig
Kranken nicht beobachten können. Das Auf¬
treten typisch tetanischer Erscheinungen kann
daher gewiß nicht an die schädigende Noxe
als solche gebunden sein, sondern muß in der
andersartigen Beschaffenheit des Individuums,
seiner spezifischen Reaktionsfähigkeit ihren
Grund haben. Und für diese den Tetaniekranken eigen¬
tümliche, konstitutionelle Reaktionsfähigkeit müssen wir
als ursächlich auf eine Funktionsstörung der Epithelkörper
rekurrieren.
Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint auch das
gehäufte Auftreten der Tetanie besonders in den Frühjahrs¬
und Herbstmonaten dem Verständnisse näher gerückt. Gerade
i
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. G3l
das gehäufte Auftreten der Erkrankung in diesen Zeiten
mußte den Gedanken nahelegen, daß der Tetanie ein infek¬
tiöses Agens zugrunde liege, das bei dem typischen Krank¬
heitsbilde nur als ein spezifisches gedacht werden konnte.
Nun läßt sich aber dieses Verhalten auch auf andere Weise ganz
ungezwungen erklären. Die Tetanie ist, wie v. Frank 1-Hoch-
wart zahlenmäßig nachgewiesen hat, durchaus keine so
rasch abklingende Erkrankung, sondern in der Mehrzahl der
Fälle bleiben Erscheinungen einer oder der anderen Art
persistent. In v. F ran k 1 - H o ch w ar ts Fällen blieben über
V5 der Fälle permanent leidend, indem sich in mehr als
Vs der Fälle chronische Tetanie, in mehr als der Hälfte
tetanoide Zustände und bei etwa Vg der Kranken eine Art
von chronischem Siechtum noch jahrelang nach der ersten
Beobachtung nach weisen ließ. Das konstitutionelle
Moment bleibt also bei der überwiegenden Mehr¬
zahl der Kranken mit Tetanie bestehen. Wenn
aber bei derartigen Personen das Hinzutreten irgendeiner
infektiösen Erkrankung, wie z. B. einer Angina, eines
infektiösen Magen darmkatarrhs, eines febrilen Katarrhs der
Atmungsorgane etc., für welche Erkrankungen das gehäufte
Auftreten gerade in den Frühjahrs- und Herbstmonaten be¬
kannt ist, genügt, um die Erscheinungen der Tetanie manifest
zu machen, dann ist uns auch das gehäufte Auftreten der
Tetanie zu diesen Zeiten verständlich. Wir führen in den
Statistiken über die Häufigkeit der Tetanie zu bestimmten
Jahreszeiten eigentlich Zahlen über die Häufigkeit mannigfach
verschiedener infektiöser Erkrankungen, die sich zu denselben
Zeiten auch für anderweitige Individuen nur mit anderen
Erscheinungen geltend machen und die bei den hiezu disponierten
Individuen die Erscheinungen der Tetanie zutage fördern. Der
Aufklärung bedürftig bleibt eigentlich nur mehr der Umstand,
daß das Auftreten der Tetanie an bestimmte Orte gebunden
ist. Und zur Erklärung dieses können wir, uns auf die Ver¬
hältnisse beim endemischen Kropf stützend, annehmen, daß
irgendwelche, uns vorläufig ganz unbekannte Momente an
bestimmten Orten zu endemisch auftretenden Veränderungen
der Epithelkörper führen.
Die Analogie in dem Auftreten der endemischen Struma
und der Tetanie ist eine so weitgehende, daß wir ähnliche
Störungen, wie wir sie für das gehäufte Auftreten der endemi¬
schen Struma zu bestimmten Zeiten (in den Sommer- und
Herbstmonaten) supponieren, auch für die Epithelkörper als
vorhanden annehmen können. Daß dadurch ebenfalls eine
Zu- und Abnahme der Tetaniefälle bedingt wird, ist ohne
weiters zuzugeben. Sind die durch uns unbekannte Faktoren
bedingten Veränderungen der Epithelkörper ausreichend,
eine genügende Funktionsstörung dieser Gebilde zu setzen,
so wird in diesen Fällen die Tetanie spontan zutage
treten, oder es wird eventuell nur ganz geringfügiger An¬
lässe (stärkere Muskelarbeit, Einwirkung von Kälte etc.)
bedürfen, um die Erscheinungen manifest zu machen. In
den anderen Fällen, bei welchen keine so hochgradige
Funktionsstörung gesetzt wird, bedarf es eines intensiver
wirkenden äußeren Anlasses, wie das Hinzutreten einer
Infektionserkrankung, oder des gleichzeitigen Zusammen¬
wirkens mehrerer, um die Erscheinungen der Tetanie
hervorzurufen. Für das Auftreten der Tetanie maßgebend
sind beide Faktoren : das konstitutionelle Moment, die
Funktionsstörung der Epithelkörper und die auslösenden.
Nur bei Berücksichtigung der Valenz beider wird es uns
verständlich, warum bei ein und demselben Individium ein¬
mal eine Gravidität oder sonst eine Störung zu Tetanie führt,
ein anderes Mal die Erscheinungen fehlen.
Auch für die sogenannte Arbeitertetanie sind wir ge¬
nötigt, ähnliche Ueberlegungen Platz greifen zu lassen. Von
den in eine Tetaniegegend eingewanderten Handwerkern er¬
kranken mit Vorliebe bestimmte Berufe. Es sind das solche,
bei welchen die andauernde Haltung des Kopfes nach vorne
Zirkulationsstörungen an den Halsorganen und so auch eine
Schädigung der Epithelkörperchen bedingt. Das in der
Tetaniegegend gelegene, der endemischen Erkrankungen der
Epithelkörper zugrunde liegende Agens wird an diesem
Locus minoris resisteiitiae leichter zur Wirkung gelangen
als an normalen resistenten Organen. Dazu kommt noch,
daß gerade bei den Schustern und Schneidern die In¬
anspruchnahme der Hände eine sehr intensive und eigen¬
artige ist und das Auftreten der Krampferscheinungen be¬
günstigt. Bei einem Individium mit derartig kranken Epithel¬
körpern genügt dann schon die Einwirkung der Kälte oder
eine anstrengende Beschäftigung um die Erscheinungen des
tetanischen Anfalles zutage treten zu lassen. Der einfache
Aufenthalt im Spital, die Bettruhe, die Ausschaltung der
beruflichen Kopfhaltung genügt, um die Erscheinunge-n innerhalb
kurzer Zeit zum Verschwinden zu bringen. Die durch die
endemische Noxe gesetzte Veränderung der Epithelkörper
aber ist persistent, die Tetanie ist nur latent. Eine früh¬
zeitige Aufnahme des Berufes mit seinen Schädigungen ruft
neuerdings die schweren Erscheinungen hervor. Hat sich der
Kranke genügend erholt, ist die Restitution der Epithelkörper
halbwegs eingetreten, sei es durch länger währende Fern¬
haltung der beruflichen Schädigung, sei es, daß die endemi¬
sche Veränderung in günstigem Sinne schwankt, so hält er
sich weiterhin, nur Parästhesien vielleicht und leichte Neigung
zu Krämpfen, das Vorhandensein des Fazialis- oder Erb sehen
Phänomens, läßt die Persistenz des Leidens erkennen. Der
leidliche Zustand hält vielleicht an bis zum nächsten Früh¬
jahr oder Herbst, zu welcher Zeit, bei dem Uebergang von
der kalten zur warmen Jahreszeit oder umgekehrt, bei der
größeren Empfänglichkeit der Menschen zu diesen Zeitphasen
wieder Störungen im Organismus auftreten, die die Funktions¬
störung der Epithelkörper deutlich zutage treten lassen, oder
die in diesen Zeiten auftretenden infektiösen Erkrankungen
sind Veranlassung eines neuerlichen tetanischen Anfalles.
Wie dem auch sei, wenn die Verhältnisse, die hier in
Betracht kommen, vielleicht noch viel komplizierterer und sub¬
tilerer Art sind als wir uns vorstellen, wenn unser Wissen
in dieser Frage auch noch gro’ße Lücken aufweist und es noch
mancher eingehender Untersuchungen bedarf, eines können wir
als gesichert ansehen: Durch die Erkenntnis, daß wir in einer
Funktionsstörung der Epithelkörper das wesentliche patho¬
genetische Moment der Tetanie zu suchen haben und daß
allen übrigen als maßgebend für das Zustandekommen dieser
Erkrankung angesehenen Faktoren nur die Bedeutung aus¬
lösender Momente zukommt, sind wir um vieles dem Ver¬
ständnisse dieser eigenartigen Erkrankung näher gerückt. Wir
sind durch sie in die Lage Versetzt, uns klarere, naturwissen¬
schaftlichem Denken nicht widersprechende Vorstellungen zu
bilden und Verhältnisse zu erklären, die uns früher einfach
unverständlich waren.
Zusammenfassend die zur Stütze dieser Auffassung vor¬
handenen Beweismomente, können wir sagen : Die klinische
Beobachtung zeigt, daß alle bisher getrennt geführten Formen
der Tetanie, wie die Arbeitertetanie, die Tetanie nach In¬
fektionen und Intoxikationen, die Tetanie der Graviden und
die Tetanie nach Kropfexstirpationen in ihren Erscheinungen
vollständig identisch sind, daß eine Differenzierung dieser
Formen nach ihren Symptomen undurchführbar ist. Gering¬
fügige Abweichungen sind durch die Akuität des Prozesses,
die Konstitution des Individuums und durch die Veränderungen
bedingt, in deren Verlauf die Tetanie auftritt. Es kann für
alle Fälle von Tetanie nur ein einheifliches kausales Moment
in Betracht kommen. Diesem ganz eigenartigen Krankheits¬
bilde kann dann nur ein ganz spezifischer Erreger zugrunde
liegen, oder das maßgebende ist die spezifische Reaktionsfähig¬
keit des Individuums, auf verschiedene einwirkende Schädigun¬
gen hin mit der spezifisch tetanischen Reaktion zu antworten.
Die einfache kritische Sichtung der vorliegenden Beobachtungen
über das Auftreten der Tetanie läßt erstere Annahme von der
Hand weisen und konnte auch für sie bisher nicht das min¬
deste stichhältige Beweismaterial erbracht werden. Dagegen
sprechen alle bisner vorliegenden Erfahrungen zugunsten
der zweiten Möglichkeit, daß in den an Tetanie leiden¬
den Individuen selbst das Wesentliche der Erkrankung
gelegen sein muß. Es gibt Organe, deren Funktionsausfall
das typische Krankheitsbild der Tetanie bedingt: die Epithel-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
körper. Diese 'J’atsache muß durch das Tierexperiment als
gesichert angesehen werden. Die Tetanie des seiner Epithel¬
körper beraubten Tieres ist in allen Zügen übereinstimmend
mit der Tetanie des Menschen. Auch für den Menschen
sprechen alle bisher vorliegenden Ergebnisse der klinischen
Beobachtung der internen Medizin und Chirurgie, sowie die
Ergebnisse der pathologisch-anatomischen Untersuchung in
diesem Sinne. Irgendwelche stichhältige Gegengründe gegen
diese Auffassung liegen für den Menschen bisher nicht
vor. Auch den vereinzelten negativen histologischen Befunden
an den Epithelkorpern bei Tetanie kommt eine solche
Bedeutung nicht zu. Der akute Anfall von Tetanie nach
Tuberkulininjektion zeigt, daß all den bisher für die
Tetanie als ursächlich angesehenen Momenten, wie Er¬
kältungen, Intoxikationen, der Gravidität etc. nur die Be¬
deutung auslösender Faktoren zukommen kann. Das sind,
glauben wir, Beweisgründe genug, um die Auffassung, daß
der Tetanie des Menschen eine Funktionsstörung der Glandulae
parathyreoidea zugrunde liegt, als wohl fundiert ansehen
zu können.
Literatur:
b S c h u 1 1 z e, Neurol. Zentralbl. 1889, S. 217. •— Pineies,
Sitzungsber. d. kaiserl. Akad. d. Wissensch. 1904. — =*) P i n e 1 e s
Deutsches Arch, f klin. Med., Bd. 85. — *) Chvostek, Zeitschr. für
klin. Med. 1891, Bd. 19; Wr. klin. Wochenschr. 1905, Nr. 38; Wr.
klin. Wochenschr. 1907, Nr. 17. — Pineles, Mitteil, aus den Grenz¬
gebieten 1904, Bd. 14. — E r d h e i m, Mitteil, aus den Grenzgebiet. 1906,
Bd. 16. — V. F r a n k 1 - H 0 c h w a r t, Neurol. Zentralbl. 1906,
Nr. 14, 15. — Vas a Ile, Arch. ital. di biol. 1898. — »J Adler und
Thaler, Sitzungsber. d. k. k. Gesellsch. d. Aerzte; Wr. klin. Wochen¬
schrift 1906, S. 779. — 1«) M.einert, Arch. f. Gynäkol. 1898, Bd. 55.
— V. E i s e 1 s b e r g, Krankheiten der Schilddrüse. Deutsche Chirurgie.
— '^)Kocher, Ber. d. 23. Kongress, f.inn. Med. 1906. — Mac C al 1 u in,
Zentralbl. f. allgem. Patholog. 1905. — ’b K ö n i g s t e i n, Wr. klin.
Wochenschr. 1906, S. 779. — v. E i s e I s b e r g, Wr. klin. Wochen¬
schrift 1906, S. 780. — Thiemich, Monatsschr. f. Kinderheilk. 1906,
Bd. 5. — 1^) Raymond, Med. Klinik 1905, Nr. 44.
Aus der chirurgischen Abteilung der mähr. Landes¬
krankenanstalt in Olmütz.
lieber einen Fall von intraabdominaier Netz¬
torsion bei gleichzeitiger Brucheinklemmung
einer Appendix epiploica.
Von Primararzt Dr. F. Suioler.
Seit dem .fahre 1882, in welchem Oberst den ersten
Fall von Nelztorsion beschrieb,^) haben sich die Mittei¬
lungen über diese immerhin recht seltene Erkrankung erst
in längeren, dann in immer kürzeren Zwischenräumen
wiederholt, so dah Rudolf i'm Jahre 1903 schon über
29 Fälle von Netztorsion berichten konnte.^) Im Jalire 1905
kamen zu diesen lallen neue Beobachtungen von Simon^)
und von lloche.^) Die letzte größere Arbeit über Netz¬
torsion von Pretzsch,®) aus Küttners Klinik, zitiert die
Zusammenstellung Roches und fügt zu den dort genannten
29 Fällen 15 weitere und bringt ehie eingehende Beschrei¬
bung der pathologischen Anatomie und Klipik dieses eigen¬
artigen Krankheitsbifdes.
Der Vollständigkeit halber möge erwähnt werden, daß
seit der Arbeit von Pretzsch wipder über einzelne Fälle
von Nelztorsion berichtet wurde u. zw. von Scudder,*')
von Pinches und Corner^) und jüngst von Adler®)
auf dem diesjährigen Chirurgenkongreßi.
Somit läge für mich kein Grund vor, die relativ reiche
Eiteralur dieser l’älle um einen kasuistischen Beitrag zu
bereichern, wenn nicht der Fall, den i,ch kürzlich zu be-
9 Zentralbl. für Ghir. 1882, Nr. 27, S. 441.
Wiener klin. Wochenschrift 1903, S. 459.
Münchener med. Wochenschrift 1905, Nr. 41, S. 1979
0 Ref. Zentralbl. für Ghir. 1905, Nr. 32, S. 841.
h Beiträge zur klin. Ghir. 1906, Bd. 48, Heft 1.
•■’) Ref. Zentralbl. für Ghir. 1905, Nr. 7.
h Ref. Zentralbl. für Ghir. 1907, Nr. 5.
9 Zeitschrift für ärztl. Fortbildung 1907, Nr. 8, S. 243.
obachlen Gelegenheit hatte, sich von den bisher beschrie¬
benen Fällen dadurch unterscheiden würde, daß es sich
bei demselben um Netztorsion bei. gleichzeitiger Bruchein¬
klemmung einer Appendix epiploica handelte, somit um
das gewiß auffallende Zusammentreffen zweier seltener
Krankheitsbilder.
Der Krankengeschichte des Falles entnehme ich fol¬
gende Notizen;
R. R., 37jäliriger Beamter, kam am 21. Februar 1907 in
meine Sprechstunde und klagte über seit drei Tagen bestehende
Uebelkeit und Schwäche. Vor zwei Tagen hatte er bemerkt,
daß ein seit vielen Jahren bestehender rechtsseitiger Leisteri-
bruch nicht mehr zurückging; trotz seiner recht heftigen Be¬
schwerden schleppte sich Pat. noch herum und blieb erst seit
gestern abends zu tiause. Sein Hausarzt, Herr Dr. Mrazek,
der heute fräh geholt wurde, maclite einen leichten Taxisversuch
und schickte, als dieser erfolglos blieb, den Kranken behufs
Operation in die Landeskrankenanstalt.. Pat. bat nur einmal, vor¬
gestern, erbrochen, hat gestern noch Stuhl gehabt, Flatus sind
heute noch abgegangen.
Großer, kräftiger ■ Mann ; Gesicht blaß, die Slirne mit kaltem,
klebrigen Schweiße bedeckt; die Bauchdecken sehr fett und stark
gespannt.
In der rechten Skrotalhälfte eine etwa gänseeigroße Hernie,
die sich wie ein Netzbruch anfühlt. Die Inkarzeration scheiid.
nicht sehr fest zu sein, trotzdem geht der Bruch nicht zurück.
Die Operation, die gleich nach Aufnahme des Kranken vor¬
genommen wird, beginnt als Herniotomie. Der Bruchsack stark
verdickt, in ihm blaurot verfärbtes Netz mit beginnender Nekrose;
neben cleni Netzstrange tritt an . der medialen Seite der Bruch¬
pforte ein ca. 2 cm langes, kleinfingerdickes Gebilde aus, welches
sich bei näherer Untersuchung als Appendix epiploica erweist.
Wegen der bestehenden Verändeiamgen des vorgefallenen Netzes
wird die Herniotomie zur Laparotomie erweitert und es zeigt
sich, daß der vorgefallene Netzstrang das Ende eines durch Netz¬
torsion bedingten, etwa zweimannsfaustgroßen Netztumors dar¬
stellt. Die Torsion beträgt etwa 360° und hat entgegen dem Sinne
des Uhrenzeigers stattgelünden. Der in den Bruch eingetretene
Netzzipfel ist nicht mit dem Bruchsacke verwachsen, dagegen
besteht eine Verwachsung des Netzes mit dem parietalen Bauch¬
felle in der Nähe des inneren Bruchringes. Die inkarzerierte
Appendix epiploica gehört der stark gegen die rechte Leisten¬
gegend hingezogenen Flexura sigmoidea an. Der angewachsene
Teil des Netzes wird nach doppelter Ligatur durchschnitten, ebenso
das gedrehte Netz, weil es nach versuchter Retorsion in die
Torsionsstellung zurückkehrt, auch seine Zirkulationsstörungen
sehr hochgradige sind. Desgleichen wird die Appendix epiploica
ligiert und abgetragen. Nunmehr folgt Bauchnaht und Radikal¬
operation der Hernie.
Am .Nachmittage nach der Operation ist Pat. wohlauf und
munter; am nächsten Tage (22. Februar) sieht der Kranke wieder
verfallen aus; der Puls ist klein und sehr frequent; der Bauch
etwas aufgetrieben, aber nicht druckempfindlich; auf Klysma er¬
folgt Abgang von Winden. Am nächsten Tage ungefähr das gleiche
Verhalten; am ,24. Febmar spontaner Abgimg von Winden und
Stuhl auf Klysma; der Puls andauernd schlecht, weshalb Patient
Koffein- und Kampferinjektionen erhält. Am 25. Februar zu¬
nehmender Verfall; Koffein und Digalen ohne Erfolg; große Un¬
ruhe; am 26. Februar, früh 1 Uhr,' Exitus letalis unter dem
Bilde der Herzinsuffizienz.
Die Sektion ergab Lipomatosis oordis destruens und
Bright sehe Nieren; ip, der Bauchhöhle außer leichten peri-
tonitischen Veränderungen nichts Besonderes.
Der bei der Operation abgetragene Netzanteil zeigte
folgende Verhältnisse:
350 g schwerer Netzklurapen; derselbe besteht im auf¬
gerollten Zustande aus einem kompakteren Netzanteile, wel¬
cher 10 cm lang, 10 cm breit und 4 cm dick ist und die
Operationsabtrennungsfläche aufweist. Mit demselben steht
durch eine stielartige, ca. 6 cm lange, meist nur aus Ge¬
fäßen und Bindegewebe ohne besondere F'etteinlagerung
bestehende, Partie verbunden, ein proximales, mehr loses,
8X4 cm großes Netzstück im Zusammenhänge. Bei der
üebernahme des Präparales erscheint das ganze Gebilde
zu einem einheitlichen, über zweifaustgroßen Klumpen zu-
sammengerollt; dies ist dadurch bedingt, daß der Stiel mit
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
üoö
dem distalen Abschnitte um 360'^ gedreht und so verkürzt
ist. Die Stielgefäßie sind stark mit Blut gefüllt.* *)
Es handelte sich also nm einen Fall von intraabdomi¬
naler Netztorsion bei gleichzeitiger Hernie, bei welchem
liehen einem Netzstrange auch eine Appendix epiploica
durch die Brnchpforte vorgefallen und. eingeklemmt worden
war; seltsamerweise eine Appendix der Flexura sigmoidea
in einer rechtsseitigen Leistenhernie. Die Netztorsion, welche
zur Zeit der Operation wohl mindestens drei Tage hestanden
hatte und die mit ihr verbundenen Störungen hatten den
in hezng auf Herz und Nieren schwer geschädigten Kranken
so stark hergenommen, daß. der operative Eingriff den Ver¬
fall nicht mehr aufzulialten imstande war.
Was die Art und Genese der Netztorsion betrifft, so
lag ein ähnlicher Fäll vor wie der von Pretzsch geschil¬
derte und er gehört in die zweite Gruppe der Einteilung
Pretzsch’.
Auch hei unserem Falle war, wie dort, ein großer
Teil des Netzes in die Drehung einbezogen, wie dieses
Verhalten für die Fälle, bei denen die Drehung zwischen
zwei fixen Punkten, nämlich der Netznrsprungsstelle und
der peripheren Anheftungsstelle, welche auch hier in der
Nähe der Bruchpforte lag, stattfindet, charakteristisch ist.
Das seltene und eigen tümliche des Falles lag, wie
schon erwähnt, in dem Zusammentreffen von Netztorsion
mit Appendixeinklelmmung.
lieber Brucheinklemmungen von Appendices epiploicae
ist bisher wenig bekannt geworden; ich fand in der mir
zugänglichen Literatur nur drei Arbeiten, die sich mit diesem
Krankheitshilde beschäftigen. Als erster beschrieb es
Bi edel,®) welcher in seiner Publikation über pathologische
Störungen, deren Ursache die Appendices epiploicae ah-
gehen, berichtet, daß er zweimal das Eintreten von Appen¬
dizes in linksseitige Bruchsäcke beobachtet hat ; er macht
darauf aufmerksam, daß ein solches Vorkommnis ganz be¬
deutende Störungen im Organismus herbeiführen kann, so
daß man geneigt ist, an eingeklemmten Netzbruch oder an
Li ttre sehen Bruch zu denken. Eine weitere Mitteilung
stammt von v. Bruiis,^®) der einen Fäll von isolierter Ein¬
klemmung einer Appendix epiploica der Flexura sigmoidea
in einem linksseitigen Leistenbruche beobachtete ; die Ein¬
klemmung muß in diesem l alle eine ziemlich feste gewesen
sein, denn es fa,nd sich die Appendix hei der Operation
schon in gangränösem Zustande ; freilich hatten die Schmer¬
zen auch eine Woche lang bestanden.
Der V. Bruns sehen Mitteilung folgte bald eine von
Mus catello,^^) welche über zwei Fälle von Einklemmung
von Appendices epiploicäe in Bruchx)forten berichtet, von
denen der eine Fall ebenfalls recht heftige Symptome in¬
folge der Einklenhnung darh.ot, während der andere inso-
ferne für die Aus'gestailtnng des Krankheitsbildes von Inter¬
esse ist, als er zeigt, daß infolge von Appendixeinklemmung,
auch wenn der akute Prozeß für den Kranken ohne Avesent-
liche Schädigung ahläuft, doch dadurch, daßi es durch die
Einklemmung zu entzündlicher Verwachsung kommt, für
den Befallenen später pathologische Störungen eintreten
können.
Eine weitere Mitteilung verdanken wir Schwein-
burg,^^) der aus Ne dopili^ chirurgischer Abteilung über
einen’ Fäll berichtet, bei dem drei Appendices epiploicae
der Flexur in einem linksseitigen Leistenbruche einge¬
klemmt waren. Die subjektiven Beschwerden waren, trotz¬
dem die Tnkarzeration sechs Tage dauerte, recht gering
gewesen.
Es^sind somit im ganzen bisher sechs Fälle von Ein¬
klemmung der Aiipendices epiploicae in Bruchpforten he-
schriehen worden.
*) Für die Vornahme der Sektion und die Beschreibung des
Präparates sage ich hiemit Herrn Prosektor Dr. Berka meinen besten Dank.
®) Münchener med. Wochenschrift 1905, Nr. 48, S. 2.808.
Münchener med. Wochenschrift 1906, Nr. 1. S. 16.
“1 Münchener med. Wochenschrift 1906, Nr. 38, S. 1868.
*2) Wiener klin. Wochenschrift 1906, Nr. 50, S. 1522.
Den Fall von Lorenz^®) ließ ich absichtlich in obiger
Zusammenstellung aus, weil es sich bei diesem eigentlich
tun eine Strangnlation einer Appendix, nicht um eine Bruch¬
einklemmung handelte.
Trotz der geringen Anzahl der Beobachtungen läßt
sich aus der Aelmlichkeit der Symptome, welche die iuille
darboten, ein typisches klinisches Krankheitsbild kon¬
struieren. Leider sind aber die Symptome nicht eindeidig
genug, um die strikte Diagnose auf ,,Appendix epi¬
ploic a-Einklemmung“ zu ermöglichen, was übrigens
auch V. Bruns und Muscalello hervorheben, .v. Bruns
macht speziell darauf aufmerksmn, daß die Symptome einer
Hernieneinklemmung ohne Darmverschluß auch bei der In-
karzeration von Netz, bei der Einklemnumg des Wurmfort¬
satzes, wohl auch heim Darmwandbruche bestehen können.
Immerhin scheint für die Einklemmung unserer Appendizes
gemeinsaan zu sein, daß die Einklemmungserscheinungen
weniger heftig sind als hei Darm- und Netzeinklemmungen
und es läßt sich wohl auch annehmen, daß Spontanheilung
hei der Appendixeinklemmung leichter möglich ist als hei
der Einklemmung wichtigerer und größerer Organe.
In dem von mir beschriebenen Fälle lagen im Vorder¬
gründe des Krankheitsbildes die Symptome, welche durch
die Netztorsion bedingt waren und es ist deshalb für die
Erweiterung der Symptomatologie des Krankheilsbildes der
Appendixeinklemmungen nicht zu verwerten. Trotzdem
glaube ich, daß sich seine Mitteilung rechtfertigt, einmal,
weil er einen neuen, kleinen Beitrag zur Kenntnis dieses
seltenen Krankheitshildes liefert, und weiter, weil er zeigt,
daß sich AppendixeinklemrnVmgen gelegentlich auch mit
anderen intraahdominalen Erkrankungen kombinieren und
diese komplizieren können.
Ueber Silberimprägnation von Bakteriengeißeln„
Von Professor Dr. K, Kreibicli.
In Nr. 14 der Berliner klinischen Wochenschrift be¬
richtet Stern über eine Methode zur Darstellung der Spiro-
chaete pallida im Aufstrichpräparate. Er setzte den mit
Reizserum beschickten Objektträger, nachdem er einige
Stunden im Brutschränke gelegen, in einer lOVoigen Ar¬
gentum nitricunt- Lösung durch mehrere Stunden dem
diffusen Tägeslichte bis zur Braunfärbung des Aufstriches
aus. Die Spirochäten erscheinen tief schwarz auf bräun¬
lichem Grunde, Niederschläge sind zwar vorhanden, aber
nicht immer störend ; Reduktion mit Pyrogallus verbessert,
die Imprägnation nicht. Wir haben seither mit dieser Me¬
thode vielfach gute Resultate erzielt u. zw. entgegen der
obigen Mitteilung nicht bloß mit diffusem Tages-, sondern
auch mit direktem Sonnenlichte und mit dem Lichte der
Finsenlampe; in beiden letzteren Fällen erfolgt die Im¬
prägnation schon nach 10 bis 20 Minuten.
Es war nun der Gedanke naheliegend, mit dieser
Methode andere schwer darstellbare Bakterienteile zur Dar¬
stellung zu bringen und dachten wir zunächst an die Bak-
teriengeißoln. Tatsächlich erzielten wir sofort bei dem ersten
Versuche hei Typhusbazillen, die von einer frisch aus Meer¬
schweinchen geimpften Agarkultur stammten, ganz nach den
Angaben Sterns verfahrend, die schönste Imprägnation
von Geißeln u. zw. sowohl von solchen, die in der typischen
Art am Bakterium hafteten, als auch von zahlreichen^ ab¬
gerissenen Geißelfäden. Leider erwies sich Typhusb^illen
gegenüber auch diese Silbermethode nicht zuverlässig,^ in¬
sofern wir erst nach mehreren Mißerfolgen wieder einen
positiven Befund erzielten. Da auch in diesem letzteren
Fälle ein Bakterienmaterial unmittelbar vom Tiere auf Agar
verimpft genommen wurde, so glauben wir, daß neben
den Unsicherheiten, die jeder Silbermethode anhaften, vor¬
wiegend das Untersuchungsmaterial an den Mißerfolgen
Schuld trug.
>3) Wiener klin. Wochenschrift 1905, Nr. 51, S. 1:867.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 21
Cicliiigt die liiii)räg'iiatioii, so gibt sie, wie der später
zu besciireibeude Bei'uiid zeigt, aiisgezeieliiiete Bilder und
hat vor der Methodik von van Erniengeni den Vorzug
der größten Einfacddieit voraus.
Viel leichter und zuverlässiger gelang uns die Geißel-
iinprägnation beim llausclibrandbazillus. Boigegebenes
Bliologrannn stainmt von einem Präparate, das in folgender
Weise gewonnen wurde. Reichlich hazillenhaltiges Exsudat
aus dem Meerschweinchen wird auf den onifetteten, zuletzt
mit destilliertem Wasser nnd einem trockenen Tuche ab¬
geriebenen Objektträger dümi aiifgeslrichen, lufttrocken ge¬
lassen und kurz durch die Elainme gezogen. (Vielleicht
sind noch regelmäßigere Residtate zu erzielen, wenn man
die Präparate nach Stern im Brutschränke trocknen läßt.)
\
Der so beschickte Objektträger wurde bis zur Braunschwarz-
färbung in öOToigor Argentum nitricurn- Lösung dem direkten
Sonnenlichte oder Finsenlichte ausgesetzt. Die oüToige
Lösung hat den Vorteil, daß sie die Bakterien und Geißeln
schwärzer, das umgehende Medium nur wenig imprägniert;
doch ist auch dies nicht als Regel anzusehen, denn wieder¬
holt erzielten wir ebenso schöne oder schönere Bilder hei
Verwendung von lOT^iger Lösung, welche das ganze Prä¬
parat viel rascher bräunt. Ist der Aufstrich schwarzbraun
gefärbt, dann ist das Präparat aus der Silberlösung zu
nehmen, sind die Geißeln nicht imprägniert, dann scheinen
sie sich auch hei längerem Belassen nicht mehr zu imprä¬
gnieren, während immer reichlichere Niederschläge auf-
treten. ln unseren besten Präi)araten finden sich partien¬
weise fast um alle Bazillen zahlreiche, radiärgesleille, spiralig
beschaffene Geißeln. Die Bazillen selbst sind durch die
Imprägnation deutlich verbreitert. Aus Kaninchenexsudat
hergestellte Präparate zeigen die Bazillen kürzer, an den
Embui weniger scharf ahgeschrägt und mit zahlreichen
Geißeln, mehr nach Art der Typhushazillen besetzt, daneben
fambui sich Pebei-gänge zu obigen spii’aligen Formen, so
daß der Gedanke, daß es sich hei den Gebilden überhaupt um
Kmistprodukte handelt, nicht aufkonnnen konnte.
Dies erscheint uns wichtig mit Rücksicht auf die
freien Geißeln. Freie Geißeln hat schon Löffler mit seiner
Methode bei Rauscbbrand aus Blutserumkulluren beob-
acbbd; er fand spiralig gedrehte, haarzopfähnliche Gebilde
von verschiedener Größe, die sich nach seiner Geißelfärbe-
methode gefärbt zeigten, a.her auch it)i h.'iugenden Tropfen
zu sehen wa.riui, <n* hält diese Gebilde für abgerissene, zu¬
sammengedrehte Geißeln. Wie die Abbildung zeigt, bringt
obige Methode auch einzelne Geißelfäden, in der verschie¬
densten Länge, zur Darstellung, nianchmal sind zwei zu-
sannnengedreht und es entstehen dazwischen kleine Lücken;
manchmal sind die Windungen nur auf der Höhe und da¬
zwischen nicht imprägniert, so daß man geradlinig hinter¬
einander gelegene, konnnaartige Gebilde sieht.
Da nun diese abgerissenen Geißeln an beiden Enden
zugespitzl sind, so erinnern sie in ihrem Aussehen sehr
an Spirochäten. W'ir haben zweimal mit negativem Re¬
sultate versucht, diese Gehibfe jiiit Giemsalösung zu färben,
ob sie Eigenbewegung zeigen, wurde nicht nnteüsucht.
Es könnte angesichts dieser Aelndichkeit der Gedanke
auftauchen, daß auch die Spirochaete pallida nicht eine
schwer färbbare Bakterien-, wohl al)er eine leichter färb¬
bare Protozoengeißiel sei, zumal es bis jetzt noch nicht
mit Sicherheii gelang, in ibr eine Differenzierung in Kern
und Membran vorzunehmen. Dagegen spricht, abgesehen
von der besseren Färbbarkeit, Eigenbewegung, Besitz eigener
Geißeln, die Talsache, daß bis jetzt noch kein zur Geißel
gehöriger Prolozoenleib nachgewiesen wurde.
Aus der Prosektur des Kaiser -Franz- Joseph -Spitales
in Wien. (Vorstand: Prof. Dr. Kretz)
Geißeln bei vom Jahre 1894 bis 1907 in
zugeschmolzenen Eprouvetten aufbewahrten
Kulturen.
Von Dr. Alexander Hinterberger, Wien.
Im vierten Hefte des oG. Bandes (li)04) des Zentral¬
blattes für Bakteriologie, Abt. 1, Orig., zeigte ich an, daß
es mir gelang, in Deckgiassauslrichen von einer fünf Monate
alten Kultur von Proteus vulgaris und einer IOV2 Monate
alten Kultur von Micrococcus agilis Geißeln sichtbar zu
machen. Ich erwähnte dabei in einer Anmerkung, daß beide
Kulluren dasselbe Resultat nach weiteren sieben Monaten
(also im Alter von einem' Jahre, resp. I7V2 Monaten) er¬
gaben. Die Möglichkeit, daß diese geißeltragenden, alten
Kulturen nur aus wühlerhalten en Leichen der hetreffenden
Organismen hestanden, wurde dadurch sehr unwahrschein¬
lich gemacht, daß einerseits die Kulturen sich beide Male
leicht üherimpfen ließen, anderseits bis heute von Dauer¬
sporen bei Proteus vulgaris und Micrococcus agilis nichts
bekarmt ist.
Daß diese LTeherimi)fbarkeit nach so langer Zeit viel¬
leicht auf Sporenhildung beruhte, ist ja dadurch gewiß nicht
ausgeschlossen, aber jedenfalls nicht näherllegend, als das
Erhaltenbleihen der Geißeln an alten Individuen unter be¬
stimmten Bedingungen u. zw. in erster Linie dann, wenn
die Austrocknung des Nährbodens möglichst verhindert wird.
Ich habe in diesem und im vorigen Frühjahre (190G
und 1907) die von den genadinten alten Kulturen im
Jahre 1904 ahgeimpften Kulturen wieder auf Geißeln ge¬
prüft, fand sie l)eide Male, also im Alter von zwei uird
drei Jahren, geißedt ragend, konnte sie aber durch IJeber-
impfen auf Agar 1907 nicht mehr zum AVachstum bringen.
Da es mich nun interessierte, ob denn andere alte
Kulturen auch ihre Geißeln hehalten und üherimpfbar
bleiben, erbat ich mir von der hotanischen Abteilung des
Wiener Ifofmuseums, welche seit dem Jahre 1894 eine
derselben von Priv.-Doz. Dr. Kräl geschenkte Sammlung
von in zugeschmolzenen Eprouvelten aufhewahrten, also v.)r
Wasserverlust ganz geschützten Kulturen besitzt, eine An¬
zahl dieser alten Kulturen aus und prüfte dieselben auf
Gestall und Tleberimpflyarkeit.^)
Die ütdersuchung ergab, was ich erwartet hatte: Es
ließen sich tadellose Geißeln darstellen hei folgenden, un¬
gefähr l.ß Jahre :ilten, hierauf unlorsuchlen Stämmen: Bac-
9 Ich spreche hiemit dem Kustos derselben, Herrn Dr. Alexander
Zahlbruckner, meinen Dank für sein liebenswürdiges Entgegen¬
kommen aus.
Nr. 21
63Ü
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
teriuni lyi)]ii, Proteus vulgaris, Bacillus pyogenes foetiilus
uiul gelber KarloiTelbazillus.
Minder gut erhaltene, aber volikonnnen deutliche
Geißeln waren zu sehen bei: Bacillus cyanogenes (viele ab¬
gerissen und infolgedessen zu Kreisen gerollt, einzelne aber
auch ganz schön als eiidsländige Büschel erhalten), Bac¬
terium Zopfii (kleine, sehr kurze Körper, ziemlich zahl¬
reiche, lange, dünne Geißeln), Vibrio Metschnikovv (spärliche,
aber deutliche Geißeln, zahlreiche Ein^elvihrionen, einzelne
lange Schrauhenladen) und Vibrio berolinensis.
Bacillus (megatherium zeigte kurze, dicke Körper, keine
Geißeln, wohl aber hie und da die Fädennetze, welche ich
seinerzeit als ,,Mycele“ benaniite und beschrieh.^) Die
gleichen Fadennetze neben deutlich entwickelten Geißeln
zeigte Bacillus pyogenes foetidus.
Weder Geißeln, noch kadennetze konnten bei Bacillus
pyocyaneus, Sarcina mobilis und Micrococcus agilis dar¬
gestellt werden. Bei Bacillus pyocyaneus war auch die
Kultur farblos, kaum mehr sichtbar, das Deckglaspräparat
zeigte kleine, verkümmerte Körper.
Ueberimpfbarkeit auf aewöhinlichen alkalischen Agar
fand ich hei : Bacterium typhi, Proteus vulgaris, Bacillus
megatherium und Bacillus pyogenes foetidus.
Man kann annehmen, daß diejenigen Kulturen, welche
keine Ueberimpfbarkeit auf gewöhnliche alkalische Agar¬
nährböden zeigten, irgend einmal während dieser 13 Jahre
durch die Veränderung des in der verschmolzenen Fprou-
vette ihnen zur Verfügung stehenden Gasgemisches gestor¬
ben sind. Eine Stütze für diese Vermutung kann ich darin
finden, daß der Figengeruch der Kulturen beim Oeffnen
mancher Eprouvetten auffallend kräftig war, indem man,
ohne zur Eprouvette zu riechen, den Geruch beim Arbeiten
am Laboratoriumstische nach der Eröffnung der verschmol¬
zenen Röhren wabrnahm, was doch sonst nicht in auf¬
fallender Weise der Fäll ist, außer etwa hie und da zum
Beispiel hei Tuherkulose, Koli etc.
Der Nährboden dieser alten Kulturen war gewiß noch
nicht erschöpft, denn die Kulturen bedeckten nie die ganze
Agaroberfläche, was ja bei beweglichen Organismen häufig
geschieht, sondern meist nur ungefähr die Hälfte oder ein
Drittel.
Es dürften also die Kulturen zuerst durch ihre eigene
Tätigkeit in hezug auf Gasbilduag am Fortschreiten auf-
gehalten worden sein und später dann die Ueberimpfbarkeit
verloren haben, alsO' in. den Zustand versetzt worden sein,
den wir mit dem Worte ,,tot“ bei der Kultur bezeichnen.
Jene Kulturen, welche üherimpfbar, also vollkommen
lebenskräftig waren, dürften sich in einer Winterschlaf
befunden halren, in einem Zustande, wo alle Lebensäuße-
rungen (Wachstum, also auch eventuelle Fdrmveränderung,
Stoffwechsel etc.) in einem dem Stillstände nahe kommen¬
den Tempo vor sich gehen, aber die Lebensenergie voll¬
kommen erhalten ist, um bei eintretenden besseren äußeren
Bedingungen in voller Kraft wieder einzusetzen.
Die Virulenz der Kulturen habe ich nicht geprüft.
Das Auftreten der Fädennetze hei Bacillus megatherium
und der Fädennetze hei Bacillus pyogenes foetidus macht
es wahrscheinlich, daß der Nährboden von vornherein etwas
wasserarm war, was ja im Interesse der als Museums¬
präparate gedachten Kulturen nur richtig gewählt war, denn
sehr wasserhaltige Nährhöden hilden in der Schrägstellung
keine so haltbaren Oberflächen wie wasserärniere Nälir-
l)öden, hahen viel Kondenswasser und pressen allmählich
viel Wasser aus, wodurch die GlasfUlchen einerseits an
sich trüher wertlen, anderseits heim nötigen Al)gießien des
Wassers vor dem Zuschmelzen weiters die Reinheit der
freien Flächen der Glaseprouvctte leicht gestört wird und
die Kulturen schlechter sichtbar werden.
Das Fehlen der Geißeln und Fadennetze bei Bacillus
])yocyaneus, Sarcina rnbbilis und Micrococcus agilis kann
darauf beruhen, daß diese Kulturen gerade in dem Stadium
D Zentralblatt für Bakt., I. Abt., Orig., Bd. 30, S. 417.
ihr Wachstum einstellten, wo der Uebergang der Bildung
von Geißeln zum Entstehen von Fädennetzen statttänd. Ich
habe in der erwähnten Mitteilung über Fädennetze bei Milz¬
brandbazillen angegeben, daß in länger im Brutschränke
stehenden Kulturen geißieltragender Bakterien mit der Zeit
statt der Geißeln Fadennetze sich hilden.
Das Wahrscheinlichere ist aber, daß diese Kulturen
auf dem steifen Agar auch i,m Anfänge ihres Wachstinnes
keine Geißeln gebildet hatten, sondern gleich Fädennetze
trieben^) und daß diese Fadennetze noch zu wenig ent¬
wickelt. waren, als der Wachstumstillstand eintrat, um mit
der Technik der Färbung durch kolloidales Silber sichtbar
zu werden.
Ich habe keine weiteren dieser alten Kulturen unter¬
sucht, um nicht mehr als nötig von diesem wertvollen Ma¬
teriale zu zerstören oder richtiger gesagt, irgendwie zu ver¬
ändern.
Sobald so eine verschmolzene Eprouvette geöffnet
ist und Kultur enlnommen wird, drlugt ja neue Luft ein,
die Gase strömen teilweise aus, von der Nährbodenober¬
fläche dunstet Wasser ah, man kann also nicht mehr von
einer unveränderten Kvdtur sprechen. Ich bezweifle,
daß viele so alte Kulturen in Laboratorien oder Sammlungen
erhalten sind und halte es für möglich, daß noch manche
Uiitersucher die Schonung dieses Materiales angenehm em¬
pfinden werden.
Es war mir auch der Befund der erhaltenen Geißeln
bei acht unter zwölf untersuchten genügend zur Feststellung
der Tatsache, daßi die Geißeln über ein .Jahrzehnt an Kul¬
turen erhalten hleiben. können, wofern die Nährhöden vor
denjenigen äußeren Einflüssen bewahrt hleiben, welche das
Zuschmelzen der Eprouvetten a,bhält, also wohl vor allem
vor Wasserverlust.
Ferner war mir der Nachweis der Ueberimpfbarkeit
bei vier Stämmen, wobei drei sicher Geißeln gebildet hatten,
genügend, um mir zu zeigen, daß geißeltragende Kulturen
so lange auf gewöhnlichem' Nährboden fortpflanzungsfähig
erhalten bleiben können.
Ich sage ausdrücklich ,,auf gewöhnlichem Nährboden
fortpflanzungsfähig“, denn zwischen ,,tot“ und „fort¬
pflanzungsfähig auf gewöhnlichem Agar“ gibt es ja sicher
eine ganze Reihe von Zwischenstufen erhaltener Lehens¬
energie. Es ist ja gar nicht unmöglich, daß mir Versuche
mit anderen Nährböden aucli bei so mancher der unter¬
suchten übrigen Kulturen noch ,, erhaltene Förlpflanzungs-
fähigkeit“ gezeigt hätten.
Wien, im Mai 1907.
{Referate.
Sonnenstrahlen als Heil- und Vorbeugungsmittel gegen
Tuberkulose.
Von W. Gtraff.
34 Seiten.
Heidelberg 1907, Karl Winter.
Die Broschüre verfolgt den Zweck, zwei französische Ar-
heifen, welche Graff in Uehersetzung bringt, weiteren Kreisen
Ijekanntziimachen. Die eine Arbeit betitelt sich: Sonnenlicht¬
kur bei chronischer Lungentuberkulose, nach Doktor
11. te Malgat, Nizza. Vortrag auf dem internationalen Tul)er-
kulosekongreß in Paris 1907.
Mal g at läßt seine Kranken mit enthlößiten Bücken täglich
20 Minuten bis’ eine Stunde den direkten Sonnenstrahlen sich
aussetzeu und während des übrigen Teiles des Tages mit weißem
Linnen l)ekleidet herumgehen. Seide reflektiert die Sonnenstrahlen
fast vollständig. Neigungen zu Blulungen und stärkere lemper.a-
lursteigeiungen während der Bestrahlung sollen zur Voi'sicht
juahnen und erheischen kurze Sitzungen, höchstens 20 Minuten.
Ebenso ist wälirend der Menstruation Vorsicht geboten. Ver¬
fasser berichtet von 100% Heilungen oder Besserungen im ersten
Ö Siehe auch Reitmann und Hinterberger, Zentralbl. für
Bakt., I. Abt., Orig., Bd. 37, S. 169.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
und 66-6 °/o im dritten Stadium. Zwei Krankengeschichten ohne
objektiven Befund, aber mit dem Ergebnis, daß nach zwei- bis
viermonatiger Beobachtung die Älischflora aus dem Sputum
schwand und die Tuberkelbazillen sich verminderien, bieten nichts
Besonderes. Mal g at stellt sich vor, daß die Sonnenstrahlen den
ganzen Körper durchdringen und die Tuberkelbazillen abtöten.
Unsere heutigen Kenntnisse über die Durchlässigkeit der Gewebe für
die chemisch wirksamen Strahlen des Lichtes und die Absorption
derselben von seiten des roten Blutfarbstoffes sprechen dagegen.
Trotzdem soll nicht in Abrede gestellt werden, daß eine solche
Sonnenkur sowohl auf die Tätigkeit der Haut als auch auf das
Allgemeinbefinden von wohltätigem Einflüsse sein und daher in¬
direkt und als Bestandteil einer rationell durchgeführten, physi¬
kalisch-diätetischen Behandlungsmethode den Heilungsprozeß för¬
dern könne.
Die zweite übersetzte AzUeit lautet : Sanitätshäuser-
register und der Kampf gegen die Tuberkulose, nach
Dr. Lucien-Graux, Paris, und bringt aus dem Sanitätshäuser¬
register von Paris den statistischen Nachweis der größeren Tuber¬
kulosesterblichkeit der Bewohner solcher Wohnungen oder Straßen,
die Mangel an Luft, und Licht haben. Interessant ist der Nachweis,
daß auch die freieren 'Plätze nUr einen sehr lokalen Einfluß
haben; schon eine Häuserwand hebt ihren Einfluß auf. .Teden-
falls verdienen solche Sanitätshäuserregister, welche die sani¬
tären Verhältnisse jedes Hauses und jeder Straße genau beschrei¬
ben, mit Berücksichtigung der 'voi'kommenden Todesfälle an in¬
fektiösen Erkrankungen in allen größeren Städten Nachahmung.
Sie können wertvolle Erfaliiaingen liefern, wenn auch aus ökono¬
mischen Gründen es noch auf lange Zeit hin nicht möglich
sein wird, aus diesen Erfahrungen die äußersten Konsequenzen
zu ziehen.
*
Die Bekämpfung der Tuberkulose innerhalb der Stadt,
Erfahrungen aus den Berliner Auskunfts- und Fürsorgestellen für
Lungenkranke.
Von Ernst Pütter.
28 Seiten.
Berlin 1907, Richard S c h o e t z.
Die Broschüre bringt in großen Zügen ein Bild der Tätig¬
keit der Berliner Auskunfts- und Fürsorgestelle. Es wurden vom
1. Oktober 1904 bis März 1907 34.819 Pei'sonen untersucht,
18.262 Wohnungen Lungenkranker in bestmöglichen sanitären
Zustand vei'setzt und ständig kontrolliert, 569 Betten geliefert,
24.500 Mark an Geldunterstützungen gegeben, 1192 Kinder in
Kinderheilstätten und 1451 Kinder in Walderholungsstätten unter¬
gebracht.
Die weiteren Ausführungen über die Tätigkeit der einzelnen
Organe der Auskunfts- und Füi*sorgestelle (Lehrer, Arzt, Für-
sorgeschwestei') bringen nichts Neues.
*
Behringwerk-Mitteilungen.
Heft 2.
Stuttgart und Leipzig, Deutsche Verlagsanstalt.
1. Sufonin, ein neues DesinPektionsmittel.
Sufonin enthält Wasserstoffsuperoxyd und Formaldehyd iji
einem Verhältnisse, welches v. Behring nicht nzitteilt. Außerdem
enthält Sufonin noch andere Körpei’, die nicht genannt werden
und durch welche die Leistungsfähigkeit des Sufonins noch ge-
steigeil Averden soll. Diese Mischung soll die Tatsache illustrieren,
daß aus dem Zusammenwirken zweier oder mehrerer Körper mit¬
unter ein Desinfeklionswert resultiert, welcher größer ist als die
Summe der Desinfektionswerfe jedes einzelnen Körpers. Das Sufo¬
nin wird l)is auf weiteres vom geschäftsmäßigen Vertriebe noch
ferngehalten. Die lüshei'igen Prüfungen im Behringwerk ergaben
in z'elativ schwachen Konzentrationen einen außerordentlich hohen
Desinfektionswert. Als Testobjekte dienten verschiedene patho¬
gene Bakterien, vor allem .Milzbrandsporen. Die relative Un¬
giftigkeit des Mittels läßt ,es auch geeignet erscheinen zur Koii-
servieiamg von Heilseren, von Wasser an verseuchten Orten und
von Naluamgs- und Genußmitteln .(Fzuchtsäften, Milch).
Römer und Much haben unlängst ein Verfahren ])ul)Iiziert
zur Gewinnung steriler Milch. Das Verfahren beruht auf Zusatz
von M assei’stoffperoxyd zur Milch (1:500 bis 1000), nach einigen
Stunden einstündiges Erhitzen auf 52® und Entfernung des ^Vasser-
stoffperoxyd durch einen katalytisch wirkenden Körper, das im
Behringwei’ke hergestellte Hepin. Die so behandelte Milch heißt
Perhydrasemilch. Perlsuchtbazillen sollen auf .diese Weise sicher
abgetötet werden. Der Zusatz ,des Wasserstoffperoxyd erfolgt
schon beim Melken, um eine Vermehnmg der Milchbakterien
zu hindern. Die Bereitung der Sufoninmilch geschieht auf die¬
selbe Weise, nur daß' statt Wasserstoffperoxyd Sufonin verwendet
Avird. In der Sufoninmilch sollen die Perlsuchtbazillen noch
sicherer zerstört Averden als in der Perhydrasemilch.
2. K u h m i 1 c h k o n s e r V i e r u n g.
Der Artikel begründet zunächst Wichtigkeit der Ge¬
winnung einer sterilen, nicht durch höhere Hitzegrade \'e ränderten
Kuhmilch für die Säuglingsemährung. Durch die Siedehitze wird
das EiAveiß denaturiert Und in solche Körper umgewandelt, Avelche
gleich den Albumosen in die Kaseinfällung übergehen; der Gehall
an Kühneschem Pepton nimmt zu; die in der genuinen Roh¬
milch in kolloidaler Lösung vorhandenen Erdalkalien geben in
der erhitzten Milch in wahre Lösung über, da ihre organischen
Verbindungen denaturiert Averden, das Kasein erleidet eine Säure¬
abspaltung, Avahrscheinlich auf Kosten des Nukleinsäurephospbors
und auch das Lezithin wird denaturiert.
Die Herstellung einer genuinen, .sterilen Rohmilch ist nach
V. Behring durch das S'ufoninveriahren möglich.
Ein ausführliches gerichtliches Formaldehydgutachten kenn¬
zeichnet die Stellung v. Behrings in dieser Frage zu sanitäts¬
polizeilichen Vorschriften, v. Behring Avürde die Freigabe
eines geringen Formaldehydzusatzes zur Milch, die zur Ernährung
menschlicher Individuen bestimmt ist, nur dann befürworten, Avenu
der DeklarationszAvang eingeführt würde; die Höchstgrenze des
Formaldehydzusatzes gesetzlich festgelegt sei und die Erlaubnis
zur Herstellung von Formaldehydmilch .gebunden sei an gesetzlich
vorgeschriebene Molkereieinrichtungen, deren tadellose Be¬
schaffenheit durch sachverständige Kontrollbeamte fortdauernd
beaufsichtigt Avird.
3. U e b e r künstliche S äu g 1 i n g s e r n ä h r u n g.
Da dem Säuglinge nicht nur Gefahren drohen durch tuberkel¬
bazillenhaltige Kuhmilch, sondern auch ,die tuberkulöse Infektion
durch tuberkelbazillenhaltige Mutter- und Ammenmilch nach von
Behring häufiger ist als man gemeiniglich annimmt und auch
von der Hautoberfläche tuberkulöser Mütter oder Ammen eine
Infektion erfolgen kann, so sieht vom Standpunkte der Tuber¬
kulosebekämpfung aus V. Behring das Heil nicht in einer Rück¬
kehr zur Brusternährung, sondern in einer hygienisch einAvand-
freien Flaschenmilchernährung der Säuglinge. Es sollen Säug¬
lingsheime geschaffen Averden.
4. Die Bovo vakzinati on in der 1 an dAvirtschaf fliehen
Praxis.
Der Aufsatz enthält u. a. das statistische Material über die
bisher in den Impf bezirken in Meklenburg, dem Herrschaftsbesitze
des Erzherzogs Friedrich bei Tesclien und auf den Gütern
des Prinzen LudAvig von Bayern in Ungarn bovovakzinierten
Rinder.
M e k 1 e ]i b u r g (E b e 1 i n g) ; Vor Einfühlung der Impfun g
reagierten 80 bis 100®/p der zAAuijährigen und älteren Rinder
auf Tuberkulin. Von 37 Impflingen erAAÜesen sich bei der Schlach¬
tung 36 absolut tuberkulosefrei. Von nicht Aukzinierten Rindern
aus denselben Beständen hatten 30 "/o Tuberkulose.
Herrs ch afts besitz E rzher z og Fr iedri c h (R ösler) :
Vor Irinführung der Scbulzimpfung reagierten 67 bis 87”, 'o der
Rinder auf Tuberkulin.
Nach ZAAuijähriger Schutzimpfung eines Teiles der jungen
Rinder ergab der an 624 Rindern Aurgenonunene Tuberkulin-
prüfungsversuch : Von 95 mit Rohmilch in tuberkulosedurch¬
seuchten Stallungen aufgezogenen, nicht liovovakzinierten Rin¬
dern reagierten 40”,'» ; Aun 253 ebensolchen, aber bocoAuakzinier-
ten nur 6-4”/o ; von .84 mit sterilisierter IMilch nach Bung aufge¬
zogenen, nicht boAmvakzinierien Rindern reagierten 8'4”/o und
Amn 212 ebensolchen, aber bovovakzinierten 7T”/(i. Ebenso gün¬
stig lauten die Mitteilungen aus den Gütern des Prinzen LudAvig
von Bayern in Ungarn (S t r e 1 i n g e r).
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
637
llerücksiclitigt, mau auch Höhe und die Dauer der He-
aktiüu, dann hält der Uulerschied zwischen geimpften und nichl.
geimpften Rindei'ii noch deutlicher ^utage, wie an zwei Kurven¬
tafeln gezeigt wird.
Der Aufsatz enthält einen pehr polemischen Anhang gegen
Bi auch Oll, Thomassen, Schütz, Val lei, Mießner und
Moussu.
6. Tierärztliche und menschenärztliche Tulase¬
la k t i n t h e r a p i e.
Tulaselaktin sind durch C’diloralhydrat und andere Salze
emulgierte und dadurch resorptionsfähig gemachte Tüberkel-
bazillen, welche zur Zeit der Emulsionierung noch unversehrt
und zur Bovovakzinafion geeignet .sind. Die Mitteilungen der
von Zinke und Kr ans vorgenommenen quantitativen Analysen
und die in 20 Leitsätzen wiedergegebenen Hypothesen v. Be hi¬
rings für das Zustandekommen der Tuberkuloseimmunisierung
bei Rindern mit Hilfe seines Bovovakzins eignen sich nicht für
eine kurze, referierende Wiedergabe.
Das Tulaselaktin wird an einigen Kliniken und Heilstätten
bereits einer Prüfung unterzogen. Die bei der Anwendung dest-
selben bei fieberfreien Patienten zu beobachtenden Vorschriften
und Bedingungen werden ausführlich wiedergegeben. Vor Ab¬
schluß der im Gange befindlichen klinischen Prüfungen wird der
geschäftliche Vertrieb des Mittels zurückgehalten (Ref.).
6. Die Tau ro Vakzination.
In einer Kommission des Reichsgesundheitsamtes, welche
über immunisierende Perlsuchtbekämpfung berichtet, kam man
zu dem Ergebnisse, daß solche neugeborene Kälber nicht der
Schutzimpfung unterworfen werden sollen, deren Fleisch niög-
licheiuveise zu Ernährungszwecken für den Menschen nutzbar
gemacht werden könnte, bevor sie das Alter von einem Jahre
überschritten haben. Die Kommission gibt zu, daß dadurch der
günstigste Zeitpunkt für die Impfung verpaßt wird.
Neuerdings hati nün v. Behring ein von der Bovovakzination
durchaus abweichendes Schutzimpfungsverfahren (Taurovakzina.-
tion) ausgearbeitet und an seiner eigenen Viehlrerde erprobt,
von welchem er annimmt, daß bei dessen Anwendung der Ver¬
trieb des Fleisches nicht wird beanstandet werden können und
welches voraussichtlich auch zur präventiven Bekämpfung der
menschlichen Tuberkulose werde nutzbar gemacht werden können.
Nähere Angaben über dieses Verfahren werden nicht mitgeteilt.
J. Sorgo (Alland).
*
Beitrag zur gefechtssanitären Applikatorik im Gelände.
Bearbeitet von Regimentsarzt Dr. Franz Kroatin
Mit 7 Skizzen.
67 Seiten.
Wien 1907, Josef S a f ä f.
Vorliegende Arbeit bereichert in wertvoller Weise die Lite¬
ratur über den taktischen Sanitätsdienst, eine Disziplin, die sich
nun seit mehr als einem Jahrzehnte mit Recht sorgfältiger Pflege
von seiten der Militärärzte aller Heere erfreut. Unter den Mitteln
zur Schulung in den Aufgaben der Sanitätstaktik sind die im
Gelände durchgeführten Arbeiten zweifellos die wertvollsten, weil
sie sich eben dort abspielen, wo der Militärarzt im Ernstfälle
zu wirken berufen sein wird. Doch ist nicht zu leugnen, daß
die Anlage und Durchführung von gefechtssanitären Themen ge¬
rade im Terrain recht schwierig ist und wir heute noch nicht
sehr viele Militärärzte besitzen, die solche Aufgaben wirklich
instruktiv und interessant zu gestalten wissen. Von einem können
wir aber ndiig behaupten, daß er dies vortrefflich versteht, das
ist Oberstabsarzt Cr on. Unter seinem Einflüsse ist denn auch
vorliegende Arbeit zustandegekommen, was jedoch keineswegs
das Verdienst des Verfassers schmälert, der die seinerzeit im
Gelände durchgefühlte Aufgabe in leicht faßlicher, knapper und
<loch erschöpfender Weise in Buchform darzustellen gewußt hat.
Der Inhalt des Büchleins zerfällt in zwei Abschnitte. Der
erste besteht aus den ,, Winken betreffs Anlage und Durchführung
applika torischer Besprechungen aus dem Gebiete des Gefechts-
sanitätsdienstes“, der zweite umfaßt die detaillierte Ausführung
eines Beispieles über den Sanitätsdienst bei einer Infanterie-
truppendivisiou während der Näcliligung, des Marsches und eines
Begeg.nungsgefechtes.
Auf (len eiuten, von Cron herrührenden Abschnitt sei ins¬
besondere aufmerksam gemacht. Hier findet man auf reiche Er¬
fahrungen gegründete Weisungen über Anlage und Durchführung
sanitätstaklischer Uebungeii im Terrain, wie sie meines Wissens
überhaupt noch nirgends veröffentlicht wurden.
Aber auch das Beispiel ist so instruktiv gestaltet, daß es
von jedem Militärärzte nur mit großemi Nutzen gelesen werden
wird. Der volle Schatz der Lehren wird allerdings nur jenen
zuteil, denen es möglich ist, die Aufgabe im Gelände ‘selbst durch¬
zunehmen. Jedenfalls kann die fleißige und verdienstliche Arbeit
Kr oaths allen ärztlichen Kameraden a.uf das angelegentlichste
empfohlen werden.
*
Der operative und taktische Sanitätsdienst im Rahmen
des Korps nebst einer Aufgabensammlung.
Von Maximilian Ritter V. Hoen, k. u.k. Major des Generalstabskorps etc.
Mit 4 Karlen und 6 sonstigen Beilagen.
162 Seiten.
Wien 1907, Josef Safäf.
V. Hoens neueste Studie bewegt sich auf dem gleichen
Gebiete wie die eben besprochene Arbeit, nur in weiterem Rabmen.
Sie ist in gewisser Hinsicht eine Ergänzung der im Jahre 1903
erschienenen trefflichen ,, Vorschule zur Lösung sanitätstaktischer
Aufgaben“. Dabei wurden nun auch jene Veränderungen in Be¬
tracht gezogen, die durch das im Jahre 1904 ausgegebene neue
Reglement für den Sanitätsdienst im Kriege notwendig geworden
sind. Desgleichen blieben die Erfahrungen des russisch- japani¬
schen Krieges nicht unberücksichtigt.
Indem sich die Arbeit v. Hoens aber auch an jene mili¬
tärischen Faktoren wendet, denen bei den sanitätstaktischen An¬
ordnungen das entscheidende Wort zusteht, nämlich die Kom¬
mandanten und Generalstabsoffiziere, fördert sie in höchst
dankenswerter Weise die einheitliche Auffassung sani¬
tärer Probleme im Felde bei allen in Betracht kommenden
Funktionären. Denn es könnte sich im Kriege bitter rächen,
wenn — wie der Verfasser sagt — ■ ,,die mit dem Rechte der
Entscheidung ausgestatteten Befehlshaber infolge geringer Ver¬
trautheit mit der Ausgestaltung der sanitäts taktischen Lehren
die wohlgemeinten Vorschläge ihrer Sanitätsreferenten durch¬
kreuzen würden“.
Dem Inhalte nach umfaßt das Buch: 1. eine Theorie des
operativen und taktischen Sanitätsdienstes, nämlich: Ei^vä^ungen
und Maßnahmen des Korpschefarztes, Divisionschefarztes und des
Kommandanten der Divisionssanitätsanstalt während Operations¬
stillständen (Kantonierungen), Mäi’schen und Gefechten, sowie
eine Skizzierung der sanitären Tätigkeit bei der Truppe, dann
2. eine Aufgabensammlung — im ganzen 14 Aufgaben inner¬
halb des Rahmens einer Truppendivision und eines Korps.
Wie nicht anders zu erwarten, sind alle Ausfübrungen des
auf dem Gebiete der Sanitätstaktik als Autorität geltenden Ver¬
fassers, dem überdies eine mehrjährige Tätigkeit als Lehrer an
der militärärztlichen Applikationsschule zugute kommt, ebenso
nutzbringend als fesselnd und verdienen von den Militärärzten
auf das genaueste studiert zu werden. Und doch hat noch jedes,
ausschließlich von Generalstabsoffizieren verfaßte sanitäts taktische
Werk — • auch das vorliegende wieder ■ den Referenten in
seiner Ansicht bestärkt, daß es nicht angezeigt wäre, den Aus¬
bau der Sanitälstaktik dem Generalstabe allein zu überlassen, wie
von mancher, auch militärärztlicher Seite befürwortet wurde. D(?r
Arzt wird jn seinen Maßnahmen, bei aller Anpassung an die
militärische Situation, doch immer mehr das Interesse des
Kranken-, bzw. Gesundheitsdienstes wahrerr als der Generalstabs¬
offizier, der selbst bei größerer Vertrautheit mit den borderungen
des Sarritätsdierrstes ganz irnbewußt das rein taktisch-operative
Element stärker hervortreten lassen wird. Bei der ,,banitäts-
taktik“ soll aber der JTauptton auf dem ersten Worte liegen.
Johann Steiner.
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr 21
Aerztliche Wirtschaftskunde.
Von Dr. Alexander Rabe.
Leipzig 1907, Verlag von Dr. Werner Klinkhardt.
Es erscheint fraglich, oh nach den vorzüglichen Büchern
Peipers nnd 11 u nd cs h a g e ns, in welchen die ärztlichen wirt¬
schaftlichen \ erhältnisse mehr weniger ausführlich hehandelt
werden, ein Bedürfnis nach einem derartigen Buche vorlag. Immer¬
hin muß aber zugestanden werden, daß dieses Buch gut ist
und auch einige neue Gesichtspunkte enthält. Vor allem sei
der erste Abschnitt hervorgehoben, der den volkswirtschaft¬
lichen Begriff ,,AVirtschaft“ auf den Aerztestand anwendet.
W ohltuend wirkt die ruhige Sachlichkeit, mit der Verfasser
die Gründe des wirtschaftlichen Niederganges des ärztlichen
Standes beleuchtet. Den „Führern“ der österreichischen Aerzte
können diese Auseinandersetzungen auf das dringlichste zum
Studium empfohlen werden, ebenso das Kapitel, in welchem die
sozialen und psychologischen Momente behandelt werden, welclie
naturgemäß zur Organisation der deutschen Aerzte führen mußten.
Den breitesten Raum nimmt die Besprechung der Stellung der
Aerzte innerhalb der Arbeiterversicherung ein. Selbstverständ¬
lich steht der \ erfasser auf dem Boden der organisierten, freien
Arztwahl. Alles, was der Arzt von der Arbeiterversicherung
wissen muß', ist in den betreffenden Abschnitten enthalten. Auch
die sonstige sozialhygienische Tätigkeit der Aerzte wird ent¬
sprechend behandelt.
Charakteristisch für die Bedeutung der sozialen Verhält¬
nisse ist es, daß die privatärztliche, wirtschaftliche Tätigkeit ajii
kürzesten behandelt wird.
Das ganze Buch drückt den Gedanken aus, daß die Aerzte
sich organisieren und sich mit den sozialhygienischen Fragen
der Gegenwart auf das eingehendste beschäftigen müssen.
Wer ein Bild über den heutigen Stand der wirtschaftlichen
Verhältnisse der deutschen Aerzte gewinnen will, dem kann dieses
Buch wärmstens empfohlen werden.
Ellmann (Wien).
*
Die Trunksucht und ihre Abwehr.
Beiträge zum gegenwärtigen Stand der Alkoholfragen von Dr. A. Baer
Berlin und Dr. B. Laquer, Wiesbaden.
Berlin und Wien 1907, Urban uni Schwarzenberg.
Die erste Auflage dieses W^erkes erschien im Jahre 1890.
Seitdem hat sich unser WTssen über den Alkohol außerordentlich
vermehrt und vertieft, so daß eine zweite, umgearbeitete Auflage
notwendig wurde. Es ist nun sehr interessant, an der Hand des
sorgfältig gearbeiteten Buches zu verfolgen, wie in gewissen
Belangen dem Angeklagten Alkohol gegen früher mildernde Um¬
stände zugesprochen werden, während nach dem heutigen Stande
des Wissens in anderen Belangen erschwerende Umstände gegen
ihn geltend gemacht werden. So stellt Rosenfeld 1905 fol¬
gende Thesen auf; ,,1. Es ist sicher, daßi der Alkohol im Körper
zumindest zu 90 «/o verbrannt wird. 2. Es ist sicher, daß nach Alkohol
die Kohlensäure- und Sauerstoff mengen gar nicht oder nur un¬
erheblich steigen. Größere Differenzen beruhen auf der Muskel¬
uni uhe, resp. Muskelruhe der Tiere. 3. Damit ist bewiesen, daß
der Alkohol für unseren Körper auch nahrungssparend eintritt.
4. Es ist sicher, daß der Alkohol immer Fett .spart. 5. Es ist
siidier, daß der Alkohol Eiweiß sparen kann.“ Dagegen sagen
die Autoren: „Der Alkohol ist durchaus kein Stoff, welcher
den menschlichen Körper in gedeihlicher Verfassung zu erhalten
vermag, wie das von anderen Nahrungsmitteln verlangt wird
und tatsächlich auch geschieht. Mit der Verbrennung des Alkohols
ist immer eine Zerstörung von Geweben und lebendem Zell-
proloplasma und bei langem Gebrauche immer eine krankhafte
Vi'i'änderung aller Gewehshestandleile verbunden. Dieser Um-
slaud alh'in licwirkt es, daß der Alkohol kein Nahrungsmittel
sein kann (sondern er soll, wie die Autoren an anderer Stelle
h(‘in(*i ken, einzig und allein ein Genuß'- oder Erfrischungsmittel
sein). Er ist in kleinen Dosen als Wärmequelle von zu geringer
Ihaleulung und in großen Dosen, wcmti er auf die Dauer als Ersatz-
od('r Siiannitlel ('inirefeu sollte, hat er so entschiedene toxi¬
sche Virkungen, daß er mehr einem Gifte als einem Nahrungs-
mitlc'l gh'icht.“ — Die Nieren findet man bei Trinkern relativ
selten und meist nur in sehr vorgeschrittenem Stadium der
Trunksucht erkrankt. Dagegen ist in neuerer Zeit bei (dewohn-
heitsbiertrinkern das Auftreten von Diabetes beobachtet worden
(alimentäre Glykosurie und Strümpells Bierdiabetes). Das Auf¬
treten abnormer Mengen von Fett im Blute, wie es ältere Autoren
angaben, wird in der Neuzeit nirgends bestätigt; hingegen gibt
Vas eine Abnahme des Hämoglobingehaltes bei Alkoholikern'
an. Das sind einige Proben aus dem reichen Inhalte des Buches,
das in drei Abschnitte zerfällt: I. Die physiologischen und patho¬
logischen Wirkungen des Alkohols. 11. Die Trunksucht und ihre
Folgen. HI. Die Abwehr der Trunksucht. — Es sei allen Aerzten
bestens empfohlen. Sofer.
Aus versehiedenen Zeifcsehriften.
254. (Aus dem städtischen Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-
Kinderkrankenhause Berlin.) Ueber Meningitis cerebro¬
spinalis pseudo epidemica. Von Adolf Baginsky. Es
werden fünf Fälle mitgeteilt, in welchen alle klinischen Erschei¬
nungen für den Bestand von Grenickstarre sprachen, während
der Verlauf und das Ergebnis der Lumbalpunktion zeigten, daß
man es hier nicht mit dem Meningococcus intracellularis jnenin-
gitidis zu tun hatte. Gleich der erste Fall: Ein sieben Jahre
alter Junge erkrankt plötzlich mit heftigen Kopfschmerzen und
Erbrechen. Nackenstarre, ausgesprochenes Kernigsches Sym¬
ptom (flektierte Spannung der unteren Extremitäten und Unver¬
mögen der Streckung im Kniegelenke beim Versuche, den Kranken
aufzurichten); Steigemng der Reflexerregbarkeit, eine gewisse
Eingenommenheit des Sensoriums und Prostration, später Auf¬
treten von Herpes labialis ; alle diese Erscheinungen sprechen
für Meningitis cerebrospinalis. Erste Lumbalpunktion negativ, die
zweite am nächsten Tage ergibt 3 cm^ einer trüben Flüssigkeit,
die langsam abtropft; in derselben zahlreiche polynukleäre und
mononukleäre Leukozyten, färberisch nachweisbar vereinzelte
Diplokokken, ein paar intrazelhüär gelagert. Am sechsten Krank¬
heitstage kritischer Temperaturabfall, rasche Besserung, dann
Heilung. Schon im direkten Präparate waren also keine Meningo¬
kokken, in der Kultur jedenfalls kein Wachstum von Meningo¬
kokken. Im zweiten Falle (wieder Fieber, Erbrechen, Nacken¬
steifigkeit, Kernigsches Symptom etc.) entfieberte das Kind unter
Remissionen, die Kultur aus der Lumbalflüssigkeit blieb steril;
es genas rasch unter starker Gewichtszunahme. Auch dieser Fall
ist durch die Rapidität des Auftretens zerebrospinaler Symptome
(Nackenstarre bis zum Opisthotonus, Kernigsches Symptom)
unter hohem Fieber bemerkenswert, unterscheidet sich aber ätio¬
logisch völlig von der epidemischen zerebrospinalen Erkrankung.
Zwei weitere Fälle wurden schon im Vorjahre beobachtet. Die
Krankheit sieht im dritten Falle wieder täuschend ähnlich der
Epidemika aus, der Verlauf spricht dagegen. Us besteht tatsäch¬
lich ein entzündlicher Vorgang im Rückenmarke (trübe Punktions¬
flüssigkeit mit Gehalt an Leukozyten und Mikrokokkenbefund),
indes hat derselbe ebensowenig den Krankheitserreger, noch den
Verlauf der Epidemika. Die gefundenen Kokken werden mit Wahr¬
scheinlichkeit als Coccus crassus angesprochen. Die Symptome
schwinden, das Kind wird geheilt entlassen. Im vierten Falle
(dieselben Symptome), der durch eine Otitis kompliziert war,
die aber nach Parazentebe völlig in den Hintergrund trat, ergab
die Lumbalpunktion eitrige, trübgelbliche Flüssigkeit und als patho¬
gene Mikrobe den Staphylokokkus (Kultur). Vielleicht hat die
Ohrenentzündung zu der an den Meningen des Rückenmarkes zu¬
tage getretenen Entzündung den Anlaß gegeben, sie induziert. Auch
dieses Kind genas völlig. Es steht also fest, daß mitten unter
epidemischen Fällen und auch zu einer Zeit, wo an vieleti Orten
epidemische Fälle von Meningitis auftreten, auch solche Fälle
Vorkommen, die trotz aller Aelmlichkeit mit der epidemischen
Form einen nicht spezifischen Krankheitserreger (Diplococcus
crassus, Strepto- und Staphylokokken) zur Ursache haben. Die
Behandlung bestand in Verabreichung von Jodkaliuni, reichlichen
Einreibungen mit grauer Salbe und abwechselnd in heißen Bädern
(36. his 37” C) unter gleichzeitiger Kühlung des Kopfes (Eis¬
blase). Bei besonders hoher Reflexerregbarkeit, hohem Fieber
und großer llnnihe liegen die Kinder auf w as se r d u r c h s |) ü 1 te n
K ü hl m a t r a t z e n, welche Baginsky eingeführt hat. Zum
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCllKIET. 1907.
Sclilusso lolg-l eiii ITuiHer Fall, in welclictii wieder f>;anz extiuisil
das Bild der ('i)ideinisclieii Mciiiiigilisforni iii Ers(dveituing (ral,
wobei das Kind, das sich schon iin Koma befand, am driften
Tage starb. Die Sektion ergab ausgebreitete eitrige Meningitis
der gesamten Konvexität des Geliirnes, weniger der Hirnbasis,
nictits von TLil)erkulose, das Bnckemnark frei von eitrigen Be-
scldägen, die Pia mir etwas trüb, gell)rosa glänzend. Jieiclde,
l)eiderseitige Otitis (feuchter Intialt). In den Kulturen famlen
sich Streptokokken, Staphylokokken, Pneumokoklven und der JMicro-
coccus flavus. Also wieder die charakteristischen klinischen Er¬
scheinungen der zerebrospinalen Meningitis — und doch war
der Fall keine Epidemika, echte Meningokokken waren nicht vor¬
handen, auch keine Influenzabazillen. — (Berliner klinische
Wochenschrift 1907, Nr. 14.) E. F.
255. Ueher zwei Fälle von chirurgischer Behand¬
lung während eines Typhus. Von W. Thomas Thelwal.
In der Sitzung der „Liverpool medical Institution“ vom 20. De¬
zember 1906 berichtete Verf. über zwei Fälle von cbirurgischer
Bebandlung im Verlaufe eines Typbus mit günstigem Ausgang.
Der erste Patient legte sieb erst einige Tage vor dem Auftreten
akuter Perforationssymptome zü Bett. Der Fäll wurde als Appen¬
dizitis mit Perforation diagnostiziert. Bei der Operation zeigte
sieb, daß eine Perforation eines Typbusplaques vorlag. Der zweite
Fall betraf eine junge FraU, bei welcber in der dritten Woche
eines Typhus die Diagnose auf Perforation eines Typhusplaques
gestellt wurde. Bei der Operation wurde eine Appendizitis mit
Perforation gefunden. Zwei ähnliche Fälle, die Verf. früher be¬
obachtet hatte, gingen letal aus. Die Behandlung der Perforation
hesteht entweder in Vernähung der Perforationsöffnung oder in
Anlegung einer Darmfistel. Letzteres Verfahren hat den Vorteil,
daß ein Teil des Darmes ruhiggestellt wird. Von der Enterektomie
mit ,,Ende zu Ende“-Anastoniose rät Verf. ab. — (Lancet, 12. Ja¬
nuar 1907.) J- Sch.
♦
256. Aus der medizinischen Klinik in Freiburg i. B. (Geh.
Rat Prof. Dr. Bäumler). Ueher den Verlauf der Uro-
bilinurie beim Typ bus abdominalis. Von Dr. J. Rubin,
Assistenzarzt der Klinik. Verf. berichtet, angeregt durch die
Arbeit Hildebrandts, über den Verlauf der Urobilinurie in
acht von ihm beobachteten Typhusfällen. Er bediente sich zum
Urobilinnachweise des Schlesin ge r sehen Reagens, einer
10°/üigen alkoholischen Zinkazetatlösung, die zu gleichen Teilen
mit dem Harne versetzt wird. Das Reagens mußi ungelöstes Zink-
azetat im Heberschusse enthalten, da sonst die Umwandlung des
als Urobilinogen präformierten Farbstoffes, in eine deutlich fluores¬
zierende Substanz niebt vor sich gebt. Nach der Stärke der
Fluoreszenz wird die Probe beurteilt und eventuell bei deut-
lieber Fluoreszenz sclion als pathologische Steigerung angesehen.
Darüher hinaus bildet die Breite des Absorptionsstreifens .zwischen
E und F des Spektrums den weiteren Maßstah. Dahei zeigte
sich, wie schon Hildehrandtfand, eine gewisse Gesetzmäßigkeit;
Geringe oder fehlende Urobibnurie von der Zeit des Irieber-
austieges bis weit in die Kontinua; oft hoebgradigo Steigerung
mit dem Eintritte der ersten großen Remissionen und mehr oder
weniger lange Fortdauer während der Rekonvaleszenz. Selbst¬
redend finden sich oft geringe Ahweichungen. Aus der beige-
gehenen Kurve eines Falles sieht man die früher vollkommen
negative Urobilinurie vorn 27. bis 30. Krankheitstage an stark
positiv werden und in unverminderter Stärke bis in den vierten
Tag der Fieberlosigkeit bestehen. In einem anderen Falle beginnt
die pathologische Urobilinausscheidung ani 26. Tage, besteht in
gleicher Intensität bis zum zwölften fieberfreien Tage und dauert
deutlicb positiv bis zum 20. Tage an, um erst weitere 25 Tage
später ganz abzuklingen. Hobe Urobilinwerte finden sich meist
in jenen Krankheitsfällen, die mit Verstopfung oder spärlichen
Entleerungen einhei'gingen ; niedere Werte decken sich mit zahl¬
reichen Durchfällen. Dieser Parallelismus wird nach Verfassers
Ansicht begreiflich, wenn jnan bedenkt, daß die Vorbedingung
für die Urobilinurie neben der Schädigung der Leberzellen deren
I, ebersebwemmung mit den vom Darm resorbierten Massen ist.
Auch die Schwere der Erkrankung spielt eine wesentliche Rolle,
da mit der Stärke dei' Iidektion die Scliädigung des Lehei-
l)ai'enchyms glei(dien Schiitt hüll. Datier eircdcld in den Ieichl(M'(m
Eällen die Urobilinausscbeidung nur geringe, in den mili.elsidtwcrcn
mäßige Werte. Den Einfluß schwerer Komiilikalion sielil man
in eineiii Typhuslälle, der mit einer schweixm hämorrhagiscli(m
Nephritis einherging. Hier kam es nur während eines einzigem
Tages, nach Aufhöreii der Diarrhöen zu einer spektroskopisch
nachweisbaren Urobilinurie. Während der ganzen übrigen Zeit
waren nur sehr geringwertige UrobilinaUsscheidimgen. Die Ur¬
sache sind offenbar die durch die Nephritis geschädigtrm Nieren.
Was nun die praktische Verwenung des Urobilinnachweises brdm
Typhus anlangt, so Mmrden nach Verf. exzessive Proben im Be¬
ginne einer fieberhaften Krankheit, die den Verdacht eines Tyi)ims
erweckt, in der Regel gegen ihn sprecdien; ebenso ausgesprochen
negative bei lytisch entfiebernden Kranken. Prognostisch kann
man das Auftreten stärkerer Urobilinurie im Beginne der Lysis
als Zeichen eines regelrechten, also günstigen Verlaufes auffassen.
Plötzliches Verschwinden der Urobilinurie in der Rekonvaleszenz
sollte in der AusAvahl der Kost und der Erlaubnis zum Aufstehen
die größte Reserve auferlegen. Spitäler sollen einen Typhus¬
kranken, dessen Harn lange in die Rekonvaleszenz hinein deut¬
liche Urobilinurie zeigt, nicht eher entlassen, als bis die Probe
ganz negativ ist. — • (Münebener mediz. Wochenschrift 1907,
Nr. 11.) G.
257. Pathologie, Therapie und Prophylaxe der
elektrischen Unfälle. Von S. Jellinek, Wien. Die elektri¬
schen Unfälle nehmen sowohl in klinischer als auch in patho¬
logisch-anatomischer Hinsicht in der Medizin eine Sonderstel¬
lung ein. Was die Aetiologie betrifft, wird in knappen Zügen
auf die Identität von atmosphärischer und technischer Elektrizität
und der durch dieselben bedingten Gesundheitsslörungeu hinge¬
wiesen. Nicht weniger als acht Momente sind dafür verantwort¬
lich zu machen, ob die Berührung eines stromführenden Gegen¬
standes zum Unfälle Avird oder nicht; eine Hauptrolle spielen
dabei aber zunächst der Schutz widers t and des Individuums
und die Bodenverhältnisse der Unfallstälte (daher strom¬
sichere und stromgefährlicbe Räume). Die Symptome Averden
eingeteilt in lokale imd allgemeine; zu den ersteren ge¬
hören: Brandwunden Und brandAvundenartige Verletzungen, Vei’-
sengungen, mechanische GeAvebstreimungen, Nekrosen, Blutaus¬
tritte, Erytheme, Oedeme, oberflächliche Imprägnierungen der all¬
gemeinen Decke mit Metalloxyden, Pigmentbildung und schlie߬
lich spezifisch elektrische Hautveränderungen. Als Seltenheiten
unter den Lokalsymptomen werden eiwähnt eine Urethritis catar-
rhalis (elektrische Stromvermitthing durch den Harnstrahl) \iml
eine sogenannte Spätfonn einer Haiitverletzung. Unter den Alt¬
gemeinsymptomen ist zu unterscheiden zAvischen Früh¬
symptomen und Spätsymptomen. Zu den Frühsymptomen
gehören die sogleich nach einem Unfälle Amrhandeneu Gesund¬
heitsstörungen, die sich von seiten der meisten Organsyslcme
geltend machen können, als da sind; BcAAnißtseinsstörungen, Läh¬
mungserscheinungen, Blutungen, Albuminurie, Ikterus, Fiebor-
beAvegung, Oedeme usw. S p ät s y m p t o me, die erst nach Monaten
und Jahren in Ei-scheinung treten, finden sich voiwiegend im
Bereiche des Neiwensystemes. Die diesbezüglichen Krankheits¬
bilder sind nicht einheitlicher Natur; sie lassen Adehnehr, Avi(^
an einigen Beispielen dargetan Avird, sehr unterschiedlichen Cha¬
rakter erkennen; es kam unter den 75 Blitzverletzten und den
57 elektrischen Starkstromunfällen, die der Autor zu beobachten
Gelegenheit hatte — sein Material umfaßt zumeist die scliAversten
Unfälle — in etwa einem Drittel aller Fälle zu Spätsymptomeu.
als da sind: Geistesstörungen, motorische Lähmungserscheinuu-
gen mit Sensibilitätsstörungen, trophoneurotische Veränderungen,
ebroniseb atrophisierende, ankylosierende Gelenksprozesse, epi-
leptiforme Anfälle, Embolia cerebri, paralyseäbnlicbe Zustände
und so Aveiter. Vier Krankengesebichten Averden kurz skizzieiä.
Die pathologische Anatomie der elektrischen V erletzungen
ist, von den lokalen Verändenmgen abgesehen, makroskopisch
A'öllig negativ. Erst die mikroskopische Untersuchung hat kapil¬
läre Gefäßzerreißuiigen vorAviegend an der Grenze der giuuen
und Aveißen Substanz im Zentralnervensystem aufgedeckt, ferner
Blutausti'ilte, Zellzertrümmerungen oft ganz eigenartiger Natur,
Kernverlagerungen, Chromatolyse usav. Bei Ueherlehenden (Tier-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
versuch) etablieren sich später im zentralen und peripheren
Nervensysteme Degenerationen. Der Tod durch Elektrizität ist
nicht durch einen einheitlichen, sich in allen Fällen gleich-
hleihenden Mechanismus zu erklären; er erfolgt bald vom Herzen,
bald vom Respirationstrakte, bald vom Grehirne aus. Die Erfah¬
rungen der Unfallpraxis und die Ergebnisse der Tierversuche
lassen es als höchst wahrscheinlich gelten, daßi der Tod durch
Elektrizität nur ein Scheintod ist, der erst infolge mangelnder
oder nicht kunstgerechter Hilfeleistung in wirklichen Tod über¬
geht. ln experimenteller Hinsicht werden diesbezüglich drei Ver¬
suche envähnt; der N a rk ose ver s u c h, der Herz versuch und
die intradurale Drucksteigerung nach elektrischen Trau¬
men. Für die Diagnose kommen in Betracht: die charakteri¬
stischen Hautveränderungen (spezifisch -elektrische Veränderun¬
gen), die Zerstörungen der Kleidungsstücke, der Zustand der
elektrotechnischen Objekte, die äußeren Verhältnisse (Erdl)oden
und so weiter) und endlich die Anamnese. Die Prognose ist
im allgemeinen günstig, doch ist wegen der Spätsymptome Zu-
i'ückhaltung geboten. Nach den bisherigen Erfahrungen ist anzu-
nehinen, daß Spätsymptome nur bei jenen Fällen zu erwarten
Avaren, welche seit dem Unfälle ununterbrochen durch Wochen
und Monate Krankheitssymptome allgemeiner Natur zu erkennen
gaben. Die Therapie der akuten Fälle besteht in sofortiger
Hefreiung der Opfer aus dem Stromkreise und der, wenn nötig,
sonst üblichen Beeinflussung von Herz- und Lungentätigkeit. In
schweren Fällen wäre die Lumbalpunktion auszuführen, in ver¬
zweifelten Fällen die neuerliche Einwirkung der tödlichen Strora-
spannung. Im übrigen ist die Behandlung symptomatisch. Die
Prophylaxe hat zu bestehen in Aufklärung über das Wesen
der Elektrizität und in weiteren Studien der schädlichen Wir¬
kungen der Elektrizität, deren indirekte Wirkungen zum großen
Teile noch unerfomcht und Aveiter reichend sind, als mau Amr-
mutet. So Avurde z. B. BleiA^ergif tung konstatiert durch Ge¬
nuß von Leitungswasser, Avelches aus Röhren stammte, deren
mit Mennige (Bleisuperoxyd) versehene Muffungsstellen durch
vagabondierende Erdströme elektrolytisch zersetzt Avurden. Dieses
neue, bisher unerkannte Gebiet der Hygiene hat nicht der Tech¬
niker, sondern der Arzt zu erforschen. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1907, Nr. 10 und 11.) Pi.
*
258. U e b e r fortgesetzten Gebrauch von Saue r-
stoff bei einem herzkranken Bronchopneumoniker.
Von Bernard E. Myers, West Hampstead. Bei einem B2jährigeu
IManne, der vor Jahren eine Penkarditis überstanden hatte und
an Bronchopneumonie erkrankte, Avurden Sauerstoffinhalationen
durch 110 Stunden eingeleitet, zuerst halbstündig je zwei Minuten
lang, dann alle zehn Minuten durch je drei Minuten. Der Patient
genas, obgleich bereits Cheyne-Stokes sehe» Atmen aufgetreten
Avar. Speziell gegen letzteres hatte Strychnin (alle zwölf Stunden
Vioo Gran) gute Dienste geleistet. Die übrige Medikation bestand
in Verabreichung einer Mixtur von Jodnatrium, Benzointinktur,
Tinctura Senegae und Oxymel Scillae. — (Lancet, 9. Februar 1907.)
J. Sch.
♦
259. lieber die frühzeitige Diagnose der Tul)er-
k LI lose der Bjonchialdrüsen im Kindes alter. Von
A. d’Espine. Beim Kinde erkranken die Bronchialdrüsen immei'
früher als die Lungen an Tuberkulose und es stellt in zahlreichen
Fällen die Bronchialdrüsentuberkulose die einzige Lokalisation
der Erkrankung im Thorax dar. Die ersten .Zeichen der Bronchial-
drüsentubeikulose Averden ausschließlich durch die Auskultalion
der Stimme geliefert und es treten' diese am deutlichsten in der
unmittelbaren Nachbarschaft der IlalsAvirbelsäule in der Gegend
ZAvischen dem siebenten llalsAvirbel und den oberen BrustAvirbeln
auf. Diese Verämlerung des Auskultationsbefundes der Stimme
präsentiert sich zunächst als Flüstern, in den Amrgerückteren
Sta;lien als Bronchophonie. Der Amrstärkte Stimmfremitus ist mit
der Bronchophonie nicht zu A^eiwechseln und findet sich auch
unter physiologischen Verhältnissen. Bei der Untersuchung läßt
mau envachsene Kinder die Zahl 333 aussprechen, Avährend man
b('i ganz kleinen Kindern das Geschrei auskultiert. Man aus¬
kultiert zunächst mit einem Stethoskop mit kleiner Mündung
die Halsgegend und nimmt das charakteristische Atmungsgeräusch
der Trachea wahr, Avelches bei gesunden Kindern im Niveau
des Domfortsatzes des letzten HalsAvirbels aufhört. Bei der Bron¬
chialdrüsentuberkulose hört man den bronchialen Beiklang in
dem zwischen dem siebenten HalsAvirbel und vierten bis fünften
BmstAvirbel gelegenen Raum. Bei direkter Auskultation mit dem
Ohr hört man neben der Bronchophonie auch den Amrstärkten
Stimmfremitus. Bei Auskultation der leisen Stimme hört man
einen charakteristischen Flüsterklang. Die Bronchophonie ist d<as
früheste und oft das einzige Zeichen der Bronchialdrüsentuber¬
kulose, in einer Reihe von Fällen findet man auch VeränderungeiL
des Perkussionsschalles, speziell Dämpfung im Gebiete der Dorn-
fortsätze der oberen BrustAvirbel. Dämpfung im Gebiete eines
Supraklavikülargelenkes oder des Manubrium sterni, sowie ein
Venennetz in der oberen vorderen Thoraxregion Aveisen auf Tuber¬
kulose der retrosternalen Drüsen hin. Bronchialatmen entlang
der Wirbelsäule tritt erst bei Aveit Amrgeschrittener Bronchial¬
drüsentuberkulose auf. Die latente Form der Bronchialdrüsen-
tuberkulose ohne begleitende Lungenveränderungen ist Aveit
häufiger, als aus dem Ergebnis der Autopsien entnommen Averden
kann. Die latente Bronchialdmsentuberkulose findet sich auch
häufig in Fällen A’on chirurgischer Tuberkulose, anderseits gibt
es auch Fälle, wo das Allgemeinbefinden in keiner Weise beein¬
trächtigt erscheint. In Fällen, die mit Abmagerung und .Vnäniie
einhergehen, Avirkt das Meeresklima sehr günstig auf das All¬
gemeinbefinden, ohne daß die physikalischen Symptome zum Ver-
scliAvinden kommen. Immerhin ist in nahezu der Hälfte der
Fälle vollständige Heilung erreichbar. Durch begleitende Lungen¬
tuberkulose, sowie Säuglings'alter, wird die Prognose der Bronchial¬
drüsen tuberkulöse getrübt. — (Bull, de l’Acad. de Med. 1907,
Nr. 5.) a. e,
*
260. (Aus dem patliologisch-anatoniischen Iiisdtute des Hof¬
rates A. Weich sei bäum in Wien). Der Einfluß der
Schwangerschaft auf die Tuberkulose der Respira¬
tionsorgane. Eine tierexperimentelle Studie von Dr. Edmund
Herrmann und Dr. Rudolf Hartl. Die in großer Zahl von
den Verfassern vorgenommenen Inhalationsinfektionsversuche bei
graviden und nicht graviden Meerschweinchen mit Tüberkcl-
bazillen bestätigen die klinische Erfahrung des ungünstigen Ein¬
flusses der GraA’idität auf den Verlauf der Lungentuberkulose.
Nach der Lebensdauer beurteilt, Avar die Tuberkulose der Re¬
spirationsorgane durch die ScliAvangerschaft beeinflußt in 71-2'’, 'o
der Tiere u. zav. war das Leben abgekürzt in 73-8 % dieser Fälle
und verlängert in 26-2%. Die Beeinflussung des anatomischen
Prozesses manifestierte sich in einem rascheren Wachstum der
Knoten, in einer früher eintretenden und rascher Amr sich gehenden
Verkäsung, einer rascheren Ausbildung Amn Bronchiektasien und
einer raschen Zunahme der Crröße der Bronchiektasien. Bezüg¬
lich der Generalisation ließi sich ein erheblicher Unterschied bei
trächfigen und nicht trächtigen Tieren nicht auffinden. Dies hängt
wahrscheinlich mit den verhältnismäßig hohen Dosen des In¬
fektionsmateriales zusammen. Den wichtigsten Einflußi der Gra¬
vidität erblicken die Veriasser .wohl mit Recht in der rascher
auftretendeii und fortschreitenden Verkäsung. — (Zeitschrift für
Hygiene und Infektionskrankheiten 1907, Bd. 56.) J. S.
*
261. (Ans der medizinischen Abteilung des slädtischeii
Krankenhauses in Karlsruhe.) Ueber intravenöse Stro¬
phanthintherapie. Von Prof. Dr. Starck. Auf dem Kon¬
gresse für innere Medizin 1906 hat A. Fränkel über seine
glänzenden Erfolge bei Ainvendung AU)n Strophanthininjeklionen
berichiet. Er injizierte 1 enU der Stammlösung (l :1000) ~ 1 mg
der Substanz. Bei 50 fn,jektionen an 25 Kranken trat schon
nach einer einzigen Einspritzung volle DigitalisAvirknng nach
Avenigen Minuten ein; voller, regehnäßiger und langsamer Puls',
ScliAvinden der Stauungserscheinungen in überraschend kiirzei'
Zeit. Einige (Male auch unangenehme Nebenerscheinungen (Fröste,
Temperatursteigerungen), die aber bei der Reduklion der Dosis
Amn 1 mg auf V4 mg aUsblieben. Mendel beslritt in einer späler
erschienenen Arbeit die dem Strophanthin zugesiu’ochene Wir¬
kung (ini ganzen fünf Injeklionen), Avährend R. von den Velden
alle Angaben Frä.nkels über die Wirksamkeit des Strojihan-
thins auf Grund amah 30 Injektionen A'ollkominen besläligle. Fröste,
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
6
Fieber und Erbrechen hat er nicht beobachtet. Er kombinierte
auch das iMittel mit Kampfer und Koffein, die er vor o(tcr nach
Strophantliin subkutan injizierte. - Nach Fränkel ist das Stro-
plianthin nur bei ])edroliendem Grade von llerzinsutfizienz in¬
diziert, wo es lebensretlend zu wirken verspricht, dann aber
auch in solchen Fällen von chronischer Ilerzinsuftizienz zu ver¬
suchen, wo die interne Therapie versagt oder Magenslörungen
ilire Anwendung unmöglich machen. Verf. seihst teilt im Aus¬
zuge sieben Krankenge^scbichten mit, sagt aber, daßi er doppelt
so viele Fälle mit Strophanthin behandelt habe. Fnangenehmc
Nebenwirkungen hat er niemals beobachtet. Es handelte sich
um akute und um chronische Herzstörungen (akute Endokarditis
und Perikarditis, akute Perikarditis mit stenokardischen Antällen,
Pleuro-Mediastinoperikarditis mit hochgradiger Herzschwäche, Ar¬
teriosklerose und chronische Myokarditis, chronische Myokarditis
und schwere Nephritis, dann um schwere Sepsis). Die Strophan¬
thininjektion wurde nach Bedarf wiederholt, in -einem Falle wur¬
den neun Injektionen in acht Wochen gemacht. Ein Mißerfolg
war nur in dem Falle schwerer Sepsis zu konstatieren, Exitus am
folgenden Tage. Anfangs wurde nur % mg, dann Vr mg, zuletzt
nur noch 1 mg und selbst 1-25 mg injiziert. Auch eine kumu¬
lierende Wirkung wurde nicht beobachtet, wiewohl in einem
Falle (Polyarthritis rheumatica. Endo- und Perikarditis) an drei
aufeinander folgenden Tagen 0-60, 0-80 und ()-85 mg, zusammen
2-25 rag injiziert wurden. Fränkel hat als Maximaldosis trag
angegeben. Im übrigen bestätigt Starck die Angaben Fran¬
kels. Nach der Strophanthininjeklion wurde der Puls regel¬
mäßig, langsam und voll, auch hart und gespannt in einem Falle
von Herzschwäche bei Nephritis. An Herz und Puls läßt sich
bald nach der Injektion ilie gesteigerte Kraft der Ventrikelsyslole
erkennen, die meist, wenn auch nicht immer, in einem gestei¬
gerten Blutdrucke zum xAusdrucke kommt. Die Atmung wird
besser, die mit Blut überladene Lunge (Fall von Lungenödem)
wird frei. Strophanthin wirkt ferner diuretisch, die Wirkung tritt
gleichfalls rasch ein und ist nachhaltig. Schließilich wirkt Stro¬
phanthin auch sedativ auf das Nervensystem, also beruhigend
und schlaferzeugend. Der Erfolg war in den Fällen akuter Herz¬
schwäche und Perikarditis geringer als bei chronischen Myokardi¬
tiden. Hinsichtlich der Raschheit uml Stärke der Wirkung über-
irifft das in intravenöser Injektion verabreichte Strophanthin alle
anderen Herztonika weitaus. — Deutsche medizinische Wochen¬
schrift 1907, Nr. 12.)
*
E. F.
2()2. Aus dem pathologischen Institut in Leipzig (Direktor:
G(‘h. Kat Marc hand), lieber Zystizerken im vierten
Ventrikel, als Ursache plötzlicher Todesfälle. Von
Dr. Max Verse, ersten anatomischen Assistenten am Institut.
Verf. hatte im. Jahre 1906 Gelegenheit, zwei einschlägige Fälle
zu sezieren. Der erste betraf eine 26jährige Frau, die im Juni
wegen Hyperemesis gravidarum in die Leipziger Iraüenklinik
eingeliefert wurde. Nach drei Tagen, während welcher sich die
Patientin, abgesehen von Kopfschmerzen, relativ wohl befand,
starb sie ganz plötzlich. Die vom Verfasser vorgenommene Sektion
des Gehirnes ergab enorme Erweiterung der Seitenvenlrikel ; sie
enthielten 150 cm'’’ klarer Flüssigkeit. Bei der Eröffnung des
vierten Ventrikels lag ein zusanimengefaltetes, weißliches, leicht
gelblich gefärbtes, ca. 1 cm langes Gebilde frei vor dem Foramen
Magendii. I_^elzferes war durch eine mächtige Ei>endymwucherung
abgeschlossmi. Das im Ventrikel frei liegende Gebilde erwies
sich als eine abgestorbene, zusammengefallene Zystizerkusblase,
von der kleine Teilchen sich abgelöst hatten und vom Ependym
umwucliert woi'den waren. Die zweite Patientin, eine 45jährige
Frau, wurde wegen Magenbeschwerden am 15. November 1906
auf die Curschinannsche Klinik aufgenommen. Seit sechs
Wochen heftiges Erbrechen aller Speisen, schon das i\ufri(dden
im Bette verursachte Brechreiz. Dazu Schwindelanlälle, Kopf¬
schmerzen, welche zeitweise äußerst heftig waren. Am 19. No-
vimiber trat ganz unerwartet, als die Patientin si(di zum Whischen
aufrichtete, der Tod ein, sie sank einfach, ohne jede Agonie, tot
zurück. Auch hier ergab die Sektion starke Erweiterung der
Ventrikel und des Arruäduktes, <las Septum lucidum in^ deji
hinteren Abschnitten defekt. Im dritten, vor allem aber im vierteil
Ventrikel war eine mächtige Ependym Wucherung, die mit dem
Dache der Rautengrube in Verbindung trat. Hier lag frei ein
hakenförmig gekrümmtes, gelblichweißlich gefärbtes, zusammeu-
gofaltetes Gebilde von ungefähr 1 cm Länge, eine zusammenge-
i'allcn'e Zystizerkusblase. Es handelt sich- also in iKuden Eällen
um abgestorbene, freie Zystizerken im vierten Vcmirikel. ihnin
letzten Falle noch außerdem ein obsoleter Farasit in den weichen
Häuten des Okzipitallappens. In beiden Fällen war der Tod
ganz plötzlich eingetreten; dies imdl nach Verf. auf Rechnung
des Hydrozephalus gesetzt weiden. Marchand hält den Hydro¬
zephalus hei Zystizerken im vierten Ventrikel für einen Stauungs¬
hydrozephalus, der auf eine Erschwerung des Abflusses des Litpior
cerebrospinalis in den Subarachnoidalraum des Rückenmarkes
zurückzuführen sei. Die Ependyniwucherung ist wie beim idio¬
pathischen Hydrozephalus eine sekundäre Erscheinung. Sa to und
Henneberg sehen in der chronischen Ependymitis das wich¬
tigste ätiologische Moment für die Entstehung des Hydrozephalus.
Darauf will auch Sato den plötzlichen Tod zurückführen. H(>nne-
berg dagegen erblickt den Giund des plötzlichen Todes in einem
plötzlichen Versagen der in der Medulla oblongata liegenden
Zentren. Die Erklärung wird nach Ansicht des Verfassers der
Tatsache zu wenig gerecht, daß gerade beim Vorkommen von
Zystizerken im vierten Ventrikel der plötzliche Tod sehr häid'ig
beobachtet wird, was doch nur eine Erklärung in der besonderen
Lage der Parasiten finden kann. Offenbar wird dadurch der
Abfluß behindert, bei jungen Zystizerken durch einen mehr oder
Aveniger schnell eintretenden Verschluß, bei älteren durch die
in der Nähe der Blasen besonders stark auftretendo Ependym-
wucherung, welche die AbflußAvegc aufhebt. Individuen, welche
Zystizerken im vierten Ventrikel haben, sind jedenfalls sehr labil
gegen jede intrakranielle Drucksteigerung, da in der Nachbar¬
schaft die lebenswichtigen Zentren liegen. Schon Lageverände-
lungen des Kopfes, namentlich wenn sie schnell erfolgen, können
von den deletärsten Folgen begleitet sein, wie der zweite mit¬
geteilte Fall zeigt, in dem die Kranke nach dem Aufrichten im
Bette tot umsank. Es bedarf nach Verf. nur eines geringfügigen
Anlasses, um das durch den chronischen Druck schon vorher
geschädigte Atemzenlrum außer Funktion zu setzen. — (Mün¬
chener mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 11.) . G.
*
263. U e 1) e r die lange Haltbarkeit des Infektions¬
virus bei bestimmten Fällen von Scharlach. Von
H. Poole-Berry, Grantham. Gelegentlich einer Epidemie im
vergangenen Jahre, welche sich auf 331 Fälle erstreckte, konnte
Poole-Berry in seine]’ Eigenschaft als beamteter Arzt ein auf¬
fälliges Haften des Scharlachviras an Individuen, die Scharlach
überstanden hatten, beobachten. Verf. zählt 19 Fälle auf, die
nach völliger AViederherstellung und Desinfektion Veranlassung
zu 28 Fällen von Infektion gaben. Verf. glaubt nicht, daß es sich
bei diesen 28 Fällen um eine unabhängige Infektion handelt.
Die Fälle betrafen Geschwister. Er glaubt, daß die von Scharlach
genesfrnen lndi\dducn das infektiöse Virus vielleicht in den
Nasengängen hennUtraigen. Auf Grund einer ISj’ährigen epide¬
miologischen Erfahiung nimmt Poole-Berry an, daß die größere
oder geringere Tenazität des Giftes vom Charakter der einzelnen
Epidemie abhängt. Beachtenswert und für die Bedeutung sach¬
gemäßer Pflege sprechend ist die Beobachtung, daß von 214 im
Spital behandelten, zum Teil schwer komplizierten Fälleii kein
einziger starb, während von 114 häuslich behandelten drei letul
endigten. (Letztere Beobachtung würde die Richtigkeit dei
Argumei^tation des Verfassers vorausgesetzt dafür sprechen,
daß die Lelalilät einer Scharlachepidemie nicht mit der Größe
der Tenazität ihres Virus parallel zu gehen brauchl. Ref.) —
(Lancet, 12. Januar 1907.) J- Sch.
*
264. Nierentu herkulose uJid arterielle Hypo¬
tension. Ein d i 1 f e r e n t i a 1 d i a g n 0 s I i s c h e s S y m j) t o m .
Von Dr. Karl Reitter, Wien. Ein Fall von Nierenerkrankung,
der das Bild einer chronisch-parenchymatösen Nephritis bot, sicli
jedoch später als Nierentuberknlose erwies und bei dein av ährend
der ganzc'n Zeit der Beobachtung der ai'lA'i'udle Bluldtuck auf¬
fallend niedrig war, vei'anlaßile den Verfasser, das V^erhalten des
systolischen Blutdruckes bei Tnlnukulose der Niei'on Aveiler zu
' verfolgen. Die Tatsache, daß der arterielle Blutdruck bei Lungen-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
tuberkulöse erniedrigt ist, worauf schon Waldenburg, Marfan
und andere liingeAviesen haben, inachie es walirsclieinlicii, daß
ein älinliches Verhallen auch hei vorgcscliritlener Tu])erkulose
anderer Organe bestelle. An zehn Fällen von Nieren tnherkulose
konirle Dr. Rcitter festslellen, daß^ der arterielle Druck stark
vernhnderL ivar, mit Ausnahme jener, in denen eine andersartige
Erkrankung als Komplikation eine Erhöhung des Druckes verur¬
sachte. KontrollunlersUchungen an Fällen von at uherkulösen
Pyurien ergaben stets das Fehlen von Blutdrucksenkung. Der
Autor faßt das Reshltat seiner Arbeit dahin zusammen, daß er
sagt: ,, Einen Hinweis darauf, in welchen Fällen von Nieren¬
erkrankungen wir es keinesfalls unterlassen sollen, auf die Mög¬
lichkeit der Nierentuberkulose zu achten uml das Ilarnsediment
auf Tuberkelhazillen zu untei'suchen, gibt uns die arterielle Hypo¬
tonie. Darin liegt ihre praktische Bedeutung.“ — (Zeitschrift
für klinische IMedizin, Bd. 62.) Pi.
*
26Ö. Bemerkungen über ein. neues Syinjitom der
Ischias; die k o n t r a 1 a tc r a 1 h e r v o r g e r u f e n e Schmerz¬
haftigkeit. Von Moutard-Martin und Par tarier. Das
Symptom wird durch mit der gesunden Extremität vorgenommene
Bewegungen an der kranken Extremität horvorgerufen. Der Patient
wird in Rückenlage mit flachliegendem Kopf gebracht und der
gesunde Oberschenkel allmählich gegen das Becken gebeugt, in
einem bestimmten Augenblick tritt bei immobilisiertem Becken
ein sehr lebhafter Schmerz in der Glutäalgegend der erkrankten
Seite auf. Das Phänomen tritt rascher ein, wenn man das ge-
sumle Bein im gestreckten Zustand gegen das Becken beugt.
Man kann die Erscheinung als kontralateral hervorgerufeno
Schmerzhaftigkeit bezeichnen. Der Schmerz tritt am Valleix-
sclien Glutäalpunkt oder, was häufiger der Fall ist, an der Aus¬
trittsstelle des Ischiadikus auf. Der gleiche Schmerz tritt auch
dann auf, wenn man die erkrankte Extremität gegen das Becken
beugt u. zw. hei einem geringeren Grade der Beugung, als wenn
man den Schmerz von der gesunden Seite her auslösen will. Der
kontralateral hervorgerufene Schmerz findet sich sowohl bei der
neuralgischen, als auch bei der neuritischen Form der Ischias.
Das Phänomen tritt sowohl hei ganz frischen, als auch bei
bereits längere Zeit bestehenden Ej'krankungen auf und läßt sich
sofort hei der ersten Untersuchung nachweisen. AVenn auch im
ganzen fünf Beobachtungen vorliegcn, so spiicht die Konstanz
und Deutlielrkeit der Erscheinung für ihre diagnostische Wichtig¬
keit. Arthritis sowie doppelseitige Affektion des Ischiadikus konnte
mit Sicherheit in allen Fällen ausgeschlossen werden. Eine Er¬
klärung der Erscheinung, welche genügend begründet ist, kann
vorläufig nicht gegeben werden, iedenfalls läßt sich aber die
Dehnung des Neiwen als Ursache des geschilderten Phänomens
ausschließen. • — (Bidl. et Mein, de la Soc. med. des Hop. de
Paris 1907, Nr. 3.) a. e.
266. Untersuchungen über die erblich belaste¬
ten Geisteskranken. Von Geh. Med.-Rat Dr. Tigges in
Düsseldorf. In der vorliegenden Arbeit finden sich einige Unter¬
suchungen über die Erblichkeit nach Geisteskrankheiten, unter
Zugrundelegung einer Reihe von Anstaltsberichten mitgeteilt; die
Untersuchungen erstrecken sich auf den Prozentsatz der erblich
Belasteten nach Krankheitsformen und Geschlecht, auf die Stufen
der Erblichkeit je nach väterlicher oder mütterlicher Ahstammung
an und für sich und nach Geschlechtern, endlich auf die Gesamt¬
zahl der erkrankten Kinder je nach direkter väterlicher oder
mütterlicher Abstammung bei Geisteskrankheit der Eltern. Die
Einteilung der Geistesstörungen in verschiedene Formen und
die Anlage der Tabellen, erfolgte nach <len Vorschlägen des Ver¬
eines deutscher Irrenärzte vom Jahre 1874. — (Allgemeine Zeit¬
schrift für Psychiatrie und j)sychiatrisch- gerichtliche Medizin
Dd. 64, Heft 1.) S.
♦
267. Zur Behandlung des Tetanus. Von Prof. Til-
mann in Köln. Ein vier Jahre altes Kind erlitt einen Iluftritl
von einem ITerde in die rechte Ellbogenbeuge, Nach drei Tagen
wurde es in die chirurgische Abteilung der dortigen Akademie
eingeliefert. Man fand (langrän des Unlerai'mes und ampulierle
sofort am Gberanne. Nach weiteren zwei Tagen, also fünf l'age
nach statigehabter Vindetzung, die ersten Jetanussymptome. Es
wurde dem Kinde Morphium subkutan (5 mg) und Chloral, i)er
Klysma 10 g, weiters 100 Antitoxineiidieiten intradural, nach
Lumhalpunktion gereicht. Abends nochmals 100 Antitoxineinheilcn
intrahmibal, keine Besserung. Am dritten Tage Exitus unter Atem¬
lähmung. Die Obduktion ergab keinen abnormen Befund. Da
keine sonstige Verletzung vorlag, muß man wohl annehmen, daß
der lluftiitt in der Ellbogenbeuge die Gangrän und die Tetanus-
infeklion bedingte. Eine IVundinfeklion ist ausgeschlossen. Der
Fall lehrt vorerst, daß man. sich von der Amputation bei Tetanus
keinen allzugroßen Erfolg verspreeben darf. Hier wurde zwei
Tage vor dem Auftreten der allerefsten .Symptome operiert; wie
.sollte eine erst später ausgeführte Amputation nützen? Auch in
anderen Fällen (Berlin, Greifswald und Köln) hat JMlmann
von der Amputation keinen sicheren Einfluß' auf den Tetanus¬
verlauf feststellen können, ln pathogenetischer Hinsicht ist der
Fall von böchistem Interesse. Die Bazillen, welche in der in¬
fektionsstelle saßen, bildeten in den ersten drei Tagen nach der
V^erletzung so viel Toxin, daß dieses trotz Beseitigung der In¬
fektionsquelle, nach Aveiteren zwei Tagen Tetanus hervorrief. Den;
Verfasser eröidert die Theorien, Avelche zur Erklärung dieser Er¬
scheinung herangezogen werden könnten, hält dafür, daß das
Gift entlang den peripherischen Nerven oder in den Neiamn
selbst den Ganglimizellen des Rückenmarkes zugeführt A\drd und
daselbst eine Reizung hervorruft (B runner- Gold scheide r).
MM.hrend der ersten drei Tage Avurde in diesem Falle also in
der AVunde JMxin gebildet, es gelangte zu den Rückenmarks¬
zentren; 'Cs nützte nichts, als man sodann den weiteren Nach¬
schul) unmöglich machte; am fünften Tage, als das nötige Quantum,
zugeführt Avar, entstand der Tetanus. In Köln hat Verf. drei
Erkrankungen, die am sechsten, achten und zehnten Tage nach
der AMrletzung auftraten, ebenfalls völlig resultatlos mit Anti¬
toxineinspritzungen behandelt, a^ Behring empfiehlt darum, die
gefährdeten Rückenmarkszentrcn durch Sperrung der zuführen¬
den Nerven jnit Antitoxin vor dem Tetanusgift zu schützen.
Ebenso IMeyer und Bans on. Verf. veiweist auf den bekannten
Fall von Küster, soAvie auf eine eigene Beobachtung. Zehn
Tage nach einer Verletzung trat ein inittelschAA-erer Tetanus auf,
der sich auf die Kopf-, Hals- und Rumpfmuskulatur beschränkte.
Anfangs rasche Entwicklung, nach Injektion von 280 Antitoxin¬
einheiten intralumbal und in die beiden Ner\a ischiadici blieb
die Aveitere. Ausbildung des Tetanus stehen. Nebenbei bekam
der Kranke ZAveistündlich 0 01 Morphium und 1-0 Chloralhydrat.
In acht Jkagen Heilung. Im allgemeinen hat Tilmann die Er¬
fahrung, daß die früh einsetzenden Fälle, etAva bis zum sechsten
Tage, fast alle letal enden, während die zwischen dem sechsten
und zehnten Tage einsetzenden je nach der Schnelligkeit der
Entwicklung der Tetanussymptome letal endeten oder in Ge¬
nesung übergingen. Schließlich spricht sich Tilmann auch gegen
die prophylaktischen Antitoxinieinspritzungen bei Tetanus aus.
— (Deutsche mediz. Wochenschr. 1907, Nr. 14.) E. F.
=f:.
268. Die intratumorale Bestrahlung der Krel)s-
geschwülste als Fortschritt der Radiotherapie. Von
Dr. med. H. Strobel, München. Es ist dem Verfasser seit zirka
einem Jahre gelungen, die Röntgenstrahlen intratumoral zu appli¬
zieren, indem er die Strahlenquelle selbst in die GeschAAUdst
hinein verlegte. Durch neu konstimierte Röhren läßt Verf. die
Kathodenstrahlen direkt auf die Glaswand an einer bestimmlen
Stelle fallen, diese dadurch zum Ausschicken von Röntgenstrahlen
veranlassend. Gegenüber der Katbode ist die GlasAvand zu einem
spitz zulaufenden Robre ausgezogen, auf dessen Ende die Katho-
denstrahlen fallen und es so zum Leuchten bringen. Die von
dieser ,, Glasantikathode“ ausgehenden Strahlen gehen nach allen
Richtungen auseinander. Bei einei’ anderen Konstruktion ist in
der Spitze eine kleine Platinantikathode angebracht, Avobei nur
eine halbkugelige Zerstreuung der Röntgenstrahlen erreicht Avird.
Dieses Rohr Avird zur ,, subkutanen Ai)plikationsweise“ für ober-
flächlich unter der Haut gelegene kleine Tumoren Ami'Avendet.
Bei der intraiumoralen Applikation Avird unter Adrenalinschleich-
iii filtration ein ZAveischneidiges ]\Iesser senkrecht oder in anderer
Richtung in den Tumor eingestochen, nachdem ma,n vorher die
eventuell noch intakte Haut beiseite gezogen hat, damit sie dann
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
einen gulen Versehluß (kn- EinslieüüH'nung bildet. Diircli den in
den Tumor lülirenden Slitddmnal sebiebt man das diiixdi Formalin
mit nachfolgender Alkoliolabspülung desinfizierte Hestrahlung's-
rohr ein, spannt dasselbe in ein Stativ und führt nun die Be¬
strahlung durch. Bas Adrenalin sowohl als auch der Druck durch
das Rohr schaffen eine bedeutende Blutleere, die eine beträcht¬
liche x\bsorption der Strahlung ansschaltet. Die von der Spitze
des Rohres ansgehende Strahlung wirkt nach allen Richtungen
des Raumes, mit Ausnahme der des Rohrquersclmittes, so daß
die Geschwulst von innen heraus in toto bestrahlt wird. Um das
Rohr zu schonen und starke Erhitzung zu vermeiden, wendet man
relativ schwache Ströme an. Das strömende Blut im umgebenden
Gewebe sorgt auch für Abkühlung des Rohres. Bei stärkerer Be¬
strahlung bildet sich ein nekrotischer Zylinder im Gewebe, speziell
bei Verwendung eines weichen Rohres. Manchmal müssen mehrere
Oeffnungen für das Rohr angelegt werden. Bei kleinen Drüsen¬
tumoren macht man nur einen Schnitt (.lurch die Flaut und schiebt
das für „subkutane Bestrahlung“ konstruierte Rohr durch den-
selbe]i so ein, daß die nur nach einer Seite wirkende Strahlung
die Drüse trifft, die Flaut aber geschont bleibt. Der Erfolg mit
dieser Methode tritt viel rascher auf als bei der lokalen Bestrah¬
lung. Verf. spiicht zum Schlüsse noch die Ueberzeugung aus,
daß sich der Effekt einer Röntgenbestrahlung auf kai'zinomatöses
Gewebe dadurch steigern ließe, daß man die Bestrahlungen nicht
allein auf den Tümor und seine Grenzen beschränkt, sondern
größere Körperteile mitbestrahlt, in der Annahme, daß die da¬
durch ausgelösten hämolytischen Vorgänge in ihrer Rückwirkung
sich zu den Effekten der lokalen Bestrahlung des Tumors hinzn-
addieren möchten. Er ginge sogar noch weiter und möchte die
Hämolyse durch innere und äußere Applikation von chlorsaurem
Kali unterstützen (nach dem Vorgänge von Lomer, Burow,
Charcot u. a.), um die Arbeit der Röntgenstrahlen von außen
her kräftig zu unterstützen. — (Münchener medizinische Wochen¬
schrift 1907, Nr. 11.)
*
269. Beiträge zur Kenntnis und Kasuistik der
Pseudologia phantastica. Von Anna Stemme rmanii;
ehemalige Assistentin an der Bremischen Slaatsirrenanstalt ,, Sankt
Jürgen - Asyl“, Ellen bei Bremen. Die Verfasserin bringt in der
vorliegenden Arbeit eine Reihe von klassischen Fallen \on 1 seu
dologie, Fälle, die an und für sich Raritäten repräsentieren, deren
Veröffentlichung übrigens aber auch kleswegen verdienstvoll ist,
weil manche zurzeit noch bezüglich der Pseudologia phantastica
bestehende Fragen nur auf Grund eines großen kasuistischen
Materiales ihre Lösung finden können. Anna Stemmermann
will dieser ersten eine zweite Arbeit folgen lassen, in der die
praktisch so wichtigen „Formes frastes“ Erörterung und dann
die Pseudologie- und die ihr verwandten Erscheinungen Be¬
sprechung finden sollen. — ■ (Allgemeine Zeitschrift für Psychia^tiie
und psychisch-gerichtliche Medizin, Band 64, Heft 1.) b.
*
270. Enteritis und Appendizitis. Von Geh. Med.-Rat
Prof. Dr. E. Sonnenburg in Berlin. Aerzte und Publikum
befinden sich jetzt in fortwährender Angst vor einer x\ppen-
dizitis, die Aerzte meiden ängstlich jedes Abführmittel, wenn
sie zu einem Kranken mit plötzlich einsetzenden Leibschmerzen
gerufen werden, weil sie fürchten, es mit einer akuten Apimn-
dizitis zu tun zu haben. So kommt es, daß selbst bei infektiöser
Enteritis die Entleerung des Darmes unterbleibt, ja sogar, wenn
die Erscheinungen stürmischer werden (Schmerzen und Üruck-
empfindlichkeit in der Ileocökalgegend, hohes Fieber, rascher Puls,
vielleicht zu Beginn ein Schüttelfrost) operativ vorgegangen wird,
ohne daß eine Appendizitis vorläge. In differentialdiagnostischer
Hinsicht ist zu envähnen, daß bei einer Gastroenteritis nach
Infektionen (Influenza — Darmkatarrh) die Le ukozy tose ver-
hältnismäßig niedrig bleibt. Aber auch, wenn die Dia¬
gnose zwischen Gastroenteritis und Appendizitis schwierig wäre
sollte man den Darm durch ein Abführmittel (einen Eßlöffel
Rizinusöl) entlasten; sollte sich dabei Verachlechterung zeigen,
so wäre die Oporalion sofort auszuführen. In sehr vielen Fallen,
So line 11 bürg berichtet über neun eigene Beobachtungen von
katarrhalischen Eiilzünduiigen oder Empyemen des Wurmfort¬
satzes, die ohne Uperation genasen, oder erst später im fieber¬
freien liilervaile oiieiiert wurden, sodann ülier einen Fall von
schwerer Enteritis, der als Fall von Appendizitis von anderer
■ Seile unnötig operiert wurde, wird man also mit Rizinusöl nicht
schaden, vielmehr nützen. Es hlcibt freilich dann noch immer
eine große Anzahl von Fällen übrig, bei welchen eine akute
xFppendizitis mit schweren allgemeinen und örtliidien Erschei¬
nungen oinselzt, daß man lieber sofort zum Messer greifen wird.
x4uch andere (Tiirurgen (Dieulafoy, Siegel, Debray) sprechen
sich neuestens in diesem Sinne aus. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1907, Nr. 14.) Fx. F.
V^ermisehte l^aehriehten.
Ernannt: Dr. D e n u c e zum Professor der Orthopädie
in Bordeaux.
*
Verliehen: Dem a. o. Professor für Augenheilkunde
an der deutschen Universität in Prag Dr. Adolf Schenkl der
Titel und Charakter eines ordentlichen Universitätsprofessors.
— Dem Augenarzt Dr. G. Weill in Straßburg der Professortitel.
Habilitiert: Dr. Siegfried Franz Groß für Dermatologie
und Syphilis in Wien. — Dr. Hans E pp in ge r für innere Me¬
dizin in Graz. — In Berlin: Dr. Leo Längstem für
Kinderheilkunde, Stabsarzt Dr. August Hildebrandt für
Chirurgie und Dr. Leo Mohr für innere Medizin. • — Dr. Knapp
für Psychiatrie und Neurologie in Göttingen. — Dr. H e y e r d ah 1
in Kopenhagen für innere Medizin.
Gestorben: Der Professor der Gynäkologie an der Uni¬
versität zu Krakau, Hofrat Dr. Heinrich Jordan. — Dr. Josef
Schrank, k. k. Polizei-Oberbezirksarzt in tVien. — - Professor
Dr. V. Jürgen sen, Vorstand der medizinischen Poliklinik und
Ordinarius für Arzneimittellehre in Tübingen.
*
In der Sitzung des niederösterreichischen
Landessanitätsrates vom 6. Mai 1. J. wurde an Stelle
des verstorbenen Regierungsrates Dr. Adalbert T i 1 k o w s k ^
Regierungsrat Universitätsprofessor Dr. Julius Mau timer zum
Vorsitzendenstellvertreter gewählt. Weiters wurden in der Sitzung
folgende Gutachten erstattet: 1. Ueber die Neuregelung der Vor¬
schriften für den Betrieb der Hausapotheken und Notapparate der
Aerzte; 2. über die Frage der A^erlegung der Hauptftjrien für die
Schüler in den Städten mit Mittelschulen; 3. über ein Ansuchen
um Verlegung einer Anstalt für Kaltwasserbehandlung in Wien.
«
Der Unterstützungsverein für Witwen und
Waisen der k. u. k. Militärärzte in Wien hielt am
4. Mai 1. J. seine diesjährige (41.) Generalversammlung ab. Der
Präsidentstellvertreter Generalstabsarzt Prof. Dr. Florian
K ratsch m er begrüßte die anwesenden Mitglieder und kon¬
statierte deren Beschlußfähigkeit. Aus dem vorliegenden Rechem
schaftsberichte ist zu entnehmen, daß das Vereinsvermögen sich
mit K 625.390-28 in Wertpapieren und K 9785-57 in barem Gelde
beziffert. In dem Genüsse der regelmäßigen Jahresbezüge stranden
200 Witwen und 3 Waisen, was einer Ausgabe von K 39.799)—
entspricht ; zeitliche Unterstützungen im Betrage von K 1040
wurden im verflossenen Jahre 22 Witwen zuteil. Ueber Antrag
der Rechnungsrevisoren, welche am 18. März 1. J. eine genaue
Skontrierung aller Kassadokuniente und Protokolle vorgenommen
und hiebei alles in bester Ordnung befunden haben, wurde dem
Verwaltungskomitee das Absolutorium erteilt. Weiters folgte die
Wahl mehrerer Funktionäre und ist der Ausschuß folgendermaßen
zusammengestellt : General-Oberstabsarzt Dr. Josef Ritt^ von
Uriel als Präsident, Generalstabsarzt Prof. Dr. Florian
Kratschmer als Präsidentstellvertreter, die Oberstabsärzte
I. Klasse Dr. Zdislaus Ritter v. J u c h n o w i c z - H o r d y n s k i
als Kassier, Dr. August Fikl, Dr. Franz Jaeggle, Dr Josef
Haas, Oberstabsarzt H. Klasse Prof. Dr. Robert Ritter v. Foply,
Stabsarzt Jaroslav H 1 a d i k, die Regimentsärzte 1. Klasse Doktor
Bertold Re der als Sekretär, Dr. Gustav P o 1 1 a k als Buch¬
führer, Dr. Anton Brosch, Dr. Alexander Jeney, Regiments¬
arzt H. Klasse Dr. Viktor Ruß.
*
Die Tuberkulose - Aerzte Versammlung findet
am 24 und 25. Mai in Berlin statt. Näliere Mil lei hingen
und Einladungen für interessierte Aerzte werden durch die Ge¬
schäftsstelle des Komitees, Berlin W. Eichhornstraße 9, ausgegeben.
*
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
Freie Stellen.
Tabakfabriksarztesstelle Ill. Kategorie bei der
k. k. Tabakfabrik in Joachimsthal (Röhraen). Jahreshonorar K 1600,
Fuhrenpauschale K 400. Konkurstermin 31. M a i 1907.
S t a d t a r z t e s s t e 1 1 e bei der Stadtgemeinde Livno (Bosnien).
Mil dieser Stelle ist ein Jahresgehalt von K 2400 verbunden, wofür der
Stadlarzt verpflichtet wird, den Stadtarmen die ärztliche Hilfe unent¬
geltlich zuteil werden zu lassen. Bewerber um diese Stelle haben nach¬
zuweisen: 1. Die österreichische oder ungarische Staatsangehörigkeit oder
die bosnische Landesangehörigkeit. 2. Den an einer österreichischen oder
ungarischen Universität erworbenen Grad eines Doktors der Medizin
und Chirurgie. 3. Eine mindestens zweijährige Spitalspraxis. 4. Die
Kenntnis der deutschen und irgend einer slawischen Sprache. Gesuche
sind bis Ende Mai bei der Stadtgemeindeamte Livno zu überreichen.
Landes-Sanitätsreferentenstellebei der k. k. mährischen
Statthalterei mit dem Range und den systemmäßigen Bezügen eines
Staatsbeamten der VI. Rangsklasse. Bewerber um diese Stelle* haben
ihre mit den erforderlichen Belegen versehenen Gesuche im Wege ihrer
Vorgesetzten Behörde bis 25. Mai I. J. beim k. k. Slatthallereipräsidium
in Brünn einzubringen.
Di s t r ik t s ar z t es s t e 11 e für den Sanilätsdistrikt Alttitschein-
Barnsdorf (Mähren) mit böhmischen Gemeinden, 4854 Einwohnern
und den Bezügen von K 1500 (Gehalt und Reisepauschale). Sitz des
Distriktsarztes in Alttitschein, derselbe ist zur Haltung einer Hausapo¬
theke verpflichtet, bezog bisher auch K 500 seitens der Bezirkskranken¬
kasse. Die im Sinne des § 31 des mährischen Landessanilälsgeselzes vom
10. Februar 1884, L. - G. - Bl. Nr. 28, belegten Gesuche sind bis
13. Juni 1. J, an den Obmann der Sanitätsdelegiertenversammlung Alois
Kiltrisch in Alttitschein einzusenden.
Gemeindearztesstelle in Pichl (Oberösterreich), poli¬
tischer Bezirk Wels, mit 2800 Einwohnern ab 1. Juni 1. J. zu besetzen.
Jährliche Bezüge K 1066, Haltung einer Hausapotheke nötig. Gesuche
sind an das Bürgermeisteramt (zuhanden des Obmannes der Sanitäts-
gemeindeveitretung) in Pichl zu richten.
Polizeiarztesstelle der IX. Rangsklasse (zweite Ge¬
haltsstufe) beim Stadtrate Graz (Steiermark). Gesuche sind bis Mittwoch
den 29. Mai 1907 um 12 Uhr mittags im Einreichungsprotokolle des
Bürgermeisteramtes Graz (Rathaus, II. Stock) zu überreichen.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel Enne-
berg (Tirol), welcher sämtliche Gemeinden des gleichnamigen Gerichts¬
bezirkes umfaßt, mit über 5000 Einwohnern und beträchtlichem Durch¬
zugsverkehr im Sommer. Jährliches Wartegeld K 2000 und freies Quartier.
Die Stelle kommt vorläufig provisorisch zur Besetzung. Bewerber um
diese Stelle, welche eine gute physische Konstitution verlangt, wollen
ihre Gesuche bis zum 1. Juni 1. J. bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft
Bruneck mit den entsprechenden Belegen einreichen.
Gemeindearztesstelle für den Sanitätssprengel Laas, Eyrs
und Tanas mit dem Wohnsitze des Arztes in Laas (Tirol) mit
l. Juni 1. J. zu besetzen. Gehalt K 1200. Der Gemeindearzt hat eine
Hausapotheke zu halten und den Sanitätsdienst in den genannten Ge¬
meinden im Sinne der Dienstesinstruklion für Gemeindeärzte in Tirol
auszuüben. Nähere Auskünfte erteilt die Gemeindevorstehung in Laas.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt Rossitz-
Zbeschau (politischer Bezirk Brünn), mit dem Sitze in Ros sitz
(Mähren). Der Sanitätsdistrikt umfaßt drei Gemeinden mit einem Flächen¬
ausmaße von zusammen 49'24 km^ und hat 6730 Einwohner, vorwiegend
böhmischer Nationalität. Der jährliche Gehalt des anzustellenden
Distriktsarztes beträgt K 673, das Pauschale, K 857, zusammen K 1530.
Kenntnis der böhmischen und deutschen Sprache in Wort Schrift wird
gefordert. Die Stelle wird vorläufig auf die Dauer eines Jahres
provisorisch besetzt. Die im Sinne des § 11 des Landessanitätsgesetzes vom
10. Februar 1884, L.-G.- und V.-Bl. Nr. 28, instruierten Gesuche sind
bis längstens 31. Mai an den Obmann der Sanitätsdelegation Martin
Zaloudek in Babitz, Eib. 1. P. Segen Gottes, einzubringen.
An die Redaktion gelangte Werke.
(Mit Vorbehalt weiterer Besprechung.)
Mering, Lehrbuch der inneren Medizin. 4. Aufl. Fischer, Jena.
M. 12-50.
Havelock Ellis, Die krankhaften Geschlechtsempfindungen auf
dissoziativer Grundlage. Deutsch von Dr. J e n t s c h. Stüber, Wüiz-
burg. M. 4-—.
Orlowski, Die Syphilis. Laienverständlich dargestellt. Der Tripper.
Ebenda, ä M. 0-90.
Jessner, Die ambulante Behandlung der Unterschenkelgeschwüre.
3. Aufl. Ebenda. M. 0 90.
Gurwitsch, Atlas und Grundriß der Embryologie. Lehmann
München. M. 12- — . ’
M. 2-40
Bier, Hyperämie als Heilmittel. V o g eJ, Leipzig. M. 12- — .
Schulz, Allgemeine Chemie der Eiweißsloffe. Enke, Stuttgart.
Berendes, Das Apolhekenwesen, seine Entstehung und geschicht¬
liche Entwicklung bis zum 20. Jahrhundert. Ebenda.
Binswanger und Siemerling, Lehrbuch der Psychiatrie. Bearbeitet
von A. Gramer, A. Hoche, A. Westphal, R. Wollenberg und
den beiden erstgenannten Herausgebern. 2. Aufl. Fischer, Jena. M. 5-50.
Levy-Bing, Le Microorganisme de la Syphilis. D o i n, Paris. Fr. 5-—.
Brunner, Tuberkulose, Aktinomykose, Syphilis des Magendarm¬
kanales. (Deutsche Chirurgie Nr. 46 e.) Enke, Stuttgart. M. 15' — .
Phar, Angst. Die Behandlung und Heilung nervöser Angstzustände.
Abel und Born, Leipzig. M. 3' — .
Eberstaller, Masern und Schule. S. A. d. Internat. Arch, f, Schul¬
hygiene. Engelmann, Leipzig.
Desguin, Nouveau moyen de contention des fractures obliques de
la jambe. S. A. Hayez, Brüssel.
Beck, Die Bildung und Zusammensetzung der Gallensteine nebst
einigen Gesichtspunkten des Röntgenverfahrens und deren Behandlung.
Breitkopf und Härtel, Leipzig. M. 075.
Freund H.W., Operation einer ausgetragenen Abdominalschwanger¬
schaft; Versenkung der Plazenta in die Bauchhöhle. Ebenda. M. 0-75.
Bofinger, Ueber die Diagnose der Cholelithiasis. Ebenda. M. 0-75.
Graul, Ueber den Diabetes mellitus und seine Behandlung. Stüber,
Würzburg. M. 0-75.
Schultze, Weitere psychiatrische Beobachtungen an Militär¬
gefangenen. Fischer, Jena. M. 3-—.
Hoffmann, Die Infektionskrankheiten und ihre Verhütung. Sammlung
Göschen, Leipzig. M. 0-80.
Bendix, . Lehrbuch der Kinderheilkunde. 5. Aufl. Urban und
Schwarzenberg, Wien. K 14-40.
Marcuse, Technik und Methodik der Hydro- und Thermotherapie.
Enke, Stuttgart. M. 3-60.
Bade, Die angeborene Hüftgelenksverrenkung. Enke, Stuttgart.
M. 12-—.
Wiesner, Die Wirkung des Sonnenlichtes auf pathogene Bakterien.
S. A. aus d. Arch. f. Hyg., Bd. 61.
Kalischer, Zur Funktion des Schläfelappens des Großhirns. S. A.
Sitz.-Ber. d. k. Akad. d. Wissensch.
Hofmeister, Der Gummidruck. M. 2- — .
Okinczyc, Traitement chirurgical du cancer du colon. Steinbeil,
Paris.
Kraepelin, Vocke und Lichtenberg, Der Alkoholismus in München.
Lehmann, München. M. 0-60.
Graff, Sonnenstrahlen als Heil- und Vorbeugungsmittel gegen
Tuberkulose. Winter, Heidelberg. M. 0*50.
Hübner, Moderne Syphilisforschungen. Barth, Leipzig. M. 0-20.
Herrmann, und Hartl, Einfluß der Schwangerschaft auf die
Tuberkulose der Respirationsorgane. S. A. Zeitschr. f. Ilyg. u. Inf.
Strasser, Ueber Neuronen und Neurofibrillen. Wyss, Bern. M. 080.
Ries, Neue Anschauungen über die Natur der Astrosphären, sowie
einiger Befruchtungs- und Teilungsvorgänge. Ebenda. M. 0-5t'.
Sahli, Ueber Tuberkulinbehandlung. 2. Aufl. S. A. aus Korrespbl.
f. Schweizer Aerzte. 1906. Schwabe, Leipzig. M. 0-80.
Fraenkel S., Deskriptive Biochemie mit besonderer Berücksichtigung
der chemischen Arbeitsmethoden. Bergmann, Wiesbaden. M. 17* — .
Orlowski, Die Schönheitspflege. Stüber, Würzburg. M. 1-80.
Salge, Therapeutisches Taschenbuch für die Kinderpraxis. 3. Aufl.
Fischer, Berlin. M. 3' — .
Rabe, Aerztliche Wirtschaftskunde. Dr. Klinkh ar d t, Berlin. M. 6' — .
Simon, Schule und Brot. Voss, Hamburg. M. 1- — .
Becker, Lehrbuch der ärztlichen Sachversländigentätigkeit für die
Unfall- und Invaliditätsversicherungs-Gesetzgebung. 5. Aufl. Scholtz,
Berlin. M. 14- — .
Bachmann, Neugalenismus, eine auf biologischen Anschauungen
aufgebaute Krankheitslehre. Gmelin, München. M. 0-75.
Sommer, Ueber elektrische Entladungen im luftverdünnten Raum.
(Geißlerlicht, Kathoden- und Kanalstrahlen.) Ebenda. M. 0-75.
Kauffmann, Die Hygiene des Auges im Privatleben. Ebenda. M. 0-60.
Neter, Muttersorgen und Mutterfreuden. Ebenda. M. 1 20.
Löffler, Taktik des Truppen-Sanitätsdienstes auf dem Schlachtfelde.
Mittler, Berlin. M. 2-50.
Capellmann, Pastoralmedizin. 15. Aufl. Schmidt, Aachen. M. 5 60.
Robert, Einiges aus dem zweiten Jahrhundert des Bestehens
der medizinischen Fakultät zu Rostock. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte
des Reformationszeitalters. Enke, Stuttgart. M. 2- — .
Gottschalk, Die Röntgentherapie nach ihrem heutigen Stande.
Ebenda. M. 1-20.
Winter, Lehrbuch der gynäkologischen Diagnostik. Unter Mitarbeit
von Prof. Rüge. 3. Aufl. Hirzel, Leipzig. M. 20- — .
Neusser v.. Ausgewählte Kapitel der klinischen Symptomatologie
und Diagnostik. 3. Heft. Dyspnoe und Cyanose. Braumüller, Wien.
Noorden, Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung. 4. Aufl.
Hirsch wald, Berlin.
Frey, Die Zinkgewinnung im oberschlesischen Industriebozirk und
ihre Hygiene. Hirschwald, Berlin.
Grünberg, Die blutsaugenden Dipteren. Fischer, Jena. M 4-50.
Kißkalt und M. Hartmann, Praktikum der Bakteriologie und
Protozoologie. Ebenda M. 5-50.
Barrucci, Die sexuelle Neurasthenie und ihre Beziehungen zu den
Krankheiten der Geschlechtsorgane. 2. Aufl. Deutsch von Dr. Wich mann,
Salle, Berlin. M. 3- — .
Schmidt G. C., Die Kathodenstrahlen. 2. Aufl. Vieweg, Braun¬
schweig. M. 3- — .
Tappeiner, Lehrbuch der Arzneimittel- und Arzneiverordnungs¬
lehre. 6. Aufl. Vogel, Leipzig. M. 7- — .
Piskaöek, Lehrbuch für Schülerinnen des Hebammenkurses. 4. Aufl.
Braumüller, Wien. K 7-20.
Finger, Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 1. Teil.
Die Hautkrankheiten. De u ticke, Wien. K 12- — .
Oppenheim und Cassirer, Die Enzephalitis. 2. Aufl. H öl der,
Wien, K. 5' — .
Nr. 21
WIENEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Yerhandlnngen ärztlicher desellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte iu Wien.
Sitzung vom 17, Mai 1907.
Verein für Psychiatrie und Neurologie iu Wien. Jahresversammlung
vom 14. Mai 1907.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden, vom 15. bis
18. April 1907.
3(). Kongreß der deutschen Gesellschaft für* Chirurgie zu Ilerlin.
3. Sitzungstag.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 17. Mai 1907.
Vorsitzender: Hofrat Prof. v. Ebner.
Schriftführer : Dr. Blau.
Hofrat Prof. v. Ebner dankt für die ihm durch di(^ Wahl
zum Vorsitzenden erwiesene Ehre.
Der Vorsitzende macht Mitteilung von dem Ableben dos
langjährigen Mitgliedes der Gesellschaft, k. k. Polizeioberbezirks¬
arztes Dr. Josef Schrank. Die Versammlung erhebt sich zum
Zeichen der Trauer von den Sitzen.
Dr. Leischner macht eine vorläufige Vlitteilung idier seine
im Laboratorium der I. chirurgischen Klinik ausgeführten Tier¬
versuche, die beweisen, daß Epithelkörperchen mit Erhaltung
ihrer Funktion 1 r a n s p 1 a n 1 i e r t werden können.
Er operierte zu diesem Zwecke mehr als 80 Tiere, von
denen aber ein Teil nicht verwertet werden konnte, weil viele
derselben die nötigen operaliven Eingriffe nicht üherstanden oder
vor Beendigung der Beobachtungszeit an interkurrenten Krank¬
heiten zugrunde gingen. Als Versuchstiere verwendele er Ratten.
Leider war eine vollständig isolierte Exstirpation der Glandulae
parathyreoideae wegen ihrer Lage im Seiteiirande der Schild-
driisenlappen ausgeschlossen und es mußte stels etwas Thyreoidea-
gewehe mit überpflanzt werden. Letzteres war aber nach den
mikroskopischen Befunden meist kaum größer als ein Epithel¬
körperchen und dürfte wohl keinen Einfluß auf die experimen¬
tellen Ergelinisse gehabt halien. Transplantiert wurde stets
zwischen Mnsculus rectus abdominis und Periioneum oder in
eine Rektustasche. Was die tctanisclien Erscheinungen anbe¬
langt, so stimmten dieselben vollkommen mit der Erd hoi iri¬
schen Beschreibung überein.
Da die größere Zahl seiner Versuchsreihen wegen der un¬
bedingt nötigen langen Beohachtuiigsdauer noch nicht abge¬
schlossen ist, will er jetzt nur eine Gruppe von Tierexperimenten
mittcilen, von der bereils auch histologische Befunde vorliegen.
Bei vier Ratten wurden die beiden Epithelkörperchen nach¬
einander, in einer Zwischenzeit von zehn Tagen bis einem
Älonat, in die Bauchdecken transplanlicrt und nach den einzelnen
Eingriffen konnten niemals an den Tieren tetanische Erschei¬
nungen wahrgenommen werden. AVurde dann, drei bis sechs
Wochen später, das die Epithelkörpei’chen enthaltende Bauch¬
wandstück exstirpiert, so trat stets am nächsten Tage Tetanie
geringeren oder stärkeren Grades auf, die mehrere Stunden bis
einige Tage manifest war.
Vier anderen Tieren transplantierte er beide Epithelkörper¬
chen zugleich in die Bauchwand. Am nächsten Tage zeigten t
sich derart tetanische Symptome, als ob die Glandulae pai’a-
thyreoideae ihnen vollständig entfernt worden wären. Diese Er¬
scheinungen hielten nur einige Zeit an und weiterhin waren
die Tiere mniiter. Wurde in drei bis vier Wochen die Trans-
plantationsstelle entfernt, so traten neuerliche telanische Anfälle
gleichen oder stärkeren Grades als das erstemal auf. _
Von diesen acht Ratten starben vier in der Zeit zwischen
dem zweiten und dritten Monat nach dem letzten Eingriffe unter
Zahnausfall und Ahmagoriing, wie cs Erdheim heschrichen,
zwei wurden mit angefrossenem Halse im Käfige tot vorgefiinden,
eine wurde frühzeitig getötet und eine lebt noch, da die Baucli-
wandexstirpation erst vor kurzem vorgeiiommen wurde.
Bei der in Serienschnitten vorgenommenen üntersuchnng
der Bauchwandstücke fand man die Epithelkörperchen slets ohne
liesondere Veränderungen eingeheilt.
Seine anderen Versuchsgruppen liefassen sich mit den
Fragen, oh die transplantierten Epithelkörperchen
dauernd funktionieren, oh f remde E pi thclkö rper-
c h e n derselben T i e r s p e z i e s lebensfähig verpflanzt
werden' können und oh damit die Folgen bereits be¬
stehender Tetanie hintanzuhalten sind.
Da er diese Versuchsgruppen für noch nicht abgeschlossen
erachtet, so will er nur erwähnen, daßi zwei Tiere mit in die
Baiichdocken transplantierten eigenen Epithclkörpendien seit fünf
Monaten vollständig gesund sind und mclirei'c Tiere .mit fremden,
artgleichen, ihnen einge]dlanz(en Glandulae parathyreoideae hei
zweimonatiger Beobachtung seit Entfernung der beiden eigenen
Epithelkörperchen keinerlei telanische Symptome darhielen.
Er berichtet weiters, daß zwei Tiere, denen er nach Trans¬
plantation der eigenen Epithelkörperchen die ganze Schilddrüse
entfernte, soweit dies makroskopisch möglich war, drei Monate
ohne Ausfallserscheinungen am Leben hlipben.
Die Schlüsse, die aus diesen Tierexperimenlen für die ])i'ak-
lische Chirurgie gezogen werden können, lauten dahin, man solle
besonders bei den schwierigen Kropf Operationen,
die für ein Z n r ii c k 1 a s s e n von genüge n d E p i t h e 1-
k örp e rc he ngew ehe nicht bürgen können, die exstir-
pierten S tru m en s 1 üc k e sofort im sterilen Zustande
auf anhaftende E p i t h e 1 k ö r p e r c h on untersuche n, u m
dieselben zu re i m p 1 anti e re n.
Anderseits hält er es für erlaubt, da viele Tierversuche be¬
kannt sind, die nachgewiesen haben, daß der Verlust eines Epithel¬
körperchen für ein Individuum folgenlos ist, hei einfachen,
einseitigen, i n tr ak ap snl ären Z y s tenc n u kle ati o ii en,
die eine vollständige IJohersicht des Operationsterrains zulassen
und hei denen die Fundstätlen der übrigen Epithelkörperchen
ganz unberührt bleiben, ein Epithelkörperchen zu ent¬
nehmen, u m e s einem T e t a n i e k r a n k e n e i n z u p f 1 a n z e n.
Als Ort der Pfropfung erscheint ihm hei demselben Indivi¬
duum die Operationswunde am Halse wegen des sich stets an-
sammclnden Hämatoms und Kropfsekretes nicht sehr für die
Einheihing geeignet, er würde vielmehr stels eine heliehige Stelle
zwischen Peritoneum und Faszie vorschlagen, da dies hei guter
Asepsis ein rasch auszuführeuder und gänzlich gefahrloser Ein¬
griff ist.
Diskussion; Hofrat v. Eiselshcrg bemerkt, daß er bei
seinen zahlreichen Kropfoperationen stels auf Schonung der Epi¬
thelkörperchen bedacht war. Dieselben kamen oft hei den Ein¬
griffen gar nicht zu Gesicht. Eine Aendernng der jetzt üblichen
Operationsmethoden, um die Telanie zU verhindern, hat er nicht
nötig gehabt. Vom 1. A])nl 1901 bis 15. Mai 1907 wurden an seiner
Klinik und von ihm privat 449 Kröpfe operiert, von denen nur
in zwei Fällen Tetanie stärkeren Grades beoliachlet wurde, ohne
das Individuum schwerer zu gefährden. Weiters trat zwölfmal
ganz leichtes und vorübergehendes Chvosteksches Phänomen,
zweimal Chvostek und Trousseau auf und bei zwei anderen Pa¬
tienten konnten tetanische Symptome bereits vor der Operation
gefunden werden.
Ein Fall von ziemlich schwerer Tetanie nach einer vor
27 Jahren an der Klinik Billroth ausgeführten Tolalexstirpation
der Schilddrüse betrifft eine jetzt 42jährige Frau. Dieselbe wurde
öfters in die Klinik bestellt, um bei einer geeigneten Kropfoperation
an ihr eine Epithelkörperchenverpflanzung vorzunehmen. Nach
längerem Warten wurde dies kürzlich ausgeführt, anscheinend
mit Erfolg. Doch ist der Fall noch nicht spruchreif.
Er glaubt, daß nur dort eine Entnahme eines Epi¬
thelkörperchens erlaulit ist, wo, wie hei der vorliegenden
Kropfoperation, liloßi eine Zyste aus einem Lappen zu
c n u k 1 e i e r e n w a r U n d d i e übrige Schi I d d^r ü so v o 1 1-
k 0 m m e n no r m a 1 e r s c h i e n, so daß. m a n m i t S i c h e r h ei t
sagen konnte, daß drei Epithelkörperchen intakt in
situ gelassen wurden.
Jedenfalls hat die Patienlin, von der das Epithelkörperchen
genommen war, bei genauester Beobachtung keinerlei Erschei¬
nungen von Telanie dargebolen und vollsländig geheilt die Klinik
verlassen.
Prof. Dr. 0. Bergmeister: Vh'ine Herren! Ich erlaube mir,
Ihnen zwei Fälle von angeborenem beiderseitigen Irismangel
(Aniridia congenita), der eine überdies verlmnden mit ^ eiischiehung
der läiise (Ectopia lentis) vorzustellen.
Es haiuh'lt sich um Alutler und Tochter, die erstere 42 Jahre,
die letztere 10 Jahre all. Auch der Großvater soll dieselben
schwarzen Augen gehabt haben und bis ins hohe Aller (72 Jahre)
relativ gut gesehen haben.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
Solche ]‘'älle von familiärer, koiigeniUüer xVuirklie sind mehr¬
fach ])Cül)achfet ; v. Hippel liat rechf, zu behaupten, daß kaum
hei einer anderen angehorenen Anomalie des Auges das He-
fallensein mehrerer Cienerationen einer Familie, also der Einfluß
der Hemliläl so stark hervorlritt, wie hei der Aniridie.
Ich seihst kenne eine Familie in Wien, in der der \hater
und zwei Söhne mit angeborenem doppelseitigen Irismangel, kom-
hijiierl mit vorderem Polarkalarakt behaftet sind.
Auch diese Kombinationen der Aniriifie, mit anderen Ano¬
malien, besonders mit solchen der Linse, vorderer, hinterer Polar¬
kalarakt, sowie Ektopia lentis, sind hinreichend bekannt.
Eine weitere, ziendich häufig beobachtete, sozu-agen sekun¬
däre Komi)likation der xYniriilie ist das Glaukom. Mit Rücksicht
auf diese ,,'GlaukonKlisposition“ der Aniridischen habe ich mir
erlaubt, diese zwei Fälle vorzuslellen. Die Mutter ist nämlich
seit zwei Jahren an beiden Augen glaukomatös erblindet. Sie
konnte als Kind die Schule besuchen und sah trotz ihrer
,,!schwaizen Augen“ relativ gut. Mit elf Jahren üherstand die
Patientin die Blattern, in deren Gefolge sich eine Entzündung
an beiden Augen einstellte. Danach sah sie schlechter, doch
konnte sie bis zum 30. Lebensjahre noch ganz gut nähen. Von
da ah wurden die Augen allmählich schlechter u. zw. unter peri¬
odischen Anfällen, so daß sie bald besser, bald schlecbter sah.
Seit zwei Jahren ist sie amaurotisch. Von der früher erwähnten
Wiener häimilie ist der Vater ebenfalls, aber nur am rechten
Auge, glaukomatös erblindet. Der sklereklatisch vergrößerte amau¬
rotische Bulbus wurde von mir wegen anhaltend heftiger
Sclimerzen enukleiert. Mein Sohn Rudolf Bergmeister hat
diesen Bulbus anatomisch -histologisch untersucht und darüber,
sowie über einen zweiten Fall aus der Klinik Fuchs, in
V. G r a e f e s Archiv berichtet.
Was nun die zwei Fälle betrifft, die ich vorzustellen die
Ehre habe, findet sich hei dem Älädchen außer einem ])orzellan-
ai'tigen Aussehen der vorderen Sklerafparlien und einer viel-
hdeht etwas stärkeren Füllung der vorderen Ziliargetäße äußer¬
lich nichts Abnormes. Form und Größe der Bulhi siiut normal.
Setzt man das Kind vis-a-vis einem Fenster oder einer Licht-
(|uelle, so sieht man ein dunkelgoldgelhes Aufleuchten des Auges.
Der Kornealumfang und die Kornealwölbung sind anscheinend
normal ; mit dem Kagenar untersucht, ist ein regulärer Astig¬
matismus von ca. 2'50 Dioptrien nachweisbar. Die Kammer ist
normal tief. Beiderseits fehlt die Iris, so daß die symmetrisch
nach oben verschobene Linse frei zu sehen ist. Der untere
Rand der Linse liegt beiderseits beiläufig an der Grenze des
unteren und mittleren Drittels der Kammerbasis, so daß das
untere Drit'el hei seitlicher Beleuchtung ganz schwarz, die oberen
zwei Drittel leicht gräulich erscheinen. Die Linse ist zwar voll¬
kommen klar, durchsichtig, doch erzeugt sie einen für das jugend¬
liche Alter der Patientin auffallend starken graulichen Reflex,
ln dem unteren, linsenfreien Teile der Kammerbasis konnte ich
auch mit Zuhilfenahme von Lupenvergrößerung eine zarte Straf fie-
rung der Zon'ula nicht erkennen; ebenso gelingt es nicht, die
Ziliarfortsätze zu sehen, Avoraus wohl auf eine mangelhafte Ent¬
wicklung derselben geschlossen werden darf. Bemerkenswert ist,
daß der untere Rand der Linse nahezu geradlinig verläuft, ein
Verhallen, das dem zweiten Typus des Coloboma lentis nach
V. Hippel entspricht. Der Augenhintergrund erscheint normal.
Die Patientin ist geblendet, durch Lichtscheu stark belästigt und
hat mangelhafte Sehschärfe.
Es würde der Gedanke naheliegen, in einem solchen Falle
di(! Lichtzerstreuung und die damit zusammenhängende Blendung
dadurch zu venuindern, daß man den Rand der Kornea, sei
es durch Tatonnage, oder durch künstliche Narbenbildung,
oder durch Uebernähen von Bindehaut undurchsichtig macht.
Ein solcher Eingiiff schien mir aber mit Rücksicht auf
die jMöglichkeit späterer sekundäier, krankhafter Verände¬
rungen solcher Augen nicht statthaft, um so mehr, als
es gelang, auf einfachere Weise ein hefriedigendes Sehen
zu erzielen. Während nämlich die Sehschärfe mit freiem Auge
nur S = Vio beträgt und J. N. 7. in (12 cm gelesen Avird,
genügt das l'orlegen einei' stenopäischen Lücke von 1 mm Durch-
nu^sser, um die Sehschärfe auf mehr als das Dreifache S = Vs
zu steigern, Avohei J. N. 2 gelesen Aviixl. Am besten befindet sich
<lie kleine Patientin mit einer Siebhrille, Avelche ihr ein ge¬
nügend gutes Sehen nach allen Richtungen geAvillirl und sie vor
Blendung schützt!
Bei der zAveiten Patientin, der .Mutter, liegt Glaucoma ah-
solutum beider Augen Amr. Bulhi rigid, hart; Corneae längsoval,
narbig, makulös getrübt, links mehr als rechts; rechts ist noch
durch den durchscheinenden Rand der Kornea der Mangel der
Iris und das Augenlcuchtcn zu erkennen; der linke Bulbus ist in
toto etwas vergrößert, Kornea völlig undurchsichtig, Li''htempfin-
dung beiderseits aufgehoben. AVie erAvähnt, erkranken Augen mit
angeborener Aniridie auffallend häufig an Glaukom, so daß man
in diesen Fällen geradezu eine pitiformierle Disposition zur Glau-
komeikrankung anuehmen muß. Es geht kaum an, hiebei etxva
von Sekundärglaukom in dem Sinne zu sprechen, als wenn etwa
zum Beispiel das Glaukom nur durch den Insult einer luxierten
Linse entstünde. Es Avurde Glaukoni bei Aniriifie ohne Ektopia
lentis heol)achtet, so auch von mir in dem oben zitierten
Falle. Die Glaukomdisposition des aniridischen Auges dürfte viel¬
mehr in der anatomischen Anlage solcher Bulhi begründet sein.
Alle Untersucher s'immen darin überein, daß in keinem der histo¬
logisch untersuchten Fälle die Iris gänzlich fehle, sondern stets
als kurzer Stumpf vorhanden Avar. Die Avichtigstc Rolle in dieser
Angelegenheit spielen die Verhältnisse der Kammei’bucht, avo die-
AbflußAA’ege für das Kammerwasser liegen. Pagen steelier fand
ein rudimentäres, stark zusammengedrückles Ligamentum pecti-
natuni, Treacher Collins außer einem kleinen Irisstumpf Ver¬
legung des Kammerwinkels, bzAV. der Filtrations wege.
Rudolf Bergmeister fand die Kammerbucht verschlossen
durch ein von der Iriswurzel zur Korneaskleralgrenze ziehendes
und mit dieser verwachsenes Gewebe, Avelches dieselbe Struktur
Avie der Irisstumpf aufAveist. Dieses Gewebe, ,,der Irisfortsatz“,
ist als Persistenz einer im Fötalleben des menschlichen Auges
bestehenden Bildung aufzutässen, die ihr Analogon in
tlen Augen der Huftiere findet. Während das Ligamentum
pectinatum des normalen menschlichen Auges ein viel ein¬
facheres als das der Säugetiere Und ganz besonders ge¬
eignet für den Abfluß des Kanmierwassers erscheint, sind
in den aniridischen Aliflußvvege vorhanden, Avelche mit dem
Tierauge analoge Verhältnisse darbieten und als unzureichend
anzusehen sind. Und hierin mag Avohl die angeborene anatomische
Disposition dieser Augen zUm Glaukom gegeben sein. Ein Wort
noch über die allfällige Behandlung des Glaukoms bei Aniridie.
Abgesehen von der Verwendung der Myotika ist das aniridische
Glaukoni meines AVissens operativ noch nicht mit Erfolg bekämpft
Avorden. Die Iridektomie kann selbstredend nicht in Betracht
kommen.
Auch die Sklerotomie erscheint bei dem vollständigen Blo߬
liegen des Linsensystenis zur xVusführung Avenig geeignet. Da¬
gegen fordern die anatomischen A'^erhältnisse geradezu zur An-
Avendung der Glaukonioperation von Heine, der Kyklodialyse,
heraus.
Dieselbe besteht darin, daß nach Abpräparieren eines Binde¬
hautlappens und vorsichtiger Durchtrennung der Sklera 5 bis
6 mm vom Hornhaulrande entfernt und jiarallel mit demselben
die Iriisspatel zAvischen Sklera und Chorioidea nach vorne ge¬
schoben und das Ligamentuni pectinatum langsam durchstoßen
Avird, bis die Spitze der Spatel in der Kammerbucht erscheint.
Der Abfluß des KammerAvassers kann durch leichtes Drehen der
Spatel erreicht Averden.
Prof. Riehl demonstriert eine Moulage mit IlautA'erände-
rungen, die er in vier Fällen bei an Carcinoma mammae leidenden
Frauen beobachtet, aber nirgends beschrieben gefunden hat.
Es entstehen an der Haut über der erkrankten Brustdrüse
zerstreut oder in kleinen Gruppen bläschenähnliche Gebilde von
Hirsekorn- bis Hanfkorngröße, die anfangs von heller Flüssigkeit
erfüllt sind, sich später blutig tingieren und bis zu Kleinerbsen¬
größe anwachsen.
Diese Miliariabläschen erinnern an Effloreszenzen, fühlen
sich aber hart an, platzen nicht und bestehen Avochenlang; sie
kollabieren beim Anstechen unter Entleerung wasserklarer oder
blutiger Flüssigkeit ganz oder nur teilweise. Es sind dies keine
Bläschen sondern Zysten — ihre Decke wird durch die ganze
Oberhaut und durch die Papillarschichte gebildet; der Sitz der
Hohlräume ist das Bindegewebe, das sie in mehrschichtigen
Faserzügen umgibt. -
In diesen Zysten' finden sich nun mehr minder zahlreich
epitheliale Zellenmassen des Karzinoms. Die Zellmassen nehmen
bei längerem Bestände der Zyste so Aveit zu, daß sie das ganze
Cavum erfüllen, die Zyste Avird zu einem kleinen Krebsknoten
AVie Sie an der Moulage sehen, entstehen ähnliche Zysten
späterhin in der weiteren Umgebung der erkrankten Mamma.
AVie die genauere mikroskopische Untersuchung ergibt, sind
die kleinen Zysten aus erweiterten Lymphgefäßen hervorgegangen,
deren Endothelbelag man an vielen Stellen nachAveisen kann.
Die Karzinommassen in denselben entstehen offenbar durch Ein-
Avanderung von Krebszellen auf dem Wege der Lymphbahnen.
In der Tiefe der Kutis findet inan auch am Karzinom aus¬
gefüllte Lymphgefäße mit reaktiver AVueherung des BindegeAvebes.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Üi/
Wir haben es also mit einer Metastasiernng auf dem Wege
der Lymphbahnen zu tun und mit wabrscbeinlicb durch Stauung
entstandenen Lympbzysten, in welchen sich später das Karzinom
ansbreitet.
Die Blutungen in den Zysteninhalt sind hei den nahen
Beziehungen der Lymph- und Blutkapillaren der Papillarschichte
leicht erklärbar und erinnern an die blulgefülltcn Zysten dos
Lymphangioma c y s t i c u m .
In der Literatur finde ich diese Art der Karzinommetastase
in der Haut nicht erwähnt. — Der jüngst von Malinowsky
beschriebene Karzinomfall mit „Bbi-sonbildung“ ist wohl auch als
metastatisches Hautkarzinom zu betrachten ; die „Bbisen“ M a-
1 i n o w s k y s sind aber Erweichungsherdo im Innern der Krebs¬
knoten, wie aus den Abbildungen hervorgeht — Carcinoma
colloideum myxomatodes.
Dr. Deiner stellt aus dem Karolinen- Kinderspitale ein
sechs Wochen altes Kind mit Ekzema universale sebor-
r h o i c u m vor.
Die Erkrankung begann in der dritten Lebenswoche mit
Rötung der Inguinal falten. Heute ist die gesamte Körperhaut bis
auf kleine Partien im Gesicht krankhaft atfiziert. Die Kopfhaut
ist mit graugelben, fettigen Sebumauflagerungen bedeckt; die
Kopfhaare sind zum Teile ausgefallen, zum Teile ragen sie in
Büscheln aus der Sehumhaube hervor. Auch die Ohrmuscheln,
der äußere Gehörgang, sind mit gelblichen dünnen Krusten be¬
deckt. An der Stirne und den Streckseiten der oberen Extremi¬
täten sind Veränderungen zu sehen, die als Primäreffloreszenzen
anzusprechen sind ; es sind dies wenig erhabene, mattrote, kleinste
Flecke, die ein zentrales, graues Schüppchen tragen. Diese Schuppe
läßt sich leicht loslösen und es tritt eine etwas feuchtglänzende
Fläche zutage, die sich alsbald wieder mit einer Schuppe bedeckt.
Durch Konfluenz solch kleiner Knötchen oder auch durch ex¬
zentrisches Woiterwachsen der Effloreszenzen bilden sich größere
scheibenförmige Herde, die von einem hyperämi sehen Hofe um
geben sind. Auf diese Weise kommt es allmählich zu einer Aus¬
breitung über den ganzen Körper. Die Haut ist dann, wie es auch
in dem demonstrierten Falle zu sehen ist, hyperämisch, leicht
ödematös, stellenweise mit dünnen, grauen, fett sich anfühlenden
Schuppen bedeckt. Die Beugefalten sind frei von Schuppenauf¬
lagerungen : die Haut ist hier stark gerötet, sammtartig, glänzend,
feucht. Auch die Nägel zeigen pathologische Veränderungen.
Sie schilfern ab, sind auffallend dünn, zeigen Quer- und Längs¬
riffe. Das Nagelbett an einzelnen Zehen ist oft hyperkeratotisch
verändert. Die Mundschleimhaut ist im Beginne der Erkrankung
normal ; dagegen waren bei dem Kinde Darmstörungen zu kon¬
statieren ; die Stühle waren schleimig bröckelig, 10 bis 12 täglich.
Was die Drüsen anlangt, so sind sie selbst bei langer Krankheits¬
dauer nur wenig verändert. Schwellungen derselben über Erbsen¬
größe gehören 'zu den Seltenheiten.
Das Allgemeinbefinden der Kinder ist nicht sehr gestört,
Juckreiz besteht nicht. Dieses Krankheitsbild hat für uns nun ein
mannigfaches Interesse, einmal deshalb, weil es einen Krankheits¬
typus vorstellt, der jedesmal bei den verschiedenen beobachteten
Fällen dasselbe Aussehen hat und auch denselben Verlauf
nimmt, dann aber ist diese Erkrankung für uns Kinderärzte von
besonderem Interesse, weil sie fast immer nur Brustkinder
betrifft ; dabei ist die Erkrankung gar nicht so selten ; wir haben
in den letzten vier Jahren über zwei Dutzend derartiger Fälle
beobachtet. Worin hier die Schädigung liegt, läßt sich nicht mit
Bestimmtheit sagen. Soviel ist sicher, daß es sich immer um
unregelmäßig, oft um überernährte Kinder handelt. Es könnte
irgendeine Stoffwechselstörung bei besonders disponierten Kindern
Ursache dieser Hauterkrankung sein oder wenigstens auslösend
hiezu wirken.
\Vas den Verlauf anbelangt, so kann bei vorsichtiger
äußerer Behandlung, bei genauester Regelung der Diät eine Heilung
nach Wochen oder Monaten eintreten und die Haut wieder normal
werden.
Zirka ein Drittel der Fälle erliegt der Erkrankung. Das
Bild ändert sich dann insoweit, als die Haut trockener wird, nur
geringe Schuppenauflagerung zeigt, stark gerötet ist und von un¬
zähligen feinen Rhagaden durchzogen ist. Unter hochgradiger
Abmagerung und schweren Darmerscheinungen tritt der Exitus
ein. Pathologisch-anatomisch ließen sich bis auf parenchymatöse
Degeneration der Organe keine nennenswerten Veränderungen
finden.
Diskussion zum Vorträge des Prim. Dr. Latz ko:
Die chirurgische Therapie des P ue r p e r al p r o ze s s es.
Primararzt Dr. J. Fab ri eins; Das Thema, das Herr
Kollege L a t z k o besprochen, ;ist so außerordentlich interessant
und das Material, das ihm zu Gebote stand, ein so großes, daß
wir alle, die wir mit diesen Erkrankungen zu tun haben, seinem
Vortrage mit großem Interesse folgten. Wenn mir bei dem großen
Material, das mir immer zur Verfügung stand, gerade puerperale
Infektionen seltener unterkamen, so war dies kein Grund, um
nicht in dieser Hinsicht auch Versuche anzustellen. Meine Er¬
fahrungen docken sich wohl mit der anderer Fachkollegen. Handelt
es sich um Zersetzungsprodukte, also um saprämische Zustände
im Uterus, wie solche häufig nach Abortus oder nach einem
Partus Vorkommen, so kann man durch die Ausräumung und
tüchtige Auswaschung des Uterus einen glänzenden Erfolg er¬
zielen. Ist aber eine septische Infektion des Uterus bereits vor¬
handen, so kann man die Infektionskeime aus den Lymphbahnen
oder aus den thrombosierten und infizierten Venen nicht mehr
horausbekommen, es wird in solchen Fällen selbst mit einer
energischen Auskratzung nicht nur nichts genützt, sondern nur
geschadet. Die Idee, einen infizierten Uterus durch Totalexstir¬
pation zu entfernen in der Hoffnung, damit auch die Infektions-
keimo aus dem Körper zu einer Zeit zu beseitigen, wo der ganze
Körper noch nicht mit solchen überschwemmt ist, ist ja keine
ganz neue, die Methode wurde aber nur wenig geübt. Leider sind
die Hoffnungen, die man anfangs in diese Operation setzte, nicht
in Erfüllung gegangen und so erklärt es sich auch, daß nur
wenige Kollegen Totalexstirpationen septisch infizierter Uteri aus¬
führten. Es sollte daher jeder, der in dieser Hinsicht Erfahrungen
gesammelt, dieselben bekanntgeben. Im Jahre 1895, also schon
vor zwölf Jahren, machten wir im Maria-Theresia-Hospital eine
solche Operation. Es kam damals eine 38jährige Kranke hin,
welche zehnmal geboren hatte, jetzt wieder im dritten Monat
gravid war und Blutungen hatte. Die Untersuchung ergab ein
kleines Karzinom an der Portio. Am 23. Januar 1895 wurde ein
kleines Stückchen zur mikroskopischen Untersuchung exzidiert,
am 24. Januar erfolgte unter starken Blutungen der Abortus, das
Ei mußte mit der Schulze sehen Löffelzange entfernt werden,
dann wurde das Kürettement angeschlossen und eine gründliche
Ausspülung mit Lysol gemacht.
Am 25. Januar erfolgte abends ein Temperaturanstieg auf
38'3, in den nächsten Tagen bis 39 und darüber, die Zunge war
trocken und belegt. Am 28. Januar wurde bei der ausgesprochenen
septischen Infektion der Versuch gemacht, durch Totalexstirpation
der Gebärmutter per vaginam die Infektions(iuelle zu entfernen
und dadurch die Patientin möglicherweise zu retten. Nach ge¬
ringem Abfall der Temperatur am Operationstage stieg dieselbe
bald wieder an und unter Bildung von Metastasen starb Pat. am
1. Februar 1895.
Die Sektion ergab Pyaemia metastatica, vereiternde Infarkte
in den Nieren und in der Milz, frische serös eitrige Peritonitis,
eitrige Gonitis dextra, akuter Milztumor, parenchymatöse De¬
generation der Leber und der Nieren. An der Operationsstelle in
den Venen und Arterien frische schwarzrote Thromben.
Dieser Fall, den ich damals für einen relativ günstigen
gehalten, hatte mich abgeschreckt, in dieser Hinsicht weitere
Versuche zu machen.
Was die Unterhiudung oder Exstirpalion der Venen bei
Puerperalprozessen anbelangt, so habe ich tla auch einmal frei¬
lich in einem nngünstigen Falle einen schüchternen Versuch
gewagt. Es handelte sich damals um eine 32jährige Palientin,
welche im fünften Monate der Gravidität abortiert hatte. Es
mußte damals vom Hausarzte die Plazenta gelüst werden. Die
Patientin bekam bald darauf Fieber, sowie; Schüttelfröste und
wurde in diesem Zustande sechs Wochen si)äter zu mir in das
Spital gebracht. Bei tier Aufnahme fand ich den Uterus kaum ver¬
größert, das rechte Parametrium etwas dicker, auch fühlte man
am oberen Beckenrande, gegen die Niere zu ziehend, eine Re¬
sistenz, der rechte Fuß war etwas geschwollen. Einige Tage nach
der Aufnahme nahm ich die Inzision ties rechten Parametriums
vor, entleerte alter nur ungefähr einen Löffel voll einer trüben
Flüssigkeit. Das Fieber blieb fortbestehen, ebenso die Schüttel¬
fröste, die immer häufiger einsetztmi. Da ich den Fall sehr
ungünstig aiisah, ersuchte ich auch Herrn Priv.-Doz. Dr. Türk,
die Blut-, sowie auch die interne Untersuchung vorzunehmen.
Mit Rücksicht auf die auch von ihm ungünstig gestellte Prognose
entschloß ich mich, als ultimum refugium die Laparotomie zu
machen, die ich attch am 5. November 1904 im Diakt)nissen-
hause vtumahm. Diese ergab, tlaß das rechte Parametrium ziem¬
lich frei war bis auf die hleistiftdicken beiden Venae spermaticae,
die ich fast bis zur Eimnüntlungsstelle in die Cava exstirpierto.
Die Venen waren thrombosiert. Die bakteriologische l ntersuchung
der Venen, die von Prof. Ghon vorgenommen wurde, ergab die
Anwesenheit von Gram-positiv färbbaren Kokken vom lypus des
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
Nr. 21
Stai)l)ylococciis pyogenes imd Gram-positive Bazillen. Die Schüttel¬
fröste l)ehie]t Pat. auch nach der Operation. Vier Tage später
starl) sie. Die Obduktion ergab eine eitrige Endometritis, Thrombo-
})blebitis der i-cchtsseiligen Beckenvenen, der Vena iliaca umt
femoralis bis zum oberen Drittel des Oberscbenkels, der Vena
cava inferior bis zur Einmündungsstelle der Lebervene, ferner
alle anderen Befunde septischer Infektion.
Es war also auch in diesem Falle mit der Beseitigung der
Venae spermaticae gar nichts geleistet, wenn wir bedenken, daß
die ganze Vena iliaca externa bis zur Cava hinauf, die Vena
femoralis und zahlreiche Seitenstämme mit vereiterten Thromben
ei'füllt waren. Ebensowenig erwarte ich von der einfachen Ab¬
bindung und der von Latz ko vorgeschlagenen erweiterten
Operation, weit man alle infizierten Venen nicht entfernen kann.
Ich habe selbst einen ganz ähnlichen Fall auf meiner Abteilung;
wie der oben erwähnte ist. Es hatte sich bei der Patientin ein Ex¬
sudat nacb einer wegen Abortus vorgenommenen ExkochleatioTi
<mtwickelt. Das Exsudat hat sich langsam aüfgeisaugt. Zwei
.Monate lang hatte sie gefiebert. Jetzt hat sich eine septische
Thrombose in der Vena iliaca und femoralis gebildet. Von Zeit
zu Zeit treten Schüttelfröste lind septische Diarrhöen auf, ebenso
besteht eine Purpura haemorrhagica. In letzter Zeit werden die
Schüttelfröste seltener und von kürzerer Dauer und ich halle
es nicht für ausgeschlossen, daß diese Patientin, die jetzt in der
Zwischenzeit nonnale Temperaturen hat, vielleicht doch ihre In¬
fektion überstellt.
^\^as endlich die Behandlung der Peritonitis anbelangt, so
gehöre ich gerade zu jenen, welche bei schweren Peritonitiden
ziemlich radikal Vorgehen. Ich habe diese Metliode, seitdem ich
sie im September 1896 zum erstenmal ausführte, wiederholt ge¬
macht und glaube aueb, manche Kranke auf diese Weise gerettet
zu haben. Sie besteht darin, daß ich hei Peritonitis mit einer
langen Inzision die B a u c h h ö h 1 e e r ö f f n e, den Ei t.cr weg¬
wische und Gaze in die Bauchhöhle lege und diese at)er nicht
wieder teilweise schließe, sondern ganz offen lasse. Ich
sorge natürlich dafür, daß ich nicht die ganze Bauchhöhle infiziere,
wie dies durch das Auswaschen leicht ge'schehen kann. Die
Sekretion ist am ersten und zweiten Tage eine so starke, daß
die großen Verbände ganz durchtränkt sind. Ich habe dabei nie
einen Vorfall der Därme beobachtet, weil diese ohnehin paretisch
sind. Diese IMethode führte ich damals zuerst liei einer fünf Monate
graviden Frau aus, welche ich wegen einer schweren Peritonitis,
durch Perforation einer Pyosalpinx bedingt, operierte. Der gute
Ausgang veranlaßte mich, dieses Verfahren seither oft anzuwenden..
Ob man in jedem Falle einer beginnenden Peritonitis, wie
dies Latz ko wünscht, gleich die Laparotomie machen soll, weiß
ich nicht. Es gibt manche stürmisch beginnende Pelveoperitonitis,
die doch gut alisgeht, ohne daß man gleich operiert. Ich glaube,
daß er in der Indikation der operativen Behandlung der Peri-
tonilis zu weit geht und daß man durch das zu frühe operative
Eingehen aus mancher zirkumskripten Peritonitis eine diffuse
macht. Bezüglich der Inzision der zirkumskripten, ahgesackten
Peritonitis vertrete ich schon seit vielen Jahren seinen Standpunkt.
Doz. Dr. H a 1 b a n : Die chirurgische Behandlung der
septischen Puerperalprozesse hat zwei große Schwierigkeiten :
die Indikationsstellung und die Technik der Operation. Die
Indikationsstellung für einen operativen Eingriff ist deshalb so
schwer, weil wir in der Regel nicht in der Lage sind, eine
sichere Prognose zu stellen. Die hoffnungslosesten Puerperal¬
prozesse können nach wochen- und sogar nach monatelangem
Fieber ausheilen und es sind Fälle bekannt, in denen selbst
nach 75 Schüttelfrösten Spontanheilung zustande kam. Wenn wir
einmal eine absolut ungünstige Prognose zu stellen in die
Lage kommen, dann bandelt es sich schon um einen Zustand in
den letzten Stadien, in welchen an einen erfolgreichen chirur¬
gischen Eingriff überhaupt nicht mehr gedacht werden kann.
Sonst aber fehlt, wie ja auch der Herr Vortragende hervorgehoben
hat, jede Möglichkeit, um festzustellen, daß eine Operation u n-
bedingt nötig erscheint. Daher wird die Indikationsstellung
unter den jetzigen Verhältnissen immer nur eine ganz subjektive
sein. Aus diesem Grunde aber wird wohl auch der Gedanke des
Herrn Vortragenden, eine Frühoperation in jedem Falle zu pro¬
pagieren, „der ein bis zwei Tage lang konstant Temperaturen von
39_ bis 40“ oder darüber aufweist oder überhaupt nach 48. Stunden
keine entschiedene Wendung zum besseren zeigt“ in der Praxis
wohl wenige Anhänger finden. Der Vergleich mit der Appendi¬
zitis und den glänzenden Erfolgen ihrer Frühoperation ist deshalb
nicht zutreffend, weil bei dieser die Operation im frühen Stadium
einfach und sehr wenig gefährlich ist, während der chirurgische
Eingriff bei den puerperalen Prozessen ein schwerer ist und
gewiß in vielen Fällen die Prognose nicht verbessern, sondern
geradezu verschlechtern dürfte. Ich will dabei die Fälle von
Peritonitis aus dem Spiele lassen und nur von der Behandlung
der Metrophlebitis, speziell von der dabei geübten Venenunter¬
unterbindung sprechen.
Gerade diese Frage interessiert ja momentan die Gynäko¬
logen aufs höchste u. zw. schon mit Rücksicht auf die guten
Erfolge, welche die Otologen auf verwandten Gebieten erzielen.
Zur Entscheidung der Frage aber, ob überhaupt, auch in
späteren Stadien, diese Operation ausgeführt werden soll, müssen
wir erstens überlegen, ob die theoretischen Voraussetzungen für
einen Erfolg dabei gegeben sind, zweitens ob die bisher mit
diesen Methoden erzielten Resultate zur Nachahmung ermuntern,
ln ersterer Hinsicht ist es vor allem nötig, die Art des operativen
Eingriffes selbst ins Auge zu fassen.
Der Herr Vortragende schließt sich bei seinen chirurgischen
Eingriffen zum Teil dem Vorschläge von B u m m an, in Fällen
von Metrophlebitis die Vena iliaca und die Vena spermatica trans¬
peritoneal abzubinden, d. h. er sucht nach Eröffnung des Ab¬
domens die Venen auf und ligiert sie oberhalb des Thrombus, in
der Hoffnung, einerseits die Weiterverschleppung des septischen
Alaterials durch die Blutbahn zu verhindern, anderseits das
Weiterwachsen des Thrombus unmöglich zu machen.
Es ist nötig, daß wir bei dieser Frage ganz klar und
nüchtern überlegen, was durch die einfache Abbindung zu erreichen
ist. Hiezu erscheint es wieder erforderlich, die Verhältnisse zu be¬
trachten, wie sie bei vollständiger Thrombose und
bei wandständiger Thrombose vorliegen. In ersterem
Falle wird durch die Abbindung der Venen eigentlich nichts ge¬
wonnen, denn die Zirkulation sistiert ohnehin und eine Ver¬
schleppung des septischen Materials — abgesehen von der
Embolie — kommt infolgedessen nicht in Betracht. Ein Weiter¬
wachsen des Thrombus nach aufwärts findet nicht statt, solange
der septische Thrombus durch einen aseptischen abgeschlossen
ist. Ist aber das Material sehr virulent, so wird dieser aseptische
Thrombus infiziert und zur Ausdehnung der Thrombose führen.
In diesem Falle hilft aber die Ligatur auch nichts, denn die bei
einem septischen Thrombus immer gleichzeitig mitbestehende
Phlebitis wird durch die Ligatur selbstredend nicht aufgehalten,
sondern kann sich ohne weiteres jenseits der Ligatur fortsetzen
und hier wieder Anlaß zur Bildung eines neuen septischen
Thrombus geben, der dieselben Gefahren — auch die der Embolie
— besitzen wird, wie der Thrombus unterhalb der Ligatur.
Daraus geht hervor, daß bei obturierender Thrombose ein Erfolg
durch die reine* Abbindung überhaupt nicht zu erwarten ist.
Besteht ein wandständiger Thrombus, so kann durch
die Ligierung der Venen die Zirkulation unterbrochen und eine
Metastasierung auf dem Wege der Venen hintan gehalten werden.
Dies bedeutet immerhin scheinbar einen Erfolg. Derselbe wird
aber wesentlich geschmälert, wenn wir an das weitere Verhalten
denken. Es wird nämlich nach der Ligierung aus der wand¬
ständigen Thrombose eine komplette, der Thrombus wird in der
Regel infiziert werden und die begleitende Phlebitis sich auch
wieder über die Ligatur hinaus ausbreiten können. Dadurch wird
aber jenseits der Ligatur wieder der Grundstock zu einer
eitrigen Thrombose gegeben werden. Die Gefahr liegt eben in
der Ausdehnung der Phlebitis. Wenn wir diese Gefahr ver¬
meiden wollen, so genügt nicht die einfache Ligatur, sondern
wir müssen die Venen doppelt unterbinden und durch¬
trennen.
Aber selbst wenn durch die Durchtrennung der Venen das
Fortschreiten der Phlebitis ausgescbaltet ist, ist doch nur halbe
Arbeit getan. Denn der bereits bestehende septisch infizierte
Thrombus bleibt in der Vene zurück und wird nach wie vor
einen in der Tiefe gelegenen septischen Herd darstellen, der
eitrig zerfallen und Zellgewebsentzündungen und Peritonitis er¬
zeugen kann, von dem aber unter allen Umständen septische
Produkte auf dem Wege der Lymphbahn in den Organismus
gelangen werden, welche die schweren septischen Erscheinungen
weiter unterhalten können.
Daher erscheint selbst die Durchtrennung der
Venen nach der Unterbindung nichtausreichend.
Sie entspricht auch tatsächlich nicht den allgemeinen chirur¬
gischen Regeln. Ein wahrer Erfolg wird nur dann zu erwarten
sein, wenn — wie dies ja auch die Otologen jetzt nach mehr¬
fachen Wandlungen in ihren Fällen machen — die thrombo-
s i e r t e n V e n e n nach p e r i p h e r e r A b b i n d u n g und Durch¬
trennung eröffnet und nach Entfernung des sep¬
tischen Thrombus d ruiniert werden.
Mit der Präzisierung dieses Standpunktes ist aber auch die
Technik der Operation gegeben. Würde man nacb Laparotomie die
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septischen Venen unterbinden und dann eröffnen, so ist wohl eine
Peritonitis kaum zu vermeiden. Daraus geht hervor, daß der trans¬
peritoneale Weg, wie er von Bumm angegeben und auch vom Vor¬
tragenden vertreten wurde, für die chirurgische Behandlung der sep¬
tischen Venenthrombose absolut nicht empfohlen werden kann. Die
einfache Unterbindung ist unzureichend, die als zweckmäßig er¬
scheinende Eröffnung und Drainage nicht durchführbar, daher muß
ich den Standpunkt vertreten, daß, wenn überhaupt die Operation
indiziert ist, sie rationell nur extraperitoneal vorgenommen
werden darf, weil nur auf diesem Wege die Gefahr der Peritonitis zu
vermeiden ist, welche durch eine sinngemäße chirurgische Be¬
handlung — Ahbindung, Durchtrennung, Eröffnung und Drainage
der Venen — bei transperitonalem Wege besteht. Die extraperitoneale
Methode ist auch technisch durchaus nicht schwer durchführbar.
Sie wurde schon von Trendelenburg allerdings nur zur
Unterbindung der Venen — gewählt. Die Schnittführung ist
die, wie zur Darstellung des Ureters, dabei können sowohl die
Vena uterina und hypogastrica, als auch die Vena spermatica über¬
sichtlich dargestellt und chirurgisch behandelt werden.
Ich gebe gerne zu, daß theoretische Bedenken allein wie
ich sie gegen die einfache Venenunterbiudung geäußert habe
nicht maßgebend wären, um gegen diesen Eingriff Stellung zu
nehmen, wenn die bisher erzielten Erfolge sehr günstige wären.
Dies ist 'aber nicht der Fall, denn wenn wir die in der Literatur be¬
kannt gewordenen Fälle zusammenziehen, so ergibt sich die außer¬
ordentlich hohe Mortalität von 70 Io nach diesem Eingriffe. Die
Mortalität der konservativ behandelten Fälle schwerer
Puerperalerkrankungen beträgt aber nach den Angaben des Herrn
Vortragenden selbst30''/o. W^ennich auch diese Fahlen bei der geringen
Menge der Fälle nicht als absolut maßgebend hinstellen will, so er¬
gibt sich doch mit ziemlicher Sicherheit, d a ß von einer über¬
zeugenden Wirksamkeit des in Frage stehenden
Eingriffes gewiß nicht gesprochen werden kann.
Ich glaube daher, daß die Methode der einfachen Venenunterbmdung
nicht empfohlen werden kann.
Der vom Vortragenden angegebene vaginale Weg zur
Eröffnung der Venenthromben wird wohl auch keine Nachahmer
finden. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß da meist nur ein
kleines Gebiet der infizierten Venen eröffnet wird, von einer
exakten Arbeit ist dabei keine Rede, denn man gewinnt keine
Vorstellung, wie weit die Thromben reichen und was sich m den
höher gelegenen Venen abspielt. Die mit dieser Methode ge¬
wonnenen Resultate sind wohl nur Scheinerfolge, es handelte
sich offenbar um Fälle, welche auch ohne diesen Ein griff ge¬
nesen wären. . i..
Noch ein 'wichtiger Punkt wäre in dieser Frage zu be¬
sprechen, nämlich wie man sich dem Uterus selbst gegenübea
verhalten soll. Allgemein chirurgischen Prinzipien müßte es ent¬
sprechen, daß man auch den primären Herd mzidiert, respektive
GxstirpiGrt,
Es ist aber fraglich — und dies kann nur durch die Er¬
fahrungen der Zukunft geklärt werden ob diese Forderung
auch für den Uterus zutrifft. Es wäre nämlich ganz wohl denk¬
bar daß bei der Thrombophlebitis der Beckenvenen der Sitz
der’ Hauptkrankheit vom primär infizierten Organ weg in die
Venen verlegt worden ist und daß nach Ausschaltung dieses
Herdes der Organismus mit der primären Infektion fertig wird.
So lange diese Möglichkeit nicht entschieden ist, darf wohl die
prinzipielle Forderung der Mitentfernung des Uterus nicht auf-
gestellt werden. , ^T
Priv.-Doz. Dr. Peham. Meine Herren! Der interessante Voi-
trag des Herrn Primarius L a t z k o enthielt im wesentlichen 4 Punkte,
zu denen ich mir das Wort erbitten möchte;
1 Die Behandlung der puerperalen Peritonitis;
2. die Behandlung der Thrombophlebitis im Bereiche des
parametranen Plexus ; i rr ♦ i
3. die Behandlung des Puerperalprozesses durch iotal-
exstirpation des Uterus und schließlich
4. die Art des den Ausführungen des Vortragenden zugrunde
liegenden Materiales. . . t,
Latzkohat55 Fälle von Peritonitis im Puerperium
operiert u. zw. 28 freie, 27 ahgesackte Peritonitiden, die letzteren
naturgemäß mit weit besserem Resultate, 23 H e i 1 u n g e n und
4 Todesfälle. Aber auch unter seinen 28 freien Peritomtisfallen
sind 9 Heilungen und 19 Todesfälle.
Während die abgesackte Peritonitis eine viel günstigere
Prognose bietet und nach Entleerung des Eiters und Drainage
meistens ein Abfall des Fiebers und glatte Heilung erfog, so
die puerperale Allgemeinperitonitis die allerschlechteste F orm des
Puerperalfiebers vor. Weitaus die größte Mehrzahl der Falle m der
vorantiseptischen geburtshilflichen Aera ist dieser orm cs
Puerperalfiebers erlegen. Diese Peritonitis setzt meistens in
den allerersten Tagen oft Stunden post partum
e i n und führt in der Regel in kürzester Zeit, nahezu a u s-
n a h m s 1 o s in der e r s t e n W o c h e> oft aber auch in den
ersten 24 Stunden zum Tode.
Wir sehen ja heute nur ganz selten so schwere Formen
von Infektion, bei welchen man am Obduktionstisch bei stärkster
Darmparese kaum eine nennenswerte Menge trüben serös¬
hämorrhagischen Exsudats findet, die ich aber davon zu sehen
Gelegenheit hatte, gingen ausnahmslos, ob mit oder ohne Lapa¬
rotomie, zugrunde. Wohl zu unterscheiden davon
sind die Spätformen der Peritonitis im Wochen¬
bett. Es können im späteren Verlaufe des Wochenbettes, be¬
sonders wenn es zu lokalisierten Prozessen an den Adnexen
bereits gekommen ist, schwere peritoneale Symptome auf treten
und in diesen Fällen kann eine rechtzeitig ausgeführte Laparo¬
tomie einen guten Erfolg haben, wenn es auch gerade in solchen
Fällen nicht ganz selten spontan zum Schwinden der peritonealen
Symptome kommt und ein Ausgang in Heilung auch ohne Lapa¬
rotomie möglich ist. .
Was aber die frühen Formen der puerperalen Peri¬
tonitis anbelangt, so haben wir niemals einen Erfolg
von einer Laparotomie gesehen, mit Ausnahme eines
einzigen Falles, wo es sich aber um eine vom Appendix aus¬
gehende Peritonitis gehandelt hatte.
Leider konnte ich den Ausführungen Latz kos nicht
genau entnehmen, wann post partum seine geheilten Fälle
von Peritonitis eingesetzt hatten, bzw. operiert worden waren,- ob
es sich also in seinen Fällen um die schweren Frühformen oder
um die prognostisch viel besseren Spätformen handelt. Er spricht
zwar, wenn ich richtig verstanden habe, davon, daß er im
Durchschnitt in der dritten Woche post partum die
geheilten Fälle zur Operation bekam, demnach
selbe den prognostisch schon günstigen Spät¬
formen angehören, es wäre aber doch sein Er¬
folg von wesentlicher Bedeutung, wenn unter
seinengeheiltenFällen auch Fälle von schweren
Frühformen der Peritonitis sich fänden.
Was die Behandlung der t h r o m b o p h 1 e b i t i s c h e n
Form des Puerperalprozesses anlangt, so gibt Latz ko selbst zu,
wie schwer es ist, in solchen Fällen die Prognose zu stellen und
jedem von uns sind ja genügend Fälle bekannt, wo die Er-
kitinkiing trotz Gincr GnoriiiGn Anzahl von SchüttGlfröston und
monatelanger Dauer schließlich in Heilung überging.
Was die Methode der Unterbindung der thrombosierten
Venen anlangt, so möchte ich hier in Uebereinstimmung mit
Kollegen Hai ban entschieden der T r e n d e 1 e n b u r g s den
Vorzug geben, die eine entsprechende Uebersicht gestattet,
während L a t z k o, wie er selbst sagt, nur dem Tastsinne
folgend, mit Fingern und Schere die Venen exstirpierte oder
zerriß. ’ Uebrigens hat ja L a t z k o seine Methode nur viermal
angewendet und darunter dreimal einen letalen Ausgang erlebt.
EbGiisowGnig bofriGdigGiid sind die FällG^ wo Latz ko
wegen puerperaler Infektion den Uterus ex stir pier t. Die
Schwierigkeiten der Indikationsstellung zu diesem Eingriff sind
wiederholt erörtert und auch von Latzko neuerlich betont
worden. Solange die Infektion auf den Uterus beschränkt ist, i^
das Krankheitsbild häufig kein so schweres und kann man sich
da in der Regel nicht dazu entschließen, hei einer jugendlichen
Kranken sofort den Uterus zu exstirpieren. Nimmt aber die
Krankheit einen bedrohlichen Charakter an, so kommt man dann
auch meistens zu spät. r, i
Die Indikationsstellung zur Exstirpation mit der Forderung
der Frühoperation bei Appendizitis zu vergleichen, scheint mir
vor allem aus zwei Gründen ganz unzulässig. Erstlich handelt es
sich um ganz verschiedenwertige Organe, und dann furchtet
der Chirurg nicht nur den lokalisierten Krankheitsherd und die
Resorption von Toxinen, sondern in erster Lime eine Perforaüon
des zarten Darmanhangs und damit die Möglichkeit einer
Kommunikation zwischen Darm und Peritonealraum, was beim
Uterus wohl kaum vorkommt. .
Latzko hat fünfmal die Operation vorgenommen, drei
Patienten starben, zwei genasen. . u • 4.
Bei den beiden nach der Operation G e n e s e n e n scueint
in einem Falle die Operation gar keinen Einilul
auf das Krankheitsbild gehabt zu haben. ,
Sie hatte, wie Latzko erwähnte, nach dem Eingriffe noch
30 Schüttelfröste, und mußte, wenn die Angaben der Patientin
richtig sind — sie war zufällig vor kurzem an unserer Klinik
sich nach der Totalexstirpation noch zwei großen opera¬
tiven Eingriffen unterziehen — wovon auch eine
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
nijsgedelinto Laparotomienarbe vorhaiulen ist — und war erst
7‘/o Monate nach der Totalexstirpation genesen.
Wenn ich aus den vielen Hunderten von Puerperalfieber¬
fällen, die ich im Laufe der letzten neun Jahre bei einer Geburten¬
zahl von über 30.000 an der Klinik C h r o b a k zu sehen
Gelegenheit hatte, die vier Jahre überblicke, die B neu ras im
Archiv für Gynäkologie veröffentlichten Arbeit zugrunde liegen
lind von diesen nur die schweren Fieberfälle heraus¬
greife, so sind das 471 Fälle, also zufällig die gleiche Anzahl,
wie die, über welche L a t z k o berichtet hat, m it 40 T o d e s-
fällen, das sind 8'49“/o. Teilt man die Fälle in zwei Gruppen,
die eine vor Einführung der Serumtherapie, die zweite nach An¬
wendung des Pal tauf sehen Serums, so ergibt das 225 Fälle
m it 27 Todesfällen und 240 Fälle mit 13 Todes¬
fällen nach Einführung der Serumtherapie, 127o gegen ö'28“/o.
Gerade die letztgenannte Gruppe der Jahre 1903 und 1904
eignet sich zu einem Vergleiche mit dem Material des Wiedener
Krankenhauses, weil wir zu dieser Zeit gerade die
schwersten Fälle vonPuerperalficberbei außer¬
halb der Anstalt e n t b u n d e n en Frauen a u f n a h m e n,
um uns über die Wirksamkeit des Serums gerade
in diesen s ch w e r s t e n F ä 1 1 e n e i n B i 1 d zu verschaffen.
Im übrigen besteht unser Material zum größten Teil aus
in der Anstalt entbundenen Frauen, die, wenn auch in großer
Zahl vor der Geburt hoch fiebernd überbracht, doch vielleicht
nicht ein so vernachlässigtes Material darstellen, wie die in
Latzkos Abteilung eingelieferten. Dafür rechnet aber
Latzko zu seinen 470 Puerperalfällen 117 in¬
komplette A b o r t u s f ä 1 1 e mit rascher Entfie¬
berung nach Entleerung des Uterus, ferner 42 Fälle,
die nur Temperaturen bis unter 38‘5 hatten, die Parametri-
tiden und sonstige lokalisierte Prozesse. Wieviel die An¬
zahl dieser Fälle beträgt, konnte ich den Ausführungen
L a t z k o s nicht entnehmen. Trotz Hinzurechnung all
dieser leichterenFälle, die bei unserem Material
nicht enthalten sind, betrug die Mortalität bei
L a t z k o s Material — auf 470 Fälle 112 Todesfälle gegen
40 unserer Klinik — d. h. 23.82“/o gegen 8'49”/o, bzw. nach der
Einführung des Serums 5'28®/o. Der Unterschied der Mortalität
L a t z k o s gegenüber der an unserer Klinik ist demnach ein
ganz enorm großer, wobei noch immer betont werden muß, daß
ja unter seinem Materiale ein sehr bedeutender Prozentsatz von
leichten Puerperalfieberfällen sich befindet.
Wir dürfen daher, glaube ich, so anerkennenswert auch die
Bestrebungen L a t z k o s sind, den traurigen Fällen von Puerperal¬
fieber auf operativem Wege beizukommen, nach den bisher mit¬
geteilten Resultaten uns nicht zu großen Erwartungen hingeben.
Prof. Dr. K. A. Herzfeld: Wenn ich zu dieser Diskussion
das Wort ergreife, so geschieht es, weil mir scheint, daß Dinge
zusammengeworfen wurden, die wohl nicht zusammengehören.
Jeder Geburtshelfer wird es mit Freuden begrüßen, wenn es uns
gelänge, in solchen Fällen von Puerperalprozeß, denen wir bisher
therapeutisch ziemlich machtlos gegenübergestanden, rettend ein-
greifen zu können. Ein solches Verfahren zu finden, ist das Be¬
streben des Vortragenden. Ob es ihm gelingen werde, wird erst
die Zukunft lehren. Ich will mich zu der Frage der Unterbindung
und Exstirpation thrombotischer Venenplexusse vorläufig nicht
äußern und nur zur Frage der chirurgischen Behandlung der
Peritonitis puerperalis Stellung nehmen. Der Vergleich - einer
durch Perforation eines Hohlorganes entstandenen Peritonitis,
wie sie die Chirurgen derzeit mit Erfolg aktiv angehen, mit einer
durch einen Puerperalprozeß erzeugten Peritonitis stimmt nicht,
wenigstens nicht in der Mehrzahl der Fälle. Bei der Perforativ-
peritonitis erfolgt die Aussaat der pathogenen Keime in das
vorher integre oder nahezu integre Peritoneum, die Erkrankung
nimmt hier ihren Ausgang und es kann daher dem raschen Ein¬
greifen des Chirurgen gelingen, Rettung zu bringen und die Fälle
der Heilung durch eine rasche Eröffnung der Peritonealhöhle
mehren sich. Bei der puerperalen Peritonitis sind die Verhält¬
nisse anders. Infolge einer Infektion vom Genitaltrakte her ent¬
steht eine Lymphangioitis im Bereiche der Becken- und Bauch¬
höhle, die sich oft genug auch bis in die Pleurahöhle erstreckt.
Die sich anschließende Peritonitis stellt den Schlußakt der Tragödie
dar. In solchen Fällen ist die Peritonitis bloß ein Symptom der
schweren septischen Erkrankung. Nicht die Peritonitis tötet die
Kranke, sondern der schwere Allgemeinprozeß, dessen Zerstörungs¬
werk durch die Peritonitis angezeigt wird. In solchen Fällen
verspreche ich mir nicht viel von einer chirurgischen Eröffnung
der Bauchhöhle und alle derartigen Fälle, in denen ich als letzten
Hettungsver.such die Eröffnung der Bauchhöhle vornahm, haben
bald nach dem Eingriffe letal geendigt. Ich gebe zu, vielleicht
deshalb, weil eben der Eingriff erst im letzten Stadium, als
„letzter Rettungsversuch“ unternommen wurde. Dagegen kann wohl
erwartet werden, daß in solchen Fällen, wo die Peritonitis von
der Tubenschleimhaut fortgeleitet, zur Entstehung kommt, dadurch,
daß Eiter aus der Tube in die freie Bauchhöhle gelangt, die
Peritonitis gleich einer Porforativperitonitis durch möglichst rasche
Eröffnung zur Heilung gebracht werden könnte. Allerdings ist
es in vielen Fällen schwer, die richtige Diagnose und Indikation
zu stellen. So erinnere ich mich an einen Fall, es handelte sich
um die Frau eines absolvierten Mediziners, die ich vor zehn
Jahren gesehen, mit den Zeichen der schwersten Peritonitis. Ich
zog Herrn Hofrat Chrobak zu Rate, ob ich nicht doch zur
Rettung der sicher verlorenen Frau einen Eingriff wagen sollte.
Hofrat Chrobak riet mir — zuzuwarten und siehe, nach ein
bis zwei Tagen waren spontan alle bedrohlichen Zeichen ge¬
schwunden und die Frau genas bald. Anderseits gibt es viele
Fälle schwerster Peritonitis, die nahezu symptomenlos verlaufen,
ohne Fieber, ohne Meteorismus, ohne Erbrechen. Die hohe Puls¬
frequenz ist das einzige Zeichen einer schweren Erkrankung, die
Kranken sterben nahezu bei vollem Bewußtsein und erst der
Anatom beweist uns, daß eine septische, purulente Peritonitis
vorhanden war. Da ist die Indikationsstellung schwer. Und nun
noch eine Bemerkung. Ich glaube, daß Herr Kollege P e h a m in
seinen ausgezeichneten Aufzeichnungen einen Irrtum begangen,
wenn er das Material der Klinik Chrobak mit dem der Ab¬
teilung Latzkos verglichen. Das sind inkomparable Faktoren.
Die Klinik kennt fast nur solche septische Fälle, wo die Gebärende
infiziert eingebracht worden und nach der Geburt die Zeichen
des Puerperalprozesses zeigt, der sich unter den Augen des
klinischen Arztes entwickelt. Da besteht noch die Möglichkeit,
manche schwere Erkrankung im Keime zu ersticken. Auf die
Abteilungen kommen die schweren septischen Fälle, die von der
Privatpllege ins Spital übergeben werden, lange nach stattgehabtem
Partus, wenn die schwere Erkrankung bereits manifest ist, in
desolatem Zustande werden die Kranken der Abteilung abgeliefert.
Darum ist auch das Material ein prognostisch so ungünstiges.
Priv.-Doz. Dr. Stoerk: (Bericht nicht cingolangt.)
Prim. Priv.-Doz. Dr. Latzko: Meine Herren! Glauben Sie'
ja nicht, daß mich der Furor operativus dazu geführt hat,
mich einer aktiveren, radikaleren Therapie zuzuwenden; häufiger
zum Messer .zu greifen als früher. Mich trieb etwas anderes.
Höheres! Der Wille, dort noch zu helfen, wo alles Uebrige zu
versagen schien. Wenn man in einer Woche fünf Puor])oral-
prozesse an seine Abteilung aufnimmt und alle fünf in einer
Woche sterlren sieht, wie mir das passiert ist, so ist (las wohl
ein Ereignis, geeignet, auch den Gleichgültigen zu erschüttern.
Wenn Pehani den Versuch macht, mein Vorgehen aus
seinen Erfahrungen an dem Material der Klinik Chrobak zu
beurteilen, so muß ich ihm vor allem envidern, daß unser beider
Mateiial fast unvergleichbar ist, wie dies Herzfeld richtig her-
vorliebt. Nach Bucuras Statistik beträgt die Mortalität aller
Puerperalprozesse der Klinik Chrobak — nur diese Zahl kann
in Betracht gezogen werden — etwas über 2^U'^h-, meine Fälle
zeigen die «•schreckende Mortalität von fast 25”/o. Zwei Kranken-
maleriale von so durchaus verschiedener Qualität stellen auch
durchaus verschiedene Ansprüche an die Therapie. Wenn ich
im Kampfe gegen das AVochenbettfieber zu heroischeren Mitteln
griff als meine A^orredner, so war es eben ein Kampf, von dem
man sagen kann: ad li’iarios venit.
Trotzdem ist die Zahl der Operationen, deren Indikations¬
stellung ich als kontrovers konzediere, eine relativ kleine. Es
handelt sich im ganzen um sieb en AI e tro p h 1 e b i t i s- und
f ü n f R a d i k a 1 o p e r at i o n e n unter 470 Puerperalprozessen. In
zahlreichen der übrigen Fälle kamen konservative Methoden zur
Anwendung; in erster Linie Kollargol und Pal ta u f s e r u m.
AA"as die Anwendung des letzteren betrifft, so hatte Prof. Fallauf
selbst die große Güte, meine Krankengeschichten und Teinperatur-
iabellen einer genauen Durchsicht zu unterziehen. Ich gl a u he,
er konnte sich dem Eindrücke nicht verschließen,
daß ein Einfluß des Serums auif den Amrlauf des
AA^ oche n b ett f i eb ers nicht zu erkennen war.
Es besteht hier ein Gegensatz zwischen den Ergel)iiissen
der Serumbehandlung an meiner Abteilung und an dim Kliiiilum
Chrobak und Knauer, der am ehesten aus der Verschiedenheit
unseres Materiales zu erklären ist.
Ich sehe ja die Puei'iieralprozesse nicht entstehen wie die
Aerzte der geburtshilflichen Kliniken. An meine Abteilung kommim
die Wöchnerinnen jin besten Falle am drittim oder vierten 'tage
der Erkrankung, zumeist aber viel siiäter. Da nützt dann wi'iler
die Sleigerung der Leukozytose, noch die Zufuhr von Atexiiien
und Immunkörpern. Auch das DiphUierieheilserum liilft nur, wenn
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
rechtzeitig angewendet, und meine Pralle küinnien — wenigstens
für die iSeininbehandlnng — regelmäßig zu ßpät, ilie jneisten
schon mit lokalisierten Ih'ozessen.
Die speziellen Gründe für dius operative Vorgehen hahe ich
in meinem Vortrage zur Genüge auseinandergesetzt. Wenn dem¬
gegenüber Bedenken gellend gemacht werden, die ich mit Rück¬
sicht auf den Mangel an gesammelten Erfahrangcn als Ihoorelische
bezeichnen muß, so möchte ich dem doch: ontgegouhalleu, daß
die Chirurgen nie ihre Erfolge hei Appendizitis erzielt halten,
wenn sie sich auf Ueherlegungen am Seziertische, im Lahoratorium
oder sagen wir auch am Kranken l)etto beschränkt liätten. Für
die Chirurgie gilt unbestrilten das Dichterwort: Im Anfänge war
die Tat. Nur am Operalionslische kann man jene Erfahrungen
sammeln, die das Recht zu einem sicheren Urteile verleilien.
Ich will ührigens nicht der Diskussion der einzelnen vor¬
getragenen Argumente aus dem Wege gehen umt werde die Dis-
knssionshemerkungen in der Reihenfolge erörtern, die ich meinem
Vor trage vom 3. Mai zugrunde gelegt hahe.
In bezug auf die Exkochleation bei septischer Endo¬
metritis bat sich Fabricius meinen Ausführungen augeschlossen.
Nachdem die anderen Diskussionsredner nicht gegen dieselben
Stellung genommen haben, erübrigt es sich wohl, auf diesen
einverständlich verurteilten Eingriff nochmals einzugehen.
Bezüglich der Radikaloperation haben alle Vori'cdner
Einwendungen erhoben. Fabricius beurteilt sie nicht günstig
nach einer einzigen ungünstigen Erfahrung aus dem Jahre 1895,
die sich auf eine Kombination von Gravidität mit Uteruskarzinom
bezog. Der Fall ist an Peritonitis- .gestorben, gehört ühiägeus
eben wegen seiner Komplikation nicht hieher. Die anderen Herren
verfügen zwar über keinerlei persönliche Erfahrung, glauben aber,
die Operation auf Grund theoretischer Erwägnngen ahlehnen zu
müssen. Schwerer als diese wiegt wohl das Ergebnis meiner
Untersuchungen an meinem Leichenmaterial. Neunmal unter
112 Sektionen ergab der Befund reine septische Endo¬
metritis, also einen nur auf den Uterus beschränk¬
ten Prozeß', ohne jede Metastase oder sonstige Kom¬
plikation. Zu ähnlichen Resultaten kam Arnos aus dem^ In¬
stitute V. Recklinghausens, der zweimal unter 32 Sek¬
tionen, und T r e u b, der z w e i m a 1 u n t e r 34 Sektionen reine
puerperale Endoni'etritis konstatierte. In allen diesen Fällen
hätte vielleicht eine rechtzeitig ausgeführte Utorus-
e X s t i r p a t i o n Heilung g e bracht..
Die Schwierigkeit, die „rechte Zeit“ zu bestimmeu, hahe
ich selbst in meinem Vortrage gebührend betont. Wenn ich aber,
um dieser Schwierigkeit auszuweichen, die Frühoperation em¬
pfahl, so hahe ich doch nicht,, wie mir das Hai ban zumutet.
je gesagt, man solle, jeden Puerperalp rozeßi, der an zwei
Tagen 38 bis 39'’ zeigt, operieren, sondern ausdrücklich er¬
klärt., daßi i n n e r h a 1 h e i n e r h e s t i m m t e n k 1 e i n e n G r u p p e
die Fälle, die konstant, d. h. acht bis zwölf Stundeii
lang, zwei Tage b i n d u r c h T 'C m p e r a t u r e n v o n 39 b i s 40
zeigen, eventuell zur Operation geeignet seien.
Ganz ähnlich wie bei der septischen Endometritis stand
es noch vor wenigen Jahren in der Appendizitisfrage. Auch die
Chirurgen haben die Sebwierigkeit der Prognose der Appendizitis
bis heute nicht überwunden. Die Inkongruenz zwischen klimscliem
Bilde und anatomischem Befunde ist eine noch in den jüngsten
Publikationen wiederkehrende Klage. Aber die Chirurgen haben
die Schwierigkeit, die sie nicht besiegen konnlen, durch die Früh¬
operation umgangen. ... c-. 'i
Daß die Radikal operation (wenigstens wie ich sie aiistiibrej
ein so wesentlich gefährlicherer Eingriff sei wie die Appendizitis-
operatioii, kann ich nicht zugeben. Keiner meiner Fälle ist an
Peritonitis zugrunde gegangen. Diejenigen, die gestorben simt
sind gestorben, nicht weil ich sie operiert habe, sondern weil
ich sic nicht mehr retten konnte. Sie sind a m W o c h e n b c 1 1-
fieber gestorben.
Wenn eine Aeußerung Pehams dahin zu verstehen sein
sollte, daß zwischen der hohen Mortalität meiner lueipeia-
prozesse und meinen Operationen ein Zusammenhang hestüiu e,
so müßte ich sie entschieden zurückweisen.
Entscheidend für das Schicksal der sogenannten Radikal¬
operalion wird ausschließlich die Frage sein: Was leiisteii \\n
den Kranken? Diese Frage ist aber nach den hisherigen j.r-
fahrungeu noch nicht zu beantworten. . , , i
Fast ebenso abweisend wie gegen die eben_ besprochene
haben sich die Diskussionsredner gegen die Operation der puer¬
peralen Pyäniie, gegen die Venenunferhindung und -ausraumung
verhalten.
Fabricius sprich! ihr keine C'hance zu, weil ibm ein
operierter Fall drei Tage später zugrunde ging, bei dem die
Sektion einen bis in die Vena cava reichenden Thrombus auf
deckte. .Solche Fälle sind eben inoperabel, sie gehen mit und
ohne Operation zugrunde.
11 alb an bringt wieder eine Menge theorelischer Arguimmle
gegen die bisher geübten Methoden der Melrophlehilisoperalion
vor. Wenn er die transperitoneale Methode Biimms verwirfl,
so bitte ich ihn, sich diesbezüglich mit Herrn Geheimrat Bumm
seihst auseinanderzusetzen, dem eine viel größere Erfahrung zu
Gebote steht als mir. Wenn Halb an aber von der exlrapm-i-
tonealen Methode Trendel enhurgs behauplot, daß sic aus
den von ihm angeführten Gründen nichts nülzen könne, so
muß ich doch einwenden, daß sic in Tre nd e 1 e n b u r g s einem
chronischen Falle trotz Halban genülzthat, indent die Schüttel¬
fröste prompt aufhörten.
Nun sagen die Herren Halban und P chain zwar: das
sind Scheinerfolge! Es kommen Fälle durch, die 70 und mehr
Schüttelfröste durchgemacht haben. Das gehe ich zu. Ich hahe
ja seihst rlie Temperaturkurve eines Falles demonstriert, der
nach zahlreichen Schüttelfrösten genas, und einen erwähnt, der
mehr als 60 üherstand. Das sind aber Ausnahmen, die mau
sich merkt, weil sie eben so selten Vorkommen.
Wenn so wie im Falle Trend elenhur gs und in so und
so viel anderen nach der Operation die Schütteltröstc vom
nächsten Tage an zessieren, so sind das doch nicht lauter Zu¬
fälle! Da hat eben die Operation genützt.
Da kommt aber Herr Halban und sagt: Die Mortalität
der Mctrophlehitisopcralion beträgt 70'*/«, während die der un¬
beeinflußten Metrophleliilis 30"/" nicht übersteigt. Woher nimmt •
Halban letztere Zahl? Im allgemeinen wird die iVlortalität der
Metrophlehilis mit 60 bis 70''/o angegeben; von einer Mortalität
der Metrophlebitisoperalion kann man aller überhaupt kaum
sprechen. Mir ist ein Fall an Unterhindung der Arteria iliaca
interna zugrunde gegangen, obwohl er in bezug auf die Phlebitis
geheilt, seit Wochen fieberlos war. Das ist etwas, was umn
nicht machen darf, wie ich seither weiß. Sonst sind alle Fälle
nicht der Operation, sondern ihrem Puerperalprozesse erlegen.
Damit fallen alle Folgerungen Hai bans und Pehams, auch
wenn ich ihnen konzediere, daß die Mortalität der Metrophlebitis
tatsächlich viel kleiner ist, als dies allgemein angenommen wird;
allerdings nicht der Metrophlehitis, die sie aus den Schüttel¬
frösten diagnostizieren, sondern der Metrophlebitis, die icb als
solche diagnostiziere u. zw., wie schon in meinem Vortrage er¬
wähnt, aus den vom Zervix zur Beckenwand ziehenden Infd-
Iratcn,’ die gemeiniglich als Parametritis bezeichnet
werden. Die Mehrzahl der Parametritis ist eben in
diesen Fällen nicht, wie man bisher geglaubt hat,
eine Beckenphlegmone, sondern ein mit der Peri¬
phlebitis des utero-vaginalen Plexus zusammen¬
hängender Prozeß, sie ist die Phlegmasia alha dolens
des Ligamentum latum.
Gegen diese richtet sich in schweren Fällen mein vaginales
Verfahren, das von Halban und Peham einmülig abgelelmt
wird. Wenn dieselben meiner Methode besonders zur Last legen,
daß man sich dabei auf das Tästgefühl verlasisen müsse, so
berührt dieser Vorwurf im Munde von Gynäkologen merkwürdig.
Ich bin nun in der Lage, Ihnen an diesem Leichenpräparate
die Leistungsfähigkeit der vaginalen Operation zu demonstrieren.
Dasselbe entstammt einer Kranken, die fünf Tage post partum
mit schwerer septischer Endometritis und rechtsseitiger Metro¬
phlehilis in Form eines fast faustgroßen Tumors zur Operation
kam. Ich konnte den Zuschauern jede einzelne der kleiiifinger-
dicken, herauspräparierten Venen vor dem Durchschneiden zeigen.
Nach Beendigung der Operation war an Stelle des Tumors die
mächtige Höhle getreten, die Sie an dem Präparate selien. Nur
außen und vorne stand noch ein dem thromhophlebilisch vei-
änderten Plexus vesico-vaginalis' entsprechendes Infiltrat, das sich
operativer Ingerenz entzog. Von hier aus nahm auch trotz supia-
vaginaler Amputation des schwer veränderten Uterus ^die Sepsis
ihren Fortgang, dei' die Patientin erlag. Hier sehen Sie ein bei
der Operation exstiiidertes Venenstück in stark gescbrumpttem
Zustande. Das Präparat zeigt, daß es wohl möglich ist, den
Plexus utero-vaginalis per vaginam operativ anzugreifen; der
Plexus vesico-vaginalis entzieht sich allerdings uiiseier dei-
zeitigen Technik.
Zu meinem Erstaunen haben die Herren Vorredner aucli m
der Peritonilisfrage sich auf einen Standpunkt gestellt, der mir
nach meinen Erfahrungen unhegreitlich erscheint.
Fabricius hat schon im Jahre 1896 im Anschlüsse an
einen durch Laparotomie geheilten Fall von Perforaliousperitomtis
hei Pyosalpinx empfohlen, in solchen fällen das Abdomen weit
offen zu lassen. Ich übe dieses Verfahren bei der pueipeialen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 21
Peritonitis, ohne jetzt dein Aveiten Uitenlassen einen wesentlichen
Einfluß zuzLischreiben. Trotz seines Erfolges bei nicht puerperaler
Peritonitis warnt Fab ri eins vor der Laparotomie bei der puer¬
peralen Form, weil zu befürchten sei, daß bei Becke nperi to¬
il it is, die dieselben Symptome mache, durch Laparotomie .
aus einer lokalisierten eine diffuse Peritonitis werde. Dieser An¬
schauung schließt sich Peham an. Die abgesackte Peritonitis,
die solle man allerdings durch Eröffnung des Eiterherdes ope¬
rieren; sie gehe eine sehr gute Prognose. Ich habe, Avie Sie
am 8. Mai gehört haben, 27 solche ahgesacktc Peritonitiden
operiert; vier sind gestorben, drei davon an freier Peritonitis,
die schon zur Zeit der Operation ohne mein W'issen bestand.
Man kann also irrtümlich die Diagnose auf abgesackte Peritonitis
stellen, Avährend es sich tatsächlich um eine freie handelt. Auch
das Gegenteil kann geAviß Vorkommen, Avenn man nicht über
genügende Erfahrung verfügt. Mir ist das eben noch nie
passiert. Ich habe einmal einen Bauch unter der falschen
IJiagnose Peritonitis eröffnet; da handelte es sich um puerperale
Sepsis mit Meteorismus. Nachdem die Operation ohne Narkose
A'^orgenommen AAuirde, hat der kleine Eingriff der ohnehin Amr-
lorenen Kranken gewiß nicht geschadet.
*Peham hezAA-^eifelt die Möglichkeit einer Heilung der puer¬
peralen Peritonitis durch Laparotomie, weil diese Form der
llauchfellentzündung immer in den allerersten Tagen ])Ost partum
entstehe und innerhalb der ersten Woche zum Tode führe. Diese
Schildeiamg paßt vorzüglich auf die Zeit vor 30 Jahren. Damals
kamen gelegentlich derartige akute Peritonitiden reiheiiAveise im
Gefolge von Puerperalfieherendcmien zur Sektion. Den älteren
pathologischen Anatomen sind diese Fälle wohl bekannt. Wir
jüngeren sehen sie A\mhl nur ausnalimsAveise, Avas vielleicht auf
Virulenzvei-ininderung der Streptokokken zurückzuführen ist.
Ahe]' akute, diffuse, puerperale Peritonitiden Avaren meine
geheilten neun Fälle auch. Da gab es Aveder Absackungen, noch
Adhäsionen oder alte Salpingitiden.
Wie man diesen Erfolgen gegenüber noch der Laparotomie
bei puerperaler Peritonitis entgegentreten kann, A^erstehe ich ein¬
fach nicht! Was machen denn die Herren, wenn sie vor einem
Bauche voll Eiter stehen?
lieber die Technik der Peritonitis operation ist
eine Diskussion möglich, über ihre Indikation nicht
mehr! ,
Wir stehen heute in der chirurgischen Therapie des Puer¬
peralprozesses am Beginne eines neuen Weges. Wer wissen Avill,
Avohin er führt, der darf nicht nur den Kompaß theoretischer
Voraussetzungen befragen, der ihm die Richtung zeigt, der mußi
ihn gehen. Und ich Averde ihn gehen.
Dr. H a 1 b a n : Ich kann auf verschiedene Ausführungen des
Herrn Vortragenden, mit denen ich nicht einverstanden bin, nicht
mehr eingehen, da nach dem Schlußworte eine Diskussion nicht
möglich ist. Ich möchte nur die eine Tatsache feststellen, daß
sich meine Bemerkungen hauptsächlich gegen die einfache,
transperitoneale Unterbindung der Venen gerichtet haben. Dies¬
bezüglich sagte ich, daß die hohe Mortalität von TO^/c nach
diesen Operationen nicht ermutigend sei. Der Vortragende meinte
aber, daß diese Ziffer zu hoch gegriffen sei und sprach von 307o
Mortalität. Wenn Avir aber seine eigenen Resultate prüfen, so
zeigt sich, daß von sieben von ihm in dieser Weise operierten
Fällen fünf gestorben sind, Avas einer Mortalität von 71'37o
entspricht. B u m m operierte acht Fälle mit fünf Todesfällen,
d. i. eine Mortalität von ca. 63“/o. In den von Opitz zusammen¬
gestellten 19 Fällen beträgt die Mortalität über 687o. Daraus
geht hervor, daß meine Angaben richtig sind.
Prim. Priv.-Doz. Dr. Latzko: Ich will auf die Berechnungen
Hai bans gar nicht eingehen, Aveil ich mich dem Ausspruche
Herffs aus seinem ausgezeichneten Werk über das Kindbett¬
fieber vollinhaltlich anschließe, daß nämlich Statistiken mit so
kleinen Zahlen ganz Avertlos sind.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Jahresversammlung vom 14. Mai 1907.
Vorsitzender: Obersteiner.
Schriftführer : P i 1 c z.
I. Administrativer Teil.
Der Präsident teilt mit, daß der bisherige Vereinskassier
Herr Li ns may er aus dem Ausschüsse ausgetreten ist, und
dessen Funktion einstweilen Herr Dr. Fuchs übernommen hat.
Bericht des (stellvertretenden) Oekonomen.
Bericht des Schriftführers.
Bericht des Bibliothekars.
Die Neuwahl des Ausschusses ergibt: Obersteiner
(Präsident), v. Wagner (Vizepräsident), A. Fuchs (Oekonom), .
P i 1 c z und R a i m a n n (Schriftführer), Richter (Bibliothekar),
Drastic h, v, Frankl-HocliAvart, Redlich und S c h 1 ö ß
(Beiräte).
Zu korrespondierenden Mitgliedern werden gewählt die
Herren Dr. Max L ähr -Berlin und Dr. Siegfried T ü r k e 1 - Wien.
Der Präsident macht Mitteilung, daß vom 4. bis 5. Oktober
1907 der Oesterreichische Irrenärztetag in Wien stattfmden Avird.
Der nächstjährige Oesterreichische Irrenärztetag soll mit dem
HI. internationalen Kongreß für Irrenpflege verflochten werden,
der anfangs Oktober 1908 in Wien tagen Avird.
II. Wissenschaftlicher Teil.
Vortrag: Stern b erg: Ueber die Kraft bei
H e m i p 1 e g i s c h e n. (Erscheint demnächst ausführlich.)
Diskussion: Hirschl fragt, ob nicht — entsprechend
den Ausführungen von Li ep man n — in den Fällen von rechts¬
seitiger Hemiplegie, bei Avelchen ein „negativer“ Simultandruckeffekt
vorliegt, an Apraxie zu denken sei ; es gehöre ja immerhin ein
gewisses Maß von Geschicklichkeit dazu, das Dynamometer zu
handhaben.
Sternberg erwidert, daß er irgendwie gesetzmäßige Be¬
ziehungen — sei es zu Mitbewegungen, sei- es bezüglich der
Unterschiede zwischen rechts- und linksseitigen Hemiplegien nicht
hatte konstatieren können. Es kommt offenbar auf die Lokali¬
sation des Herdes an, ob positiver oder negativer Simultaneffekt
zustande käme. Diesbezüglich wären genaue anatomische Unter¬
suchungen der Fälle erforderlich.
I n f e 1 d erwähnt die Zweckmäßigkeit der Sternberg-
schen Modifikation des Coli in sehen Dynamometers gerade für
geringe Kraftentfaltung und erinnert an folgende Beobachtung :
Wenn man Leute sieht, die aus irgendeinem Grunde nicht inner-
AÜeren, z. B. solche mit Unfallsneurosen, kann man fast immer
konstatieren, daß bei Simultandruck der ursprünglich sehr geringe
Druck ganz bedeutend zunimmtb die Leute drücken unwillkürlich
gleichzeitig stärker. Das könnte Avohl auch bei organischen
Krankheiten der Fall sein. Interessant sind dagegen gerade die
Fälle mit negativem Simultaneffekt.
Hirschl meint, daß die von Sternberg als Bei¬
spiele demonstrierten Tabellen recht gut mit seiner (Hirschl s)
Anschauung stimmen. Es müßte noch untersucht werden, ob die
Individuen mit rechtsseitiger Hemiplegie nicht auch sonst sich
apraktisch verhalten.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden
15. bis 18. April 1907.
(Fortsetzung.)
HI. Sitzung: Dienstag den 16. April, vormittags.
Meyer und B e r g e 1 1 - Berlin : Ueber Typhus¬
immunisierung.
Es ist eine Typhusserumtherapie bisher nicht möglich ge¬
wesen, Aveil nach den Untersuchungen von Pfeiffer durch
bakterizide ^Substanzen aus den Bakterienleibern höchst giftige
Endotoxine frei Averden. Vortr. haben zunächst versucht, diese
Endotoxine zur Darstellung zu bringen. Sie Avuschen Typhus¬
bazillen, ließen sie 24 Stunden mazerieren und filtrierten durch
ein Chamberlandfilter ; 2 enU vom Filtrat töteten Kaninchen.
Nahmen sie Vm tödlicher Dosis Typhusbazillen mit Avenigen Teilen
(nicht tödlicher) Filtratdosis, so starben die Kaninchen. Das Filtrat
enthielt also Aggressine. Sodann behandelten die Vortr. Typhus¬
bazillen mit scharf getrockneter, gasförmiger HCl und filtrierten.
Dieses Filtrat, ähnlich Avie das Filtrat einer Typhusbouillon¬
kultur (nach vorübergehender vier- bis fünftägiger Giftigkeit) zeigte
diese Giftigkeit nicht. Vortr. gehen dann auf die WirkungSAveise
der Filtrate ein: So beim Kaninchen, avo die Giftwirkung' in
Därmveränderungen, Schwellung der Pay er sehen Plaques,
leukozytären Infiltraten, Blutungen etc. besteht. Die Milz — ■ Avenn
auch öfters groß — war doch nicht vom Typus der Infektionsmilz.
Schafe, Pferde erwiesen sich gegenüber den Filtraten sehr
empfindlich, doch ließ sich nach halbjähriger Vorbehandlung ein
Immunserum gegenüber den frisch abgebauten Endotoxinen ge¬
winnen. Die Wirkungsweise Avurde an Mäusen ausprobiert, es
gelang nicht nur die Infektion zu mildern, sondern auch infizierte
(besonders die intraperitoneal geimpften) auf der Höhe der In¬
fektion noch zu retten. Mit 0'3 bis 0‘5 enU des Filtrates konnte
die drei bis vierfache tödliche Dosis paralysiert werden. Vortr.
weisen sodann auf die Bedeutung der Phagozytose bei Abtötung
der Typhusbazillen intraperitoneal hin ; ' in dem Maße als diese
scliAvanden, traten mit Fettfarbstoffen färbbare stark lichtbrechende
Körner in den Leukozyten auf.
Nr. 21
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Vortr. haben mit dem Endoantitoxinserum auch beim
Menschen (hoffnungslose Typhen) mit günstigem Erfolge Versuche
angestellt.
Naegeli-Naef - Zürich ; lieber die Häufigkeit
der Tuberkulose.
Vortr. hatte an seinem Sektionsmaterial früher festgestellt,
daß 97®/o der Erwachsenen an Tuberkulose leiden. Dagegen
sind folgende Einwände erhoben worden :
1. die Zahl der tuberkulösen Leichen sei nicht überall so hoch ;
2. es seien neben tuberkulösen Veränderungen auch andere
miteingerechnet ;
3. die Zahl der Tuberkulösen Leichen lasse keinen Schluß
auf die Tuberkulose im Volke zu;
4. die Bazillen brauchen durchaus nicht tuberkulös zu sein,
da auch andere säurefeste miteingerechnet sein können.
Zu 1 führt N a e g e 1 i andere Statistiken an : so von
Burckhardt (91®/o TB.), Schmorl 94‘’/o, Lubarsch 897o
und andere mehrere. Zu 2 bemerkt er, daß die Induration nicht als
sicher tuberkulös in seine Statistik eingerechnet wurde, Käseherde
seien sicher tuberkulös, Kalkherde mit großer Wahrscheinlichkeit.
Zu 3 sucht er statistisch nachzuweisen, daß dem Bilde seiner
Mortalitätsstatistik die Volkszusammensetzung ungefähr entspricht.
Den Punkt 4 halte er bis jetzt für einen unbewiesenen Einwand.
S t ä h e 1 i n - Göttingen : Zum Energiehaushaltebei
der Lungentuberkulose.
Stähelin hat die Frage in Angriff genommen, wie weit
die Steigerung der Wärmeproduktion, die im Fieber auftritt,
unabhängig von der Temperaturerhöhung als direkte Folge der
Infektion aufzufassen ist. Er hat deshalb bei sich und bei zwei
fieberlosen Phthisikern den Gaswechsel in 12 stündigen fort¬
laufenden Versuchen im Jaqu et sehen Respirationsapparat
untersucht, einmal nach reichlicher Kohlehydratnahrung, zweimal
nach reichlicher Eiweißzufuhr. Er fand, daß in einem Fall die
Eiweißzufuhr eine abnorm starke Steigerung der Wärmeproduktion
gegenüber dem nüchternen Zustand zur Folge hatte, im anderen
war diese Wirkung nicht so ausgesprochen. Bei Kohlehydrat¬
nahrung ließ sich kein Unterschied gegenüber dem Gesunden
nachweisen. Ferner wurde ein Phthisiker untersucht, bei dem
während des Respirationsversuches Nachtschweiß ausbrach. Der
respiratorische Stoffwechsel zeigte während der Schweißperiode
keine Aenderung. Demnach scheinen die Schweiße der Phthisiker
keine direkte wärmeregulatorische Bedeutung zu besitzen.
Liebermeister - Köln : Ueber die Verbreitung
des Tuberkelbazillus in den Organen der Phthi¬
siker.
Vortr. hat bei tuberkulösen Leichen, die ohne Miliartuber¬
kulose in späteren Stadien gestorben waren, sowohl in dem
Blute wie in den Leichenorganen, in denen sich histologisch
keine Tuberkelbazillen und tuberkulösen Veränderungen, wohl
aber toxische, vorfanden, vollvirulente Tuberkelbazillen durch
Meerschweinchenimpfung feststellen können. (So z. B. in den
Nieren, im Herzmuskel, an den Venen mit gewissen histologischen
Veränderungen, an Nerven etc.). Es scheint daher der tuberkulöse
Organismus im höheren Maße als man bisher anzunehmen ge¬
neigt war, mit Tuberkelbazillen infiziert zu sein.
Kuhn-Berlin: Ueber H y p e rämi e b e h andl u n g der
Lungen mittels der Lungensaugmaske.
Die Kuhn sehe Lungensaugmaske beruht nicht nur auf
der Beobachtung der günstigen Beeinflussung tuberkulöser Prozesse
in den Lungen durch Blutstauung im kleinen Kreislauf, sondern
auch auf der Erfahrungstatsache, daß die blutärmeren Teile der
Lungen (Lungenspitzen usw.) früher und schwerer an Tuber¬
kulose erkranken, als die besser durchbluteten, bzw. normale
Blutfülle zeigenden Teile. Die Maske hat den Zweck, durch eine
in abstufbarer Weise erschwerte Einatmung eine Luftverdünnung
im Brustraume und hierdurch eine Ansaugung von Blut und
Blutstauung in den Lungen zu bewirken. Das Verfahren ist nicht
mit der gewöhnlichen Atemgymnastik zu verwechseln, welche
durch Dehnung der Lungen dem Prinzip der möglichsten Ruhig¬
stellung der erkrankten Teile widersprechen würde. Die Lungen
sind vielmehr bei der Einatmungsbehinderung an größeren Ex¬
kursionen gegenüber der freien Atmnng behindert, ruhiggestellt.
Die Gefahr des Lungenblutens ist ausgeschlossen, weil sich die
Gefäße denvermehrten Anforderungen anpassen können. Während
also die Lungen trotz starker Durchblutung ruhiggestellt bleiben,
erlangt doch gleichzeitig durch Ausbildung der Atemmuskulatur
und des gesamten Brustkorbes die natürliche Funktionstüchtigkeit
dieser Organe eine dauernde Kräftigung, welche auch für
späterhin das für die Lungentuberkulose hauptsächlich dispo¬
nierende Moment der Blutarmut der Lungen durch bleibende
bessere Atmung und Blutansaugung zu heben imstande
ist. Zur Erzeugung stärkerer Blutfülle bzw., Stauungshyperämie
der Lungen wird die Saugmaske täglich ca. zwei bis vier Stunden
immer 1 bis iVi Stunden hintereinander bei mittlerer Atmungs¬
behinderung verordnet.
Alle Katarrhe der Luftwege, Keuchhusten, Lungenentzündung
und besonders tuberkulöse Erkrankungen der Lunge
und Pleura werden hervorragend günstig beeinflußt. Der Husten¬
reiz wird bedeutend gelindert, der Auswurf sehr rasch geringer
und alle klinischen Erscheinungen, Rasselgeräusche etc. schwinden
meist überraschend schnell. Das Blut nimmt an Zahl der roten
Blutkörper und Hämoglobingehalt, ebenso wie in der verdünnten
Höhenluft, in kurzer Zeit bei allen Patienten zu. Die Zahl der
Leukozyten wird wie durch kein anderes Mittel betfrächtlich ver¬
mehrt. Nach jedesmaliger Anwendung der Maske (zirka eine
Stunde) steigt die Zahl der Erythrozyten um Zirka eine Million im
Kubikmillimeter und die der Leukozyten um zirka 1000. Die Er¬
höhung bleibt ein bis zwei Wochen bestehen. So sind durch die
Maske die Vorzüge des Höhenklimas ohne seine Schädlichkeiten
erreicht.
Diskussion. C o r n e t - Reichenhall hebt die größere
Häufigkeit der Tuberkulose in den Arbeiterkreisen hervor, und
gerade diese Kreise sind von Naegeli seziert worden. Ferner
ist die verschiedene Virulenz der Tuberkelbazillen eine unbe¬
streitbare Tatsache. Er hält N a e g e 1 i s Angaben für übertrieben.
Cohnstamm - Königstein hat bei einem Kind nach
Masern eine Tuberculosis verrucosa cutis auftreten sehen, also
einen Beweis, daß Tuberkelbazillen im Blute kreisen ohne andere
Tuberkuloseerscheinungen hervorzurufen.
Grober- Jena kann die Kuhn sehen Angaben, wenigstens
zum Teil, bestätigen. Bei Chlorose, bei Anämien nach Magenge¬
schwüren stieg die Zahl der Erythrozyten rasch und dauernd.
Bei Krebs, schweren Tuberkulosen und Knochenmarkerkrankungen
sah er keine Erfolge.
S c h 1 e i p - Freiburg nimmt an, daß die rasche Zunahme
sämtlicher Blutelemente nur auf eine scheinbare Zunahme der
einzelnen Blutelemente schließen läßt.
Kuhn -Berlin wiederlegt die Annahme von Schleip.
Naegeli- Zürich bestreitet, daß sein Material ein besonders
ausgewähltes sei. Bezüglich der verschiedenen Virulenz der
Tuberkelbazillen bemerkt er, daß es weniger auf die Virulenz
als auf die Weiterinfektion, die durch die Disposition bedingt ist,
ankommt.
M a 1 1 h e s - Köln und Gottstein - Köln : Ueber Wir¬
kungen von Verdauungsprodukten aus Bakterien¬
leibern auf den gesunden und infizierten Organismus.
Matth es hat früher gezeigt, daß Albumose aus indifferenten
Eiweißkörpern eine tuberkulinähnliche Wirkung hat. Es schien
daher aussichtsreich, Bakterienleiber durch Verdauungsfermente
in Lösung zu bringen, um so mehr, da die Lösung des Bakterien¬
leibes im Körper wahrscheinlich ein fermentativer Prozeß ist,
und die experimentell schon zu handhabenden autolytischen
Fermente des Körpers enge Verwandtschaft mit den Verdauungs¬
fermenten haben. Zusammen mit K r e h 1 hat M a 1 1 h e s früher
Kolikulturen verdaut. Die bakteriellen Albumosen waren giftiger
als die aus indifferenten Eiweißkörpern. Eine experimentelle
Untersuchung ihrer Wirkung dem mit dem gleichen Mikroorganismus
infizierten Tier gegenüber fehlte jedoch bisher. Eine solche Unter¬
suchung hat G o 1 1 s t e i n mit aus einer Pepsinverdauung aus
Typhusbazillen gewonnenen Albumose ausgeführt mit folgenden
Ergebnissen :
I. 1. Auf das gesunde Tier wirkt Typhusalbumose als starkes
Gift schon in relativ kleinen Dosen. 2. Ruft sie eine Leukopenie
hervor im Gegensatz zu anderen Albumosen. 3. Kann man Tiere
gegen Albumose immunisieren.
II. Auf das mit Typhusbazillen infizierte Tier wirkt Typhus¬
albumose bei zeitlich nahe liegender Injektion beider Komponenten
im Sinne der Bail sehen Aggressine.
(Fortsetzung folgt.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin. (Fortsetzung).
HI., Sitzungstag.
Bar den heuer - Köln : Oberschenkelbrüche be¬
sonders des oberen und unteren Drittelte s. (Un¬
blutiges Verfahren.)
Die intensive Beschäftigung mit den Oberschenkelfrakturen
hat Bardenheuer gelehrt, daß man alle Kranken mit Ober-
schenkelbrüchen sehr lange liegen lassen müsse, da bei zu früh¬
zeitigem Aufstehen nachträglich noch Verbiegungen an den
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 21
Knochen auftreten und anfangs gut erscheinende Behandlungs¬
resultate nachträgliche Verschlechterungen erfahren.
Die Deformitäten, welche nach Oberschenkelbrüchen be¬
obachtet werden, haben eine sehr verschiedene Bedeutung für die
Funktionen des Beines, je nachdem die dislozierten Fragmente
einen nach außen offenen Winkel miteinander bilden oder einen
nach innen sich öffnenden. Und zwar sind die ersteren Dis¬
lokationen die unangenehmeren, weil sie die Funktion sehr er¬
heblich beeinträchtigen. Man müsse daher bei der Behandlung
trachten, jede Dislokation der Bruchenden auszugleichen, wenn
das aber nicht möglich ist, wenigstens die Verschiebung soweit
ausgleichen, daß ein nach innen offener Winkel der Bruchenden
zustande kommt. Das Haupthindernis für die Adaptierung der
Fragmente ist der Muskelzug, an zweiter Stelle erst kommt die
Beschaffenheit der Bruchenden. Zur Ueberwindung des Muskel¬
zuges ist die Gewichtsextension das souveräne Mittel u. zw. müßten
in schwierigen Fällen sehr erhebliche Gewichte ziehen, um die
Muskelwiderstände zu überwinden. Bardenheuer hat Ge¬
wichte bis zu 60 Pfund angewendet. Er hat im ganzen in den
letzten vier Jahren 179 Fälle von Oberschenkelfrakturen behandelt
und damit 159mal Heilungen ohne Verkürzung erzielt. Auch in
den übrigen 20 Fällen war mit Ausnahme eines Falles die Ver¬
kürzung eine sehr geringe. Bardenheuer bespricht dann
noch besonders die subtrochanteren Frakturen; sie bieten gewisse
besondere Schwierigkeiten. Bei ihnen wird das obere Fragment
durch den Zug des Ileopsoas nach außen und vorne disloziert,
eine an das obere Fragment gelegte Heftpflasterschlinge, welche
durch einen Matratzenschlitz nach unten geleitet wird, bringt das
obere Fragment in die richtige Lage. Das untere Fragment wird
durch seine Schwere und durch die Adduktoren nach innen und
oben verschoben. An dieses wird ein quer nach außen wirkender
Zug angelegt. Dazu kommt die Längsextension. Auf diese Weise
hat Bardenheuer auch bei diesen schwierigen Frakturen gute
Erfolge gehabt. Desgleichen waren die bei den Schenkelhals¬
frakturen erzielten Resultate gute. Von 81 Frakturen des Schenkel¬
halses waren 51 laterale Schenkelhalsfrakturen, dieselben sind
alle fest verheilt und unter den 30 zentralen Frakturen war es
nur zweimal zur Bildung einer Pseudarthrose gekommen. Zum
Schlüsse betont Bardenheuer, daß die Extensionsbehandlung,
wenn sie auch mühevoll sei und sehr viel Aufmerksamkeit er¬
fordere, so gute Resultate ergebe, daß sie die allgemeinste Ver¬
breitung verdiene; er sei stets mit der Extensionsbehandlung aus¬
gekommen und habe niemals nötig gehabt, die blutige Methode
der Frakturbehandlung anzuwenden.
König (Altona) : Dasselbe Thema. (Blutige Behandlung.)
König meint, daß man sich angesichts der ausgezeichneten
Erfolge der heutigen aseptischen Wundbehandlung leichter zu
blutigen Eingriffen bei frischen Frakturen entschließen könne als
früher, wenn es darauf ankäme, ideale Heilungsresultate zu er¬
zielen. Bei Schaftbrüchen des Oberschenkels würde man aller¬
dings nur sehr selten Veranlassung zu einem blutigen Eingriff
haben. Anders liegen die Dinge aber bei den Schenkelhals¬
brüchen. Von diesen geben die intrakapsulären besonders schlechte
Resultate, aber auch bei den prognostisch günstigeren lateralen
käme es häufig genug zu Pseudarthrosen oder wenigstens zu
einer bindegewebigen Vereinigung der Fragmente.
Die Unsicherheit der Resultate und die Tatsache, daß es
auch bei jugendlichen Individuen zu Schenkelhalsbrüchen mit
ihren üblen Folgen kommen kann, hat König veranlaßt, bei
intrakapsulären Brüchen die Knochennaht zu machen.
Die subtrochanteren Brüche geben bei q..erer Bruchlinie
bei der unblutigen Methode gute Resultate, bei den Schrägbrüchen
sei die Prognose jedoch schlechter. Dagegen hat er in diesen
Fällen mit dem blutigen Verfahren gute Erfolge erzielt. Er empfehle,
die Operation früh auszuführen, bei späteren Operationen mache
es Schwierigkeiten, die Fragmente einander zu adaptieren.
Auch die Frakturen des unteren Femurendes könnten die
Indikation für einen blutigen Eingriff abgeben. Hier käme es durch
die Dislokation des unteren Fragments nach hinten gelegentlich
zur Zerreißung der poplitäalen Gefäße und zu Gangrän des Fußes.
Daher mußte in diesen Fällen, wenn die Reposition auch nach
der Punktion der Hämarthrose nicht gelingen will, blutig reponiert
werden.
König demonstriert noch einige Präparate und erklärt, daß
er bei seinen Operatiorien niemals Infektionen erlebt habe.
F i n c k - Charkow : Ein Gipshülsenverband zur
Behandlung von Knochenbrüchen, speziell der
Oberschenkelbrüche.
F i n c k kritisiert die bisher geübten Behandlungsmethoden,
speziell die Extensionsmethode sehr abfällig, welche seiner
Meinung nach die Fragmente nicht entlastet, sondern belastet. Er
versucht seine Anschauung durch schematische Zeichnungen zu
beweisen und demonstriert den neuen Gipshülsenverband, der
zunächst in der pathologischen Stellung angelegt wird und dann-
etappenweise verändert wird, bis die gewünschte Stellung erzielt ist.
H o f m a n n - Karlsruhe : Ueber den Ersatz des
Rollensystems bei Extensionsverbänden durch
Umsetzung des Längszuges in queren Zug.
H 0 f m a n n erläutert an der Hand von einigen Zeichnungen
und durch Vorführung von Modellen seine Methode, welche be¬
zweckt, die Längsextension durch einen queren Zug zu ersetzen.
Diese Modifikation, welche mit sehr einfachen Mitteln herzustellen
ist, soll es dem Arzt ermöglichen, auch unter sehr ungünstigen
äußeren Verhältnissen die Extensionsbehandlung durchzuführen.
Kuhn-Kassel demonstriert ebenfalls zu improvisierende
Extensionsapp arate.
N i e h a u s - Bern berichtet über günstige Erfahrungen, welche
er mit seiner Methode der temporären Annagelung bei der Be¬
handlung von Frakturen gemacht hat.
Koehler demonstriert ein von ihm konstruiertes E x ten-
s i o n s b e 1 1, welches es ermöglicht, die Körperschwere als
Extensionsgewicht anzuwenden.
G 9 r k e - Mülheim a. d. Ruhr stellt einen Kranken vor, bei
dem eine Oberschenkelfraktur mit Verlängerung
des verletzten Beines geheilt ist. Die Verlängerung des
kranken Beines beträgt 2 cm. Das Röntgenbild ergibt, daß es nicht
gelungen ist, die Dislokation ganz auszugleichen, daß also a priori
eine Verkürzung von 2 cm zu erwarten gewesen wäre. Es ergibt
sich also durch das abnorme Wachstum eine tatsächliche Ver¬
längerung des Oberschenkels um 4 cm.
Diskussion. Kausch - Schöneberg ist nicht immer mit
Extension ausgekommen, in einigen Fällen auch dann nicht, wenn
er sehr hohe Gewichte zur Extension angewendet hat. In solchen
Fällen hat er operiert. Bei Schenkelhalsbrüchen der Jugendlichen
würde er sich in Zukunft der König sehen Naht zuwenden, bei
älteren Leuten nicht. Er müsse aber betonen, daß er bei seinen
blutigen Repositionen zweimal Infektionen erlebt habe.
Lauenstein - Hamburg stimmt darin mit König überein,
daß man Schenkelhalsbrüche individualisierend behandeln, daß
also gelegentlich auch eine operative Behandlung Platz greifen
müsse.
Die Bardenheuer sehe Methode habe er an Ort und
Stelle studiert. Trotzdem habe er so günstige Resultate wie
Bardenheuer nicht erzielt. Er hat im ganzen 50 Fälle von
Oberschenkelbrüchen nach Bardenheuer behandelt und damit
eine durchschnittliche Verkürzung von 0'5 cm erzielt. Freilich sei
unter seinen Fällen auch einer, bei dem die Verkürzung 5'5 cm
betragen habe. Die Schenkelhalsfrakturen sind der Extension am
wenigsten zugänglich. Man könne den Kranken mit Fractura colli
femoris aber schon sehr wesentlich nützen, wenn man die Außen¬
rotation aufhebe. Das könne man durch Fixieren des gebrochenen
Gliedes an das gesunde. Dadurch würde zugleich das Hinauf¬
rutschen des unteren Fragments vermieden. Endlich erwähnt
Lauenstein noch einen Fall von Oberschenkelfraktur, bei dem
das Bein nach der Heilung der Fraktur um 2 cm verlängert war,
wie in dem Falle des Herrn Görke. Doch habe sich in seinem
Falle die Verlängerung wieder verloren, nachdem der Kranke
herumgegangen war.
Sprengel - Braunschweig hat mit der Extensionsbehandlung
keine idealen Resultate erzielen können ; auch sei das Barden-
h euer sehe Verfahren meist in der Praxis nicht durchführbar.
Daß Bardenheuer keine Schleifapparate bei seinen Extensions¬
verbänden anwende, hält Sprengel für einen Nachteil, Aus
diesem Fehlen, der Schleif apparate erklären sich die großen Ge¬
wichte, die Bardenheuer anwenden müsse.
(Fortsetzung folgt.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Sclirötter Donnerstag
den 23. Mai 1907, um 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz; Hofrat Professor y. Sclirötter.
Programm:
A. Administrative Sitzung.
Wahl neuer Mitglieder,
B. Wissenschaftliche Sitzung.
1. Demonstrationen.
2. Dr. L. Schweiger; Ueber tabetiformo Veränderungen der
Hinterstränge bei Diabetes.
Das Präsidium.
V.rantworUich.r Rtdakttur: Adalbert Karl Trupp. V.rlaf von Wilhelm Braumhller in Wien.
Drnok von Bruno Bartelt, Wien XVIII., Thereiiengaeee 8.
rr - ■
Die
„Wleuer kllulscUe
WoclieiiscUrift“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an dieVerlags-
handlung.
VI- -
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V, R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C, Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
rr .
AboiiiieiiieiitsprelN
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Insertions-
Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
Abonnements deren Abbestel¬
lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
1 11 .s c r a t e
werden mit 60 Ii = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Ueberoinkommen.
-
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
Wien, 30. Mai 1907.
Nr. 22.
XX. Jahrgang.
INH
1. Origiualartikel : 1. Aus der Klinik Chrobak. Klinische Beiträge
zur Serumbehandlung des Puerperalfiebers. Von Dr. Anselm
Falkner.
2. Aus dem staatlichen serotberapeutischen Institut in Wien.
(Vorstand: Prof. R. Paltauf.) Ueber den Nachweis von Milz¬
brandbazillen an Pferdebaaren. Von Regimentsarzt Doktor
V. K. Ruß.
3. Aus der inneren Abteilung des Krankenhauses „Kindlein Jesu“
in Warschau. (Vorstand: Doz. Dr. W. Janowski.) Ein Fall
plötzlicher Kompression des Brustkorbes und Abdomens mit
sekundären Hämorrhagien, Oedem und Zyanose des Gesichtes
und Halses. Von Dr. W. E 1 1 i n g e r, Assistenzarzt.
4. Ueber die Spezifität der Bakterienpräzipitine. Von Dr. Leo
Z u p n i k.
5. Berichtigung zum Artikel: Erfolgreiche Operation eines Hypo¬
physentumors auf nasalem Wege. Von Prof. Dr. H. Schloffer.
II. Referate; Medizinisch-klinische Diagnostik. Von Professor
Dr. F. Wes euer. Grundriß der medikamentösen Therapie
der Magen- und Darmkrankheiten einschließlich der Diagnostik.
Von Dr. med. P. R o d a r i. Der Diabetes melitus. Von Doktor
B. Naunyn. Die Krankheiten des Magens und ihre Be-
Aus der Klinik Chrobak.
Klinische Beiträge zur Serumbehandlung des
Puerperalfiebers.
Von Dr. Aiiselin Falkner.
Seit der Publikation Peliams ist an der Klinik
Chrobak eine weitere Reihe von 83 Puerperal fällen zur
Seruinbelianidlung gekommen, die in folgendem einer Be-
sprecliimg unterzogen werden soll. Sie entsprichl einem
Zeitraum von Mai 1904 bis Mai 1906 und einer Zahl von
7250 Cleburten. Begreifliciierweise genügt aucli diese noch
nicht, um zu einem abschließenden Urteile über die Indika¬
tionen und die Wirkungsweise des in Verwendung stellenden
Serums zu gelangen; immerhin aber werden die Fälle viel¬
leicht zur Klärung mancher Fragen und Befestigung einiger
Gesichtspunkte dienen können. Zu den erstereii gehören
zum Beispiel jene nach den eventuellen schädlichen Neben¬
wirkungen des Serums, nach dem Bilde ,der Serumkrankheit,
der Maximaldosis ii. a. m. Da dieser spezifischen Behand¬
lung eine ganze Anzahl schwerer und schwerster fälle zu¬
geführt wurden, werden sich auch für den Püerperalprozeßi
überhaupt einige Ergebnisse finden lassen.
Wenn man die einschlägige Literatur der letzten Zeit
überblickt, so steht man einerseits unter dem Eindrücke
der furchtbar hohen Mortalitätsprozente des Puerperalpro¬
zesses, wie sie' Kur sch mann mit 56®/o, Lenhartz mit
65% berechnen, anderseits vor der Tatsache, daßi die vielen
Angaben über anscheinend speziell und prompt wirkende
Heilmittel durch mindestens ebenso viele Gegcnheohach-
A LT:
handlung. Von Dr. Louis B o u r g e t. Krankenernährung und
Krankenküche, Geschmack und Schmackhaftigkeit. Von
Dr. Wilhelm Sternberg. Maladies de la Nutrition, Goutte-
Obesite-Diabete. Par H. R i c h a r d i e r e et J. A. S i c a r d.
Ueber die Rolle des Sympathikus bei der Erkrankung des
Wurmfortsatzes. Von Dr. E. Hönck. Diagnose und Therapie
der Anämien. Von Dr. Josef Arneth, Die Therapie der
Magen- und Darmkrankheiten. Von Dr. Walter Zweig.
Ref. : Glaeßner. — Zur Kenntnis des elastischen Gewebes
des Magens. Von Emil Schütz. Ref.: Jos. Schaffer-Wien.
— Handbuch der pathogenen Mikroorganismen. Von W. Kolle
und A. W a s s e r m a n n. Ref. : R. Kretz. — Les Auto-
Mutilatenrs, etude psycho-pathologique et medico-legale par
le Dr. Charles B 1 o n d e 1. Einführung in die gerichtliche Medizin
für praktische Kriminalisten. Von Dr.Hugo Marx. Ref.: Rentei’.
III. Aus verschiedenen Zeitschriften.
IV. Nekrolog: Hofrat Prof. Dr. Moritz Friedrich Röll f- Von
Dr. Johann C s o k o r, k. u. k. Professor.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberich tc.
timgen entkräftet werden. Bei einer Krankheit, deren Erreger
multiple sind, deren Verlauf ein so unherechenhar tückischer
ist und deren Prognose schon mit Bücksicht auf die jeden
Augenblick möglichen KompHkationen immer sehr zweifel-
liaft gestellt werden mußi, ist ein solches Schwanken
der Anschauungen nur natürlich. Um so melir ist man
aber bei einer derartigen Erkrankung verpflichtet, nicht zu
schematisieren, sondern alles zu versuchen, was Ihcoretisch
hegründet und iiraktisch mit Wahrscheinlichkeit die Hei-
hmg unterstützl, zumindest im Falle des Fehlschlagens dem
Organismus nicht scliadet. In Beziehung auf den ersten
Punkt wird wohl gegen die Serumhehandlung kein Ein¬
wand erhoben; die zwei letzten Sätze wollen wir an der
Hand des klinischen Materiales untersuchen, wobei ich die
eingangs zitierte Arbeit Peliams als liekannt voraussetze.
Von den 83 behandelten Fällen sind 14 gestorben;
hier ist hervorzuheben, dah an unserer Klinik auch sehr
schwere Fälle aufgenommen wurden, die von vornherein
wenig Aussicht auf Erfolg boten. Als pueriierale Streptö-
kokkeninfektionen stellen sich sieben Todesfälle dar, von
denen drei bereits febril an die Klinik kamen, so daß nur
vier Todesfälle in Bechnung zu ziehen sind..
Eine andere Beihe betrifft diejenigen Fälle, die sich
bei der Obduktion mit einer oder mehreren organischen
Krankheiten kompliziert zeigten oder sogar nur diese als
Todesursache aufwiesen, als'O überhaupt keine Puerxieral-
infektion darstellten. Zn den letzteren gehörtPr. -Nr. Fi 45 05,
ein frischer Typhus, kompliziert mit frischer, miliarer luhei-
knlosc ; klinisch waren lohmfarhenc Stühle und starker
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 22
Husten niil Expektoraliuii a iifge treten. Nebenbei bestand
eine leidite Endometritis mit Belägen; die Kultur aus dem
Uterussekrete imd Blute war negativ.
Ferner die Patientin Pr. -Nr. 1599 — 05, die bereits
14 Tage vor der Spitalsaufnalime Dyspnoe und schaumiges
Sputum hatte und mit sehr starker Zyanose, Pleuritis sin.
und schlechtem Pulse an die Klinik kam. Die Olaluktion
ergab hochgradige Stenose und Insuffizienz sowohl der
Mitralis als auch der Trikuspidalis und Verwachsungen der
Aortenklappen; außerdem eine Endometritis post abortum.
Eine besondere Rolle können wir bei dem sonstigen
Krankheitsbilde der Uterusaffektion nicht zuschreiben. Auch
hier war das Blut steril.
Pr.-Nr. 1808^ — 05 zeigt wieder einen schweren Tuber¬
kulosefall. Die Frau litt seit sieben Monaten an starker
Atemnot, Husten und Stechen. Im Wochenbette Meteoris¬
mus, am 17. Wochenbettage Aszites.
Lungen, Milz und Nieren zeigten bei der Sektion
miliare Tuberkulose mit frischen Nachschüben.
Ein ähnlicher Fall ist Pr.-Nr. 3325 — 05. Pat. begann
am sechsten Wochenbettage zu fiebern und bekam am
zehnten Serum; Temperatur unverändert, am 16. Wochen-
bettage Exitus. Die Autopsie ergab außer diphtheritischer
Endometritis — nur im Bereiche der Plazentaransatzstelle
— und sonst normalem Genitale eine rezente, miliare Tuber¬
kulose und Schwangerscliaftsniere.
Eine peritonitische Form des Wochenbettfiebers
wurde bei Pr.-Nr. 3514 — 05 gefunden ; hier waren spär¬
liche Streptokokken im Uterussekrete nachzuweisen ; das
Blut war steril. Im Harne reichlich Harnzylinder und
Nierenepithel. Bei der Obduktion fand sich eine diphtheri-
tische Endometritis mit diffuser, eitrig-fibrinöser Peritonitis.
Der nächste Fall ist eine außerhalb der Klinik unter¬
suchte, bereits febril aufgenommene Placenta praevia mit
einem Schüttelfröste am dritten Wochenbettage. Sie be¬
kam am 5., 8., 15. und 20. Wochenbettage je 100 g Serum,
ohne Einfluß auf die Temperatur. Auch eine Reihe weiterer
Fröste trat auf. Obduktion: Pyämie, Abszeß des rechten
Ovars, eitrige Phlebitis der rechten Vena spermatica, mul¬
tiple Lungenabszesse. Hier ist die Ansicht begründet, daß
das Serum überhaupt zu spät gekommen ist, da die In¬
fektion höchstwalirsclieinlich schon ante partum fällt. Man
muß anderseits betonen, daß der Organismus auf 400 g
Serum nur mit einem Exanthem reagierte. Ebenfalls zu
spät kam das Serum bei einer Flau (Pr.-Nr. 2382 — 04), die
mit Tympania uteri nach vergeblichen, außerhalb des Spi-
tales gemachten Forzepsversuchen an die Klinik kam. Am
zw^eiten Wochenbettage schon Schüttelfrost, fadenförmiger
Puls; am dritten bekam sie Serum, am vierten Exitus:
Jauchige Endometritis, Beckenzellgewebsphlegmone, von
Vaginal- und Zervixrissen ausgehend, eitrige Pyelonephritis.
Ein weiterer Fall, Pr.-Nr. 328 — 06, komplizierte sich
mit einem Erysipel, das vom linken kleinen Labium aus¬
ging. Die Patientin bekam einen Tag nach Fieberbeginn
100 g Serum, das Erysipel trat erst am vierten Fiebertage
auf. Die Obduktion ergab außer Erysipel diffuse Perito¬
nitis, diphtheritische Endometritis und rechtsseitige eitrige
Salpingitis.
Pr.-Nr. 505 — 05 ist der letzte in dieser Reihe der
Todesfälle mit negativem, nicht erhobenem Blutbefnnde.
Spontangeburt; am dritten Wochenbettage Frostbeginn, am
zehnten Seruminjektion, die am 16. und 28. Wochenbett¬
tage wiederholt, wird, aber effektlos bleibt, ebenso wie intra-
vamöse Kollargolinjektion. Unter häufigen Schüttelfrösten
Exitus am 45. Woclienbettage. Die Obduktion zeigte Jlirom-
iH)phlebitis der Vena cava, iliaca, hypogastrica und femo¬
ralis dextra, sowie l'hronibose in den rechten Pararnetran-
venen.
Die folgenden zwei Krankengeschicbten gehören schon
in die Beilie der po.sitiven Blutbefunde: Pr.-Nr. 1284 — 05,
außerhalb unter.suc'd, febril aufgenomnien, Ipara. Am 10.
und 19. Wochenb<dtage je 100 g Serum ohne Beaktioji,
mn 22. Woclienbettage Exitus; Diiililheritische Endometri¬
tis, Metritis pundenta, Senkungsa.bszeß vom rechten Para¬
metrium aus.
Pr.-Nr. 1217 — 05, außerhalb untersucht, Hpara, am
sechsten AVochenbettage 40°; Serum am 10., dann am 14.,
20., 24., 28., 34., am 16. beginnen Schüttelfröste, am
52. Woclienbettage Exitus: eitrige VIeningitis, Perikarditis,
Lungenabszesse, Endometritis diphtheritica.
Auch die zwei noch zu besprechenden Todesfälle sind
von draußen an die Klinik gekommene Infektionen. Die
eine Patientin, Pr.-Nr. 303 — 05 (nach mehrmaligen Forzeps¬
versuchen) mit einem mißifärbigen Vaginalrisse und mit
febriler Temperatur aufgenommen, starb zwei Tage nach
der Seruminjektion, die am zweiten Woclienbettage statt¬
gefunden hatte.
Die Obduktion ergab eine jauchige Endometritis und
eine Phlegmone des BeokenzcHgewebes, von dem Vaginal¬
risse ausgehend. Hier war die Serumbehandlung von vorn¬
herein ebensowenig aussichtsvoll wie im nächsten Fälle,
eines außerhalb digital ausgeräumten Abortus (530 — 05),
der febril und nach zwei Frösten an die Klinik kam. Er er¬
hielt sofort Serum und starb zwei Tage nach der Aufnahme.
Die Obduktion zeigte außer diphtheritischer Endometritis
multiple, nietastatische Myositis; in allen Organen Strepto¬
kokken.
Ueberblicken wir die Reihe der Todesfälle noch ein¬
mal, so ist ein effektives Versagen des Serums trotz früher
Injektion in zwei Fällen zu erkennen ; bei den anderen tragen
wahrscheinlich auch zu spätes Verabreichen des Serums
und Krankheitskomplikationen zum Mißerfolge bei. Ver¬
mehrte Serumgaben können einen etwaigen Zeitverlust nicht
kompensieren ; auch die große Dosis von über einem halben
Liter blieb ohne Effekt, allerdings was besonders betont
werden muß, auch ohne schädlichen Einfluß, soweit er
aus dem klinischen Verhalten deduziert werden könnte.
Wenn wir bei dieser Gelegenheit die Obduktions¬
befunde auch zur Feststellung der Einbruchspforte der In¬
fektion verwenden wollen, so zeigen die Vagina als Aus¬
gangspunkt die Fälle Pr.-Nr. 303 — 05 mid Pr.-Nr. 2382^ — 04;
beide hatten Einrisse der Scheidenwand nach Forzeps mit
anschließender Beckenzellgewebsphlegmoiie, der erste am
Introitus, der zweite im oberen Anteile mit Zendkalriß.
Ein dritter Fäll, Kraniotomie wegen drohender Uterus¬
ruptur, Pr.-Nr. 3009 — 05, nimmt eine Zwischenstellung ein,
indem neben der diphtlieri tischen Endometritis auch eine
belegte Quetschwunde an der linken Vaginal wand in vivo
konstatiert wurde ; ein fortgeleiteter Prozeß war makro¬
skopisch in cadavere nicht zu sehen.
Bei acht Fällen war teils diphtheritische, teils jauchige
Endometritis nachzuweisen.
Wenn wir uns .nun zu den Fällen, die in Heilung
übergegangen sind, wenden 69 an Zahl — so ist es
natürlich schwer, bei einem bestimmten Fälle zu behaup¬
ten, er sei durch das Serum genesen. Aber man kann immer¬
hin, wenn in einer ganzen Reihe die Temperatur auf die
Seruminjektion abfäilt, eventuell bis zur Norm und dort
verbleibt, oder noch deutlicher, wenn dies erst nach einer
wiederholten Serumgabe geschieht, wohl von einer gün¬
stigen Beeinflussung des Krankheitsprozesses durch das
Serum reden, was von um so höherem Werte ist, je mehr
klinische Symptome sonst für eine schwere Infektion
sprechen, wie unter anderem die Fröste und die positiven
Blutbefunde. Bei Pat. Pr.-Nr. 783 — 05 trat am vierten
Wochenbettage ein Frost auf. Temperatur 40°, Ihds 132,
Lochien übelriechend; am sechsten Woehenbettage ein
zweiter Frost, im Uterussekrete und im Blute Streptokokken.
Am siebenten Wochenbetlage 100 g Serum l)ci 40-2°, am
nächsten Tage 38-7°, dann Anstieg bis zum elften Tage
auf 40-4°, ein zweiteslnal 100 g Serum, lytischer Abfall,
Genesung.
Ich verzichte auf weitere Ki-ankengeschichten an
dieser Stelle, da dieselben ohnehin am Schlüsse folgen.
ln therapeutischer Hinsicht ergäbe sich aus all dem
folgendes : _
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
657
Das Serum ist möglichst frühzeitig, bei von |
vornherein infektions verdächtigen Kranken pro¬
phylaktisch (eventuell ante partum) zu geben.
Ueble Folgen wiederholter Serumgaben bis
zusammen 600 g, sowie Einzelgaben bis zu 200 g
sind nicht beobachtet worden.^)
B 1 u t b 0 f u n d e :
Bevor ich an die Deutung der Untersuchungsergeb¬
nisse gehe, möchte ich kurz die Methode schildern. Die
Gegend der Ellbogenbeuge wird mit Seife gewaschen, mit
Alkohol, Aether desinfiziert, die Vena mediana durch ma¬
nuelle Kompression oder Binde gestaut, eine ausgekochte
Hohlnadel perkutan (ohne Venenfreilegung) eingestochen,
das Blut in einem sterilen Glaskolben aufgefangen, daselbst
durch Schütteln mit Porzellanschrot defibriniert und dann
so der bakteriologischen Untersuchung übermittelt.
Es erhebt sich sofort die Frage, ob die so erhobenen
Blutbefunde zuverlässig sind, d. h. ob sowohl positive als
auch negative Ergebnisse als solche verwertet werden
können. Schon die Venenpunktion ohne Freilegung des _Ge-
fäßes hat früher viel Gegner gefunden, namentlich mit Rück¬
sicht auf die Verunreinigung des Blutes durch Hautsapro-
phyten. Lange Untersuchungsreihen verschiedener Forscher
haben indes ergeben, daß einerseits diese Zwischenfälle
relativ selten sind, anderseits bakteriologisch leicht erkannt
werden können. Es wäre ferner zu erwägen, daß beim Auf¬
fangen des Blutes im Glaskolben sich leicht Luftbakterien
beimengen können. Der schwerwiegendste Punkt ist aber
wohl der, daß das Blut nicht gleich verarbeitet, sondern
äußerer Umstände halber erst zur Untersuchungsstation
transportiert werden muß. Es ist kein Zweifel, daß durch
die lange Abkühlung des Blutes Keime zugrunde gehen
können, die bei konstanter Wärme ihres Nährbodens kul¬
turell nachgewiesen worden wären. Den Wert solcher Kau-
telen sieht man am besten an den Blutuntersuchungen beim
Typhus, wo Kühn au im Jahre 1897 unter 41 Typhusfällen
zwölfmal Bac. typh. im Blute nachweist, indem er das letz¬
tere in Bouillon auffängt, unter Schütteln in das Laborato¬
rium bringt und dort Agarplatten gießt, gegenüber den 84%
Schottlmü Ilers, der das aspirierte Blut direkt mit dem
körperwarmen Kulturagar vermengt. Es ergibt sich daraus,
daß unsere negativen Fälle vielleicht nicht alle in dem
Sinne negativ waren, daß das Blut überhaupt keine Keime
enthielt;^) wohl könnte man aber annehmen, daß .nur die¬
jenigen Mikroorganismen sich hiebei dem kulturellen Nach¬
weise entzogen, die schon von vornherein weniger wider¬
standfähig waren und anderseits schließen, daß die lebens¬
kräftigen Individuen auch die klinisch bedeutsamsten
waren, so daß der etwaige Mangel in der Technik
vielleicht gleichzeitig zu einer Sonderung des Materiales
führt.
Es ist indes nicht anzunehmen, daß auch bei Beob¬
achtung der genauesten Kautelen sich die Verhältniszahlen
der positiven und negativen Blutbefunde erheblich ver¬
schoben hätten; es ist vielmehr walirscheinlich, daß ana¬
tomisch bestimmte Formen des Puerperalprozesses, selbst
wenn sie zum Exitus führen, mit keiner nennenswerten
Bakteriämie einhergehen. Bei ihnen spielt die Toxinämie
die Hauptrolle, auch im Falle einer komplizierenden Peri¬
tonitis.
Gewiß ist großer Wert darauf zu legen, daß die Blut¬
befunde an der Lebenden, nicht post mortem und nicht
in agone erhoben werden ; denn der Rückgang der bak¬
teriziden Kraft des Blutes begünstigt die Vermehrung auch
h Während der Ferligslellung der vorliegenden Arbeit ist die
Abhandlung ßurkards aus Graz über das gleiche Thema erschienen.
Während er mit uns die frühzeitige Gabe des Serums empfiehlt, können
wir, wie oben ausgedrückt, an der Hand unseres Materiales eine
schädigende Wirkung des Serums nicht konstatieren. Im übrigen bietet
die Arbeit Burkards eine erfreuliche Ergänzung des obigen Materiales
und prinzipielle Bestätigung unserer Ergebnisse.
Auf eine methodische Reihe von ßlutuntersuchungen an den
einzelnen Pat. haben wir an unserer Klinik mit Rücksicht auf die
Kranken verzichtet.
solcher Keime, die voui lebenskräftigen Organismus ver¬
nichtet worden wären; in ätiologischer Beziehung bleiben
ja auch die Ergebnisse post mortem von Wichtigkeit.
Wir haben bei den 15 Todesfällen sechs positive und
fünf negative Blutbefunde ; bei zwei wurde kein Blut ab¬
genommen, bei einer sehr abgemagerten Patientin mi߬
glückte die Venenpunktion und bei einer wurde das Blut
nicht genügend defibriniert. Von den positiven sind fünf
reine Streptokokkenfälle, bei einem gingen auch Staphylo¬
kokken auf.
Stellen wir die Fälle mit Rücksicht auf das Obduk¬
tionsergebnis zusammen.
Negativ:
Pr.-Nr. 1432 — 05 : Endometritis, Abszeß des rechten
Ovars, multiple Lungenabszesse.
Pr.-Nr. 1745 — 05: frischer Typhus, frische Tuber¬
culosis pleurae.
Pr.-Nr. 1599—05 : alte Endokarditis mit Klappenver¬
wachsung.
Pi’.-Nr. 3514 — 05 : Endometritis diphtheritica, Schwan¬
gerschaftsniere, fibrinöse Peritonitis.
Pr.-Nr. 328 — 06: Endometritis diphtheritica, Erysipel
des linken Labium mains, Salpingitis dextra, diff., serös.,
fibr. Periton., Pleur. bilat.
Positiv:
Pr.-Nr. 303 — 05 : Phlegmone des Beckenzellgewebes
rechts.
Pr.-Nr. 332 — 06: Metrolymphangitis rechts, rück¬
wärts und seitlich.
Pr.-Nr. 1217 — 05: eitrige Perikarditis, Meningitis, Pleu¬
ritis, Thrombophlebitis der rechten Vena iliaca und hypo-
gastrica.
Pr.-Nr. 1284 — 05 : Senkungsabszeß rechts und Para¬
metritis.
Pr.-Nr. 530 — 05 : Otitis media suppurativa bil., Myo¬
sitis metastatica, Endometritis diphtheritica.
Pr.-Nr. 3009 — 05 : Endometritis diphtheritica, septische
Milzinfarkte, rezente Endokarditis.
So scheint sich aus dieser kleinen Reihe folgendes
zu ergeben : Entzündung des Uterus und seiner Adnexe auf
infektiöser Basis führen, auch wenn mit Peritonitis kom¬
pliziert, nicht zu einer namhaften Bakteriämie; erst Lymph-
angitiden und Einschnielzungsvorgänge, sei es im Organ¬
gewebe, sei es in den Thromben der ergriffenen Venen,
führen dazu. Dies würde mit den Befunden von Bertels¬
mann übereinstimmen, der bei Lymphangitis und Phleg¬
mone am häufigsten Bakteriämie beobachtete. Der Fall
Pr.-Nr. 530 — 05 mit metastatischer Myositis würde nicht
absolut dagegen sprechen, da bei ihm eine chronisch-eitrige
Mittelohrentzündung bestand und es keineswegs ausge¬
schlossen erscheint, daß die Kokken schon von diesem
Herde ausgehend im Blute kreisten und sich im puerperalen
Uterus, als dem Locus minoris resistentiae, festsetzten oder
die Infektion von außen unterstützten. Auch der anschei¬
nende Widerspruch in der negativen Reihe (Pr.-Nr. 1432 — 05),
wo ein negativer Blutbefund und multiple Abszesse in ver¬
schiedenen Organen einander gegenüber stehen, erklärt sich
leicht damit, daß der Blutbefund vom fünften Wochenbett¬
tage datiert, die Patientin erst am 22. Wochenbettage starli
und die ominösen Schüttelfröste erst am 17. Wochenbettage
einsetzten. Höchstwahrscheinlich hätte man da auch Bak¬
terien im Blute gefunden. Umgekehrt wird gewiß bei einer
Reihe von Fallen mit anfänglich positivem Blutbefunde in
späterer, vielleicht ganz kurzer Zeit das Blut wieder steril.
Man denke nur an die Fälle von Infektionen, wo die unter
den Erscheinungen des Schüttelfrostes, hoher Temperatur¬
steigerung mit oft stärkerer Prostration in die Blutbahn ein¬
gedrungenen Mikroorganismen ei’staunlich schnell eliminiert
werden. Auch wir verfügen über einen derartigen geheilten
Fäll (Pr.-Nr. 3672 — 04), wo am achten Wochenbettage
Streptokokken im Blute waren, am 23. aber bei viel höherer
Temperatur das Blut steril war. Allerdings ist das ein mit
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
QU
Serum beliaiidelter Fall und es bleibe dahingestelll, ob hier
olme Serum die Ivohken aus dem Blute verschwunden
wären. Tatsächlich ist aber diese spontane Desinfektion
des Blutes, weim man so sagen darf, bereits in vielen Fällen
von Phlegmonen, Lymphangitiden, auch Puerperalprozessen
(Lenhartz) konstatiert worden, wo z. B. bei der ersten
Blutentnahme unzählige Streptokokkenkolonien wuchsen, bei
der zweiten einige Tage später nur eine geringe Zahl, hei
der dritten die Kulturen steril blieben.
Man kann daher bei diesen allgemeinen Forschungs¬
ergebnissen heute nicht mehr nach einem einmaligen Blut¬
befunde eine Einteilung der Fälle treffen, weder bezüg¬
lich ihrer Schwere, noch bezüglich ihres Heilerfolges ; denn
es ist klar, daß das, was eventuell als Fortschritt der The¬
rapie erscheint, nur eine zu wenig ausgedehnte Reihe von
Beobachtungen ist. Ebenso wie eine einzelne Leukozyten- ,
Zählung für den Verlauf einer Krankheit nichts beweist,
kann nur eine methodische Reihe von Blutkulturen jedes
einzelnen Falles der Differentialdiagnose gegenüber von
Wert sein. Immerhin ist es auffällig, daß wir bei unseren
in Heilung übergegangenen Puerperalfieberfällen — 69 an
der Zahl — nur achtmal in der Lage waren, Bakterien im
Blute nachzuweisen.
Das genauere Verhältnis ist folgendes:
Positive Blutbefunde 8; davon rein Streptokokken 5;
Strepto- und Staphylokokken 2; rein Staphylokokken 1.
Negative Blutbefunde 49; davon mit negativem Kul¬
turbefunde aus dem Uterus 13 ; Streptokokken 21 ; Staphylo-
Streptokokken 18; rein Staphylokokken *2. Kein Blutbefund
wurde bei 12 erhoben.
Fieberverlauf 'und Nebenwirkungen des Serums.
Es ist bekannt, daß auch die Fieberkurve, wie der
ganze Ablauf des Puerperalprozesses, sich schwer in be¬
stimmte Schablonen drängen läßt; ja, auch der Versuch,
den Temperatur\mrlauf und bestimmte Infektionserreger in
konstante Verbindung zu bringen, mißglückt meistens.
Darum ist es begreiflich, daß der Einfluß der Seruminjek¬
tionen auf das Fieber nur mit großer Vorsicht zu deuten
ist; immerhin mag eine Konstanz der Befunde in bestimm¬
ter Richtung doch verwertet werden.
Da ist vor allem zu bemerken, daß von den verstor¬
benen Frauen nur eine einzige (Pr. -Nr. 511 — 05) keinen Tem¬
peraturabfall nach Seruminjektion aufwies. Diese starb erst
am 44. Tage nach Fieberbeginn und die Sektion zeigte
eine ausgedehnte Thrombose vom rechten Parametrium bis
in die Kava hinauf, keine Eiterungen oder Embolien. Die
geheilt Entlassenen weisen fast alle ein Heruntergehen der
Temperatur nach der ersten Seruminjektion auf, die oft
über 1° beträgt. Minder deutlich ist diese Erscheinung,
wenn man die wiederholten Injektionen vergleicht, weil da
sehr häufig präkursorisches Steigen der Eigenwärme ein¬
setzt, das dem Erscheinen des Serumexanthems vorauszu¬
gehen pflegt. Das Abklingen des Fiebers war bei unseren
Kranken, namentlich wenn man die Fälle von Saprämie
(gleichzeitige Entfernung von Plazentarresten oder Eihäuten
mit der Injektion) beiseite läßt, überwiegend ein lytisches.
Auch wenn das Auftreten des Exanthems eine Temperatur-
Steigerung zur Folge hatte — was durchaus nicht immer
der Fall war — so näherte sich auch diese lytisch der Norm;
eine Mischung beider Typen: kritischer Abfall des Exan-
tliemfiebers nach früherer lytischer Entfieberung und um¬
gekehrt, war sehr selten. Der Beginn des Fiebers, bei dem
wir 15mal einen initialen Schüttelfrost verzeichnet finden,
fiel gewöhnlich auf den dritten bis fünften Wochenbettag.
Was nun die Nebenwirkungen des Serums betrifft,
so ist vor allem .das Exanthem zu erwähnen. Es ist keine
imbedingt notwendige Folge der Seruminjektion : von
83 Fällen trat es 45mal auf, darunter bei allen geheilten
Patienten mit positivem Blutbefunde. Es beginnt meistens
um die Injektionsstelle, um entweder daselbst lokalisiert
zu bleiben oder progredient zu werden, wobei es nicht
selten ein marginiertes Aussehen zeigt. Bei wiederholter
Seruminjektion wiederholt sich auch oft das Auftreten des
Exanthems derart, daßz. B. das erste an den Überschenkeln,
das zweite an Rumpf und oberen Extremitäten, das dritte
im Gesichte erscheint. Es ist gewöhnlich kleinfleckig,
masernartig, aber auch zusammenfließend, scharlachähn¬
lich oder bildet Quaddeln; auch können an einer Patientin
verschiedene Arten auftreten. Jucken ist nicht selten. Die
Temperatur steigt prodromal oder in den ersten Tagen und
fällt mit dem Aufhören des Exanthems lytisch oder kritisch
ab ; doch gibt es auch genug Serumausschläge ohne Tem-
peralursteigerung. Interessant ist der Fäll Pr.-Nr. 409 — 05,
wo gleichzeitig mit dem Exanthem der Mutter ein ganz
ähnliches heim Kinde auftrat und auch verschwand ; der
damals beigezogene Dermatologe hielt eine Serumintoxi¬
kation auf dem Wege der Milch beim Kinde für sehr wahr¬
scheinlich; übrigens wurde dessen Befinden nicht im ge¬
ringsten gestört. Von anderen Begleiterscheinungen sind
die Gelenkssclmierzen und Schwellungen zu bemerken, die
ebenfalls zur Beobachtung kamen und vielleicht auf die
soeben an der Haut beschriebenen analogen Vorgänge au
der Synovia zurückzuführen sind. Dafür spräche auch, daß
sie öfters nach dem Ablaufe eines Exanthems nachschub¬
artig, auch mit Temperatursteigerung, auftreten. Sie be¬
fallen mit Vorliebe große Gelenke, Schulter, Hüften, Knie;
an letzterem konnte wiederholt Balottement der Patella nach¬
gewiesen werden. Meist verlaufen sie auch ohne weitere
Störungen ; nur einmal (Pr.-Nr. 787 — 05) führten sie zu Kon¬
trakturen im Kniegelenke, die Massage notwendig machten;
übrigens waren gerade hier viele klinische Symptome, die
für Hysterie sprachen. Sehr wohltätig wirkt das Aspirin,
auch gegen fallweise auftretende Muskelschmerzen.
' Analog den Beobachtungen hei der ,, Serumkrankheit“
(Pirc[uet und Schick) haben auch wir wiederholt Drüsen¬
schwellungen u. zw. der Leistengegend gesehen, die zu¬
weilen schmerzhaft waren und mit Dunstumschlägen be¬
handelt wurden; sie gingen immer zurück. Vielleicht gehört
auch eine plötzlich auftretende Tonsillitis hieher. Andere
bedrohliche Erscheinungen, wie sie z. B. Lenhartz nach
Seruminjektion beschreibt, Vermehrung der Schüttelfröste,
plötzliche Verschlechterung des Zustandes, haben wir nie
beobachtet, selbst bei Gesamtgaben von 600 cm^ und Einzel¬
gaben von 200 enU und können deshalb die Fürcht vor
Serumintoxikation nicht als Kontraindikation gelten lassen.
Wir glauben vielmehr, in dem Serum ein Mittel zu besitzen,
das nach unseren Beohachtungen unschädlich ist und uns
im Kampfe gegen das Puerperalfieber eine beachtenswerte
Waffe mehr bietet.
Krankenges chich ten.
Reine Streptokokken fälle.
Pr.-Nr. 1215 — 04. P. M., 39jälirige V para. Spontaner Partus
und manuelle Plazentarlösung außerhalb der Klinik. Aufnahrns-
temperatur 39-3, 3. Wbt. Frost, 39-2, 4. Wbt. Frost, 39-3. Döderlein
und Kulturen daraus Streptokokken rein. 4. Wbt. bei 39 4, P. 108,
100 Elis (Name des zur Serumgewinnung verwendeten Pferdes)
Serum. Blut steril. Lylisclie Entfieberung. Ab 10. Wbt. afebril.
Am 13. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 2701 — 04. W. C. L., 22jährige Ipara. Spontaner
Partus, Krankheitsbeginn 4. Wbt., 39-1, P. 108, Frösteln. In
den Lochien Streptokokken, Blut steril. Am 5. Wbt. bei 40-2,
P. 156, 100 Elis. Eihautfetzen entfernt. Kritischer Abfall vom
6. auf den 7. W^bt., dann afebril. Am 14. W'bt. entlassen.
Pr.-Nr. 2751 — 04. St. R., 49jäbrige II para, Blasenmole, Aus¬
räumung. Krankheitsbeginn 1. Wbt., 38-9, P. 120, 2. Wbt. Uöder-
lein und Kultur Streptokokken. 3. Wbt. bei 39 6, P. 114, 100 Serum
(Name des Pferdes nicht angegeben). Blut steril. Lytischer Ab¬
fall bis zum 5. Wbt. Am 6. Wbt. 39-1, P. 116, 100 Serum,. Ab
5. W'bt. Schwellung des rechten Schultergelenkes. Lyhseber
Fieberabfall. Ab 12. W^bt. afebril. Kein Exanthem beobachtet.
25. W'^bt. entlassen.
Pr.-Nr. 3022 — 04. 23jährige Ipara. Spontaner Partus, Krank¬
heitsbeginn 6. Wbt., 38-5, P. 120, Döderlein und Kulturen Strepto-
kokkeu. Am 7. W^bt. hei 40, P. 132, 100 Elis, Blut steril. 8. Wbt.
37-9, P. 110. Am 9. W^bt. Frost, 39, P. 130; 100 Elis. Am
10. W^bt. Frost, 39-8, P. 130; 100 Elis. Am 12. Wbt. afebril.
Am 13. W^bt. 40-3, P. 140. Schmerzen im rechten unteren Bauch¬
quadranten, ohne positiven Palpationsbefund. Atypischer Fieber-
Nr. 22
WIENER KLINISCHE
verlauf mit noch zweiinaligeni Aiisliege über 39 am 17. und
19. Tage. Dann afel)ril am 31. Wbt. entlassen. Kein Exanthem
beobachtet.
Pr.-Nr. 3144 05. M. A., 33jährige Illpara. Spontaner Par¬
tus, Ivrankheitsbeginn 5. Wl)l., 38-8, P. 100. Döderlein und
Kulturen Streptokokken. Am 12. Wbl. bei 39-4, P. 86, 70 Elis
Pint steril. Temperal'ur um 38, remittierend. Ab 15. WIR. afebril’
vom 18. bis 21. Wirt, leichtes Exanthem um die Injektions¬
stellen ohne Temperalursteigerung; am 24. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 303—05. W. F., 29jährige I para. Variola, sonst
keine Vorkrankheiten. Pat. wurde von einer Hehamme zweimal
untersucht, zweimal Forzepsversuche aus unbekannter Indikation,
dann mit 37-9 an die Klinik gewiesen. Kräftige Wehen, dann
Ausgangsforzeps wegen schlechter kindlicher Herztöne. Manuelle
Plazentalösung, intrauterine 60%ige Alkoholausspülung. 2. Wbt.
nachmittags Schüttelfrost, starker Meteorismus, trockene Zunge,
P. 144, T. 38-4. Dikroter Puls. In der rechten Vaginalwand
ein mißfärbiger Riß. Im Döderlein Diplokokken, Kultur steril.
Aus dem Blute Streptokokken kultivierbar. 2. Wbt. 100 Elis.
Unter zunehmendem Verfalle und wiederholten Frösten am 4. IVht.
Exitus. Jauchige Endometritis, eitrige Metrophlebitis und Phle¬
bitis der rechten Vena spermatica. Eitrige Peritonitis (Strepto¬
kokken in Reinkultur). Einriß des Introitus vaginae rechts mit
anschließender Phlegmone des Beckenzellgewebe-s.
Pr.-Nr. 320 — 05. A. J., 20jährige Ipara. Partus normal,
Krankheitsbeginn 4. Wbt., 38-9, P. 120, mit initialem Froste.
8. Wbt. bei 40, P. 106, 100 Elis. Im Döderlein Streptokokken,
Kultur und Blut steril. Am 9. und 10. Wbt. Abfall bis 37-5,
P. 84, am 11. Wbt. 38-1, am 12. Wbt. 39-5. Am 13. Wbt. 100 Elis'
bei 39-3. Am 14. Wbt. Exanthem, die Temperatur steigt dahei
bis zum 16. Wbt. bis 39-9, um dann kritisch bis 36-3 (18. Wbt.)
abzufallen, dann remittierendes Fieber vom 19. bis 22. Wbt.
Am 23. AVbt. nochmaliger Anstieg auf 39-3; bis 25. Wbt. noch
Exanthem bei lytiscber Entfieberung. Seit 30. Wbt. fieberfrei.
Am 40. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 490 — 05. P. M., 22jährige Ipara. Spontaner Partus
11. Februar, Ubr. Krankheitsbeginn 5. Wbt. Kultur Strepto¬
kokken. Blut nicht defibriniert. Am 11. Wbt. bei 40-4 100 Elis.
Kritischer Ahfall. Am 12. Wbt. Temperatursteigerung 37-8. Seit¬
her afebril. Vom 14. bis 22. Wbt. Exanthem hei der Mutter (ohne
Temperatursteigerung). Gleichzeitig tritt beim Kinde ein allge¬
meines Exanthem auf. (Durch die Milch vermittelte Senmi In¬
toxikation?) Das kindliche Exanthem schwindet mit dem mütter¬
lichen. Am 24. Wbt. gesund entlassen.
Pr.-Nr. 511 — 05. 22jährige Ipara. Spontaner Partus 13. Fe¬
bruar 1905. Krankheitsbeginn 15. Februar, T. 39, P. 120, Herz
und Lunge normal (Dr. Donath). 22. Februar Döderlein und
Kultur Streptokokken. 100 Elis. Das entnommene Blut nicht
defibriniert, daher nicht brauchbar. Vom 22. bis 24. Wbt. Tem¬
peratursteigerung um 39, P. um 90. 28. Februar Exanthem an
den Oberschenkeln. (Die Abendtemperaturen hleihen annähernd
gleich hoch. Nur am 26. Wht. war die Temperatur zwischen
37- 9 und 38-8.) 100 Grisette hei 39-4 Höchsttemperatur. 1-3,
37;6, 2. Wbt. 38-3, 3. Wbt. 38-5, 4. Wbt. 38-4. Am 5. Wbt.
mit Schmerzen in beiden unteren Bauchgegenden 40-4, 6. Wht.
Urtikaria (Oherschenkel). Vom 8. Wbt. 2°/oige Kollargolklysmen
5 bis 10 cm^. 13. Wbt. Parametrilis dextra. 8 Uhr abends Frost.
T. 40, P. 114. Serum Grisette 100 g. Temperatur bis 39. Im
Harne Silber. 19., 20. und 22. Wbt. intravenös 2?'o Kollargol.
Vom 23. Wbt. täglich Schüttelfröste. 31. März 12 St. Exitus.
Tbromhophlebitis der Vena cava, iliaca, hypogastrica, femoralis,
dextra, Thrombose der Venen der rechten Parametrien. Serös
* fibrinöse Pleuritis rechts (im Exsudat Streptokokken).
Pr.-Nr. 305 — 05. P. K., 29.jährige VIi)ara. Am 8. Februar
iiikompletter Abortus, der außerbalb digilal ausgeräumt wurde.
'Angeblich schon vorher Fieber. Seither zwei Fröste. Aufuahms-
temperatur 38-3, P. 132. Otitis media suppurativa chronica bil.
Harn: Granulierte Zylinder; Albumen positiv. Döderlein und
Kultur Streptokokken. Am 7. Wbt. alle Gelenke drucksebmerzhaft.
100 Elis. Im Blute Streptokokken. Am 9. Wbt. plötzlicher Verfall.
Exitus. Endometrilis diphtheritica. Myositis metaslatica am Halse,
am rechten Vorderarme und an beiden Unterschenkeln; überall
Streptokokken.
Pr.-Nr. 764 — 05. R. M., 26jährige Ipara. Spontaner Partus.
Am 3. Wht. 38, 108, dann afehril his zum 9. Wbt. Am 13. Wbt
Döderlein und Kultur Streptokokken. Am 15. Wbt. bei 40T und
P. 138, 100 Gnom. Rlut steril. Am 17. Wbt. bei 39, 7 und
110, 100 Elis. Kritischer Abfall am 18. Wbt. bis 36-7, am 20. Wbt.
38- 2, Exanthem bis 28. WR)t. jnit Höchsttemperatur 38. Vom
28. bis 32. WOrt. Gelenksschmerzen mit Höchsttemperatur 39
(Enanthem der Gelenke?). Ab 33. WRjt. afebril, 38. WTjt. ent¬
lassen.
WOCHENSCHRIFT. 1907. 659
Pr.-Nr. 783 — 05. H. A., Ipara. Sponta.ner Partus. Am 4. AVbt.
40, P. 132, Frost, ül)elnechendo Lochien. Am 6. AVT)f. Schüttel¬
frost. Döderlein, Kultur und Blut Streptokokken. Am 7. AVbt.
100 Gnom.. Höchsttemperatur 40 2. Am 9. und 10. AVbt. 39-6,
am 11. AVbt. 40-4, 100 Gnom. Lytischer Ahfall bis zum 17. AVbt.
wo em Serumexanthem mit Steigerung his 39-5 auf tritt. Mit
dem Abblassen des Exanthems lytischer Abfall, seitdem afebril.
Am 31. AVbt. entlassen.
Pr.-Nr. 898—05. T. B., 22jährige Ipara. 1903 fehril. Krank¬
heitsbeginn 7. AVbt., 39-8 P. 120, Döderlein und Kultur Strepto¬
kokken. Schon da eine leichte Anschwellung des* linken großen
Labiums. Am 13. AVbt. bei 39, P. 110, 100 Elis. Am 14., 15.,
16. und 17. AVbt. 37-5. Am 18. AVbt. bei 41, P. 150, 100 Grisette,
ab 19. Exanthem (Dauer in der Krankengeschichte nicht ange¬
geben), lytische Entfieberung. Am 36. A\'’bt. Spaltung des Bartbo-
linischen Abszesses (Streptokokken). Am 43. AVbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1080 — 05. H. I., 25jährige IV para. Spontaner Par¬
tus. Außerhalh untersucht. Aufnahmstemperatur 38, am 3. AA^bt.
38-6, P. 120. Stinkende Lochien. Döderlein und Kulturen Strepto¬
kokken. Blut steril. 100 Grisette. Am 5. AAR:)t. afebril, am 9. AAR)!,
tritt ein Exanthem auf, am 10. AVbt. 401, kritische Entfieberung;
dauernd afebril. Am 19. AVbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1104 — 05. P. M., 26jäbrige Ipara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 7. AVbt., 39, P. 120. Am 9. AVbt. Frost, 39-9.
Döderlein und Kulturen Streptokokken, Blut (ll. AVbt.) steril.
Am 11. AARjt. bei 40 3, P. 96, 100 Elis. Am 19. AARdI. zweiter
Frost, 39-5, P. 96. Am 20. AVbt. bei 385, P. 96, 100 Gnom.
Am 21. und 22. AA^bt. afebril, am 23. AA^bt. 39-5 mit Angina
(Exanthem der Tonsillen?). Am 25. AVbt. ausgebreitetes Exan¬
them, 39-6. Lytische Entfieberung. Ab 29. AVbt. afebril. xAin
43. AA'^bt. entlassen.
Pr.-Nr. 1178 — 05. L. T., 22jährige Ipara. Spontaner Partus
(manuelle Plazentarausräumung). Krankheitsbeginn 5. AVbt., 40,
P. 130. Am 7. AA^bt. Döderlein und Kulturen Streptokokken.
Am 9. AA^bt. bei 39-3 und P. 114 100 Gnom. Blut steril. Am
12. AVbt. bei 40, P. 130, 100 Elis. Remittierendes Fieber. Am
21. AARü. Schüttelfrost. Am 28. und 31. AVht. je 100 Elis. Exanthem
vom 30. his 35. AA^bt. Vom 40 AVbt. an iRerschreitet die Tem¬
peratur nicht 38-7. Linke untere Extremität total thromhosiert.
In der linken Beckenhälfte eine kleinfingerdicke, thrombosierte
Vene zu tasten. Am 60. AVbt. AARasserbett. Ausgang in Heilung.
Pr.-Nr. 1205 — 05. H. D., 25jährige Hpara. Spontaner Par¬
tus. Krankheitsheginn 4. AVbt., 40, P. 100, Frost. Döderlein
Streptokokken. Kultur steril. Am 9. AARjt. bei 39-9, P. 130,
100 Elis, im , Blute Streptokokken. Am 11. AVbt. Frost, 40. Am
13. AVbt. bei 39, P. 110, 100 Elis. Am 14. AVbt. 37. Exanthem
an den Oberschenkeln, dauernde Temperatursteigerung um 38-5
bis 27. AAR)t., wo das Exanthem geschwunden ist. Lytischer Ab¬
fall, afebril bis zum 36. AARrt. Am 37. AA^bt. neuerliches Exanthem;
T. 40. Am 39. AA"bt. kritischer Ahfall mit Verschwinden des
Exanthems. Seither afebril. Am 38. und 39. AVbt. starke Schmer¬
zen in den Gliedern und Schultern. Am 57. AVbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1217 — 05. N. B., 33jährige Hpara. Außerhalb unter¬
sucht. Blutung, Kolpeuryse, Partus (35 cm, 970 g). Krankheits¬
beginn 6. AARrt., 40, P. 124. Kultur Streptokokken. Am 10. AARü.
bei 38-9, P. 102, 100 Gnom. Blut Streptokokken. Temperatur
steigt. Am 14. AVbt. bei 40-5, P. 115, 100 Elis. Am 16., 17.
und 19. AVbt. Fröste. Temperatur bis 40-5, am 20. AA'bt. 100 Elis,
ebenso am 24. und 28. AARrt., bis dahin häufige Schüttelfröste,
im ganzen 20 innerhalh 15 Tagen. Vom 28. AA^bt. sinkt die
Temperatur auf 38, der Puls steigt (140 bis 160). Am 34. AA^bt.
100 Elis. Verfall, Exitus am 52. AARrt. Eitrige Aleningitis der
Konvexität, eitrige Perikarditis, embolische Abszesse der rechten
Lunge mit eitriger Pleuritis, eitrige Endometritis, Thrombophlebitis
der rechten A^ena iliaca und hypogastrica, Ulcera duodeni rotunda,
mit Perforation eines derselben, Dekubitalgeschwür des Larynx.
Pr.-Nr. 1236 — 05. F. P., 25jälirige IV para. Spontaner Partus
(nicht untersucht). Krankheitsbericht 4. H. B. L, 38-3, P. 120.
Döderlein und Kiütur Streptokokken, Blut (7. AVbt.) steril. Am
7. AARü. bei 39T, P. 138, 100 Elis, am 8. AA'bt. Höchsttemperatur
38-9, am 9. AAR)(. 38-3, am 10. AARjt. afebril. Am 11. und 12. AARjt.
staffelförmigor Anstieg mit Ausbruch eines großfleckigen Exan¬
thems. Alit dessen Abblassung lytische Entfieberung. AWn einer
leichten Temperatursleigerung am 20. AVbt. (Sclmierzen in den
Oberschenkeln) abgesehen, afebril. Am 31. AARrt. entlassen.
Pr.-Nr. 1284 — 05. H. AL, 16jährige Ipara. Außerhalb von
einer Hebamme untersucht. Aufnahmslemperalur 38-2. Spon¬
taner Partus. Krankheitsheginn 4. AVbt., 39-4, P. 90. Döderlein
und Kulturen Streptokokken. 6. AARrt. bei 40 3, P. 114, 100 Gnom.
Blut : Streptokokken, Staphylokokken (diese wahrscheinlich A^er-
unreinigung). 10, AVbt. 100 Gnom bei 39-6, P. 102, ohne PiO-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
Ufa.
aktion. Temperatur dauernd um 40. Am 19. Wbt. 100 Elis, 40-7,
P. 134. Am 22. Wbt. Exitus.
Obduktion: Endometritis diphtheritica, eitrige Metritis und
Parametritis mit Senkungsabszeß. Frische Thrombose der para-
melrischen Venen. Rechts seröse, fibrinöse Pleuritis. Bakterio-
logi.scher Befund: Streptokokken.
Pr.-Nr. 1307 — 05. P. V. A., 30jährige Ipara. .Nach sechs
eklainptischen Anfällen eingeliefert; Esbach 12%o; mit Wendung
und Extraktion enlbunden; danach noch ein Anfall. Bis zum
4. Wbt. somnolent. Am 5. Wbt. stechende Schmerzen in der
rechten Brust. Am 9. Wbt. bei 39-G, P. 154, 100 Grisette; Döder-
lein und Kultur Streptokokken, Blut steril. Kollargolklysmen.
Am 13. Wbt. 100 Grisette, am IG. und 20. Wbt. je 100 Elis.
Dauernd febril, um 38-5, rechtsseitige Gangraena pulmonum:
Myrtol. Am 25., 27. und 31. Wbt. je 10 g 2°/oigen Kollargols intra¬
venös. Seit dem 43. Wbt. afebril. Am Gl. Wbt. entlassen. Die
Lungengangrän wohl auf Aspiration im eklamptischen Anfalle
zurückzuführen !
Pr.-Nr. 1407 — 05. Z. F., 21jährige Ilpara. Erster Partus
normal. Krankheitsbeginn 4. Wbt., 39-2, P. 132, Döderlein und
Kulturen Streptokokken. Am G. Wbt. bei 40-7, P. 142, 100 Elis.
Blut Streptokokken. Dauernd hoch febril. Am 9. Wbt. 40-2,
P. 124, 100 Elis. Am 12. Wbt. Exanthem am Oberschenkel, bei
40-4. Dann Abfall der Temperatur, am 15. und 16. Wbt. afebril,
am 17. Wbt. Exanthem am Ellbogen (39-2), kritischer Abfall, vom
19. bis 25. Wbt. afebril. Am 26. Wbt. Exantbem am Rumpfe,
Temperatur steigt bis 40-3 (28. Wbt.), dann kritischer Abfall.
Seit 33. Wbt. dauernd afebril, am 40. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1432 — 05. P. A., 26jäbrige lllpara. 1902/1903 zwei
normale Partus. Seit 2. Mai Blutung. Außierbalb untersucbt. Auf-
iiabrnstemperatur 38-2, P. 116. Placenta praevia. 5. Mai. Braxton
Hicks, totes Kind, post partum afebril. 3. Wbt. Schüttelfrost,
T. 41, P. 124, Döderlein und Kultur, Streptokokken. Am 5. Wbl.
bei 40-4, P. 130, 100 Elis. Blut steril. Kein Temperaturabfall.
Am 8. .Mrirt. bei 40, P. 140, 100 Elis. Am 9. Wbt. 40-7, bis zum
13. Wbt. intermittierend Fieber, um 39. Am 15. Wbt. bei 40-5.
P. 132, 100 Elis. Am 16. Wbt. Beginn des ExanthemS', am
17. Wbt. Frost, 41-4, am 20. Wbt. Frost, 40, 100 Elis; ebenso
Frost am 22. und 23. Wbt. Temperatur andauernd über 40.
Am 32. Wbt. Exitus.
Obduktion: Pyämie, eitrige Endometritis. x4bszeß des
rechten Ovars, eitrige Phlebitis der rechten Vena sperraatica,
multiple embolische Abszesse der Lungen (Streptokokken). Akuter
i\Iilz tumor (Streptokokken).
Pr.-Nr. 1865 — 05. K. A., 37jähr. IVpara. Außerhalb unter¬
sucht. Beim zweiten und dritten Partus (1901, 1902) Fröste.
Pat. war am 9. Wbt. bereits außer Bett, als sie eine Ohnmacht Und
danach einen Schüttelfrost bekam (.39-8) zwei Tage afebril. Am
13. Wbt. wieder ein Frost. Kultur Streptokokken. Am 15. Wbt.
bei 39-7, P. 148, 100 Grisette. Blut steril. Andauerndes intermit¬
tierendes Fieber, mit Temperatursteigerung bis 40-2. Ah 22. Wbt.
(40.) Kollargolklysmen. Seit dem 29. Wbt. afebril. Am 41. Wbt.
entlassen.
Pr.-Nr. 2639 — 05. K. M., 22jähr. Ipara. Partus. 5. bis
9. Wbt. spontan. Krankheitsbeginn 4. AVbt. Döderlein und Kul¬
turen. Streptokokken. Blut steril. Am 7. Wbt. bei 39'7, P. 126,
100 Elis. Am 8. und 9. Wbt. 39, am 10. Wbt. 40-6. Dann Kollargol
durch zehn Tage. Seit dem 14. Wbt. afebril. Am 32. Wbt.
entlassen. Kein Exanthem.
Pr.-Nr. 3009 — 05. R. M., 23jälir. Ipara. Kraniotomie wegen
drohender Utemsmptur. Krankheitsbeginn 2. Wbt., 39, P. 120.
Kein Frost. Döderlein und Kultur Streptokokken. Am 4. Wbt.
hei 40, P. 140, 100 Elis Serum. Im Blute Strep tokokke]i. Kein
Temperaturabfall. Am 6. Wbt. beginnt Urtikariaexanthera. Eine
schon bei Fieberbeginn behandelte Quetschwunde an der linken
\ aginalwand )ioch belegt. Jodtinktur. Kollargol intravenös (im
ganzen Kraiikheitsverlaufe 114 cg [Substanz] Kollargol). Inter-
luittierejides Fieber. Am 9. Wbt. bei 39-7, P. 144, 109 Elis,
ohne Wirkung. IMeteorismus, Exitus am 13. Wbt.
Obduktion: Endometritis diphtheritica an der Plazentar¬
ansatzstelle, Endokarditis der Mitralis, multiple septische Milz¬
infarkte, trübe Schwellung der Leber. Hämorrhagische Metritis.
Die Venen von der Uteruswand angefangen, aufwärts voll¬
kommen frei.
P.-Nr. 3308 — 05. St. A., 34jähr. IVpara. Frühere Wochen¬
betten afebril. Außerhalb von einer nicht desinfizierten Hebamme
untersucht (zehn- bis zwölfmal). Krankheitsbeginn 3. Wbt. 38-6,
P. 96, Frost. Döderlein und Kultur. Streptokokken rein. 44oigo
Kollai'golklys'mcn. 7. Wbt. Frost; 100 Gnom, bei 39-2, P. 120
Blut steril. Kritischer Temperaturabfall. Am 8. Wbt. Höchst¬
temperatur 37-8. Ab 9. Wbt. afebril. 15. Wbt. entlassen. Kein
Exanthem.
P.-Nr. 3514 — 05. G. A., 20jähr. Ipara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 3. Wbt., 38-6, P. 126. Döderlein und Kulturen
spärlich. Streptokokken. 4. Wbt. bei 40-6, P. 144, 100 Elis. Blut
steril. Intermittierendes Fieber, um 39. Am 7. Wbt. bei 38-2,
P. 129, 100 Elis. Im Harne reichlich Zylinder, Nierenepilhel.
Diarrhoe. Erbrechen. 11. Wbt. Exitus.
Obduktion: Endometritis diphtheritica, mit diffuser, eitrig¬
fibrinöser Peritonitis, hochgradige Schwangerschaftsniere.
Pr.-Nr. 65 — 06. M. A., 20jähr. Ipara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 4. Wbt., 37-8, P. 120, Döderlein und Kulturen.
Streptokokken. 5. Wbt. bei 38T, P. 130, 100 Elis. Blut steril.
Lytischer Abfall bis zum 9. Wbt., wo unter 38-6, P. 120, Exan¬
them an den Oberschenkeln auf tritt. Rasch lytische Entfieberung;
es entwickelt sich nun beiderseitige leichte Parametritis. Kühl¬
apparat, Unguentum Crede. Am 22. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 142 — 06. Cli. R. 21jähr. Ipara. Manualhilfe. Krank-
heitsheginn 5. Wbt., 39-6, P. 130, Schimerzen im rechten Unter¬
bauche. Döderlein und Streptokokken, Kulturen steril. 6. Wbt.
bei 40-4, P. 144, 100 Grisette. Breites Infiltrat rechts vom
Uterus bis zur Beckenwand. Unguentum Crede. Lytischer Fieber¬
abfall; am 12. Wbt. afebril; vom 13. bis 19. Wbt. febril. (Höchst¬
temperatur 38-6) dann wieder (dauernd) afebril. Kein Exanthem.
Gebessert, mit bedeutend verkleinertem, schmerzlosen Tümor ent-
lftSS0Xl
Pr.-Nr. 995 — 06. M. K., 29jälu’. IV para. Partus 24. März.
Kranlvheitsbeginn 5. Wbt. P. 140, T. 39-5, 200 Grisette, Döderlein
und Kulturen: Streptokokken. Blut steril. Kritischer Abfall am
7. Wbt. afebril. Am 12. Wbt. geheilt entlassen.
Pr.-Nr. 1363 — 06. F. R., 20jähr. Ipara. Intra et ante partum
nicht untersucht. Spontaner Partus. 8. Mai. Krankheitsbeginn
am 4. Wbt. (zwei Schüttelfröste). Döderlein und Kultur, Strepto¬
kokken, Blut (4. Wbt.) steril. Am 4. Wbt. bei 39-4, P. 126,
100 Gnom. Am 6. und 7. Wbt. noch bis 39. Am 9. Wbt. 37-8,
am 10. Wbt. 37-5. Am 12. und 13. Wbt. Exanthem mit 38-2,
am 15. Wbt. heftige Gelenksschmerzen ohne Temperatursteigerüng.
Ab 13. Wbt. afebril, am 18. Wbt. gesund entlassen.
Pr.-Nr. 1398 — 06. A. F., 21jä.hr. Ipara. Partus 12. Mai,
V24 Uhr am Krankheitsbeginne. Am 5. Wbt. 40-2, P. 136, kein
Frost. Döderlein und Kulturen: Lange Streptokokkenketten.
100 Gnom. Kritischer Abfall auf 37-9, P. 100 am 6. Wbt. Dann
afebriler Verlauf. Am 11. Wbt. geheilt entlassen. Kein Exanthem
beobachtet.
Pr.-Nr. 1240 — 04. K. A., 40jähr. Ipara. Forzeps wegen
Wehenschwäche. Krankheitsbeginn 8. Wbt. 39-6, P. 116. Im
Döderlein Streptokokken, in der Kultur Kolibazillen. Am 9. Wbt.
bei 40, P. 120, 100 Elis. Blut, Streptokokken rein. Lytisch ab¬
fallende Fieberkurve. Ab 15. Wbt. afebril. Vom 15. bis 17. Wbt.
an den Oberschenkeln juckendes Erythem. 28. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 2236 — 04. A. L., 17jähr. Ipara. Krankheitsbeginn
6. Wbt. 39-7, P. 108, Döderlein und Kultur: Streptokokken. Am
9. Wbt. bei 39-8 100 Elis. Blut steril. Am 11. Wbt. 41, dann
kritischer Abfall, vom 12. bis 18. Wbt. afebril. Am 19. Wbt.
39-6, dann jäher Ahfall, dauernd afebril. Kein Exanthem. Am
28. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 2544 — 04. K. A., 20jähr. Ipara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 2. Wbt., 38-4, P. 120. Im Döderlein Strepto¬
kokken, in den Kulturen schlanke Stäbchen (Verunreinigung?).
Am 5. Wbt. 39-7, P. 142, 100 Elis. Blut steril. Staffelförmiger
Abfall. Am 7. Wbt. 36-5, am 8. Wbt. 40-1, P. 150, um 12 Uhr
mittags 100 Elis., um 4 Uhr nachmittags 40-5. Inteimittierender
Abfall; ab 11. Wbt. afebril. Ohne jede Temperatursteigerung*
am 11. Wbt. Masernexanthem um die Injektionsstelle, vom 13. bis
16. Wbt. ein Urtikaria ähnliches Exanthem an oberen und unteren
Extremitäten. Am 18. Wbt. gegen Revere entlassen. Genesung.
Pr.-Nr. 2777 — 04. S. Ch., 22jälu*. Ilpara. Spontaner Partus.
Eihäute zerfetzt. Krankheitsbeginn am 3. Wbt., 38-3, P. 86, Frost.
Entfernung von Eihäuten und Plazentaresten. Döderlein und
Kultur Streptokokken; am 9. Wbt. bei 39-6, P. 106, 100 Elis.
(Blut Streptokokken.) Lytische Entfieberung bis zum 12. Wbt.
Dann einmal 39 (am 12. Wbt.). Am 13. bis 15. Wbt. Erythem
(aber fieberfrei). Am 19. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 3279 — 04. Z. E., 24jähr. Ilpara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 6. Wbt., 38-8, P. 96. Döderlein und Kulturen
Streptokokken. Am 7. Wbt. bei 39-4, P. 160, 100 Elis. Blut
steril. Remittierendes Fieber, zwischen 37 und 38. Am 13. Wbt.
geringes Exanthem (15.). Am 14. Wbt. Abfall zur Norm, am
17. Wbt. entlassen.
V ' Pr.-Nr.® 3298 — 04." B. C., 21jährige Ipara. Krankheitsbeginn
4, Wbt.*39'8,^^ P. 120,^ Döderlein' 'und Kultur. Streptokokken nnd
Nr. ‘22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFl. 1907. 601
Staphylokokken. Am 5. Wbt. bei 39'5, P. 112, 70 Serum (Name
unbekannt), r.ytiscber Abfall. Am 7. Wbt. Höchsttemperatur 37'8,
am 8. 37'5, am 10. 38 6, Exanthem. Am 12. Wbt. 39'6, am 13^
mit 39‘9, ein neuer Nachschub des Exanthems. Kritischer Abfall
zum 14. Wbt. Von da ab afebril. Am 19. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 3410—04. K. M., 42jährige V para. Vier Partus,
afebril. Krankheitsbeginn 4. Wbt. Döderlein und Kultur. Strepto¬
kokken. 8. Wbt. bei 39, P. 106, 100 Elis. Blut steril. Kritischer
Abfall. 9. bis 13. afebril. Am 14. Wbt. 397, P. 110, mit Aus¬
bruch eines stark juckenden Exanthems; wieder kritischer Abfall.
Ab 16. Wbt. afebril. Am 20. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 3415 — 04. R. A., 22jährige Ipara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 6. Wbt. 387, P. 96. Döderlein: Staphylokokken
und Streptokokken, Kultur negativ. Am 12. Wbt. bei 40, P. 104,
100 Elis. Im Blute Streptokokken. Weiterer Temperaturverlauf
wegen Mangel einer Kurve nicht genau zu verfolgen. Am 18. Wbt.
leichtes Frösteln. Temperaturanstieg auf 40, P. 108. Diffuse Bron¬
chitis. Am 20. Wbt. Exanthem. Ab 22. Wbt. entwickelt sich eine
Param. dextra et post. Temperatur unter 37'5 remittierend; am
27. Wbt. bei 387, P. 96, neues Exanthem (Arme); Schwellungen
der beiden Kniegelenke (Ballotement), des rechten Ellenbogen¬
gelenkes, der Schulter und Hüfte rechts ; dann Auftreten des
Exanthems im Gesicht. Am 28. Wbt. 39‘5 ; die Schwellungen auf
Aspirin zurückgegangen ; am 30. Wbt. Schmerzen in inguine,
besonders links, afebril. Ab 34. Wbt. Wohlbefinden. 37. Wbt.
entlassen.
Pr.-Nr. 3507 — 04. D. J., 27jährige IVpara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 4. Wbt. 38 7, P. 75, Döderlein und Kulturen ;
Diplokokken und Streptokokken. Am 8. Wbt. bei 38, P. 100,
100 Elis. Blut steril. Param. dextra. Unregelmäßiger Fiebertypus.
Höchsttemperatur 38'6. Am 14. und 15. Wbt. geringes Exanthem
an der Innenfläche des Oberschenkels. Am 30. Wbt. gegen Revers
entlassen.
Pr.-Nr. 3515 — 04. C. B., 24jährige Ipara. Außerhalb Forzeps,
manuelle Planzentalösung, vaginale Tamponade, wegen Blutung
an die Klinik. Döderlein und Kulturen : Streptokokken und Diplo¬
kokken. Krankheitsbeginn 2. Wbt. 37’8, P. 106. Am 5. Wbt. bei
39‘4, P. 142, 100 Elis. Blut steril. Lytischer Abfall. Ab 10. Wbt.
afebril. Wegen Dammnaht erst am 42. Wbt. entlassen. Kein
Exanthem.
Pr.-Nr. 3672 — 04. St. L., 28jährige Ipara. 3. Wbt. mit Frost,
38‘5, P. 88. Döderlein und Kultur : Staphylokokken und Strepto¬
kokken. 8. Wbt. bei 38'8, P. 90 und 100 Elis. Im Blute Strepto¬
kokken. Drei Tage niedrige Temperaturen (37'6). Am 13. Wbt.
39 7, am 14. Wbt. Exanthem an den Oberschenkeln, dann Auf¬
treten von Gelenkschmerzen, Knieschwellung, Schwellung der
Drüsen in inguine. (22. Wbt.) Am 23. Wbt. bei 40'5, P. 110,
100 Elis. (Blut diesmal steril.) Unregelmäßig intermittierendes
Fieber. Kollargol als Salbe und Klysma; Kocbsalzinfusionen. Da
die unteren Extremitäten wegen Muskel- und Gelenksschmerzen
dauernd in Mittelstellung gehalten werden, entwickeln sich Kon¬
trakturen. Massage Rb. 55. Wbt. afebril. Pat. wird mit gänzlich
normalem Genitalbefund auf die chirurgische Klinik transportiert
und von da geheilt entlassen.
Pr.-Nr. 3766 — 04. Sch. A., 30jäbrige IVpara. Spontaner
Partus. Am 5. Wbt. 40'2, P. 120, Krankheitsbeginn. Streptokokken
und Staphylokokken. Blut steril. Am 7. Wbt. 100 Gnom bei 39.
Kritischer Temperaturabfall, fieberfrei bis zum 13. Wbt., wo ein
Exanthem auftritt (Höchsttemperatur 38.5) ; auch hier kritischer
Abfall. Am 16. Wbt. gesund entlassen.
Pr.-Nr. 15 — 05. K. A., 21jährige Ipara. Spontaner Partus.
5. Jänner, Uhr früh. Manuelle Plazentalösung m. H. Beginn
der Erkrankung 1. Wbt. 38, P. 126, Döderlein und Kultur ;
Streptokokken und Staphylokokken. Blut zweimal (am 4. Wbt.
und 15. Wbt.) entnommen, steril. 4. Wbt. 100 Elis. Bei 40 3 am
5. Wbt. 40'5, am 6. Wbt. eine zweite Seruminjektion 100 Elis.
Am 7. Wbt. Höchsttemperatur 39'6. Vom 8. bis 14. Wbt. eine
Reihe von Frösten, intermittierendes Fieber bis 41. Vom 9. Wbt.
Kollargolklysmen. Vom 18. Wbt. afebril, doch beträgt die
Höchsttagestemperatur immer gegen 37'5. Am 29. Wbt. geheilt
entlassen.
Pr.-Nr. 150 — 05. W. K., 24jährigo Ipara. Krankbeitsbeginn
4. Wbt. 38'9, P. 140, Frost. Kultur : Staphylokokken und Strepto¬
kokken. Blut steril. 7. Wbt. 100 Elis. Bei 397, P. 120. Langsamer
Abfall bis zum 11. Wbt., wo von 36'9 die Temperatur auf 39'6,
P. 144, steigt. Staffelförmiger Abfall der Temperatur. Seit dem
14. Wbt. afebril. Am 19. Wbt. leichtes Exanthem an der Innen¬
seite der Oberschenkel ohne Temperatursteigerung. Am 23. Wbt.
gcliöilt Gntlcisscn.
Pr.-Nr. 309 — 05. M. K., 22jährige HI para. Partus 26. Jänner
1905. Pat. hat sich am 25. Jänner wegen Blutung einen Watte¬
bausch in die Vagina eingefübrt. Wattebausch und Fruchtwassei’
der frühreifen Frucht übelriecbe?id. Krankbeitsbeginn 2. Wbt.
Am 5. Wbt. 100 Elis. Kultur: Staphylokokken und Streptokokken.
Blut steril. Links akute, rechts abgelaufene Thrombophlebitis der
Saphena. Am 8. und 9. Wbt. Kollargolklysrna. Am 6. Wbt. 39,
am 7. Wbt. 387, am 8. Wbt. 39-2, am 9. Wbt. 37-8 ; dann afebril.
Exanthem beobachtet am 15. Wbt. (obere Extremität), 37'5 (bisher
unter 37). Am 16. Wbt. Exanthem im Gesiebt. Am 22. Wbt.
geheilt entlassen.
Pr.-Nr. 787 — 05. M. M., 20jäbrige Ipara. Spontaner Partus.
Plazentaausräumung. Krankbeitsbeginn 5. Wbt. Döderlein und
Kultur: Streptokokken. Am 7. Wbt. 391, P. 120, 100 Gnom.
Im Blut Streptokokken. Am 9. Wbt. afebril nach kritischem Ab¬
fall. Am 11. Wbt. 38 5, P. 100, 100 Gnom. Am 13. Wbt. kritischer
Abfall auf 36’5, dann afebril bis 23. Wbt. wo eine Angina und
Lymphadenitis inguinalis bil. auftritt. Am 26. beginnt ein Exan¬
them mit H. T. um 38'5, am 27. Wbt. bei 397, P. 132, 100 Gnom.
Ab 25. Wbt. Kollargolklysmen bis 42. Tag. Ab 44. Wbt. von geringen
Steigerungen abgesehen afebril ; jedoch stärkere Schmerzen in
den Waden, die sich schließlich als hysterischen Charakters
heraussteilen und auf energische psychische Behandlung und
Bromnatrium verschwinden. Am 96. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 967 — 05. Z. M., 27jährige II para. Partus 24. März.
Krankbeitsbeginn 5. Wbt., 377, P. 108. Döderlein und Kultur
Streptokokken. Im Blut lange Subtilis ähnliche Bazillen. 11. Wbt.
bei 39-4 und P. 116, 100 Grisette. Am 12. 39-0. Am 10.
38’2, bei wiederholten Exzitationszuständen. Am 14. Wbt. 387.
Ab 15. Wbt., von wo Pat. auch täglich 10 g 1% Kollargol per
Klysma erhält, afebril. Am 22. Wbt. gegen Revers entlassen.
Pr.-Nr. 1327 — 05. M. G., 34jährige Ipara. Krankbeitsbeginn
6. Wbt. 38'5, P. 168. Döderlein und Kultur : Streptokokken und
Diplokokken. Am 10. Wbt. bei 39’6, P. 124, 100 Elis. Am 11.
38‘6, am 13. bei 39, P. 120, 100 Elis. Kritischer Abfall auf 36 7,
afebril bis zum 17. Wbt. Vom 18. bis 22. leicht febril und
Exanthem ; dann afebril. Am 30. Wbt. geheilt entlassen.
Pr.-Nr. 2224 — 05. G. A., 18jäbrige Ipara. Partus 26. Juli
(Extraktion, Manualhilfe). Temperatur 38 post partum. Afebril bis
8. Wbt. 38‘8, P. 112. Döderlein und Kultur : Staphylo- und Strep¬
tokokken. 10. bis 15. Wbt. afebril. Am 18. Wbt. bei 397, P. 96,
100 Elis. (Blut steril.) Intermittierend abfallende Temperatur. Ab
22. Wbt. afebril. Am 27. Wbt. entlassen. Kein Exanthem.
Pr.-Nr. 2275 — 05. D. K., 22jährige Ipara. Krankbeitsbeginn
4. Wbt. 37‘6, P. 114. Döderlein und Kultur: Streptokokken und
Staphylokokken. Am 14. Wbt. (Blut steril), bei 38'4, P. 120,
100 Elis. Abfall am nächsten Tage auf 37 "5, P. 96. Seitdem afe¬
bril. Ara 23. Wbt. . entlassen.
Pr.-Nr. 3542 — 05. 0. R., 30jährige HIpara. Wegen Vitium
Cervix Tamponade, Metreuryse, äußere Wendung. Krankbeitsbeginn
7. Wbt. 38‘4, P. 108. Döderlein und Kultur : Strepto- und Staphylo¬
kokken. (Blut steril). 100 Elis. Lytischer Abfall. Am 13., 14. und
15. afebril. Am. 16. Wbt. 38'3, Exanthem. 21. Vom 18. bis 20.
afebril. 21. bis 24. febril. Höchsttemperatur 38'4, Gelenks-
schraerzen. Ab 24. afebril. 36. entlassen.
Pr.-Nr. 504 — 06. B. A., Ipara. Spontaner Partus. Krankheits¬
beginn 4. Wbt. Frost 40, P. 148. Döderlein: Strepto- und Diplo¬
kokken. Kultur: Strepto- und Staphylokokken. Blut steril. 100 Elis.
Intermittirendes Fieber in gleicher Höhe. Lochien dauernd übel¬
riechend. 7. Wbt. 39T, P. 118. 2. Uterusausspülung. 100 Elis.
In diesem Döderlein Streptokokken bis 10 Glieder und plumpe
nicht kultivierbare Stäbchen. Kultur: Streptokokken. Am 8. Wbt.
unter 39, P. 100, Exanthemausbruch an den Oberschenkeln. Vom
15. bis 19. Wbt. afebril. Am 19. Schmerzen im Handgelenk, am
20. im Knie und Schulter. Am 21. ein über den ganzen Körper
ausgebreitetes Exanthem. 40T, P. 132. Kritischer Abfall am 23.
Fieber, Exanthem und Gelenksschmerzen geschwunden. Am 25.
Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1315 — 06. 0. M., Ipara. Spontaner Partus. Krankheits¬
beginn 5. Wbt. 38-6, P. 102, 6. Wbt. bei 40, P. 114, 100 Gnom.
Döderlein Kokken in kurzen Ketten. Kultur und Blut steril. Am
7. Wbt. bei 38'9, P. 118, 100 Gnom. Lytischer Abfall. Seit 10.
afebril. Am 20. Wbt. geheilt entlassen. Kein Exanthem beobachtet.
Nicht Streptokokkenfälle:
Pr.-Nr. 2170 — 04. Sch. A., 27jähr. HIpara. Manuelle Plazenta'
lösung außerhalb der Klinik. Starker Blutverlust. In der Klinik
Entfernung eines kleinen Plazentarrestes. Döderlein und Kulturen.
Staphylokokken. Am 5. Wbt. bei 39, P. 136, 100 Elis. Blut steril.
Seither afebril. Am 12. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 3635 — 04. H. K., 20jähr. Ipara. Partus. 19. Dezember,
\li2 Uhr. Krankbeitsbeginn 5. Wbt. Kultur Staphylokokken. Blut
steril. 7. Wbt. 100 Elis. bei 40 3, am 8. Wbt. 38 7, am 9. Wbt.
662
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
38’4. Schon am 8. Wbt. blasses Exanthem, das am 16. Wbt. unter
40‘2 auf beiden Unterschenkeln sich neuerdings ausbreitet. Am
20. Wbt. Schüttelfrost. (Bis dabin afebril.) 39'5. Gelenks-
scbmerzen. Kollargol, per Kl. bis zum 26., bis 37’7, am 27. 38'2
(Koprostase). Dann afebril. Am 37. Wbt. geheilt entlassen.
Pr.-Nr. 358 — 05. S. A., 26jäbrige Ipara. Spontaner Partus.
24. März. Lues invet. Krankbeitsbeginn 5. Wbt. Temperatur 39,
P. 110. 7. Wbt. Döderlein und Kultur Diplokokken. 8. Wbt. bei
39’2, 120. 100 Grisette. Blut steril. Am 10. Abfall auf 37’4, am
13. wieder 37'9. Vom 14. bis 17. Exanthem, ab 18. afebril. Vom
14. bis 25. Wbt. Kollargolklysmen. Am 29. Wbt. gesund entlassen.
Pr.-Nr. 334—05. G. R., 23jährige Ipara. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 5. Wbt. 37 '7, P. 98. Döderlein Diplokokken.
Kultur und Blut steril. 9. Wbt. 100 Serum (?). Bei 39'3, P.T20. Kein
Temperaturabfall. Am 12. Wbt. 100 Serum (?). 39‘7, P. 116.
Am 13. Höchsttemperatur 38. Am 14. Wbt. 37 '5. Am 17. Ausbruch
eines Exanthems. Temperatur steigt in den nächsten zwei Tagen
auf 39‘5, dann Abfall. Remittierendes Fieber um 37’8, vom
24. verblaßt das Exanthem. Vom 26. bis 29. afebril. Am 30. und
31. neuerlicher Exanthemausbruch. Temperatur bis 39. Kritischer
Abfall am 34. Temperatur seither afebril. (Am 33. und 34. Täg
Gliederschmerzen.) Am 40. Wbt. entlassen.
Bakteriologisch untersucht mit negativem Befund.
Pr.-Nr. 2977—04. R. J., 24jährige Ilpara. Abortus mit
4^'2 Monaten spontan. Krankheitsbeginn 5. Wbt. 40, P. 120. Im
Döderlein vereinzelte Kokken. Kulturen negativ. Am 2. Wbt. bei
39, P. 110, 100 Elis. Blut steril. Am 3. Wbt. afebril; am 8. ebt-
lassen. Kein Exanthem.
Pr.-Nr. 871 — 05. A. S., 34jährige Vllpara. 9. März. Abortus
incompletus. Krankheitsbeginn 3. Wbt. Pat. wurde außerhalb
untersucht und an der Klinik am 6. Wbt. die Plazentarreste eut-
fernt. Portio und Vagina belegt. Kultur nicht aufgegangen. Blut
steril. Am 6. Wbt. 100 Serum. Alkoholausspülung. Seither afebril.
Am 12. Wbt. gesund entlassen.
Pr.-Nr. 1170 — 05. Sch. R., Ipara. Spontaner Partus. Krank¬
heitsbeginn 4. Wbt. 38, P. 112. Döderlein und Kultur steril. Am
7. Wbt. bei 39-5, P. 140. 100 Elis. Am 8. Wbt. 38. Ab 9. afebril.
14. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1397 — 05. R.E., Ipara. Spontaner Partus. Aufnahms¬
temperatur 38'7, P. 114. Am 3. Wbt. bei 39 P. 110, 100 Elis.
Döderlein : vereinzelte Kokken. Kultur nicht aufgegangen, Blut
steril. Am 4. Wbt. 39‘2. Lytischer Abfall. Ab 8. Wbt. afebril. Vqm
10. bis 13. Wbt. Exanthem ohne Temperatursteigerung. Am
15. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1533 — 05. W. B., Ipara. Spontaner Partus. Krankheits¬
beginn 6. Wbt. Döderlein : vereinzelte Kokken. Kultur und Blut
steril. Am 10. Wbt. 40T, 156, Frost. 100 Elis. Am 11. Wbt. 38’5,
am 13. Wbt. 38'3, am 14. und 15. 40, am 16. bei 40'3, P. 120,
100 Elis. Ab 17. bis 24. Exanthem, bei abfallender Temperatur.
Vom 26. bis 28. afebril, weiterer Verlauf durch eine Angina mit
nachfolgenden Gliederschmerzen gestört, auf Aspirin Heilung. Am
47. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 2313 — 05. S. B., 30jährige Ipara. Forzeps. Krankheits¬
beginn 2. Wbt. 37 ’9, P. 102. Döderlein; vereinzelte Kokken.
Kultur nicht angegeben. 4. Wbt. 38‘2, P. 120. 100 Elis. Am
5. Wbt. 39'3, P. 148; dann lytischer Abfall. Ab 11. Wbt. fieber¬
frei. Wegen Sekundärnaht einer Episiotomie erst am 33. Wbt.
entlassen.
Pr.-Nr. 2481 — 05. Z. G., 17jährige Ipara. Forzeps. Krank¬
beitsbeginn 2. Wbt. 37’8, P. 120. Döderlein: spärliche Kokken.
Kultur steril. 5. Wbt. bei 38'8, P. 144. 100 Elis. Lytischer Abfall.
Seit 7. Wbt. afebril. 15. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 3548—05. B. E., 22jährige Ipara. Spontaner Partus.
Krankbeitsbeginn 6. Wbt. 38'6, P. 120. Döderlein und Kultur
steril. 9. Wbt. bei 38, P. 110, 100 Gnom. Blut steril. Lytische
Entfieberung. Ab 11. Wbt. afebril. Kein Exanthem. 16. Wbt. ent¬
lassen.
Pr.-Nr. 568 — 06. B. L, 21jäbrige Ipara. Spontaner Partus.
Krankbeitsbeginn 7. Wbt. 40'1, P. 126. Döderlein : keine Kokken.
Kultur steril. 100 Elis. 8. Wbt. 39'1, P. 126. 9. Wbt. 37'6, dann
afebril. 16. Wbt. entlassen.
Bakteriologisch nicht untersucht.
Pr.-Nr. 2146 — 04. M. St., 19jährige Ipara. Forzeps. 2. Wbt-
40’ 1, P. 120, Blut steril. Lochien nicht angegeben. 100 Elis.
Lytische Entfieberung. Am 8. Wbt. 38'7, Exanthem. 10. Wbt.
afebril. 18. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 2382 — 04. N. B., 37jäbrige Xpara. Das vorhergehende
Wochenbett durch einen Monat febril, Phlebothrombose des linken
Beines. Bei der jetzigen Geburt außerhalb wiederholt von einer
Hebamme untersucht und nach vergeblichen Forzepsversuchen
seitens eines Arztes der Anstalt eingeliefert ; hier wegen Tympania
uteri, Vorderhauptslage, schlechter kindlicher Herztöne, hoher
Forzeps mit lebendem Kind. Aufnahmstag 37 ’5. 2. Wbt. Schüttel¬
frost 39'7, fadenförmiger Puls, Delirien. Am 3. Wbt. 100 Elis.
Am 4. Exitus. Obduktion : Jauchige Endometritis, Einrisse der
Vagina und Zervix, Phlegmone des Beckenzellgewebes. Pyelitis,
eitrige Nephritis. Im Eiter Staphylo- und Streptokokken.
Pr.-Nr. 2828 — 04. M. S., 22jährige Ipara. Spontaner Partus.
Febril. 38'7, 1. Wbt. 38‘3, 2. Wbt. 40T, kein Döderlein. Am
3. Wbt. 40, P. 120. 100 Serum. (Name nicht angegeben.) Am
4. Wbt. 39 '9, 5. bis 8. afebril. Am 9. 38‘1, Exanthem an den
Oberschenkeln. Am 11. 37 ’5, am 14. 38’ 4, am 15. neuerliches
Exanthem (Jucken), an Arm und Brust. Bis 18. Wbt. Am 19.
entlassen.
Pr.-Nr. 784 — 05, 38jährige VHIpara. Spontaner Partus.
(M. S.) Krankbeitsbeginn 2. Wbt. 37'9, P. 104, 9. Wbt. 38'3,
P. 120, 100 Elis. Lytisch abfallende Fieberkurve. Ab 15. afebril.
18. Wbt. entlassen.
Pr.-Nr. 1090—05. W. K., 18jährige Ipara. Am Tag ante
partus, abends Schüttelfrost, dann Blutung. Untersuchung durch
eine Hebamme außerhalb. Dann Spitalaufnahme. Aufnahms¬
temperatur 38'2, P. 131. Spontaner Partus. Keine Abimpfung.
Am 2. Wbt. 38'9, P. 138. 100 Grisette. Blut steril. Lytische Ent¬
fieberung. Vom 5. bis 8. Krankbeitstag afebril. Am 9. 37 '9,
Exanthem. Lytische Entfieberung. Ab 12. Wbt. afebril. Exanthem
bis 18. Wbt. Da entlassen.
Pr.-Nr. 1302 — 05. F. A., 37jährige IV para. Am 26. März
begann Pat. zu bluten. (Gr. 11. m.) und wurde am 1. April außer¬
halb der Anstalt kurettiert. Der Arzt hatte Tags vorher ein Kind
wegen Empyema toracis — mit Handschuhen — operiert. Einige
Tage nach der Auskratzung heftiger Schüttelfrost, der sich in vier-
bis fünftägigen Pausen wiederholte ; der letzte am 20. April. Am
22. Wbt. Aufnahme ; auf der linken Gesäßbacke wird ein wallnu߬
großer Abszeß eröffnet. Vom 23. bis 24. drei Fröste. Am 24. bei
39, P. 108, 100 Elis. Blut steril. Am 25. bei 39, P. 120, 100 Elis.
Remittierendes Fieber um 39'5, der Touchierbefund ergibt keine
größeren Veränderungen. Vom 36. bis 47. Wbt. Exanthem. Am
41. Wbt. Frost 39'5, unregelmäßig intermittierendes Fieber, mit
Höchsttemperatur von 39'7. Am 61. Wbt. noch ein Frost. Am
68. Wbt. 37 '8, am 70. Wbt. gegen Revers entlassen. Nach brief¬
lichem Bericht erst nach zwei Monaten Krankenlager vollkommen
genesen.
Pr.-Nr. 2567 — 05. R. B., lOjäbrige Ipara. Spontaner Partus.
Febril 40'2. Ara 1. Wbt. 39, P. 112, 100 Elis. Kein Döderlein.
Ausräumung von Plazentarresten. Seither afebril. 10. Wbt. ent¬
lassen.
Pr.-Nr. 2571 — 05. P. B., 21jährige Ipara. Spontaner Partus.
Am 11. Wbt. Blutung. Am 12. febril. Am 15. Wbt. bei 38'9,
P. 144, 100 Elis. Blut steril. Kein Döderlein. Ara 17. kritischer
Abfall, seitdem afebril. Vom 21. bis 24. Exanthem, ohne Tem¬
peratursteigerung. Am 26. entlassen.
Pr.-Nr. 328 — 06. L. T., 25jährige H para. Außerhalb unter¬
sucht, von schlecht desinfizierter Hebamme. Spontaner Partus.
Krankbeitsbeginn 5. Wbt. 39'2, P. 114. Keine Abimpfung. 6. Wbt.
38'9, P. 120, 100 Elis. Blut steril. Intermittierendes Fieber. Ab
8. Wbt. beginnendes Erysipel des linken kleinen Labiums. Ab 10.
auch des großen. Wegen Erysipel isoliert. Bei vollkommen er¬
haltenem Bewußtsein am 14. Wbt. Exitus.
Obduktion: Endometritis diphteritica, Erysipel des linken
großen Labiums, rechtsseitige eitrige Salpingitis, diffuse, serös-
fibrinöse Peritonitis, beginnende beiderseitige Pleuritis. Im peri-
tonitischen Exsudate Streptokokken in Reinkultur.
Pr.-Nr. 302 — 06. A. G., 18jährige H para. 1. Partus afebril.
Spontaner Partus. Krankbeitsbeginn 4. Wbt. 38‘9. (Am 3. Wbt.
abends Schüttelfrost.) Keine Spülung. 4. Wbt. 100 Grisette. Blut
steril. Temperatur 40’6, P. 120. 5. Wbt. 100 Gnom. Temperatur 40,
P. 134. Innerhalb drei Tagen sinkt die Temperatur auf 36'3.
Leichtes Exanthem ohne Fieber. Ab 7. Wbt. afebril. Am 15. WMjt.
entlassen.
Pr.-Nr. 1599 — 05. K. A., 27jährige I para. Außerhalb unter¬
sucht. Abortus. Seit 14 Tagen Dyspnoe, schaumiger Auswurf,
bei der Aufnahme Pleuritis sin., schlechter Puls, starke Zyanose.
Am 12. Wbt. 200 Elis. Blut steril. Am 14. Wbt. Exitus. .
Obduktion : Eitrige Endometritis, ulzeröse Endokarditis der
Mitralis und Trikuspidalis mit Stenose und Insuffizienz beider
Klappen, Verwachsung beider Aortenklappen, Hypertrophie des
rechten Ventrikels.
Pr-. Nr. 1745 — 05. C. T., 22jäbrige Ipara. Spontaner Partus.
5. Wbt. 38’2, 10. Wbt. 40'2, P. 104, Döderlein spärliche Kokken.
Kultur steril. Am 11. Wbt. bei 40‘2, P. 104, 100 Grisette. Blut
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
steiil. Am 12. bei 40, P. 112, 100 Elis. Lehmfarbene Stühle,
starker Husten. Am 14. Wbt. Delirien. Temperatur 41. Exitus.
^ Obduktion: Frischer Typhus, im Stadium der markigen
Schwellung, mit beginnender Nekrose. Diphtheritische Endometritis
chronische Tuberkulose und frische Aussaat über der linken
Pleura.
Pr.-Nr. 1808 05. M. K., 34jährige Illpara. Seit sieben Monaten
starker Husten, Atemnot. Spontaner Partus. Krankheitsbeginn.
1. Wbt. 39’8, P. 98. Andauernd intermittierendes Fieber, Puls 120
Starker Meteorismiis, am 17. Wbt. Aszites. Starke Dispnoe. Zunge
trocken. 39 5, P. 132. Laparotomie ergibt ca. 3 Liter klare gelb
gefärbte Flüssigkeit im Bauchraum. (Streptokokken in Reinkultur.)
Uterus und Anhänge mit Fibrin bedeckt. Totalexstirpation des
Uterus und der Adnexe. Ausgiebige Drainage nach oben und
unten. Kochsalzinfusion und intraperitonal. 100 Elis subkutan.
Sauerstoff. Am 18. Wbt. Kollaps. Exitus.
Obduktion : Diffuse, fibrinös-eitrige Peritonitis, frische miliare
Tuberkulose der Lunge, miliare Tuberkulose der Leber, Milz und
Nieren.
Pr.-Nr. 3325 05. K. F., 19jährige I para. Spontaner Partus.
Krankheitsbeginn 6. Wbt. 38'4, P. 108. In Döderlein und Kultur
spärliche Streptokokken. Am 10. Wbt. bei 39'2, P. 120, 100 Elis.
Blutabnahme gelingt nicht. Temperatur bleibt über 39, P. 120
bis 140. Im Harn die ganze Zeit Serumalbumen. Keine Nieren¬
elemente. 16. Wbt. Exitus.
Obduktion: Diphtheritische Endometritis, Schwangerschafts¬
niere, frische tuberkulöse Aussaat vom rechten Lungenhilus aus¬
gehend, bei chronischer Tuberkulose der Lungenhilus-Lymph-
drüsen.
Literatur.
Aschoff, Ehrlichs Seitenkettenlheorie und ihre Anwendung
auf künstliche Immunisierungsprozesse. Zeitschr. f. allg. Phys,, Bd. 1. —
Bertelsmann, Die allg, Infektion bei chirurgischen Infektionskrank¬
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Behandlung von Wochenbettfieber mit Antistreptokokkenserum. Therap!
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Bd. 51. — Ward Ph., Puerperalfieber und Antistreptokokkenserum.
Lancet 1905.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in
Wien. (Vorstand: Prof. R. Paltauf.)
Ueber den Nachweis von Milzbrandbazillen
an Pferdehaaren.*)
Von Regimentsarzt Dr. V. K. Ruß.
Bekanntlich sind Personen, welche sich mit der Ver¬
arbeitung von Tierhäuten, -wolle und -haaren etc. zu be¬
schäftigen haben, nicht selten einer Milzbrandinfektion aus¬
gesetzt.
*) Nach einem Vortrage, gehalten im wissenschaftlichen Verein
der Militärärzte der Garnison Wien, am 9. März 1907.
LS handelt sich in solchen Fällen entweder um Haut¬
infektionen — Pustula maligna — oder um Erkrankungen,
die durch Inhalation sporenhältigen Staubes zustande kommen,
eventuell um einen primären Milzbrand des Magendarmkanals.
Wenn auch der Zusammenhang der menschlichen Er¬
krankungen mit infektionsverdächtigem Tiermaterial gewöhnlich
festgestellt werden kann, so liegen doch wenig Befunde über
den direkten bakteriologischen Nachweis der spezifischen
Mikroorganismen im betreffenden Material selbst .vor.
Der Flauptgrund für diese Tatsache mag wohl darin
liegen, daß in größeren gewerblichen Betrieben dieser Art
das Material in bedeutenden Mengen verarbeitet wird und
derart nur kurze Zeit an Ort und Stelle verbleibt ; es ist also
oft nur einem Zufall zu danken, wenn noch diejenige Partie,
auf welche die Infektion zu beziehen ist, zur Untersuchung
gelangen kann.
Weiters wird man auch sicherlich in Betracht ziehen
müssen, daß eine Reihe von Erkrankungen an Milzbrand —
speziell wenn sie unter dem Bilde einer Pneumonie ver¬
laufen — in ätiologischer Hinsicht verkannt werden. Bei
solchen Fällen wird naturgemäß auch die Nachforschung nach
der Infektionsquelle unterbleiben.
Die Methodik der Untersuchung auf Milzbrandbazillen
an infiziertem Material wird sich hauptsächlich darauf stützen,
daß diese Stäbchen äußerst resistente Sporen bilden,
welche durch thermische Einflüsse im Gegensätze zu den
vegetativen Bakterienformen nur wenig geschädigt werden.
Allerdings finden sich auch sporenbildende, saprophytische
Mikroorganismen, die mit dem Milzbrandbazillus gewisse
morphologische und kulturelle Aehnlichkeiten haben, doch
schützt der gelungene Tierversuch vor Verwechslungen, ebenso
auch vor Infektionen mit anderen widerstandsfähigen patho¬
genen Keimen.
Da meist nur verhältnismäßig geringe Mengen infektions¬
verdächtigen Materiales zur Untersuchung gelangen, wird man
trachten müssen, die darauf haftenden Mikroorganismen, so-
ferne sie Sporenbildner sind, insgesamt einer weiteren Beob¬
achtung zugänglich zu machen.
Gruber^) übergoß zuerst die Haare mit sterilem
Wasser, erwärmte nach gründlicher Digerierung die schmutzige
Spülflüssigkeit durch eine Stunde im Wasserbade auf 60 bis 70®
und impfte dann damit Tiere und goß Agarplatten. Das Resultat
dieser Untersuchungsmethode war ein unbefriedigendes, da
er wohl eine große Zahl von Kolonien harmloser Sporen¬
bildner auf den Platten erhielt, die Tiere jedoch an anders¬
artigen Infektionen verlor.
Da er dieses negative Ergebnis auf eine nur geringe
Zahl der vorhandenen Milzbrandsporen bezog, wendete er zur
Sedimentierung der Spülflüssigkeit ein Verfahren an, wie es
zur Klärung der Abwässer benützt wird (Zusatz von steriler
Alaun- oder Eisenvitriollösung und Soda).
Der hiebei entstehende Niederschlag reißt sämtliche
Partikelchen zu Boden, wird dann bei niedriger Temperatur
im Exsikkator getrocknet und empfänglichen Tieren injiziert.
Der Tod der Versuchstiere wurde gleichfalls nicht durch
Milzbrandbazillen, wohl aber durch anaerobe Stäbchen, Rausch¬
brand, malignes Oedem — hervorrufen. Es galt also, diese
Keime durch eine zweckmäßige Methode auszuschließen.
Von der Tatsache ausgehend, daß Milzbrandsporen unter
Sauerstoffabschluß nicht auskeimen, jedoch ungeschädigt
bleiben, traf Gruber folgende Versuchsanordnung:
Eine Reihe steriler Bouillonröhrchen wurde mit Spül¬
flüssigkeit geimpft, in Buchner sehen Röhren unter Sauer¬
stoffabschluß während der folgenden 24 Stunden bei 37® ge¬
halten und dann im Wasserbade durch eine Stunde auf
00 bis 70® erwärmt. Die inzwischen aus den Sporen der
Anaerobier ausgewachsenen Stäbchen gingen ebenso wie
andere vegetative Formen zugrunde. Diese Prozedur wurde
an drei aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt, so daß man
schließlich annehmen konnte, daß in den Bouillonröhrchen
0 Oesterr. Sanitätswesen 1895.
664
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
nur tote Begleitbakterien und lebensfähige Milzbrandsporen
enthalten seien.
Mit dem so gewonnenen Material wurden nun Platten
gegossen und Tiere geimpft mit dem Resultate, daß tatsächlich
darin Milzbrandbazillen nachgewiesen werden konnten.
So gelang es Gruber, aus einer Reihe von Haarproben
die spezifischen Krankheitserreger einige Mal zu züchten.
Heim hat ebenfalls an Pferdehaaren Milzbrandbazillen
finden können.
Ursprünglich führte er die Untersuchung so durch,
daß er das Waschwasser der Haare erwärmte, zentrifugierte
und das Sediment auf Agarplatten übertrug.
In neuerer Zeit bringt Heim einerseits "einzelne
Haare oder Borsten auf Agar- und Gelatineplatten, anderseits
wird eine größere Menge Material abgewogen, mit gemessenem
Wasserquantum übergossen und gründlich digeriert. "Von dem
Waschwasser werden Gelatineplatten gegossen, um die an
den Haaren haftenden Keime quantitativ und nach ihrer Art
zu bestimmen. Einen Teil des Restes erwärmt er durch
20 bis 25 Minuten auf 80°, zentrifugiert oder filtriert durch
Asbest und verwendet den Rückstand zur Plattenaussaat. Der
zweite, kleinere Teil der Spülflüssigkeit wird direkt auf Platten
ausgestrichen. Alle irgendwie Milzbrandkolonien ähnliche
Ansiedelungen werden in Bouillon verimpft. Röhrchen mit
diffuser Trübung oder solche, in denen eigenbewegliche gram¬
negative Stäbchen gewachsen waren, werden von der weiteren
Untersuchung ausgeschlossen, die anderen kulturell weiter
studiert und auf Tiere verimpft.
So gelang es ihm unter 25 verdächtigen Proben zweimal
Milzbrandbazillen nachzuweisen.
Untersuchungen an anderem infektionsverdächtigem
Material (Schinken, Heu, Wiesengras etc.) haben auch nur
in einer geringen Zahl ein positives Resultat ergeben (T a v e 1,
F r ä n k e 1, K a r 1 i n s k i u. a.).
Im folgenden soll nun ein Fall beschrieben werden;
bei welchem es gelungen ist, den Zusammenhang mit infek¬
tiösen Roßhaaren exakt zu erweisen.
Es handelt sich um einen Mann S., der ein hierorts in
neuester Zeit ziemlich verbreitetes Gewerbe — die Erzeugung
falscher »Gamsbärte« aus Roßhaaren — als Heimarbeit mit
einem anderen Arbeiter betrieb. Die Leute lebten unter den
denkbar schlechtesten hygienischen Verhältnissen in einer
Wohnung, bestehend aus einem Zimmer, einem Vorzimmer
(der Arbeitsraum) und einer Küche, zugleich mit Frau und
mehreren Kindern.
Vor seiner Erkrankung hatte S. im Zeiträume vom
9. November 1906 bis 23. Januar 1907 eine größere Partie
chinesischer Roßhaare, bezogen von der Firma X., verarbeitet.
Am 24. Januar 1907 kaufte er 12 kg Ro߬
haare von der Firma Y., die das Material
wieder von einem Händler in Siniava in Ga¬
lizien bezogen hatte. Diese Haare dürften
russischer Provenienz gewesen sein.
In der Zeit vom 25. bis 27. Januar ging er seiner Be¬
schäftigung nach, obwohl er am letztgenannten Tage
sich schon unwohl fühlte und über Kopf¬
schmerz, Frost und Mattigkeit klagte. Am
28. Januar, nachmittags, verschlechterte sich
sein Zustand derart rapid, daß der herbei¬
geholte Arzt die Ueberführung in ein Spital
veranlaßt e, wo Pa t. noch am Abend desselben
Tages starb.
Am 30. Januar 1907 wurde die Obduktion der Leiche
vorgenommen.
Ich will aus dem Protokoll, dessen Kenntnis ich der
Freundlichkeit des Herrn Prof. Dr. Kolisko verdanke, nur
kurz hervorheben: »Die inneren Hirnhäute verdickt und ge¬
trübt, an der Basis, wie an der Konvexität in dicker Schichte
von schwarzrotem geronnenen Blut unterlaufen .... Das
Zellgewebe ober der Brustapertur sulzig feucht, in den oberen
0 Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamt 1901, Bd. XVIII.
*) Festschrift Rosen thal 1906.
Luftwegen rötlicher Schleim und Schaum, Schleimhaut
schmutzigrot.
Zwerchfell beiderseits unter der fünften Rippe. In den
Brustfellsäcken zirca 1 Liter einer rötlichen Flüssigkeit. Die
Lungen stellenweise unbedeutend angewachsen, mäßig groß,
vorne gebläht, im allgemeinen lufthaltig, feucht, völlig durch¬
tränkt ; in den Bronchien roter Schleim, Schleimhaut
schmutzigrot.
Die Lymphdrüsen an den Lungenpforten stark ge¬
schwollen, schwarzrot, zerfließlich. Das Zellgewebe des
vorderen Mittelfellraumes sulzig, schwarzrot, mit zusammen¬
fließenden Blutungen durchsetzt.
Milz 14X9X572 ^0^5 Kapsel gespannt, Gewebe zer¬
fließlich, rötlich violett.
Mikroskopisch im Blut von den Gehirn¬
blutungen einzeln stehende, teils in Ketten an¬
geordnete Stäbchen mit quer ab gestutzten Enden.
Diagnose: »Milzbrand«.
Auf Grund dieser Diagnose wurden von der Behörde
Erhebungen gepflogen, die zur Eruierung der Einkaufsquelle
— Firma Y. — führten. Dort fanden sich noch ein ver¬
schlossener und ein halbgefüllter Sack vor, aus welch
letzterem der Mann S. sein Material gekauft hatte, während
ein anderer Teil nach Ungarn verschickt worden war. Das
ganze Vorgefundene Quantum wurde saisiert und ein Teil
davon dem staatlich-serotherapeutischen Institute zur Unter¬
suchung übergeben.
Die Haarprobe von dem vorliegenden Falle übergoß
ich in einem sterilen Topf mit 100 cm^ steriler physio¬
logischer Kochsalzlösung von einer Temperatur von 80° und
digerierte die Haare in der Flüssigkeit so lange, bis ein
trübes Waschwasser entstand. Dieses hob ich mit einer
sterilen Pipette in ein anderes Glasgefäß ab und ließ durch
24 Stunden sedimentieren. Es resultierte ein ziemlich be¬
trächtliches Sediment mit klarer, überstehender Flüssigkeit. Diese
letztere wurde nun abermals bis auf 50 cm° vorsichtig abgehebert
und der Rest nach gründlichem^ Durchschütteln größtenteils
zu Agarplatten derart verarbeiteT,”4aß je 4 cm° in je 10 cm^
heißen flüssigen Agar übertragen und nach xAbkühlen auf
45° zur Platte ausgegossen wurden. Derart gewann ich zehn
Agarplatten. Der Rest der Flüssigkeit (10 cmQ wurde nun auf
Tiere (drei Meerschweinchen und 7 Mäuse), zu je 1 cm° sub¬
kutan verimpft.
Auf den Platten war nach 24 ständigem Wachstum
bei 37° im Thermostaten eine Reihe von Kolonien aufge¬
gangen, die einem eingehenden Studium, sowohl mikro¬
skopisch als auch im Deckglaspräparate nach der G ram¬
schen Färbung unterzogen wurden.
Das ziemlich charakteristische Aussehen von Milzbrand¬
kolonien — abgesehen natürlich von einigen naheverwandten,
nicht pathogenen Spezies — ließen nur fünf Kolonien auf
drei verschiedenen Platten erkennen, während die übrigen
Kolonien wohl von sporenbildenden, aber morphologisch
ganz anders aussehenden Stäbchen gebildet waren.
Von diesen verdächtigen Ansiedelungen wurden Rein¬
kulturen auf schrägem Agar angelegt und nach 24 ständigem
Wachstum damit Tierversuche unternommen: Von jeder
Kultur — A, B, C, D, E — erhielt je eine Maus und ein
Meerschweinchen eine halbe Oese in 1 cm^ subkutan injiziert.
Die mit den Kulturen B und E geimpften Tiere gingen
nach ca. 36 bis 48 Stunden ein und zeigten bei der Sektion
sulzig-hämorrhagisches Infiltrat, an der Infektionsstelle, be¬
trächtlichen Milztumor und mikroskopisch im Herzblut¬
ausstriche zahlreiche gegliederte, große Gram-beständige
Stäbchen mit quer abgestutzten Enden und einer deutlichen
Kapsel. Die aus Herzblut und Milz angelegten Agarkulturen
boten dasselbe Bild, wie es für Milzbrandkolonien beschrieben ist.
Die Tiere, mit den Kulturen A, G und D injiziert, blieben
dauernd am Leben, ebenso auch diejenigen, welche ich
früher direkt mit dem Spülwasser injiziert hatte.
Die Kulturen B und E erwiesen sich bei weiteren
Prüfungen zusammengesetzt aus unbeweglichen, mittelständige
665
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
bporGn tragGndGn StäbchGn, vvGlchG, in GclatinG übGrtra-gGii,
diGSGlbG vGrflüssigGn und diG Milch koaguliGren.
DIgsg dGn positivGn Ausfall dGr TiGrvGrsucliG nur Gr-
gänzGudGn EigGnschaftGn dGr gpfundGUGn StäbchGn lassGn
wohl kGinGn ZwGifGl zu, daß wir iin vorÜGgGndGn
FallG GS mit MilzbrandbazillGii z,u tun habnn.
■Daß diG ursprünglich mit dem Spülwasser, gGimpften
T\eve am Leben geblieben waren, hat nichts Merkwürdiges
an sich, weil man ja annehmen kann, daß einerseits nur
sehr wenige der spezifischen Keime am Untersuchungs¬
material gehaftet hatten und zufällig diese nicht in dem zum
Plattenguß verwendeten Materiale vorhanden waren, ander¬
seits vielleicht auch andere Mikroorganismen, die als Anta¬
gonisten . des Milzbrandbazillus eine Rolle spielen, eine
tödliche Infektion der Versuchstiere verhinderten.
Durch diese Untersuchung war der Beweis
erbracht, daß gerade die zweite, vom Arbeiter S.
gekaufte Partie Roßhaare die Veranlassung
zu dessen tödlicher Erkrankung gab.
Aus der inneren Abteilung des Krankenhauses »Kindlein
Jesu« in Warschau. (Vorstand: Doz. Dr. W. Janowski.)
Ein Fall plötzlicher Kompression des Brust-
korbes und Abdomens mit sekundären Hämor-
rhagien^ Oedem und Zyanose des Gesichtes
und Halses.
Von Dr. W. Ettiiiger, Assistenzarzt.
Der von uns beobachtete Fall gehört zu den inter¬
essanten Formen der Traumen des Brustkorbes und des
Bauches und verdient wegen seiner Seltenheit veröffent¬
licht zu werden. Im Jahre 1902 hat Kossobudzki,^) seinen
Fall mitgereohnet, in der Literatur 17 Fälle von Trauma
des Rumpfes mit sekundären Symptomen am Gesichte und
am Halse zusammengestellt. Lejars,^) welcher im
Jahre 1905 einen ähnlichen Fall beobachtete, hat schon
27 solcher Fälle in der Literatur gefunden, obwohl ihm
der Fall von Kossobudzki unbekannt war. Le jars be¬
merkt, daß Olivier schon im Jahre 1837 und Tardieu
im Jahre 1855 auf gewisse ungewöhnliche Symptome am
Halse und am Gesichte bei gewissen Tlaumen des Brust¬
korbes und des Bauches aufmerksam gemacht haben. Es
erhellt aus dem Gesagten, daß der Name des ,,Symptomen-
komplexes von Perthes“ für die zu besprechende klinische
Einheit nicht ganz richtig ist. Demi Perthes hat zwar als
erster diese ungewöhnlichen Symptome der Rumpfkom¬
pression gruppiert, aber sie waren schon 60 Jahre vor der
Veröffentlichung seiner Arbeit belcannt.^)
Im Dezember 1905 hat Moresfin^) in der Pariser
Chirurgischen Gesellschaft einen weiteren Fall des betref¬
fenden Traumas veröffentlicht. Unser Fall wäre folglich,
insoferne ich aus der mir zugänglichen Literatur schließen
kann, der 36.
Am 1. Mai wurde auf unsere Abteilung ein Schuster
Ignaz M. gebracht, welcher an einem Volkszuge teilnahm und
während der ausgebrochenen Panik von der Menge niederge¬
worfen und mit Füßen getreten wurde. Der Kranke wurde ins
Krankenhaus in schwerkrankem Zustande, bewußtlos, fast ohne Puls
gebracht; sein Gesicht war gemäß dem Berichte der Diakonisse
dunkelblau, fast schwarz mit Spuren frischer Blutung aus
der Nase und dem linken Ohr. Nach einer Stunde kam der
Kranke wieder zum Bewußtsein und beklagte sich über
Schmerzen im Brustkörbe und im rechten Schultergelenke und
Lähmung der rechten oberen Extremität. Temperatur 38’ 1®.
9 Kossobudzki, Zur Kasuistik der Traumen des Brustkorbes.
Medycyna 1902, Nr. 30 und 31.
9 F. Le jars, L’infiltration 6cchymotique diffuse de la face ä la
suite de compression du tronc. Semaine mddicale 1905, Nr. 16, S. 181.
9 G. Perthes, lieber ausgedehnte Blutextravasate am Kopf in¬
folge von Kompression des Thorax. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1899,
H. 5 u. 6 und Semaine m^dicale 1899, S. 334.
9 Semaine mddicale 1906, Nr. 1.
Am folgenden Tage (2. Mai) wurde folgender Status auf¬
genommen : Pat. 18 Jahre alt, bei Bewußtsein, Körperbau nor¬
mal, Ernährungszustand mäßig. Die Klagen sind dieselben geblieben
wie gestern. Puls 100, weich, ziemlich voll, Temperatur des
Morgens 37’4®, des Abends 39'4®. Das ganze Gesicht, die Lider,
der Hals bis zum Brustkörbe geschwollen und dunkelblau gefärbt.
Auf der Haut des Brustkorbes an mehreren Stellen größere und
kleinere blaue Flecke. Am Gesichte und am Halse, den Schleim¬
häuten der Lippen, der Backen, des Zahnfleisches und des
Rachens zahlreiche subkutane punktförmige Hämorrhagien. Auf
den Conjunctivae palpebrarum ebenfalls punktförmige Hämor¬
rhagien und fast die ganzen Conjunctivae bulbi stellen zwei große
Hämorrhagien dar. Keine Protrusio bulbi. Die Speicheldrüsen
und die Lymphdrüsen am Kieferwinkel und am Halse sind nicht
vergrößert. Im linken Gehörgange geronnenes Blut. Hörvermögen
normal. Die Haut des Gesichtes und Halses ist nicht beschädigt.
Die Haut über dem rechten Schultergelenk geschwollen, die Haut
über dem geschwollenen Gelenk von gewöhnlicher Farbe ; das
Oedem geht auf den Brustkorb über: vorne bis zur zweiten Rippe,
hinten bis zum oberen Drittel des Schulterblattes. Bei der Pal¬
pation des Brustkorbes (Kol. Zurakowski) wurde festgestellt,
daß das äußere Ende der rechten Klavikula vom Processus
acromialis abgerissen ist und daß man in der Mitte und am
inneren Ende des Schlüsselbeines Knochenkrepitation wahrnimmt.
Was die erste Rippe betrifft, konnte man vorläufig nicht ent¬
scheiden, ob diese beschädigt sei. Der untere Teil des Brust¬
korbes ist auf Druck sehr schmerzhaft.
Die Untersuchung der inneren Organe hat folgendes ergeben :
über der rechten Lunge bei der Perkussion Lungenschall, über
der linken von oben bis nach unten tympanitischer Schall. Bei
der Auskultation hört man über dem oberen Lappen der rechten
Lunge Vesikularatmen mit abundantem feuchten Rasseln; über
dem unteren Lappen Vesikularatmen ohne Rasselgeräusche ; über
der linken Lunge von oben bis unten hohes Bronchialatmen mit
zahlreichen Krepitationen und Bronchophonie. Die obere Herz¬
grenze perkutorisch auf der dritten Rippe, die rechte reicht bis
zum rechten Sternalrande, die linke überschreitet um einen
Finger die Mamillarlinie ; Iktus im fünften Interkostalraume. Die
Inspektion des Brustkorbes ergibt deutliche Pulsation der Pul¬
monalarterie. Bei der Auskultation hört man über der Pul¬
monalarterie ein deutliches Geräusch in der zweiten Hälfte der
Diastole; andere Geräusche waren in der ganzen Herzgegend
nicht zu hören. Auf der Haut des Bauches und der unteren Ex¬
tremitäten und in den Organen der Bauchhöhle nichts Abnormes.
Der Kranke sieht gut und hat keinerlei Sehstörungen während
der ganzen Zeit bemerkt. Früher soll er ganz gesund gewesen
sein. Harn : spezifisches Gewicht 1021 ; die chemische und
mikroskopische Untersuchung hat nichts Abnormes ergeben.
3. Mai. Puls 104, weich; Temperatur des Morgen 37’2®, des
Abends 39’0. Allgemeinzustand etwas besser ; Schmerzen im
rechten Schultergelenk geringer ; dafür klagt der Kranke über
Husten. Kein Sputum, wie gestern. Seit gestern Abend schwitzt
der Kranke ; während der Visitation liegt er schweißbedeckt.
Oedem und Zyanose des Gesichtes und Halses etwas geringer.
Die perkutorischen Veränderungen an der Lunge und die Herz¬
grenzen konnten wegen der Anlegung eines Verbandes auf das
gebrochene Schlüsselbein nicht festgestellt werden; man hört
aber durch den Verband Bronchialatem, Krepitationen und
Bronchophonie über der ganzen linken Lunge und das erwähnte
Geräusch in der zweiten Hälfte der Diastole über der Pul¬
monalarterie. Aufdem Augenhintergrunde(Kol. Kaezkowski) keine
Hämmorrhagien. Harnmenge 1650 cm. Harn durchsichtig und von
gelber Farbe.
4. Mai. Puls 92, Temperatur 38-8® des Morgens und des
Aliends. Der Kranke klagt über Husten und Schmerzen in der
linken Brusthälfte. Allgemeinzustand unverändert. Oedem und
Zyanose nehmen allmählich ab. Die Hämorrhagien in den Kon¬
junktiven sind unverändert, in der Haut und in den Schleim¬
häuten blassen sie ab. Sputum spärlich, ziehend, mit deutlicher
Blutbeimischung. Im Herzen und in den Lungen bleiben die
auskultatorischen Erscheinungen unverändert. ^ _
Die Untersuchung der Ohren und der Nase (Koll. Swia-
tecki) hat folgendes ergeben: Auf der Schleimhaut in beiden
Nasenlöchern zahlreiche punktförmige Hämorrhagien, im rechten,
Ohre keine Veränderungen; im linken Ohre auf der hinteren
Wand des Gehörganges und auf der Membrana tympani zahl¬
reiche Extravasate.
5. Mai. Puls 98, Temperatur 39-6®, des Abends 40®. Jh’otz
hoher Temperatur Befinden besser, Schmerzen in der Brust ge¬
ringer, Husten nicht so quälend. Die Blutbeimengung im Sputum
größer. Oedem des Gesichtes und des Halses geschwunden, Zya-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
iiüse dos Gosichtos und des Halses immer geringer. Die Extra¬
vasate unter der Haut und den Schleimhäuten blassen ah. Sym¬
ptome von seiten der Lungen und des Herzens unverändert.
G. Mai. Puls 1)0, Temperatur des Morgens des Abends
37'6®. Befinden besser; der Kranke schwitzt, hustet weniger,,
klagt nicht über Schmerzen. Blulbeimengung im Sputum geringer.
Symptome von seiten der Lungen und des Herzens wie oben.
7. Mai. Puls 8G, Temperatur des Morgens 37-7'’, des Abends
39-2°; klagt über heftigen Husten. Objektiv nichts Neues; die
Blutbeimengung im Sputum nimmt ah. .|
8. Mai. Puls 94, Temperatur 38-7'’, am Abend 37-6°. Befinden
leidlich; Husten leichter; Zyanose des Gesichtes und des Halses
nimmt fortwährend ah. Die punktförmigen Hämorrhagien det
Haut und Schleimhäute sind nicht mehr sichtbar. Sputum ohne
Blut; dagegen zum erstenmal deutliche Blutbeimengung im Harne.
Harnmenge 1300 cm^, spezifisches Gewicht 1024; Farbe
braun; deutliche Spuren von Eiweiß. Im Sedimente bei mikro-'
skopischer Untersuchung ausschließlich rote Blutkörperchen, lieber
dem rechten oberen Lungenlappen keine Rasselgeräusche; üheri
der linken Lungenspitze bis zum oberen Drittel des Schulter¬
blattes Respiratio aspera mit feuchten Rasselgeräuschen, weiter,
nach unten Bronchialatmen und Kiiistern. Ueber der Pulmonal-^
arterie Symptome wie früher.
9., 10., 11. und 12. Mai hat sich der Zustand des Kranken
nicht wesentlich vei'ändert. Die Temperatur fiel allmählich ab, so
daß sie am 11. Mai bis auf 3G'8*’ sank und auf dieser Höhe
bis zur Entlassung (1. .Juni) blieb. Puls 80 bis 82. Die braune
Färbung des Harnes nahm mit jedem Tage ab, so daßi er nach'
vier Tagen, d. h. am 12. Mai schon wieder gelb und durchsichtig!
war und hei der mikroskopischen Untersuchung keine roten Blut-:
körperchen mehr enthielt. Zyanose des Gesichtes und des Halsesj
verschwunden (12. IMai); nur die Konjunktiven sind noch i'ot:
Ueber dem linken unteren Lungenlappen hört man Bronchial¬
atmen mit Knistern, höher verschärfte Respiration mit spärlichem,'
feuchtem Rasseln und Knistern. Am Herzen wie früher.
13. ]\Iai. Wechsel des Verbandes des Schlüsselbeines. Puls 86. ^
Keine Beschwerden; Appetit gut. Bei der Perkussion nur über
dem linken Unterlappen tympanitischer Schall; Respiration über
der ganzen linken Lunge verschärft mit spärlichen, feuchten
Rasselgeräuschen. Obere Herzgrenze am Rande der driPeti Rippe,
die rechte reicht bis zur Mitte des Sternums, die linke über¬
schreitet die linke Mamillarlinie um eine Fingerbreite. Geräusch
über der Pulmonalarterie wie früher. Das Schlüsselbein wächst
normal zusammen; eine eingehendere Untersuchung ergibt, daß:
die erste Rippe nicht Schaden gelitten hatte.
15. Mai. Der Allgemeinzustand des Kranken bessert sich
nach und nach. Atem vesikulär, ohne Nebengeräusche. Die Hämor¬
rhagien der Konjunktiven blassen ab.
Bis zum 1. Juni waren keine wesentlichen Aenderungen
im Zustande des Kranken eingetreten. Der Kranke blieb im
Krankenhause wegen der Beschränkung der Beweglichkeit der
rechten oberen Exlremität; es wurde die rechte Schulter und
das Schlüsselbein massiert.
Vom 27. Mai bis 29. Mai klagte er über Schmerzen in‘
der Herzgegend; objektiv war aber nichts Neues festzustellen:
l’uls beständig von 72 bis 86.
Am Tage der Entlassung (l. Juni) war der Zustand des
Kranken, wie folgt: Keine Beschwerden; die obere rechte Ex¬
tremität in allen Gelenken frei beweglich. In den Lungen nichts:
Abnormes. Obere Herzgrenze auf der dritten Rippe, die rechte'
reicht bis zur Mitte des Sternums, die linke überschreitet die
linke Mamillarlinie um eine Fingerbreite. Das Geräusch ist nur
über der Pulmonalarterie in der zweiten Hälfte der Diastole
zu hören. Pulsation an der Stelle der Pulmonalarterie nicht sicht¬
bar. Auf den Konjunktiven wieder geringfügige Hämorrhagien.
Stellen wir die krankhaften Symptome des beschrie¬
benen Falles zusammen, so sehen wir, daß unter der Ein¬
wirkung eines heftigen Traumas des Rumpfes außer dem,
Schlüsselbeinbruche folgendes aufgetreten war : 1. Oedem
und intensive Zyanose des Gesichtes und des Halses;
2. Hämorrhagien in die Haut des Gesichtes., des Halses und
des Brustkorbes; 3. Hämorrhagien in die Schleimhäute der
Augen, der Nase, der Mundhöhle, des Rachens und des
linken Irommelfelles. Außerdem muß hervorgehoben wer¬
den; 4. linksseitige Pneuinonie ; 5. beträchtliche Erweite¬
rung des Herzens, besonders der rechten Kammer; 6. diasto¬
lisches Geräusch über der Pulmonafis und schließlich
7. Hämaturie. Hie Symptome des Üedems, der Zyanose
und die Hämorrhagien des Gesichtes, des Halses und der
Schleijnhäute geben zusammen ein Bild, welches typisch
ist für besonders heftige Traumen des Brustkorbes und
des Bauches.
Was den Entstehirngsmechanismus dieser Symptome
betrifft, so hat sich Perthes^) dahin geäußert, daß durch
Kompression der intrathorakale Druck steige, wäs auf did
Gefäße des Kopfes übertragen wird und die Berstung kleiner
Gefäße hervorruft.
Hoppe stellt sich den Entstehungsmeehanismus des
besprochenen Symptomen komplexes etwas anders vor. Es
entstehe nämlich nach der Kompression des Brustkorbes
oder des Bauches oder nach der Einwirkung irgendwelcher
anderer, plötzlich wirkender Ursachen eine plötzliche Steige¬
rung des intrathorakalen Druckes. Dieser wird sowohl auf
das arterielle als auch auf das venöse System übertragen
und ruft in ihnen Wellenbewegungen der ßlutsäule hervor.
Da die Arterien unter größerem Seitendrucke stehen und
als dickere und tiefer gelegene Gebilde weniger dehnbar
sind, die Venen aber mehr dehnbar sind, als oberflächlicher
gelegen unter geringerem Seitendruck sieben und Wider¬
stände in der Form von Klappen an der Vena jugularis!
communis darbieten, so treffen die Blutwellen nicht in der
Mitte ihres Weges, sondern im Bereiche des Venensystemes.,
ungefähr in den kleinen Venen zusammen. Diese erweitern
sich und bersten: dadurch Zyanose und Hämorrhagien.
Außerdem „scheint mir die von Lejars zitierte Kor¬
rektur von Mi liner sehr zutreffend: ,, während der Kom¬
pression verlieren die betreffenden Personen nicht sofort
das Bewußtsein und wehren sich ; diese Abwehr beruht auf
einer Anstrengung des Brustkorbes und des JBauches, auf
einer tiefen Inspiration, nach welcher Glottisschluß und
energische Kontraktion der Bauchmuskulatur stattfindet.
Unter diesen Bedingungen wächst der intraabdominale und
intrathorakale Druck wahrscheinlich beträchtlich an und
dieser Druck treibt das arterielle Blut, den Inhalt des linken
Ventrikels und der Aorta aus und verursacht einen rück¬
läufigen venösen Strom, für welchen die Ralsvenen offen
stehen. Dadurch entsteht eine Blutvvelle und eine Dehnung
der Gefäße, welche um_so größer ist, je heftiger und an¬
haltender die Abwehranstrengungen waren.“
Eben auf diese Weise waren höchstwahrscheinlich
Oedem und Hämorrhagien am Gesichte und am Halse in
unserem Falle entstanden, denn man konnte keinerlei direkte
Beweise für andere, unmittelbar wirkende Traumen auf¬
finden. ,
Die Symptome der Lungenentzünidung als Folge des
Traumas verdienen keine spezielle Beachtung. Bemerkens¬
wert ist dagegen der Zustand des Herzens, welches infolge
von plötzlich veränderten Zirkulationsbedingungen akut
dilatiert wurde. Im Laufe der Zeit haben sich die Grenzen
der Herzdämpfung verkleinert;, kehrten aber während des
vierwöchigen Spitalaufenthaltes nicht zur Norm zurück.
Möglich, daß dieser Umstand mit dem Geräusche über der
Pulmonalarterie in einem Zusammenhänge steht. Dieses Ge¬
räusch verdankt vielleicht seine Entstehung der plötzlichen
Steigerung des Druckes im kleinen Kreisläufe, welche eine
Dilatation der rechten Kammer und außerdem wahrschein¬
lich einen Riß wenigstens einer Klappe der Pulmonalarterie
verursacht hatte. Die so entstandene Pulmonalinsuffizienz
verursachte das konstant hörbare, diastolische Geräusch und
zog allmählich eine Hypertrophie des rechten Ventrikels
nach sich. Nur auf diese Weise kann man sich erklären,
warum die rechte Herzgrenze nach der Rückbildung der
akuten Dilatation nicht zur Norm zurückkam. Volle Sicher¬
heit über diesen Umstand könnte .^na.n selbstverständlich
nur dann haben, wenn wir den Kranken vor dem Unfälle
gekannt hätten und sicher wären, daß er nicht an ange¬
borener Pulmonalinsuffizienz gelitten hatte. Das eine steht
nur fest, daß sich der Kranke vor dem Unfälle für ganz
gesund betrachtet hatte.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Der Genauigkeit halber bemerke ich, daß ich mir die
vier Tage anhaltende Hämaturie durch einen hämorrhagi¬
schen Infarkt der Niere erkläre. Die Möglichkeit eines sol¬
chen in unserem Fälle ist ja selbstverständlich.
lieber die Spezifizität der Bakterienpräzipitine.
Von Dr. Leo Zupiiik.
Unter obigem Titel wurde in Nr. 13 dieser Wochen¬
schrift aus dem Pal tauf sehen Institute von Michael
V. Eisler eine Mitteilung publiziert, v. Eisler beschul¬
digt mich daselbst nach doppelter Richtung.
Die erste Inkrimi nation betrifft die Gattungs¬
spezifität der Agglutination und Präzipitation. Indem ich
„diese Reaktionen als gattungsspezifisch und nicht mehr
als artspezifisch“ bezeichnete, habe ich „dadurch ein
längst bekanntes Verhalten mit einem neuen
Namen belegt“ (g. g., S. 377).
V. Eisler will diese Ansicht durch folgende drei
Aeußerungen bewiesen haben :
A. „Gruber schreibt in der eben erwähnten Ar¬
beit/) daß die Wirkung der Agglutinine keine spezifisch
abgegrenzte, sondern nur eine graduell abgestufte ist, so
daß jedes Agglutinin gegen die eigene Art am stärksten
wirkt. Auf andere x4rten ist die Wirkung um so stärker, je
näher verwandt die betreffende Rakterienart ist“ (S. 377).
B. „Auch A chard sagte schon im Jahre 1896, daß
nicht die Agglutination als solche, sondern der Grad, in
dem sie stattfinde, spezifisch sei“^) (S. 378).
C. ,,Pf aundler^) gebrauchte für dieses Verhalten die
Bezeichnung der ,Gruppenagglutination‘ und gab der
Anschauung Ausdruck, daß der Agglutinationswert eines
Immunserums für die zur Erzeugung verwendete Art am
höchsten sei und in deni Maße sinke, als sich die betreffende
Bakterienart von der immunisierenden entfernt“ (S. 377).
Das ist alleSi was v. Eisler die Basis für die voran¬
stehende Beschuldigung abgibt. Die sonstigen, in dem be¬
treffenden Kapitel enthaltenen Mitteilungen sind nämlich
von ganz nebensächlicher Bedeutung, indem sie bloß Be¬
nennungen, bildliche Erklärungen und ,, Ausnahmen“ dieser
nicht spezifischen Agglutination betreffen.
Dieser Beweisführung gegenüber betone ich zunächst,
daß V. Eisler aus der mächtigen Agglutinationsliteratur
nur jene Stellen herausgegriffen hat, die sich gegen mich
scheinbar verwerten lassen und daß er all jenes mitzu¬
teilen und zu berücksichtigen unterließ, was diese Stützen
seiner Beschuldigungen von vornherein zunichte macht. Die
Zahl der erstereii ist sehr spärlich; ich selbst habe sie alle
in gewissenhaftester Weise ausfindig gemacht, zusammen¬
gestellt und in meiner ersten, zusammonfassenden Dar¬
stellung der Gattunigsspezifizität (1905) ^) öffentlich mitgeteilt.
Auf S. 459 dieser Publikation heißt es wörtlich: ,, Vervoll¬
ständigt wird obiges Tatsachenmaterial durch die, wenn
auch nicht beweisenden, so doch beachtenswerten Angaben
von Gruber und Durham, A chard und Bensaude,
Widal und Si card, Gilbert und Fournier. Der Ent¬
decker der Agglutination selbst, Max Gruber, berichtet
in seiner mit Durham publizierten Arbeit (Münchener
medizinische Wochenschrift 1896, Nr. 13, S. 285), daß ein
Typhusimmunserum auch den Bacillus enteriditis Gärtner
,in völlig typischer Weise“ agglutiniert. hat. Die anderen
genannten Verfasser teilen mit (Bensaude, These de
Paris 1897), daß Typhusserum und ferner Psittakoseserum
sowohl den Eberthschen als auch den No card sehen Ba¬
zillus positiv beeinflussen. Gruber und Durham schlossen
aus ihren Beobachtungen, daß der Agglutination keine
strenge Spezifizität zukommt; ähnlkh läutet das Urteil von
Achard und Bensaude, wonach die Spezifizität nicht der
Agglutination überhaupt, sondern dem Grade derselben zu-
9 München, med. Wochenschr. 1896, Nr. 9, 3. März, S. 206.
2) Soc. de biol. 1896, November, S. 910.
9 München, med. Wochenschr. 1899, Nr. 15.
9 Zeitschr. f. Hyg., Bd. 49.
kommt. Dieser Ansicht schloß sich auch Pfaundler an,
nach welchem die Agglutination nur eine ,relative Spezifi¬
zität“ besitzt. Auf die Pf a u md 1 er Siche Deutung der Aggluti¬
nation als , Gruppenreaktion“ kommen wir weiter unten
bei der Schilderung der Agglutinationsverhältnisse innor-
halb der ,Koligattung“ zurück. All diese MitteiJungen stam¬
men mit Ausnahme der Pfa undlerschen aus der aller¬
frühesten Anfangsperiode der Agglutinationsforschung, das
heißt aus einer Zeit, in welcher die normalen Blutseren
innewohnende Agglutinationskraft für allerhand verschie¬
dene, auch differenten Gattungen angehörige Bakterien¬
arten noch völlig unbekannt war. Erst später haben wii'
es gelernt, zwischen spezifischer und nicht spezifischer
Agglutination zu unterscheiden, und heute wissen wir es
zur Genüge, daß die von den in Rede stehenden Autoren
gemachten Beobachtungen jene quantitativen Verhältnisse
betreffen, welche für die Spezifizität oder Nichtspezifizität
der Immunkörper niichts beweisen können.^) Aus diesem
Grunde wurden die von Gruber und Durham, Achard
und Bensaude vertretenen Ansichten schon kurze Zeit
darauf mit Recht fallen gelassen und die Agglutination als
artspezifisch betrachtet . “ “
Seit der Publiikation dieser Arbeit sind zwei Jahre,
seit der Veröffentlichung meiner gemeinschaftlich mit Pos¬
ner durchgeführten Untersuchungen vier Jahre vergangen;
bis auf den heutigen Tag haben weder Gruber, noch Dur¬
ham, Achard, Bensaude, Widal, Sicard, Gilbert,
Fournier, noch schließlich Pfaundler, also keiner von
den vier Forschern, deren Arbeit ich mir nach Ansicht
V. Eislers angeeignet habe und keiner von den übrigen
fünf, trotzdem ich, wie aus obigem Zitat ersichtlich, den
betreffenden Untersuchungen jede Beweiskraft für die Gat-
tungsspezifizität der Agglutination abgesprochen habe, mir
gegenüber einen Prioritätsanspruch geltend gemacht.
Als Beweise für die Gattungsspezifizität der Agglutina¬
tion habe ich in derselben, im Jahre 1905 publizierten
Arbeit die Versuchsprotokolle von Durham, de Nebele,
B. Fischer, Trautmann und Sternberg herangezogen;
in der Folgezeit habe ich Publikationen von de Feyfer,
Brion, Kays er, Bruns, Körte, Jürgens, v. Dri-
galski. Man ten fei, Böhme, Netter, Ri b ade a u - Du-
m a s, T r o m ni s d o r f f , R o c c h i, C i t r o n, G r ä f und Lentz
als weitere Belege für die Gattungsspezifizität der Aggluti¬
nation angeführt.
Wir wollen, um das beantworten zu können, in eine
genaue Betrachtung der Stützpunkte v. Eislers eingelien.
A. Die Grub ersiehe Publikation, auf welche sich
V. Eisler im voranstehenden bezieht, stellt die erste, auf
die Agglutination bezügliche Mitteilung dar (3. März 1896).
Sie bringt 19 Thesen, die jeder Beweisführung entbehren,
indem sie auch nicht durch ein Versuchsprotokoll gestützt
sind und bezweckt wohl nichts weiteres als eine vorläufige
Mitteilung der erzielten Erigebnisse. Zur Charakteristik des
damaligen Standes der Immunitätsprobleme einschheßJich
Agglutination führe ich — es ist wohl überflüssig, zu
betonen, daßi Grubers Name dabei in Ehren bleibt
— einzelne dieser Thesen wörtlich an; darunter befinden
sich alle, die auf Agglutination Bezug nehmen :
,,8. Die wesentliche Wirkung der Antikörper
der Säfte der immunisierten Tiere besteht darin,
daß sie die Hüllen der Bakterlenleiber zum Ver-
quellen bringen (g. g.) . . Dieser fundamentalen
Wirkung halber nenne ich die Antikörper der spezifisch
immunisierten Tiere Glabrifizine (Klebrigmacher).““
,,11. Aktive und passive Immunität sind im
Wesen i d e n t i s cJi. Beide 1 m m u n i t ä t e n be r u h e n 1 n
gleicher Weise a.uf dem Vorhandensein der
Glabrifizine in den Körpersäf ten““ (g. g.).
,,15. Die Glabrifizine sind spezifisch ver¬
schieden (g. g.). Jeder Bakterienart entspricht ein spezi¬
fisches Glabrifizin.““
9 Hier befindet sich eine Anmerkung deren wörtliche, Wiedergabe
weiter unten erfolgen wird.
Ü68
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 22
,,16. Jedoch ist die Wirkung derselben keine
spezifisch abgegrenzte, sondern nur eine gra¬
duell abgestufte, so daß jedes Glabrifizin gegen
die eigene Art am stärksten wirkt (g. g.). Auf andere
Bakterienarten ist die Wirkung um so stärker, je näher ver¬
wandt die betreffende Bakterienart ist.“
„Die gegenteilige Behauptung Pfeiffers von der
strengen Spezifizität der Wirkung der Immunseren ist eine
Uebertreibung des wahren Sachverhaltes.“
V. Eisler schrieb seinen Artikel im Jahre 1907.
Zwischen seiner und der angeführten Gruber sehen Publi¬
kation liegt ein Dezennium einer überaus ergebnisreichen
bakteriologischen Arbeit, von welcher keine einzige -dieser
Grub ersehen Thesen unberührt blieb; sie wurden ent¬
weder wesentlich modifiziert oder aber für alle Zeiten wider¬
legt. Das alles hat v. Easier nicht beachtet. So stelle
ich denn als erstes fest, daß v. Eisler
1. die ganze Entwicklung der Agglutinations¬
lehre und die ganze Agglutinationsliteratur —
mit AusnaJime jener wenigen Abhandlungen, die ihm zweck¬
dienlich erschienen sind — zu berücksichtigen unter¬
lassen hat.
Wir wollen ihm für einen Augenblick auf diesem Wege
folgen. Schaffen wir für einen Moment all die vielen hun¬
derte von Publikationen aus der Welt, die zwischen der in
Rede stehenden Grub ersehen und meinen inkriminierten
erschienen sind, vergessen wir, daß Gruber, wie er später
mitteilte, zu jener Zeit in den Verdünnungen von 1:1 ge¬
arbeitet hat, daß sehr zahlreiche Publikationen in nou’-
malen menschlichen und tierischen Seren und dann
auch in V e r s c h i e d e n a r t i g e n a n d e r e n Substanzen, von
welchen wir hier nur einen Ei weißkörper, die Gelatine,
hervorheben möchten, viel stärkere Agglutinationskräfte
festgestellt haben, daß man sich mühsam in zahlreichen
Untersuchungen schließlich zu Verdünnungen von 1:40 bei
makroskopischer und 1 : 50 bei mikroskopischer Beobach¬
tung emporgearbeitet und hier erst den Beginn der spezi¬
fischen Agglutination eruiert hat, daß in der Folgezeit diese
Verdünnungen als Grundlage für klinische Diagnosen ver¬
wendet und die Agglutination in der wissenschaftlichen Welt
ganz allgemein als artspezifisch erachtet wurde ; — haben
wir den Vorgang v. Eislers befolgt und all das gestrichen,
so ist selbst in diesem Falle klär, daß diese Gruberschen
Thesen, besonders mit Rücksicht darauf, daß sie Wider¬
sprüche enthalten, keine Belege aufzu weisen haben und
den Verwandtschaftsgrad einzelner Arten nicht präzisieren,
jenen zahlreichen und umfangreichen Erhebungen gegen¬
über, wie sie meine und meiner Mitarbeiter Untersuchungen
geliefert haben, keine Beweiskraft beanspruchen können.
Denn erst diese Arbeiten haben zum ersten Male die Fest¬
stellung gebracht , daß eine unzweifelhaft spezifische
Agglutination nicht, wie man glaubte, allein auf die zuge¬
hörige Art beschränkt bleibt, sondern mehrere differente
Bakterien a r t e II i zugleich lietrifft; diese Arbeiten haben
ferner kim erstenmal den „Grad der Spezifizität“, i. e. die
Spezifizitätsbreite ausfindig gemacht, indem sie vorerst Gat¬
tungen gcscliaJfen und dann ermittelt haben, daß die Spe-
zifizitätsgrenzen der Agglutination mit den Gattungsgrenzen
zusammenfallen.
Wir würden also, selbst in dem F’alle, daß man, wie
V. Eisler, ein Dezennium der wissenschaftlichen Arbeit
völlig ignoriert, die „Entdeckung“ der Gattungsspezifizilät der
Agglulinatiou mit Recht für uns in Anspruch nehmen dürfen.
V. Eisler denkt anders und ich suche nach den Gründen
dieser differenten Ansicht. Hier behaupte ich — das ist
zugleich meine zweite Feststellung — : es hat v. Eisler
2. unterlassen, jene Arbeiten, die er be¬
kämpft, auch nur zu lesen.
ün folgenden bringe ich einen Beweis für diese Be¬
hauptung. Auf S. 378 seines Artikels behauptet v. Eisler:
„ln seiner letzten Arbeit‘S) über diesen Gegenstand hat
Zupnik mittels der Agglutination eine Differenzierung ein¬
zelner Arten der Hogcholeragruppe versucht und kommt
zu dem Schlüsse, daßi es unter Berücksichtigung der Agglu¬
tinationseigentümlichkeiten jedes der betreffenden Immun¬
seren tatsächlich möglich ist, die einzelnen Arten dieser
Gruppe zu differenzieren.“ — Nun behandle ich aber in
dieser Arbeit die klinische Diagnose von sieben ' ver¬
schiedenen Krankh ei ts Prozessen des Menschen und
es gipfelt diese Arbeit in der Angabe der diagnostischien
Agglutininformel für diese Erkrankungen; ein Blick bloß
auf diese Formeln, so z. B. das L Ihp, beweist zur Genüge,
daß eine Differenzierung einzelner Bakterienarten ,, mittels
der Agglutination“ ganz unmöglich ist; von der ,, Hogcholera¬
gruppe“ ist nur in einem ,, Nachtrage während der KoiTek-
tur“ die Rede; dort aber finden sich Beweise dafür, daß
,,eine Hogcholeragruppe unhaltbar ist“, dort sind
der durchgeführten Differenzierung einzelner Arten von
Schweinepesterreigern eben nicht Agglutinationseigentüm¬
lichkeiten, wie V. Eisler behauptet, sondern einzig und
allein kulturelle Eigenschaften zugrunde gelegt
worden. Die Gegensätze zwischen dem von v. Eisler sup-
ponierten und dem tatsächlichen Inhalte dieser Publikation
sind demnach so kraß und betreffen so wesentliche Punkte,
daß ich behaupten darf: v, Eisler hat diese Publikation
nicht gelesen.
Ich habe heute keine Absicht und auch keine Mög¬
lichkeit, auf die zirka tausend Publikationen, die noch viel
trefflicher die v. Eisl ersehe Inkrimination beleuchten
könnten, einzugehen. Ich beschränke mich vielmehr auf
eine einzige; diese allein dürfte für die Beurteilung des Vor¬
gehens V. Eislers genügen.
Ich stelle zunächst die Tatsachen fest:
a) In dem oben wörtlich angeführten, meiner Publi¬
kation aus dem Jahre 1905 entstammenden Zitat findet
sich nicht die erste, die besagten 19 Thesen enthaltende
vorläufige Mitteilung von Gruber, sondern eine vier
Wochen später erschienene, Belege und genauere
Angaben enthaltende Mitteilung von Gruber und Dur¬
ham berücksichtigt.
b) An der in obigem Zitat mit einem Stern (*) be-
zeichneten Stelle findet sich folgende auf diese allein
maßgebende zweite Gruber sehe Püblikation bezüg¬
liche Anmerkung : ,,Daßi dem so ist, geht unter anderem
auch aus folgendem Zitat der 'Gruber- Du rhamschen
Publikation hervor : ,,Mit diesen Beobachtungen, welche die
Annahme einer strengen Spezifizität der Wirkung (l!)
des Cholera- und des Typhusserums widerlegen,^) stimmt
es überein, daß v e r s ch i e d e n e fremde I m m u n s e r e n '^)
und unter Umständen selbst Normalsera^) deutlich
agglutinierend auf Choleravibrionen und Typhusbazillen ein¬
wirken.“ “ Ich habe dadurch, wie ich glauben möchte,
einen unzweifelhaften Beweis für die Richtigkeit dessen
erbracht, was ich in dem früher angeführten Zitat behauptet
hatte, nämlich „daß die von den in Rede stehenden Autoren
gemachten Betrachtungen jene quantitativen Verhältnisse
betreffen, welche für die Spezifizität oder Nicht-
spezifizität der Immunkörper nichts beweisen
können“.
c) Dieses Zitat und diese Anmerkung waren v. Eisler
bekannt ; er verlegt zwar diese Ausführungen in eine
andere®) meiner Publikationen, in der die Gruberschen
Arbeiten nicht mit einem Worte erwähnt sind, doch führe
ich das nur nebenbei an.
d) Auch die Gruber-Durhamsche Mitteilung, auf
welche sich das in Rede stehende Zitat, sowie die An¬
merkung bezieht, waren v. Eisler bekannt; das geht dar¬
aus hervor, daß er aus dieser Gruber-D u rhamschen
Publikation einen für die zweite Inkrimination zweckdien¬
lichen Satz zitiert hat.
®) Zeitschr. f. Hyg. 1906, Bd. 52.
’) Im Original in gewöhnlicher Schrift gesetzt.
°>) Deutsche med. Wochenschr. 1905.
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
6R9
So weit, reiclit das iatsäciiliclie Substrat, v. Eisler
maclil nun den Inhalt der sub b) angeführten Anmerkung,
d. h. meine Beweisführung und die Clruber-Durham-
schen experimeniiellen Befunde in folgender Weise un-
scliädlicli (S. 378) : ,,Nacb meiner jMeinung geht aber aus
der Gruber scheu Pühlikation (hier zieht v. Eisler die
erste Grub ersehe Mitteilung heran) ganz klar hervor,
daß dieser Autor bereits den spezifischen Einfluß eines
Inmiunserums auf nahestehende Arten, der sich von der
durch Nonnalseruim ausgeühten Agglutination unterscheidet,
erkannt hat“ und als Beweis füi' die Richtigkeit dieser seiner
Ansicht zitiert er wieder einen Teil^) der These Nr. 16,
jenen Teil, der besagt, die ,, Wirkung“ der artspezifischen
Agglutinine sei ,, keine spezifisch abgegrenzte“. Es berück¬
sichtigt V. Eisler nicht, daß Gruher vier Wochen später
für diese These die wissenschaftlich unerläßilichen Be¬
gründungen gehracht hat, daß Gruher daselbst mitteilt, er
hätte in Verdünnungen von 1:1 gearbeitet und daß Gruher
der Agglutination nur deswegen die Spezifizität abspricht,
genauer gesagt, nur deswegen eine nicht spezifische ,, Wir¬
kung“ der Agglutinine amiimmt, weil — hier folgen Gru-
hers Worte — ,,verschiedene fremde Immunseren
und unter Umständen selbst Normal seren deutlich ag¬
glomerierend auf Choleravibrionen und Typhusbazillen ein¬
wirken“.
Hier hebe ich hervor : v. Eisler hat an dieser Stelle
nicht die allein maßgebende zweite Grube r'- Du rham-
sche Publikation angeführt, sondern Bruchteile der besagten
Thesen; er hat mithin mitzuteilen unterlassen, daß eine
ihm he kannte spätere Mitteilung von Gruher von vorn¬
herein seine ,, Meinung“ unzulässig machte; er hat mit¬
zuteilen unterlassen, daß ich seihst, in meiner Beweis¬
führung (cf. obiges Zifat und Anmerkung) in völlig ein¬
wandfreier Weise durch Zusammenstellung von unanfecht¬
baren Tatsachen ebenfalls von vornherein solche ,,Meh
nungen“ aus dem Bereiche der wissenschaftlich zulässigen
Argumente verwiesen habe.
B. Nun wollen wir uns dem zweiten Stützpunkte der
V. Eislerschen Inkrimination zuwenden. Es bezieht sich
V. Eisler in demselben auf eine im Jahre 1896 von A c h ar d
und Bensaude in dear Sitzungsberichten der Soc'. de bio-
logie publizierte Mitteilung. Darin hätte A chard die An¬
sicht geäußert, es wäre nicht die Agiglutination, sondern
der Grad derselben spezifisch.
Hier muß ich feststellen, daß v. E.isler
3. auch jene Publikationen, die er als Stützen
seiner Anklage verwendet, zu lesen unterlassen
hat, denn es findet sich in der besagten Veröffentlichung
kein einziges von den voai v. Eisler behaupteten Worten.
Der Inhalt dieser Publikation stellt sich nämlich fol¬
gendermaßen dar: Die Agglutinabilität differenter Ty¬
phusstämme ist verschieden, darum soll man für diagno¬
stische Zwecke nur Stämme von bekannt guter Beeinflulk
barkeit heranziehen; die Spezifizität der Aigglutination ist
fraglich, indem Typhusseren zwar keine typischen, so
doch atypische Kolihazillen : Psittakose und Paratyphus-
bazillen agglutinieren ; hier werfen die Verfasser die Frage
nach der Identität dieser letzteren Bakterien und den
Eher th sehen auf und beantworten sie, da sich das Gärungs¬
vermögen beider anders stellt, dahiin, daß eine Identität
nicht besteht. Nun stellen sie eine zweite FTaige : Sind diese
differenten Bakterien verschiedene Arten oder bloß ver¬
schiedene Varietäten derselben Art? Dieses Problem wird
von den Verfassern, obzwar sie die zugehörigen Krank¬
heiten als verschieden betrachten, nicht beantwortet; sie
meinen, es liege wenig daran; der Hauptwert der Aggluti¬
nation bestehe in der Serodiagnostik der Krankheitsprozesse,
hier bestünde die Spezifizität zu Recht, indem die Abwei¬
chungen von dieser Regel als Ausnahmen erscheinen. Mit
der Serodiagnoslik der Bakterien stünde es anders: bei
kräftig agglutinierenden tierischen Immun seris läuft man
Gefahr, E berth sehe Bazilhni mit Päratyphusbazillen zu
verwechseln.
Demnach entspricht die auf diese Publikation bezüg-
licbe V. Eisler sehe Behauptung einfach den Tatsachen
nicht. ^^)
C. Wir gelangen zur Besprechung des dritten Stützen¬
momentes V. Eislers.
In bezug auf diese Pfaundlersche Publikation hätte
ich zunächst hervorzuheben, daß ich seihst lange Zeit hin¬
durch die von mir gefundenen Erscheinungen als „Gruppen¬
reaktionen“ geführt habe. Das beweist wohl zur Genüge, daß
ich weit davon entfernt war, mir fremdes Eigentum aneignen
zu wollen. Die Bezeichnung ,,Gruppenreaiktionen“ habe ich
später, nachdem ich ermittelt hatte, daß sie sachlich und
sprachlich falsch ist und infolgedessen nur eine Grund¬
lage für Mißiverständnisse, V'^erwechslungen und Verwirrun¬
gen abgeben müsse, fallen gelassen. Beweise für diesen
Sachverhalt habe ich in der von v. Eisler zitierten und
doch wieder nicht berücksichtigten Pühlikation des Jahres
1905 niedergelegt. Dort habe ich diesem Gegenstände zehn
Druckseiten gewidmet. ^^)
Die zweite v. Eis 1er sehe Inkrimi nation be¬
sagt, Posner, ich und — wie ich hinzufügen möchte —
wohl auch Kayser hätten uns die Ermittlung der diagnosti¬
schen Bedeutung des obersten Agglutinationstiters ange¬
eignet. Dieselbe wäre nämlich schon von Gruber-Durham
und A chard- Be ns au de gefunden worden.
Die V. Eislerschen, Stützen dieser zweiten Beschul-
digimg führe ich wörtlich an:
,,Wenn nun Zupnik verlangt, daß zur Diagnose¬
stellung die Ermittlung des höchsten Agglutinationswertes
nötig sei, so hat er damit vollkommen recht, hat aber wdeder
nur eine schon von Grub er, ^^) sowie A chard und Beii-
saude^^) aufgestellte Forderang wiederholt.“ (S. 778.)
,, Ferner findet sich in der Arbeit von Gruber und
Durham eine Anmerkung : ,,,, Vielleicht läßt sich die Serum¬
probe zu einem verläßlichen Unterscheidungsverfahren aus¬
bilden, wenn man die Quantitäten genauer berücksichtigt.“ “
(S. 378.)
Ich greife zunächst die Achard-Bensaudesche
Publikation heraus. Die früher erfolgte Inhaltswiedergabe
derselben beweist, daß diese Behauptung v. Eislers aber¬
mals den Tatsachen nicht entspricht.
Es verbleiben nun die beiden Gr über sehen Abhand¬
lungen.
Nun bedauere ich, feststellen zu müssen, daß v. Eisler
4. die drei primitivsten Prohleme der Agglu¬
tinationsforschung nicht auseinander hält.
Ich hin genötigt, auf dieselben in Kürze einzugehon :
Das eine betrifft die Fhage nach der Spezifizität der
Agglutination als solchen. Die mit diesem Problem Beschäf¬
tigten fahnden bloß nach einer absoluten Wahrheit; ihre
Arbeit will entscheiden, ob die xAgglutination art-, gattungs-,
familienspezifisch oder überhaupt nicht spezifisch ist und
sie bekümmern sich dabei nicht im geringsten darum, ob die
Resultate ihrer Arbeit dem Kliniker, Bakteriologen oder
Astrologen angenehm sein werden oder nicht.
Das zweite Hauptkapitel der Agglutinationsforschung
beschäftigt sich mit der Nutzbarmachung dieser Reaktion Rir
diagnostische Zwecke am Krankenbette. Dem Kliniker und
dem praktischen Arzte sind dabei die theoretischen Vor¬
stellungen des Bakteriologen herzlich gleichgültig; er stellt
bloß die FFage : ^Vas darf ich bei meinem Kranken aus dem
beobachteten Phänomen folgern ?
Was V. Eisler in die Silzunpsber. der Soc. de biol. für das
Jahr 1896 verlegt hat, befindet sich zum Teil in einer im Jahre 1897 von
Bensaude publizierten Monographie. Kurz bemerke ich, daß auch
diese nichts enthält, was eine Stütze für weitere (berechtigte) Angriffe
liefern könnte.
“) Zeitschr. f. Hyg., Bd. 49, S. 510 — 519.
12) Aerztl. Mitteilung.
»b Soc. de Biol. 1896.
®) Den oben gesperrt gedruckten Satz.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
Die (Lritte Didiluiig sciiließjich verfolgt die Verwend¬
barkeit dieser Jleaktioii für die Erkeiiimiig einzelner 13ak-
t’erieiiarlen. Jeder dieses Ziel anstrebende ßakleriologe
weiß nur zu genau, daß ihm dabei die serodiagnostisclien
Kennlnisse des Klinikers nichts nützen können.
V. Eisler vermengt diese differenten Probleme ständig
miteinander; daß dem so ist, erlrellt zum Beispiel aus
seiner folgenden Aeußierung: ,,Wenn es also nacli Zupnik
möglicJi ist, . sogar die einzelnen Arten der Hog-
choleragruppe durch die Agglutination zu unterscheiden,
so steht diese Behauptung doch einigermaßen im Gegen- '
Satze zu seiner so oft geäußerten Anschauung, nach welcher
der Agglutination jede Artspezifizität abgeht.“ (E. 378.) Nein,
nach mir iist es eben unmöglich, „die einzelnen Arten der
llogcholeragruppe“, ebenso einzelne andere Arten mittels
der Agglutination zu unterscheiden; nach mir ist es bloß
nu'tglich, bei den sieben typhoiden Erkrankungen des Meh-
schen eine klinische Diagnose zu stellen. Um die Sache
noch prägnanter zu gestalten, erlaube ich mir folgendes
milzuteilen: Ich habe midi vom Momente der Entdeckung
der Agglutination mit dieser Reaktion in Instituten und
Kliniken in einer voraussetzungstosen Arbeit Jahre hindurch
beschäftigt — nicht um ,, Arbeiten“ zu publizieren, sondern
lediglich um zu lernen — bin dann auf Erscheinungen ge¬
stoßen, welche mir die damals geltende Lehre von der
Artspezifizität der Agglutination fraglich erscheinen ließen
und habe, von diesen Beohachtunigen ausgehend, um die •
Bedürfnisse des Klinikers, die Wünsche des reinen Bakterio¬
logen und die ganze Anthropozentrie völlig unbekümmert,
die Spezifizität der A^figlutination von neuen Gesichtspunktein
aus einer experimentellen Prüfung unterworfen. Als Er-
gebnis hatte ich die Gattungsspezifizität der Agglutination
aufzuweisen. Diese Arbeitsrichtung galt der ,, absoluten
Wahrheit“. In der im Jahre 1905 veröffentlichten Publika¬
tion: Ueber gattungsispezifische Immunitätsreaktionen, stand
ich nur auf diesem Standpunkte. Beweise hiefür finden sich
daselbst auf Seite 460.
Es war mir klar, daß der serodiagnostische Apparat ;
der Klinik infolge dieser Feststellung zusammenbricht, ln
Gemeinschaft mit Posner und in der Folgezeit mit anderen
Mitarbeitern habe ich nun versucht, für die Klinik eine
andere diagnostische Methode auszuarbeiten. Wir glaubten
sie in der „Ermittlung der obersten Titerwerte des Serums
fder Kranken) für Typhusbazillen, resp. alle nachgewie¬
senermaßen verschiedenen Arten von Paratyphusbazillen“ ^'^)
gefunden zu haben. Meine eigenen weiteren Untersuchungen,
ebenso wie die Brio ns, Jürgens’, v. Dri gal skis und
Kaysers haben jedoch diese Anschauung, wenn sie auch
nur fünfmal unter 700 Krankheitsfällen^^) nicht zutraf,
zunichte gemacht. Ich habe auch jetzt nicht die Flinte ins
Korn geworfen, sondern weiter gearbeitet und schließlich
j(me Agglulinalionseigentümlichkeiten ermittelt, die in jedem
(Muzelnen Kraaikheits falle eine absolut sichere Diagnose
gestatten.
Auch das dritte, rein bakteriologische AgglutiiiationS-
pi'oblem habe ich während dieser Untersuchungen nicht aus
dem Auge verloren; hier haben, sowohl ich selbst, wie meine
Mitarbeiter, des öfteren ausdrücklich hervorgehoben, daß
eine verläßliche Diagnostik einer fraglichen Bakterienart
mittels der Agglutination nicht möglich ist. ,,Und noch
mehr; ich erachte . die heute ühliche Identifizierung
verschiedener Baklerienstämme auf dem Wege der Aggluti-
nalion, d. h. die Artenagglutinationsdiagnostik, als eine von
vornherein verwerfliche Methode; sie läßt, was wir weiter
unten beweisen wollen, ebenso, wie viele andere Gattungs¬
merkmale, bloß die Gattung erschließen“ — diese Worte
finden sich auf Seite 460 der von v. Eisler bekämpften
Publikation des Jahres 1905!
Wir kehren zu den beiden Stützen der zweiten
V. Eist ersehen Inkriminalion zurück.
“) Prager med. Wochenschr. 1903.
^9 Deutsche med. Wochenschr. 1905.
Die erste Gr übersehe Mitteilung hätte v. Eds 1er,
schon von allein abgesehen, was im ersten Teile dieses
meines Aufsatzes ausgeführt ist, allein aus dem Grunde aus
dem Spiele lassen sollen, weil in dieser Grube rschen
Publikation von einer Diagnostizierung von Krankheiten
über h a u p t nicht die Rede ist.
Der letzte Stützpunkt v. Eislers, der oben zitierte,
einer Publikation von Gruber und Durham entnommene
Satz, repräsentiert im Originale eine Fußnote. Diese bezieht
sich auf folgende Gruber-Durhamsche Aeußerung:
,, Während der negative Ausfall der Reaktion eine völlig
sichere Diagnose gestattet,^*') ist dies, bei dem soeben Mit¬
geteilten, bei positivem Erfolge der Probe nicht der
Fall. Dann hat die Diagnose Choleravibrio, bzw. Typhus¬
bazillus nur eine, je nach den Umständen größere oder ge¬
ringere Wahrscheinlichkeit für sich und man muß sich dann
bestreben, noch weitere UnterscheidungsmerkmaJe zu er¬
mitteln.“ Hier setzt der von v. Eisler zitierte Satz ,,,, viel¬
leicht . ““ in Form einer Anmerkung ein. Ich sehe
davon ab, daß die ganze v. Eisler sehe Stütze das Wört¬
chen ,, vielleicht“ bildet, betone bloß, daß sowohl aus dem
voranstehenden Zitat, wi,e der ganzen Gruber-Durham-
schen Publikation mit einer über alle Zweifel erhabenen
Bestimmtheit hervorgeht, daßi Gruber und Durham mit
diesem Ausspruche nicht die Diagnose von Krankheits¬
prozessen, sondern jene von Bakterien gemeint haben.
Alles in allem' entbehrt auch diese zweite v. Eisl er¬
sehe Inkrimination jeder tatsächlichen Begründung.
*
In bezuig auf die Spezifizitätsbreite der Präzipitation
hätte ich v. Eisler mitzuteilen, daß mir seine Versuche eine
willkommene, weil aus dem Pal tauf sehen Institute stam¬
mende Bestätigung der Gattungsspezifizität der Präzipi¬
tation bringen, für die Frage nach der Fämilienspezifizität
der Reaktion jedoch überhaupt nicht in Betracht kommen. Um
diese letztere überhaupt nur in Diskussion ziehen zu dürfen,
hätte V. Eisler, dem Inhalte der von ihm zitierten und
doch wieder überhaupt nicht oder nur sehr flüchtig gelesenen
Publikation vom Jahre 1906 zufolge, Arten mehrerer
Gattungen in den Bereich seiner Versuche ziehen müssen.
Berichtigung zum Artikel: Erfolgreiche Operation
eines Hypophysentumors auf nasalem Wege.
Von Professor Dr. II. Scliloffer.
Durch ein Versehen der Druckerei ist der Ahdmck
des Artikels vor dem Einlangen der Korrekturen des Autors
erfolgt. Hiedurch hat der ,, Nachtrag“ zu diesem Artikel
bezüglich der Deutung des Faltes eine Formulierung erhal¬
ten, die sich mit der Auffassung des Autors, wie sie in
der Korrektur zum Ausdrucke kommt, nicht deckt; außer¬
dem enthält der Nachtrag eine unrichtige Angabe hezüglich
des histologischen Befundes, die gestrichen werden sollte.
Es wird daher im folgenden dieser ,, Nachtrag“ neuer¬
dings u. zw. naich dem Wortlaute der Korrekturen al)gedruckt.
Nachtrag. Erst nach der Demonstration des Kranken
in der wissenschaftlichen Aerztegesellschaft in Innsbruck
hat uns der Patient auf eine interessante Erscheinung auf-
mörksäm gemacht ; es sprießt dem Kranken seit kurzem
ein dichter Flaum an den unteren Teilen der Backe, wo
vorher nur spärliche Härchen, Reste des verloren gegan¬
genen Backenbartes, gestanden waren.
Vielleicht ist diese Tatsache geeignet, eine Vorstellung
über die Ursachen gewisser trophischer Störungen zu geben,
die bei vielen Hypophysentumoren gefunden werden. Ich
glaube nämlich nicht, daß man für diesen Umschwung in
bezug auf den Haarwuchs einfach den Wegfall der Kopf¬
schmerzen oder die besseren Ernährungsverhältnisse nach'
**) D. h. wenn ein tierisches durch Injektionen eines Typhusbazillus
oder eines Choleravibrio gewonnenes Immunserum einen fraglichen Bazillus
bzw, Vibrio nicht agglutiniert, dann ist es sicher kein E b e r t h scher
Baz,, bzw. kein Choleravibrio.
Nr. 22
671
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
der Operation verantwortlich inaclien kann; eher wird man
denselben so erkkären dürfen, daß durch die Operation die
Funktionsveriiältnisse an der Hypophyse in günstigem Sinne
beeinflußt wurden. Bei der Akromegalie hat man ja he-
kaniitlicJi sogar den gesamten Symptomenkomplex auf eine
Hyperfunktion der Hypophyse zurückgeführt (Benda u. a.).
Auf diese .und andere klinische Einzelheiten (Haut¬
veränderungen etc.) werde ich zugleich mit einer näheren
Würdigung des histologischen Befundes nach Ablauf län¬
gerer Zeit in einer ausfülirlichen Publikation des Falles
zurückkommen.
{Referate.
Medizinisch-klinische Diagnostik.
Lehrbuch der Unlersuchungsmelhoden innerer Krankheiten für Studierende
und Aerzte.
Von Professor Dr. F. Wesener, Oberarzt des städt. Elisabeth-Kranken¬
hauses zu Aachen.
Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage.
680 Seiten.
Berlin 1907, Veilag von Julius Springer.
Wesener hat seine Diagnostik dem heutigen Stande der
Wissenschaft anzupassen verstanden. Ist auch der Wert eines
solchen Buches für die feinere Diagnostik der inneren Krank¬
heiten nicht allzugroßi, so muß man doch den Vorteil, den seine
Anwendung dem Lernenden, dem Studierenden der Medizin, ge¬
währt, rückhaltlos anerkennen. Erst soll ja die Regel hekannl
sein, dann lernt man erst die Ausnahmen von der Regel. Daß
in der internen Diagnostik so viele Ausnahmen von der Regel
sich ereignen, ist leider eine Tatsache, mit der jeder Praktiker
vertraut ist und an der alle diagnostische Methodik manchmal
scheitert. Wesener hat seine in der ersten Auflage heohachtete
Einteilung des Stoffes — allgemeine, spezielle, angewandte Dia¬
gnostik — heihehalten und den großen Stoff so übersichtlich
zusammengefaßt. Für rasches Nachschlagen im Bedarfsfälle wird
das Werk dem Studenten und dem jungen Arzte sicher gute
Dienste leisten.
Grundriß der medikamentösen Therapie der Magen-
und Darmkrankheiten einschließlich der Diagnostik.
Zweite durch Einfügung der speziellen Diätetik der Magen- und Darm-
krankkeiten vermehrte Ausgabe.
Für praktische Aerzte bearbeitet von Dr. med. P. Bodari, prakt. Arzt
und Spezialarzt für Krankheiten der Verdauungsorgane in Zürich.
266 Seiten.
Wiesbaden 1906, J. F. Bergmann.
Der Verfasser bringt uns in gedrängter Darstellung ein Bild
der medikamentösen Therapie der Verdauungsstörungen und hat
auch der Diätetik ein eigenes Kapitel gewidmet. Es ist nicht
unwichtig, bei der herrschenden Indolenz vieler Praktiker gegen¬
über den Ei'krunkungen des Magen- und Darmtraktes auf eine
große Fülle symptomatischer und ätiologisch wirksamer Hilfs¬
mittel hinzuweisen, die uns zur Verfügung stehen und deren
Wert in dem vorliegenden Werke eine sachverständige Beurlei-
lung erfährt. Ist auch nicht viel Neues oder Originelles in der
Darstellung des Autors enthalten, so wird' der praktische Arzt
für die vollständige und zweckmäßige Zusanimenstellung des thera¬
peutischen Büstzeuges viel Beherzigenswertes und Brauchbares
finden.
*
Der Diabetes melitus.
Von Dr. B. NauuyU) Professor der K. W.-Universiiät in Straßburg i. E.
Baden-Baden.
Zweite umgearbeitete Auflage.
562 Seiten.
Wien 1906, Alfred Hölder.
Das berühmte Werk Naunyns liegt hier in einer neuen
Auflage vor. Es wäre eine große xAufgabe, hier in Kürze allen
Vorzügen, die die Form und den Inhalt der Darstellung auf¬
weisen, gerecht zu werden. Es braucht auch nicht betont zu
werden, daß Naunyu mit grolk>r Sachlichkeit und Kritik, manch¬
mal auch mit wohltuender Schärfe die neueren Forschungsergeb¬
nisse über den Gegenstand, die er vollständig aufgenommen hat,
hehandelt, so daß das Werk auf der Höhe der Zeit steht und
den Namen eines klassischen verdient. Nur äuf einen Punkt
möchte ich mir gestatten hinzuweisen. Naunyn hat diesmal
die physiologische Einleitung seinem Schüler Bacr üherlassen.
B.acr entledigt sich seiner Aufgabe wohl mit großer Sachlich¬
keit, aber meiner Auffassung nach zu wenig elementar. Da das
Buch doch auch für nicht wissenschaftlich arbeitende Aerzte
bestimmt ist, so wäre vielleicht eine etwas primitivere Art der
Darstellung, die auch dem Nichtchemiker einen genügenden Ihn-
hlick in die physiologischen Vorgänge des Zuckerstoffwechsels
gestattet, angemessen gewesen. Indes liegt das vielleicht mehr
an der Absicht, möglichst viel in einem relativ kleinen Raume
vorzuführen Und könnte durch eine kleine Erweiterung der Ein-
Imtung hehohen werden.
*
Die Krankheiten des Magens und ihre Behandlung.
! Klinische Vorträge für Studierende und Aerzte.
Von Dr. Louis Bourget, Professor und Direktor der medizinischen
1 Universitätsklinik in Lausanne.
ji 184: Seiten.
Wiesbaden 1906, Verlag von J. F. Bergmann.
Es ist kein gewöhnliches trockenes Vademekum, was einem
B'ourget darbietet; Eine durchaus fesselnde, sehr originell äuf-
gofaßte Darstellung seiner iVnsichten und Erfahrungen über Magen¬
krankheiten und Diätetik, die durchaus nicht vollständig ist, son¬
dern nur ausgewählte Kapitel in Form von Vorlesungen behandelt.
Manches freilich erscheint uns neu und ungewohnt. Wenn der
Autor z. B. eine Ulkuskur mit mehrmaliger Ausspülung mit Eisen¬
chlorid beginnt, so dürfte diese heroische Methode bei blutendem
Ulkus von unseren Aerzten kaum nachgeahmt werden. Sehr
schlecht scheint Bourget äuf die Chirurgen zu sprechen zu
sein. Er ist ein absoluter Gegner der chirurgischen Behandlung
des Magengeschwüres. Das erscheint zum mindesten übertrieben,
ebenso wie der Ausspruch : ,,Die Chirurgie wird immer mehr
von sehr geschickten plastischen Arheitern ausgeübt, für die die
Medizin nur noch eine minimale Kunst ist, die höchstens ver¬
dient, bespöttelt und verlacht zu werden.“ Trotz dieser etwas
zu lebhaften Kritik verdient das Buch volle Beachtung wegen
der zahlreichen, sehr einleuchtenden und zweckmäßigen An¬
regungen, die es bietet.
*
Krankenernährung und Krankenküche, Geschmack und
Schmackhaftigkeit.
Von Dr. Wilhelm Sternberg', Spezialarzt in Berlin.
102 Seiten.
Stuttgart 1906, F. Enke.
ln dem Eifer, die chemische Tätigkeit der Verdauungs¬
organe zu studieren, hat man die mechanischen Vorrichtungen
des ersten Einganges in die Digestionswege, deren wichtigste
Funktion der Geschmack, im weiteren Sinne des Wortes der
x\ pp et it ist, wenig beachtet. Damit im Zusammenhänge steht
die Kunst, die dem Geschmacke schmeichelt: die Kochkunst.
Sternberg hat dieses dankbare Thema mit großer Gründlich¬
keit bearbeitet. Aus dem ersten Kapitel über Geschmack sei
der xUbschnitt über die physiologische Wirkung des Geschmackes
und der Geschmackmittel hervorgehoben. Hier wie in der Schil¬
derung des Geschmackes der Tiere findet man mancherlei höchst
interessante Mitteilungen. Nach einer kurzen Betrachtung über
Schmackhaftigkeit und Unschmackhaftigkeit der Tiere wird dem
Kapitel über Geschmack in der Therapie ein größerer Raum
geboten. Mit großem Eifer tritt der Autor hier für eine genügendere
Beachtung und Würdigung der Kochkunst in der medizinischen
Wissenschaft ein. Die Krankenküche soll nicht bloß eine Technik,
sondern eine Kunst sein.
♦
Maladies de la Nutrition, Goutte-Obösitö-Diabete.
Par H. RIchardiere et J. A. Sicard.
378 Seiten.
Paris 1907, B a i 1 1 i 6 r e.
In kurzen Zügen werden die drei wichtigsten Stoffwechsel¬
krankheiten geschildert. Auch hier übenviegt, wie bei allen fran¬
zösischen Büchern, der rein klinische Teil: die Symptomatologie,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
Diese ist .freilich in aiis^gezeiehneter Weise darges tellt, man sieht,
daß da weniger Lahoratöriinnsarbeit als vielmehr die Arbeit am
Krankenbette die Grundlage bildet. Als das gelungenste Kapitel
möchte, ich die Darstellung des Diabetes bezeichnen. Nur scheint
mir da in bezug auf Einteilung, bzw. Auffassung der verschiedenen
Diabetesformen eine Unklarheit zu existieren, die in den deut¬
schen Werken über das Thema ausgeschaltet ist. Die Autoren
sprechen von Leberdiabetes, von arthritischem Diabetes, nervösem
Diabetes etc. Es werden da Glykosurien, echter und experimenteller
Diabetes bunt durcheinander gewürfelt. Beim jMenschen kann
man wohl - eine Reihe ätiologischer und sekundärer Momente
für die Einteilung des Diabetes heranziehen, der echte Diabetes
ist aber wohl eine Erkrankung sui generis und wahrs'cjieinlich
<r ■
nur an die Schädigung einer Funktion des Organismus gebunden.
*
lieber die Rolle des Sympathikus bei der Erkrankung des
Wurmfortsatzes.
Von Dr. E. Höuck, Hamburg.
Jena 1907, Verlag von G. Fischer.
Der Leitgedanke der Monographie ist, daß es durch Er¬
krankungen des Wurmfortsatzes zu Reizungen und Neuralgien
am Sympathikus, zum sogenannten Sympathizismus kommt. Gegen
das Unternehmen, gewisse Formen von Appendizitis mit anders¬
artigen primären Erkrankungen — ich erinnere da nur aji Angina
— in Zusammenhang zu bringen, ist sicherlich kein ernster Ein¬
wand möglich. Wenn es Verf. aber versucht, fast alle ihm l'e-
kannlen Erkrankungen — ich erwähne nur Psoriasis, Weichsel¬
zopf, Laryngospasmus, Schweißfüße, Schilddrüsenschwellung,
Ilerzaffektionen, Lungentuberkulose etc. etc. — mit einer Reizung
des Wurmfortsatzes ätiologisch zu erklären, so kann man ihm
wohl auf diesem Wege nicht folgen und muß seine Ansichten
und ihre naive Begründung durch Krankoigeschiclitenbelege als
unhaltbar zurückweisen. Es zeigt sich auch in diesem Falle,
daß die übertriebene Bedeutung, die einem Symptome und
einem Organe zugeschrieben wird, zu den merkwürdig.sten Fehl¬
schlüssen, zu den absonderlichsten Verwechslungen des post und
propter führt. Ich glaube nicht, daß Hönck mit seinen Ent¬
deckungen neuer Krankheitsbilder sich den Dank der wissen¬
schaftlich denkenden Aerzte ei-vmrben wird.
*
Diagnose und Therapie der Anämien.
Nach funktionellen Gesichtspunkten auf Grundlage qualitativer Blut¬
untersuchung.
Von Dr. Josef Arneth, Privatdozent an der königl. Universität Würzburg.
208 Seiten.
Würzburg 1907, Verlag von A. Stüber.
Arneth, dem wir bereits eine Reihe interessanter Alit-
leilungen über die Erkrankungen des Blutes verdanken, hat seine
ausgedehnten Erfahrungen in dieser kleinen Monographie nieder¬
gelegt. Im ersten Teile wird die Diagnose, im zweiten Teile die
Therapie der Anämien besprochen. Es ist bekannt, daß der Ver¬
fasser in vielen Fragen der Blutlehre eine abweichende Stellung
von den allgemein gültigen Anschauungen einnimmt, und recht
lehrreich, seine Ansichten in extenso kennen zu lernen. Das
gilt insbesondere für seine Einteilung der neutrophilen Leuko¬
zyten, die er in ein neues System gebracht hat. Ob sich seine
Methode der Charakterisierung der Leukozyten wird behaupten
können, ist fraglich, jedenfalls muß dem Grundsätze Arneths
zugestimmt werden, daß das Zählresullat der Leukozyten gegen¬
über den qualitativen Blutbildverändeinngen ganz in den
Hintergrund treten muß. Bemerkenswert erscheint ferner die zu
den üblichen Ansichten im Gegensätze stehende Auffassung, daß
die Blutverändenmgen der perniziösen Anämie nicht Degenera¬
tions-, sondern Regenerationserscheinungen darstellen. Für die
zahlreichen Fälle atypischer Leukämien ist Verf. der Ansicht,
daß dieselben meist unter dem Bilde von Infektionskrankheiten
verlaufen und in diesem Sinne auch erklärt werden müssen. Für
die richtige Auffassung der so verwickelten Frage der Pseudo-
leukämien sieht Verf. ein wesentliches Hindernis für die Auf¬
klärung dmin, daß die Funktion und die Umsetzungen der Lympho¬
zyten noch so wenig Gegenstand des Studiums gewesen sind.
Leider bringt uu. Arneth in diesem Sinne auch keine neuen
Aufklärungen. Seine Einteilung der PseudoleuLämien dürfte wohl
der am leichtesten angreifbare Teil der Abhandlung sein.
Der zweite, der Therapie der Anämien gewidmete Abschuilt
wird sich wohl den Dank des Praktikers erwerben. Es wird
ausführlich die Eisenarsen therapie besprochen und auch der
Diätetik die entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet. Einen
breiten Raum nimmt die Darstellung der Röntgenstrahlenbehand¬
lung bei Leukämien ein. Ob da der Verfasser nicht doch allzu
optimistisch ist? Vermißt habe ich die Erwähnung des Ader¬
lasses bei der Bebandlung der Chlorose. Im übrigen bildet das
Buch, namentlich auch durch die ausgezeiclmeten Abbildungen
der Blutzellen einen sehr interessanten Beitrag zur Lehre der
Bluterkrankungen, der noch an Wert gewänne, wenn wenigstens
die wichtigsten Literaturangaben darin Platz gefunden hätten.
Die Therapie der Magen- und Darmkrankheiten.
Von Dr. Walter Zweig, Spezialarzt für Magen- und Darmkrankheiten in Wien.
402 Seiten.
1907, Urban & Schwarzenberg.
Das vorliegende Werk, das Boas gewidmet ist, dürfte zwar
keine Lücke in der jetzt so angewachsenen Literatur über diesen
Gegenstand ausfüllen, ist aber schon mit Rücksicht darauf, daß
es ein österreichisches Buch ist — bei uns hat man sich mit
Magen- und Darmdiätetik noch sehr wenig befaßt — eine dankens¬
werte Arbeit. Im allgemeinen folgt Zweig den Lehren der Boas-
schen Schule, hat aber auch eigene Erfahrungen gesammelt, die
er mit guter Begründung einfügt. So wendet er eine neuartige
Methode der Bauchmassage an, benützt eine eigene Art der Mast-
darmelektrisation und der Darmirrigalion. Das Buch zerfällt in
einen allgemeinen und in einen speziellen Teil; der allgemeine
Teil behandelt die Physiologie der Verdauung und des Stoff¬
wechsels, sowie die Diätetik der Magen- und Darmkrankheiten,
der spezielle Teil die Therapie. Manche Erfalirungen der Physio¬
logie werden meines Erachtens nach etwas zu apodiktisch hin-
gestellt; ich erwähne nur die Erörterung über die Eiweißresorption
auf Seite 21: „Alle Arten der Eiweißstoffe werden durch den Ver¬
dauungsprozeß in Albumosen und Peptone verwandelt, resorbiert
und gelangen, in Eiweiß rückveiwandelt, in Blut und Lymphe.“
Lieber die sogenannte Rückverwandlung der Eiweißkörper sind
meiner Kenntnis nach die Akten noch lange nicht geschlossen.
Auch der Ansicht Zweigs, daß durch Darreichung von Pankreon
und Pankreatin die Pankreasverdauung bei Fehlen von Salz¬
säure bereits im Alagen bewirkt wird, könnte ich mich so ohne
weiteres nicht anschließen.
Sieht man von diesen und ähnlichen anderen dogmatischen
Gesichtspunkten ab, die sich vielleicht in einer bald zu gewär¬
tigenden neuen Auflage vermeiden ließen, so ist der hohe Ernst,
die Sachliclikeit und Gründlichkeit des Autors horvorzuheben, der
bei seinen therapeutischen Maßnahmen nicht nur altbewährte
oder überkommene Vorschriften handhabt, sondern bei der Be¬
handlung sich von physiologischen Vorstellungen leiten läßt und
die Therapie der Digestionserkrankungen nicht bloß als eine Reihe
von Diätschemen ansieht, sondern vor dem therapeutischen Ein¬
griffe vom Arzte sorgfältige und geschulte Ueberlegung fordert.
So unterscheidet sich dieses Buch von einer ganzen Reihe ähn¬
licher Zusammenstellungen vorteilhaft. G 1 a e ß n e r.
Zur Kenntnis des elastischen Gewebes des Magens.
Von Emil Schütz.
Archiv für Verdauungskrankheiten 1907, Bd. 13.
S. 49 bis 58.
Taf. II bis IV.
Berlin 1907, Karger.
Schütz hat möglichst frische Magenschleimhaut vom Menschen
(3 h p. m.) an spezifisch gefärbten Schnitten auf Anordnung und
Verteilung des elastischen Gewebes in den verschiedenen Abschnitten
untersucht. Die Beschreibung der Befunde wird durch gute, nach
dem Präparat gezeichnete Abbildungen unterstützt.
In der Schleimhaut des ganzen Magens findet sich eine zu-
saminenhilngende Lage feinerer, im Pylorusteil derberer elastischer
Fasernetze (elastische Schicht der Mukosa), welche ihre größte
Mächtigkeit in der Kardiaregion erreicht. Von dieser Schicht zweigen
elastische Netze ab, welche, besonders reichlich im Fundusteil, den
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
673
Grund der Drüsen korbartig umspinnen. Die Submukosa ist nur
im Pylorusteil reicher an elastischen Fasern. In der Muskelbaut
finden sich im Bereich der Kardia und des Fundus als zusammen¬
hängende Lagen eine innere Schicht an der Grenze gegen die Sub¬
mukosa und eine äußere an der gegen die Serosa, teils auch zwischen
beiden Muskellagen. Innere und äußere Schicht sind durch inter¬
muskuläre Züge verbunden, welche besonders in der Kardia eine
dichtere Anordnung zeigen. Der Pylorusteil enthält in seiner
Muskelhaut nur verhältnismäßig spärliche elastische Faserzüge. Die
Serosa zeigt erst im Fundus und Pylorus längsverlaufende Faserzüge.
Der Verfasser bringt diese verschiedene Anordnung des ela¬
stischen Gewebes in d en einzelnen Abschnitten mit den verschiedenen
mechanischen Beanspruchungen dieser in Zusammenhang. So soll
die reichliche Entwicklung des elastischen Gewebes in Schleimhaut
und Muskelhaut des Fundus der starken Ausdehnung dieses Teiles
entgegenwirken ; in der Kardia durch Unterstützung des Muskeltonus
den mangelnden Sphinkter ersetzen ; endlich in der Mukosa und
Submukosa des Pylorusteiles der starken Kompression durch den
Sphinkter beim Abschluß gegen den Darm angepaßt sein.
Jos. Schaffe r-Wien .
*
Handbuch der pathogenen Mikroorganismen.
Herausgegeben von W. Kolle und A. Wassermann.
Erster Ergänzungsband, Preis Mk. 28.
Jena 1906/7, Verlag von G. Fischer.
Das groß angelegte und wertvolle Handbuch der pathogenen
xMikroorganismen fiel mit dem Abschlüsse des vierten Bandes
in die Zeit der raschen Entwicklung der Kenntnis der pathogenen
Spirochäten. SchaiidinnsEntdeckung des Syphiliserregers fehlte
noch im Handbuche, ebenso die wichtigen neueren Untersuchungs¬
resultate über die in den Tropen so häufigen und wichtigen Try-
panosomiasen ; in den Kapiteln Tuberkulose und typhöse Erkran¬
kungen hatten die letzten Jahre wichtige neue Anschauungen ge¬
festigt; die berechtigte Anerkennung, die das Sammelwerk von
Kolle und Wassermann gefunden hatte, ließen seine Fort¬
führung als sehr zweckdienlich erscheinen, sollten nicht allzu¬
bald fühlbare Lücken des Inhaltes merkbar werden; diese not¬
wendige Ergänzung des Werkes, wenn es seinen Charakter als
Hauptquelle der Orientierung in allen einschlägigen Fragen wahren
soll, bringt der vorliegende Nachtragsband.
Inhalt und Ausstattung der fünfzehn monographischen
Darstellungen bilden einen gleichwertigen Nachtrag des ganzen
Werkes, der gewiß ebenso große Anerkennung und Verbreitung
finden wird, wie die früher erschienenen Bände. R. Kretz.
*
Los Auto - Mutilateurs,
etude psycho-pathologique et m4dico-16gale
par le Dr. Charles Blondel.
Paris 1906, Rousset.
Blondel bespricht in der vorliegenden kleinen Brosch ü r e
die verschiedenen Formen der Selbstbeschädigung u. zw.
sowohl vom forensischen als auch vom p s y c h o - p a t h o 1 o g i-
schen Standpunkte. Das Werkchen umfaßt acht. Kapitel und bringt
manche interessante kasuistische IMitfeilung. Der Fachmann
wird allerdings bei der Lektüre nichts wesentlich Neues er¬
fahren. Zuerst bespricht der Verfasser die S e 1 b s t k a s t r a t i o n
„l’enuchiome“, dann die ,,E n u c 1 eati o n volontaire“
oder ,,oedipisme“, worunter er die Exstirpalion von Organen,
z. B. die des Larynx am eigenen Leibe versteht, die Selbst¬
verbrenn u n g, ferner verschiedene andere Forme n der
Selbstbeschädigung, endlich die Selbstvers tümmelung
von Militärpersonen, welches Kapitel vor allem den Militär¬
arzt interessieren wird. In jedem einzelnen Abschnitte wird neben
der Schilderung der Art und Ausdehnung der Verletzung auch
die forensische und psychiatrische Seite des einzelnen
Falles beleuchtet, besondere Aufmerksamkeit ist den Selbst¬
beschädigungen Hysterischer und Melancholischer
geschenkt. In den Schhißbemerkungen verlrilt Blondel den
Standpunkt, daß jeder Selbs the Schädiger psychiatrisch
zu untersuchen sei, ein Standpunkt, der, da Blondel dies auch
für die S e 1 b s t b e s c h ä d i g er militärischen Standes fordert,
von den Militärärzten gewiß nicht geteilt werden wird, da durch
eine solche Maßnahme die militärische Disziplin wohl em¬
pfindlich geschädigt würde.
In derartigen Fällen ist eine ]) sy ch i a t ri s c h e 'l.lnter-
suchung nach xAiisicht des Rb'ferenten luir dann zu verlangen und
zu rechtfertigen, wenn bei dbr ersten Üntersuclumg aus anderen
Gründen Zweifel äii der '‘Geistesgesundheit des Verletzten auf¬
tauchen. 'i. ...
UVt,-’ 'If ♦ '
Einführung in ‘'die gerichtliche Medizin für praktische
* ‘ Kriminalisten.
Vier Vorträge voii Dr.''H'ago Marx, I. Assistenten der Unterrichtsanstalt
für Staatsärzneikunde an der Universität Berlin.
‘ ■ Berlin 1907, Hirsch w aid
,,Die Einführung in die gerichtliche Medizin“ ist aus Vor-
trägeir entstandeh, die Mar.x für Kriminalkommissäre hielt
und Süll demjenigen, der sich zum ersten /Male mit diesem Gegen¬
stände beschäftigt, eine gedrängte Darstellung der wro
s e n 1 1 i c h s t e n Kapitel dieser Disziplin geben. Die Schrift
ist in vier Kapitel eingeteilt, das erste befaßt sich mit der Tätig¬
keit des Gerichtsarztes am Tatorte, das zweite mit den ge¬
waltsamen Todesarten, das dritte mit den Verbrechen von spezi¬
fisch sexuellem Charakter, das vierte endlich schildert die Tätig¬
keit des Gerichtsarztes im Laboratorium. ;
Es ist gewiß anerkennenswert, daß es Marx übernommen
hat, den Gegenstand seiner vier Vorträge für praktische Krimi¬
nalisten durch Drucklegung auch weiteren Kreisen zugänglich zu
machen. Auch muß zugegeben werden, daß es recht schwierig ist,
einen so umfangreichen Stoff einigermaßen erschöpfend zu be¬
handeln, ohne zu weitläufig zu werden. lief, glaubt nicht, daß
es dem Verfasser vollständig gelungen ist, die wichtigsten
Lehren der gerichtlicheil Medizin in einer, solchen Weise dar¬
zustellen, daß die Kriminalbeamten daraus . wesentlichen Nutzen
ziehen könnten und ihnen die großen Lehrbücher der gericht¬
lichen Medizin verständlicher würden. Befremdend wirkt, daß
Verfasser in einseitiger Weise nur einzelne Autoren zitiert; doch
erklärt sich dies vielleicht daraus, daß es ihm — wie ja begreif¬
lich — ■ in seinen Vorträgen gar nicht darauf , ankam, die Zuhörer
auch mit der einschlägigen Literatur bekanptzumachen.
Reuter..
Aus versehiedenen Zeitsehfiften.
t
271. (Aus der Abteilung für Krebsforschung der 1. nicdiz.
Klinik — Geh. - Rat v. L e y d e n.) U e b e r e i n t r a n s p 1 a n t a b 1 c s
Rattenkarzin'o m. ’(mn L. Michaelis piid C. Lewin. Der
einzige bisher bekannte Fall von gelungener Karzinomübertra¬
gung ist der Hanaus. Er übertrug kleine ;Stücke von Drüsen¬
metastase eines verhornenden Plattenepithelkrebses in die Tunica
vaginalis zweier gesimder Ratten und erzielte, eine Karzinose des
Bauchfelles von derselben histologischen Beschaffenheit. Die Ver¬
fasser bekamen eine ausgewachsene weiblichp Ratte mit einem
walnußgroßen, derben Tumor, der sich als ,in der Mamma ge¬
wachsen erkennen ließi. Der ausgeschälte Tumor War von ziem¬
lich fester Konsistenz, zeigte mikroskopisch,; das BihL eines aL
veolären Drüsenkarzinoms, das von der Brusfiilrüse' hervorgegangen
war. Der Tumor wurde auf 13 weiße Rafften übertragen. Bei
sieben Tieren wuchsen innerhalb vier bis spehs Wochen ähnlich
beschaffene Jäunoren. Ein solcher walnußgyaßer Tumor zweiter
Generation wurde nun überimpft. Dabei zeigte sich, daß dieser
Tumor an der Exzisionsstolle rasch rezidivierte, daß nach zwei
Monaten in den Lungen der getöteten Ratte über erbsengroße
rundliche IMetaslasen waren. Der Tumor zeigle sich mikroskopisch
als dasselbe typische Drüsenkarzinom. Mit dem Tumor konnte
bis jetzt in die fünfte Generation weitergeimpft werden, in zirka
öOTo mit’ posiliven Resullaten. Der Tumor wuchs zunächst bei
allen geimpfUm Ratten bis in die vierte Woche, wurde zuweilen
kirsch- bis pflaumengroß, er verschwand aber auch sodann, ohne
Spuren zu hinterlassen. Solche Tiere waren dann immun gegen
alle weiteren Impfnngen. Bei intraperitonealer Impfung gelang
I es fast immer, außerordentlich ausgebrei leies Karzinom des Bauch-
' feiles zu erzielen, wobei insbesondere das Netz sich in große
: Krehsmassen umgewandelt zeigt. Ein Rezidivieren des exzi-
i dierten Tumors an der Exzisionsstelle zeigte sich noch in einem
• 74
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 19077
Nr. 22
zwcilen Falle, dadurch nähert sich der Tumor in seinem klini¬
schen Verlialten dem menschlichen Karzinom, in einem anderen
Falle (ein Tier der dritten Impfgeneralion) wuchsen bei subkutaner
Impfung in der Bauch'haut zwei kirscli- bis walnußgroße Tumoren,
außerdem wurde das Abdomen der Ratte stärker, es zeigte sich
Kachexie, das Tier starb neun Wochen nach der Impfung. Bei
der Sektion fand man im Abdomen ca. 100 cm^ einer blutigen,
serösen Aszitesflüssigkeit, Tumoren an der Innenseite der Bauch¬
haut, Netz und IMesenterium in große Krehsmassen umgewaudelt.
,,'Es' zeigte sich also eine ausgedehnte Metaistasenhitdung un¬
seres l’umors, wie sie bei Aläusekarzinomen kaum vorkommt
und Klie den Tumor dem menschlichen Karzinome durchaus ähidich
macht.“ Die Impftumoren zeigten in histologischer Hinsächt bald
das Bild eines reinen Adenoms, dann wieder sah man nur aWeo-
läre, solide Krebsnester, oder niebf tubuläre Zellnester, bald
reichliches, bald wieder nur minimales Stroma oder kleine Zysten
und auch die Epithel zell e des Tumors variierte in der Große
und Form von Protoplasma und Kern. Zum Schlüsse berichten
die Verfasser über ihre Immunisierungsversuche, über welche
sie sich noch eines endgültigen Ürteiles enthalten. — (Berlifier'
klinische Wochenschiäft 1907, Nr. 15.) E. F.
* . '.i-
272, Aus dem Ej)pendorfer Krankenhause. Ueber Jie
akute und chronische Ni e re n b e c k e n e n t z ü n d u n g. Von
Hermann Lenhartz. Verf. schildert das Krankheitsbild jc^rcr
Pyelitiden, die primär oder im Anschlüsse an Schwangerschaft
und Wochenbett entstanden sind. Der Infektionsweg ist der aszen-
dierende von den äußeren Genitalien her. Meist erkranken Frauen
an Pyelitis, bei denen eben Menses, Schwangerschaft und Wochen¬
bett die Infektion vermitteln, sonst auch der Katheter bei den Er¬
wachsenen, Darnikatarrh bei Kindern. In den 80 Fällen des Ver¬
fassers betrafen 74 das weibliche Geschlecht, während nur sechs
•Männer beteiligt waren. Die bakteriologische Unlcrsuchung ergab
66mal das Bacterium coli als alleinigen Er^^ger, 2mal tlen Fried-
länderschen Pneuniobazillus und 3mal den Paratyphusbazillus,
Imal eine Mischinfeklion von Koli und Proteus. In 33 von
59 Fällen ließ sich die Pyelitis auf Schwangerschaft (elf Fälle),
Geburt (acht Fälle) und Menses (14 Fälle) als Ursache zuriiek-
führen. Diese setzten Veränderungen in der Schleimhaut und
den übrigen Geweben des Urogenitaltraktus, begünstigen die Em¬
pfänglichkeit für die Infektion dadurch, daß die Blutüberfüllung
und Auflockerung der Gewebe den Bakterien, insbesondere den
Kolibazillen, günstige Bedingungen zur Entwicklung bieten. Von
sonstigen Einflüssen kommen außer vorhergehenden Infektions¬
krankheiten, z. B. Varizellen, schwere Erkältungen des Unter¬
leibes in Betracht. Unverkennbar häufiger wird die rechte Nipre
befallen. In den 80 Fällen des Verfassers waren die rechte
36mal, die linke 17mai, beide Seiten 24mal beteiligt. Harnblasen¬
symptome waren nur bei fünf Kranken vorhanden, Beteiligung
des Nierengewebes nur bei drei bis vier Fällen, sonst handelte es
sich um reine Fälle von Pyelitis. Zu den Symptomen derselben
gehören Fieber, mehr oder weniger heftige Allgemeinerscheinungen
und Schmerzen. Kopf-, Glieder- und Rückenschmerzen, Erbrechpn
beherrschen oft das Gesamtbild. Bei bimanueller Unlcrsuchung
findet man oft schon frühzeitig die eine oder andere Niere auf¬
fällig di'uckempfindlich ; in zwölf von 80 Fällen konnte Verfasser
eine oft bis über kindskopfgroße, pralle Anschwellung des ent¬
zündeten Nierenbeckens durchfühlen. Ausschlaggebend ist aber
die mikroskopische und bakteriologische Untersucliung des Harnes.
Der Harn ist trüb, enthält oft Eiter, Blut; Reaktion sauer, Eiweißr
gehalt oft Va'Voo, aber auch 2 bis 4, selbst 10%o. Mikroskopisch
findet man reichlich Eiter, oft rote Blutkörperchen, mit massen¬
haften Stäbchen, häufig schleimige Streifen, seltener Fihrinfäden;
außerdem zahlreiche Epithelien, nicht selten geschwänzt. Letztere
können aber bei der reinen Pyelitis ganz fehlen, wähi'end zahl¬
reiche Plattenepithelien und Tripelphosphat auf Beteiligung der
Blase, Nierenkanälchenepithel und Zylinder auf eine solche der
Nieren hinweisen. ]\Iitbestimmend ist die gleichzeitige bak¬
teriologische Untersuchung des steril entnommenen Harnes. Die
Differentialdiagnose ist oft schwierig. Heftigkeit und Ausbreitung
der Schmerzen lassen an Appendizitis, Peritonitis, Gallenstein¬
koliken, denken. 'Wiederholte, sorgfältige Palpation wird hier zum
Ziele führen. Verf. ist der Uebofzeugung, daß nicht wenige P'älle
von Eyelitis bisher unter falscher Flagge gesegelt sind. Das ist
kein Wunder, da man bisher nicht gewußt, daß die Pyelitis
von einem ganz charakteristischen Fieberverlaufe begleitet ist.
Von den 80 Kranken des Verfassers haben 59 hoch gefiebert;
28 boten einen starken Fieberanfall, gewöhnlich durch Schüttel¬
frost eingeleitet. Solche Fieberanfälle können 3 bis 18 Tage
dauern, häufig sind sie nach sechs bis sieben Tagen beendet.
Verf. veranschaulicht den Fieberverlauf durch zahlreiche Kurven.
Bald ist mehr die Kontinua Und kritische Entfieberung zwischen
dem sechsten und zehnten Tage, bald hohes, schwach re¬
mittierendes Fieber, mit lytischem Abfälle der Temperatur zu
beobachten. Die Kurven unterscheiden sich von der Pneünionie-
kurve nur durch den niedrigen Puls und die Respiration. Manch¬
mal ziehen sich subfebrile Temperaturen wochenlang hin oder
es kommt zu Rekrudeszenzen. Bei anderen wieder flackern (Tie
Temperaturen nach tagclangen Fifiberpausen auf. Am infer-
essantesten sind jene Fälle mit regelmäßigem, zyklischem Ver¬
laufe; es wiederholen die Relapse das Bild, wie es im Einzel-
anfalle aufzutreten pfegt, so daß man nach Verf. Amu einem
,, Rückfallfieber“ sprechen kann. Diese Relapse werden offenbar
durch eine akut rezidivierende hakteritische Entzündung des
Nierenbeckens angeregt ; manchmal fallen sie mit einer Erkrankung
der gesunden Seite zusaimnen. Auffällig war der Zusammenhang
zwischen Relaps und Menses. Bei 14 Fällen war diese Beziehung
erkennbar. Chronische Fälle, die über Monate sich hinziehen,
hat Verf. sieben beobachtet, wovon zwei fieberlos abliefen,
während fünf zahlreiche zyklische charakteristische Ficberrelapse
darboten. Sonst ist noch zu erwähnen, daß in drei Fällen mit
dem Anfalle eine schwere Ischias der Seite einsetzte, auf der
auch die Niere erkrankt war, daß ferner bei mehreren Gravide)!
nach Beendigung der Geburt auffällige Besserung erfolgte und
daß es bei einer Kranken zu ausgedehnter doppelseitiger Krural-
venenthrombose gekommen ist. Röntgenaufnahmen wui’den bei
allen gemacht, Avobei in zAvei Fällen Steine gefunden Avurden.
Was die Heilresultate anlangt, sind von den 80 Kranken fünf
gestorben, zAvei an Karzinom und Tuberkulose, die drei anderen
an Pyelitis. Von den übrigen 75 sind 54 klinisch geheilt ent¬
lassen, 14 gebessert, Avährend sieben noch gewisse Beschwerden
haben. In bakteriologischem Sinne sind nur 16 geheilt, 20 ge¬
bessert und 39 ungeheilt, d. h. die steril entnommenen Harn¬
proben zeigen noch die AnAvesenheit der Keime. In therapeutischer
Beziehung konstatiert Verf., daß man mit den bisher bekannten
Mitteln nicht imstande ist, die Bakterien im Körper zu töten.
Am besten von allen Mitteln scheint noch das Urotropin; aber
es heilt die Fälle nicht. Die Bakteriurie besteht fort. Nach des
Verfassejs Erfahrung hilft die wochen- oder monatehmige Zufuhr
von drei bis viermal täglich einem Kalben Liter heißen Linden¬
blütentees )ioch am besten. Dadurch Averden Nierenbecken und
Blase gründlich ausgeAvaschen. Eine aktive Behandlung der Harn¬
blase ist nur dann angezeigt, Avenn sie miterkrankt ist. Zur
Bekämpfung der Schmerzen im Anfalle si)id selten Narkotika
nötig. Der eine empfindet bei Wärme, der andere bei Kälte
Erleichterung. Bei starker gescliAvulstartiger VorAvölbung kann
die leicht auszuführende Punktion, oder der Sektionsschnitt an¬
gezeigt sein. Meist Avollen aber die Kranken nichts davon Avissen.
— (Münchener mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 16.) G.
*
273. Die Hämorrhagien und die Störungen der
Blutgerinnung bei Nephritis. Von Emile Weil und
Claude. Die HämoiTliagien bilden eine häufige Komplikälion
der Nephritis, doch ist der physiologische Mechanisinus ihres
Zustandekommens noch nicht genügend aufgeklärt. Bei der akuten
Nephritis ist die Hämaturie die häufigste Form der Blutung, bei
chronischer Nephritis beobachtet man neben der Hämaturie auch
Epistaxis, Netzhaut-, iMeningeal- und Hirnhlutungen. Zur Er¬
klärung der Blutungen bei akuter Nephritis zieht man die Inten¬
sität der Kongestion, bei chronischer Nephritis die abnorme Stei¬
gerung des Blutdruckes und die bei Arteriosklerose häufigen
Kongestionen heran. Für die bei Nephritis manchmal vorkom¬
mende Purpura mit Hautblutungen ließ sich bislier keine befrie¬
digende Erklärung geben. Die in einigen Fällen mit Hämaturie,
bzAv. Hämaturie und Epistaxis vorgenommene BlutunterSuchung
hat bemerkensAAX'rte Veränderungen des Blutes, speziell hinsicht-
675
Nr. 22
WIENER, KLINISCHE .WOCHENSCHRIFT. 1907.
Uch des Verhaltens der Koagulation ergeben. Das der Vene durch
Stich entnommene Blut zeigte verspäteten Eintritt der (Jerinnungj
während das der Fingerbeere entnommene Blut hinsichtlich des
Zeitpunktes der Gerinnung normale Verhältnisse aufwies. Die
Veränderung scheint sich auf den Gehalt des Blutes an Kalk¬
salzen und koagulierenden Fennenten zu beziehen, weil durch
Zusatz von Seren oder Kalksalzen die Gerinnung beschleunigt
werden konnte; das Verhalten des Fibrinogens scheint, wie aus
der normalen Retraktion des Gerinnsels hervorgeht, unverändert
zu sein. In den Fällen von Nephritis, wo eine derartige Blutver-
änderung nachweisbar war, fand sich neben den Zeichen des
Alkoholismus, auch .eine Vergrößerung der Leber. Es ergibt sich
daher, die Frage, ob die Nierenläsionen selbständig oder aber
durch Vermittlung der Leber, die Veränderung der Koagulations¬
vorgänge des Blutes hervorzurufen imstande sind. Wenn auch
die Annahme des Einflusses der Leber von vornherein eine
gewisse Wahrscheinlichkeit besitzt, so muß erst das Ergebnis
einschlägiger Experimente abgewartet werden, bevor diese Frage
mit Sicherheit beantwortet werden kann. Therapeutisch ist bei
Nephritiden, welche mit Hämorrhagien einhergehen, ähnlich wie
bei dyskrasischen Hämorrhagien, die subkutane oder intravenöse
Injektion von frischem Blutserum zu empfehlen. So wurden in
einem derartigen Falle zunächst 10 cm^ frisches Kaninchenserum,
später 15 cm® frisch bereitetes Diphtherieserum mit günstigem
Erfolge injiziert, indem sowohl Hämaturie, als auch Epistaxis
verschwanden. — (Bull. et. Mem. de la Soc. med. des hop.
de Paris 1907, Nr. 13.) a. e.
274. (Aus der Breslauer chirurgischen Klinik.) Beiträge
zur Gefäßchirurgie. Zirkuläre A r t e r i e n n a h t und Ge¬
fäßtransplantation. Von Dozent Dr. Stich, Dr. Makkas
und Dr. Dowman. Auf Anregung Garres (Stellten die Autoren
Versuche an, deren Endziel die Transplantation von Organen
sein sollte. Zur Ausbildung der Technik war es notwendig, zu¬
nächst gut die zirkuläre Gefäßnaht zu üben. Ermutigt durch
diese gleich zu Beginn erzielten günstigen Resultate, stießen sie
auf eine Reihe von Fragen, welche sie zunächst von ihrem
Endziele entfernten und veranlaßten, dem Probleme vorliegender
Arbeit auf den Grund zu gehen. .Was zunächst die Technik der
zirkulären .Arteriennaht betrifft, so wurde das zu vernähende
Gefäß auf 6 bis 10 cm freigelegt, indem das Gefäß einigermaßen
aus der Scheide herauspräpariert wurde; um die der Nahtstelle
zunächst gelegene Partie wurde dann das präadventitielle Ge¬
webe entfernt. Nach Freilegung des Gefäßies wurden Klemmen
von Hopfner angelegt, aber nicht zu nahe der Nahtstelle. Dann
erfolgte die Durchtrennung des Gefäßes mit einem Scheren¬
schlage. Jetet entfernte man da.s präadventitielle Gewebe, indem
es mit einer Pinzette gefaßt, mehrere 'Millimeter über den Quer¬
schnitt des Gefäßes herausgezogen und dann mit der Schere
abgekappt wurde, dann wurde in den Gefäßen noch vorhandenes
Blut oder Gerinnsel mit den Fingern ausgedrückt und die Naht
angelegt. Zunächst werden drei Haltefäden angelegt, zunächst
der hintere Faden, indem man in das einfache Gefäßende etwa
iVa mm vom Rande entfernt mit einer krummen Nadel von außen
nach innen einsticht und dann in das andere Ende von innen
nach außen ; sämtliche Nähte gehen durch die ganze Wand¬
dicke; der Faden wird gleich geknotet. Darauf wird der zweite
und dritte Faden in analoger Weise angelegt. Diese Haltefäden
sind anscheinend das Wichtigste und auf ihr exaktes und sym¬
metrisches Anlegen ist das größte Gewicht zu legen. Der zir¬
kuläre Verschluß der Gefäße wird dann durch fortlaufende Naht
meist mit einer geraden Nadel erzielt. Nach Abnahme der Klemmen
tritt meist aus einigen Stiebkanälen, besonders aus jenen der
Haltefäden eine mehr weniger starke Blutung auf, die man aber
regelmäßig durch Kompression stillen kann. Steht sie in seltenen
Fällen nicht, so werden ein bis zwei Hilfsnähte über die blutende
Stelle angelegt. Nabt der Gefäßscheide wird im allgemeinen unter¬
lassen. Die Schlüsse, die die Autoren aus ihren Experimenten
ziehen, sind folgende: 1. Die Wiedervereinigung cfuer durch-
trennter Arterien läßt sich mittels der angegebenen Nabtmelbode
an großen wie an kleinen Gefäßen ohne besondere Schwierig¬
keit ausführen. Die Methode stellt — eine richtige Technik und
aseptische Wunde vorausgesetzt — mit großer Sicherheit die
Funktion wieder her. 2. Zum Ersätze resezierter Arterienalt¬
schnitte eignen sich am Iteslen Arterienstücke des gleichen Indi¬
viduums, hzw. eines Tieres der gleichen Spezies. 3. Es gelingt
jedoch auch, Arterienstücke von frisch getöteten Tieren derselben
Spezies einzupflanzen. 4. Aueb die Implantation von Arterien¬
abschnitten einer fremden Tierspezies ist möglich. 5. Es gelingt
selbst die Einpflanzung eines Venenstückes in eine Arterie, wobei
sich die Vene sehr bald dem artei'iellen Drucke anpaßt, indem
ihrej Wand an Stärke und Dicke zunimmt. — (Beiträge zur
klinischen Chirurgie, Bd., 53, H. 1.) . E. V.
,j 275. (Aus dem Westminster-Hospital.) U e be r e i n e n Fall
von inoperablem Karzinom, der mit Trypsin be¬
handelt wurde. Von Dr. Bertram A b r aha m s. Verf. beschreibt
einen — durch die Obduktion bestätigten Fall — von Alveolär¬
karzinom der rechten Pleura mit einer iMetastase in der Leber.
Es war hiebei die von Shaw- Mackenzie empfohlene Trypsin¬
therapie erfolglos verwendet worden. Verf. hatte .sich genau an
die Angaben des genannten Autors gehalten. Die Trypsinbeband-
lung besteht im wesentlichen , in subkutanen Injektionen von
Solutio Trypsini acidi. unter abwechselndem Zusatz von Seifen-
lösung und eines Terpentinpräparates. (Da eine derartig durch-
gefphrte Therapie auf einer völligen Verkennung, der Grundtat¬
sachen der Fermentchemie beruht, so wäre ihre Erfolglosigkeit
schon von vornherein vorauszusagen gewesen, Ref.) — (Lancet,
9. Februar 1907.) J. Sch.
276. (Aus dem medizinisch-poliklinischen Institute der Uni¬
versität Berlin — ■ Direktor; Geh. Med. - Rat Urof. Dr. Senator.)
Ue.ber Saransonsche Ozelbäder. Von Stabsarzt Doktor
Schiit gen, Assistent der klinischen Abteilung. Die Sauerstoff¬
bäder werden nach Dr. L. Sara ns on so hergestellt, daß in
jeder beliebigen Badewanne dem einfachen Badewasser (man
kann auch ein natürliches Mineralwasser oder Seewasser wählen)
nacheinander ca, 300 g Natriumperborat (ein weißes kristallinisches
Salz) und ca. 30 g Manganborat (ein weißcsi Pulver) als Kata¬
lysator zugesetzt werden. Die zwei Pulverarten 'werden gleich¬
mäßig über die ganze Oberfläche des Wassers verteilt. Nach
ein bis ZAvei Minuten entwickelt sich reichlicli freies, aktives
Sauerstoff gas in Form kleiner Bläschen. Das Badewasser erhält
anfangs eine milchaiiige Färbung, wird dann dunkelbraun von
gebildetem Mangansuperoxyd, welches sich auch an die Haut
des Patienten anlegt und auf dem Boden der Badewanne zurück¬
bleibt. Die Gasentwicklung hält 15 bis 20 Minuten an. ,, Ozon¬
haltiges“ Sauerstoffgas — wie Sara ns on behauptet — bildet
sich nicht. Die Wirkung des Bades ist der der kohlensauren
Bäder sehr ähnlich : lebhaftes Prickeln auf der Haut, angenehmes
Wärmegefühl, allgemeines Wohlbefinden, hinlerher großes Schlaf¬
bedürfnis. Diese Ozetbäder wurden an einer gesunden und
14 'schwerkranken Personen angewendet. Man beslimmle dabei
die Pulszahl, den Blutdruck und die Körperwärme vor, in und
nach dem Bade. Die Patienten, waren auch im Bade in liegender
Steilung. Der Verfasser gibt in Tabellen die erhaltenen Resultate;
weiche sich dahin zusammenfassen lassen, daß bis auf einen
Fall die Ozetbäder in der Regel gut verlra.gen wurden. Im
ganzen wurden 60 Bäder gereicht. Die Pulszahl wurde durch
das Ozetbad etwas herabgedrückt, ein irregulärer Puls wurde
kräftiger und energischer. Der Blutdruck stieg zuweilen in die
Höhe, viel häufiger jedoch wuiile er wenig’ alteriert oder
er fiel. Die Körpertemperatur änderte sich nicht wesentlich.
Günstig beeinflußt wurden in erster Linie nervöse Erkrankungen
(Neurosen, Hysterie, Neurasthenie), dann aber auch Herzkrank¬
heiten aller Art, namentlich solche, welche auf nervöser Basis
beruhen. Die Bäder sind leider sehr teuer, zumal zu einer Kur
30 Bäder erforderlich sind. Sie sind den kohlensauren Bädern
vorzuziehen, da bei diesen die Atmosphäre durch stärkeren Ge¬
halt an Kohlensäure verschlechtert wird. — (Die Therapie der
Gegenwart, April 1907.) F. F.
*
277. Aus der Kreiskranken- und Pflegeanslalt der Pfalz, in
Frankenfhal. Zur Behandlung der T y p h u s b a z i 1 1 e n-
träger. Von Oberarzt D. Dabier. Typhusbazillenträger bilden
jederzeit eine große Gefahr für die Gesundheit ihrer Umgebung.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
' Nr. 22
u/b
Forisler, Kayser und ßlunientiial skdlteii die Galloii))lase,
respektive die Galienwege als Brutslätbe der Typhusbazillen bei
Typlm.slrägern biji. Sie fanden in den Gallenblasen von sieben
Typbusleichen jedesmal Tyjdiusbazillen in Reinkultur; je weder
analwärts aus dem Ranne, (lie Proben enlnonnnen wurden, deslo
weniger Typliusbazillen enlbielten sie. Auf Grund dieser Kennt¬
nisse ging Verf. bei zwei könstaiden Typhusbazillenträgerinnen
in der Anstalt vor. Die^e zwei Palientinncn haben jahrelang
einige Säle der Irrenabteilung durchseucht, bis ihre Infekliosität
entdeckt wurde. Beide stehen nun seit 1904 in des Verfassers
Behandlung in steter bakteriologischer Kontrolle. Die eine,
46 Jahre alt, lieferte bei 39 Sluhluntersuchüilgen 37nial positiven
Befund von Typliusbazillen. Ini Urine und Blute waren l'yphus-
bazillen nicht nachzuweisen. Die Widalsche Reaktion war bei
1:50 stets, oft bei 1:100 positiv. • Sie litt , seit zwei Jahren an
Diarrhöen mit Schleini'. und Blutabgang; haltö einen Mastdarm-
vorfall, fühlte sich aber sonst ganz gesund. Alle internen IVIiUel
zur Vertreibung der Typhusbazillen wurden vergebens angewendel.
Daher entschloß sich Verf., die Gallenwege der Patienlin operativ
zu reinigen. Diese Operation ist also die ,,erste‘'‘ an den Gallen¬
wegen, die nur aus genannter Indikation unternommen wurde.
Am 20. August 1906 löste Verf. die Gallenblase aus mehreren
VenvachsLingen, eine steril entnommene Gallenprobe enthielt
Typhus- und Kolibazillen. Aus der eröffneten Gallenblase wurden
zwei Steine entfernt; der eine hatte den 'Ductus cysticus er¬
weitert. Nach seiner Entfernung floß reichlich Galle ab, so daß
die Entfernung der ; Gallenblase und Hepatikusdrainage unnötig
erschien, ln den Ductus cysticus wmrde ein dicker Schlauch
eingelegt und aUs der Wunde in ein vAuffanggefäß geleitet. Die
lleiiung nahm einen ungestörten Verlauf; die Wunde wurde mög¬
lichst lange offen gehalten. Die entleerte Galle enthielt anfangs
Typhus- und Kolibazillen, vom 24. August an Typhushazillen
massenhaft in Reinkultur. Gallenblase und Ductus cysticirs wurden
vom 5. September an durch einen tief eingeführten Katheter
mit 3“/oiger Borsäure und dann mit 10°/oiger Höllensteinlösung
gründlich gespült; trotzdem enthielt die Galle Typhusbazilleii
,, 'massenhaft in Reinkultur“. Erst 21 Tage nach der Operation
enthielt die aus der. Fistel abfließende Galle bei 17 verschiedenen
Proben keine Typliusbazillen mehr, um später wieder zu er¬
scheinen und endlich Mitte Dezember enthielt das Fistelsekret
keine Typliusbazillen mehr. In den Kotproben wurden vom
•24. August' an keine Typliusbazillen gefunden, während sie vor
der Operation jedesmal reichlich im •Kote nachgewiesen wurden.
Die Patientin bat durch den Gallenverlust keinen Schaden er¬
litten;. seit . se(|hs Monaten keine Diarrhöen mehr, kein Blut-
und kein Schleimabgang;' der Mastdarm wird seit der Operation
selten vorgedrängt. Aus diesem Falle ergibt sich: die entzündlich
verändeite Gallenblase kann ein Schlupfwinkel für Typhusbazillen
sein. So lange die Galle aus der Gallenfistel reichlicb ab floß',
waren die Typliusbazilleh spärlicher; als mit Verengerung der
Fistel die Galle langsamer abfloß und ihre anreichernde Eigen¬
schaft zur MTrkung kam, , erschienen zahlreicher Typhusbazdlen.
Nach Schluß der Fistel können sich die Typhusbazillen in der
nirgends mehr stagnierenden Galle nicht mehr anreichern und
vermehren ; die Galle Wird kontinuierlich in den Darm abgeleitet,
ln den letzten zwei Monaten wurden Cholagoga, Cholelysin,
Kalomel systematisch verabreicht. Verf. glaubt, daß das nun¬
mehr sechs Monate währende befriedigende Residtat eine Aus¬
räumung und Verödung, bzw. totale Entfernung der Gallenblase
bei Typhusträgern in gcreigneten Fällen als berechtigt erscheinen
läßt, solange ihnen nicht durch erhöhte Immunisierung auf sero-
Iherapeutischem Wege odei’ durch andere Mittel radikale Heilung
verschafft werden kann. — (Münchener mediz. Wochenschrift
1907, Nr. 16.) ... ■ ' G.
* ;
278. lieber die Serum the rapie der bazillären
Dysenterie. Von Vaillard und Doptcr. Es wurden im
Jahre 1906 im ganzen 243 Dysenteriefälle mit dem bakteriziden
und antitoxischen Serum der gegen den Dysenteriebazillus im¬
munisierten ITerde behandelt, darunter 43 Fälle in Irrenan¬
stalten. Von den außerhalb der Irrenanstalten ’Behandelten ge-
h()rlc die Hälfte in die Kategorie der schweren und schwersten
Fälle und es b(jtrug hier die Mortalität, mit Einrechnung jener
, Kranken, die zur Zeit der Serumbehandlung sich' bereits in mori¬
bundem Zustande befanden, 5T(>, wählend die Mortalitäl sonst
selbst über 50°/'o ansteigen kann. Die Wirksamkeit des Serums
zeigt sich nicht nur in der Herabsetzung der jMortalität, sondeiai
auch in der unmittelbar nach der Amvendung sich einstellenden
Besserung und der raschen Heilung. Die Schmerzen im Ab¬
domen und der Tenesmus nehmen schon nach einigen Stunden
ab, ebenso werden die Stuhlentlecrungen seltener, der Eiter-
und Schleimgelialt nimmt ab und die Stühle nähern sich immer
mehr der normalen Beschaffenheit. Mittelschwere Dysenteriefälle
werden in ein bis zwei Tagen kupiert, bei schweren Fällen
tritt vollständige Heilung nach sechs bis acht Tagen, bei an¬
scheinend verzweifelten Fällen nach 12 bis 15 Tagen ein. Wenn
man sicheren Erfolg bähen will, so muß man mit der Behandlung
zu einer Zeit beginnen, wo die Zellen des Organismus noch
ihre Reaktionsfähigkeit besitzen. Die Dosierung des Serums muß
der Intensität der Infektion entsprechen; für mittlere Fälle ge¬
nügen Dosen von 20 cm®, in schwereren und nicht ganz frischen
Fällen sind größere Dosen, 50 bis 100 cm® erforderlich. Die
■ Dysenterie ist in den Irreuanstalten ein häufiges Vorkommnis,
die Mortalität ist namentlich hei Paralytikern und dementen
Kranken hoch und kann bis 25°/o ansteigen. Es wurde angegeben,
daß die Dysenterie der Geisteskranken durch besondere Bazillen
hervorgerufen wird, doch sind bei einer Anzahl von Fällen die
typischen Formen der Dysenteriebazillen mit Sicherheit nach¬
gewiesen worden. Bei der Dysenterie der Geisteskranken hat
die Serumtherapie, so wmit es sich um herahgekommene kachek-
tische Individuen handelte, nicht so gute Resultate gegeben vrie
sonst, dagegen waren bei kräftigen Geisteskranken die Resultate
der frühzeitig angewendeten Serumbehandlung durchaus günstig.
Das Dysenterieheilserum ist nicht nur das spezifische Heilmittel
gegen Dysenterie, sondern besitzt auch eine präventive Wirkung.
— (Bull, de PAcad. de Med. 1907, Nr. 15.) a. e.
*
279. (Aus der Grazer Chirurg. Klinik.) Pathologische
Luxation einer Becken hälfte und Zerstörung der
A r t i c u 1 a t i o s a c r o i 1 i a c a durch eine K a r z i n o m m e t a-
stase. Von Prfv.-Doz. Dr. M. Hof mann. Wenn man zu den
Luxationen nur jene Fälle zählt, in welchen es tatsächlich zu
einer richtigen Verschiebung der Beckenknochen gegeneinander
gekommen ist, so konnte Hof mann bisher üherhaupt keinen
sicheren Fall einer Destruktionsluxation der Beckenknochen nach-
weisen. Im Falle Hof mann s handelt es sich aber um die
Zerstörung der linken Articulatio sacroiliaca durch die Meta¬
stase eines Mammakarzinoms und ausgesprochener Luxation der
linken Beckenhälfte. Die Diagnose wurde durch das Röntgenbild
sichergestellt, welches eine vollkommene Zerstörung der linken
Articulatio sacroiliaca ergab. Charakteristisch waren : Schmerzen
im Bereiche des Plexus ischiadicus, welche sich beim Gehen
und Stehen steigerten ; Beweglichkeit beider Beckenhälften gegen¬
einander auf Druck, Höherstehen der einen Beckenhälfte, das
sich durch Zug an der entsprechenden unteren Extremität zum
Ausgleich bringen ließ, eine deutlich nachweisbare Stufe an der
Symphyse. Als ungünstig für die Entwicklung einer derartigen
Luxation der einen Beckenhälfte bei Karies der Articulatio sacro¬
iliaca muß der Umstand angesehen werden, daß es erst in relativ
sehr w'eit vorgeschrittenen Stadien der Erkrankung zur Zer¬
störung der mächtigen Bandmass'en, die die Gelenksspalte nach
hinten zu abschließen, kommt und damit erst spät Lockerung
des festen Beckengefüges eintritt, während im vorliegenden Falle
durch frühzeitige Zerstörung dieser Bandmassen durch das Kar¬
zinom Gelegenheit zur allmählichen Ausbildung einer typischen
Destruktionsluxation der ganzen Beckenhälfte, durch Belastung
derselben durch den Gehakt, gegeben war. — (Beitrag zur
klinischen Chirurgie, Bd. 53, H. 1.) E. V.
♦
280. Erfahrungen an 100 Fällen von Lumbalan¬
ästhesie. Von Wiener und de Graeuwe in Brüssel. Für
die Lumbalanästhesie eignen sich nur Operationen an tiefer ge¬
legenen Teilen, .wenn man in höher gelegenen Teilen operieren
will, so empfiehlt es sich, gleichzeitig Morphium - Skopolaminin-
jektionen zu verwenden. Es soll die Lumbalanästhesie nur hoi
envachsenen Personen angewendet werden, bei denen wegen des
Nr. 22
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Zustandes der innere)). Urg:i))e oder wegoi des lok;Ue)i Hetundes,
zuni Beispiel diabetische Cuingrän, die Allgeniei)uuiästliesie koni ra-
indiziert ist. Kine ])ulikalio)i zur Lu))il)ala)iästliesic ist aucli dann
gegeben, wenn unte)' Verl)äll))isse)) operiert werden muß', wo
keine Assisbuiz zur Voitigung stebl. Die ])),jeklion wird i)i
sitzender Ilallung des Kr;i))ke)i in der Medianlinie zwiscboi don
dritten u)id vierten Lendenwirbel vorgeno)nnien. Zahlreiche Pu))k-
tionen zinn Zwecke der I))jektion sind zu veianeiden, weil da¬
durch sub)neningeale Häniorrhagien ho'vorgerufen werden, wenn
ein gewisses Quantum vo)i Zerehrospi))alflüssigkeit ahgeflossen
ist. Nach erfolgter Injektion prüft man, um sicdi vom Vorhanden¬
sein der Analgesie zu überzeugen, die Soisihilität, indem )ua)i
de)i Patienten, um Suggeslio)) zu vennekle)), oh]ie sei)i Wissen
kneift; der Beginn der A)ialgesie kündigt sich auch durch das
Verschwinden der Reflexe an. Zur Anästhesie wurden vorwiegend
Stovain, Novokain und Tropakokain, seltmier Alypi)i und nur
in einem Falle Kokain verwendet. Die Zahl der Fälle )nit unzu¬
reichender oder fehlender A)iästhesie betrug 25 bis 28®/'i, d;i
die Mißerfolge nicht aus technischen Fehleiar oder schlechter
Beschaffenheit der Anästhetika erklärt werden können, so er¬
scheint die Annahme plausibel, daß die Affinität des. Nerven¬
systems für Anästhetika individuell variiert. Von Ko)nplikationen
wurde hei einer geringen Anzahl von Fällen Neig'iuig zur Syn¬
kope, Erbrechen, Darminkontinenz, von späteicm Ko)))plikationen
Blasenparese, welche die Anwendung des Katheters erforderlich
)nachte,- Kopfschmerz, Racdiialgie beobachtet. Nicht selten wurde,
namentlich bei sehr blutigen Operationen Temperatursteigerung
trotz strenger Asepsis beobachtet. In zwei Fällen wmale x4ugen-
)nuskellähmung, Paralyse des Rectus externus konstatiert,, welche
spontan zurückging. In der Literatur sind bisher elf - derartige
Fälle beschrieben, welche gleichfalls spontan zurückgingen. Die
Augemnuskellähmungen treten nicht u)imittelbar, so)idern drei
bis elf Tage nach der Lumbalanästhesie auf, wodurch ihre Er-
kläning erschwert, wird.- Als Folgezustände der Lmnbalanästhesie
würden auch Obsti]Hition, Erbrechen, a)n Tage nach der Anästhesie
lujd lanzinierende Sclunerzen beobachtet. — (.lourn )ned. de
Brux; T9Ö7, Nr. 15.) a. e.
Nekrolog.
Hofrat Prof. Dr. Moritz Friedrich Roll f-
Ein hochgeachteter Mann, ein hervorragender Gelehrter yo)i
Weltruf und ein Organisator auf dem Gebiete der Veterinännedizin
ist aus unserer Mitte geschieden u)id wurde am 21. Mai d. J.
auf dem Grazer Friedhofe zur ewigen Ruhe bestattet. Unsere
traurige Pflicht ist es, nochmals der Taten seines vielbewegten
Lebens zu gedenken und mit dem letzten Gruße i\.bsctiied zu
nehmen von deni teueren Verblichene)i. Vor einem halben .Tahrhirn-
derte war es, als der strebsame junge Beamtenssolm, iMoritz Roll
in Wien, seiner Vaterstadt, zum Doktor der Medizin promoviert,
sich den Vetei'inärwissenschaften zuwendele. Im Jahre 1845 er¬
langte er das Diplom eines' Veterinärs und wurde sogleich zu)n
Lehrfache herangezogen und mit der Supplierung der zwei wich¬
tigsten Disziplinen der Veterinär)nedizin, Pathologie und Therapie,
sowie Seuchenlehre betraut. Bald sehen wir den wiederholt be¬
lobten Korrepetitor der Schule in das praktische Leben treten,
er versah durch drei Jahre den Dienst eines Landestierarztesi
in Prag. Aus jener Zeit stammt sei)) enormes Wissen und Können
auf dem Gebiete des Seuchen wesens,' seities nachmaligen Lieblings-
studimns Die stürmische Zeit des Achtundvierzigerjahres entschied
auch über das Schicksal der IViener Vete.rinärscbule, sie wurde
dem k. und k. Reichskriegsministerium einverfeibt und vom Grunde
aus neu organisiert. Schon während der lätigkeit als Landes¬
tierarzt erregte der nun Verstorbene die Aufmerksamkeit der Vorge¬
setzten in dem Maße, daß er als der. richlige Mann erkannt
wurde welcher die Neuorganisatiou der Schule diirchzufüliren
imstande sei. Im Jahre 1849 erfolgte die Berufung Rölls als
Professor der Veterinärschule und als jüngste)- i))i Kollegium
bestätigte das Ministerium im Jahre 1852 seine Beförderung zum
Studiendirektor. Zugleich erfolgte seine Ernennung zum außer¬
ordentlichen Professor der Wiener Universität, mit dem Lehr-
«'itiftrn.gG der ScucdieiilGhrc und wurde er ziun L rüfei det ärz
liehen Pbysikatskandidaten ernannt.
Als Gelehrter und Grgiuiisator entfaltete der Verstorboie
durch 27 .lahre ei)io rege, segensreiche Tätigkeit zum Nutzen
und ziuii From))iei) der Schule luid der gaiizoi Veterinärmedizin.
Eine rechte Sisypbusa)beit war es, die kau)n der E)npirie ent¬
rückte Veteri)iärmedizi)i auf das Niveau ei)ier Wissenschaft zu
bringen; seinen geistigen Fähigkeiten und seiiier rastlosen Tätig¬
keit ist es gelungen, dieses Ziel zu erreichen. Daß unsere Schule
heute den Rang einer Hochschule einnimmt, verdanken wir zu)n
größten Teile dem Verstorbenen, ihm war die schwere Vorarbeit
zuteil und wir ernten nur das, was Roll in so reichlichem
Maße gesät hat.
Seine wissenschaftliche Tätigkeit begaiin er mit der Grün¬
dung einer Zeitschrift, welche unter dem Titel: ,,Oesterreichi3che
Vierbeljahresscbrift für Veterinärkunde“, im Vereine mit den da¬
maligen Mitgliedern der Schule herausgegeben wurde. Zu jener
Zeit das anerkannt beste Fachorgan, gleichgestellt den Akademie¬
schriften. Zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze, Ergebnisse seiner
Forschung und Experimente auf dem Gebiete der Seuchen¬
lehre, entstammend seiner geübten Feder, zieren jene Zeitschrift.
In der Tierseuchenfrage. in der Cestodenwanderimg und hin¬
sichtlich der Rinderpest hat Röll Hervorragendes geleistet.^
.Von den Lehrbüchern, die der Verstorbene verfaßt hat, sind
anzuführen: Lehrbuch der Physik für Tierärzte, Arzneimittel¬
lehre, Lehrbuch der Pathologie und Therapie und endlich die
Seuchenlehre. Die umfangreichen Werke haben allenthalben die
ungetrübte Anerkennung gefunden, sie sind wiederholt verlegt
und in die Kulturspracben übersetzt worden. Der damaligen
Zeit entsprechend, wurden in diese Lehrbücher verwandte Zweig¬
wissenschaften einbezogen, welche gegenwärtig selbständige Dis-
zipline)) bilden. Die allgemeine Pathologie, die pathologische Ana¬
tomie, die Parasitenkunde und in neuester Zeit die Bakteriologie
sind in seinen Lehrbüchern Pathologie und Seuchenlehre in
mustergültiger Art und eingehendst verwertet. Dabei ist die Ver¬
teilung des Lehrstoffes, die Sprache und die Fülle des Materiales
von der Beschaffenheit, daß diese Werke noch immer den ersten
Rang einnelunen und die reichhaltige Grundlage der moderne)i
Lehrbücher dieser Disziplinen ausmachen. Aus einem AVerke
Rölls konnten, dem reichen Inhalte nach, drei Bücher geschrieben
werden.
Als Lehrer wußte der Verstorbene seine Gegenstände so
fesselnd zu beherrschen, daß seine Schüler wie gebannt seiner
geistig durchdachten Rede lauschten und mit Befriedigung die
Lehrstunde verließen, weil sie sicher waren, ihr ^\ issen be¬
reichert zu haben.
Aber auch als Organisator hat der Verstorbene im Dienste
des Staates und zum Wolde der Menschheit Hervorragendes ge¬
leistet. Die Bedeutung der Tierseuchen vom materiellen Stand¬
punkte und die Gefährlichkeit der einzelnen gegenüber den
Menschen, kamen erst so recht zur Geltung durch die von Röll
verfaßten Gesetze der Seuchen tilgung — sein letztes und sein be¬
deutendstes Werk. Die Tierseuchengesejze aus dem Jahre 1880
sind noch heute dieselben geblieben, sie sind so geistig durch¬
dacht und vollendet, daßi selbst die Neuzeit a)i ihne)i nicht rütteln
noch irgend etwas verderben konnte. Ibre Bedeutung anerkennt
die ganze Welt und sie bilden die Grundlage aller Gesetze dieser
Art in den fremden Staaten..
Als Mensch war der Verstorbene allgemein geachtet und
geliebt; daß auch wir, seine- Schüler, Kollegen und Freunde,
den getreuen Lehrer und den großen Gelehrten^ hochachteten,
beweist der Umstand, daß seine Büste uiid sein Bild schon
lange die Ruhmeshalle unserer Hochschule zieren.
Die Verdienste des Verblichenen konnten nicht unbeachtet
bleiben, hohe Auszeichnungen seines Vaterlandes und des Aus-
la)ides Avurden ihm zuteil. Er war Ritter des Franz - Joseph-
Ordens, des Kronenordens Hl. Klasse, Ritter des k. r. Stanis-
lausordens H. und Hl. Klasse, des k. r. Annenordens H. Klasse,
von den Titeln si)rd anzuführen: k. k. Hofrat, Vlitglied des^ Obersten
Sanitätsrates, a. o. Universitätsprofessor, Referent i)n Ministerium
des Innerir, eine Position, welche Röll geschaffen hat und als
erster inne hatte ; ferner Ehrenmitglied zahlreicher wissenschatt-
licher Gesellschaften des In- und iVuslandes.
Während die sterbliche Hülle des Verblichenen der Erde
übergeben wird, strebt sein Geist den lichten Höhen des ev\ige)i
Lebens zu; seine Geisteswerke aber entflal lern nach allen Rich¬
tungen des Weltalles )ind werdoi i)u Herze)! seiner Schüler uue
Fachgenossen ei)i bleibe)rdes, elirendes Andenken i)nderr, der
Name Röll wird mit goldenen Lettern ruid unauslöschlicber Schritt
in der Literatur der Veterinärmedizin forlleben.
Ehre seinem Andenken!
Dr. Johann Csokor, k. u. k. Professor.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 22
biö
Vcrmisehte l^aehriehten.
Habilitiert: Dr. E. d’Anna für externe Pathologie in
Rom. — Dr. 0 r 1 o w s k i für innere Medizin an der milit.-med.
Akademie in Petersburg.
♦
Gestorben: ln Graz Hofrat Dr. Moritz Roll, außer¬
ordentlicher Universitätsprofessor d. R. an der WGener Universität,
vormals Mitglied des Obersten Sanitätsrates.
♦
Professor Geh. Med. -Rat Dr. Rob. Olshausen, Direktor
der Klinik für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe in Berlin,
feierte am 20. Mai das Fest der 50jährigen Doktor]ubelfeier.
♦
Donnerstag den 6. Juni d. J., um 5 Uhr nachmittags, findet
im Festsaale der k. k. Universität Wien aus Anlaß der Auf¬
stellung des Denkmals des Universitätsprofessors
Dr. Karl Stoerk eine Feier statt, bei der Prof. Ottokar Chiari
die Festrede halten wird.
>i<
Am 13. Mai d J. waren es zweihundert Jahre ,daßi Karl
V. Linne in Rashult in Smaland (Schweden) gehören wurde
Als Botaniker und Biolog mit unsterblichem Ruhm bedeckt, blieb
auch sein ärztliches Wirken nicht ohne Bedeutung. Schüler Boer-
haves, vertrat er in seinen wissenschaftlich-niedizinischen Arbei¬
ten iatromechanische und iatrochemische Ideen. In Upsala hekleidete
er eine Lehrkanzel für theoreti.sche und praktische Medizin und
wenn auch die Botanik immer mehr zur eigentlichen Domäne
seiner hahnhrechenden Forschungen wurde, so blieh er doch
immer zur praktischen und theoretischen Heilkunde in nahen
Beziehungen. In seiner Arbeit: Genera morborum (Upsala 1763)
führte er alle ansteckenden Hautkrankheiten auf Insekten und
Würmer zurück. So haben denn auch die Aerzte ganz besonderen
Anlaß, sich der allgemeinen Feier anzuschließen und sich mit
Stolz dessen zu erinnern, daß die.ser große Naturforscher aus
ihren Reihen hervorgegangen ist.
*
Die ungarische o p h t h a 1 m o 1 o g i s c h e Gesellschaft
hielt ihre dritte Versammlung in Budapest am 18. und
19. Mai 1907 ab.
*
Taschenbuch der me d.- klinischen Diagnostik.
Von Prof. Otto S e i f e r t - Würzburg und Prof. Friedr. Müller-
München. 12. Auflage. Verlag von J. F. Bergmann in Wies¬
baden. Preis M. 4. Das Werk hat entsprechend den Fort¬
schritten der diagnostischen Methoden in den letzten Jahren in
einzelnen Teilen gegenüber der 11. Auflage eine wesentliche Um¬
arbeitung erfahren.
♦
Das bekannte, von Dr. S. Nitzeinadel herausgegebene
Therapeutische Jahrbuch ist soeben im Verlage von
F. D e u t i c k e in Wien erschienen. Preis K 4’80. Der vorliegende
17. Jahrgang berücksichtigt die Literatur des Jahres 1906 u. zw.
in demselben Umfange wie in den früheren Jahren.
♦
Die therapeutischen Leistungen de s Jahres 1906.
(18. Jahrgang.) Bearbeitet von Dr. Arnold Pollatschek - Karls¬
bad und Dr. H. N ä d o r. Verlag von Bergmann, Wiesbaden.
Preis M. 8’60.
*
V o r 1 äu f i g e s E r g e b n i s der S a n i t ä t s s t a t i s t i k
bei der Mannschaft des k. u. k. Heeres im März 1907.
Krankenzugang 20.537 Mann, entsprechend pro MiHe der durch¬
schnittlichen Kopfstärke 74 ; an Heilanstalten abgegeben 7960 Mann,
entsprechend pro Mille der durchschnittlichen Kopfstärke 29 ;
Todesfälle 48 Mann, entsprechend pro Mille der durchschnittlichen
Kopfstärke OT.
*
Wie bereits gemeldet wurde, findet den 24. und 25. Mai 1907
in der JI. med. Klinik (Geheimrat Kraus) der konigl. Charite,
Schumannstraße 21, in Berlin die IV. Tuberkulose-Aerzte-
versanimlung und zwar mit folgendem Programme statt:
a) 23. Mai, nachmittags 4 Uhr: Besichtigung des Virchow-Kranken-
hauses. h) 24. Mai, vormittags ab 9 Uhr Vorträge: 1. Röntgen¬
durchleuchtung zur Diagnose- und Prognosestellung hei Lungen-
kranklieiten. Referent: Prof. Dr. Krause- Jena. 2. Die lymph-
angitische Entstellung des Lungenspitzenkatarrhs von den Hilus-
drüsen aus. Ein röntgenologischer Beitrag zur Frühdiagnose der
Lungentuberkulose. Referent: Stabsarzt Dr. S tuertz-Metz. 3. Die
Dauer der Heilstättenkuren. Referenten: Chefarzt Dr. Schröder-
Schömberg; Landesrat Dr. Alt hoff, Westfalen-Münster. 4. Er¬
fahrungen über Kinderheilstätten. Referent: Dr. Lau d graf f-
Belzig. 5. Die bessere Ausnutzung des Nordiseeklinias für die
Prophylaxe der Tuberkulose. Referent: Prof. Tj ade n- Bremen.
6. Welche Fälle von Larynxtuherkulose können in den Volks heil-
stätten mit Erfolg behandelt werden? Referent: Dr. Roepke-
Stadtwald/Melsungen. 7. Rationelle Rieselfeldbewirtschaftung im
Betriebe der Heilstätten. Referent: Dr. S c hu 1 1- Vogelsang. 8. Zur
Behandlung der Nachtschweiße der Phthisiker. Referent: Doktor
Heu er- Neuenkirchen, c) 25. Mai, vormittags 9 Uhr: Stand der
spezifischen Behandlung der Tuberkulose. Referent : Chefarzt
Dr. Bandelier- Kotthus.
Mit Bezug auf die einen Badearzt betreffende Mitteilung
in Nr. 14 dieser Wochenschrift, ersucht uns Herr Dr. Hugo
S c h m i e d 1 in Marienbad festzustellen, daß sich jene Notitz
nicht auf seine Person bezogen hat.
♦
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 18. Jahreswoche (vom 28. April bis
4. Mai 1907). Lebend geboren, ehelich 694, unehelich 255, zu¬
sammen 949. Tot geboren, ehelich 64, unehelich 31, zusammen 95.
Gesamtzahl der Todesfälle 800 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 20‘8 Todesfälle), an Bauchtyphus i,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 28, Scharlach 6, Keuchhusten 6,
Diphtherie und Krupp 6, Influenza 1, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 7,
Lungentuberkulose 146, bösartige Neubildungen 50, Wochenbett¬
fieber 1. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 35 (— 10), Wochen¬
bettfieber 1 ( — 4), Blattern 0 (0), Varizellen 44 ( — 42), Masern 431
( — 19), Scharlach 94 (-f- 1), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 7 (-{- 1),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 79 (-|- 15), Keuch¬
husten 61 (-j- 7), Trachom 1 (=), Influenza 0 (0).
19. Jahreswoche (vom 5. bis 11. Mai 1907). Lebend geboren,
ehelich 712, unehelich 304, zusammen 1016. Tot geboren, ehelich 77,
unehelich 26, zusammen 103. Gesamtzahl der Todesfälle 799 (i. e. auf
1000 Einwohner einschließlich der Ortsfremden 20'8 Todesfälle), an
Bauchtyphus 0, Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 29, Scharlach 1, Keuch¬
husten 2, Diphtherie und Krupp 10, Influenza 1, Cholera 0, Ruhr 0,
Rotlauf 5, Lungentuberkulose 149, bösartige Neubildungen 49, Wochen¬
bettfieber 3. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 48 (-|- 13),
Wochenbettfieber 3 (-j- 2), Blattern 0 (0), Varizellen 56 (-|- 12), Masern
420 ( — 11), Scharlach 140 (-}- 46), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus
3 ( — 4), Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 73 ( — 6),
Keuchhusten 66 (-f- 5), Trachom 1 (=), Influenza 0 (0).
Freie Stellen.
Gemeindearztesstelle in Annaber g, politischer Bezirk
Lilienfeld (Niederösterreich), mit 1. J u 1 i d. J. zu besetzen. Bezüge von
der Gemeinde, K 400, von der Kollekliv-Genossenschaftskrankenkasse
Annaberg K 500 — 600, vom Bezirksarmenrat Lilienfeld K 400. Die bis¬
herige Landessubvention betrug K 1200. Freie Wohnung, bestehend aus
drei Zimmern, Küche und Nebenräumen. Haltung einer Hausapotheke
erforderlich. Bemerkt wird, daß die Lostrennung der bisher mit Anna¬
berg zu einer Sanitätsgemeinde vereinigten Gemeinde Mitterbach im
Zuge ist. Gehörig instruierte Gesuche sind bis 1. J u n i d. J. beim
Gemeindeamte in Annaberg einzubringen, woselbst auch weitere Aus¬
künfte erteilt werden.
Gemeindearztesstelle in der Sanisätsgemeindegruppe
R e i d 1 i n g, politischer Bezirk Tulln (Niederösterreich), mit 1. Juli d. J.
zu besetzen. Die Sanitätsgemeindegruppe umfaßt die Gemeinden Reidling,
Hasendorf und Ponsee mit zusammen 1657 Einwohnern und 34'77 km*
Flächenraum. Gemeindebeiträge K 234, bisherige Subvention des nieder¬
österreichischen Landesausschusses K 800. Außerdem stellt die Gemeinde
Reidling dem Arzte eine freie Wohnung in einem neuen Hause bei.
Haltung einer Hausapotheke erforderlich. Bewerber haben ihre Gesuche
bis längstens 15. Juni 1. J. bei dem Bürgermeister in Reidling einzu¬
bringen.
Stelle eines Direktors der neuerrichteten Irrenanstalt in
Triest mit einem Jahresgehalte von K 8000 und zwei Quinquennal-
zulagen von je K 1500, freier Wohnung, Beheizung und Beleuchtung.
Dem Direktor ist die Ausübung der ärztlichen Praxis außerhalb der
Anstalt nur als Konsiliararzt gestattet und tritt derselbe mit dem Tage
der Eröffnung der Anstalt in den Bezug des Gehaltes und den Genuß
der sonstigen mit seiner Stellung verbundenen Rechte ein. Bewerber
um diese Stelle haben ihre mit den Nachweisen über das Alter, die
moralische Unbescholtenheit, die österreichische Staatsbürgerschaft, den
erlangten Grad eines Doktors der gesamten Heilkunde oder eines Doktors
der Medizin und Chirurgie, ferner mit den Zeugnissen über ihre bis¬
herige spitals ärztliche Verwendung in Irrenanstalten, ihre persönliche
Eignung und Ausbildung in psychiatrischer und administrativer Hinsicht,
sowie etwaige wissenschaftlich-publizistische Tätigkeit bis 10. Juni d. J .
im Wege des Einreichungsprotokolles des Stadtmagistrates, bzw., falls
der Bewerber bereits im öffentlichen Dienste steht, im Wege der Vor¬
gesetzten Dienstesbehörde bei der Stadtgemeindevorstehung Triest einzu¬
bringen. Weitere Auskünfte über die Agenden des Direktors der Irren¬
anstalt können entweder beim Stadtmagistrate (V. Sektion) oder vom
Stadtpbysikate (Ufficio dTgiene del Comune di Trieste) eingeholt werden
Nr. 22
679
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Verhaiidlungeu der Wiener dermatologischen Gesellschaft. Sitzung
am 24. April 1907.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Sitzung vom
12. März 1907.
Aerztlicher Verein in lirünu. Sitzung vom 24. April und 1. Mai 1907.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden, vom 15. bis
18. April 1907.
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu IJerliii.
3. Sitzungstag.
Verhandlungen der Wiener dermatologischen
Gesellschaft.
Sitzung am 24. April 1907.
Vorsitzender: Finger.
Schriftführer: Brandwein er.
Finger demonstriert den in der letzten Sitzung vor¬
gestellten Patienten mit einer Affektion des Gaumens. Die Diagnose
schwankte damals zwischen Tuberkulose und Gummen. Auf Dar¬
reichung von Jod kam es innerhalb kurzer Zeit zur völligen
Ausheilung der Affektion. Die bereits damals ausgesprochene An¬
nahme, daß es sich um Syphilis handele, wurde somit ex
juvantibus bestätigt.
Ehr.mann demonstriert: 1. Einen Fall von Tuberkulid.
2. Einen Fall von Lupus erythematodes. 3. Einen Fall von
Endarteriitis syphilitica.
Reines demonstriert einen Fall von Pityriasis lichenoides
chronica bei einem 12jährigen Knaben. Der ganze Körper —
exklusive Gesicht und Kopf — ist übersät mit einem polymorphen
Exanthem, dessen Effloreszenzen kleine, hirsekorngroße, schup¬
pende Papelchen und wachsfarbige, wie eingetrocknet aussehende,
flacher elevierte, linsenquerschnittsgroße Erhebungen und endlich
rein makulöse Formen darstellen. Anordnung diffus, ohne Bevor¬
zugung gewisser Stellen. Subjektiv keine Beschwerden.
Ehrmann macht darauf aufmerksam, daß ähnlich wie
bei Lues und Psoriasis an jenen Stellen, die dem Sonnenlicht
ausgesetzt sind, ein Leukoderma auftritt.
Spiegler demonstriert: 1. Einen Fall von Ulcus tubercu-
losum. 2. Einen Fall von Lupus vulgaris.
N o b 1 demonstriert : 1. Einen 30jährigen, gut aussehenden
Mann mit Tuherkulosis miliaris ulcerosa der Perianal¬
gegend. Die von Veränderungen freie Analapertur wird von einer
Reihe höhnen- bis kronenstückgroßer Ulzerationen umkreist, die
bei der steil abfallenden, vielfach sinuös exkavierten Be¬
schaffenheit der gev/ulsteten Säume und dem ausgenagten, schlaff
granulierenden Charakter des blassen, belegten Grundes unschwer
als tuberkulöse Läsionen anzusprechen sind. Bemerkenswert
erscheint der akneiforme Charakter einzelner, nach der Peripherie
hin versprengter Herde. Demonstrierte Gewebsschnitte zeigen
den charakteristischen Aufbau aus intakten und verkäsenden
Epitheloidzelltu berkein mit dem Einschlüsse Lang¬
haus scher Riesenzellen. Der seit iVa Jahren vernarbende und
aufbrechende Prozeß ist wohl im Sinne der exogenen Infektion
zu deuten, da ein kreuzergroßer, verruköser Lupusherd des
linken Vorderarmes, gleichwie spezifische Stimmbandverände¬
rungen erst seit wenigen Monaten hinzugetreten sind. Die Lungen
vollkommen normal.
2. Einen F all von Molluscum contagiosum
gi gante um bei einer 30jährigen Frau. Ueber der linken Kinn¬
hälfte sieht man eine beinahe kronenstückgroße, knopfförmig
prominente, kreisrunde, von konvexen Säumen umgrenzte, sich
knorpelhart anfühlende Geschwulst, die in einen äußerst straff
gespannten, perlgrau schimmernden Oberhautfalz eingelassen er
scheint und im Zentrum eine festhaftende Borke trägt. Trotz der
Aehnlichkeit mit einem überhäutenden Primäraffekt, fibrösen
Nävus und auch einem exkoriierten Epitheliom gestatten die
reaktionslose Umgebung, die besondere Härte der transparenten
Randzonen, gleichwie die zentrale Abflachung der gedeihen
Geschwulst, mit Sicherheit die prähistologische Diagnose auf ein
gigantisch gewuchertes Molluscum contagiosum zu stellen. Das
Ergebnis der Biopsie wird N o b 1 in der nächsten Sitzung unter¬
breiten. Daß nicht alle in der Literatur als Molluscum
contagiosum giganteum zirkulierenden Wahrnehmungen
dieser Krankheitsform zuzurechnen sind, sondern auch unrichtig
gedeutete Bromexantheme als Molluscum contagiosum giganteum
figurieren, ist bekannt und verpflichtet um so mehr zur histo¬
logischen Verifizierung des klinischen Befundes.
Die in acht Wochen erfolgte mächtige Entwicklung der
Geschwulst spricht für eine ganz ausnahmsweise intensiv auf-:
tretende Wachstumsenergie, welche wieder auf die besondere
Virulenz des pathogenen Agens den Rückschluß gestattet.
No bis positive Molluskumübertragung (Archiv f. Derm. u. Syph.
1895, Bd. XXXI) kam mit ähnlich virulentem Ausgangsmaterial
zustande.
E. Spitzer demonstriert: 1. einen Fall von Skrophulo-
defma mit Lichen scrophulosorum ; 2. einen Fall von Lupus
vulgaris mit Skrophuloderma.
^ M. Oppenheim demonstriert einen Fall, dessen drei
klinisch verschieden aussehende Hautaffektionen sich vielleicht
doch unter einem Gesichtspunkte beurteilen lassen.
Der 30jährige Geschäfsdiener hat an der Dorsalseite seiner
Finger, am Handrücken zerstreut, bis bohnengroße, blaurote,
scharf begrenzte Knoten, von denen manche mit Blasen bedeckt
sind, so namentlich die am Nagelfalz sitzenden, manche wieder
zentrale Depressionen und erweiterte Follikel zeigen. An der
Haut des Stammes, namentlich an den Seitenteilen des Thorax
und stellenweise an den Streckseiten der oberen und unteren
Extremitäten, finden sich teils pigmentierte, unregelmäßige, hanf¬
korngroße Narben, teils blaurote Knötchen von verschiedener
Größe, die stellenweise an ihrer Spitze eine Pustel tragen.
■ Ferner zeigt der Pat. an der fast kahlen Stirn- und
Scheitelgegend hellrote Knötchen, die zentral gelbe Borkchen
tra'gen, nach deren Entfernung kleine blutende Dellen Zurück¬
bleiben. Dazwischen und im Gesichte leicht grubig vertiefte
Narben. Die Nase ist blaurot, zeigt Gefäßektasien und erweiterte
Follikel. Auch die Ohren sind blaurot, an den freien Rändern
sehr verdünnt.
j Die Affektion des behaarten Kopfes besteht seit mehreren
Jahren.
Man könnte Perniones, Acne cachecticorum und Folliculitis
decalvans diagnostizieren. Vielleicht wäre es möglich, die drei
Affektionen unter dem Bilde von Skrophuliden zusammenzufassen
als zu einer tuberkulösen Disposition gehörig.
' Ehr mann: Dies ist nicht als akneiformes Tuberkulid zu
bezeichnen. Hier ist Eiter vorhanden. Für Tuberkulide ist
charakteristisch, daß direkte Nekrose auf Grund von Phlebitiden
eintritt. Es dürfte sieh um Acne cachecticorum im Sinne der
Alten handeln. An der Nase besteht beginnender Lupus pernio,
aber nicht Typus Hutchinson.
Oppenheim möchte doch auf die Diagnose Tuberkulid
zurückkommen. Die Narben am Kopfe entsprechen nicht der
Acne necrotisans, sondern eher der Folliculitis decalvans.
Spiegler: Am Kopfe, an der Stirnhaargrqnze .und
Nase bestehen kleine Eruptionen, die mit Hinterlassung kleiner,
seichter Narben heilen. Ueberdies liegt hier eine außerordentlich
seborrhoische Haut vor. Ueber die Berechtigung, dies al§ Tuber¬
kulid zu bezeichnen, läßt sich streiten. . ,
S ch e r b e r stellt aus der Klinik Fingers einen typischen
Fall von Pityriasis lichqnoides chronica vor. Der
28jährige Pat., ein Kellner, wurde von Dr. Schneider an
unsere Klinik geschickt. Die Affektion nimmt ziemlich gleich¬
mäßig den ganzen Rumpf, die oberen Extremitäten, sowie die
Oberschenkel ein. Das Krankheitsbild ist wiederum aus knötchen¬
förmigen und fleckförmigen Effloreszenzen zusamrhengesetzt. Die
ersteren überwiegen jedoch bedeutend an Zahl upd erscheinen in
ihrer frühesten Entwicklung als orangerote oder frischrote
Knötchen von Stecknadelkopfgröße, sind dabei rundlich oder
Ißicht unregelmäßig, auch oval begrenzt. Die 'größeren Knötchen
erscheinen intensiv rot gefärbt, treten deutlich hervor und
einzelne, fast linsengroße sind von ablösbaren Schuppen gedeckt
und erscheinen daher mehr gelbrot gefärbt.
An den Oberschenkeln zeigen die Effloreszenzen einen
mehr lividen Farbenton. Die fleckförmigen Effloreszenzen finden
sich — in geringer Zahl zerstreut — am Rumpfe, reichlicher auf
den Oberarmen, sind von lachsroter Farbe und in toto von einer
ablösbaren Schuppe gedeckt. An den Vorderarmen finden sich
reichliche, zu gelbbräunlichen Flecken zurückgebildete Efflores¬
zenzen, während an den Seitenteilen des Thorax Gruppen mehr
livid gefärbter, fleckförmiger Effloreszenzen zu sehen sind, wo¬
durch die betreffende Hautpartie ein marmoriertes Aussehen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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erhält. Die AfTektion besteht seit zwei Jahren, tritt immer im
Frühjahre intensiver auf. Bei diesem Falle besteht namentlich
nachts stärkeres Jucken.
Finger macht darauf aufmerksam, daß angegeben wird,
daß Pityriasis lichenoides chronica nicht heilt, keine
regressiven Veränderungen macht, die Affektion nur allmählich
vorwärts geht, daß alte Knötchen schwinden und andere neue
auftreten. Finger beobachtete einen Typus annuus. Im Sommer
vergeht die Affektion. Die Haut verändert sich bläulich. Im
Winter kommt ein Schub neuer Knötchen.
Müller stellt aus Fingers Klinik vor: 1. Zwei
Mädchen mit ziemlich analogen Krankheitsbildern Der eine Fall,
ein Ojähriges Kind, zeigt über den Körper diffus verteilte, fast
immer einzeln stehende, gelbbraune, schuppende, lichenoide
Knötchen, daneben — an den Außenflächen der Arme — aknei-
forme, rote Papelchen, mit einer kleinen Pustel im Zentrum.
Feber der linken Kubitaldrüse sieht man ein älteres Skrophulo-
derma. Es handelt sich um einen Fall von Lichen scrophu-
1 o s o r u m mit Acne s c r o p h u 1 o s o r u m. — Die zweite
Pat., ein 12jähriges Mädchen, zeigt das gleiche Krankheitsbild,
nur zeigen die lichenoiden Effloreszenzen gruppenweises Auf¬
treten und Neigung zu Konfluenz. Auf diese Weise kommen
rötliche, diffus schuppende, ekzemähnliche Plaques zustande,
deren Randpartie erhaben und deren Zentrum eingesunken er¬
scheint. Nur wenige randständige Knötchen zeigen noch das
typische Bild des Lichenknötchens. Während aber die Er¬
scheinungen des Lichen und Ekzema scrophulosorum sehr aus¬
gebreitet und intensiv — im Vergleiche zu dem früheren Falle —
vorhanden sind, sieht man von Akneeffloreszenzen nur wenige
am rechten Unterarm. Auch dieses Kind zeigt Zeichen von
Skrophulose und Skrophuloderma.
2. Eine 23iährige Frau mit Lichen syphiliticus. Pat. war
vor einem halben Jahre mit Sklerose und makulösem Exanthem
an der Klinik. Jetzt zeigt sie über den Körper verteilte Plaques
eines Rezidivexanthems. Am Halse und am Rücken sieht man
je einen über handtellergroßen Plaque, der sich aus isoliert
stehenden, braunroten Knötchen zusammensetzt, die an ihrer
Kuppe ein Schüppchen tragen oder flach abgekappt erscheinen.
Die Aehnlichkeit mit Lichen ruber planus-Effloreszenzen ist eine
ungemein große, nur fehlt die polygonale Zeichnung und die
zentrale Dellung. Am Bauche und an den unteren Extremitäten
finden sich Herde, die durch Konfluenz der einzelnen Knötchen
entstanden zu sein scheinen. Hier sieht man zentral bereits Ab¬
heilung, zum Teil mit Pigmentation, während am Rande ein
Kranz frischer Effloreszenzen zu sehen ist. Manchmal sieht man
um eine zentrale Papel einen leukodermaähnlichen Ring, um
den sich erst die papulösen, zum Teil konfluierten Effloreszenzen
gruppieren.
Finger: Im Zentrum der Scheiben findet sich ein braun¬
rotes Pigmentfleckchen ; um diese Stellen ist an einzelnen
Effloreszenzen Atrophie des Pigments, Leukoderma. Dann kommt
nach außen die Zone von in Gruppen beisammen stehenden
Effloreszenzen.
K y r 1 e demonstriert aus der Klinik Finger eine Patientin
mit multiplen Syringo-Zystadenomen. Die Tumoren sitzen zum
Teile diffus auf der Haut des Stammes, zum Teil zeigen sie
Gruppenanordnung, wie in der epigastrischen Gegend, in der
Halsgrube und in der Supraklavikularregion. Das demonstrierte
histologische Präparat zeigt nichts vom gewöhnlichen Bilde Ab¬
weichendes.
G e 1 1 i s stellt vor : Eine 20jährige Pat. aus der Ambulanz
Weidenfeld. Sie zeigt an der Vorderseite des linken Unter¬
schenkels einen über handtellergroßen, scharf begrenzten Herd
von dunkelrötlicher Farbe, mit bräunlichem Stich ; derselbe ist
mit zarten Schuppen besetzt und löst sich am Rande in ein¬
zelne, rein follikulär gestellte Knötchen auf, die ein Schüppchen
tragen. Gegen die Außenseite zu zeigt sich Abheilung in
Form einer braun pigmentierten Fläche mit zahlreichen follikulär
gestellten Närbchen. Auch am linken Oberschenkel, sowie
am rechten Unterschenkel finden sich noch mehrere, gleich¬
falls zirka handtellergroße Herde, die aber meist in weiter vor¬
gerücktem Heilungsstadium sich befinden, so daß sie sich als
hraun pigmentierte, runde Herde präsentieren, innerhalb welcher
sich Narben und frische, follikulär gestellte Knötchen mit
Schuppen zeigen.
Außerdem findet sich am rechten Unterarm ein talergroßer,
kreisrunder, hräunlichrötlicher zarter Fleck, nach dessen Anämi-
sierung noch eine zarte Braunfärbung bleibt ; zwei kleinere
gleichartige Flecke befinden sich am rechten Oherarm.
Aus den angeführten Charakteren der Erkrankung läßt sich
ohne weiteres die Diagnose gruppierter Lichen lueticus
für die Affektion an den Beinen stellen, während die Flecke am
rechten Arm als Roseola, u. zw. als Spätroseola gedeutet
werden müssen.
Finger erwähnt das gleichzeitige Vorkommen von Roseola
und Lichen syphiliticus. Boi Skrofulösen sieht man nicht selten
eine Roseola ; auf dieser entsteht ein Lichen syphiliticus. Die
Roseola schwindet und der Lichen bleibt bestehen.
Müller demonstriert ein 19jähriges Mädchen mit Sklero¬
dermie und Sklerodaktylie. Die Haut der Wangen ist glänzend,
schwer faltbar, die Nase erscheint schnabelartig verschmälert,
die läppen verkürzt. Die Haut der Oberarme zeigt gleichfalls
erhöhten Glanz, doch nur geringgradige Starrheit. In höherem
Grade sind diese Erscheinungen an beiden Händen ausgesprochen.
Hier sieht man auch schon Zeichen vorgeschrittener Atrophie.
Doch sind die Erscheinungen an der Haut nicht so hochgradig,
utn die Kontrakturstellung und Verkürzung einzelner Fingerglieder
erklären zu können. Das Röntgenbild zeigt Auffaserung der
Knochenenden, Verschwinden der Gelenkslinien durch Konsumption
der Gelenke, sowie Subluxation in einem Gelenke.
Finger macht auf die Erscheinung an den Händen auf¬
merksam. Pat. erhielt Fibrolysininjektionen. Dadurch ist die
Straffheit geringer geworden. Eigentümlich ist die Kontraktur der
Hand und Finger, die an eine tiefere Palmarkontraktur erinnert,
eine Art Kontraktur der Palmarfaszie.
W e i d e n f e 1 d : Im allgemeinen gilt Sklerodermie als eine
Erkrankung der Haut. Es scheint aber auch Fälle zu geben, wo
tiefer liegende Partien beteiligt sind, Knochen, Sehnen, Faszie ;
Fälle, wo man noch ganz intakte Haut findet. Interessant ist die
Kombination mit der Gesichtssklerodermie.
Kren macht darauf aufmerksam, daß man relativ häufig
die Sklerodermie nicht in der Haut, sondern in der Muskulatur
beginnen sieht. Er demonstriert einen hieher gehörigen Fall, ein
65jähriges Fräulein, an dem man besonders an den Extremitäten
und am Halse die Haut an vielen Stellen noch normal, die
Muskulatur hart, infiltriert findet. Obwohl z. B. die Haut in der
Kubita beiderseits noch vollständig gesund — weder ödematös
noch atrophisch — ist, kann die Pat. im Ellenbogen nicht voll¬
ständig strecken.
Der primäre Sitz der Sklerodermie in den Muskeln wird
auch häufig in der Zunge beobachtet. Man findet da die Schleim¬
haut und das Frenulum der Zunge oft normal und doch können
die Patienten die Zunge bloß bis an die Zahnreihe vorstrecken. Da
spielt sich der Prozeß in der Muskulatur des Mundbodens oder
in der Muskulatur der Zunge selbst ab, ein Phänomen, auf das
schon vor langer Zeit Köbner und später Wolters hin¬
gewiesen haben.
Weidenfeld erwähnt anschließend, daß auch Sklerodermie
der inneren Organe vorkommt, des Herzens und der Speiseröhre.
Kren: Eine Patientin der Klinik mit Sklerodermie erbricht
seit drei Wochen. Die Untersuchung hat nichts Bestimmtes er
geben. Vielleicht ist hier auch der Magen an der Sklerodermie
beteiligt.
Ullmann: Nicht nur Veränderungen des Knochens in
Form von Auffaserung, sondern auch konzentrische Atrophie, ja
vollständige Resorption ist beobachtet worden. Aber auch Ver¬
änderungen der Schilddrüse sind bekannt u. zw. Atrophie, mit¬
unter auch Hypertrophie. Er meint, daß bei dem Mädchen
Atrophie der Schilddrüse besteht.
Müller: Die Pat. bekam früher durch längere Zeit zwei
Thyreoidintabletten täglich und war hiebei ein Rückgang der Er¬
scheinungen zu bemerken.
W e i d e n f e 1 d bemerkt, seinerzeit sei Massage mit Erfolg
vorgenommen worden. Thiosinamin hatte keinen Erfolg. Jetzt
soll Fibrolysin genützt haben.
Müller: Ueber Thyreoidin könne er nichts Bestimmtes
aussagen. Thiosinamin scheine gute Wirkung zu haben, ähnlich
auch Fibrolysin.
Finger: Zweifellos trete auf Verabreichung von Thiosin¬
amin ein guter Erfolg ein ; derselbe sei aber nur temporär und
der Status quo ante stellt sich wieder ein, wenn man mit der
Therapie aussetzt.
Weidenfeld stellt vor: Einen 23jährigen Hilfsarbeiter
mit einem Lichen ruber planus verrucosus an den unteren
Extremitäten. Es finden sich über beiden Tibiakanten handteller¬
große gelappte Plaques von unregelmäßiger, rauher, brauner
Oberfläche, die von einem blauroten Halo umsäumt erscheinen.
An den Oberschenkeln finden sich kreuzergroße Plaques von
annulärem Typus, deren Zentrum gleichfalls braun gefärbt er¬
scheint, deren Peripherie jedoch von an einer Stelle breiterem,
an der anderen Stelle schmälerem Knötchensaum begrenzt er¬
scheint. Außerdem finden sich zahlreiche, follikulär gestellte.
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mehr weniger spitze, bis hcalbkugelige Effloreszenzen von Linsen¬
größe, die an der Spitze ein Schüppchen tragen. Auch an der
Bauchgegend ähnliche Effloreszenzen und Herde von Lichen
spinulosus ähnlichen Knötchen.
An den Streckseiten der Vorderarme finden sich den an
den Oberschenkeln beschriel)enen ähnliche Knötchen, aus deren
Follikelhals sich ein Epidermispfropf herausdrücken läßt.
Es handelt sich also um einen Uebergang in dem Typus
dieser Effloreszenzen von Lichen planus zum Lichen ruber
acuminatus, ohne den Typus der einen oder der anderen Form
genau wiederzugeben.
Finger demonstriert zwei Fälle von gruppiert papulösem
Syphilid.
Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien.
Sitzung vom 12. März 1907.
Vorsitzender : Hof rat 0 b e r s t e i n e r.
Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. E. Raima nn.
a) D e m o n s t r a t i 0 n e n :
Dr. Bär any demonstriert eine 26jährige Frau mit lueti¬
scher Erkrankung des linken Labyrinthes. Das Besondere des
Falles liegt darin, daß das Gehör fast vollständig intakt ist,
während der Vestibularapparat vollkommen aüßer Funktion ge¬
setzt ist. Die verheiratete Patientin erkrankte vor zwei .lahren
an Lues nnd machte auf der Klinik Riehl eine Schmierkur mit.
Vor drei Monaten erkrankte sie plötzlich mit Drehschwindel, links¬
seitigem Ohrensausen und Erbrechen. Sie erhielt .Todkali, wor¬
auf der Schwindel sistierte. Vor drei Wochen — einige Zeit nach
dem Aussetzen des Jodkaligebrauches — erkrankte sie neuer¬
dings an Drehschwindel. Derselbe war so heRig, daß sie durch
acht Tage im Bette liegen mußte. Wenn sie ruliig lag, -war der
Schwindel geringer, bei jeder Bewegung steigerte er sich. Wieder¬
holt trat Erbrechen auf. Linksseitiges Ohrensausen war kon¬
tinuierlich vorhanden. Eine Herabsetzung der Hörscliärfe hat
Pat. nicht bemerkt. Als der Schwindel nachließ, suchte sie die
Klinik auf. Die Untersuchung ergab : Trommelfelle beiderseits
nahezu normal, SpUr eingezogen. Tuben gut durchgängig. Gehör
für Flüstersprache beiderseits 6 m. Weber nach links. Rinne
l)eiderseits und Knochenleitung links kaum verkürzt, rechts nor¬
mal (links Sausen). Hohe und tiefe Töne beiderseits gut gehört,
links ist die Luftleitung für alle Stimmgabeltöne minimal verkürzt.
Es besteht starker spontaner, rotatorischer und horizon¬
taler Nystagmus nach links, besonders bei Blick nach links, bei
Blick nacb recbts Rübe. Bei Blick geradeaus besteht ebenfalls
Ruhe der Augen. Setzt man der Patientin eine Brille mit un¬
durchsichtigen Gläsern auf und läßt sie in diese Brille hinein¬
sehen, so bemerkt man kräftigen, horizontalen Nystagmus nach
rechts. Es wird hei diesem Versuche die Fixation des Blickes
unmöglich gemacht, welche hemmend auf vestibulären Nystag¬
mus wirkt. Subjektiv besteht derzeit kein Schwindel, keine Schein¬
bewegung der Gegenstände oder des eigenen Körpers. Neigt man
den Kopf der Patientin nach rückwärts, läßt man sie sich bücken,
den Kopf nach links neigen oder rasch nach links drehen, so
wird der spontane Nystagmus nach links verstärkt und es tritt
wieder subjektiv etwas Schwindel auf. Dreht man die Patientin
auf dem Drehstuhle mit aufrechter Kopfbaltung zehnmal_ nach
reclits, so treten beim Anhalten (während die Patientin in die
Brille mit den undurchsichtigen Gläsern blickt) fünf horizontale
Nystagmusscbläge nach links in 15 Sekunden auf, dann besteht
einige Sekunden Ruhe der Augen, worauf sich der spontane
Nystagmus horizontalis nach rechls anschließt. Droht man die
Patientin in derselben Kopfstellung zebnnial nach links, so treten
l)eim Anhalten 60 große Nystagmusschläge nach rechts in 28 Se¬
kunden auf, worauf wieder der spontane Nystagmus nach rechts
wie vorher sich anschließt. Neigt man den Kopf der Patientin
ca. 90° nach vorne und dreht sie zehninal nach rechts, so tritt
beim Anhalten bei Blick nach links fast kein rotatorischer Ny¬
stagmus nach links auf und der Nystagmus rotatorius nach rechts
l)ei Blick nach rechts ist nur wenig schwächer. Dreht man die
Patientin bei vorgebeugtem Kopfe zehnmal nach links, so tritt
beim Anhalten eine sehr wesentliche Verstärkung des spontanen
Nystagmus nach rechts durch ca. 20 Sekunden auf. Spritzt man
das linke Ohr mit Wasser von 12° C aus, so ändert sich au dem
spontanen Nystagmus nichts. Spritzt man das rechte Ohr mit
12° Wasser aus, so tritt an Stelle des Nystagmus rotatorius nach
rechts, Nystagmus rotatoi'ius nach links auf. Alle die ange¬
führten Erhebungen lassen die Diagnose auf völlige^ Unerreg¬
barkeit des linken Vestibularapparates, resp. auf Lähmung des
Neiwus vestibularis stellen. Ueber die ausführliche Begründung
der Berechtigung dieser Diagnose siehe meine ausführlicbe Arbeit;
Untersucliungen über den vestibulären Nystagmus etc., Monats¬
schrift für Ohrenheilkunde 1906.
Würde in diesem Falle kein Ohrensausen bestehen, so wäre
die Diagnose über den Sitz der Erkrankung völlig unklar. Sie
könnte im ganzen Verlaufe des Nervus vestibularis vom Bogen¬
gangapparate bis zu den Augenmuskelkernen sitzen. Die Ver-
gcsellscbal’tung der Lähmung des Vestibularapparates mit Ohren¬
sausen läßt die Diagnose auf den Sitz der Erkrankung in dem
Bereiche „Bogengangapparat bis Eintritt des Nervus vestibularis
in die Medulla oblongata“ stellen.
Diskussion: Prof. v. Frankl-Hochwart muß für den
vorgezeigten Fall annebmen, daß auch der Hörapparat (im engeren
Sinne) geschädigt sei; dafür spräche der lateralisierte Weber.
Der Fall gehört daher in die Gruppe des Meniereschwindels
bei wenig affizierter Hörschärfe, in jene Gruppe, die v. Frankl-
Hochwart vor mehreren Jahren an einigen Beispielen ge¬
schildert hat. Der einzige Fall von beglaubigter ricli tiger Dia¬
gnose auf Vestibularscliwindel bei völlig intaktem Gehöre wurde
von V. Frankl-Hochwart publiziert; es handelte sich um
einen Vlann, der typische Drehschwindelanfälle mit Erbrechen
und OlnensaUsen hatte, bei dem die Hörschärfe eine ausge¬
zeichnete war und alle Stimmgabel versuche normale Verhält¬
nisse auf wiesen. Erst nach längerer Zeit sank die Hörschärfe
auf dem rechten Ohre ganz bedeutend; es traten Zeichen einer
nervös^'U Hörstörung auf, während das übrige Nervensystem in¬
takt blieb.
Reg.-x4rzt Dr. Mattauschek stellt einen Fall von hyste¬
rische m D ä m m c r z U s 1 a n d (G a n s e r) mit linksseitiger,
totaler Anästhesie und linksseitigem Schwitzen des Gesichtes aus
der psycbiatriscbeii Abteilung des Garnisonsspitales Nr. 1 in
Wien vor.
Infanterist P., 22 Jahre all, 15. Januar 1907 eingerückt.,
29. Januar desertiert nach Oodenburg, dort selbst gemeldet. Am
12. Februar nach Wien transferiert, 2. März desertiert, in Mauer
aufgegriffen, am Marodezimmer beobachtet. Schweigend, apa¬
thisch, nachts, unruhig, gestikulierend, Blick starr vor sich, zögernde
oft falsche Antworten.
10. März Spital. Eindruck des Verträumten, Automaten-
haiten. Gehemmten, blickt auch beim Examen starr vor sich',
hat wenig Aufmerksamkeit für seine Umgebung, benimmt sich aber
sonst ziemlich komponiert.
Steht unter dem Einflüsse lebhafter Gehörstäuschungen,
nimmt oft und plötzlich verschiedene militärische Stellungen an.
Auf Fragen antAvortet er langsam, zögernd, macht vorher und
auch spontan Sprechinnervationen ähnliche Bewegungen mit den
liippen. Er zeigt typische Paralogie — jetzt Sommer, Ring -=
Knopf, Woche — drei Tage, Tag = sechs Stunden, 4 X 4 = 20,
5 X 4 = 24, 6 X 4 = 28, 9 X 4 = 12, Handschuh = Sacktuch, hat
keine Eltern, Blatt Papier = Buch, Bruder und Vater beim Mili¬
tär u. dgl. Die Antworten gehören richtigen Vorstellungskreisen
an, Auffassung und Denken sichtlich durch affektbetonte Vor¬
stellungen gehemmt.
Somatischer Befund: Anästlresie und Analgesie der
ganzen linken Körperhälfte, auch der Zunge und Älundschleun-
haut, Würgreflex nur rechts auslösbar, Ohr- und Nasenkitzel¬
reflex links aufgehoben, Kornealreflex beiderseits jnompt, des¬
gleichen Haut- und Sehnenreflexe. Gesichtsfeld nicht zu prüfmi.
Die linke Gesichtshälfte zeigt deutlich in der Mittellinie ])egrenz-
ten, nicht durch Bewegungen bedingten, hauptsächlich Avährend
längerem Examen auftretenden Schweißausbruch, außerdem (lu-
selbst stärkeren, nachhaltigen Dermographismus. Pupillen gleich-
Aveit, prompt reagierend.
Der Fall bietet alle von den verschiedenen Autoren (Gan¬
ser, W’^estphal, Raecke, V erster) geforderten und charak¬
teristischen Symptome und ist durch die halbseitigen vasomotori¬
schen Erscheinungen bemerkensAvert.
Assistent Dr. 0. Pötzl demonstriert mikroskopische Prä¬
parate eines Falles AU)n Delirium acutum, bei dem Strep tokokken-
thromben in den Gefäßen der Hirnrinde, sowie des Stammes
an vielen Orten nachgeAviesen werden konnten. Die bakterio¬
logische Untersuchung des Falles ergab Reinkulturen von Strepto¬
kokken in langen Ketten. (Der Fäll ei'scheint andenvärts aus-
fülu'lich.)
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. A. Fuchs, Dr. Pötzl.
b) Zur Amrgleichendon Analomie des Nucl. ruber teilt Doktor
Hatschek in vorläufiger Mitteilung (eine ausführliche Arbeit
orscb(dnt im nächsten Bande der Arbeiten aus dem WTener neuro¬
logischen Institute) mit, daß der Nucl. niber aus zwei Teilen
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licslolit, einem großzelligen, kaudal gelegenen und einem klein¬
zeiligen, oral gelegenen. Der erstero ist bei den niederen Säugern
sehr stark entwickelt, bildet sich in der Affenreibe zurück und
ist beim iMensclum als Rudiment caudal vom eigentliclien Nucl,
ruber vorhanden. Der Nucl. ruber des iMenschen ist der sehr
stark entwickelte, kleinzellige Anteil, der bei den Säugern von den
Affen al)wärts gering ausgebildet ist. Der Nucl. magnocellularis
ist der IJrsprungskern für das Monakowsche Bündel, der Nucl.
parvicellularis repräsentiert einen ,, Großhirnanteil“ des Nucl. ruber.
Parallel mit der Entwicklung des großzelligen Teiles des Nucl.
ruber entwickelt sich der Nucl. dentatus des Kleinhirnes und
der ventrale Anteil der Bindearmkreuzung, während die übrigen
Kerne der Kleinliirnhemispliären, die im Gegensätze, zum rück-
gebildeten Embolus und Nucl. globosus des Menschen bei den
Säugern relativ prävalieren, mit dem dorsalen Anteile der Binde¬
armkreuzung dem Nucl. ruber magnocellularis entspreeben. Be-
merkensAvert ist, daß beim A teles sowohl Nucl. ruber paiud-
cellulai'is als auch Nucl. dentatus höher entwickelt sind als bei
den niederen, katarrbinen Affen. Vortr. bringt dies mit der Diffe-
renziei'ung der Extremitäten in Verbindung und siebt in dem
Nucl. dentatus und Nucl. ruber par\dcellularis koordina torische
Begulationszentren, die parallel der Großhirnentwicklung ange-
Avachsen sind, Avährend die primären, phylogenetiscben Bewe¬
gungsautomatismen ■ — vertreten im Nucl. ruber magnocelhdaris,
soAvie im Embolus und Nucl. globosus — sich rückgebildet haben.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Karplus, Dr. Hatschek,
c) Vortrag.
Priv.-Doz. Dr. Hirschl: Dementia praecox und Sy¬
philis. (Erscheint ausfülutich in dieser Zeitschrift.)
Diskussion: Prof. Dr. L. v. Fra nkl-HocliAvart Avill
hauptsächlich auf ein Detail eingehen, das von Hirschl eben¬
falls berührt A\mrde. Er ist auch der Meinung, daß nicht nur
die Leute mit Nervenlues oft Kinder mit nervöser MinderAvertig-
keit zeugen; auch nach seiner Pirfahrung haben Luetiker, die
keine NerAmnsymptome aufAveisen, oft pathologische Deszendenz
im obgenannten Sinne. Abgesehen von dem Vorkommen von
Psychosen, progressiver Paralyse, Imbezillität, sind nicht selten
andere psycbische Störungen geringeren Grades zu vermelden:
Die Kinder sind oft sehr erregt, unträtabel, geistig leicht zurück¬
geblieben, mit .moralischen Defekten behaftet; partielle Ueber-
begaluing in irgendeiner Bichtung kann damit einliergehen.
V. I^'rankl-IIochAAmrt meint, daß Lues der Eltern keine geringe
Bolle für das Auftreten der Epilepsie in der Deszendenz spielt.
Es Aväi'e außerordentlicli Avichtig, eine ungefähre Statistik zu
besitzen, Avie groß die Wahrscheinlichkeit sei, daß ein Luetiker
minderwertige Kinder erzeuge. Eine solche Statistik wäre nur
durch eine große Sammelforschung zu erreichen, Avelche sich
hauptsächlich an die Hausärzte wenden müßte, die die Schick¬
sale der Familie durch Jahrzehnte verfolgen können. Die er-
Avähnte Sache berührt auf das ernsteste die Heiratsfrage der
Luetiker; man sieht, daß die Gefahr derartiger Ehen sich nicht
daran erschöpft, daß die Patienten selbst Spätlues oder Met;ilues
bekommen; der Umstand, daß die Frauen der Luetiker bisAA'eilen
Nervenlues bekommen, ohne daß je eine Infektion der ersteren
nachgeAviesen Avurde, der Umstand, daß die Kinder, auch Avenn
sie nicht luetisch Avaren, doch offenbar nicht zu selten minder-
Avertig sind, gibt bezüglich der Zustimmimg zur Ehe bei soge-
nannlen ,, geheilten“ Luetikern viel zu denken.
Priv.-Doz. Dr. Pilcz: Die Ergebnisse Hirschls, die er mir
l)ereits privat mi zuteilen so lieb^nsAVürdig war, interessierten mich
um so mehr, als sie in höchst erfreulicher Weise vollständig mit
iiKdiien Untei’suchungen ühereinstimmen, ül)er die ich, gleich¬
falls privat, Kollegen Hirschl schon berichtet hatte. Ich möchte
mir erlauben, aus einer größeren Arbeit, über Hereditätsfrageji, die
demnäebst publiziert AAmrden Avird, die Ergebnisse, soweit die
Dementia praecox in Betracbt kommt, hier kurz mitzuteilen.
Von 41 G P“ällen von Demenlia praecox, bei Avelchen über¬
haupt irgendein erblich belastendes Moment zu eruieren Avar,
bestand in 5-12°() direkte Belastung (d. h. von seiten der Eltern)
durch Tabes, Aväbrend diese Krankheit in der .Xszendenz zum
Beispiel der Paranoiker nur in 0-51 %, in der der Fälle von ma¬
nisch-depressivem Irresein nur in OG4‘Vo Vorgelegen hatte.
Zieht man die Belastung von seiten der Eltern init Psychosen
in Betracht, so ergibt sich zunächst ein nicht unbeträchllicher
Pnlerschied zAvischen den kalatonen und den einfach hebe-
phreniseben AX'i'blödenden Formen der Dementia praecox. Von
alhui Hereditären schlechtweg unter diesen 416 Fällen sind 2tVo
durch Eltern mit Psychosen belastet bei letzteren Formen, da¬
gegen 32Vo bei ersteren (beim manisch-depressiven Irresein zum
Beispiel lauten die Ziffern 44®/o).
Viel interessanter aber ist die spezielle Form der psychoti¬
schen Veranlagung. Dieselbe Avar in 44 Fällen der einfach hebe-
phrenen und in 27 Fällen der katatonen Form zu eruieren (in¬
dem die Ellern auch in Anstaltspflege Avaren). Von den 44 Fällen
lag in 23 (51-lGho) ])rogressive Paralyse bed Vater oder Mutter
Amr, dagegen z. B. nur in G-OSk'o Belastung durch manisch-depres¬
sives Irresein oder jMelancholie, Paranoia etc.
Bei den 27 Katatonikern bestand in nicht ganz 20ho Para¬
lyse Amn seiten der Aszendenz, ebenso stark aber Avar auch die
Belastung durch Paranoia, Alkoholpsychosen etc.
Eine ähnliche auffallende Häufung und Zusammengehörig¬
keit zeigt sich aber auch, Avenn man der Belastung durch Ge-
scliAvister allein nachgeht. Bei 47 Fällen einfacher Hebephrenie
kam bei den GescliAvistern vor: lOmal Paralyse, 26mal Hebe¬
phrenie, Gmal Katatonie; bei 75 Paralytikern 48mal Paralyse,
llnial Dementia praecox.
Auf andere, recht bemerkensAverte Verhältnisse der Heredit,ät
der Dementia praecox, speziell unter Berücksichtigung der ,, ent¬
lastenden“ Momente im Sinne der v. Wagn ersehen ,, Immunität“,
kann ich natürlich heute nicht eingehen, da dies von dem Thema
,, Syphilis und Dementia praecox“ zu AA^eit abführen Avürde.
Dr. E. Stransky anerkennt die Wichtigkeit der Aa)n
Hirschl erhobenen Befunde, wie er es schon seinerzeit in einer
Arbeit getan hat. Nur möchte er glauben, daß im Verhältnis zu
der großen Zahl von Dementia praecox-Fällen jene, in denen
die \mn Hirschl angedeutete Aetiologie zu erheben sei, einst-
Aveilen wenigstens verhältnismäßig nicht sehr groß sei. Man müsse
auch noch das eine bedenken, daß zurzeit die symptomatologischo
Abgrenzung mancher Fälle noch SchAvierigkeiten an sich hat.
Es ist bekannt, daß dies gerade bezüglich der katatonischen Er¬
krankungen gilt. Es könnte daher geAviß auch die Frage auf-
geAvorfen werden, ob die Fälle mit der von Hirschl angedeu¬
teten Aetiologie oder doch ein Teil derselben trotz der symptomato-
logischen Aehnlichkeit reine Dementia praecox seien oder nicht.
Das Avird natürlich die Zukunft lehren. Bekannt ist, daß ausge¬
sprochene katatonische Bilder bei Paralyse, nach Kopftraumen usw.
Vorkommen können, die sich selbst durch genauere Analyse gegen
echte Katatonie nur schwer abgrenzen lassen. Analog sehen Avir
z. B. auch das klinische Bild der Paralyse — AAmnigstens mit
großer äußerer Aehnlichkeit — auf heterogener Basis auftreten:
in solchen, l)esonders in den letzten Jahren genauer studierten
Fällen entscheidet .derzeit vielfach erst die histologische Unter¬
suchung; Redner ei’Avähnt in Kürze einen eigenen Fall dieser
letzteren Art.
Assistent Dr. Pötzl: Die individualisierende Beobachtung
ergibt doch einen Zusammenhang zwischen Dementia praecox
und akquirierter Lues. ZAvar bleibt anliluetische Behandlung bei
Dementia praecox erfolglos, aber man beobachtet Parallelismus
im Verlaufe der beiden Prozesse, Aufflackern der Geisteskrank¬
heit zugleich mit einem frischen Exanthem. Pötzl glaubt nicht,
daß Lues die spezifische Aetiologie der Dementia praecox dar¬
stelle, Adehnehr reagiere das psychisch kranke Individuum im
Sinne seiner Disposition, das zur Hebephrenie disponierte auf
die Lues mit seinem Zustandsbilde. Pötzl frägt schließlich, ob
Lues oder progressive Paralyse in der Aszendenz gleichbedeutend
seien ?
Hofrat V. Wagner kennt Fälle in besonderer Anzahl, die
den Gedanken eines Zusammenhanges Amn Lues und Dementia
praecox nahelegen; der BeAveis allerdings ist sclnvierig und die
Statistik um so scliAvieriger, als Dementia praecox ein unscharfer
Begriff ist. Der Zusannnenhang von Dementia praecox mit pro¬
gressiver Paralyse und Lues der Aszendenten wird sich auf
statistischem Wege weder beweisen, noch verwerfen lassen. Jeden¬
falls käme es darauf an, die Fälle direkter Heredität zu erforsclum,
differenziert nach der Form der Geistesstörung, um zu sehen,
ob progressive Paralyse häufiger als andere Psychosen in der
Aszendenz von Dementia praecox-Kranken, diese Krankheit häu¬
figer in der Deszendenz von Paralytikern anzutreffen sei.
Dr. Eduard Hits chm ann glaubt, daß angehende IMinder-
Avertige leichter Lucs akquirieren und veiaveist auf Freud, der
Lues in der Anamnese schwerer Hysteriker fand. Bei Frauen
sei Lues Adel häufiger, als man es bcAveisen könne.
Dr. Hirschl (SchlußAvoii ) : Die Mitteil ung au F r a n ki¬
ll och warts über die Deszendenz der Paralytiker und Luetiker
bestätigen meine Angaben. Ich habe der Epilepsie bei der Deszen¬
denz (1er Paralytiker und Luetiker keine besondere Etwäbnung
getan, weil gerade dieses Faktum als allgemein bekannt voraus¬
gesetzt Avird. Suchen Avir nach der Aetiologie eines Falles von
Epilepsie und hören Avir, daß der Vater dieses Epileptikers an
Lues gelitten hat, so ist unser ätiologisches Interesse nicht nur
befriedigt, sondern A\dr leiten auch häufig eine spezifische Be-
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luuidlung ein. Die IleiraLsfragc ist für uns cine recht peinliche.
Wenn wir tlie erblich Belasteten, die Inelisch Infizierten nicht
heiraten lassen, so müßten wir einem großen Teile der unserer
Obhut Anvertraulen die Heirat untersagen. Abgesehen davon,
daßi unsere Ratschläge in dieser Richtung nicht befolgt werden,
wird auch unser Vorgehen deshalb nicht gebilligt werden, weit
dem guten Staalshürger die Zahl der Ehelosen .jetzt schon viel
zu groß ist.
Herrn Dr. Stransky gegenüber habe ich zu erwidern,
daß die Zahl 1:688 in meiner Statistik nicht das \terhältins
der Geisteskranken, sondern der Anstallskranken zu den Ge¬
sunden darstellt; die Zahl ist dem Lehrhuche von Kräpeliii
entnommen.
Die Frage Pötzls, ob die Lues der Aszendenz allein oder
die Paralyse derselben jener Belastung entspricht, die unter ge¬
wissen .Umständen die Dementia praecox erzeugt, kann erst die
Zukunft mit Sicherheit entscheiden.
Den Vonvurf v. Wagners, daß die statislische Berechnung
bezüglich der Paralytikerdeszendenz falsch sei, habe ich erwartet.
Ich hatte geglaubt, die groben Fehlerquellen und auch die groben
Febler, die auf. meine Rechnung fallen, genügend hervorgehoben
zu haben. Das, was ich mit der statistischen Berechnung, zu
der mir genaue Zahlen nicht zur Verfügung standen, bezwecken
wollte, war folgendes : Jeder hat die Empfindung, daßi die vor¬
gebrachten Zahlen der Hebephrenen mit Paralyse des Vaters
recht große seien. Ich wollte nun nachweisen, daß eine, wenn
auch fehlerhafte Rechnung, deren Zahlen jedoch meist zu Un¬
gunsten der obengenannten Empfindung verschoben sind, ciie
Größe der Zahlen mit besonderer Deutlichkeit beleuchtet.
Herr Dr. Hits chm ann machte aufmerksam, daßi gerade
der Hebephrene durch seine psychischen Eigentümlichkeiten der
Akquisition der Lues mehr ausgesetzt ist. Das bezieht sich nur
auf ältere Hebephrenen, die jugendlichen Hebephrenen werden
meist yor Ausübung der geschlechtlichen Tätigkeit in Anstalten
gebracht oder strenge bewacht, so daß sie meist vom infizierenden
Geschlechtsleben abgeschlossen sind. Durch diesen Unterschied
zwischen den jüngeren und älteren Hebephrenen dürften sich die
Verhältnisse derart ausgleichen, dah die syphilitische Infektion
ungefähr in demselben Maße statthat bei den Hebephrenen wie
bei den anderen Individuen. Daß dem so ist, dafür ist das Alter
der Hebephrenen mit /ikquirierter Syphilis ein recht deutlicher
Hinweis; dieselben befinden sicli meist in der Mitte der zwanziger
Jahre. Das Vorkommen syphilogener Affeklionen, insbesondere
der Pupillenstarre bei dem Ehegatten eines mit Paralyse oder
Tabes behafteten Individuums ist von mir schon öfter und auch
heute hervorgehoben worden. Ich habe auch einen Fall von
Dementia praecox erwähnt, dessen Mutter das Argyll-Robertson-
sche Phänomen hatte. Dieses Phänomen der Mutter bildete die
einzige hereditäre Belastung des Hebephrenen.
Aerztlicher Verein in Brünn.
Sitzung vom 24. April und 1. Mai 1907.
Vorsitzender; Stadtphysikus Dr. Li e h m a n n.
Schriftführer: Dr. Schweinburg.
Dr. Stransky demonstriert einen Fall von Frühjahrs¬
katarrh und bespricht eingehend Aetiologie, Symptomatologie,
Differentialdiagnose und Therapie dieser Affektion.
Priv.-Doz. Dr. Schmeichler meint, daß der Frühjahrs¬
katarrh weniger durch die Wärme als durch den Lichteinfluß auf
das Auge erzeugt werde, da die betreffenden Patienten im Winter,
wenn sie in der Wärme sitzen, keinen Katarrh bekommen.
Schmeichler hat einen Fall durch mehrere Jahre beobachtet,
in welchem die katarrhalischen Erscheinungen der Konjunktiva
mit der Intensität der Sonnenstrahlen aufs deutlichste in Zu¬
sammenhang standen.
Mr. pharm. A s s i n g e r (als Gast) berichtet über eine neue
Isoformpaste, welche die Mundhöhle zu desinfizieren vermag.
Priv.-Doz. Dr. S t e r n b e r g hält es für übertrieben, der
Flora der Mundhöhle jene Bedeutung beizumessen, wie es Vortr.
tat und derselben eine weitgehende pathogene Rolle zu¬
zuschreiben.
Prim. Dr. Mager demonstriert :
1. eine 19jährige Patientin mit einer seit sechs Monaten
bestehenden Tetanie, bei der seit längerer Zeit Erscheinungen
von seiten des Magendarmtraktes bestehen (vorwiegend Obsti¬
pation). Die nach der Schmidt sehen Methode vorgenommene
Stuhluntersuchung zeigte eine außerordentliche Gärung der
Fäzes, ein Befund, den Vortr. auch bei der Untersuchung anderer
Tetaniefälle erhoben hatte. Er erinnert an die Stuhlbefunde bei
Fällen von Enteroptose, bei welchen das Fazialisphänomen zu
konstatieren war und über die er bereits ausführlich berichtet
hat. Aus dem Stuhlbefund bei den Tetaniekranken schließt Vortr.,
daß bei der Tetanie eine abnorme Zersetzung im Darm zur
Autointoxikation und dadurch zur Auslösung der nervösen
Symptome führe und glaubt, daß hiefür eine eventuelle In¬
su tfizienz der Epithelkörperchen verantwortlich zu machen ist,
deren Funktion es sonst ist, die Produkte, die etwa zur Auto¬
intoxikation führen können, unschädlich zu machen.
2. die Osazone von einem Falle von Diabetes und
einem Falle von Pentosurie und bespricht die Reaktionen,
die im Harne bei Pentosurie auftreten und daran an'schließend
die Diagnose der Pentosurie und deren Bedeutung für die Praxis.
Dr. Fischer berichtet über einen in der Landeskranken¬
anstalt beobachteten Fall von Rekurrenslähmung bei
Mitralstenose, in welchem man wegen der beträchtlichen
Dilatation des linken Vorhofes die Diagnose auf Kompression
des Nervus recurrens durch den Vorhof stellte. Die Obduktion
zeigte jedoch, daß eine derartige Kompression nicht bestand,
daß vielmehr der Rekurrens innig mit einem Lymphdrüsenpaket
verwachsen und daselbst atrophiert war. (Erscheint ausführlich
in dieser Zeitschrift.)
Priv.-Doz. Prosektor Dr. Sternberg demonstriert :
1. ein mächtiges Aneurysma der Aorta thoracica
von einem 42jährigen Taglöhner, das die Wirbelsäule und zwei
linksseitige Rippen usuriert hatte und sich als weiche Geschwulst
unter der Rückenhaut vorwölbte, so daß es klinisch beinahe
einen kalten Abszeß vorgetäuscht hatte. Gleichzeitig bestanden
eine chronische Aortitis, die das Bild der IMesaortitis proliferans
(Chiari) darbot, ein mal perforaiit am linken Fuß und eine Tabes
dorsalis.
2. ein Aneurysma dissecans von einer 70jährigen
Pfründnerin. Bei der Obduktion fand sich eine Tamponade des
Herzbeutels durch geronnenes Blut, als deren Quelle eine aus¬
gebreitete Suffusion des Zellgewebes in der Umgebung der Aorta
ascendens nachgewiesen wurde. In der Wand der Aorta aesendens
findet sich ein umfangreiches Aneurysma dissecans; an der eröffneten
Aorta sieht man an der rechten seitlichen Zirkumferenz einen
längs verlaufenden, G cm langen, dreieckigen Defekt in der
Intima und wohl auch in den oberen Schichten der Media, dessen
Ränder vollständig vernarbt sind und der an der- Basis iVa cm
breit ist ; hier schließt sich ein 5 cm langer, horizontal ver¬
laufender, 4 cm oberhalb der Klappen gelegener Riß an, der
teilweise gleichfalls fest vernarbt, teilweise aber von fetzigen
Rändern begrenzt ist und klafft. An dieser Stelle sowohl als an
der Spitze des Längsrisses gelangt die Sonde in das Aneurysma
dissecans.
Der Fall ist mithin deswegen besonders interessant, weil
hier jedenfalls vor längerer Zeit eine ausgedehnte Aortenruptur
stattgefunden hat, die vollständig ausheilte und anscheinend,
soweit die Anamnese verläßlich ist, symptomenlos verlaufen ist.
Die neuerliche Aortenruptur, die im Anschluß an die alten Narben
erfolgt ist, hat zum Aneurysma dissecans und von hier aus
zur Blutung in den Herzbeutel geführt. Bemerkenswert ist auch,
daß die Aorta außer den beschriebenen Veränderungen keinerlei
anderen Befund darbietet; ihre Intima ist vollständig glatt
und zart.
Prim. Dr. Spietschka; Der gegenwärtige Stand
der Lehre von der Syphilis.
Vortr. gibt zunächst eine Uebersicht über die historische
Entwicklung unserer Kenntnisse von der Spirochaete pallida und
über die Syphilisübertragungen auf Affen, bespricht sodann ein¬
gehend die Methodik des Spirochätennachweises im Deckglas¬
präparat und im Schnitt, die vorliegenden Spirochätenbefunde
bei den verschiedenen Produkten der Lues und ihre diagnostische
Verwertbarkeit, den Verlauf der experimentellen Syphilis bei
niederen und höheren Affen, die Uebertragungsversuche auf die
Kaninchenkornea, erörtert die Frage, ob bei Luetikern eine Im¬
munität bestehe und glaubt diese Frage verneinen zu müssen,
indem er für den Begriff der ,, Umstimmung“ der Gewebe eintritt
und behandelt zum Schlüsse die Gesichtspunkte, welche sich aus
den neugewonnenen Tatsachen für die Therapie der Syphilis ergeben.
Priv.-Doz. Prosektor Dr. Sternberg weist zunächst im Hin¬
blick auf einige Arbeiten der letzten Zeit und eine Diskussion in der
Berliner medizinischen Gesellschaft die Einwendungen zurück,
die gegen die Spirochaete pallida erhoben wurden. Eine Verwechs¬
lung mit Gebilden aus dem Farbstoff oder mit Gewebselomenten
(bei Behandlung nach Lev a di ti) hält Redner bei einem Geübten für
ausgeschlossen. Was die ätiologische Bedeutung der Spirochaete
pallida. anlangt, so veranlaßt eine sorgfältige Erwägung der bisher
vorliegenden Befunde über das Vorkommen und die Häufigkeit
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öb‘±
der Spirochäten in bestimmten Stadien der Lues, bzw. über das
Fehlen derselben den Vortr. zu einer gewissen Vorsicht. Mög¬
licherweise sind die bisher vorliegenden Methoden zum Nachweis
der Spirochaete noch nicht ausreichend, möglicherweise ist aber
auch die Spirochaete pallida nicht der ausschließliche Erreger
der Lues. Zweifellos scheint sie in der Aetiologie der Syphilis eine
wesentliche Rolle zu spielen. Es wäre aber vorstellbar, daß sie
nur eine Form des Erregers darstellt, während andere Formen
(Entwicklungsstadien ?) noch unbekannt sind. Redner wendet sich
sodann gegen den unklaren Begriff der „Umstimmung“ der Gewebe
und bespricht die Frage der Immunität bei Syphilis, wobei auch
die Aulfassung einer allmählich fortschreitenden, zunächst lokalen
und erst später allgemeinen Immunität dargestellt wird. Endlich
erörtert Vortr. die Versuche, das Phänomen der Komplement¬
ablenkung zum Nachweis .von Antikörpern bei Luetischen (im
Blut und in den Geweben), ferner in der Zerebrospinalflüssigkeit
von Tabikern und Paralytikern etc. heranzuziehen ; nach Be¬
sprechung der Grundlagen und der Technik dieser Versuche
zeigt Vortr., daß den neueren Angaben zufolge aus dem Ausfall
dieser Versuche nicht auf die Gegenwart von Syphilisantikörpern
geschlossen werden darf, daß mithin dieses Verfahren keine
diagnostische Verwertung finden kann.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden
15. bis 18. April 1907.
(Fortsetzung.)
Matthes-Köln und Gott stein- Köln. Leber Wir¬
kung von Verdauungsprodukten aus Bakteri enlei-
hern auf den gesunden und infizierten Organismus.
(Fortsetzung.)
III. Mit Typhusalhumose vorbehandelte Tiere erlangen nach
einiger Zeit eine spezifische Immunität gegen Typhus. Diese
Immunität ist keine hakteriolytische.
C. Lew in- Berlin : Ein transplan tables Ratten¬
karzinom. Mit Demonstrationen.
Die Untersuchungen über das Mäusekarzinom haben unsere
Kenntnisse über den Krebs gefördert. Ihre Ergebnisse aber sind
für die menschlicbe Pathologie mit Vorsicht zu verwenden. Im
Rattenkarzinom, über das der Vortragende berichtet, haben wir
dagegen eine fast vollkommene Analogie der menschlichen Ver¬
hältnisse. Es ist anatomisch ein richtiger Krebs, macht klinisch
Metastasen, Aszites, Kachexie usw. Es ließ sich bisher durch
fünf Generationen überimpfen, wobei sieb bemerkenswerte Er¬
gebnisse erzielen lassen, die zum Teil von den Verhältnissen
beim Mäusekrehs sich unterscheiden.
Die Virulenz des Tumors ist dieselbe geblieben und be¬
trägt durchschnittlich 50%. IVährend der Mäusetumor selbst auf
weiße Mäuse anderer Abstammung sich nicht übertragen
läßt, können wir den Rattentumor auf alle weißen, resp. weiß-
bunten Ratten überimpfen, ja es gelang sogar, Bastarde von
grauen und weißen Ratten positiv zu impfen. Ist dagegen eine
Impimg negativ geblieben, so gelingt eine positive Impfung später
nui’ in den seltensten Fällen.
Schlayer-Tübingen: Experimentelle Untersu¬
chungen über nephritisches Oedem.
Liegt die Ursache für das Oedem in dem Verhalten der
Niere oder in extrarenalen Momenten oder müssen beide Zu¬
sammentreffen ?
Durch besondere Anordnung der Experimente läßt sich
aber die Frage, inwieweit dem Verhalten der Niere ein besonderer
Anteil an der Oedementstehung zukommt, wohl untersuchen, und
zwar durch Vergleich der Funktion der Niere bei Urannephritis
mit der bei anderen, nicht von Oedem begleiteten toxischen
Nephritiden. Durch Prüfung des Effektes von vasodilalatorischen,
also diuretisch wirkenden und vasokonstriktorischen Reizen auf
das Nierengefäßisystem und die Diurese wurde das Bestehen von
zwei vemchiedenen Typen von toxischer Nephritis nachgewiesen,
eines vaskulären und eines tubulären, beide nach der Art des
funktionellen Ablaufes bezeichnet. Die Urannephrilis entspricht
nun durchaus dem tubulären Typus, sowohl in ihren Anfangs¬
ais in ihren Endstadien. Sie unterscheidet sich aber von den
anderen toxischen, auch den tubulären Nephritiden durch ein
außerordentlich eigenartiges Zwischenstadium, das bei keiner der
anderen vorkommt. In diesem zeigt die Niere völlig intakte Kon¬
traktions- und Dilatationsfähigkeit der Nierengefäße, gleichzeitig
aber eine Aufhebung der vorher normalen Diurese auf Diurese¬
reize bestimmter Art, so z. B. Kochsalz oder Wasser mit sehr
geringem Kochsalzzusatz. Dagegen stellt Koffein die Diurese wieder
lier, freilicli in gcu'ingeretn Grade als normal. Die Ursache dieses
Verhaltens kann nicht in der Schädigung der Tubulusepithelien
gefundeu werden. Denn bei Chrom- und Suhlimatniere ist letztere
ebenso vorhanden, aber der Diuresereiz hat dort in analogen
Stadien mächtige Polyurie zur Folge. Es muß also , eine Schä¬
digung des Knäuelapparates der Niere vorliegen u. zw. bei voll¬
kommen intaktem anatomischen Verhalten, ja auch unbehinderter
Kontraktions- und Dilatationsfähigkcit der Nierengefäße.
Daraus folgt, daß seihst völlig normale Gefäßfunklion und
Blutversorgung der Niere noch nicht identisch sind mit normaler
Sekretion. Zwischen beiden liegt vielmehr eine bisher noch un¬
bekannte Eigenschaft, die zunächst als Durchlässigkeit des Nieren¬
gefäßapparates bezeichnet wird. Bei der Uranniere wird diese
Durchlässigkeit sehr früh aufgehoben, sobald die Niere in spezieller
Weise stärker beansprucht wird. Gewisse Formen der mensch¬
lichen chronischen parenchymatösen Nephritis mit Oedem zeigen
sowohl anatomisch wie funktionell das gleiche Verhalten, wie
die Urannephritis. Auch bei ihnen kann die Insuffizienz der
iVusscheidung nicht auf die Läsion der Tubulusepithelien zurück¬
geführt werden, sondern ist in Verminderung oder Aufhebung
der Durchlässigkeit des Nierengefäßapparates zu suchen. Ana¬
tomisch intakte Nierengefäße können somit, wie schon die Uran¬
nephrilis allein zeigt, völlig insuffizent hinsichtlich der x\us-
scheidungsfähigkeit. sein.
Das eigentümliche funktionelle Verhalten der Uranniere be¬
dingt nun sicher eine starke Retention von Wasser und Koch¬
salz. Wie Durchspülungsversuche nach Cohnheim -Licht heim
und Magnus zeigten, führt jedoch selbst stärkste Wasser- und
Salzretention in dem Stadium aufgehobener Durchlässigkeit hei
intakter Kontraktions- und Dilatationsfähigkeit der Nierengefäße
noch nicht zu Oedem. Wohl aber tritt Hautödem auf in einem
späteren Stadium der Urannephritis, wenn die Nierengefäße bereits
ihre Dilatationsfähigkeit verloren haben. Dieses zeitliche Zu¬
sammenfallen von Durchlässigwerden der Hautgefäße und Nieren-
gefäßiläsion weist auf eine Schädigung der Hautgefäße als Ursache
des Durchlässigwerdens hin.
Die Versuche ergeben somit eine Bestätigung der Cohn-
h ei m- Senator sehen Theorie, von dem Modus der Oedem-
bildung, indem sie den Einfluß der Art der Nierenschädigung
ganz besonders hervorbehen und damit auch die Frage klären,
warum die eine Nephritis von Oedem begleitet ist und die
andere nicht.
Diskussion; L i c h t h e i m - Königsberg macht darauf auf¬
merksam, daß die Cohnheim -Senator zugeschriebene Theorie
von ihm in Verbindung mit Cohnheim aufgestellt wurde.
' S ie g e 1 - Reichenhall : Ueber experimentelle Ne¬
phritis.
Im Gegensätze zu allen bisherigen Untersuchern war er
imstande, durch subkutane Injektion von Urannitrat bei Hunden
eine akute Nephritis zu erzeugen, die zu Beginn der dritten
Krankheitswoche in die chronische parenchymatöse Nephritis und
Schrumpfung überging. Dies ging deutlich aus dem klinischen
Bilde, aus dem Verhalten des Urins hervor, der sich genau
so verhielt, wde der Urin bei menschlicher Schrumpfniere. Zu
gleicher Zeit entwickelte sich auch eine deutliche Hypertrophie
des linken Ventrikels. Die Obduktion eines solchen Hundes am
32. Krankheitstage bestätigte die klinische Diagnose in jeder Be¬
ziehung : Die Niere zeigte makroskopisch genau das Bild der
beginnenden Graimlaratrophie beim Menschen. Mikroskopisch
fanden sich unter anderem kleinzellige Herde, teilweise mit
fibröser Degeneration der Glomeruli, Nekrose der Kapselepithelien
der Glomemli, kleinzellige Infiltrate; starke Hypertrophie des
linken Ventrikels.
Damit ist zum ersten Male der experimentelle Beleg für den
Uehergang der akuten Nephritis in die chronische, in die Schrampf-
niere mit den sekundären Herzerscheinungen erbracht.
Weiterhin berichtet Siegel über seine Abkühlungsversuche.
Auch hier ist er der erste, der eine Abkühlungsnephritis hervor-
rufen konnte. Er kühlte eine Niere direkt ab, indem er sie in
Narkose freilegte und 20 bis 30 Minuten lang Eisstückchen auf
sie einwirken ließ. Jedesmal entstand eine akute parenchymatöse
Nephritis u. zw., wie aus der Obduktion hervorging, eine beider¬
seitige hämorrhagische. Ein Flund bekam mn dritten Tage eine
starke Nierenblutung, bei einem anderen ergab die Obduktion
bereits am neunten Krankheitstage eine starke Herzhypertroph’e.,
Für die Oedemfrage folgt aus den Versuchen Siegels, der
bei keinem seiner Tiere, trotz reichlicher Kochsalz- und Wasser¬
zufuhr, Oedeme oder Aszites fand, daß eine Gefäßgewebsläsion
unbedingt nötig und die primäre Ursache sei. Siegel fand nach
geringer Urandose nur hie imd da geringe Verfettung der Gefä߬
intima, Richter nach großen Dosen bei Kaninchen schwere
Gefäßveränderungrn und Oedeme und Aszites.
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W ics (‘ I - Wii'n ; l{(‘iial(‘ II (> i-/ li y [x* I'tr o p li i o mid
c b ro 111 al' lines Sy stein.
Die Untersuchung des clironiaffinen Absclinittes der Nclien-
nieren, sowie der außerhalb der Nebennieren liegenden chrom¬
affinen Zellen und Körper bei chronischem iMorhus Urightii,
ferner von Nephritis von verschieden langer Dauer nach Schar¬
lach, deckte eine bedeulende iMengenzunalune des cdiromaffinen
Gewebes bis — speziell in der Nebenniere — zum Doppelten der
Norm auf. Diese Hypertrophie des chromaffinen Gewebes findet
sich aber nur bei Fällen mit linksseitiger Ilerzhypertrophie, die
Vermehrung der chromaffinen Elemente geht von den Bildungs¬
zellen des Sympathikus aus, die, in indifferenzierfem Zustande
jederzeit im Sympathikus nachweisbar, sich hei der Nephritis
in bleibende chromaffine Zellen umwandeln. Der Vorgang der
Bildung der neuen chromaffinen Zellen gleicht durchaus dem der
Entwicklung des chroniaffinen Gewebes heim Embryo.
Was das zeitliche Auftreten der Hypertroplne des (dirom-
affinen Gewebes anlaiigt, so kann nach den bisherigen ErfaJi-
rungen gesagt werden, daß' sie entschieden nicht früher nacliweis-
har ist, als die Herzhypertropliie.
Die nephritische Arteriitis ist von vornherein ein degenera-
fiver Prozeß, der immer in der Media der Arterien beginnt und
erst sekundär nach Atrophie der elastischen Elemente und der
Muskulatur zu den bekannten hyperplastischen UmAvandlungen
führt. Ihrem anatomischen Verhalten nach gleicht ilie nephritische
Arteriitis nicht sehr vorgeschrittenen Stadien der experimentellen
Adrenalinarteriitis.
Diskussion zu den Nierenvorträgen in der
III. Sitzung. Strauß -Berlin konstatiert, daß die Voraus¬
setzungen, die ihn zur Einführung der Chlorentziehungskuren
in die Therapie veranlaßten, durch Siegels und Schlayers
Vorträge bestätigt wurden. Auch die Notwendigkeit, Gefäßverän¬
derungen beim Oedem anzunehmen, habe er schon vor sechs
Jahren betont und zuerst die durch Kochsalz veranlaßte nephro¬
gene Flüssigkeitsretention in die richtige therapeutische Be¬
leuchtung gerückt. In der praktischen Verwertung seiner Angaben
sei man zu weit gegangen. Er habe die Chlorentziehung nur
für die Fälle parenchymatöser Nephritis empfohlen, die eine
Hydropsietendenz zeigten, d. h. für die Pat., die bei einer Diät
von mittlerem Kochsalzgehalt einen Urin von niedrigem Koch¬
salzgehalt und bei täglichen Wägungen eine propediente Gewichts¬
zunahme erkennen lassen. Die akute Uranvergiftung liefere über¬
haupt kein den klinischen Verhältnissen vergleichbares Bild.
Daß Wasser bei ihr zurückgehalten werde, sei bei den großen
Schädigungen der Niere erklärlich. Eine Niere, die nicht auf
Diuretika reagiert, sei nicht zum Studium über die spezielle Ein¬
wirkung von Kochsalz und Wasser auf die Nierenfunktion ge¬
eignet. Bei Kochsalzzufahr kann ein Hydrops nur erwartet werden,
wenn die Tiere genügend Wasser bekommen. Das Kochsalz
selbst bat, wie der Redner immer betont hat, keine hydropsie-
erzeugende Kraft, es wirkt nur durch Wasserretention hydropsie-
erzeugend.
W i n t e r n i t z - Halle gibt an, daß in der M e r i n g sehen
Klinik vor Jahren Versuche gemacht wurden derart, daß die
Nieren von Hunden von der Kapsel befreit und direkt unter die
Haut eingenäht wurden. Abkühlungen und Eisapplikationen auf
die Haut waren ohne jeden Einfluß, es trat keine Nephritis ein.
Es bedarf also wie bei Siegel drastischer Einflüsse, um eine
Nephritis zu erzeugen.
Erich M e y e r - München weist auf Untersuchungen von
H e i n e k e (H. med. Klinik in München) hin, aus denen hervor¬
geht, daß auch aus Gifte wie Chrom, die beim Tier gewöbnlich
Nephritis ohne Oedeme hervorrufen, dann Oedeme entstehen,
wenn gleichzeitig reichlich Wasser und Salze verfüttert werden.
Beim nierenkranken Menschen muß in jedem einzelnen Falle die
Toleranz gegenüber Salzen erprobt und danach therapeutisch
verfahren werden.
V. No Orden- Wien möchte betont wissen, daß er zuerst
die Wasserbesebränkung bei Nephritis empfohlen hat. Ferner kann
er vom praktischen Standpunkt aus den Vorschlag, Kochsalz aus
der Nahrung zu lassen, nicht billigen, da die Pat. dann den Appetit
verlieren und unterernährt werden. Jedenfalls sollte man sich vor
jeder Schematisierung hüten.
B 1 u m e n t h a 1 - Berlin reklamiert für seinen Schüler Bohne
• das Verdienst, 1897 zuerst auf die Bedeutung der Retention der
Chloride aufmerksam gemacht zu haben, allerdings mehr im Zu¬
sammenhang mit urämischen Symptomen.
Strauß -Berlin hat immer Individualisierung der Fälle
gefordert. Für eine kräftige Ernährung der Nephritiker sei auch
er stets mit Rücksicht auf die Wichtigkeit einer guten Herzfunktion
eingetreten. Die Versuche von Bohne hätten Ui'ämie und keine
Oedemfragen zum Gegenstand gehabt. Für die Frage der Urämie
kommt nicht der Salzstoffwechsel in Betracht, sondern stickstoff¬
haltige Körper.
(Fortsetzung folgt.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin. (Foitsrlzung).
HI. Sitzungstag.
Fortsetzung der Diskussion zum Vortrage Barden-
heu'Ors über Oberschenkelh rüche.
Kittel- Annahütte spricht in seiner Eigenschaft als prak¬
tischer Arzt. Er habe das B a rd e n h e u e r sehe Verfahren seit
lV‘2 Jahren in seiner Praxis angewendet und sei mit den erzielten
Resultaten sehr zufrieden.
F rangen heim - Königsberg macht auf die Bedeutung des
Schwundes des Schenkelhalses bei den Frakturen desselben auf¬
merksam. Er führt den Schwund des Halses auf den Druck zurück,
welchen die Fragmente aufeinander ausüben. Nach erfolgter Heilung
der Fraktur höre der Schwund auf.
E V 1 e r - Treptow wendet zur Behandlung der Oberschenkel¬
fraktur sowohl im Gehen als auch im Liegen einen Schienen¬
hülsenapparat an, den er aus Chromleder herstellt. Bei seiner
Behandlung bleibe die Bruchstelle frei.
N o e t z e 1 - Frankfurt a. M. führt aus, daß auf der R e h n-
schen Abteilung eine Anzahl von Frakturen blutig behandelt
worden seien. Die Operationen seien zumeist in späteren Stadien
ausgeführt worden. Die Befunde, welche sie dabei erhoben hatten,
wären jedoch die Veranlassung, daß sie künftig mehr Früh¬
operationen ausführen würden. Am Oberschenkel wendeten sie
für Knochennaht Draht an, bei den übrigen Knochen käme man
mit Catgut aus.
Schlange- Hannover bleibt dabei, daß es eine Anzahl von
Oberschenkelfrakturen gäbe, bei denen die unblutige Reposition
mißlinge. Für diese Fälle bält er die Operation für indiziert. Die
Operation wäre sehr einfach, er habe damit ausgezeichnete Re¬
sultate erzielt.
Die Herren Bocke nheimer- Berlin, Lern m e n - Köln
und Schulze-Bonn treten auf Grund der Erfahrungen, welche
an den von ihnen vertretenen Anstalten gemacht sind, lebhaft für
das B a r d e n h e u e r sehe Verfahren ein.
B a r d e n h e u e r - Köln führt in seinem Schlußwort aus,
daß er niemals den Anspruch erhoben habe, für den Erfinder
des Extensionsverfahrens zu gelten ; er nehme für sich jedoch das
Verdienst in Anspruch, die Extensionsbehandlung auf alle
Knochen übertragen und es in seinen Einzelheiten ausgebildet
zu haben.
M u s k at- Berlin'’] führt aus, daß neben der aktiven Gym¬
nastik, die B a r d e n h e u e r allein angewendet sehen will, auch
passive erforderlich und empfehlenswert erscheint. In Anstalten,
wie die B a r d e n h e u e r sehe, ermuntert ein Patient den anderen
seine aktiven Uebungen vorzunebmen, während in der Privat¬
praxis eine gewisse Indolenz besteht.
Muskat zeigt dann einen einfachen Apparat, der billig
herzustellen ist, um die Verschiebungen des Schenkelschaftes,
namentlich bei subkapitalen Brüchen zu verhüten. Eine Zelluloid¬
azetonhülse umfaßt Becken und Oberschenkel. Das Gelenk ist be¬
weglich. Durch eine Pelotte, welche genau oberhalb der Bruch¬
stelle gegen das Ende des Schaftes drückt, wird dieser festgehalten.
Durch einfache Schraubung kann die Pelotte fester eingedrückt
werden. M u s k a t hat dadurch Verbesserung des Ganges erreicht.
IV. Sitzungstag.
Kümme 11 - Hamburg : Die Exstirpation der Pr o s 1 a ta.
Kümmell empfiehlt, die Prostatektomie erst dann auszuführen,
wenn die ühliche Behandlung der Prosta tahypertroidiio nicht zum
Ziele geführt habe. Er hält die Operalion für indiziert, wenn die
Kranken ahsolut nicht mehr selbst urinieren können, wenn sie
dauernd auf den Gebrauch des Katheters angewiesen sind, wenn
Schmerzen auftreten, wenn sich zur Prostatektomie Zystitis und
infektiöse Prozesse gesellen. Er habe auch mit der Bottinischen
Operation, mit der Kastration, gute Erfolge erzielt, aber die Isr-
folge seien zu inkonstant gewesen, auch haben sic keine Dauer
gehabt, daher sei er jetzt zur Prostatektomie übergegangen.
Es müsse allgemein die Erkenntnis Platz greifen, daß' die
Prostatahypertrophie ein lokales Leiden sei, bedingt durch einen
Tumor, der den Blascnausgang vm’.-^jchließt und die Urinentleerung
hehindert. Hat man diese Auffassung von der Krankheit, dann
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gelange man auch folgerichtig zu der Ansicht, daß dieser Tumor
zu enlfernen sei. Er halte die Exstirpation der geschwollenen
Prostata für besser als ihre Resektion. Die letztere Operation sei
zwar leichter und verlaufe auch leichter, aber sie reiche nicht
immer aus und es könne dabei leichter zu Rezidiven kommen.
Der Fortschritt in der operativen Behandlung der Prostata sei
gekommen, nachdem man gelernt habe, die Prostata intra-
kapsulär zu operieren.
Für kontraindiziert hält er die Operation bei sehr ge¬
schwächten Leuten; auch bei ausgedelniter Arteriosklerose, bei
diffuser Bronchitis, bei Nerveninsuffizienz solle nicht operiert
werden. Er empfiehlt zur Prüfung der Nierenfunktion auf das
dringendste die Kryoskopie, die ihn bei richtiger Anwendung
niemals im Stiche gelassen hätte. Eine Kontraindikation für eine
Prostatektomie ist auch eine ganz schlaffe Blase.
Was die Wahl der Methode anbelangt, so haben die beiden
üblichen Methoden, die suprapubische und die perineale, ihre
Vorteile und Nachteile. Die Mortalität ist ungefähr bei beiden
die gleiche u. zw. ca. 9 bis 10%. Er selbst hat elfmal perineal,
30mal suprapubisch operiert.
Vor der Operation soll, wenn irgend möglich, zystoskopiert
werden, da das Zystoskop Aufschluß über die Größe der Prostata
gibt und auch darüber unterrichtet, nach welcher Richtung die
Hypertrophie geht.
Er meine, daß die Sectio alta einen besseren Ueberblick
über die Blase gestatte, es leichter mache, die Blutungen zu
beherrschen und viel seltener zu Fistelbildungen führe als die
perineale Metlmde. Endlich könne man bei der suprapubischen
Methode die Blase völlig schließen und die Patienten schneller
aus dem Bette bringen. Daher bevorzuge er die suprapubische
Metliode und wähle die perineale Methode nur, wenn sich die
Prostata ganz einseitig nach dem Mastdarm entwickelt habe und
bei sehr korpulenten Leuten.
Eine Hauptindikation für die Totalexstirpation gibt das Kar¬
zinom der Prostata. Doch ist die Diagnose meist erst während
der Operation zu stellen. Von seinen neun wegen Karzinom
Operierten sind drei im unmittelbaren Anschlüsse an die Ope¬
ration gestorben. Von den Ueberlebenden starben vier drei bis
fünf Monate nach der Operation an Metastasen; zwei leben noch,
der eine nach einem Jahre, der andere vier Monate nach der
Operation.
Von den 32 wegen gutartiger Hypertrophie Operierten sind
sieben gestorben. Die meisten Todesfälle erfolgten an Lungen¬
embolie, einer starb an einer Blutung.
Die Ueberlebenden wurden nachuntersucht und es konnte
vor allem festgestellt werden, daß sie den Urin selbst entleeren
können. Das Alter der Patienten schwankte zwischen 60 bis 90
Jahren.
Die Kapazität der Blase war nach der Operation durchaus
zufriedenstellend. Im Durchschnitte konnten die Patienten den
Urin vier bis fünf Stunden halten.
Ein Patient hatte hei der Operation eine Rektumverletzung
erlitten und starb bei dem Versuche, die Fistel zu schließen. Ein
anderer klagt über Störungen seiner Geschlechtsfunktion. Die
Patienten müssen deswegen vorher darauf aufmerksam gemacht
werden, daß die geschlechtliche Funktion leiden kann. Bei einem
Kranken war eine beginnende Striktur festzustellen; daher sollten
sich alle Operierten von Zeit zu Zeit ärztlich untersuchen lassen,
um etwaige Strikluren rechtzeitig in Behandlung nehmen zu lassen.
Kümmel 1 pflegt die Operation in lumbaler Anästhesie aus¬
zuführen, wenngleich sich auch dann Kollapse niclit ganz ver¬
meiden lassen.
Er beschreibt zum Schlüsse seine Technik. Die Sectio alta
wird in üblicher Weise ausgeführt. Dann wird die Prostata vom
Mastdarme her dem Operateur entgegengedrängt. Dann wird die
Schleimhaut und die Kapsel der Ih'ostata durchschnitten und die
Ausschälung der Lappen erfolgt. Handelt es sich um gutartige
Hypertrophien; so ist die Enukleation meist leicht; macht die
Ausschälung Schwierigkeiten, so muß das immer den Verdacht
auf einen malignen Tumor erwecken. Die Blase wird völlig ge¬
schlossen, ebenso die Bauchdecke bis auf eine kleine Stelle,
durch die ein Tampon nach außen geleitet wird. Ein Dauerkatheter
leitet den Urin durch die Harnröhre nach außen. Nur wo es sich
um infektiöse Prozesse handelt, bleibt die Blase offen; die Blase
wird dann tamponiert. Bei der perinealen Methode wird die
Prostata durch einen halbkreisförmigen Schnitt vor tlem Mast¬
darme freigelegt. Dann wird die Blase in jedem Falle eröffnet.
Die Prostatalappen werden durch geeignete Apparate dem Opera¬
teur entgegengedrängt; es wird auf jeden der Lappen einge¬
schnitten und die Ausschälung erfolgt.
In der Diskussion treten die meisten Redner, Gunkel-
Fulda, Schlesinger-Berlin, Goeb eil- Kiel, Helferich-Kiel,
Sa 11 per- Interlaken, Freudenberg-Berlin für die supra-
pubische iMethode ein.
V oelcke rs -Heidelberg berichtet über die Erfahrungen der
Heidelberger Klinik. Czerny hat 32nuit operiert, stets vom Peri¬
neum aus. Die Patienten waren zwischen 56 und 80 Jahren
alt. Von diesen sind drei an Kollaps, Rektumverletzung und Peri¬
tonitis gestorben, also 9-7%. Von den Ueberlebenden haben
21 Fälle gute Resultate ergeben. Narath, der jetzt die Heidel¬
berger Klinik leitet, bevorzugt die suprapubische Methode. Sic
wurde siebenmal aüsgeführt. Zwei von diesen Fällen sind ge¬
storben. ln Heidelberg wird die Blase mittels T- Rohres drainiert.
ln die Blase wird ein Dauerkatheter eingelegt.
V. Rydy gier-Lemberg glaubt, daß man bezüglich der
Methode der Operation eklektisch Vorgehen müsse. Im allgemeinen
gebe er der perinealen Methode den Vorzug, weil er sie für
weniger gefährlich hält. Wenn es sich um gutartige Fälle handelt,
dann reseziert er die beiden Seitenlappen, läßt aber jederseits
an der Harnröhre ein kleines Stück stehen. Freilich ist bei dieser
Methode die Technik schwieriger, aber der V'^erlauf wäre besser;
auch gelänge es besser, die Potenz zu erhalten.
Ru mp el- Berlin : Die Wahl der Methode ist abhängig von
den vorliegenden anatomischen Verhältnissen. Diese ließen sich
nur zystoskopisch feststellen. Für die suprapubische Methode
seien nur die in die Blase hineinragenden Tumoren geeignet.
Für diejenigen Fälle, wo es sich um ringförmige, wenig in die
Blase prominierende Prostatao handelt, hält er die Bottinischc
I\Iethode für besser; endlich geht er den perinealen Weg, wo die
Entwicklung der Prostata wesentlich jjegen das Rektum hin
statthat.
Rumpel warnt vor der Füllung der Blase mit Luft; er hat
damit einen Todesfall an Luftembolie erlebt. Er drainiert die Blase
von oben durch einen Dauerkatheter; der Drain wird nach sechs
Tagen entfernt.
Endlich macht er noch darauf aufmerksam, daß nach der
Operation häufig schwere psychische Störungen auftreten.
Er hat zweimal Suizidium in der Nachbehandlungsperiode beob¬
achtet.
Israel -Berlin: Die einfache Tatsache, daß ein Mann ohne
Katheter seinen Urin nicht entleeren kann, ist für Israel noch,
nicht ausreichend, um die Prostatektomie auszuführen. Erst wenn
noch andere Beschwerden auftreten, muß operiert werden. Er
operiert auch bei schlaffer Blase, da er gesehen iiat, daß sich
auch solche schlaffe Blasen noch erholen und weil man den
Blasen vor der Operation nicht ansehen kann, ob sie sich er¬
holen werden oder nicht. Er bevorzugt die suprapubische Me¬
thode. Maßgebend ist dabei für ihn die Leichtigkeit der Operation,
die Vermeidbarkeit der Nebenverletzungen. Von der .suprapubi¬
schen ^Vunde aus kann man jede wie auch immer geformte Pro¬
stata entfernen. Er macht für gewöhnlich kleine Schnitte; nur
bei sehr großer Prostata wären größere Schnitte erforderlich.
Die Fettleibigkeit ist keine Indikation für die perineale
Methode ; sie störe bei dieser noch mehr als bei der suprapubi¬
schen. Er hat in seinem ersten Falle die Blase total geschlossen;
(!r rät jedoch, die Blase von oben zu drainieren und den Dauer-
katheter einzulegen, weil es auf* diese Weise besser gelänge,
spät auftretende Blutungen, welche er in zwei Fällen beobachtet
habe, zu beherrschen.
(ITortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 31. Mai 1907, 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Professor KÖiiigsteiu stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Reg.-Arzt Dr. Dörr: Ueber ein neues Desinfektionsverfahren
mit Formalin auf kaltem Wege.
2. Dozent Dr. G. Alexander; Ueber otitische Sinusthrombose und
Pyämie. (Demonstration.)
3. Primarius Dr. Moszkowicz: Zur Technik der Operationen an
der Hypophyse. (Demonstration.)
4. Dr. Berdacli : Demonstration des Sigalinschen Rhythmoskops.
5. Dozent Dr. H. Schur und Dr. Jos. Wiesel; Demonstration
einer Reaktion im Blutserum von Nephritikern.
6. Professor Dr. M. Benedikt : Physiologie und Pathologie der
Zirkulation.
Vorträge haben angemeldet die Herren: Dr. Rud. Kaufinann,
Dr. Jul. Bartel und Prof. S. Stern.
Bergmeister, Paltauf.
VtrantwortlichOT R»dakt«ar: Adalbert Karl Trapp. Verlag Ton Wilhelm Branmttller in Wien.
Drnok Ton Brnno Bartelt, Wien XVIII., ThereaiengaBBe 8.
fr — ■ - - -
Die
,, Wiener kllulsclie
WoclieiiscUrifl“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großquart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an dieVerlags-
handlung.
- - - ^
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v, Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weichselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
f?~ - - -
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jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Insertions-
Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlang übernommen. —
Abonnements deren Abbestel¬
lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
lu s era t e
werden mit 60 h = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Ueberoinkommen.
^ . .
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
XX. Jahrgang.
Wien, 6. Juni 1907.
Nr. 23
INH
1. Origiualartikel : 1. Zur Farbensinnprüfung im Eisenbahn- und
Marinedienste. Von Dr. J. Rosmanit.
2. Ans der Klinik Chrobak. Nachweis von chromafflnem Gewebe
und wirklichen Ganglienzellen im Ovar. Von Dr. Konstantin
J. Bucura, Assistenten der Klinik.
3. Aus der Prosektur des k. k. Kaiser-Franz-Joseph-Spitales in
Wien. (Vorstand: Prof. R. Kretz.) lieber eine der Adrenalin-
vvirkung analoge Wirkung des Blutserums von Nephritikern
auf das Froschauge. Von H. Schur und J. Wiesel.
4. Aus dem Institute für gerichtliche Medizin der Universität
Graz. (Vorstand: Prof. J. Kratter.) Ueber die funktionstüchtige
Einheilung von transplantierten Epithelkörperchen des Hundes.
Vorläufige Mitteilung von Privatdozenten Dr. Hermann
Pfeiffer und Dr. Otto Mayer.
5. Aus der III. med. Abteilung des k. k. Kaiser-Franz-Joseph-
Spitales in Wien. (Vorstand: Prof. Dr. Hermann Schlesinger.)
Ueber Herpes bei Meningitis cerebrospinalis epidemica. Von
Dr. Hugo Einhorn, suppl. Assistenten der Abteilung.
II. Referate: Ueber Morbus Basedowii. Theorie und Behandlung
Von Dr. O. v. Bol ten stern. Hypnotismus und Spiritismus.
Medizinisch-kritische Studie. Von Prof. Dr. med. Lapponi
Sexualität und ästhetisches Empfinden in ihrem genetischen
Zur Farbensinnprüfung im Eisenbahn- und
Marinedienste.
Von Dr. J. Rosmanit.
Das in den letzten zwei Jalirzehnten ganz fehlende
oder doch ziemlich latente Interesse an der praktischen
Oedenlung der angeborenen Farhensinnstörungen wurde
durch die Neuordnung der Farhensiniiprüfnng in Preußen
mit einem Male wieder auf das lelihaftestc angeregt. Die
kgl. preußi. Eisenhahnverwaltung hatte 1903 beschlossen,
die hisher verwendete Holmgrensche Probe fallen zu
lassen und es war eine Kommis.si'on eingesetzt worden, die
ein geeigneteres Prüfungsverfahren auswählen sollte. Es
war schon nahe daran, daß die Stiliingschen Tafeln,
kombiniert mit den Adler- Gör tzschen Farbenstiften, als
obligatorische Prüfungsniethoden eingeführt werden sollten,
als glücklicherweise in letzter Stunde der Berliner Sinnes¬
physiologe W. A. Nagel als sachverständiger Berater zu¬
gezogen wurde. iVuf den umfassenden, außerordentlich exakt
und scharfsinnig durchgeführten, ergebnisreichen Arbeiten
seines Lehrers v. Kries fußend, hatte er sich bereits durch
zehn Jahre auf das eingehendste mit Farbenphysiologie
und Farhenpathologie beschäftigt, mehrere grimdlegende,
pfadweisende Arbeiten publiziert, auch 1898 durch Heraus¬
gabe seiner ersten zur Diagnose der Färhenblindheit be¬
stimmten Tafeln schon sein ganz hesonderes Geschick be¬
wiesen, theoretische Erkenntnis in praktisch brauchbare
Werte mnznsetzen, ohne aber hei der allgemeinen Teil¬
nahmslosigkeit und Skepsis mit seinen Anschauungen durch-
A LT:
Zusammenhänge. Von Artur K r o n f e 1 d. Die Grundlagen
der Seelenstörungen. Von Julius Beßmer S. J. Die leichten
Fälle des manisch-depressiven Irreseins (Zyklothymie) und
ihre Beziehungen zu Störungen der Verdauungsorgane. Von
Karl W i 1 m a n n s. Analyse von 200 Selbstmordfällen
nebst Beitrag zur Prognostik der mit Selbstmordgedanken
verknüpften Psychosen. Von Dr. Helene Friederike Stelzner.
Jahrbuch für se.xuelle Zwischenstufen unter besonderer
Berücksichtigung der Homosexualität. Von Dr. med. M. Hirsch¬
feld. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus den
Jahren 1893 bis 1906. Von Prof. Dr. Siegln. Freu d. Die
Geisteskrankheiten des Kindesalters mit besonderer Berück¬
sichtigung des schulpflichtigen Alters. Von Prof. Doktor
Th. Ziehen. Nervenkrankheit und Lektüre. Nervenleiden
und Erziehung. Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindes¬
alters. Von Prof. Dr. H. Oppen h e i m. Studie über Minder¬
wertigkeit von Organen. Von Dr. Alfred Adler. Ref. : E. R a i-
m a n n.
III. Aus verscliiedenen Zeitschrifteu.
IV. Therapeutische Notizen.
V. Vermischte Nachrichten.
VI. Veriiandlnngen ärztlicher Gesellschaften undEongreßberichte.
zudringen oder auch nur in weiteren Kreisen Beachtung
zn finden. Nun wurde er mit seinem reichen, das ganze
Gebiet heherrschenden Wissen auf einmal in medias res
gestellt, der rechte Malm an die rechte Stelle, und fand
so Gelegenheit, seine Lehren voll zn entfalten und zur
Geltung zn bringen. Alles, was er bisher zur Klarstellung
und Festigung des alten Besitzstandes geleistet, was er an
neuen Erwerbungen beiges teuer t hatte, wurde plötzlich ak¬
tuell und in großem Maßstahe zur praktischen Erprobvmg
gestellt. Nach kurzer, aber eingehender Prüfung fanden seine
Prinzipien und Lehrsätze, die von vorneherein durch ihre
feste Fniidierimg imponierten, in allen beteiligten Kreisen
Anerkeimimg und Würdigimg. Mit einem kühnen Ent¬
schlüsse wurde das imbrauchbar oder nnverläßlich ge-
luÄdeiie Alte beiseite geschoben und sowohl die Fassung
der theoretischen Begriffe als auch die Methode der prak¬
tischen Prüfung auf eine ganz neue Basis gestellt. Das
Material strömte jetzt von allen Seiten in kaum zu bewäl¬
tigender Weise zu und die zur Gewimiimg diagnostischer
Erfahrungen vorgenommenen Uiitersuchniigeii führten
wieder zu iienen symptomatischen Befniideii und theoreti¬
schen Problemen, an deren Lösung fortlaufend gearbeitet
wird.
Wie alles Nene, wurden auch Nagels Grundsätze
aus den mannigfachsten Motiven bekämpft, belächelt oder
ignoriert, aber alle offenen und versteckten Angriffe schei¬
terten an den festen Eündamenten seines Baues und eine
nun schon jahrelange Erfahrung an vielen Tausenden von
Fällen (Nagel seihst prüfte bereits über 5090 Personen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 23
C>d
aut ihren Farhensiiin) JiaL seine Lelirnieiiiungen glänzend
Jjestätigt und ihnen in immer weiteren Kreisen überzeugte
Anhänger gewonnen.
Die so gewonnene Bereic.lierimg unserer theoretischen
Erkenntnis über das Wesen der Farhensinnstörungen, die
total geänderten Anschauungen über ihre praktische Bev
deutung, sowie die Vervollkommnung der Untersuchungs¬
methodik erscheinen nun wn solcher Bedeutung, daß allen
Behörden, Verwaltungen und Aerzten, die Farhensinnprü-
fungen anzuordnen, zu überwachen oder durchzuführen
haben und denen damit die Verantwortlichkeit für die
Farbentüchtigkeit des auf Eisenbahnen und Schiffen ver¬
wendeten Personales zufällt, die unabweisliche Pfliclit er¬
wächst, sich mit diesen Forschungsergebnissen vertraut
zu machen und die praktischen Konsequenzen daraus zu
ziehen.
Da die einschlägigen Arbeiten von v. Kries, Nagel
und ihrer Schüler in weniger zugänglichen Handbüchern,
Zeitschriften und Dissertationen niedergelegt sind, so soll
in folgendem der Versuch gemacht werden, jene Kollegen,
die beruflich mit Farbensinnprüfungen belastet sind und
zu eingehenden Studien keine Zeit finden, über den heutigen
Stand dieser kragen kurz zu orientieren, ihnen ein eigenes
Urteil zu ermöglichen und sie dadurch in die Lage zu
setzen, in voller Erkenntnis der neuen Grundsätze zu han¬
deln und nicht nur dem Zwange amtlicher Verordnung zu
folgen.
Es kann selbstverständlich nur meine Aufgabe sein,
aus den Arbeiten der genannten Forscher das für unsere
praktischen Zwecke Brauchbare zu exzerpieren und zu be¬
quemer Benützung darzubieten. Ich halle mich dabei haupt¬
sächlich an die unten genannten Publikationen von
V. Kries,^) Nagel“) und Collin^) und bringe sie zum
Teile ad verbum. Theoretische Bemerkungen sollen nur so¬
weit Platz finden, als sie zum praktischen Verständnisse
unbedingt notwendig sind. Auch auf die älteren, zurzeit
noch vorgeschriebenen oder üblichen Prüfungsverfahren soll
insoweit Büchsicht genommen werden, als dies zu ihrer
praktischen Durchführuhg und kritischen Würdigung ge¬
boten erscheint, um den Bahn- und Alarineärzten alles
Wesentliche an die Hand zu geben, was sie zu ihrer beruf¬
lichen Tätigkeit nach dem Wortlaute der Dienstes Vorschrif¬
ten benötigen und was im allgemeinen zu einer verläßi-
lichen Prüfung dieser Sinnesfunktion unentbehrlich er¬
scheint.
Nach der Dreikomponententheorie von Y o u n g - H e 1 m-
holtz nimmt man bekanntlich in der Netzhaut eine Rot-,
eine G r ü n- und eine V i o 1 e 1 1 e r r e g u n g an und be¬
zeichnet die Färbengesunden nach dieser Dreizahl der Er¬
regungen als normale Tri chroma ten, ihr Farbensystem
als ein dreifarbiges, trichromatisches. Daraus braucht nicht
geschlossen zu werden, daß auch die Färbenempfindunger
sich in die Empfindungen dreier Grundfarben (Rot, Grüi
und \ iolett oder Blau) gliedern müssen, wie es zuweilei
behauptet worden ist, sondern die Gliederung der Farben
(Empfindungen muß als unabhängig von der Gliederung dei
Erregimgsarten bezeichnet werden und die Annahme vor
vier, sechs oder sieben Hauptfarben ist zulässig, auch wem
man strenge an der Einteilung der Erregung in drei Er
regungsarten (Komponenten) festhält.
Jede dieser drei Komponenten denkt man sich in spezi
fisclier Weise nur durch Licht bestimmter Wellenlänger
erregbar u. zw. wird die erste Komponente hauptsächlicl
nur durch langwelliges Licht, die zweite nur durch Lieh
von mittlerer Wellenlänge und die dritte nur durch kurz
welliges Licht in den dir charakteristischen Erregungszu
stand versetzt, rvelchem die drei besonderen Emptindungs
(pialiläten Rot, Grün und Violett entsprechen. Die Ein
ptimhmg des Gelb beruhte dann auf einer gleichzeitiger
lätigkeil der Rot- und Grünküinponenle ; eine Weißempfin
düng auf der gleichzeitigen und gleicbslarken Betätiginn
alb'r drei Komponenten oder
m<‘idäi'('n Li(dil(‘rpaar(‘s usw.
der In-regung eiiu's koinpb
Fällt eine dieser Komponenten ganz aus, so wird die
Trichromasie zur Dichr omasie, die Fa rb e n g e s un d-
heit zur partiellen Farbenblindheit. Die Gesamt¬
heit der Dichromaten zerfällt so in drei scharf getrennte
Gruppen, die man je nach der fehlenden Grundempfinduiig
als ilot-. Grün- und Violettblinde bezeichnet. Wegen
der Fülle von Mißverständnissen, welche sich an diese Be¬
nennungen knüpften, hat v. Kries vorgeschlagen, sie durch
Protanopen (für Rotblinde), Deuteranopen (für Grün¬
blinde) und Tritanopen (für Violettblinde) zu ersetzen.
Die Tritanopie (Violett- oder Blaugelbblindheit) kommt
wegen ihrer Seltenheit hier nicht in Betracht.*) Ebenso¬
wenig die totale Farbenblindheit — bei der alle
drei Komponenten fehlen, Achromasie — weil sie eben¬
falls sehr selten und stets von solcher Amblyopie begleitet
ist, daß' diese allein schon die Tauglichkeit zum Eisenbahn¬
oder Vlarinedienste ausschließt. In folgendem sollen daher
unter Dichromaten oder (partiell) Farbenblinden immer nur
Protanopen und Deuteranopen verstanden sein.
Außer diesen typischen Formen von partieller Farben¬
blindheit kennt man seit langem noch andere Färbensinn¬
störungen, die sich nicht unter einen Typus der dichromati-
schen Systeme unterordnen lassen, da es nicht möglich ist,
für den Farbensinn derart Gestörter sämtliche Farbentöne
des Spektrums durch Alischung von nur zwei Farben wieder¬
zugeben, sondern sie bedürfen zur Herstellung gewisser
Farbentöne ebenso wie der Normale dreier Farben in ge¬
eigneter Mischung. Es f e h 1 1 v o n d e n P r i n z i p a 1 e m p f i n-
dungen — abgesehen von gewissen extremen Fällen, von
denen noeh die Rede sein Avird — keine vollständig,
aber die Reizbarkeit für rote und grüne Lichter
ist in verschiedenem Maße und wechselndem
gegenseitigen Verhältnisse herabgesetzt. König
hat sie deshalb anomale Tri chroma ten genannt. Auch
unter diesen lernte man, ganz analog wie bei den Dichro¬
maten, je nach der vorzugsweise beeinträchtigten Komp'O-
nente zwei bestimmte Typen unterscheiden: die Rotano¬
malen mit abweichender Roterregbarkeit und die Grün¬
anomalen mit abweichender Grünerregbarkeit. Ob auch
die Reihe schließende V i o 1 e 1 1 a n o m a 1 e Vorkommen, ist
bisher noch nicht zweifellos sichergestellt.
Alle di Chromatis dien Systeme kann man mit
V. Kries als Reduktionsformen, alle anomalen nach
G. E. Alüller als Altera tio ns formen des nonnalen
trichromatischen Systems auffassen. Das protanopische und
deuteranopische Sehorgan denkt man sich durch Ausfall,
das rot- und grünanomale durch abweichende Beschaffenheit
der Rot-, bzw. Grünkomponente entstanden. In dieser Weise
werden die Beziehungen sämtlicher Systeme relativ einfach
verständlich.
Wie man sieht, ist die ganze hier angeführte Nomen¬
klatur auf der dreikomponentigen Gliederung des Sehorganes
aufgebaut und dadurch den Angriffen der eimuider be¬
kämpfenden Schulen ausgesetzt; hoffentlich gelingt es bald,
durch allgemeine, keiner prinzipiellen Auffassung präjudi-
zierende Namengebung wenigstens für die praktisch-diagno¬
stische Seite der Frage eine gemeinsame Basis zu gewännen.
Im Laufe unserer Erörterung sollen übrigens abwechselnd
alle gebräuchlichen Bezeichnungen benützt werden, um eine
möglichst allgemeine Orientierung zu ermöglichen.
Es dürfte nun besonders interessieren, was und wie
denn die Dichromaten eigentlich sehen. Die beste Vorstel¬
lung davon wird eine Darstellung ihres Spektrums geben.
Wir besilzen bekanntlich in der prismatischen Zerlegung
des von unseren Lichtquellen ausgesandten gemischten Lichtes
*) Dagegen wird sie erworben, an umschriebenen Stellen, bei Er¬
krankungen der Netzhaut (Ablatio, Retinitis albuminurica, diabetica
specifica) nicht selten beobachtet und scheint hier die Differentialdiagnose
zwischen Netzhaut- und Sehnervenerkrankungen zu unterstützen (Simon,
Dr. Richard, lieber die diagnostische Verwertung der erworbenen
Violettblindheit. Beiträge zur Augenheilkunde. Festschrift Jul. Hirsch¬
berg, Leipzig 1905, Veil & Comp.); auch nach Verletzungen der Netz¬
haut wurde sie schon beschrieben. (Dr. Collin und Dr. W. A. Nagel,
Erworbene Tritanopie. Zeitschrift für Sinnesphysiologie 1906, Bd. 41, S. 74.)
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
689
eiii.Millcl, die einzelnen ([ualihiliv vei>;eliiedeiien Lieliiarten räum¬
lich zu sondern und zur Anschauung zu bringen. Die in einem
solchen Spekrlum .je nach der verschiedenen Wellenlänge der
Lichter neheneinander geordnete Farhenreihe führt von Rot durch
Orange, Gell), Cu'ün, Blau, Indigo zum Violett. (Die
beigegehene Skizze möge das bekannte Dikl mit den uns hier
interessierenden Einzelheiten in Erinnerung rufen.) Für Rot ist
Aendening der Empfindung, die man als Modifikation des Farhen-
tones bezeichnet; einer Aendening des Mengenverhältnisses der
Mischung mit Weiß, eine Abstufung der Sättigung; einem Wechsel
der Intensität, endlich ein Wechsel der llelligkeits- und Dunkel¬
heil sgrade.
Anschauliche Darstellungen der Gesamtheit der möglichen
Farhenempfindungen sind von vei’schiedenen Autoren schon seit
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^ledrum
r/n J/iecin/m
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' unt/ B.ctei PFvtanoperv.
(/ItrtZM
violett
l”
M, H,
Fig. 1.
die Wellenlänge am größten, für Violett am kleinsten; sie beträgt
in Millionstel-Millimetern für reines Rot etwa 680 hh; für Grün
(Gelhgrün) 550 hh und für Violett 420l^h. Slrahlen von größere]'
Wellenlänge als etwa 800 EM' (ultrarot) oder kleinerer als etwa
400 hM' (ultraviolett) sind für unser Auge nicht mehr wahrnehm-
har; besonders unscharf ist die Begrenzung des sichtbaren Spek¬
trums im ultravioletten Lichte. Rot, Orange und Gelb nennt man
auch warme; Grün, Blau und Aholett kalte Farben. Während
im Interferrenz-Spektrum die Dispersion eine gleichmäßige ist,
d. h. gleichen Abständen im Spektrum überall gleiche Unterschiede
der Wellenlänge entsprechen, nimmt die Dispersion im pris-
malischen Spektrum vom langwelligen (roten) zum kurzwelligen
(violelben) Ende beständig zu, so daß die einzelnen Farben immer
weiter auseinamlergezogen erscheinen. Lichter, hei denen aus¬
schließlich Schwingungen von einer heslimmten Wellenlänge oder
SCHWARZ
Schwingungszahl Vorkommen, nennen wir rein, einfach oder ho¬
mogen, während unler gemischten Lichtern solche verstanden
w(‘rden, die sich aus Slrahlen verschiedener Wellenlänge zu-
sammeiiselzeii. Einer Aenderung der Wellenlänge, entspricht eine
Newtons Zeit in sogenannten Farbenlafeln (Farhenringen oder
Farbendreiecken) gegeben worden. Nebenstehende Figur zeigt die
einfachste Form dieser Darstellungsweise, wie sie Nagel heim
Unterrichte benützt, den Farhenkreis, in dem die Gesamtheit
der spektralen Farhentöne mit dem zwischen den beiden End-
farhen (Rot und Violett) vermittelnden Purpur dargestellt er¬
scheint u. zw. in der Anordnung, in der sich die Komplementär-
farbenpaare diamelral gegenüherstehen.
Denkt man sich den Mittelpunkt des Kreises als Stelle des
Weiß, so kann man sich auf jedem einzelnen Radius alle Ueher-
gänge von den reinen, gesättigten Farhentönen am Rande, zu
dem zentralen Weißi aufgetragen denken, wodurch die verschie¬
denen Sättigungsstufen der einzelnen Farben zum Ausdrucke ge¬
bracht werden. Verfolgt man auf einer in dieser Weise kon¬
struierten Farbentafel' auf einem beliebigen Durchmesser die
Farben von einem Rande bis zum anderen, so findet man auf
diesem Durchmesser die sämtlichen Farhentöne, die durch
Mischung der beiden reinen,* an den Enden des Durchmessers
liegenden Farben erzielt werden können. W’^elche der Mischuiigs-
farben erhalten wird, hängt von dem Mischungsverhältnisse ab;
es ist klai', daß nur bei einem ganz bestimmten Mischungsverhält¬
nisse die komplementäre Ergänzung zu Weiß, hzw. Farblos er¬
reicht werden kann. Es sei hier gleich daran erinnert, daß die
im Komplementärverhältnisse zueinander stehenden Farbenpaare
auch annähernd diejenigen sind, die sich ira Kontraste gegen¬
seitig hervorrufen.
Wollte man sich die Gesamtheit aller Farbentöne auch
in allen möglichen Intensitätsabstufungen veranschaulichen, so
würde man mit einer flächenmäßigen Darstellung der Farben-
lafel nicht mehr auskonnnen, sondern müßte eine dreidimensionale
Darstellung, den sogenannten Farbenkörper, wählen. In unserer
oben angegebenen, kreisförmigen, Farbentafel könnte man sich
im Zentrum des Kreises ein Lot errichtet denken, dessen Fuß,-
punkt im W’’eißi liegt, dessen Spitze den Punkt des absoluten
Schwarz angeben würde ; auf dem Lote würden sämtliche Ab¬
stufungen von Schwarz zum Weiß durch Grau zu finden sein.
Auf einer durch den Schwarzpunkt und den Farbenkreis gelegten
Kegelmantelfläche liegen dann alle Uebergänge von Sclnvarz bis
zur denkbar größten Intensität der reinen Farben.*)
Nach dieser kurzen Rekapitulation der physikalischen
Verhältnisse kehren wir zum Spektrum der Färhenblinden
zurück.
Für d e n Dich r o m a t e n z e i‘ f ä 11 1 das S p e k t r u m
in zwei Hälften, deren Farben einen scharfen
Gegensatz zueinander darstellen. Die eine Hälfte,
welche vom Blaugrün bis zum Violett reicht und die man
*) Hering bezeichnet Rot, Gelb, Grün, Blau und ihre Zwischen¬
farben als bunte oder getönte Farben ; Weiß und Schwarz samt
ihren grauen Zwischenstufen als ton fr eie oder ungetönte Farben.
Bunte Farben, welche keine Verhüllung durch Weiß, Grau oder Schwarz
erkennen lassen, nennt er freie Buntfarben; diejenigen aber, welche
neben ihrem Farbenton eine mehr oder minder deutliche Weißlichheit,
Graulichkeit oder Schwärzlichkeit zeigen, nennt er v e r h ü 11 1 e Farben.
Die Bezeichnung »gesättigt« verwendet er überhaupt nicht. Siehe die
Grundzüg^ der Lehre vom Lichtsinne von E. Hering in
Graefe-Saemisch’ Handbuch der Augenheilkunde, Leipzig, Wilhelm
Engelmann 1905. Das Studium dieser geistsprühenden, fesselnden,
mit durchsichtigster Klarheit, stilistischer Vollendung und unglaublicher
Frische geschriebenen wirklich klassischen Arbeit sei überhaupt jeder¬
mann auf das wärmste empfohlen; es wird ihm genußreiche Stunden
gewähren und dauernden Gewinn hiuterlassen.
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WlENEll KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
mit Don tiers als die kalte bezeichnen kann, wird vom
Ihirbenldinden im allgemeinen blau genannt; die andere,
die wa rme Hälfte, welche von einem etwas gelblichen Grün
bis zmn äußersten Rot reicht, bozeicbnet er im allgemeinen
als gelb. Doch verwenden sie für die warmen Farben auch
die Rezeichnung Rot und Grün, ohne aber tlen dnrch-
greifeiiden Unterschied von Rot und Grün gegen Gelb, wie
ihn der Farbentüchtige sieht, richtig auffassen zu können.
Zwischen der warmen und kalten Hälfte liegt eine Ueber-
gangszone (neutrale Strecke), in der die Farben immer
weißlicher, ungesättigter werden, nm schließlich bei einem
bestimmten, schon etwas bläulichen Grüu in Farblosigkeit
(weiß, bzw. grau) überzugehen, dieser sogenannte neu¬
trale Punkt liegt etwa zwischen 490 und 500 HF.
An beiden Enden des Spektrums sind gewisse Strecken
vorhanden, innerhalb deren sich für den Normalen der Farhen-
lon nicht ändert, sondern nur die Helligkeit. Lassen wir am
roten Ende die Wellenlänge von einem gewissen Betrage ah
noch weiter wachsen, oder am violetten von einem gewissen
Werte ah noch weiter abnehmen, so ändert sich die physiologische
Wirkling nicht anders, als wenn wir das ursprüngliche Licht
in seiner Stärke verändern; man bezeichnet diese Strecken nach
König als End strecken. Je zwei Lichter aus einer solchen
Endstrecke geben also miteinander Gleichung, wenn nur das
llelligkeitsverhältnis richtig gewählt wird.
Auch die Earbeiiblindeii haben Endstrecken und zwar
ist bei ihnen namentlich jene am roten Ende des Spek¬
trums ganz bedeutend verlängert, insoferne sie noch
Gleichung zwüschen Rot und einem schwach gelblichen
Grün etwa von der Wellenlänge 540 FF bekommen können.
Diese Verlängerung der E n d s t r e c k e ist neben
dem Vorhandensein des neutralen Punktes die
auffallendste am Spektrum der Dichromalen zu
beobachtende Erscheinung. Auch am violetten Ende
ist die Endstrecke für den Dichromalen etwas verlängert,
d. h. sie reicht noch etwas in das Indigo- hinein, doch jist
der Unterschied gegen den Normalen lange nicht so- großi
wie am roten Ende. Die Länge des farbigen Spektrums
im allgemeinen deckt sich für den Deuteranopen vollstän¬
dig mit der des Normalen; für den Protan-open bewirkt
die Unterempfindlichk-eit für rotes Licht eine merkliche Ver¬
kürzung am roten Ende.
Vergleicht man vorstehende Schilderung des normalen
und dichromatischen Spektrums, so springen die auffal¬
lenden Unterschiede in den langwelligen Hälften sofort in
die Augen. Der Farbenblinde vermag die drei objektiv ver¬
schiedenen Lichter derselben (Rot, Getb und Grün) nicht
auseinander zu halten, weil sie ihm nur als Schattierungen
von Gelb erscheinen und im v/esentlichen handelt es sich
um den Ausfall des Farbenpaares Rot- Grün, wes¬
halb Hering die Anomalie auch kurzweg R-ot-Grün-
R lind heit genahnt hat. Die farblose Empfindung kann
vorn neutralen Punkte aus nur gegen zwei sich aus¬
schließende Farben (Blau und Gelb) in zunehmender Sätti¬
gung abgestuft werden und damit erscheint die Maimig-
faltigkeit der Farbonempfiudungen und Farbenuuterschei-
dungen ganz wesentlich reduziert. Die Gesamtheit der opti¬
schen Valenzen ist, wenn man neben der Reizart auch die
Intensität berücksichtigt, als die Funktion von zwei Variablen
erschöpfend darzustelleii. Die für den Normalen mit seiner
dreikomponentigen Gliederung des Sehorganes gültigen Ge¬
setze der Lichtmischung gelten zwar für jedes reduzierte
System ebenfalls, aber bei diesen letzteren treffen noch
andere Mischungsmöglicbkeiten zu, die für den Normalen
nicht gellen. Lichter, die für den Normalen durchaus ver¬
schieden sind, werden dem Dichromaten gleich erscheinen
und ei’ wird z. R. nicht nur Rot und Grün verwechseln,
soiiderii naturgemäß auch alle Mischfarben für gleich halten,
die sich für den Normalen nur durch ihre Wirkung auf
die Rot- -oder Grünkomi)onenie unterscheiden. Am Spektral-
apparab', der die Nebeneinanderstellung und Vergleichung
sowohl homogenen als binär gemischten Lichtes bei ge¬
nauester Regulierbarkeit der Helligkeit gestattet, lassen sich
die f arbenpaaro, die dem Farbenblinden gleich erscheinen.
welche ihm, wie man sich ausdr tickt, infolge der für sein
Auge bestehenden physiologischen Gleichwertigkeit der be¬
treffenden Lichter eine sogenannte -optische Gleichung
(Scheingleichung) geben, leicht feststellen und je nach der
\Nn’schiedenheit des Farbentones, der Sättigung und Hellig¬
keit, die sie bei Einstellung dieser Farbengleichungen in An¬
wendung bringen, auch bestimmte Anhaltspunkte für die
Auseinanderhaltung der beiden Typen gewinnen. Diese, wie
sich gleich zeigen wird, ganz typischen Verwechslungen
geben uns auch ein einfaches Mittel zur Erkennung der
Farbenblinden an die Hand.
In einfacherer, allerdings beschränkterer Weise kann
man zur Herstellung dieser f arbenglei-chungen auch den
mit Tageslicht arbeitenden Fleringschen Apparat zur Unter-
sucbung des Farbensinnes'^) benützen, ln dem Farben¬
gleichungsapparate Nagels, bei welchem durchleudrtete
farbige Gläser in Verwendung kommen; werden die typi¬
schen Gleichungen des Dichromaten schon fertig dargeboten
und die zwei Formen sind durch Einstellung eines
Zeigers auf bestimmte Marken leicht zu sondern.
Im allgemeinen erhalten die R o t - Cr r ü n - B 1 i n-
d e n Gleichungen zwischen:
Rot und Gelb,
Gelb und Grün,
Rot und Grün ;
Purpur (Rosa) und Blaugrün,
Blaugrün und Grau,
Purpur (R o s a) und Grau.
Sie nennen Rot bald ,,gelb“, und Gelb, wenn es die
dunklere Farbe ist, ,,rot“, bald Gelb ,,grün“ und demgemäß
auch R-ot ,,grün“. Unter diesen drei Farben erscheint für
den Rotblinden das Ro-t, für den Grünblinden das
Grün als die dunkelste Farbe. Die Verwechslung von
Purpur (Mischung aus Violett -oder Blau mit Rot) und
Blaugrün wird durch iferi Ausfall von R-o-t und Grün ver¬
ständlich; im Blaugrün liegt der neutrale (grau erschei¬
nende) Punkt des dichromatischen Spektrums, daher diese
Empfindungen überhaupt zusainmenfallen ; die Gleichheit
von Purpur und Grau folgt claim nach bekannter Regel von
’ selbst.
Zur Charakterisierung der beiden Typen ergeben sich
folgende Anhaltspunkte :
Das protanopische Sehorgan zeigt eine auffallend ge¬
ringe Empfindlichkeit gegenüber sehr langwelligem Lichte,
demzufolge das äußerste Rot des Spektrums gar nicht wahr¬
genommen wird, sein rotes Ende verkürzt erscheint; da¬
gegen ist es den kurzwelligen Lichtern gegenüber relativ
erregbarer als das deuteranopische, welches seinerseits bei
unverkürztem Spektrum wieder gegenüber den längerwelli-
gen Lichtern relativ erregbarer ist.
Nach Hering unterscheidet man in diesem Sinne Rol-
grünblinde des ersten Typus mit verkürztem Spektrum und
relativer Blausichtigkeit und solche des zweiten Typus mit
unverkürztem Spektrum und relativer G elbsich tigkeit.
Bei der Herstellung von Gleichungen zwischen R-ot
und Gelb muß der Protanop dem Rot eine beträcht¬
lich größere Lichtstärke geben als der Deuteranop und
zwar verhalten sich die Mengen roten Lichtes, die Protan-open
und Deuteranopen erf-orderh, um Gleichheit mit (dnem ge¬
gebenen Gelb zu erzielen, etwa wie 5:1, wodurch der Unter¬
schied beider Sehorgane scharf charakterisiert erscheint.
Ebenso ergeben sich bei der Rot-G rün- Verwechs¬
lung ganz typische Unterschiede, indem das Rot,
das einem bestimmten Grün gleich erscheint, sowohl an
Farbentoii, wie an Helligkeit beim Pro-tanopen und Deutera¬
nopen ungemein verschieden ist. Der Protanop verwech¬
selt ein leicht bläuliches Rot mit einem dem normalen
Auge viel dunkler erscheinenden Grün (Scharlachrot
mit Dunkelgrün); der Deuteranop ein erheblich bläu¬
licheres Rot und ein Grün, die auf das n-o-rmale Auge
etwa den Eindruck gleicher Helligkeit machen.
Am Hering sehen Farbengleichungsaiiparate nimmt
! der Protanop zu einer Ro t- Gr ün- Gl ei chu n g ein gelb-
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liclics Rol und ein (liiiiklorGs Cirüii; der Dciitorti-
11 0 p ein bläuliches llo t uml ein lie li (, e r e s (i r ii n ; ganz
ciinlüg liegen die \ erliälliiisse bei blerslellinig einer (ilei-
chmig zwischen Rot und (Iran, nur treten hier die llnler-
sebiede noch denllicher* hervor, daher sicJi die Prüfung
auf diese \ erwechslnng für die Differentiatdiaguose noch
mehr empfiehlt.
In der allgemeinen Praxis verwendet man zur Erken¬
nung der b arbenbliiKlen die gleichen Prinzipien in ein-
tacherer b orm. Man läßt die Verwechslungsgleichungen zum
Reispiel mit Wollprohen hersteüen (wie bei der Holmgren-
schen Probe) oder bietet sie fertig in sogenannten psendo-
isorochromalischen Farbendrncken. So kann der barben¬
blinde die Ziffern der S tilli n gschen Tafeln nicht lesen,
weil sie auf einem in Verwechslungsfarben hergestellten
eirunde stehen; und in den Nage Ischen Tafeln die ein-
larbigen Ringe nicht von den mehrfarbigen unterscheirien,
weil die letzteren in Verwechshmgsfarhen zusammengestellt
sind und dem Uichromaten ebenfalls gleich erscheinen, wo¬
gegen ihm bei den ersteren wieder die verschiedene Hellig¬
keit und Sättigung der einzelnen Scheibchen für Unter¬
schiede des bhirbentones Imponieren können, so daß er sie
mehrfarbig sieht. Die Differenzierung beider Typen mit
Wollprohen soll noch heschrieben werden; mit Stilling
ist sie unmöglich; Nagel verwendet bei seinen Tafeln
zu diesem Zwecke die bereits bervorgehobene Tatsache, daß
dem Protanopen das Rot, dem Denteranopen das
Grün als die dunklere Farbe erscheint; auch hei Neben-
einanderstellung von Rot und Rraun*) sieht der Ptot-
blinde das R o t deutlich d u n k 1 e r, wdlhreiid für den Gr ü n-
hlinden beide fast gleich hell sind.
Bei der Darstellung des dichromatischen Spektrums
wurde erwähnt, daß die Farbenhlinden für die langwelligen
Lichter auch die Bezeichnungen Rot und Grün verwenden,
obwohl ihnen diese spezifischen Empfindungen a])gehen ;
zum Verständnisse dieser scheinbar parodoxen Tatsache sei
hier noch folgende Erwägung eingeschaltet (Collin). Die
übliche Farbenbezeichnung ist eine erlernte, konventionelle,
dem b’arbensyslem der Majorität der Farbentüchligen ange¬
paßte; der Farbenblijide hört schon in der Schule, daß
die anderen gewisse Gegenslände als rot, gelb und grün be¬
zeichnen und tut das gleiche, obwohl er sie gleichfarbig
sieht und jene Benennungen für sein wesentlich anders ge¬
artetes Farbensystem gar nicht passen. Mit forlschreitender
Erkenntnis wird er daher dazu gedrängt, sicli nach anderen
U n t e r s c h e i d u n g s m e r k m a 1 e n innz usehen ii nd findet
solche bald in den v e r s c h 1 e d e n e n H e 1 1 i g k e i t s g r a d e n,
welche die einzelnen Farben bei gleich starker Lichtcpielle
aufvveisen,**) sowie in den charakteristischen Sätti¬
gungsunterschieden der einzelnen Pigmenlfarben. Er
bringt es bald dahin, die richtige Färbenhezeichnung ihm
bekannter Gegenstände zu erraten oder sie zu er¬
schließen, wenn ihm die Möglichkeit geboten wird, die
Helligkeits- und Sättigungsimlerschiede zweier verschieden¬
artiger Lichter miteinander zu vergleichen; er wird aber
sofort unfähig zur Beurteilung der Farbe, wenn er un¬
bekannten 01)jekten gegenübersteht, wmin deren Farben
wenig gesättigt sind oder wenn er die Objekte u n t e r
kleinem Gesichtswinkel sieht, die Entfern ung also
groß, das Objekt selbst klein ist. Für den Rot-Grün-
Blinden hat dann eine gelbe (weiße),***) rote und grüne
Laterne in Wahrheit dieselbe Farbe und höchstens
Helligkeits- und Sältigungsunterschiede sind es, die ihm
unter besonders günstigen Umständen — wenn die Atmo¬
sphäre frei von Rauch und IVebel und die Licht rpielle ge¬
nügend stark ist — die Unterscheidung dieser Signale er-
*) Braun ist eine Kombination von Rot, Orange oder Gelb
mit einem gewissen Maß von Schwarz.
**) Hering unterscheidet drei qualitativ verschiedene »Hell«:
das Weiß, das Gelb und das Rot; und drei »Dunkel« verschiedener
Art: das Schwarz, das Blau und das Grün. Dem Gelb und Rot schreibt
er ein Ei gen hell, dem Blau und Grün ein Eigendünkel zu.
***) Die sogenannten weißen oder farblosen Laternen er¬
scheinen immer mehr weniger gelb.
mögliclien. Auch die ungleich scharfe Begrenzung des
Bildes kommt ilim dabei zu Hilfe, indejh ein rotes Licht
immer am schärfsten begrenzt erscheint (Bot hat die
geringste Dispersion), wogegen ein grünes Signallicht viel
unljestimmtere, oft sternförmig ausistrahlende Grenzen auf¬
weist.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich für die Diagnose
der Farbenblindheit der wichtige Schluß, daß es ganz gleich¬
gültig ist, wie jemand eine bestinnnte Farbe benennt; inaß-
gebend ist rnnner nur das Farbenunter:scheidungs*vermögen ;
die Farbenbenennung dient dabei lediglich als Hilfsmittel
zur Peststellung, ob zwei in Wirklichkeit verschiedene
Farben nebeneinander für gleichfarbig gehalten werden
oder nicht.
Wesentlich anders als die Farbenblinden
verhalten sich die anomalen Trichroinaten. Ein
Spektrum für sie aufzustellen ist wegen der großen Varia¬
bilität der in Betracht kommenden Verhältnisse nicht
möglich.
Allen gemeinsam ist die beträchtliche
Herabsetzung der Unterschieds empfindlichkei t
für P’arbentöne in der Region des Grüngelb (Bon¬
ders). Das Licht der Natriumflamme (589 pp) erscheint
ihnen noch deutlich orange und das Gelb ohne Annäherung
an Orange oder Grün liegt tür sie erst bei etwa 570 pp.
Aelmliches kommt ja auch bei vielen normalen Trichroinaten
vor; aber die Anomalen nennen ein kurzwelliges Licht rein
gelb, das alle Normalen schon deutlich grünlich sehen. Zu¬
weilen reicht diese herabgesetzte Unterschiedsemiifindlicb-
keit von 580 bis 540 PP, ja mitunter erscheint sie in dieser
Strecke auf Null reduziert, so daß diese Personen zwischen
den zwei genannten lächtern (Gelb und einem Gelbgrün)
Gleichung erhalten; sie nennen dann beide Färben gelb
oder weiß, gelegentlich auch grün.
Am schärfsten sind die Anomalen durch ihr
V erhalten gegenüber der so genannten-, ,Raylei gh-
Gleichung“*),charakterisiert, d. h. einer Gleichung
zwischen einem homogenen Gelb (589 pp) und einer
Mischung aus Rot und Grün (etwa 670 und 545 PP).
Wenn ein normaler Trichromat am Spektralapparate die
Mischung der zwei genannten Farben so herstellt, daß sie
dem gegebenen reinen Gelb gleich aussieht, so ist diese
Gleichung für die Anomalen nicht zutreffend; ein Teil von
ihnen findet die Mischung grün, der andere rot. Die
ersteren, die Rot anomalen nehmen, um Gleichung zu
erhalten, beträchtlich mehr Rot und weniger Grün als
der Farbentüchtige, ihre Mischung erscheint dem Normalen
rot; die zweiten, die G r ü n a n o m a 1 e n, brauchen umge¬
kehrt mehr Grün und weniger Rot als der Normale, ihre
Gleichung ist für den Färhoitüchtigen deutlich grüngelb.
Bei einzelnen Grünanomalen kann man sehr viel mehr
Grün beimischen, ja bei gewissen extremen Formen das
Grün rein neben das gelbe Vergleichslicht stellen, ohne
(laß Ungleichheit auftritt, wenn man nur die Helligkeits¬
verhältnisse entsprechend regnliert. Nagel nennt sie Ex¬
trem-Grünanomale; mit Holmgren und Stilling er¬
scheinen sie als typisch grünblind.
Ganz ähnliche extreme Fälle gibt es unter den Rot-
anomalen. Bei Ihüfung mit Holmgren und Stilling im¬
ponieren sie als Protanopen und es kann sehr schwer werden,
sie von diesen zu unterscheiden, da sie auch am Speklral-
apparate zwischen Rot und Gelb nahezu eine Scheinglei¬
chung erhalten, wenn das richüge Helligkeitsverhähnis ge¬
wählt wird. Sie legen bei Plinstellung einer Gleichung ge¬
radeso wie die Dichromaten viel mehr Gewicht auf Hellig¬
keitsdifferenzen als auf Wellenlängenuntersdiiede. Mit
Nagels Tafeln w^erden sie olme weiteres als Anomale er¬
kannt. In früheren Statistiken wurden zweifellos viele
Personen als Rothlinde regislriert, die in Wirklichkeit Rot-
anomale waren; ebenso werden manche ,,exlrenie Grün-
*) Der englische Physiker Lord Rayleigh entdeckte diese
Tatsache 1881.
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G'I2
anomale“ für Deuteraiiopeii gehalten worden sein. Die Ent¬
scheidung kann immer erst der Spektralfarbenmischapparat
geben.
Wenn wir von diesen extremen Fällen absehen, so
äußert sich die Farbenschwäche der Anomalen vorzugsweise
in einer Beeinträchtigung der G r ün emp f i n du n g,
die so weit gehen kajin, daß eine solche überhaupt unmöglich
wird. Das Grün ist infolgedessen für alle Anomalen eine
so wenig ausgesprochene Farbe, unterscheidet sich so wenig
von Grau und Braun, daß sie die Benennung gewissermaßen
instinktiv nur mit Vorsicht und Zögern anwendeji. Auch
bei den Bota, nomalen ist von den sonstigen Empfindungs-
Dualitäten ebenfalls die Grünempfindung am auffälligsten
beeinträchtigt und es fehlt nicht an Hinweisen, daß bei den
Grünanomalen auch die Rotempfindung herabgesetzt ist.
Man kennt anomale Trichroniaten, die kräftige Rotempfin-
dung haben, aber der Grünempfindung völlig ermangeln ;
dagegen kennt man noch keinen Fäll, bei dem die Rotempfin¬
dung sehr erheblich, die Grünempfindung sehr wenig be¬
einträchtigt wäre.
Leicht verständlich ist es, daß die Rotanomalen mit
ihrer Flnterempfindlichkeit für langwellige Strahlen rote
Lichter schon bei einer Intensität nicht mehr sehen, wo sie
für den Nomialen oder Grünanomalen noch deutlich erkenn¬
bar sind; sie verhalten sich hier ganz wie Protanopen. Läßt
man sie ein objektiv dargestelltes Spektrum betrachten und
sein Ende markieren, so zeigt sich, daß sie ein beträchtliches
Stück vom äußersten Rot schon nicht mehr sehen.
Homogenes Bot (oder Orange) verliert in kleinem Felde
von 2° bis 3° bei Herabsetzung der Intensität für den Ano¬
malen seine spezifische Farbigkeit und gibt dann Gleichung
mit lichtschwachem Gelb u. zw. bei einer Flelligkeit, bei
welcher der normale Trichromat noch deutlich Bot (be¬
ziehungsweise Orange) sieht. Für Grün trifft das Gleiche
in erhöhtem Maße zu.
Wird homogenem Rot reichlich Blau zugeniischt, so
hemerkt der Anomale den Rotgehalt der Mischung schon
nicht mehr, wenn ihn der Normale noch deutlich Avahr-
nimmt ; violett aussehende Rot-Blau-Mischungen, sowie ein
homogenes Violett hält der Aiiomale häufig für Blau.
Die herabgesetzte Unterschiedsempfind¬
lichkeit in der Grün-Grau-Reihe, wie in der Grün-
Braun-Reihe ist eine der beiden charakteristi¬
schen Eigenschaften der Anomalen, die Nagel bei
Konstruktion seiner Täfeln mit bestem Erfolge zur Erken¬
nung dieser Farbensinnstörung verwertete. Und zwar
machen beide Typen bei Prüfung mit denselben nur diese
bezeichnenden Verwechslungen, aber zum Unterschiede von
den Dichromaten niemals Rosa-Grau- oder Rosa-Grün-
\ erwechslungen. Auch am Spektralapparate erkennt man
die große Abweichung von den Dichromaten sogleich an
der Unmöglichkeit, Gleichungen zwischen Rot und Gelb
oder Purpur und Blaugrün zu erhalten.
Von den sonstigen allen Anomalen eigentümlichen Ab-
Aveichungen vom Nonnalen (ihren sogenannten ,,sekun-
dären Merkmalen“) seien folgende als praktisch be¬
sonders Avichtig besonders her vor gehoben:
1. Sie sind abhängiger von der Intensität des
farbigen Reizes, insofern als das Optimum der Licht¬
stärke für die Erkennung von Färbenunterschieden bei
ihnen Avesentlich höher liegt als bei den Normalen. Licht-
schAvuiche Farben erkennen sie nur sehr unsicher ; besonders
wird schAvaches Grün immer mit Grau verwechselt, dunkles
Violett für Graugrün gehalten.
2. Sie sind abhängiger von Helligkeitsdiffe¬
renzen insofern, als ihnen diese oft auffälliger erscheinen
als Farbe nl ondifferenzen.
3. Sie brauchen zum k rkennen A'on Farben erheb¬
lich größere Gesichtswinkel; speziell zur Uiiter-
scheidung von roten und grünen Signallichtern muß der¬
selbe um das drei- bis zAvölffache größer sein als bei
Vonualen. Bei kleinem leide (Vio° und darunter) sind sie
auch in der Uiderscheidung Amn Rot und Gelb ganz un¬
sicher. An sehr kleinen Objekten können selbst sehr ge¬
sättigte Farben für den Anomalen unerkennl>ar bleiben und
farbenanomale Aerzte klagen z. B. oft über die Schwierig¬
keit, gefärbte Bazillen zu erkennen.
4. Sie brauchen zum Erkennen von Farben erheb¬
lich längere Zeit u. zw. für Rot das 20 fache, für
Grün sogar das öOfache gegen jene des Farbentüchtigen;
bei kurzer Exposition erkennen si-e die spezifische Farbe
überhaupt nicht.
5. Sie ermüden farbigen Reizen gegenüher schnell
und halten schließlich Farben für gleich, die sie bei aus¬
geruhtem Auge sofort als ungleich erkennen würden.
6. Das interessanteste und 'charakteristi¬
scheste Symptom aber, welches die Anomalen
stets aufweisen, ist ihr erheblich gesteigerter
Simultan- und Sukzessivkontrast. Diese Eigen¬
tümlichkeit äußert sich sowohl bei den Rot-, Avie bei den
Grüna.nomalen nur dann, wenn Rot oder Grün kontrast¬
erregende Farben sind, nicht aber bei Blau oder Violett.
Sehr auffällig zeigt sich die Kontraststeigerung am Farben¬
kreisel. Färbt man die (äußere) große Scheibe durch Mischung
von Schwarz und Gelb braun und mischt auf der (inneren) kleinen
Scheibe, die ebenfalls Schwarz und Gelb enthält, variable kleine
Mengen von Rot und Grün bei, so bleiben für den Anomalen be¬
trächtliche Grünzumischungen unbemerkt; AAmnn er die kleine
Scheibe allein siebt; sie AAmrden aber sofort bemerkt, Avenn gleich¬
zeitig die äußere Vergleichsscbeibe sichtbar ist; doch Avird der
Grünzusatz nicht direkt und an und für sich Avahrgenommen,
sondern dadurch, daß das Vergleichsbraun rot oder orange ge¬
färbt AvUrde. Es tritt also ein kräftiger Kontrast der unler-
scliAvelligen Farbe auf das Nachbarfeld zu einer Zeit in Er¬
scheinung, Avo das Giün als solches noch gar nicht erkennbar
ist. Bei der notorischen Unterempfindlicbkeit der Anomalen für
grüne Lichter muß es um so mehr auffallen, daß sie mit solcher
Bestimmtheit von Grün sprechen, sobald der Kontrast von seilen
eines kräftigen Rot ihnen solches erscheinen läßt. Nimmt man
außen ein gesättigtes Blau grün, innen ein Grau (Avie sie etAva
der Dichromat foveal, helligkeits- und farbengleich sieht), so er¬
scheint die graue Scheibe in leuchtendem Karmin. Die Anomalen
sehen daher Grau, Braun oder Gelb, neben kräftigem Rot „grün“,
neben lebhaftem Grün ,,rot“.
Zeigt man ihnen in der Nähe hintereinander ein
weißes, gelbes, rotes oder grünes Licht, so Averden
sie meist richtig unterscheiden; sobald sie aber diese
Lichter nebeneinander sehen, machen sie grobe
Fehler; ein weißes oder gelbes Licht erscheint ihnen
grün, wenn ein kräftiges rotes Licht daneben steht; rot,
wenn lebhaftes Grün daneben sichtbar ist. Nagel hat
dieses konstante und außerordentlich bezeich¬
nende Symptom bei Konstruktion seiner Tafeln
mit bestem Erfolge als weiteres Merkmal zur Er-
k e n n u n g d e r A n o m a 1 e 11 b e n ü t z t und auch sein Farben-
gleichungsapparat gestattet in der dritten Einstellung (Rot-
Gelb) eine sehr bequeme und sinnfällige Verwertung dieser
auffallenden Erscheinung. Ebenso kann man mit dem Appa¬
rate Herings den Färbenkontrast prüfen, indem man ein
rotes und gelbes (graues) oder ein grünes und gelbes (graues)
Glas einsetzt und entsprechend belichtet.
Den Avesentlichsten Teil der hier in knappen Umrissen
angedeuteten Feststellungen über die Anomalen verdanken
Avir Nagel, der in jahrelanger, mühsamer Arbeit bei ver¬
schiedenen Massenuntersucbungen, wie der Prüfung un-
geAvöhnlicber Fälle, namentlich die Entscheidung Amn zwei
Fragen anstrebte, deren Lösung auch uns auf das lebhaf¬
teste interessiert. Einmal: Was ist von den sogenannten
larbenscbAvacben zu halten; sind sie in praktischer Hin¬
sicht den Normalen oder den Farbenblinden gleich-, be-
ziehungsAveise nahezustellen? Und ferner: AVie verhalten
sich die Farbenschwachen unter den Bedingungen des Eisen¬
bahn- und Alarinesignaldienstes ?
Er kajn bei diesen Untersuchungen bald zur Ueber-
zeugung, daß nahezu alle Fälle von angeborenen Farben¬
sinnstörungen, die man neben der typischen Farbenhlind-
heit beobachtet und als Farbe nscliAväche bezeichnet hat,
nichts anderes als anomale Trichroniaten Avaren; unter
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
vielen Uiuseiul lliilersuehten fand er nur ganz vereinzeUe
Ausnainnen. Allerdings beslehen zwischen den einzelnen
Källen bedeidende Unlerschiede. Neben solchen Anoinalen,
bei denen die Abnormiiät des Farbensinnes im gewöhn¬
lichen Leben und bei Prüfung mit den bisher verbreitetsten
Untersuchungsmethoden kaum anffällt, findet man solche,
die sich fast wie Dichromaten verhalten und oft nur sehr
schwer von diesen zu unterscheiden sind. Durch diese
Forschungsergebnisse war es möglich geworden, dem bis¬
her ziemlich schwankenden Begriffe des schwachen Farben¬
sinnes einen ganz bestimmten Inhalt zu geben und die ein¬
zelnen Formen der Anomalie scharf zu fassen und genau
zu umgrenzen.
Mit der Kennzeichnnng der F'arbensch wachen als ano¬
male Trichromaten war nach den eben angeführten Eigen¬
tümlichkeiten derselben die Beantwortung der zweiten Frage
von selbst gegeben. Vergegenwärtigt man sich, wie un¬
sicher die Anomalen den Flauptsignalfarben Rot und Grün
gegenüberstehen ; welchen Täuschungen sie auf großen
Bahnhöfen und Hafenplätzen mit unzähligen farbigen Lich¬
tern infolge ihres gesteigerten Simultankontrastes ausgesetzt
sind; daß Eisenbahnbedienstete und Seeleute die farbigen
Signale fast ausnahmslos unter sehr kleinem Gesichtswinkel
sehen;*) daß die Anomalen in der Unterscheidung grüner
und farbloser (gelber) Laternenlichter unter einem Gesichts¬
winkel von 1/10° und weniger fast genau sO' unsicher sind
wie die typischen Dichromaten; daß die Lichtstärke und
Sättigung dieser Signale meist eine geringe, weit unter der
für die Farbenerkennung optimalen Größe zurückbleibende
ist, zumal wenn beräucherte, bestaubte oder mit Wasser¬
tröpfchen, Schnee oder Eis beschlagene Gläser die Laterne
verdunkeln; daß sie wesentlich längere Zeit benötigen, um
die speziell für den. Signaldienst wichtigen Färbenunter¬
scheidungen zu 'machen, während doch oft ein l)litzschnelles
richtiges Erkennen der Färbe und daraus folgendes Handeln
unerläßlich ist: so muß man Nagel zustimmen, daß die
Anomalen praktisch den Farbenblinden gleich-
zu setzen seien und daher für den exekutiven
Eisenbahn- und Marinedienst weder aufgenom¬
men, noch in diesem geduldet werden dürfen.
Hand in Hand mit der Lösung dieser theoretischen
Probleme gingen die Bestrebungen nach Verbesse¬
rung der diagnostischen Methodik. Bisher hatte
man wohl brauchbare Verfahren zur Eruierung der Färben-
bliiiden in den zwei Haupttypen, die Anomalen wurden
aber nur im Laboratorium mit koniplizierten Spektralfarben¬
mischapparaten diagnostiziert. Auch hier gelang es Nagel,
auf Grund der neu gewonnenen theoretischen Kenntnisse
und seiner ausgedehnten praktischen Erfahrungen (er unter¬
suchte mehrere hundert Anomale) seine bereits 1898 er¬
schienenen Farbentafeln, die zunächst nur zur Diagnose
der typischen Dichromaten bestimmt waren, durch Abände¬
rung einzelner und Hinzufügung neuer so zu verbessern,
daß sie mm auch die anomalen Trichromaten beider
Typen zu diagnostizieren gestatten. Nachdem sie
an einem hinreichend großen Materiale erprobt und als
durchaus verläßlich befunden worden waren, beschloß das
kgl. preuß. Eisenbahnministerium, sie im Bereiche der
*; Eine der üblichen Eisenbahnsignallaternen von 18 cm Licht¬
flächendurchmesser erscheint auf 100 m Entfernung nur noch unter
einem Winkel von wenn man die ganze farbige Scheibe als er¬
leuchtet annimmt; unter einem Winkel von höchstens Vioo®, wenn man
nur die leuchtende Flamme als Objekt rechnet; die Signale müssen aber
auf die fünffache Entfernung, also bei fünfmal kleinerem Winkel noch
unterschieden werden, was für die genannten Fälle 1', 14^‘ und 7'4" ergibt.
Von den Signallichtern der Dampfschiffe interessieren besonders die
Seitenlichter oder Positionslaternen: das Steuerbordlicht muß von blau¬
grüner, das Backbordlicht von kirschroter Farbe sein. Die Dimensionen
und Einrichtungen der Lampen, Linsen und Reflektoren sind genauestens
normiert und aus den betreffenden Vorschriften zu entnehmen. (Ver¬
ordnungen des k. k. Hand. -Minist, vom 17. April 1897, R.-G.-Bl. Nr. 95,
und vom 18. Dezember 1899, R.-G.-Bl. Nr. 254.) Die genannten Lichter
müssen auf eine Entfernung von mindestens 2 Seemeilen (etwas mehr
als 3600 m) sichtbar sein; eine z. B. 18 cm hohe Positionslaterne würde
auf 2 Seemeilen Entfernung unter einem Winkel von 10" erscheinen;
eine 14 cm hohe unter 8" Gesichtswinkel.
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preußisdioii Slaalsbaliiioii als 0 i 11 z i g 0 s o f f i z i 0 1 1 (> s P r ii-
f ungs''^erf alireii eiiiz uf ü b reu, Fa r b e 11 1) 1 i 11 d e und
Anomale in eine einzige Gruppe der ,, Farben¬
untüchtigen“ znsammenzu fassen und samt und
s o 11 d e r s V o ni exekutive]! Dienste a u s z u s c h 1 i e ß e n.
Diesem Beispiele folgten bald die prenßiisclie Eisenbahn¬
brigade und die kaiserliche Marine ; die Handelsmarine dürfte
kaum mehr lange Zurückbleiben, ln Sachsen sind die Täfeln
schon obligatorisch; in Bayern sollen sie es demnächst
werden; ältere Verfahren haben zurzeit nur noch Baden
und Württemberg. Bei den italienischen Staatsbahnen ist
die Einführung der Täfeln im Werke. Da sich gezeigt hatte,
daß die Bahnbediensteten, die vor einer Färl!ensinnprüfung
standen, durch intensive Einübung auf die Wollprobe oder
die Stillingschen Täfeln die Gewinnung sicherer Besul-
fate nicht selten wesentlich erschwert hatten, wurden so¬
wohl Nagel selbst als die Verlagsbuchhandlung verpflich¬
tet, die Tafeln nicht in den Handel zu bringen, sondern
sie nur an Aerzte, ärztliche und wissenschaftliche Anstalten
oder Behörden abzugeben.*)
Wie prekär die Resultate der Färbensinnprüfung mit
den älteren Methoden waren, mögen folgende Zahlen dartun.
Nagel selbst sah in den letzten 1 V2 Jahren mindestens
zwölf Personen in wichtigen Stellungen bei der Eiseubahn
(als Lokomotivführer, Heizer, Weichenwärter), die vier- bis
fünfmal amtlich auf ihr Farbenunterscheidungsvermögen ge¬
prüft und nicht beanständet worden waren und nichtsdesto¬
weniger typische Dichromaten vorstellten. Unter 300 Eisen¬
bahnbediensteten, die alle mindestens einmal untersucht
worden waren (fast alle mehrmals von verschiedenen
Aerzten), fand sich der zufällig ganz ungewöhnlich hohe
Satz von 5Uo typisch Farbenblinder. Unter 1778 Unter¬
offizieren und Mannschaften der -Eisenbahnregimenter, die
alle vorher schon mit Stilling und H 0 1 111 g r e n unter¬
sucht und als farbentüchlig erklärt worden waren und die
auf Veranlassung der Medizinalabteilung des preußischen
Kriegsministeriums zum Zwecke der Entscheidung über die
Brauchbarkeit der Nagel sehen Tafeln an der Hand dieser
nochmals überprüft wurden, fanden die mit der Nachunter¬
suchung betrauten Militärärzte noch 13 (0-73Uo) Dichro¬
maten (5 Protanopen, 8 Deuteranopen) und 31 (l-75Uo)
Anomale (5 Hot- und 26 Grünanomale), im ganzen somit
noch 2-48 Uo Färbenuntüchtige. Die Beweiskraft dieser Zahlen
kann nicht angezweifelt werden, da Nagel die Diagnose
in allen Fällen an seinem Farbenmischapparate bestätigte.
Sie geben zugleich eine Vorstellung von der Häufigkeit
der einzelnen Typen; Grünblinde und Grünanomale
kommen wesentlich häufiger vor. Es liegt selbst¬
verständlich nahe, einzuwenden, die erstbenulzten Prüfnngs-
verfahren seien eben mangelhaft durchgeführt worden, was
ohne weiteres zugegeben ist; es fehlt aber jeder Grund,
anzunehmen, die Untersuchungsfehler hätlcn den gewöhn¬
lichen Durchschnitt, mit dem man überall rechnen muß,
überschritten u. zw. um so weniger, als Stabsarzt Collin
ausdrücklich anführt, die Untersuchungen hätten durch
Aerzte stattgefunden, welche auf langjährige Uebung und
Erfahrung in diesem Gebiete zurückblickten und die Unter-
suchungstechnik sicher beherrschten. Es wird sich bald
zeigen, daß eben namentlich die Holmgren sehe Probe
selbst in der Hand Erfahrener leicht zu Fehlschlüssen führt.
Von neuester Statistik kann ich noch mitteilen, daß unter
13.000 mit Nagels Täfeln und Apparat nachuntersnehten
Mannschaften der kais. deutschen Marine noch 1-69%
.Farbenuntüchtige gefunden wurden.
Draußen im Reiche sind also Dank der sachverstän¬
digen Intervention und unermüdlichen Arbeit Nagels die
Verhältnisse soweit wohlgeordnet und festgefügt, als es der
heutige Stand des Wissens überhaupt gestattet.
In der seit Oktober 1906 in Kraft stehenden, für alle
österreichischen Eisenbahnen bindenden behördlichen Vor¬
schrift über die Prüfung des Farbenunterscheidnngsver-
*) Zu beziehen von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
0^4
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2B
mögeiis*) haben die vorstehenden Forschnngserge])nisse
noch keine Berücksichligung gefunden. Der Farbensinn soll
„durchaus normal“ sein, zur Prüfung sind in jedem Einzel¬
falle Stilling und Holmgren vorgeschrieben ; eine An¬
leitung zur Untersuchung ^vird nicht gegeben und a.nch
nichts darüber gesagt, bei welchen Prüfungsergehnissen die
genannte Forderung als erfüllt zu betrachten ist, oder bei
welchem Grade von Farbensinnstörung die Untauglichkeit
beginne. Denn die sinngemäße Folgerung, daß der Farben¬
sinn nur bei glattem Bestehen beider Proben ein ,, durchaus
normaler“, bei einzelnen begangenen Fühlern aber schoai
ein unzureichender sei, ist nicht zutreffend.
Um dies darzutun, müssen wir beide Methoden erst
genau kennen lernen und uns dann an der Hand der vor¬
liegenden Erfahrungen über ihre Leistungsfähigkeit nach
Möglichkeit zu orientieren trachten.
Zuvor sollen noch die in Oesterreich sonst für die Farhon-
sinnprüfung gülligen Normen kurz mitgetoilt werden, weil sie
Ijei der folgenden Besprectmng unter den gleichen Gesichtspunkt
fallen.
In der,, Vorschrift für die ärztliche Untersuchung
der Wehrpflichtigen“, Wien 190ß, heißt es Seite 7: ,,lJie
in das Eisenbahn- und Telegraphenreginient eingereiliten Rekruten
. sind .... auch auf Farhenhlindheit, welche zur Uienst-
leistung im genannten Regimento untauglich macht, zu unter¬
suchen. Die Prüfung ist nach der Holmgrcnschen Methode
vorzunehmen,“ .... folgt eine genaue Anweisung dazu.
Die Älarineinstruktion VIO: ,, Vorschrift zur ärztlichen Unter¬
suchung der Seeaspiranten _ “ bestimmt:
,, Bewerber um Aufnahme als Seeaspiranten oder in die
Mai'ineakademie sind auch auf ihr Farhenunterscheidungsver-
mögen bezüglich der Farben Rot und Grün zu prüfen. Die
Prüfung ist nach der H o 1 m g r e n sehen Methode vorzunehmen“;
die folgende Anleitung ist mit der eben erwähnten wörtlich gleich¬
lautend. Mannschaften wurden bisher nicht geprüft.
Für die Handelsmarine enthält die Verordnung des
Handelsministeriums vom 1. März 1902, R.-G.-Bl. XVI. Stück,
folgende Bestimmungen: ,,Zur Erlangung der nachstehend ho-
zeichneten Rangseigenschaften in der Handelsmarine, Und zwar
als Kadett, Schiffer der kleinen und großen Küstenfahrt, Steuer¬
mann (Leutnant), Schiffer der weiten Fahrt (Kapitän) und Boots¬
mann, ist eine Befähigung nachzuweisen. Vor Beginn der Prüfung
sind alle Kandidaten bezüglich der Fähigkeit zur Unterscheidung
der Farben ärzllicb zu untersuchen. Die Untersuchung Avird nach
der H olm grenschen Methode vorgenommen. Der Kandidat hat
aus vorgelegten Wollprohen der Reihe nach alle grünen, roten
und rosafarbenen Strähne in ihren verschiedenen .\hstufungen
zusammenzustellen, die einzelnen Farben braucht er jedoch nicht
zu nennen. Besteht der Kandidat diese Pi'ohe nicht, so wird
tlie Prüfung im verdunkelten Zimmer mittels des hiezu heslimmten
Lampenmodells oder mit vorschriftsmäßigen Sciteidichtern vor¬
genommen. Kann der Kandidat die rote Farbe von der grünen
nicht unterscheiden, so wird er zur Prüfung nicht zugelassen . .“
Lotsen Averden nicht geprüft. Es handelt sich also um eine sehr
fragliche Wollprohe und eine Art Laternenprohe, die später ge¬
sondert besprochen Averden soll.
Bei allen Farhensinnprüfnngeii sind zur Gewinnung
sicherer Untersnehungsergebnisse folgende allgemeine Ver-
haltungsinaßregeln unerläßlich :
1. Die Untersnehnng darf nur bei guter Tägesbeleuch-
tung, nicht in Dämmerung und nicht bei künstlicher Be-
hmchtung vorgenommen werden. Ein Verstoß dagegen macht
die ganze Prüfung Avertlos.
2. Die für die Ausführung der einzelnen Verfahren
gegebenen Vorschriften müssen genau eingehalten Averden,
jede sogenannte Vereinfachung oder vermeintliche Verhesse-
rung ist absolut unzulässig.
3. Bei den Untersuchungen ist alles zu vermeiden,
Avas den Untersuchten einschüchtern oder Amrwirren könnte.
Größte Buhe und Selbstheherrschung des Untersuchers ist
eine Grundbedingung für schnelle und zu\mrlässige Prüfung.
4. Wenn mehrere Personon zu iintersuclieu sind, ist
es besser, Avenn dies getrennt geschieht. Jedenfalls dürfen
die anderen Personen hei «ler Prüfung der ersten nicht
direkt Zusehen.
*) Bestimmungen über die p' ysische Tauglichkeit zum exekutiven
E'scnbahndiensle. Im Verlage der einzelnen Bahnverwaltungen.
5. Niemals darf man einen als farl)enuntüchtig Be¬
fundenen etAva nachträglich über seine fehlerhaften Anl-
AAmrten aufklären oder belehren Avollen; man würde dadurch
allen nachuntersuchenden Aerzten ihre Aufgabe außer-
ordenllich erscliAveren und nur die gegenseitige Ablichtung
fördern.
6. Jeder irgend erheblichere Grad von Refraklions-
anomalie oder IVeshyopie muß bei der Farbensinhprüfung
korrigiert sein, da die Schärfe des Netzhautbildes Amn Ein¬
fluß auf die Färbenwahrnehmung ist.
Der prüfende Bahnarzt soll farbentüchlig sein; doch
ist dies keinesAvegs eine unerläßliche Bedingung. Ein rot¬
grünblinder Arzt ist vielmehr bei der Prüfimg in mancher
Hinsicht im Vorteile vor dem Farbengesundon, weil er das
V erhalten des Farhenuntüchtigen an Stillings und Nagels
Tafeln (falls er demselben Typus angehört) genau zu kon¬
trollieren vermag. Die Erfüllung seiner Aufgabe kann er
sich durch Merkzeichen aller Art ermöglichen; er bedarf
dazu nur einer zuverlässigen farbentüchligen Person, die
ihm ein für allemal die bei den einzelnen Methoden er¬
forderlichen Angaben macht; nur bei der Wollprobe ist
mit befestigten Marken nicht auszukommen, da die Ver-
Avechslungen zu mannigfaltig sind.
Nun zu den vorgeschriebenen Methoden.
Von Stillings p s c u d o i s o c h r o in a t i s c h e n Tafel n
sind immer nur tadellose, ganze Exemplare der neuesten Auflage
(gegeiiAvärlig sind ZAvei solche, die X. und XI. im Umlaufe) zu
benützen. Die XI. Auflage bringt untei' Nr. 9 eine neue T.afel
für Tritanopie (Blau-Gelbblindbeit) mit gelbgrünen Tüpfeln auf
bla'ugrünem Grunde; die für den glcicben ZAveck bereits \mn
mehreren Seiten als ludiraucbbar bezeicbnele Tafel 10 der früheren
Auflage (mit roten und rotgelben Flecken) ist beibebalten Avorden ;
die nunmehr bläulich-i-oten Ziffern derselben sind für den No!'-
malen noch leichter zu lesen. Bei den übrigen Tafeln ist dii“
Schattierung mehrfach geändert, so daß sic für den Farlxm-
tüchtigen noch scliAAmrcr zu lesen sind als jene der X. Auflage;
der Glanz ist bis auf Tafel 6 fast ganz beseitigt. Die Nume¬
rierung felilt diesmal auch auf der Rückseite, so daß die' Be¬
ziehung des Textes zu den Tafeln so gut Avie aufgehoben erscheint.
Es ist nicht gestattet, die Tafeln in die Hand zu geben und sie
unter verschiedenen Neigungen betrachten zu lassen, Aveil sonst
der verschiedene Glanz von Zahlen und Grund die Entziffe¬
rung ermöglichen kann. Wenn die Tafeln nur durch Nachfahren
entziffert Averden, so handelt es sich meist um Anomale und
beruht nach Nagel auf ihrer schon erwähnten Eigentümlich¬
keit, bedeutend längere Zeit zu brauchen, um den Amllen charakh'-
ristischen Eindruck der Farbe zu erhalten. Sie finden die far¬
bigen Tüpfel wohl heraus und können die Zahlen mühsam lesen,
Avenn sie den Zügen der Figur mit einem Stifte nachg(dien
dürfen; sobald sie den farbigen Tüpfeln aber nur mit dem Blicke
folgen sollen, dann entwickelt sich die charakteristische, von
den Farben des Grundes A*erscbiedene Farhenempfindung zu lang-
saui, als daß sich die einzelnen Farhenflecke zu einer erkenn¬
baren Figur zusammenschließen könnten. Läßt man aber die
Tafeln aus mehreren Metern Abstand betrachten,*) Avobei die
ganze Figur mit einem Blicke erfaßt AA'erden könnte, so tritt Avieder
die zu geringe Größe des Geshh'swinlvels biiulernd in den Weg.
Die Konstatierung der angeführten Tatsache spricht daher s{)
gut Avie immer für Farbenuntüchtigkeit. Selbstverständlich nvidl
der Arzt Avährend der ganzen Dauer der Unlersiicbung aiuvesend
sein. Die Tafeln sind schonend zu behandeln, möglichst rein zu
erhalten, nicht mehr als notwendig dem Tageslichte .luszusetzen
und inemals offen liegen zu lassen.
Mit den H o 1 m g i' e n s c h e n Wollbündeln sind zAvei
Pr’oben Ami'zunelimen.
1. Die Grünprolre. Der Untersuchende Aväldt ans den
auf einem Tische ausgebreiteten Wollbündeln ein hellgrünes,
Avenig gesättigtes Bündel aus, dessen Färbung rein g i' ü n
(Aveder ins Gelbe noch ins Blaue spielend) sein soll und fordert
den zu Prüfenden auf, alle Wolllründel herauszusueben, Avelcdie
ihm mit der Amrgelegten Probe besonders äbnlicb zu sein
scheinen. Man setze noch hinzu, daß die ausgeAvählten Büinhd
*) In welcher Entfernung die Tafeln gelesen werden sollen, ist
eigentlich eine offene Frage. Stilling spricht in der Gebrauchsan¬
weisung von 0'50— 4 Meter und fügt bei, die genauere Bestimmung müsse
der wechselnden Beleuchtung halber natürlich jedesmal besonders ge¬
macht werden; wohl ein sehr umständliches und dem subjektiven Er¬
messen allzusehr ausgesetztes Verfahren.
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
695
auch dunkler sein können und erläulere dies am besten an cineni
hellblauen und einem dunkelblauen Bündel.
k)er Farbengesunde wird rasch und siclier alle irgendwie
grünen Slräbnclien berausgreifen uml Zusammenlegen. Der Far-
benunlücblige zeigt von vornherein große Bnsicberbeit, gebt nur
’ langsam und zögernd an die Wahl, sucht viel herum, hält die ihm
'*■ ähnlich scheinenden Bündel erst prüfend gegen das vorgelegte
r-; Muster, um es eventuell wieder zurückzulegen und verrät sich
bald dadurch, daß er auch nicht grün gefärbte Wollen auswählt.
Als Verwechslungsfarben werden vorzugsweise graue, braune,
W rosafarbige, graurote, auch schwach gelbliche und
schwach bläuliche Bündel ausgesucht. Als bestanden gilt
die Probe nur, wenn sie ohne Zögern und ohne Zulegen von
Veiwechsluiigsfarben erledigt wird.
y-. 2. Die Purpur probe. Bei dieser wird dem Kandidaten
->. ein Bündel von der Farbe eines wenig gesättigten Purpur
> (Rosa), das nicht ins Gelbliche und auch nicht zu stark ins
Blaue spielen soll, vorgelegt und ihm die analoge Aufgabe ge-
^ stellt wie bei der Grünprobe.
-) Das Benehmen der Farbengesunden und Farbengestörten
A- wird auch hier ein durchaus verschiedenes, dem oben geschil-
s;’ derten analoges sein. Während der Gesunde schnell imd ohne
Bedenken die zugehörigen roten Bündel herausgreift, wählt der
Rotb linde zum Purpur: Blaugrau und Bl au grün, sowie
;• gesättigtes Violett und Blau; der Grünblinde: Blau¬
grau und Grau, selten, und nur in hellen Abstufungen:
; Violett und Blau. Zu einem lebbaften Feuerrot (welche
Probe man auch noch versuchen kann) legt der Protanop mehr
dunkelgrüne und dunkelbraune Wollen; der Deuter-
a n o p dagegen li e 1 1 g r ü n e und hellbraune, da sowohl Purpur
V als Feuerrot dem Rotblinden dunkler erscheinen als dem Grün¬
blinden.
Verdächtig ist es, wenn der Untersuchte die einzelnen Woll-
' . bündel nahe ans Gesicht bringt und sich erst dann entscheidet,
ob das betreffende Bündel mit dem vorgelegten Probebündel
gleicbfarbig ist. Solche Leute sind fast stets farbenuntüchtig und
es hängt diese Erscheinung mit der uns schon bekannten Eigen¬
tümlichkeit der Anomalen zusammen, daßi sie ein farbiges Ob.jekt
unter größerem Gesichtswinkel betrachten müssen, wenn sie die
Farbe erkennen wollen. Auch bei Prüfung mit den Na ge Ischen
Tafeln ist dieses Verhalten stets zu bemerken und geradezu
diagnostisch wichtig, wenn man schon vorher weiß, daß der Unter¬
suchte nicht kurzsichtig oder ambylotisch ist, bzw. wenn eine
etwaige Refraktionsanomalie korrigiert ist.
Grundbedingung für die richtige Durchführung der Probe
ist, daß der zu Prüfende genau wisse, worauf es ankommt und
daß er seine Aufgabe vollständig und zweifellos erfaßt habe.
Im wesentlichen wird es sich immer darum handeln, dem Kandi-
taten begreiflich zu machen, daß unter ,,ähnliche n“ Bündeln
solche von gleicher Farbe gemeint seien, aber ohne Rück¬
sicht darauf, ob sie heller oder dunkler erscheinen. Nur
bei Zutreffen dieser kardialen Voraussetzungen können die Resul¬
tate der Probe mit einiger Sicherheit verwertet werden.
Man kann sich mit den Wollbündeln eine ganz instruktive
Vorstellmig vom Sehen der Farbenblinden verschaffen, w'enn man
seine eigene Netzhautperipherie zu Hilfe nimmt und sich dabei
folgende Tatsachen gegenwärtig hält. Wenn ein Normaler farbige
Objekte mäßiger Größe in zunehmender Exzentrizität betrachtet,
so zeigen dieselben, soweit sie eine rötliche oder grünliche Bei¬
mengung enlhalten, zunächst eine Aenderung der Nuance, itiso-
ferne diese Beimengung zurücktritt und ein etwa vorhandener
gelbliclier oder bläulicher Farbenton mehr zur Geltung kommt;
zeigte das verwendete Rot oder Grün weder gelbliche noch bläu¬
liche Beimischung, so wird es in dieser Zone farblos (grau).
Man kann daher das Sehen in diesen extrafovealen Netzhautab-
schnitten als ein dichromatisches bezeichnen; Grüngelb, Orange
werden gelb; Blaugrün, Violett und Purpur werden blau. Geht
man zu nocli größeren Exzentrizitäten über, so hört auch die
Empfindung des Gelb und Blau auf und die äußerste Netzhaut¬
peripherie wird total farbenblind; die einzelnen Farben erscheinen
nur mehr als heller oder dunkler Fleck.
Nimmt man nun ein zusammengelegtes Woll bündel so in
die Hohlhand, daß nur das Ende der Schlinge knopfförmig zwischen
den geschlossenen Fingerspitzen hervorsieht und führt diesen
farbigen Knopf, z. B. bei geschlossenem rechten Auge, von der
Nasenseite her in das Gesichtsfeld des etwas auswärts gewandten
linken Auges, so erscheint das Objekt, falls z. B. Orange gewählt
wurde, in der äußersten Peripherie zunächst als mäßig heller,
farbloser Fleck; bei weiterem Hereinrücken in die dicbromatische
Zone wird es bräunlich bis gelblich, um erst beim Eintreten in
die trichoma tische Fovea auch die rötliche Beimengung erkennen
zu lassen und so zu erscheinen, wie es bei direkter Betractitung
aussield.*) Der Farbenweclisel ist ganz frai)panl. und besonders
fallen die Helligkeils- und Sättigungsdifferenzen auf, so daß man
dadurch eine annähernde Vorstellung von dem Werte dieser Hilfs¬
mittel für den Farbenblinden erhält. Sclülrfer noch gelingt der
Versuch, wenn man etwa zwanzighellerstückgroße, an Stäbchen
oder Draht befoistigtc Scheibchen von Pigineid papieren auf
schwarzem Grunde durch das Gesichtsfeld führt.
Bis zu einem gewissen Maße kann man auf diese Weise
auch die VerAvechslungsgleichungen der Farbenblinden kontrol¬
lieren, indem man versucht, ob gewählte Farbenpaare auch in
der eigenen Peripherie Gleichung gehen; doch sei gleich bemerkt,
daß nur die Farbengleiclumgen der Deuteranopen mit denen der
eigenen Peripherie annähernd übereinstimmen, jene der Prot-
anopen dagegen durchaus verschieden sind.
Interessant ist, daß sich die Farbenblinden nach Nagels
Untersuchungen gegenteilig verhalten, indem sie in der Netz¬
hau tperipherie ein genaueres Farbenunterscheidungsvermögen er¬
kennen lassen. Es gibt Dichromaten, die im fovealen Sehen ein
typisch dichromatisches System aufweisen, beim Sehen mit großen
Netzhautflächen aber ein kompliziertesi System zeigen, das sich
als anomal trichromatisch herausgestellt hat. Die Protanopen sehen
auf großem Felde wie Rotanoniale im fovealen Netzhautbezirke,
die Deuteranopen wde Grünanomale. Beide zeigen in den peri¬
pheren Netzhautabscimitten auch die oben angeführten sekun¬
dären Merkmale der Anomalen, unter denen der gesteigerte Farben¬
kontrast wieder ganz besonders auffällig ist. Vlan konstatiert
z. B. die seltsame Erscheinung, daß der Deuteranop, welcher
das Grün als eigentliche Farbe nicht kennt, auf großem Felde
durch Induktion von seiten einer grünen Fläche, oder als Nach¬
bild eines gesättigten Grün eine ausgeprägte Rotempfindung er¬
hält, während selbst das leuchtendste Rot durch Kontrast niemals
eine Grünempfindung hervorruft; ein gelbliches Rot induziert Blau¬
empfindung, .ein bläuliches Gelbempfindung. Ob eine Fläche grün
ist oder nicht, kann der Deuteranop tatsächlich nur daran mit
Sicherheit erkennen, ob es in einem neutralen Nachbarfelde durch
Simultankontrast, oder im Nachbilde Rotempfindung hervorruft.
Blickt der Normale erst einige Sekunden auf eine lebhaft grüne
und dann auf eine (etwa helligkeitsgleiche) graue oder braune
Fläche, so sieht er bekanntlich wohl Andeutungen einer durch
Kontrast erzeugten Rötung dieser Fläche, keineswegs aber eine
so frappante und anhaltende Farbenveränderung. Auf Aus¬
schließung des Dämmerungssehens wurde selbstverständlich sorg¬
fältig Betracht genommen. Durch diese Beobachtungen scheinen
sich die Beziehungen zwischen Dichromaten und anomalen Tri-
chromaten noch enger zu gestalten, als man bisher annehmen
konnte.
(Schluß folgt.
Aus der Klinik Chrobak.
Nachweis von chromaffinem Gewebe und wirk¬
lichen Ganglienzellen im Ovar.
Von Dr. Koustantiii J. Bucura, Assistenten der Klinik.
A.Kohn, der sich in langjähriger Arbeit und mehreren
diesbezüglichen Abhandlungen mit dem chromaffinen Ge¬
webe beschäftigte, hat 1902 in einer größeren Zusammen¬
fassung^) alle Ergebnisse seines Studiums und der Erfah¬
rungen anderer Autoren darüber kritisch verarbeitet und ist
zu Schlüssen gekommen, welche diese Elemente zu einer
sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch liistogeuetisch
und zytologisch scharf umgrenzten, somit auch kaum zu
verkennenden Gewebsart charakterisieren. Das chromaffine
Gewebe kommt bei den Säugetieren vor allem in geschlos¬
sener Masse in den zentralen Partien der Nebenniere vor.
Kleine und größere chromaffine Körper (Paraganglien nach
Kohn) und Einlagerungen finden sich im ganzen Grenz¬
strange und an den peripheren, insbesondere abdominalen
Geflechten des Sympathikus. Hieher gehören auch die
Karotis und die Steißidrüse und alles Gewebe, welches mit ße-
rechtigung ,, Marksubstanz der Nebenniere“ genannt wurde
*) Herr Dozent Dr, Sachs, der so freundlich war, diese Ver¬
wendung der Wollbündel in einem den Südbahnärzten gehaltenen Vor¬
trage zu demonstrieren, besitzt eine ganz besondere Virtuosität in der
getrennten Benützung seiner verschiedenen Netzbautbezirke.
Ö A. Kohn, Das chromaffine Gewebe, Sonderabdruck aus Er¬
gebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte von Merkel und
Bonnet 1903.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 23
. jü
(Kolm). Audi die von Zuckerkandl“) gefundenen Neben-
organe des SynipatJiikus iui Reiroperifonealraum des Men-
sdien gehören hielier. lieber das liisfüJogisdie YerliaUen des
llewebes ist zu bemerken, daßi, wenn das diromaffine Ge¬
webe größere Massen bildet, sieb seine Zetten zu Raiten und
;St.rängen aneinanderlagern, so daß eine gewisse AelniJicli-
keit mit einem EpiÜielgewebe zustande kommen kann. Doch
liäutig genug kommen diese Zelten auch ganz vereinzelt
vor, mitten im Rindeigewebe, in Ganglien und Nerven. Die
cliromaifinen Zellen selbst sind in der Regel einkernig;
vielseitig ist die UndeuUiclikeit der Zellgrenzen aufgefallen,
so daß. nicht selten synzytiumälmticlie, kerntiältige Klumpen
vorgetäusdit werden. Von besonderer Wichtigkeit ist die
Empfindlichkeit und Vergänglichkeit dieser Zellart; die¬
selben sctirumpfen leicht in Härtungsflüssigkeiten und ver¬
ändern sich zu zackigen Formen (v. Ebner’^). Im frischen
Zustande sind sie blaß, fein und dicht gekörnt.
Ihre wichtigste und diagnostisch ausschlaggebende
Eigenschaft ist die, sidi in Lösungen, die chromsaure Salze
enthalten, zu bräunen. Diese Chromfärbung ist nach einigen
an die Granula des Zetleibes gebunden, nach anderen (zum
Reispiel Rabl'^) soll sich das ganze Protoplasma diffus
färben. Nach Kohn soll dieser Unterschied in der Zu¬
sammensetzung der bixierungsflüssigkeit gelegen sein. Vor¬
ausgehende Reliandlung mit anderen Eösungen, insbesondere
mit Alkohol, vereiteln die Chromreaktion.
Von entwicklungsgeschichtticher und eminenter dia¬
gnostischer Wichtigkeit ist gchließlich die Reziehung des
chromaitinen Gewebes zum sympathischen Nervensystem.
Daß sich das chroniaffine Gewebe von den Anlagen der
Sympathikusgaiiglien entwickelt, ist eine nahezu allgemein
akzeptierte Tatsache; für die Säugetiere konnte hiefür der
lückenlose Nachweis erbracht werden (Kohn). Aus der
Genese des Gewebes erklärt sich auch sein typisches Ver¬
halten zum Sympathikus, indem chromaffine Einlagerangen
in den sympathischen Ganglien und Nerven eingelagert Vor¬
kommen; doch auch bei solchem chromafiinen Gewebe,
welches frei geworden ist, bzw. selbständig auftritt und
eine eigene Rindegewebshülle besitzt (z. R. die Zucker-
k and Ischen Nebenorgane), kann der Zusammenhang mit
dem Sympathikus noch festgesteltf werden. Das wechsel¬
seitige V'orkonimen von Ganglienzellen in chromaffinem
Gewebe und von chromaffinen Zelten in Ganglien, läßt sich
ebenfalls aus der Entwicklung dieser Gewebsart, aus den
Anlagen der sympathischen Ganglien erklären.
Es besitzt also das chromaffine Gewebe Merkmale,
durch welche diese Gewebsart leicht kenntlich ist; es ist aber
eine gewisse \-orbehandlung nötig, um die Zellen kenntlich
zu machen, anderseits vermögen gewisse gangbare Präpa¬
rationsmethoden und T'ixierungsflüssigkeiten die Zellen bis
zur Unkenntlichkeit zu verändern.
Ich liabe es einem Zufall zu verdanken, in die Lage
gekommen zu sein, auch im Eierstocke dieses Gewebe nach-
weisen zu können.
Wegen rasch fortschreitender Osteomalazie wurden
einer 55jährigen Iran, die sich seit fünf Jahren in der
Menopause befand, beide Adnexe exstirpiert (Gyn. -Prot.
Nr. G39 ex 1906) und Stückchen von den Eierstöcken sofort
nach der Operation mit der Absicht, eventuell die durch
die Osteomalazie bedingten Voränderangen studieren zu
können, in Eie mining sehe Flüssigkeit eingelegt. Rei der
Durchsicht der Präparate, welche, in üblicher Weise weiter-
behandell, in Paraffin eingebettet und mit Ilämatoxylin-
Eosin und nach van Gieson gefärbt wurden, war mir
gleich aufgefalien, daß sich im llilus und ganz besonders
im Uebergaiige zum Sti’oma Zellhaufen yorfanden, deren
Aussehen mit den bis jetzt beschriebenen Elementen im
Ovar um so weniger in Einklang zu bringen waren, als darin
9 Zuckerkand I, Verhandlungen der anatomischen Gesell¬
schaft. 15. Versammlung, Bonn 1901.
9 V. Ebne r, Köllikers Handbuch der Gewebelehre des Menschen
1902, Bd. 3.
*) Rabl, Archiv für mikroskopische Anatomie und Entwicklungs¬
geschichte 1091, Bd. 3Ö.
sichere Ganglienzellen nachgewiesen werden konnten. Die
weitere Untersuchung, hauptsächlich die Durchsicht von un¬
gefärbten Präparaten ließ schließlich erkennen, daß wir be¬
rechtigt sind, wenigstens nach unseren jetzigen xVnschau-
ungen und Kenntnissen, dieses eingelagerte Gewebe als
cliromaffine Zellhaufen anzusprechen.
Dem zufälligen Fund dieses Gewebes im Ovar ist es
zuzuschreiben, daß die für diese Zellart vorgeschriebenen
spezielleren Methoden nicht mehr in Anwendung gebracht
werden konnten und daß| wegen zu wenig gründlicher Ent¬
wässerung nach der Fixierung auch anderes Gewebe, aller¬
dings nur am Rande des Scimittes, eine Gelbfärbung auf¬
weist. Immerhin stechen die typisch gelbbräuidich ge¬
färbten Zellen von der vollständig blassen nächsten Um¬
gebung an ungefärbten Schnitte so stark- ab, daß an
den gelungenen Nachweis der Chromreaktion gar nicht
gezweifelt werden kann.
Die Ovarien bieten sonst weder makroskopisch, noch
mikroskopisch Resonderheiten ; es fanden sich darin ältere
Corpora lutea, vielfach Corpora albicantia, viele hyalin ver¬
änderte Gefäße, ganz spärliche, zum Teile in Atresie be¬
griffene Follikel und normales Ovarialstroma — also Re-
funde, die dem Alter der Pätientin als entsprechend zu be¬
zeichnen sind.
Schon bei Durchsicht mit der Lupe von Schnitten aus
dem rechten Ovar fällt ai der Grenze des Hilus und des
Stromas, dort wo mehrere große Arterien liegen, ein dunkler
als die- Umgebung gefärbter Fleck auf, der ungefähr der
Größe eines großen Arterienguerschnittes entspricht. Rei
genauerer Resichtigung zeigt es sich, daß hier eine Zell¬
anhäufung voiTiegt, welche vom umgehenden Gewebe scharf
ahgegrenzt ist. Das, was an diesen Zellen von der Um¬
gehung an meisten absticht, ist die gelbbräunliche, etwas
ins Graue spielende T ärbung der Zellen. Sie liegen in einer
in der größten Umgrenzung scharf ausgebildeten, zum Teil
zellhaltigen Rindegewehskapsel. Das durch die Rinde-
gewebskapsel abgegrenzte Feld ist durch ein feinstes Rinde-
gewebsnetz in verschieden große Fächer geteilt, in welchen
die bräunlich gefärbten Zellen entweder einzeln oder aber
zu zwei bis drei eingefügt erscheinen. Verfolgt man die
Rindegewebsmaschen in den Serienschnitten weiter, so wird
dieses interzellulare Rindegewebe immer breiter, so daß
die Zellen selbst mehr auseinander weichen. Das Zwischen¬
zellgewebe enthält reichlich Kapillargefäße. Zu unter¬
scheiden sind in dieser Zellanhäufung zwei Zellarten:
1. solche, die den allergrößten Inhalt dieses Zellhaufens
bilden und 2. solche, die ganz spärlich und vereinzelt Vor¬
kommen. Erstere sind polymorph; ihr Zelleib hat alle mög¬
lichen Konturzeichnungen; bald sind sie kreisförmig, bald
ist die Zelle polygonal, bald oval, bald mit kurzen Fort¬
sätzen versehen oder sie sind zylindrisch gebogen; wenn
vieleckig, dann entsprechen die verschiedenen Zellkanten
fast immer den Umgrenzungen der daneben liegenden Zelle
und sind der Nachbarzelle knapp angelagert, so daß sie
mosaikartig aneimuidergefügt erscheinen. Das zum Teile
sehr dünne interzellulare Rindegewebe führt, allerdings
ziemlich spärlich, längliche Kerne, die sich mit Hämatoxylin
schön blau färben und so von den großen, die Fächer
ausfüllenden Zellen stark ahstechen. Letztere liegen ent¬
weder vereinzelt in den Fächern oder zu zwei bis drei ;
die Zellgrenzen sind manchmal scharf ausgesprochen, andere
Male aber ganz undeutlich, ja oft gar nicht kenntlich, so
daß die Zelleiber der einzelnen Zellen zusammenzufließen
scheinen und dann wie große polynukleäre P'rotoplasnia-
klumpen aussehen und an Synzytium erinnern. Eine Kapsel
um den Zelleib läßt sich iui unseren Präparaten nicht diffe¬
renzieren. Die Zellkerne sind klein, lassen einen Nukleolus
nicht erkennen, scheinen vielmehr ein Kemgerüst zu haben
und färben sich mit Hämatoxylin ziemlich intensiv blau.
Der Zelleib erscheint fein granuliert. Die zweite Art von
Zellen, die sich nur vereinzelt nachweisen lassen, erweisen
sich als unverkennbare typische, unipolare Ganglienzellen.
Man kann an denselben die kaum sichtbare Umhüllung
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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nur selten imterscliekleii, dafür fallen die dieser Zellsclieide
a.ngehörigen Kerne auf, die dem Zellkörper fest anliegen,
denselben nianclmuil direkt einzndrücken scheinen, so (laß.
sie an manchen Schnitten den Eindruck erwecken, inlra-
zellidar gelegen zu sein; erst l.'ci genauerer Besichligung
kann man ganz sicher ihre wahre Natur erkennen. Die
Farbe der Ganglienzellen unterscheidet sich etwas von der
Farbe der Zellen ihrer Umgebung; sie sind etwas mehr
grau lind blasser; der lidialt des Zelleibes ist fein gekörnt,
zum Teile pigmenthaltig. Außer der kernhaltigen Umhül¬
lung ist als Hauptmerkmal der Ganglienzelle ihr Kern, der
sie von der Umgehung auch leicht unterscheiden läß,t; der
Kern ist bläschenförmig, fast dopiielt so groß als der der
übrigen Zellen, viel blasser, hat einen ansehnliclien Nukleo-
Fig. 1.
Ins lind zeigt kein Kerngerüst. Der Fortsatz dieser Zellen
läßt sich eine ziemlich weite Strecke verfolgen (vgl. Fig. l).
Die Zellanhänfung zeigt sowohl eine Beziehung zu
Nerven als auch zu größeren Gefäßen; Nervenstämmcheu
verlaufen knapp an ihr vorüber, ohne dieselbe, wenigstens
an den uns zu Gebote stehenden Schnitten, zu durch¬
queren. Diese Nervenstämmchen, vier bis fünf an der Zahl,
sind alle klein und dünn. Von Gefäßen sind es sowohl
Arterien als auch eine große Vene, die von diesen Zellen-
haufen bogenförmig umkreist erscheinen.
Fig. 2.
Viel deutlicher tritt die Beziehung zu den Nerven
hervor bei einer Zellanhäufung im Hilus selbst. Hier sehen
wir einen starken Nervenstamm, der von diesen dunklen
polymoriihen Zellen umflankt ist (vgl. Fig. 2). Nach der
Lage muß man hier zwischen solchen Zellen untersclieiden,
die innerhalb der Nervenscheide gelegen, und solchen, die
dem Nerv nur angelagert sind; außierdom linden sich auch
in weiterer Entfernung vom Nervenstamme isolierte Zell¬
häufchen und auch ganz isolierte einzelne Zellexemplare.
Auch bier sind entweder die einzelnen Zellen oder ganz
kleine Gruppen derselben in Bindegewebsfächer eingefügt.
ln diesem interzellularen Gewebe verlaufen außerortlent-
lich reichlich Kapillargefäße. Die Form der Zellen wechselt
auch hier beträchtlich, doch läßt sich eine Regel insoferne
aufstellen, als die Zellen dort, wo sie dichtgedrängt Vor¬
kommen, vieleckig erscheinen, indem die betreffenden Zell-
kanten aneinanderstoßieu, während dieselben, wenn sie iso¬
liert Vorkommen, Kreisform annehmen und bläschenförmig
aussehen. Man gewinnt den Eindruck, daßi ihre Form von
ihrer Beziehung zu den sie umgebenden Zellen alihängt:
treten sie in Haufen auf, so sind sie in ihrer Ausbreitung
gehemmt; sind sie aber isoliert, so breiten sie sich gleich¬
mäßig aus, indem sie Kugelform annehmen. Auch hier
unterscheidet man leicht zwei Zellarten: die typischen, in
der Ueberzahl vorhandenen polymorphen, umhüllungsloscn
Zellen mit kleinem, ziemlich intensiv gefärbten Kerne, an
dem nur ein Kerngerüst differenzierbar ist und die typi¬
schen Gauglienzellen mit ihrer kernhaltigen Scheide, mit
dem großen blassen, bläschenförmigen Kerne, der einen
gut sichtbaren Nukleolus enthält. Die Ganglienzellen haben
alle einen ziemlich weit verfolgbaren Fortsatz.
Außer den eben beschriebenen zwei großen Zell¬
anhäufungen finden sich auch weitere solche Zellkonglo-
nierate in den Schnitten des rechten Ovars. Dieselben sind
allerdings viel kleiner, die Zellen aber führen alle die charak¬
teristischen Merkmale der eben erwähnten. Auch die Be¬
ziehung dieser Zellen zu Nerven geht klar hervor, indem
dieselben mit kleinen Stämmchen in Berührung treten.
Die Zellen haben aber hier, soferne sie zu einigen Individuen
vereint Vorkommen, die ausgesprochene Neigung, inein¬
ander zu zerfließen, indem sie zum Teile zellhaltige Proto¬
plasmaklumpen bilden und syiizytialen Massen ähnlich
sehen. Andere wieder sind isoliert und haben das charak¬
teristische polymorphe Aussehen. xMit voller Sicherheit
lassen sich hier Ganglienzellen nicht nachweisen ; es finden
sich allerdings größere Zellen mit einem Fortsätze mit
bläschenförmigem, nukleushaltigen Kerne, eine kernhaltige
Umhüllung läßt sich aber nicht darstellen; ich möchte die¬
selbe also nicht verläßlich als Ganglienzellen bezeichnen;
vielleicht als Uehergangsformen zu denselben, um so mehr,
als sich auch unipolare Zellen mit ganz deutlichem Fort¬
satze, aber mit kleinem Kerne ohne Kernkörperchen finden.
Das eine dieser kleinen Häufchen findet sich gerade am
Uebergange des Stromas in den Hilus, ein zweites mehr
im Hilus selbst; hier reichen auch einige kleine Parovarial-
schläuche bis knapp an denselben. Ein drittes, ganz kleines
Häufchen findet sich zwischen den zwei eben erwähnten.
Auch im , linken Ovar finden sich an ganz ähnlichen
Stellen die gleichen Zellanhäufungeii. An einer Stelle,
wieder um und in einem großen Nervenstainmc, im Hilus,
nicht weit vom Stroma; dann eine zweite Anliäufung von
Zollen isoliert ganz knapp am Stroma u. zw. in allernächster
Nähe eines im Beginne der Atresie befindlichen Follikels.
Ein geringer Unterschied ist nur in der Anordnung der
um den Nervenstamm angesammelten Zellen zu bemerken
— ■ sie liegen weniger frei als im rechten Ovar; sie bilden
hier ein geschlossenes Gebilde, indem sie dicht gedrängt
nebeneinander liegen und nach außen von einer binde¬
gewebigen Kapsel umgrenzt sind, über welche hinaus solche
Zellen nicht mehr nachweisbar sind. Sonst sind sowohl
die Zellen selbst als auch ihre Anordnung und ihre Be¬
ziehung zum Nerven die gleichen wie im früher beschrie¬
benen Eierstocke. Auch hier sind Zellen zwischen den ein¬
zelnen Nervenfasern zu finden. Ganglienzellen konnte ich
aber in den wenigen Schnitten, die mir von dem linken
Ovar zur Verfügung standen, mit voller Sichorheit nicht
nachweisen. Es fanden sich zwischen den übrigen Zollen
allerdings etwas größere Exemplare mit Fortsätzen und
mit einem größeren, nukloolushaltigon Kerne, eine kern¬
haltige Zellsclieide konnte aber nicht nachgewiesen werden.
Sonst sind, die Zellen sowohl in der Farbnuance als auch
VVIEKEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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soiisl ini Aussc'Jicji ihres Zcüeibes und ihrer Kerne ganz
gleich wie die iin rechten Ov:ir heschriehenen. Auch hier
koininen außicr den zwei gi’ößeren Anhäufungen noch
mehrere kleine Zellkonglonierate vor und auch zerstreute
einzelne Exemplare.
Es ließen sich d e ni n a c h in beide n 1l i e r-
s Löcken einer 55jälirigen Frau Zellanhäuf ungen
und vereinzelte Zellen n a c h w e i s e n mit fei n-
körnigem Inhalte des Zelleibes, mit kleinem,
runden Kerne, mit deutlicher Chromaffini 1 ät,
'zwischen welchen schon in w/3nigen Schnitten
mehrere ganz typische (ianglienzellen, das ist
unipolare große Zellen init großem, hellen, nu-
kleo lushaltigen Kerne und mi't einer typischen,
kernhaltigen Umhtillung, darstellbar sind.
Diese Z e 1 1 a n h ä u E u n g e n ließen ihre Be¬
ziehung zum Nerven klar zutage treten, indem
sie entweder in diffusen, nicht genau abgegrenz¬
ten A n h ä u f u n g c n einem Ne r v e n s t a m m e a n g e-
lagert waren u n d zum Teile a u c h i n n e r h a 1 b d e r
Nervenscheide sich vor fanden, oder aber, indem
sie in großien Haufen bindegewebig ab gekapselt
waren und mitten durch dieselben ein großer
Nervenstamm verlief. Es kann wohl kaum einem
Zweifel unterliegen, daß hier der Nachweis ge¬
lungen ist,’ es komme chromaffines Ge wehe mit
e i n g e t a g e r t e n wirklichen Ganglienzellen im
Ovar des Menschen vor.
Diese Befinide koimte Prof. Dr. .1. Schaffer, der in
dankenswerter Weise die Güte hatte, meine Präparate zu
besichtigen, vollauf bestätigen.
Ob das chromaffine Gewehe im Eierstocke regelmäßig
vorkommt oder ob unser Befund nur eine Seltenheit dar-
stellt, läßt sich wohl nur muhiiaßen. Unsere Meinung ist
es, daß das chromaffine Gewebe seiner Genese entspre¬
chend sich schwerlich in das Ovar verirrt haben kann, daß
viehnehr solche Einlagerungen von chromaffinem Gewebe
irn weiblichen Genitale wohl die Regel sein Averden und
daß der von uns erhobene Befund vielleicht nicht so deut¬
lich, aber doch öfters gesehen, aber mißdeutet worden sein
dürfte. Ich erinnere mich, seihst in nach Ramon y
Cajal mit Silber imprägnierten Ovarien im Hilus wieder¬
holt Zella, nhäufungen gesehen zu haben, die ich aber, da sie
sich in der Imprägnation von der Umgebung nicht Avesent-
lich unterschieden, nicht weiter beachtete: erstens Avaren
meine damaligen Untersuchungen den Nervenfasern gewnd-
met und zAveitens sprach ich diese Zellen als Markstränge
oder ähnliche Gebilde an, ob mit Recht oder Unrecht, läßt
sich nicht mehr entscheiden. Da,s mannigfaltige Vorkommen
von zelligen Strängen und Anhäufungen \mrschiedens(er Her¬
kunft im Ovar mag wohl die Ursache sein, daß das chrom-
afline Gewehe im Eierstocke bis jetzt übersehen worden
ist. Im Ligamentum lat um ist chromaffines Gewebe aller¬
dings schon nachgewiesen. Aschoff^) hat chromaffine Kör-
[jcrchen, meist nur mikroskopisch nachweisbar, verschieden
an Zahl und Größe, in dem Paroophoron und in der Epi-
dydimis von böten und Neugeborenen sehr häufig gefunden.
Sie zeigen keinerlei Beziehung zu den echten Marchand-
schen Nebennieren a.us Rindensubstanz. (Aschoffs An¬
gaben eidnehnie ich aus den Referaten, da mir die dies¬
bezügliche Arbeit leider nicht zugänglich AAmr.) Die akzessori-
scdieiL .\ebennicren kommen als Amrsprengtes Gewehe vor,
doch dann bestehen sie ausschließlich aus Rindensubstanz.
Allerdings konnic iManasse^’) an versprengten Neben¬
nieren mil leis der lleaklion mit chromsauren Salzen gar
nicht sclhm Marksubslanz jiachweis(m. .\icheL) fand ak-
*) Aschoff, Ueber das Vorkommen von chromaffinen Körper¬
chen in Paradydimis und Paraoophoron. Arbeiten aus dem patholog. Institut
zu Göllingen 1903, zit. nach Kohn.
®) Manasse, Ueber die hypoplaslischen Tumoren der Neben¬
niere. Virchows Archiv Bd. 133.
h A i c h e 1, Vergleichende Entwicklungsgeschichte und Stammes¬
geschichte der Nebennieren. Archiv für mikroskop. Anatomie und Ent-
wicklungsgescliichte 1900, Bd. 56.
zcssorisclie Nehennieren regelmäßig beim Weibe im breiten
Alutterbande, beim Manne zwischen Hoden und Neben¬
hoden und hält si(; für neue normale Organe. Diese Gebilde,
die beim Weibe aus sich zurückhildenden Kanälchen des
Epooi)horon und Paroophoron entstehen sollen, si)ridit er
als Mar chaiidsche Nehennieren an, indem er sie den
akzessorischen oder versprengten Nebennieren in der Nähe
des Hauptorganes gegenüberstellt. Zwischen akzessorischen
Nehennieren und chromaffinem Gewebe ist aber streng zu
unterscheiden, da erstere der Rindensuhstanz der Neben¬
niere entsprechen, letztere dtagegen der Marksubstanz. Die
wenigen Falle, in denen von einer Ma.rksubstanz in Mar-
c band sehen Nebennieren die Rede ist, sind nach Aschoff
anders zu deuten u. zw. als zentrale, sekundäre Verände¬
rungen, hervorgerufen teils durch Blutstauung, teils durch
postmortale Erweichung. Uebrigens fehlt bei den meisten
diesbezüglichen Angaben der Nachweis, bzw. der Beweis
des Ausbleibens der Chromreaktion. Sowohl Aschoff als
auch Kohn geben der Vermutung Ausdruck, daß ebenso'
Avie die chromaffinen Einlagerungen in den Ganglien zum
Teile a,uch akzessorische Nebennieren aus Alarksubstanz
bestehend gedeutet wurden, so auch jetzt noch oftmals eine
Verwechslung zAvischen akzessorischen Nebennieren und
chromaffinem Gewebe \mrkomraen dürfte. Deshalb Avären
die Befunde Aichels insoferne nocli sicherzustellen, als,
abgesehen von ihrer Entstehung aus Paroophoron- und Ep¬
oophoronkanälchen, die Gebilde noch auf ihre Chromaffinität
zu prüfen wären.
Die Frage, die für das chromaffine GeAvebe, Avelches
im Ovar vorkommt, von großer Wichtigkeit wäre, ist die
funktionelle Bedeutung seiner Fhement.e u. zw. sowohl der
chroraaffinen Zelten selbst als auch der dazwischen einge¬
lagerten Ganglienzellen. Doch darauf läßt sich nach dem
heutigen Stande unseres Wissens eine befriedigende Ant¬
wort nicht geben. Das einzige, was vom chromaffinen Ge¬
webe feststeht, ist, daßi die blutdruckerhöhende Wirkung
der Nebennierenextrakte mit Sicherheit auf das chromaffine
Gewebe zurückzuführen ist. Doch Gierkes®) Meinung
darüber ist, daß es natürlich sehr einleuchtend sei, eine
so Avirksame Substanz Averde auch im Körper verwendet;
ihre ständige Sekretion in das Blut könne aber nach den
heutigen Forschungsergebnissen nicht als einwandfrei be¬
wiesen angesehen Averden. Somit läßt sich über das chrom¬
affine Gewebe des Ovars diesbezüglich auch nichts aus-
sagen. Anders aber verhält es sich mit den Ganglienzellen,
die darin Vorkommen. Erwägt man, daß die chromaffinen
Zellen aus den embryonalen Anlagen der sympathischen
Ganglien hervorgehen, so muß man Avotd annehmen, daß,
wenn in diesem GeAvebe Ganglienzellen zur vollen Ent¬
wicklung gelangen, so daß sie vou gleichen Zellen in reinen
Ganglien nicht zu unterscheiden sind, dieselben auch die
F'unktion Amn Ganglienzellen übernehmen werden.
Daß E. Winterhalter^) vielleicht chromaffines Ge¬
webe mit den darinliegenden Ganglienzellen als Ganglion
allgesprochen hätte, ist nicht anzunehmen. Erstens be¬
schreibt sie ja, wie aus den Abbildungen hervorgeht, eigent¬
lich nur vereinzelte Ganglienzellen, deren nervöse Natur
V. Herff^*^) überhaupt nur als durch die Got g i-Methode
hervorgerufene Täuschung ansiehl ; zweitens geht es aus
den Ausführungen v. E b n e r s ^ hervmr, daß Fi ding e r
selbst, der die Wi iiterh al te r sehen Präparate entstehen
gesehen hat, darin ein abgeschlossenes Ganglion niemals
gesehen hat.
Schließlich muß noch liervorgehoben werden, daß vou
GeschAvülsteii von chromaffinem Gewebe an anderen Orten
Gierke, Das chromaffine System und seine Palhologie. Er¬
gebnisse der allgem. Pathologie und patholog. Anatomie (Lubarsch)
1904/5, Bd. 10.
®) E. Winterhalter, Ein sympathisches Ganglion im mensch¬
lichen Ovarium. Archiv für Gyn., Bd. 51.
H e r f f. Gibt es ein sympathisches Ganglion im menschlichen
Ovarium? Archiv für Gyn., Bd. 51.
“) V. Ebner, Zur Geschichte des Winterhalterschen Ovarial-
ganglions. Monatsschrift für Geb. und Gyn., Bd. 18.
(590
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
schon, eine ganze Reihe bekannt ist, daß deinnach auch
heim Ovar in Hinkunft auf ihr Vorkonnnen zu achten wäre,
indem verdächtige Tumoren auf ihre Chroniaffinität zu
prüfen wären.
Aus der Prosektur des k. k. Kaiser -Franz -Joseph-
Spitales in Wien. (Vorstand; Prof. R. Kretz.)
lieber eine der Adrenalinwirkung analoge
Wirkung des Blutserums von Nephritikern auf
das Froschauge*)
Von H. Schur und J. Wiesel.
ln einer kürzlich erschienenen Arbeit 0 hat Wiesel
iiachgewiesen, daß hei chronischem Morbus Brightii mit
ausgesprochener, hesouders linksseitiger Herzhypei'trophie
und erhöhtem Blutdruck eine ausgiebige Hypertrophie des
chromaffinen Systemes ein konstanter Befund ist. Diese Tat¬
sache mußite selbstvers ländlich die Idee nahelegen, daß
der hohe Blutdruck, der sich bei chronischem Morbus Brightii
findet, möglicherweise mit der Hypertrophie des chrom-
affinen Systemes in Beziehung gebracht werden könne. War
diese Annahme richtig, so mußte das Sekret der chromaffinen
Zellen, also die bhitdrucksteigernde Substanz im Blutserum
von Nephritikern nachweisbar sein. Zu diesem Nachweise
schien uns die von Ehrmann") angegebene, ungemein
empfindliche Probe die geeignetste. Dieser benützt die
mydriatische Wirkung des Adrenalins auf das ausgeschnit¬
tene Froschauge zu seijrem Nachweis, und die Verdünnung,
bei der die Probe positiv ausfällt zu einer ciuantitativen
Auswertung. Die Methode ist außerordentlich einfach. Das
ausgeschnittene Froschauge — wir verwendeten absichtlich
nur Laubfrösche — wird in das zu untersuchende iSerum
eingelegt und nun durch mehrere Stunden die etwaigen
Ihipillenänderungen beobachtet. Während nun Seren
von Gesunden und solche von anderweitigen Erkran-
kimgen niemals eine Wirkung auf die Iris ausübten, er¬
zeugten in unseren Versuchen alle voti chronischen Nephri¬
tikern stammenden Sera oft bis zur 20fachen Verdünnung
ausgesprochene, oft maximale Pupillenerweite¬
rung. Leider fehlen in unserem Material bis jetzt Fälle von
akuter, speziell Scharlachnephritis, die sehr häufig klinisch
, schon sehr frühzeitig erhöhten Druck aufweisen, ohne daß
eine anatomische Veränderung am chromaffinen Systeme
nachweisbar wäre.
Mitteilenswert erscheint uns ferner in diesem Zu¬
sammenhänge die Tatsache, daß das Blutserum von Kanin¬
chen nach doppelseitiger Nierenexstirpation schon nach
48 Stunden und noch deutlicher nach 72 Stunden ausge¬
sprochen mydriatische Wirkung zeigt, während das vor der
Nierenexstirpafion gewonnene Serum diese Eigenschaft nicht
besitzt. Es erscheint uns sehr wahrscheinlich, daß diese
mydriatische Wirkung des Blutserums auf eine durch den
Ausfall der Nierenfunktion hervorgerufene Fünktionssteige-
rung des chromaffinen Gewebes zu beziehen sei.
Doch können wir diesen Schluß schon aus dem
Grunde nicht als sichergestellt betrachten, weil die Adrenalin-
natnr der mydriatisch wirkenden Substanz des Nephritiker-
serums und des Serums nephrektoraierter Kaninchen nicht
unbedingt feststeht. AVenn wir aber berücksichtigen, daß
eine mydriatische AVirkung eines anderen (fewebssaftes bis
jetzt nicht bekannt ist und daß wir unsere positiven Be¬
funde gerade bei jenen Krankheiten erhielten, die zur Hyper¬
trophie des chromaffinen Gewebes führen, so müssen wir
die Wahrscheinlichkeit, daß die mydriatische Wirkung auf
das Sekret der chromaffinen Zellen zu beziehen sei, als
sehr groß bezeichnen. Wir werden uns selbsiverständlich
bemühen müssen, die chemische Natur des die Reaktion her¬
vorrufenden Körpers durch chemische und biologische Unter-
*) Nach einer am 31. Mai 1907 in der k. k. Gesellschaft der Aerzle
zu Wien veranstalteten Demonstration.
h Wiener med. Wochenschrift und Kongreß für innere Medizin 1907.
Archiv für experimentelle Pathologie, Bd. 53.
suchiingen, speziell durch den Nachweis der Blutdruck¬
steigerung s i che rz US teilen.
Vorderhand hatten wir mir die Absichl, die gefuudemui
Tatsachen in Kürze milzuteilen, v/ei! sie zweifellos die Grund¬
lagen für die Bearbeitung zahlreiciuu' Fragen der l’alhologie
der Nieren und des chromaffiueit Systemes von mmeu Ge¬
sichtspunkten aus bieten können.
Den Herren Professoren Schlesinger und Ko v a cm
danken wir hcrzlichst für die Ueberlassung d(;s Kranken¬
materiales.
Aus dem Institute für gerichtliche Medizin der Univer¬
sität Graz. (Vorstand: Prof. J. Kratter.)
lieber die funktionstüchtige Einheilung von
transplantierten Epithelkörperchen des Hundes.
Vorläufige Mitteilung von Privatdozenten Dr. Hermann Pfeiffer und
Dr. Otto Mayer.
Der in Nr. 21 dieser Wochenschrift im Sitzungsprofo-
kolle der Gesellschaft der Aerzte vom 17. Mai 1907 er¬
schienene Bericht Dr. Leischners über seine Transplan¬
tationsversuche von Epithelkörperchen der Ratte veranlaßt
uns schon heute, auf unabhängige Versuche hinzuweisen,
die wir aus Anlaß unserer Studien über parathyreoprive
Tetanie an Hunden, Ratten und weißen Mäusen unter¬
nommen haben.
Die grundlegenden Versuche Schiffs mit Transplan¬
tation der Schilddrüse bedurften, nachdem seit Entdeckung
der Epithelkörperchen die neuere Forschung die para-
thyreoprive Genese der postoperaiiven Tetanie erwiesen
hatte, dringend insoferne einer Revision, als die iisolierte
Transplantation von Schilddrüsengewebe einerseits und von
Epithelkörperchen anderseits vorzüglich dazu geeignet er¬
scheinen mußte, die Stichhaltigkeit dieser durch Studium
der Ausfallserscheinungen gewonnenen Ergebnisse auf
einem neuen Wege zu beweisen. Die Möglichkeit einer
funktionstüchtigen Einheilung vorausgesetzt, mußte nach
ausschließlicher Transplantation von Schilddrüse und bei
gleichzeitigem Verluste der Epithelkörperchen Tetanie, nach
radikaler Entfernung der Schilddrüse und funktionstüch¬
tiger Verpflanzung der Glandulae parathyreoideae an jungen,
noch wachsenden Tieren das Bild der Thyreoaplasie (kon¬
genitales Myxödem), soweit dieses im Tierexperimente über¬
haupt erhalten werden kann, zu erzielen sein. Im Zusam¬
menhalt mit den Ergebnissen von Fütterungs-, bzw. von
Injektionsversuchen des Epithelkörperchensaftes, wie sie zu¬
erst von Va SS alle und Generali vorgenommen worden
sind, mußte außerdem noch die schon für die physiologische
Forschung wichtige Frage zu entscheiden sein, ob die Glan¬
dulae parathyreoideae als ,, Vorratsdrüsen“ wie die Schild¬
drüse aufgefaßt werden dürfen oder nicht. Dies ist eine
heute noch keineswegs entschiedene Frage, deren Klärung
sowohl für die Erkenntnis des funktionellen Mechanismus
dieser Drüschen und für die Versuchsanordnung eines ziel¬
bewußten Studiums ihrer Leistungen von theoretischer, als
auch für die Therapie mancher Tetanieformen von rein
praktischer Bedeutung ist.
Auch von uns wurde, als wir an diesen Teil unseres
.Arbeitsplanes herantraten, die Ratte als Versuchstier für
die Transplantation in Betracht gezogen. Nachdem wir uns
aber, wie Leis ebner sehr richtig betont, davon über¬
zeugt hatten, daß der anatomischen Verhältnisse und der
Kleinheit der zu transplantierenden Flpithelkörperchen wegen
eine absolut ,, schilddrüsenfreie“ Verpflanzung aus tech¬
nischen Gründen ausgeschlossen ist, wählten wir als ein
schon seiner Größe nach brauchbares Versuchstier den Hund,
dessen beide äußere E])ithelkörperchen in der Regel durch
ein Easzienblatt von der Schilddrüse getrennt, wäh¬
rend die inneren in das Organ versenkt siml und des¬
halb eine ganz reine und einwandfreie IJeberlragung ge¬
statten. Wenn wir, die wir selbst strenge auf dem Boden
der parathyreopriven Genese der postoperativen Tetanie
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 23
/OO
slehon, zwar in den kleinen, niiltransidantierten Seliild-
drüsenresten Leisclincrs keine, für die Deutung der lle-
suHale in Betracht kommenden Felilerquellen erblicken
können, so war es uns doch etwaigen Gegnern unserer
Anschauungen gegenüber von prinzipieller Wichtigkeit, auf
eine Versuchsanordnung hinzuweisen, an der in keiner Weise
zu rütteln wäre. Nur der absolute Mangel des transplan¬
tierten Epithelkörperchens an Schilddrüsengewehe konnte
diese Bedingung erlullen. Endlich bietet der Hund mit
seiner meist perakut und rasch letal endigenden Tetanie
ein viel günstigeres Versuchstier, a'fs es die Ratte ist, an
der, wie Erdheim in seiner schönen Arbeit feststellte,
diese Erkrankung einen protrahierten und relativ gutartigen
Verlauf zeigt.
Als Transplantationsstetle wählten wir, den grund¬
legenden Versuchen Schiffs und v. Eiseisbergs
folgend, wie auch Lei sehn er, die Schichte zwischen Rec¬
tus abdominis und Peritoneum. Wir führten unsere Ver¬
suche in zwei Sitzungen aus, indem in der ersten ein
äußeres Epithelkör])erchen verpflanzt und die zugehörige
Schilddrüse dann radikal entfernt wurde und in einer
zweiten, nach Ablauf einer Woche vorgenommenen Sitzung
das andere äußere Epithelkörperchen transplantiert und
der Schilddrüsenrest exstirpiert wurde. Die beiden, an fünf
Wochen alten Bernhardinerhunden vorgenommenen Vor-
siudie, deren Resultate uns heute schon vorliegen, hahen
ergeben, daß diese Tiere bisher vollkommen frei von der
l)ei Hunden in kürzester Zeit tödlich verlaufenden Tetanie
blieben. Wenn diese Versuche zwar nicht an Zahl
mit jenen von Leis ebner konkurrieren können,
so meinen wir doch, unabhängig von ihm und gleich¬
zeitig einen völlig einwandfreien Versuchsweg einge¬
schlagen zu haben.*) Wir können somit durch unsere Er¬
gebnisse die Resultate dieses Autors volli.uhaltlich be¬
stätigen. Ueber den Gegcmversuch, Transplantation von
Schilddrüse und darauffolgende Exstirpation der Epithel¬
körperchen, soAvie über die Details der hier angedeuteten
Versuche und über die Ergelmisse unserer Telaniestudien
überhaupt wollen wir später und an anderem Orte be¬
richten.
Graz, den 25. Mai 1907.
Aus der III. med. Abteilung des k. k. Kaiser- Franz-
Joseph-Spitales in Wien. (Vorstand : Prof. Dr. Hermann
Schlesinger.)
Ueber Herpes bei Meningitis cerebrospinalis
epidemica.
Von Dr. Hugo Eiiihoru, suppt. Assistenten der Abteilung.
Das epidemische Auftreten der Genickstarre in den
vergangenen zAvei Jahren in Deutschland und die große
Zahl von Erkrankungsfällcn in den letzten Monaten in Wien
haben das regere Interesse für diese Krankheit geweckt
und die fadiAvissenschaftliche Literatur der neueren Zeit mit
sehr vielen Avertvollen Beobachtungen über die Meningitis
cerebrost)inalis bereichert.
J’rolzdem die Symptomatologie recht erschöpfend be¬
handelt ist, möchte ich doch über einige, Avie es scheint,
nicht näher gcAvürdigte Einzelheiten des Herpes bei Me¬
ningitis cerebrospinalis epidemica berichten.
Ohne irgendAvelche nennensAverte BeschAverden
schießen auf leicht geröteter Basis, gewöhnlich am
dritten bis sechsten Krankheit, stage (Thiemich), in Grup¬
pen stehende Avasserhelle Bläschen von Stecknadelkopf- bis
zu Innsengröße auf der Haut auf, konfhiieren zuAveilen
*) Anmerkung bei der Korrektur: Während der Drucklegung er¬
hielten wir Kenntnis davon, daß kürzlich Riedl aus Anlaß einer
Diskussion in der Gesellschaft der Aerzte in Wien über ähnliche Ver¬
suche berichtete, in denen er gleichfalls die äußeren Epithelkörperchen
des Hundes mit dem hier geschilderten Erfolge in die Milz transplantierte.
Es sei betont, daß wir auch vollkommen unabhängig von Riedl ge¬
arbeitet haben.
miteinander und nach einem bis zAvei Tagen trübt sich
der Inhalt der Blasen, die anfangs pralle Blasendecke Avird
schlaff, sinkt in der IMitle etwas ein und schließlich trocknet
das ganze Herpeshläschen zu einer gelblichen oder braun¬
gelben Borke ein. Durch Konfluenz mehrerer Herpesldäs-
chen bilden sich zuAveilen ausgebreitete Krusten, die am
Rande immer noch deutlich ihr Entstehen aus Einzelbläs-
chen dokumentieren und ebenso von einem roten Hofe um¬
säumt sind Avie die Borken, Avelche aus alleinstehelniden
Bläschen zustajide kamen. Nach einigen Tagen fällt die
Borke ab, die Herpeseruption ist gewöhnlich ohne irgend¬
Avelche Narbenbildung abgelaufeu ; mitunter jedoch heilt
der Herpes mit Rück las sung feiner Narben aus.
In letzter Zeit haben wir dies, Avie es scheint, noch nicht
beschriebene Vorkommnis zweimal beobachtet. In beiden
Fällen waren die Narben seicht und erhehlich gerötet.
Oft ist uns beim Herpes der Meningitis cerebrospinalis
aufgefallen, daß die einzelnen Blaseneruptionen auffallend
lange, sechs Ins acht Tage, persistieren oder nach ihrer
Eintrocknung noch durch 14 Tage und länger kenntlich
bleiben. Ebenso häufig ist es, daß nach Ahfallen der Krusten
und Borken die Haut an der Stelle, an Avelcher die Blasen
aufgeschosscMi waren, auffallend gerötet und leicht infil¬
triert bleibt, so daß bisAveilen noch in der Rekonvaleszenz
die Stellen, an Avelcheii Herpes aufgetreten Avar, sich sicht¬
bar erhalten.
Charakteristisch ist für diesen Herpes, daß die Erup¬
tion schubweise auftriti, derart, daß man neben eingetrock¬
neten noch frische Bläschen findet, während bei den meisten
anderen akuten Infektionskrankheiten die Herpeseruption
mit einem Male auftritt und mit diesem einmaligen Aus-
hruche der Bläschen abgeschlossen erscheint.
Von vielen Autoren ist auch schon hervorgehoben
Avorden, daßi die Blaseneruption l)ei der et)idemischen Ge¬
nickstarre durch zAvei Momente ausgezeichnet ist, erstens
durch die ungewöhnliche Mächtigkeit des Ausschlages
(Schotimüllcr, Forster), zAAmitens durch ihre aty¬
pische Lokalisation.
Was den ersten Punkt anbelangt, so kann man Herpes¬
eruptionen beol)achten, die aus Dutzenden von Bläschen be¬
stehen, die Lippen, Wangen, Ohren, Nacken und Augen¬
lider bedecken, zur behaarten Kopfhaut nach aufwärts und
nach abAvärts sich sogar auf die Brust erstrecken. So sahen
Avir z. B. voriges Jahr auf der Ahteilung einen ausgebreiteten
Herpes, der sich von der Stirn bis zur Mamma ausdehnte.
Dabei ist es auffallend, daß die Affektion häufig auf citier
Seite viel stärker als auf der anderen ausgebildet erscheint.
Was den zweiten Punkt, die atypische Lokali¬
sation, betrifft, so ist es für den Herpes bei der Genick¬
starre charakteristisch, daß er auch an Stellen auftritt,
Avelche bei anderen fieberhaften Erkrankungen nie oder
nur ausnahmsAveise der Sitz Amn Herpesbläschen sind.
Typische Lokalisalionsstellen sind für den Herpes im . all¬
gemeinen die Gegend um Mund und Nasenflügel. Bei Zerebro-
spinahneniugitis ist es höchst bemerkensAvert und diagno¬
stisch Amn großer Bedeutung, daß der Herpes oft nur an atypi¬
schen Stellen Amrkonnnt. Nach unseren Erfahrungen ist
sehr häufig eine Ohrmuschel (vordere und hintere Fläche)
betroffen, ebenso konnten Avir ein solitäres Herpesbläschen
am Augenlide ohne sonstige anderAveitige Eruptionen kon¬
statieren. Wie sonderbar manchmal der Herpes bei der
Meningitis cerebrospinalis lokalisiert ist, geht aus einer
unserer Beohachtungen lierAmr, bei Avelcher eine sonst cha-
rakterislische Blaseneruption am Daumen auftrat. Scham¬
berg eiwälmt Herpes an der Endphalanx desselben Fingers
und am Thenar, Prof. Sohlesinger sah ihn am Klein¬
fingerballen, Schottmüller an den Glntäi. Wir haben
auch Herpes an der Kopfhaut neben ausgehreilelem Herpes
auricularis gesehen.
S c h o 1 1 m üll e r hebt neben der Mäcdiligkeit des Her¬
pes bei Meningitis cerebrospinalis noch die Eigentümlich¬
keit desselben hervor, daß er gleichzeitig an verschiedenen
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
701
Körporstellen aiitlrift, ein Befund, den auch wir zu wieder-
liolten Malen heohaclitcn konnten.
Was den Herpes bei Zerebrospinalmeningitis auf der
äußeren Haut betrifft, so inöclite ich resüniiercn, daß er
sich durch ungewöhnliche Mächtigkeit, große
Ausdehnung und relativ lange Eruptionsdauer
auszeichnet. Die Heilung des Herpes erfolgt
langsamer als bei dem gewöhnlichen fehrilen,
mitunter mit Narbenbildung; atypisclie Lokali¬
sationen, oft auch isolierte Blaseneruptionen
sind h ä u f i g.
Während über den Herpes auf der Haut in den Ar¬
beiten über Meningitis cerebrospinalis ziemlich viel be¬
richtet wird, sind über ^seine Teokalisation auf den
Schleimhäuten weni ge Beo])achtungcn ' in der Literatur
niedergelegt.
Wir möchten vorwegnehmen, daß es sich nicht um
ungewöhnlich seltene Vorkommnisse handelt, da nach
unseren Beobachtungen, sowie mündlicher Mitteilung, die
ich Herrn Prof. Schlesinger verdanke, in letzter Zeit
sieben Fälle von Schleimhautherpes zu unserer Kenntnis
gelangt sind. Es ist allerdings möglich, daß das häufige
Befallensein der Schleimhäute eine Eigentümlichkeit, der
jetzigen Epidemie ist, da mir Prof. Schlesinger mittcilt,
daß er früher, trotz häufiger und genauer Inspektion der
Mundhöhle, nie Herpeseruplionen an der Schleimhaut be¬
merkt hatte.
Soweit mir die Literatur zugänglich war, fand ich
nur bei Howard Herpes in der Mundhöhle verzeichnet.
Was die Zeit des Auftretens des Schleimhaut¬
herpes anhelangt, so geht die Eruption zuweilen der an
den äußeren Decken voraus. So war in einem unserer
Fälle ein Gaumenherpes zwei Tage dem Lippenherpes vor¬
angegangen.
Häufiger jedoch tritt die Eruption an den Schleim¬
häuten gleichzeitig mit der an der Haut auf oder folgt ihr
nach. Die Dauer des Aufschießens der Bläschen auf der
Schleimhaut ist nach unseren Erfahrungen eine kürzere
als auf der Haut.
Was das Aussehen des Herpes anbelangt, so han¬
delt es sich um kleine Bläschen mit wasserhellem Inhalte
auf etwas geröteter Schleimhaut, die in dichten Gruppen
beisammen sieben. Die Blasen trocknen nicht ein, sondern
plalzen und hinterlassen einen seichten Epit.heldefekt, wel¬
cher zunächst etwas weißlich belegt, sich bald reinigt und
ohne Narbenlu’ldung verheilt, so daß wenige Tage nach
dem Auftreten der Bläschen die ganze Schlei mhauteruption
verschwunden ist.
Die Lokalisation an der Schleimhaut scheint ge¬
radeso eine mannigfache zu sein wie an der äußeren Haut.
Wir haben Blaseneruptionen am weichen und harten
Gaumen, an der Gingiva, Uvula, an der Zunge (besonders
sind die Scu’tenränder bevorzugt), a.u der Konjuuktiva (mit
be.gleitender mäßiger Koniunktivitis), am Uebergange der
Nasenschleimbaut zur äußeren Haut beobachtet. Am häu¬
figsten fand sich Herpes am harten Gaumen und an der
Gingivm des Oberkiefers. Unter anderem hatten wir einmal
Gelegenheit, eine Herneseruption von der Gingiva. derHinter-
seite der Sebneidezäbne angefangen bis zur Uvula hin zu
sehen. Ein Gegenstück zu dieser ausgebreiteten Eru])tion
zeigt eine zurzeit auf der Abteilung befindliche Patientin,
die riehen einem die ganze Ni'ise bedeckenden Herjres öin
einziges tvpisches Hein)esbläschen an der Basis der Uvula
aufwies, das gegenwärtig ohne irgendwelche Schleimhaut¬
veränderung abgeheilt ist.
Auffallende Schmerzen scheinen den Schleimhaul-
eruptionen, ebenso wie denen auf der Haut, nicht zuzu¬
kommen; weder das Aufschießen, noch das Platzen der
Blasen wird von den Kranken quälend oder schmerzhaft
empfunden.
Komplikationen oder Folgezustände des Her¬
pes haben wir nie beobachtet.
Unter Umständen könnte eine mächtige Entwicklung
des Schleindiautherpes Bedenken in bezug auf die menin-
gitische Natur des Krankheitsprozesses erwecken.
Differenli aid iagnos tisch kommt da in Betracht
die Maul- und Klauenseuche. Es finden sich hei dieser
Krankheit stets schwere Veränderungen der Oingiva, die
Schwellung, Auflockerung und Sekretion der Mumlschleim-
haut ist außerordentlich groß, Begleiterscheinungen, die
alle heim Schleimhautherpes fehlen, ebenso wie die auf¬
fallend starke Bötung der Schleimhaut.
Mit Pemphigus ist eine Verwecbslung — abge¬
sehen von der Seltenheit dieser Krankheit — schon durch
den Verlauf und die meningitischen Erscheinungen nicht
gut möglich.
Mit Herpes laryngis et p h a r y n g i s, wie ihn Glas
beschrieben bat, ist der Herpes bei Meningitis, auch wenn er
nur auf der Schleimhaut lokalisiert wäre, nicht zu verwech¬
seln, weil diese an und für sich seltene Affektion, die aller¬
dings mitunter mit Fieber beginnt, Schmerzen im Halse,
Heiserkeit, Atemnot hervorruft, Erscheinungen, die ma.n bei
durch Meningitis hedingtem Herpes nie beobachten konnte.
Bezüglich der Häufigkeit des Heriies bei Zerebro¬
spinalmeningitis, sowohl auf der Haut als Schleimhaut nimmt
man an, daß er in zirka der Hälfte aller Fälle angetroffen
wird. Förster fand ihn in 20^/0, Schottrn’üller in 30 o/o,
Klemperer in 50 o/o, Schamherg (der auch andere
Autoren zitiert) in durchschnittlich 52 o/o.
Wir selbst beobachteten ihn fast bei der Hälfte unserer
Kranken, dabei hatte ungefähr enn Viertel derselben Schleim¬
hautherpes.
Ueber die Histologie des Herpes bei der Menin¬
gitis cerebrospinalis findet sich in der Literatur, soweit ich
sie verfolgen konnte, keine Abhandlung. Uns war es
nicht möglich, darüber Untersuchungen anzustellen, dafür
wurde fast in allen Fällen der Bläscheninhalt mikroskopisch
und hakteriologisch untersucht. Es fanden sich Lympho¬
zyten, spärliche Epithelzellen, kleine Gra.m-positive Diplo¬
kokken, zweimal große Gram-negative Diplokokken, die Kul¬
tur des seihen Bläscheninhaltes ergab jedoch nicht das
Wachstum von Meningokokken. Diese wurden üherhaupt
in keinem Fälle bei wiederholten bakteriologischen Unter¬
suchungen des Heiqresbläscheninhaltes nachgewiesen
(Kretz, Wiesel).
Soweit sich die Literatur verfolgen läßt, gelang es
nur einmal (Drigalski), Meningokokken im Herpesbläschen
nachzuweisen u. zw. fanden sich in der Kultur Diplokokken
und Tetraden, welche den gleichzeitig aus der Spinalpunk¬
tionsflüssigkeit gezüchteten vollkommen identisch waren. (Es
wurde Blutbouillon mit Herpesbläscheninhalt beschickt.)
Auch gelang Drigalski in einem Fälle mit Bläschen¬
inhalt eine positive Agglutinationsprohe.
Jakobitz konnte nie Meningokokken im Heri)esinhalt
nachweisen, noch aus demselben züchten, Thiemich be¬
richtet, daß nie Meningokokken im Bläscheninhalte gefunden
wurden.
Klemperer untersuchte von 19 Herpesfällen bei ver¬
schiedenen Krankheiten auch zwei hei Zerebrospinalmenin¬
gitis und fand hiebei im Inhalte keine Meningokokken.
Ueber das Z u s t a n d e k o m m e n des Herims weiß man
bis jetzt noch recht wenig. Einige Autoren glauben, daß er
nervösen Ursprunges sei. So schließt Howard aus Unter¬
suchungen ani Ganglion Gasseri und an Spinalganglien, die den
Nerven, in deren Verbreitungsgebiete Hei'i)eseruption aufge¬
treten war, angehören, daß der Herpes durch entzündliche
Degeneration der sensiblen Ganglienzellen henmrgerufen
werde. Auch Schottmüller spricht sich für die »nervöse
Ursache des Herpes aus, ohne sie jedoch des näheren zu be¬
gründen. Die Beobachtung Dri gal skis, daß an der Ein¬
stichstelle am Ohrläppchen (zwecks Blutentnahme) bei einem
Meningitisktanken, und ein andermal, als mit Seifenspiritus
die Haut der Ohrmuschel abgerieben wurde, am nächsten
Tage daselbst Hei-pes auftrat (was wir allerdings bei dem
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 23
gleichen Versuch nicht finden konnten), dürfte ebenfalls
für den nervösen Ursprung des Herpes sprechen.
Gerhardt (zitiert bei Klemperer) glaubt, daß der
Herpes durch eine leichte Läsion der feineren Trigeminus¬
äste infolge des Druckes der beim Fieber anschwelleiideii
Begleitarterien innerhalb der Knochenkanäle — entsteht.
Gegen diese Annahme spricht der Umstand, daß der Herpes
weit über das Verbreitungsgebiet des Trigeminus hinaus
auftritt. Diese Hypothese könnte deshalb nur für Herpes im
Bereiche des Trigeminus Geltung finden.
Eine Tvokalisatron des die Grundkrankheit verutsachen-
deii Virus auf der Haut vermutet Klemperer.
Sehr plausibel ist die Vorstellung, wie sie Scham¬
berg hat. Die Häufigkeit des Herpes gerade bei Infektions¬
krankheiten macht es wahrscheinlich, daß die Toxine eine
spezifische Eigentümlichkeit haben müssen, um die Struktur
sensibler Nervenfasern so zu beeinflussen, daß in ihrem
Verbreitungsgebiete Haut Veränderungen auf treten.
Vielleicht dürfte es sich um eine Toxinwirkung handeln,
die vorwiegend die peripheren Nerven betrifft. Die Anschau¬
ung, daß es sich um eine nervöse Ursache handelt, ließe
sich durch das dem Herpes zoster ähnliche gruppenweise
Auftreten stützen, der toxische Einfluß durch den Umstand
erklären, daß die Blaseiieruption sich zu einer Zeit ent¬
wickelt, wo die Toxinwirkung auf den Organismus am inten¬
sivsten und stürmischesten zur . Einwirkung gelangt, also
im Beginne der Erkrankung.
Eine prognostische Bedeutung kommt dem Herpes
nicht zu. Tour des (zitiert von Schamberg) behauptet,
daß die Herpeseruption ein prognostisch gutes Zeichen wäre,
Schamberg, ebenso auch wir fanden nie, daß die vom
Herpes begleitete Zerebrospinalnieningitis unter den gleich
schweren Krankheitserscheinungen günstiger als die ohne
Herpes verlaufen wäre.
Die geringen Beschwerden, die der Herpes verursacht,
erheischen keine besonderen therapeutischen Maßi-
nahmen. Sobald die Bläschen aufgeschossen sind, werden
sie mit einem indifferenten Streupulver bedeckt; nach Ein¬
trocknung der Krusten werden gegen die leichte Spannung
der Haut und zur besseren Ablösung der Borken Borvaselin¬
umschläge appliziert.
Der Schleimhautherpes bedarf keiner besonderen Be¬
handlung, da er bei der sorgsamen Mundpflege, die man bei
keinem Schwerkranken außer acht lassen darf, von selbst
abheilt.
Zum Schlüsse sei mir gestattet, meinem verehrten
Chef und Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hermann Schlesinger,
für die Ueberlassung des Materiales und die gütige Unter¬
stützung meiner Arbeit meinen herzlichsten Dank auszu¬
sprechen.
♦
Aus der reichhaltigen Literatur über Meningitis cerebro¬
spinalis will ich nur jene Arbeiten anführen, die sich des
näheren mit Herpes befassen.
Literatur:
Drigalski, Beobachtungen bei der Genickstarre. Deutsche med.
Wochenschrift 1905, Nr. 25. — Forster, Zerebrospinatmeningitis. Tlie
american Journal of the medic, sciences 1905. — Glas, Ueber Herpes
laryngis et pharyngis. Berliner klin. Wochenschrift 1906. — Howard,
Observations on the relation of lesion of the Gasserian and posterior
rootganglia to herpes occuring in pneumonia and cerebrospinalmeningitis.
The american Journal of the medical sciences 1905. — Jakob itz,
Ueber epidemische Genickstarre. Münchener med. Wochenschrift 1905,
Nr. 45. — Klemperer, Zur Bedeutung des Herpes labialis bei der
Genickstarre. Berliner klin. Wochenschrift 1893, Nr. 29. — Schamberg,
The nature of herpes simplex an dits diagnostic and prognostic significance
in various infectious diseases. The Journal of the american medical
association 1907. — Schottmüller, Ueber Meningitis cerebrospinalis.
Münchener med. Wochenschrift 1905, Nr. 34 bis 36. — Thiemich,
Handbuch für Kinderheilkunde von Pfaundler-Schloßmann.
l^eferate.
Ueber Morbus Basedowii. Theorie und Behandlung.
Von Dr. 0. y. Boltensteru.
Würzburg 1906, Verlag von A. Stüber (Kurt K a b i t z s c h).
Das vorliegende Heft Würzburger Abhandlungen aus dein
Gesamtgebiete der praktischen Medizin bescfircänkt sich strenge
auf die ini Titel genannten zwei Punkte. Die Theorie des Basedow
wird rein historisch abgehandelt, ohne daß. der Autor nach der
einen oder anderen Seite kritisch Stellung nehmen würde. Eben¬
so objektiv referiert v. Bol ten stern über die Therapie des
Basedow. In einer angehängten Tabelle sind 96 mit Antithyreoidin-
seium behandelte Fälle aus der Literatur zusammengestellt; in
keinem Falle ist von einer wirklichen Heilung die Rede. Zum
Zwecke der Wertung der Schilddrüsenoperation hat Rehn 319
Fälle gesammelt; darunter 175 geheilt, 79 gebessert, die Mor¬
talität betrug 13-6°/o. Resümee: Die Behandlung der BasedoAv-
kranken ist in erster Linie eine innere, welche aus der Summe
der symptomatisch Avirkenden Älittel nach der Art und Indi¬
vidualität des Kranken und des Falles die zweckmäßigsten aus¬
sucht. Hat die interne Behandlung im Verlaufe von einigen Mo¬
naten ein Avenn auch nur geringes Resultat zu zeitigen nicht
vermocht, Amrschlechtert sich vielmehr andauernd der Krankheits¬
zustand, dann muß zur Operation geraten Averden, namentlich
unter schlechten sozialen Verhältnissen.
*
Bfypnotismus und Spiritismus. Medizinisch - kritische
Studie.
Von Prof. Dr. med. Lapponi.
Autorisierte deutsche Ausgabe von M. Luttenbacher.
Leipzig, B. Elischer Nachfolger.
Eine Stimme -aus dem Vatikan über die ZAvei Gebiete-, die
bisher auf der strenggläubigen Seite Avie ein Rühr mich nicht
an galten, so nennt der Uebersetzer selbst die vorliegende Studie
und als solche begegnet sie besonderem Interesse, das sonst
wenig gerechtfertigt erschiene. Es AAÜrd heutzutage ohnehin keinen
urteilsfähigen Älenschen mehr geben, der die zwei Begriffe, Hypno¬
tismus und Spiritismus durcheinanderAvirft und auch die Be¬
rührungspunkte sind keinesAvegs so innige, daß eine Durch-
flechtung der Kapitel Avie im vorliegenden Buche angezeigt er¬
scheint. Es folgt auf einen historischen Abriß, über den Hypno¬
tismus ein solcher über den Spiritismus, auf das Kapitel: Tat¬
sachen des Hypnotismus, die Phänomene des Spiritismus. Im
sechsten Kapitel erklärt dann der Autor nach freilich ctAvas ober¬
flächlicher Widerlegung zahlreicher EinAvände, den Hypnotismus
„fast ZAveifellos“ nur für eine der vielen klinischen Aeußerungen
der Hysterie — für etwas Krankhaftes — ein Urteil, das besser
ist als seine Begründung.
Hauptsache ist aber die Stellungnahme Lapponis zum
Spiritismus, die im nächsten Kapitel deutlich Avird. Ohne irgend
etAvas Neues zu bringen, Aviderlegt er mit großem Ernste alle
Versuche, die „Avunderbaren“ Erscheinungen des Spiritismus auf
Halluzinationen und Illusionen, beAVußte oder unbewußte Gauke¬
leien zurückzufübren ; er beruft sich mangels eigener Wahrneh¬
mungen auf solche glaubAvürdig erscheinender Personen und nimmt
diese historischen Wahrnehmungen als Realität. Er gibt natür¬
lich zu, daß in so und so vielen Fällen Täuschung und Betrug
nachgoAviesen Avurden, aber es bleiben noch, Avenn auch seltene,
echte Tatsachen, die den Amrbreitetsten und bekanntesten Ge¬
setzen der kosmischen Natur nicht allein überlegen, vielmehr
direkt entgegengesetzt sind, nach dem heiligen Augustinus frei¬
lich nur gegen die Kenntnisse streiten, Avelche wir von den
Naturgesetzen haben. Jedenfalls seien Avir genötigt, in den spii'i-
tistischen Phänomenen Aeußerungen einer übernatürlichen Ord¬
nung zu sehen. Ref. glaubt nicht, daß Lapponi es irgend
jemand plausibel zu machen A^ersteht, Avarum sich die Geister
der Spiritisten gar so menschlich gebärden; er fühlt das Avohl
auch selbst und findet darum als gläubiges Gemüt den unan¬
greifbaren Standpunkt: Wir dürfen die Wege und Ratschlüsse
der Gottheit nicht erforschen, oder nach dem Warum ihrer An¬
ordnungen fragen wollen. Ja, Avarum Avurdc dann das vorliegende
Buch geschrieben? Um so mehr als den Schlußfolgerungen des
Nr. 23
703
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Autors alle Anerkennung gebührt: Der Spiritismus ist stets ge¬
fährlich, schädlich, unmoralisch, verworflicli und ohne Kiu-
schrä^dumg zu verurteilen und zu untersagen, seihst das Studium
th‘s Spiritismus ist schwer zu lechtferiigen,
*
Soxualität und ästhetisches Empfinden in ihrem
genetischen Zusammenhänge.
Eine Studio von Artur Kroufeld.
Straßburg i. E. und Leipzig 1906, Josef Singer.
Ein geistreiches Buch. Nach Kronfeld •— und jeder
Naturwissenschaftler wird ihm da beistimmen — ist es die Natur¬
wissenschaft, welche nach ihren Prinzipien und Kriterien die
Errungenschaften der bisherigen Arbeitsweise geisteswissenschaft¬
licher Aesthetik beurteilen und richten soll. Die metaphysische
Aesthetik ist abzulehnen; das Grundproblem des Aesthetischen,
an dem der ästhetische Objektivismus scheiterte, wäre allein
von der isubjektivistischen psychologischen Aesthetik seiner Lösung
näher zu bringen. Die Frage, worauf beruhen denn aber die
ästhetischen Elementargefühle? ist nur durch die genetische Me¬
thode der Naturwissenschaft, welche die Phylogenie auf Grund
der Deszendenztheorie innehält, aufzuklären.
Auf diesen methodologischen folgt ein zweiter kritischer Teil,
bisherige Theorien der naturwissenschaftlichen Aesthetik. Krou¬
feld kritisiert speziell die objekti^dstische Theorie Boelsches
(Rhythmotropismus), Grant Aliens (Beziehung zum Nahrungs¬
trieb), D ar wins (Beziehung zum Geschlechtstrieb). Hier knüpft der
dritte Teil an, das Divergenzprinzip in der Sexualität und seine
psycljischen Erscheinungsformen. Die größte Divergenz wird das
Kriterium der zweckmäßigsten Sexualverbindung sein, und die
sexuelle Divergenz des einen Geschlechtes dokumentiert sich in der
psychischen Anschauung des anderen Geschlechtes als das lust¬
erregende Moment. Diese Lust — und das ist der Grundgedanke
der vorliegenden Studie — ist identisch mit der phylogenetisch
ursprünglichen, primitiven ästhetischen Lustempfindung, wie für
das Empfinden von Farben, Tönen, Formen, Bewegungen, Rhyth¬
mus und Melodie durchgefülirt wird .
*
Die Grundlagen der Seelenstörungen.
Von Julius Beßmer S. J.
Freiburg i. Breisgau 1906, Herder.
Die Schrift will die tieferen philosophischen Fragen behan¬
deln über die Grundlagen der Seelenstörungen und soll dem 'Wolde
der Seelen dienen, die Obsorge für die geistig Schwachen und
geistig Kranken fördern. Nach Art der Darstellung wendet sie sich
offensichtlich an gläubige Laien und Seelsorger. Tn die Psy¬
chiatrie läßt sich der Autor sehr wenig ein; eigentlich kommen
nur Nervosität, etwas von deuEIysterie zur Sprache, die sogenann¬
ten psychopathischen Persönlichkeiten werden gestreift. Was den
Arzt interessieren kann, ist nur der Versuch des Autors, Wissen
und Glauben zu versöhnen, natürlich in der W'^eise, daß das
Wissen im Glauben aufgeht. Beßmer steht auf dem Standpuukt
der aristotelisch-scholastiischen Philosojdüe. Die Seele ist eine
WWsensform des menschlichen Leibes, was ja, für den Katholiken
Glaubenslelne ist. Demgemäß muß das Wesen der Geisteskrank¬
heiten definiert werden: , .Treten durch Störungen in den Hirn¬
prozessen Störungen des sinnlichen Erkennens und Strebens auf,
so sind Leib und Seele krank. Die höheren Fähigkeiten der Seele,
Verstand und AVille müssen darunter leiden, obwohl sie nicht
direkt der Sitz der Krankheit sind.“ Noch schwieriger natürlich
wird für den Theologen die Erklärung der Bewußtlosigkeit; hier
muß er tatsächlich an die höchste Instanz api)etlieren. ,,Da
aber in Unserem irdischen Leben ohne ein besonderes Eingreifen
Gottes eine intellektuelle Betätigung nicht möglich ist, wenn Sinne,
Phantasie und Erinnerung ihre Tätigkeit einstellen...“ Dagegen
gibt es natürlich keine Berufung.
*
Die leichten Fälle des manisch-depressiven Irreseins
(Zyklothymie) und ihre Beziehungen zu Störungen
der Verdauungsorgane.
Von Karl Wiliiianiis.
Leipzig 1906, Breitkopf & Härtel.
Das voiiiegende Heft aus der Sammlnng klinischer Vorträge
(Richard v. Volkmann, neue Folge) stammt aus der Heidelberger
Klinik Und trägt ein ausgesprochenes Lokalkolorit. Die ,, moderne“
Sch'ule, wie WHlmanns kurz sagt, teilt die fimklionellen Psy¬
chosen wesentlich in die Dementia praecox und das manisch-
depressive Irresein. Von den. Gesarntaufnahmon der Heidelberger
Klinik entfallen 40 bis 52°/o auf erstere, 11 bis 16% auf letztere
Form von Geistesstörung. Unter Annahme der Kahl ha um sehen
Bezeichnung ZyklotJiymie schildert der Autor das Krankheitsbild
der ganz leichten Fälle zirkulären Irreseins und verweist darauf,
daß die Ki'ankeii in den depressiven Phasen eine Unmenge von
körperlichen Beschwerden klagen, welche sie den Aerzteu und
verschiedenen Spezialisten (natürlich niemals den Psychiatern —
Ref.) zuführen. Namentlich häufig s’nd Verdauungsbeschwerden,
die nach Wmlmanns möglicherweise den psychischen Störungen
koordiniert sind, eine Anschauung, der man um so eher beipflichten
wird, als die Geisteskrankheiten überhaupt als Allgemeinerkrankun¬
gen zu betrachten sind.
Analyse von 200 Selbstmordfällen nebst Beitrag zur
Prognostik der mit Selbstmordgedanken verknüpften
Psychosen.
Von Dr. Helene Friederike Stelzner.
Berlin 1906, S. Karger.
Ziehen gibt dieser aus der psychiatrischen Klinik zu Berlin
erschienenen Arbeit ein empfeblendes Geleitwort und wünscht,
daßi sie bei Beiufspsychiatern wie bei den Interessenten der Sozial¬
wissenschaft weite Verbreitung finden möge; es wäre beizufügen,
daß auch Berufspsychologen sie nicht ohne Nutzen studieren
würden. Die Verfasserin, welche sich einer erfreulichen Kritik
und Zurückhaltung in ihren Schlußfolgerungen befleißigt, hat
295 Selbstmordversuche bei 200 weiblichen Personen zur Grund¬
lage ihrer Betrachtungen genommen, zu erforschen versucht,
welchen Ausgang die verschiedenen Formen der durch Selbstmord¬
versuch komplizierten Psychosen nehmen, überhaupt, welche Be¬
ziehungen zwischen Suizid und der einzelnen Psychose besteheu.
Die größte Gruppe sind, wie vorauszusehen, die i\lelancholiker,
32V2% der Fälle. Die nächstgroße Gruppe bilden die Fälle von
psychopathischer Konstitution. xVm interessantesten aber sind die
.31 Fälle, wo anscheinend aus völliger geistiger Gesundheit heraus
das Suizid erfolgte. Die Frage, ob und wie weit der Selbstmord
Ausdruck einer krankhaften Psyche ist, wurde vielfach erörtert
und von den verschiedenen Autoren in ganz entgegengesetztem
Sinne beantwortet. Stelzner hat sorgfällige Nachforschungen
angestellt, ausführliche und sehr dankenswerte Katanmesen er¬
hoben, um in ihren Schlußfolgerungen eigentlich Esquirol Recht
zu geben. Sie resümiert nämlich : Auch die Selbstmorde, denen
eine Psychose weder vorausging noch folgte, sind oft als Aeuße-
rungen eines momentanen psychopathischen Zustandes zu be¬
trachten; hiefür sprechen die Geringfügigkeit der iVIotive, die
Hereditätsverhältnisse und einzelne neuropsychopathologische
Züge in der Vergangenheit. Auffällig zahlreich sind Selbstmord¬
versuche dieser letzteren Kategorie im Alter von 16 bis 25 Jahren.
• — Angehängt sind noch zwei Kapitel über Art der Selbstmordver¬
suche und die Heredität der Selbstmordkandidatinnen.
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer
Berücksichtigung der Homosexualität.
Herausgegeben von Dr. med. M. Hii'sclifeld.
VIH. Jahrgang.
Leipzig 1906, Max Spohr.
Ein breit angelegter (284 S.) Aufsatz von Hirschfeld'i
Vom Wesen der Liebe, zugleich ein Beitrag zur Lösung der Frage
der Bisexualität, eröffnet den Band. Die einzelnen Kapitel : die
große Liebesleidenschafl, Geschlechtstrieb und Geschlechtsverkehr,
die Stadien der Liebe, die relative Konstanz des Geschlechts-
trielres, zur Theorie und Geschichte der Bisexualität, über Teil¬
anziehung sind anregend geschrieben; einzelnes fordert allerdings
zu Widerspruch heraus. Hirschfeld wendet si(di z. B. gegen die
Theorie der okkasionellen Verknüpfungen, polemisiert aber eigent¬
lich mehr gegen die Behau])tung, daß der Zufall die Richtung des
Geschlechlstjiehes normiere, weniger gegen eine solche Normierung
durch assoziative Verknüpfung, wie man aus zwei von ihm selbst
beigebrachten Beis-pielen — eines Brillen- und eines Stiefelabsatz-
fetischisteu — sieht. Eben konkrete Beispiele solch absonderlichei’
/'.-±
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr 23
as.sftzialiver Verkiuipfungt-n, iialiirlicli j){5ycliui)atliisclic Anlage vor-
aiisselzend, innßien zu der Tlieorie führen, daß die sexuellen
rervorsionen als solche nichl angehoren sind.
Klisahetli 1) all t li e n tl e y, Die iirnische Frage und die Frau,
verlrill. eine verlorene Saclic. Sic verlangl das große Mitleid, das
wanne .Mitgefühl, die verstehende Mitarheit (?) der Frau an der
urnisehen Frage. Die gesunde, normale Frau wird die Donio-
sexualilät iininer ahlehnen jnüssen,' weil diese das Weih und die
Multei-scliafl negiert. Daß eine Statistik üher die Häufigkeit d(‘s
Dranisinus, logische Auseinanderse'zungen grundlegende weihliclie
flefühle pervertieren, glaliht ja die Verfasserin seihst nicht.
FrwälniL sollen weiter Averden die Aufsätze: Dr. Denedikt
Friedländcr, Kritik der neueren VA)rschlägc zur Ahänderimg
des §175, lh)dine Fieiin v. Verschiier, Die Homosexuellen in
Dantes (iöttlicher Komödie, L. S. A. M. v. Römer, Der Uranismus
in den Niederlanden his zum 19. Jalirhundert Jiiit hesondei’er
Derücksichligung der großen Uranierverfolgung im Jahre 1730,
H. J. Scholl teil. Ein paar merkwürdige Fälle aus der Kriminal-
geschichte Frankreichs nach den Memoiren der Scharfrichter San¬
son, zwei Biographien: Hans Freimark, Helena Petrovna Bla-
va. tzky, ein Aveihlicher Ahasver, Dr. 0. Kiefer, Hadrian und
Antonous, Aveiters Dr. P. Näcke, Einige ])sychiatrische Erfahrun¬
gen als Stütze für die Lehre von der hisexuellen Anlage des
Menschen, Dr. hvan Bloch, Dr. M. Birnbaum, Dr. Benedikt
F r i e d 1 ä 11 (1 e r, Literatur- und kultiirgeschichlliche Beiträge, Doktor
Paul B ra n d t. Der iiaidon eros in der griechischen Dichtung, Doktor
Franz v. Neugehauer, Zusammenstellimg der Literatur über
Herniaphrodilismus heim Menschen.
Daran schließt eine kritische Bibliographie, eine AusAvahl
von Büchern aus dem Jahre 1905 betreffend, von Numa Pr ac¬
tor ins. Aus dem Jahreshericht von Hirschfeld sei noch eine
sehr hezeichnende Neuigkeit herausgenommen. Es Avurde im
letzten Jahre hesiddosscn, an alle nach § 175 D. B.-St.-G. Ver¬
urteilten ein Trostschreihen zu versenden, das die Verurteilung
als ein Unglück bezeichnet, den Homosexuellen Amrsichert, daß
er kein eigentliclies Unrecht begangen habe, ihn aiiffordert, sich
vertrauensvoll an das Komitee zu A\mnden...
*
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus
den Jahren 1893 bis 1906.
Von Prof. Dr. Siegln, Freiul.
Leipzig und Wien 1906, Franz Deuticke.
Die hier in einer Sammlung vereinigten kleineren Aufsätze
sind den Fachgenossen bereits hokannt. Trotzdem wird ihre Zu¬
sammenstellung vielfach Avillkommen sein. Sie gestattet auch die
zunehmende Wandlung Freuds zur Einseitigkeit zu verfolgen.
Es gibt unzAveifelhaft glückli(die Menschenkinder • — oder soll man
sie hedauein — die keine Existenz- und Nahiauigssorgen kennen;
Avenn nun auch noch geistige Interessen fehlen, bleibt Avirklich nur
mehr die Sexualität übrig. Auch Bef. kennt J’ypcn jener Menschen¬
klasse, denen die Sexualität alles ist. Die große älehrheit aller
Weltbürger liat aber noch andere Sorgen und Konflikte, andere
Freuden und Leiden, andere Ursachen für Cesundheit und
Krankheit.
*
Die Geisteskrankheiten des Kindesalters mit besonderer
Berücksichtigung des schulpflichtigen Alters.
Von Prof. Dr. Th. Zieheu.
3. Heft.
Berlin 1906, Reut her & Reichard.
Das vorliegende Schlußfieft handelt die Geistesstörung aus
ZAvangsvorstellungen ab; darunter bringt Ziehen die sehr inter-
cssatdc; Kraidcengeschicdite eines Mädchens, das seit seinem
sechsten Lebensjahre seine Zwangsvorstellungen halluziniert. • —
Das impulsive Irresein, von Ziehen phrenoleptisches genannt,
übergeht er Aveg<m seiner Seltenheit im Kindesalter, um sich
desto cischiipfender mit den psychopathischen Konstitutionen zn
befassen. Hier erörtert Ziehen die allgemein degenerative, die
hysterische, die neurasthenisclie, die choreatische, die epilep-
tis(die, die traiunatische, die toxisidien, die residuäreii, die dc-
pressive und hyperthymische, die paranoide, endlich die obsessiAm
l^sychopathische Konstitution. In diesem breit angelegten Ka¬
pitel Aväre also die psychopathische Minderwertigkeit heisammen.
Von Avirklichen Psychosen im Kindesaltcr werden das iteriodische
und zirkuläre Irresein besprochen, anhangsweise die inl(‘lh‘ktuello
und ethische Verkümmerung. Lileraturnachträge erhöhen den Wert
des Heftes für den, der Avissenschaftlich arbeiten will, tlem Prak¬
tiker Avird die angeschlossene schematische xVnweisung zur Unter¬
suchung geisteskranker Kinder Avillkonimen sein. Für die Gedie,gen-
heit des Ganzen bürgt der Name Ziehen.
*
Nervenkrankheit und Lektüre. Nervenleiden und Er¬
ziehung. Die ersten Zeichen der Nervosität des
Kindesalters.
Drei Vorträge von Prof. Dr. H. Oppeulieim.
2. Auflage.
Berlin 1907, 8. Karger.
Es ist CJ fjculicdi, zu vernehmen, daß die kräftigen Worte
Oppenheims beieits in zweiter xAuflage in die Welt gehen. Nur
eijie Autorität wie die seine kann mit Aussicht auf Erfolg gegeji
die Tageszeitungen und ihren Mißbrauch zu populär-medizini¬
schen Zwecken so energisch Stellung nehmen.
Im zweiten und dritten Vortrage stellt sich Oppenheim
als Jugend fi'eund und Erzieher vor, er ficht mit glänzender Klinge,
z. B. gegem den Part pour Part- Standpunkt, für sexuelle Tem-
perenz, Avemn nicht Abstinenz der Jugend, für religiöse, min¬
destens ethische Erziehung und Avird darum manchem als Re¬
aktionär erscheinen. Soweit aber psychologisch-pädagogische Er-
Avägungeri zu überzeugen vermögen,' muß man ihm vollinhaltlich
zustimmen. Für weite Kreise geschrieben, sollten diese Vorträge
auch im Kreise der Eltern, Erzieher, Lehrer, Aerzte, studiert,
geAvürdigt und in die Praxis umgesetzt Averden.
♦
Studie über Minderwertigkeit von Organen.
Von Dr. Alfred idler.
Berlin und Wien 1907, Urban & Schwarzenberg.
Ausgehend davon, daß alle Erklärungsversuche in der Aetio-
logie der Nierenerkrankungen so A\mnig befriedigen, vertritt der
Autor die Auffassung, den meisten Nierenerkrankungen liege eine
ursprüngliche MinderAvertigkeit des harnal)sondernden Apparates
zugrunde. Eine große Reihe von Erkrankungen anderer Organe
füge sich durch Heredität, chronischcii Verlauf, tyi)ische liOkali-
sation innerhalb des Organes, unzureichende, Aveder durch Gifte,
noch durch Bakterien gestützte Aetiologie zwanglos in den Rahmen
der M i n d c r AV e r t g i ke i t sl e h r e .
Adler unterscheidet eine morphologische und eine funk¬
tionelle Minderwertigkeit, die relati\m, die sich erst durch den
Krankheitsfall deklariert Und nur bei gesteigerten Ansprüchen
kenntlich Avird, habe geringere Bedeutung. Der Autor erörtert die
Diagnose der Minderwerl igkeit, ihre Klinik in mehreren Kapiteln:
Heredilät, anamnestische IlinAveise, morphologische Kennzeichen,
Reflexanomalien als MinderAverligkeitszeichen, mehrfache Organ-
uiinderwertigkeiten, die Rolle des Zentralnervensystems in der
OrganminderAverligkeitslehre, Psychogenese und Grundlagen der
Neurosen und Neuropsychosen.
Adler anerkennt nicht die Pleredität der Erkrankung,
sondern nur die Heredität des minderAvertigen Organs. Normale
Organe kompensieren mehr durch Hyperfunktion, minderwertige
mehr durch Wachstumsüberschuß', daher die Neigung zu Neo¬
plasmen. An Stelle der Theorie Amn den Aersprengten embryo¬
nalen Keimen Iritt die der Minderwertigkeit. Ref. hätte es lieber
gesehen, Avenn der Autor die Vercpiickung mit Freuds erogenen
Zonen hier beiseite gelassen hätte; denn tatsächlich findet sich
keineswegs die üherAviegende Mehrzahl der Karzinome an solclum
Steilem. jMan küßt mit beiden Lii)pen, eventuell mit der Zungen¬
spitze; Avarum nimmt der Krebs die Oberlij)pe aus, Avuehert
hingegen tief rückwärts am Zungenrande, in der Speiseröhre,
außerordenllich häufig im Magen, in eien Flexuren des Darmes
— es ist dem Referenten nicht bekannt geAVorden, daß Freud
auch diese Slellen schon als erogene Zonen für sich in Anspruch
genommen hätte.
Eine besondere BelrachlungsAveise bat Adler gelehrt, daß
ein Mangel des Organes in höhere Ausbildung sich Amrkehren
könne. Dadurch Avird die DiagJiose der OrganmindeiAverligkeit
um so scliAvieriger, als das Bild durch das Hinzu treten Aveiterer
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
705
Organmiiiderwerligkoiton gctrühL und unkeiuiliich geinacdd werden
kann. Die Kiiiderfchler sind eine ])erii)here xVeußerung von Organ-
niinderwerügkeit. Wenn von der eni])ryonalen Hennnimg eitn'
Si)ur l)is an dio' äußeren Körpergrenzen reicld, so gescliehe das
in Form der allgemein bekannten Degeneraüonszeichen, die mancli-
inal Mindenverligkcit der Haut, andere Male eine seginenLule
Insuffizienz anzeigen. Jede (Irganniinderwcrligkeif sei begleitet
von einer Minderwertigkeit des Sexualapparates.
.Allo Erscheinungen der Neurosen und Psyclioneurosen
führen zurück auf Alinderwertigkeit des Zeutralnervensystems,
den Grad und die Art der nicht völlig gelungenen zeniralen Kom¬
pensation und auf eintretende Kompensationsstörungen. Nachdem
die Alinderwertigkeit nach Adler embryonalen Ursprunges ist,
würde man zu den meisten Krankheiten geboren. Damit scheint
sich der Autor wiederum von dem im Buche so viel zitierten
F r e u d zu en tfernen.
AViowohl aus der Praxis schöpfend — Auszüge aus dem
ärztlichen Journale illuslrieix?n die Thesen des Vej'fassers —
handelt es sich wesentlich um ein philosophisches Buch, das
Gedanken und Spekulationen bringt und seinerseits*wieder zu
Gedanken anregt. Philosophen aus Beruf oder Neigung Acerden
es mit Vergnügen lesen. E. Ra im an n.
Aus v/ersehiedenen Zeitsehriftcu.
281. (Aus dem iiathologischen Institute der Universität iu
Berlin.) Ein rascher Nachweis des Tube rkelhazillus
im Urin durch den Tierversuch. Von Dr. Artur Bloch',
Assistenzarzt an der Prof. C a s]) er sehen Klinik. Zum Nachweis
des Tuhcrkelhazillus im Urin impft man suhkutan oder intra-
peritoneal vom Sedimente auf das AleerschAveinchen. Das Tier
bekommt eine allgemeine Tuberkulose, wenn der Urin hazillcn-
haltig war. Um aber Tuberkulose sicher ausscbließen zu können,
mußi man mit der Tötung des am Leben gebliebenen Tieres min¬
destens sechs bis acht AVoeben nach der Impfung warten. Der
Verfasser hat eine Methode gefunden, mit der man ein ent¬
scheidendes Resultat in viel kürzerer Zeit, in neun Ins elf Tagen
erhält. Er spritzte das Material den Aleerschweinchen subkutan
in die rechte Leistengegend ein Und nahm sodann, um sich
,,eine erworhenc Und lokale, jederzeit und willkürlbdi herzustel¬
lende Disposition“ (Orth) zu schaffen, eine traumatische Schädi¬
gung der regionären Leistendrüsen vor. Er ging dabei so vor,
daß er die rechte Leistenfalte des Tieres zwischen Daumen und
Zeigefinger faßte und, einigemal reihend, die Leistengegend durch¬
tastete, immer mit den Ijeiden Fingern von der Tiefe zur Ober¬
fläche gehend. Dabei kamen die Leistendrüsen als ganz kleine
Knötchen zwischen den reihenden Fingern zur AAhihrnehmung
und wuixlen durch festeres Zudrücken gcrfuetscht. Das Ilarn-
sediment, durch zugefügte sterile Kochsalzlösung verdünnt, war
in der Menge von 1 enU in die rechte Leistengegend injiziert
worden. Nach t) bis 10 Tagen waren, wenn das Sediment hazillen-
haltig war, hei den Versuchstieren in der rechten Leistengegend
zirka haselnußgroßc Knoten und in den Ausstrichen und iu den
Schnitten dieser Drüsenkonglomerate leicht Tuherkelhazillen nach¬
weisbar. Ein mit demselben Urinsedimente geimpftes Ti(‘i' wurde
am Lehen gelassen, es ging nach AATjchen ein und die Sektion ('r-
gah allgemeine Tuberkulose. Verf. resümiert seine Versuchsergeh-
nisse mit folgenden AAhjrten : Er konnte mit seiner ATcthode hinnen
neun bis elf Tagen einen positiven Nachweis der Tuherkel¬
hazillen erhiingen in jenen Versuchen, hei Avelchen injiziert waren:
1. Reinkulturen von Tubeikelhazillen ; 2. Urinsediment der vorher
als gesund angenommenen Niere hei klinisch und mikroskopisch
sichergestellter Diagnose einer Nierentuherkulose der anderen
Seite; 8. Urinsedimente von Patienten, hei denen die klinischen
Symptome einer Urogonitaltuherkulose bestanden, Tuherkelhazillen
aber nicht gefunden worden waren; 4. Urinsedimente von Pa¬
tienten, hei denen die Symptome einer ITrogenitaltUherkulose nicht
ausgejjrägt, lim Sediment aber vereinzelte säurefeste Stäbchen
gefunden worden waren, so daß sje daher nicht als Tuherkel¬
hazillen angesehen AA^erden konnten. Der negative NacliAveis
konnte erbracht Averden in jenen Fällen, avo injiz'iert Avorden Avaren :
1. Das Sediment des aus der einen Niere stammenden Urins
hei sichergestellter Diagnose einer Tuberkulose der anderen Niere.
2. Smegmahazillen in Reiidcultur, aufgeschwemud. in Kochsalz¬
lösung und im Urinsedinnud, einei’ gonorrlujischeu Zystitis. Ver¬
fasser Avird seine Versuche fortselzen und fordert zui' Nachprüfung
der für den Prakliker so hcdeutungsvolten Methode auf. — (Per-
liner klinische AA'ochenschrift 1907, Nr. 17.) E. F.
*
282. Aus der mediz. Klinik zu SIraßhurg (Prof. Dr. v. KrehU.
Die Behandlung schwerer Anämien mit Blutlraus-
f u s innen. A^ou Dr. P. AI o r a av i t z, Assistenzarzt . A'erf. hat
sechs Fälle von sclnverer Anämie mit Bluttransfusion behandelt.
Am besten hat sich folgendes Verfahren heAvährt: Als Blutspeuder
dienten gesunde Alenschen oder solche, die Avegen eines unbedeu¬
tenden Leidens die Klinik aufgesucht hallen. Das Blut Avird
aus der gestauten Vena mediana mit der Nadel entnommen und
fließt direkt in ein 500 cm® haltendes sterilisiertes Pulverglas
mit cingeschliffenem Stopfen. AAhlhrend und nach dem Adeilaß
Avird das Blut durch Schütteln mit sterilen Glasscherben defihri-
niert, ca. 20 Alinuten bis eine halbe Stunde sich seihst über¬
lassen, dann in ein zAAmites Pulverghis filtiäort, die Koagula nicht
ausgepreßit. Meist AA^erden ca. 250 cm® Blut cidnommen, so daß
nach Abzug der A^erlusle 200 cm® zur Transfusion bereit stehen.
Dem anämischen Patienten Avird dann durch einen kleinen Sclnntt
die Vena mediana freigelegt und eine kleine Glaskajuilc ein¬
gebunden. Nun Avarlet man, bis das ATnenhlut des Palieuten
die Kanüle erfüllt hat und setzt dann sofort den mit einem Trichter
in Verbindung stehenden Und mit dem angcAvärmlen, defihrinierten
Blute gefüllten Gummischlauch an. Das Einfließen des Blutes
in die AT ne geschehe ziemlich langsam, so daß 200 cm® zirka
20 Alinuten bis eine halbe Stunde erfordern. Nacdi der Trans¬
fusion Naht der AA'unde und trockener KompressivAmrl)and. Die
ganze Transfusion erfordert eine Stunde. Die Alethode ist et.Avas
komplizierter, als die von anderen Aidoren angegebene, dafür
aber sicherer und von allen möglichen Zufälligkeiten Aveniger
abhängig. AAhis die Resultate in diesen sechs Fällen von Anämia
gravis anlangt, müssen ZAvei Avegen zu kurzer Beobachtung aus¬
geschieden AAmrden, ohzAvar in dem einen Falle eine genvisse
sid)jektive Besserung Aind ATrmchrung der Erythrozyten einge¬
treten war. Gänzlich versagt hat die Transfusion in einem Fälle
sclnverer aplastischer Anämie. Die Autopsie ergab eine so ex¬
treme Verarmung deS Alarkes an erythrohlaslischem GcAvehe, daß
von einer Regeneration nicht die Rede sein konnte. Von über¬
raschender AATi'kung Avar das Resultat in den anderen drei Fällen.
In dem einen Falle hatte sich trotz vorausgegangener Arsen¬
behandlung das Befinden verschlechtert. Erst vom Zeitpunkte
der Transfusion trat eine subjektive und ohjektivm Besserung^
ein und das Blutbild kehrte langsam zur Norm zurück. Bei den
beiden anderen Ki'ankcn lag ein so schAverer Zustand vor, daß
man an die Transfusion als ultimum rufugium ging. Um so über¬
raschender Avaroi die Residtate. Die günstige AAUrkung aauu' nie
im unmittelharen Anschlüsse an die Transfusion eingetreten.
Immer hat es drei l)is vier Tage gedauert, bis die AA^endung zum
Besseren sich bemerkbar machte. In zAvei Fällen kam cs unmittel¬
bar nach der Transfusion zU recht bedrohlichen Erscheinungen,
zu Schüttclfröslen, Dyspnoe, Oedenien und Hämoglobinurie, Avie
sie auch von anderen Autoixm heohachtet Avurden, aber noch
nie zu einer Katastrophe geführt halien. Bczüglicdi der Ursache
der AATrkung geht die Ansicht dahin, daß durch das transfundierte
Blut das Knochenmark in einen Reizzustand versetzt und zu
vermehrter Produktion angeregt Avird. Car not hat sich mit der
Lösung dieser Frage beschäftigt. Er machte Kaninchen durch
Aderlässe anämisch und spritzte das Serum dieser Tiere anderen
ein. Der Erfolg Avar eine starke ATrmehrung der Erythrozyteji
des normalen Tieres, oft von fünf auf elf Alillionen Eryllu'o-
tlirozyten, die mehrere AA^ochen anhiclt. Carnot nimmt an, daß
in dem Serum anämischer Tiere Suhstaiizen vorhanden sind,
die er „Hämopoetine“ nennt; diese Körper sollen das Knochen¬
mark zu Amrmehrler Prod'uklion anreizen. ATrf. kommt durch
seine klinisclien Beohachtungen zu dem Schlüsse, daß es Fälle
von Anämie gibt, in denen ein noch reaktionsfähiges und funk¬
tionell klüftiges Knochenmark Aveder auf den Reiz des eigenen
anämischen Blutes, ■ noch auf Arsenzufuhr reagiert, durch eine
Transfusion und Zufuhr fremden Blutes aher zu einer kräftigen
Bluthildung Avieder angeregt Averden kann. Aus diesen Gründen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 23
möchte Verf. der Bluttransfusion in der Behandlung schwerer
Anämien doch wieder eine weiiei’e Verbreitung wünschen. —
(Münchener mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 16.) Cr.
*
283. (Aus der königl. chir. Univmrsitätskliuik zu Greifs¬
wald: Vorstand Prof. Friedrich.) Beitrag zur Resektion
der B r u s t w a 11 d, mit Plastik auf die f r e i g e 1 e g t e Lunge.
Von Priv.-Doz. Rr. T. Sa'uerhruch, 1. Assistenten. Sauer-
hrucli, der bereits mehrere Brustwandreseklionen mit Eröffnung
der Brusthöhle unter Unterdrück in seiner pneumatischen
Operationskammer mit Erfolg ausgePülirt hatte, berichtet neuer¬
dings über zwei diesbezügliche Fälle, in denen durch Verhütung
eines Pneumothorax die Infektionsgefahr im Innern der- Pleura¬
höhle wesentlich herabgesetzt und damit die Möglichkeit, die
freigelegte Lunge durch eine Plastik unter reaktionslosem Ver¬
laufe zu decken, gegeben war. Vorziehen der Lunge und Pueumo-
pexie oder Tamponade, womit man bisher die akute Pneumo¬
thoraxgefahr auszuschalten suchte, scheinen dem Autor nicht ge¬
nügend, um die Folgen der Störung der physiologischen Ver¬
hältnisse, deren gefährlichste die Infektion ist, hinreichend zu ver¬
hindern. Das Fortbestehen der physiologischen Verhältnisse, wie
dies das Operieren unter Unterdrück in der Kammer ermöglicht,
erscheint auch in der Pleurahöhle der beste Schutz gegen die
Infektion zu sein. Für den plastischen Verschlußi großer Brust-
wanddefektc ist ferner von großem Vorteile, daß die aufgeblähte,
in ihrer physiologischen Lage bleibende Lunge, eine gute Stütze
und Unterlage für Weichteillappen bildet. In beiden mitgeteilteii
Fällen, die nach den Insherigen Anschauungen als inoperabel
gallon, handelte es sich einmal Um einen primären, mit den Rippen
venvachsenen Mamma tumor, das andere Mal um ein lokales Rezi¬
div nach Mammaamputation. Der erste Fall verlief zwar in bezug
auf die Wundverhältnisse reaktionslos, die Patientin gitig aber
nach SVs IMonaten an den Folgen der Metastasen zugrunde. Bei
dem zweiten Falle bestand ein lokales Narbenrezidiv nach Mamma¬
amputation, ohne Beteiligung der Drüsen und ohne anderweitige
Äletastasen. Unter Benützung der Kannner entfernte Sauer¬
bruch die vordere rechte Brustwand in einem Umfange von
30 cm Länge und 20 cm Breite (drei Rippen je 18 cm lang, mit
den entsprechenden Teilen des Sternums in einer Länge von 10 cm
und 2 cm Breite); Entfernung der Pleura in der Ausdehuung
des Brustwanddefektes, so daß die Lungenoberfläche frei lag.
Der große Defekt wurde durch Verlagerung der linken gesumlen
Mamma, die nach Umschneidung der Haut stumpf von der Faszie
des Musculus pectoralis abgelöist worden war, gedeckt; dieser
Hautdefekt konnte durch Zusammen ziehen der Hautränder ver¬
sorgt werden. Bezüglich der Technik der Methode ist ein luft¬
dichter Abschluß durch Fixation des Lappens von prinzipieller
Bedeutung. Unter einem Unterdrücke von anfangs ca. 12 mm
Quecksilber, der während der Fixation auf 8 bis 9 mm Queck¬
silber herabgesetzt wird, wird eine doppelte Nahtreihe angelegt:
1. eine enganzulegende, ver.senkte Knopfnaht, welche die Uuter-
f lache des Lappeiirandes ohne die Kulis und den Rand des Thorax-
defektes, Pleura, Periost, bzAv. Interkostalmuskulatur, aber nicht
die Lunge faßt; 2. darüber die eigentliche Hautnaht, ebenfalls
sehr sorgfältig und dicht anzulegen. Die Heilung verlief ohne
Störung, die Patientin nahm an Gewicht zu und erholte sich
sichtlich und ist ca. sechs Monate nach' der Operation noch
rezidivfrei. Durch Herabsetzung der Gefahren scheinen die Indi-
kationsgreuzen für derartige Operationen beträchtlich erweitert,
so daß man bei Mammakarzinomen gelegentlich noch eine Radikal¬
operation versuchen kann, wenn der Tumor mit der Brustwand
vei'wachseii ist, Fälle, die bisher als inoperabel galten. — (Deutsche
Zeitschrift für Chirurgie 1907, Bd. 86, H. 2 bis 4.) F. H.
*
284. Thymus und Narkose Io d. Von A. Lapointe,
ln der Literatur findet sicli bereits eine größere Anzahl vou
^lilteilungen über Todesfälle in und umnillelbar nach der Nar¬
kose bei Thymushyperlropbie und Status lymphaticus, zu welchen
der Verfasser zwei Fälle eigener Beobachtung hinzufügt, avo-
durch die Zahl der bisher mitgeteilten Beobacblungen auf 33
sich erhöht. Der vorlHuaschende Befund isl die llyiiertrophie
d(>r Thymus, deren Rückbildung unter physiologischen Verhält¬
nissen bereits im ZAveiten Lebensjahr beginnt und zwischen 15
bis 25 Jahren abschließt. Sjmren der Thymus lassen sich allerdings
noch bis in das höchste Aller naclnveisen. Während das Thymus-
gCAvicht nach Abschluß der retrograden Metamorphose 3 g be-
Irägt, wurde bei den Fällen von Thymushypertrophie ein GeAvicht
von 22 bis 55 g beobachtet. Trotz der Volumszunahme der Thymus
AvUrdo in den Fällen von Narkoselod niemals eine Kompression
des Bronchialbaumes oder des Perikards nachgoAviesen. Die
histologische Untersuchung der hypertroi)hischen Thymus ergab
reichliches adenoides Gewebe Und zahlreiche Leukozylen. Die
Thymushypertrophie stellt eine Teiler.scheinmig des Status lym-
phalicus dar, AA'elcher durch Hypertrophie der Milz, der Lymph-
drüsen, sowie überhaupt des adenoiden Gewebes gekennzeichnet
ist. Bei den zAvei vom Verf. mitgeteilten Fällen Avurde auch eine
Hypertrophie der Nebennieren als ein bisher bei Status lym-
phalicus noch nicht beobachteter Befund verzeichnet. Manch¬
mal nimml auch die Schilddrüse an der Hypertrophie teil. Bemer-
kensAvert ist die Aplasie des Herzens und der Gefäße bei gleichzeitig
■gut entAvickeltem Fettpolster. Todesfälle in der Narkose bei Sla-
tus lymphaticus Avurden soAvohl bei Chloroform- als bei Aether-
aiiAAmndun^ beobachtet, Geschlecht und Alter sind nicht von Be¬
deutung. Der Tod erfolgt entAveder Avährend oder bald nach
Abschluß der Narkose unter dem Bild der Herzsynkope ; durch künst¬
liche Atmung kann die Respiration, aber nur ganz vorübergehend,
in Gang gebracht werden. Zur Erklärung des Narkosetodes bei
Persistenz der Thymus sind zahlreiche Hypothesen aufgestellt
woj-den, von denen keine tatsächliche Aufklärung bringt, so daß
nur die Tatsache bestehen bleibt, daß der Status lymphaticus zu
plötzlichem Tod in oder unmittelbar nach der Narkose prädispo¬
niert. Man soll daher vor der Einleitung der iNTu'kose nach
Zeichen des Status lymphaticus fabnden und es muß schon
Hypertrophie der Follikel an der Zungenba.siS und an der hinteren
Rachenwand als suspekt betrachtet Averden. Es ist dadurch aller¬
dings noch keine Koniraindikation der Narkose gegeben, wohl
aber die Indikation, die gesteigerte Erregbarkeit des Nerven¬
systems durch entsprechende Maßnahmen herabzusetzen. Es ist
zu erwarten, daß durch Erzeugung des Skopolamin -Morphin-
Dämmerschlafes vor der Operation, Avelcher gestattel, mit gerin¬
geren Mengen der Anästhetika,, eventuell mit Sto\min auszukom¬
men, die Zahl der plötzlichen Todesfälle in der Narkose ein¬
geschränkt Averden dürfte. — (Progres med. 1907, Nr. 15.) a. e.
*
285. (Aus dem physiologischen Laboratorium zu Edinburgh.)
U e b e r die Beziehungen der Diät zur Aktivität de r
Schilddrüse. Von A. DingAvall-Fordyce. 89 Ratten AAUirden
in der AVeise eingeteilt, daß je eine Anzahl Ratten folgende Diät¬
formen erhielt: 1. Brot Und Milch, 2. frische Alilch, 3. pasteurisierte
Milch, 4. 30 Minuten lang gekoclite Milch. Es Avurden jedesmal
eine Gruppe Ratten desselben Wurfes auf diese vier Diätformen
verteilt. Dazu kamen noch fünf Avilde Ratten. Die Menge der auf-
genommcneir Nahrung Avar bei den Milchratten eine ziemlich
gleichmäßige, obgleich die Aufnahme ad libitum erfolgte. Die
Ratten befanden sich bis zu ihrer Tötung vollkommen Avohl.
Während die mit den drei Formen reiner IMilchnahrung gefütterten
Ratten untereinander keine Unterschiede in der Gewichtszunahme
zeigten, Avar letztere gegenüber der GeAvichtszunahme bei den
Milchbrotratten geringer. Bei der Obduktion zeigte sich zunächst
eine viel stärkere Fettablagerung bei den Milchbrotratten, be¬
sonders im Bauchraume. Folgende Organe wurden histologisch
untersucht : Knochen, Milz, Leber, Pankreas, Nieren, Nebennieren,
Tbymus und Thyreoidea. Von all diesen Organen zeigten nur
die Schilddrüsen Verscbiedejiheileu. Die Schilddrüsen konnten
nach den Vez'schiedeuheiten, die sie untereinander darhoten, in
folgende Gruppen eingeteilt Averden: a) Schilddrüsen von Ratten,
die mit <len drei Fonnen reiner Milchdiät gefüttert Avurden. Die¬
selbe]! zeigten reichlichen Kolloid gehalt, Aveite Drüsenlumina und
kleine Grenzzellen mit tief tingiertem Kern. Es zeigte sich kein
wesentlicher Unterschied, ob die Milch roh, gekocht oder pasteu¬
risiert Avar, b) Schilddrüsen der Ratten, die mit Milch und Brot
gefüttert Avorden Avaren. Hiej’ waren die Lumina und der KoUoid-
gehall viel geringer, c) Schilddrüsen der wilden Batten. Die
Slruktur dcvrselhmi hielt die Mitte ZAAÜschen a) und b). — (Brilish
niedical Jouiaial 1907, 16. März.) J. Sch.
*
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
707
286. T Li bo I'k u lc'.sc' h c k ä ni [) f u 11 g. Vuii E. v. J)<‘ li i i ii g.
IJiu nicnschlicliG Säuglinge gegen die Tulierkidosegel’alii; zu
scluitzen, welclie ihnen in erster Linie durch Perlsuchtniilch droht,
wurde das sog. J’erhydrasevert'aliren (Ej'wärniung der Aliich aut
52“, Zusalz von Wassers tofthyperoxyd) einpl'olilen. Für Transport¬
zwecke aPs milclireiclien Ländern mag dieses Verfahren annehmbar
sein, eine ausschlaggehende Rolle wird es aber kaum spielen.
Es ist auch zu teuer. Durch das Kochen wird die Milch denaturiert,
sowie auch gekochtes Wasser das naturreine niemals ersetzen
kann. Ueherdies bleibt auch in shirk gekochter Milch das Tuber¬
kulose gift wirksam. Das beste Vcrfalunn ist also, alle tuber¬
kulösen und tuberkuloseverdächligen Kühe vom Milchgewinnuugs-
belrieb auszuschalten. Dies kann in zweifacher Weise geschehen.
Einmal werden alle zwei bis vier Wochen allen Kälber mit Bovo-
vakzin präventiv geimpft. Bei den neugeborenen Kälbern kann
man mit einiger Wahrscheinlichkeit die tuberkulöse Infektion aus-
schließen. Zweitens sollen die tuberkulös infizierten und schon
tuberkulösen Rinder mit Tulaselaktin behandelt werden. Bei der
„Bovovakzinalion“ werden getrocknete Tuberkellmzillen zweimalig
innerhalb von drei Monaten in die Biutbalm eingespritzt. Wie lange
und in welchem Grade dieser Tuberkulosescbutz andauert, das
werden die Erfahrungen lehren, welche man ' in aller Flerren
Ländern bei hovovakzinierten Impflingen im Laufe der nächsten
Jahre machen wird, ln Argentinien wird jetzt nach dieser Richtung
von Prof. Römer ein Experiment im großen gemacht. Behring
teilt das bezügliche Programm mit seinen zahlreichen Versuchs¬
reihen ausführlich mit. Im übrigen ist die Bovovmkzination jetzt
schon erprobt und bedürfte keiner wissenschaftlichen Nachprüfung
mehr. Auch die kurative Rindertuberkulosehekämpfung soll in Ar¬
gentinien von Römer überprüft werden. Das hiezu benützte
Tulaselaktin hat sich in den Älarburger Versuchen gut he vährt.
Durch Behandlung von Tuberkulosevirus mit Chloral entsteht die
Tuberkulase und dieses Präpaiat ist die Muttersubstanz, aus
welcher Behring das Tulaselaktin gewinnt. Es heißt so, weil es
eine milcharlige Flüssigkeit mit reichlichem Fettgehalt ist. ,,Mit
dem Tulaselaktin sind in Tuberkuloseheilstätten mehrere hundert
tuberkulöse Menschen behandelt worden, es hat sich gezeigt,
daß im großen und ganzen die tuberkulösen Menschen sich gegen¬
über dem Tulaselaktin ähnlich verhalten wie die größeren Tier¬
arten.“ Bei Tieren, das führt Behring aus, verschwinden unter
dem Einfluß der Tulaselaktinbehandlung deren tuberkulöse Herd¬
erkrankungen, je nach dem Alter, der Größe und der Zahl der
Tuberkeln nach kürzerer oder längerer Zeit, wobei sich außer¬
dem in deren Organsäften und ira Blute anfduberkulöse Heilkörper
nachweisen lassen. Diese antituberkulösen Heilkörper sind von
zweierlei Art : die einen lösen die Tuberkelbazillen auf (sie ziehen
die Fettsubstanz aus der Loibessubstanz der Bazillen), die anderen
machen das in den Tuberkelbazillen aufgespeicherle Gift unschäd¬
lich. Das Präparat heißt: ,,Antitulase“. Diese Antitulase geht in
die Milch und mit der Milch hochimmunisierter Kühe auf die
neugeborenen Kälber über. Wenn auch nicht immun, so sind diese
neugeborenen Kälber gegen die tuberkulöse Infektion schon ge¬
schützter. In ähnlicher Weise könnte man also, da die Tulaselaktin¬
behandlung menschlicher Patienten schon eingeführt ist, die Kinder
schon im IMutterleibe und später durch die heilsame Muttermilch
gegen Tuberkulose immun machen. Doch all dies ist noch ein
Zukunflsprogramm. — (Die Therapie der Gegenwart, April 1907.)
E. F.
♦
287. (Aus dem städtischen Kraiikenhause zu Rixdorf-Berlin.)
Erfahrungen über Rektoskopie. Von Prof. G. Suit a n.
Verf. berichtet über eine Reihe mit dem Rektoskop ausgefübrter
Untersuchungen, bei welchen sowohl per rectum wie von einem
Anus praeternaturalis aus Neoplasmen und ulzeröse Prozesse in
einwandfreier Weise diagnostiziert wurden. Trotz der verhältnis¬
mäßig einfachen und da man jueist unter Leitung des Auges
arbeiten kann, mit der größten \Wrsicht ausfübrbaren iechnik,
ist das Verfahren kein absolut ungefährlicher Eingriff. Der Aiitor
berichtet hiefür einen diesbezüglichen Fall seiner Praxis. Eine
53jährige Frau, welche seit IVocben unter Gewichtsabnahme und
Abgang von Schleim an krampfartigen Leihschmerzen litt und Irei
welcher von dei' Mitte des Querkolons gegen die IHexura sig-
moidea zu, wulstige, empfindliche Resistenzen palpiert werden
konnten, wurde in der Annahme eines Tumors in der üblichen
Weise rektoskupierl. Nach glatter Einführung des Tubus bis in
eine Tiefe von 20 cm wurde behufs weiterer Entfaltung des Darmes
etwas Luft eingeblasen; plötzlich klagte Fat. über einen heftigen
Schmerz und gleichzeitig sah man im rektoskopischen Bilde deut¬
lich Darmserosa; ,,!es war also eine Perforation erfolgt“. Trotz
sofortiger Laiiarotomie, welche die Perforation bestätigte und im
kleinen Becken ein etwa kirschgroßes Kotpartikel ergab, ging Pat.,
hei' der anfangs iieritoneale Erscheinungen bestanden, nach sieben
Wochen an septischen Erscheinungen zugrunde. Die Sektion er¬
gab in der Tiefe des Abdomens einen abgekapseiten, hühnerei-
großeii Abszeß; kein Darmtunior, atro|)hisches Herz. ,,Es handelte
sich hier um einen Fall von chronischem Dickdarmkatarrb, init
reichliclier Schleimabsonderung, bei dem dureb die spastischen
Kontraktionen der Darmwand ein Tumor vorgetäuscht worden
war. Die Einblasung von Luft durch das 20 cm weit eingefübrte
Rektoskop hatte genügt, die erkrankte Darmwand zur Perforation
zu bringen. Infolge dieser Beobachtung rät Verf., das Rektoskop,
wiewohl es wie keine andere Methode in ähnlicher Weise ein-
wiuidfrei Aufschluß über krankhafte Veränderungen der Flexur
und des Rektums ergild, nur mit dem Bewußtsein, daß es ein
gefährliches Werkzeug ist, zu gebrauchen. Vor allem aber sind
anämische, elende und schlaffe Kranke, bei denen
ausgedehnte entzündliche Veränderungen der Darm¬
wand vermntet werden, von der Rektoskopie aus-
zu sch ließen. — (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1907, Bd. 86,
H. 5 bis 6.) F-
288. lieber schmerzhafte peritoneale Adhä¬
sionen. Von H. Violet in Lyon. Die peritonealen Adhäsionen,
welche als Residuen einer früher durchgemachten Peritonitis Zu¬
rückbleiben, können später eine klirnsch selbständige Erkrankung
darstellen, die sich in Form einer akuten oder cbronischen Darm¬
okklusion, Dyspepsie oder Schmerzen kundgibt. Es besteht oft
ein derartiger Gegensatz zwischen den subjektiven Beschwerden
und dem objektiven Befunde der Untersuchung des Abdomens,
daß man die Kranken als Neurotiker zu betrachten geneigt wird.
Wäbrend sich ■ in einer Reihe von Fällen die vorangegangene
Affektion des Peritoneums mit Sicherheit nachweisen läßt, gibt
es Fälle, wo die vorangegangene Peritonealerkrankung latent oder
unter, ganz geringfügigen Beschwerden verlaufen ist, so daß' die
Anamnese keinen Aufschluß gewährt. In diesen Fällen gibt manch¬
mal erst die wegen der heftigen Beschwerden und wegen Ab¬
magerung vorgenommene exploratorische Laparotomie Aufschluß.
In dem vom Verfasser mitgeteilten Falle, eine 23jährige Patientin
betreffend, welche an permanenten, durch die Nahrungsaufnahme
noch gesteigerten Schmerzen im Abdomen, Nausea und Erbrechen
litt, deren Ernälirungszusland infolge der minimalen Nahrungs¬
aufnahme hochgradig be'einträchtigt war, fanden sich peritoneale
Adhäsionen in der Nabelgegend, nach deren Durchtiennung und
gleichzeitiger Fixation des retrovertierten Uterus vollständige
Heilung erfolgte. Nachträglich wurde in Erfahrung gebracht, daß
die Patientin vor dem Auftreten der Beschwerden ein Trauma
der Bauchwand erlitten hatte, welches im weiteren Verlaufe zu
Adhäsionen des Netzes in der Nabelgegend fülirte. Die Schmerz¬
haftigkeit der peritonealen Adhäsionen ist einerseits auf eine
gesteigerte Irritabilität des Gesamtnervensyistems, anderseits auf
mechanische Vorgänge : Dehnung, Zerrung oder Torsion der
Stränge zurückzuführ'en. Massige, feste Adhäsionen sind oft voll¬
ständig schmerzlos, während dünne, bewegliche Stränge durch
die Bewegungen des Darmes gezerrt werden und wenn sie an
beiden Enden fixiert sind, auch eine Torsion erleiden können.
Auch kongestive Zustände ini Anschluss'e an die Nahrungsauf¬
nahme oder wäbrend der Menstruation können die Schmelzen
steigern. Die Behandlung der parietalen Netzadhäsionen besteht
in Freimachung mit oder ohne Resektion tier epiploilischen
Schwielen. Ist die nach der Freimachung oder Resektion ent¬
stehende Fläche nicht zu sehr vom Peritoneum entblößt, so
genügt vullständige Blutstillung, da man auf die voiieinandei
unabhängige Mohilisierung der freigemachten Flächen und somit
auf das Ausbleiben von Rezidiven rechnen darf. Ist die frei¬
gemachte Fläche sehr blutig, so empfiehlt es sich, den korre¬
spondierenden Teil des Peritoneum parietale nach Moliilisieiung
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 23
des suljseröson Plaiiuins zu resezieren. — (Gaz. des hop. 1!)07,
.\r. 45.) a. o.
*
289. Geber Heil ung eines 1 an g d a u e r n d e n Falles
von Lupus vulgaris durch .1 o d of o r ini n j ek t i o ne n. Von
Tlionias W. Dewar (Dunhlane). Es handelle sich um, eine
29jälirige Palienfin, <lie seit 14 Jahren an Lupus lift. Sie war
lange Zeil mit allen inöglichen Älitleln hehandelt worden, zidelzl
durch eiji Jahr ndltels Finsenlicht. Als Verf. sie ein Jahr )ia.ch
Deendigung der Lichltherapie, die ein Jahr lang gedauert hatte',
in Behandlung nahm, zeigle die Patientin einen ziemlich schlechten
Allgemeinzusland, sie hustete ein Avenig, ohne daß sich auf ikm
Lungen etwas nachweisen ließ. Ausgedehnter Lupus beider Ge-
sichlsbälflen, auf die Nachbargebiete des Gesichtes übergreifend.
Die Behandlung begann mit roborierender Diät. Hierauf wurden
die Krusten mechanisch entfernt. Die lokale Behandlung bestand im
Wesen darin, daß mit Wasserstoffhyperoxydlösung (lOk'o) getränkte
Baumwollfäden auf die Ges(diwüre gelegt und daselbst fixiert
wurden. Außerdem wurde jeden zweiten Tag eine Injektion von
Jodoform (in Aellier und Paraffinum liquidum gelöst) itdravenös
g(‘macht. Eine diagnostische Injektion von Kochs Alttuberkulin
ergab eine starke Reaktion. Die Heilung erfolgte nach einer
Behandlungsdauer von 40 Tagen. — (British medical Journal
1907, 30. März.) J. Sch.
*
290. Experimentelle Untersuchungen über den
Dialjetes. Von G. Zuelzer in Berlin. Subkutane oder intra¬
venöse Injeklion von Nebennierensaft ruft bei den verschiedensten
Tieren Glykosui’ie hervor, die 48 bis 74 Stunden anhalten kann
(F. Blum). Es besteht gleichzeitig eine Hyperglykämie (Zuelzer,
Metzger); es handelt sich hier also um einen Nierendiahetes.
der dem richtigen Diabetes ähnelt, nur kurze Zeit besteht und
k(dne Tendenz zum Fortschreiten hat. Verf. untersuchte nun,
welchen Einflußi ein solcher Nehennierendiabetes auf die Ijober
habe. Er machte Durchblutungsversuche mit normalem defihri-
nierten Hundeblut, dem bestimmte Mengen Traubenzucker zu-
geselzt waren. In vier Durchblutungsversuchen von Lebern -nor¬
maler, durch Verbluten getöteter Hunde wurde eine Zucker¬
zunahme von 8-5, 10, 15 und 15% gefunden, während die Btut-
zuckerzunahme hei Hunden, die auf der Höhe der Nehennieren-
sa.ft(Adrenalin)wii'kung, d. i. der Hyperglykämie standen, in. zwei
Fällen 50, resp. 113% betrug. Die Durchblutung wurde mit
fremdem, normalen Hundeblut vorgenominen. Nun wurden Amr-
gleichs weise Lebern von Hunden durchblutet, die ebenfalls, aber
auf andere Weise (Pankreasexstirpation nach Minkowski) diabe¬
tisch gemacht Avorden Avaren. Zuelzer fand hier eine Blutzucker¬
vermehrung von je 27, 31 und 66%. Daraus ließ sich der Schluß
zicdien, daß durch die Panki-easexslirpation und durch die sub¬
kutane Einverleihung von Nehennierensaft ,, gewisse gleichsinnige
Aemleningen im Verhalten der Leher“ hervorgerufen AAmrden.
Weitere Versuche lehrten, daß, AAmnn man gleichzeitig künst¬
lichen Nehenniejxnisaft (Adrenalin) und künstlichen Pankreassaft
injizierte, die Glykosurie fehlte. Diese Versuche Avurden un¬
gezählte Male und in den verschiedensten Variationen (vor¬
hergehende Pankreassaflinjektion mit nachfolgender Adrenalin¬
injektion; suhkutane Pankreassaftinjektion und gleichzeitige rektale
.\dr(malininjeklion) wiederholt; stets blieb die Glykosurie aus.
Endlich zeigte es sich, daß die gleichzeitige Herausnahme des
Paidireas und die Unlei'hindung der hpiden Nebennierenvenen
(eine eingreifende Oi)eralioti, AA'elche die operierten Hunde nicht
lange' üherlehen) die Folge hat, daß keine oder Avenigstens keine
beträchtliche Glykosurie auftritt. Damit istZuelzers Annahme,
daß das Sekret tier Nehenniere normalerweise durch das Sekret
des Pankreas neutralisiert Avird, daß also der von Minkowski
(‘iildt'cktc Pankreasdiabetes einen Nebennierendiabetes darstelle,
gt'rechlfertigt. W’eitere Versuche sollen die volle Berechligmig
dieser Hypothese eiAveisen. — (Berliner klinische Wochenschrift
1907, Nr. 16.) E. F.
*
291. .\sei)lische Darmnahl. Von Prof. M. Jw. BostoAV-
zeAv in Jurjew (Dorpat). Verf. empfiehlt ans dem Bestreben,
die Infektion des Peritoneums bei Eröffnung des Magen'larm-
luinens vor der Vereinigung der Lumina zu verhüten, eine Naht-
niethode, bei welcher zuerst die Nabt und dann erst das Lumen
eröffnet Avird. Bei Darmresektion mit zirkulärer Naht Avird au
der Grenze des zu resezierenden Darmteiles ein Enterotrib uiul
dicht daneben eine Darmklemme angelegt, sodann Avird der Darm
zAvischen Enterotrib und Klemme mit dem Thermokauter Pa-
quelins durchtrennt und mit diesem üher die Vorderfläche
des am Darm liegenden Enterotrih gestrichen und dessen Branchen
erhitzt, so daß der in dem Enterotrih eingeklemmte Darmleil
verkocht; nach Entfernung des Enterotribs bleibt ein gekräu¬
selter, durchsichtiger Saum erhallen .und erscheinen die einge¬
klemmten Darmteile untereinander derart verklebt, daß ein ge¬
nügend fester Verschluß des Lumens besteht. In gleicher Weise
wird, nachdem das Mesenterium mit Ligalureii in gewöhnlicher
Weise versorgt ist und das zu resezierende Darmslück abgetrennt
ist, mit dem ZAAreilen Darndumen verfahren. Dann Averden die
verklebten Lumina genähert und mit durch Serosa und Musku¬
laris gelegten Seideidviiopfnähten (zirka neun für jede Zirkum-
ferenzhälfte) miteinander Arereinigt. Die durcli die Verklebungen
bisher geschlossenen Darmlumina Averden sodann durch Ziehen
und Zerren der Seidenfäden durchgängig gemacht, Avobei man
mit dem Finger durch Einstülpen der DarniAvand nachhelfen kann.
Zum Schlüsse folgt eine fortlaufende Serosaübernähung. Nach
diesem Prinzipe hat der Autor eine Reihe für alle üblichen
Magendarmkanalanastomosen aiiAvendbare vereinfachte Modifika¬
tionen ausgearheitet und hiezu einen eigenen Enterotrib
und besondere Klemmen für die Mesenteriumligatur ersonnen, bei
deren AiiAvendung die Gefahr der vorzeitigen Lösung der Ver¬
klebungen erheblich Arerringert wird. Bezüglich der Teclmik, die
genau beschrieben und durch gute Abbildungen vortrefflich er¬
läutert ist, muß auf das Original veiaviesen Averden. Verfasser
glaubt durch seine Nahtmelhode, AArenn deren im allgemeinen
sehr einfache Technik vollkommen beherrscht Avird, die Möglich¬
keit einer vorzeitigen Eröffnung, d. h. die Aufhebung der
Asepsis Avährend der Opera tion, entschieden ausschließen
zu können, ferner Avird die Operationsdauer bedeutend,
besonders durch die vereinfachte Mesenterialligatur abgekürzt
und eine einAvandf reie Sterilität der Operationsverhält¬
nisse bei allen Modifikationen geschaffen. — (iVrehiv für klini¬
sche Chirurgie 1907, Bd. 82, H. 2.) F. H.
292. Ueber den relativ geringen Wert der Magen¬
saftanalyse als diagnostisches Hilfsmittel. Von
L. Pr on in Algier. Nach der herrschenden Ansicht ist die Unter¬
suchung des Magensaftes die Avichligste Grundlage der Diagnose
der Magenkrankheiten, doch sprechen verschiedene Gründe gegen
diese Ansicht. Es fehlt vor allem die für die Wertung patho¬
logischer Befunde erforderliche Basis, da die Angaben über die
normale Zusammensetzung AAreit differieren und für die Gesamt-
azidität Werte zwischen 1 bis bVoo als normal angegeben Averden;
auch über die Wichtigkeit der Verhältnisse zAvischen freier und ge¬
bundener Salzsäure besieht eine Differenz der Anschauungen. Bei
gesunden Individuen sclnvankt die Zusammensetzung des Magen¬
saftes und auch der Salzsäuregehalt je nach der Nahrung, und
es ist der IMagensaft eines Menschen, der reichlich Fleisch genießt,
viel reicher an Salzsäure und Pepsin, als hei vorAviegender Pflan¬
zenkost. Vom theoretischen Mittelwert ausgehend, Avürde man im
ersten Falle von Hyperchlorhydrie, im letzteren Falle von Hypo-
chlorhydrie sprechen, Avährend tatsäcldich normales Verhalten
besteht und ein Versuch der Korrektur der vermeintlichen Stö¬
rung schädlich Aväre. Bei gesunden Individuen Avird die Zu¬
sammensei zung des Magensaftes nicht nur durch die Art dej'
Ernährung, sondern auch durch körperliche Anstrengung, psy¬
chische Emotionen und sonstige Faktoren beeinflußt. Noch deut¬
licher treten solche Sclnvankungen in der Beschaffenheit des
Magensafels bei neurasthenisch - dyspeptischen Personen zuhige,
Avo z. B. eine psychische Emotion eine AAresentliche Steigerung der
Hyperazidität im Gefolge haben kann. Die sogenannte Probemahl¬
zeit entspricht in keiner Weise den natürlichen Verhältnissen,
da 200 g Tee und 50 g altgebackenes Weißbrot nicht eine Magen¬
sekretion von jeiK'r Qualität, aaüc z. B. nach Aufnahme von
Bouillon und Fleisch hervorrufen. Der nach dieser Prohemahl-
zeit produzierte Magensaft kann z. B. hei einem Vegetarianer
der sonstigen Beschaffenheit des Magensaftes entsprechen, gibt
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
709
aber l)ei eiiicni Fleiscliesser kein Bild der gewöhn li(dieii Bo-
sclial'l'enheit des Magensaftes. Die Vei'gleieluing der Besullale
wird auch dadurch erschwert, daßi keine einheitliclie Broheniahl-
zeit, adoptiert ist, sondern verschiedene Beohachter auch ver¬
schiedene Proheinahlzeiten anwenden. Es gil)t auch Kranke, hei
denen Ilyperazidität und llypazidität in kurzen Intervallen ah-
wechseln, so daß die einmalige Untersuchung des Magensaftes
zu Fehldiagnosen führt. Auch hezüglicti der besten Metluxh'
der Magcnsaftuntersuclmng besteht keine Ifehercinstimmung und
es bieten die gebräuchlichen Methoden verschiedene Fehler([uellen.
Für die Diagnose ist die klinische Untersuchung des Falles ma߬
gebend, die Analyse des Magensafles kann nur zur Kontrolle
verwendet werden und steht jedenfalls in zweiter Beihe. (Journ.
de Brat. 1907, Nr. 16.) a. e.
293. Aus der medizinischen Klinik der Univcrsilät in Uraz
(Dircklor : Prof. Dr. Lorenz). U e h e r Ikterus hei C hole-
zystitis. Von Dr. Hans Eppinger, klin. Assistent. Auf Grund
der Beohachlung einer an Cholezystitis erkrankten und des Sek-
tionsergehnisses der plötzlich verstorbenen Frau, ferner auf Grund
zweier Tierversuche gelangt der Verf. zur Ansicht, daß es hei
akuten Cholezystitisanfällen, die sich speziell nur auf die Gallen-
hlasenerkrankuiig allein zurückführen lassen, zu einem ganz
leichten, ziemlich rasch einsetzenden Ikterus kommen kann,
namentlich wenn es sich um die erste Attacke überhaupt gehandelt
hat. Im vorliegenden Falle konnte weder anatomisch, noch histo¬
logisch ein Anhaltspunkt für das mechanische Entstehen der
leichten Gelbsucht gefunden werden; wohl jedoch zeigte die
Gallenhlasenschleimhaut solche Veränderungen, die die Möglich¬
keit nicht ausschließion, daß Gallenfarhstoff direkt aus
der Gallenblase in das Blut gelangen kann. (Die Wan¬
dung der Gallenblase war etwas verdickt, besonders die Schleim¬
haut; an mehreren Stellen Schleimhautdefekte ; an einer Stelle
reichte das Geschwür etwas tiefer in die Muskulatur. In der Gallen¬
blase noch galliger, mit Eiter und Blut untermengter Inhalt; die
übrigen Gallenwege vollkommen frei, das Leherparenchym zeigte
normale Struktur.) Nachdem auch in dem Sinne angestellte Ex¬
perimente zeigten, daß speziell nur die geschädigte Gallenhlasen¬
schleimhaut für den Farbstoff durchgängig ist, wird man hei Be¬
urteilung leichter Ikterusfälle, insbesondere heim akuten Gallen¬
sleinanfall, mit der Möglichkeit des Entstehens der Gelbsucht durch
das llineingelangen von Gallenfarhstoff aus der Gallenblase in
das Gefäßsystem rechnen können. — (Deutsche medizinische
Wochenschrift 1907, Nr. 16.) E. F.
Therapeufcisehe l'lofcizen.
Odontalgie. Von Doz. H. N a e g e 1 i - Akerhlom. .leder
praktische Arzt kommt mitunter in den Fall, Patienten zu be¬
handeln, welche an Zahnschmerzen infolge kariöser Zähne oder
Zahnwurzeln leiden, jedoch gegen Extraktion usw. protestieren.
Als ausgezeichnetes Mittel hat Verf. folgende Mischung erprobt :
Bp. Cocaini muriat.. Acid, carbolic, liquefacti ana UO, Glycerini
8'00. MDS. IMittels Wattepropfes in die Zahnhöhle einzuführen
oder hei Schmerzen in Zahnwurzeln so anzuwenden, daß
der W a 1 1 e t a m p o n auf den Stumpf aufgelegt und mit
Guttaperchapapier bedeckt ca. V2 Stunde fest aufgepreßt wird.
(Ther. Monatsh., März 1907.) E. F.
Vermisehte ]^aehriehten.
Das 25jährige Stiftungsfest des Rudolfinerhauses.
Unter allen Formen großer Feierlichkeit wurde am 2. d. M.
das 25jährige Stiftungsfest des Rudolfinerhauses begangen.
Der Kaiser wohnte, umgeben von Mitgliedern seines Hauses,
der Feier bei und zu seinem Empfange hatten sich hohe
Würdenträger eingefunden. Es herrscht sonst nicht der Brauch,
privaten humanitären Unternehmungen solche Aufmerksamkeit zu
erweisen und ihre Gedenktage in so solenner Weise zu begehen.
Die besonderen Gründe so großer Feierlichkeit in diesem Falle
lagen wohl vor allem darin, daß man es hier mit einer Schöpfung
zu tun hat, die den Namen des unvergessenen Kaisersohnes
führt, des tragisch und so vorzeitig dahingegangenen Irägers
großer Hoffnungen. Das Unternehmen lag ihm am Herzen und er
lieh ihm bereitwillig Namen und Schutz, weil es Theodoi Bill¬
roth war, der es ins Leben rief. Es gehört zu seinem Nach¬
ruhme, daß er es zu würdigen wußte, was Oesterreich an diesem
Manne besaß.
Die Gedenkfeier erhielt ihre besondere Bedeutung auch
dadurch, daß mit der Fertigstellung und Einweihung eines
neuen Pavillons gleichzeitig auch das ,,Rudoirmerhaus“ zu einem
gewissen Abschluß kommt. Es wird in den weitesten Kreisen
auf das sympathischeste aufgenommen werden, daß dieser Zuhau
mit dem Namen des Grafen Hans Wilczek auch dessen Ver¬
dienste, nicht nur um den Rudolfinervorein, zu verewigen bestimmt
ist. Er stand von allem Anbeginn an Billroth als treuer und
werktätig verständnisvoller Helfer zur Seite, wie dieser IMann
überhaupt sein Lehen lang immer dort zu finden war, wo es
galt, Gutes und Schönes zu schaffen und zu fördern.
Eine freundliche Anlage, im Stile italienischer Landhäuser,
mitten ins Grüne gestellt, so hatte sich Billroth sein Rudolfiner-
haus gedacht und so steht es — jetzt erst — vollendet da. All
sein hingebungsvolles Betreiben, sein rastloses Mühen, die größten
Opfer, die er gebracht, hatten es nicht vermocht, ihm die Genug¬
tuung zu verschaffen, seiner Schöpfung noch zu seinen Lebzeiten
den Schlußstein einfügen zu können. Was er noch erlebte, war
eine verheißungsvolle Entwicklung, den endlichen Abschluß seiner
Ideen und Pläne mußte er gleichgesinnten Erben überlassen. Denn
statt allerorten begeisterte Unterstützung in der Verwirklichung
seiner edlen und so überaus selbstlosen Bestrebungen zu finden,
sah er Hindernisse sich auftürmen, den widrigsten Anfechtungen
mußte er standhalten, aktiver und passiver Widerstand war zu
überwinden und zudem war gegen allerlei hureaukratische Nörgelei
anzukämpfen. Es bedurfte der Tatkraft und des Selbstvertrauens
eines Billroth, um in diesem Kampfe nicht zu erlahmen und
die Freude an dem Werke nicht zu verlieren.
Was Billroth mit seinem Rudolfinerhause im Rahmen
der humanitär-sozialen Fürsorge leistete, erhellt in seiner vollen
Bedeutung erst im Lichte historischer Betrachtung. Man muß sich
den Stand der öffentlichen Krankenfürsorge und des Spitalswesens,
wie es noch vor drei Jahrzehnten zumal für Oesterreich be¬
zeichnend war, vor Augen halten, um das Werk Billroths
nach Gebühr würdigen zu können. Der ausgesprochene Zweck
seiner Schöpfung war ,,die Gründung und Erhaltung eines
Pavillonkrankenhauses behufs Heranbildung von Pflegerinnen für
Kranke und Verwundete in Wien“. Schon mit der Durchführung
dieses Programms wäre eine höchst bedeutungsvolle humanitäre
Tat vollführt worden ; denn die Vorsorge für eine hinreichende
Zahl von geschulten Krankenpflegerinnen zumal für den Kriegs¬
fall bildete ein dringendes öffentliches Interesse namentlich zu
einer Zeit, wo für den Bedarf nach solchen und die Sicherung
eines entsprechenden Nachwuchses in Oesterreich lediglich durch
einige geistliche Orden in ganz unzulänglicher AVeise vorgesorgt
war. Es sollte mit dieser neuen Pflegerinnenschule nicht nur
in numerischer Weise einem fühlbaren Mangel abgeholfen werden,
sondern auch sachlich das Pflegerinnenwesen auf eine neue
Grundlage gestellt und hiemitin einer Zeit, wo die Frauen sich eifrig
bestrebt zeigen, die ihnen auferlegten Grenzen der Betätigung zu
erweitern, ihnen eine ihrer würdige und ihrer Veranlagung be¬
sonders angemessene Sphäre beruflichen Wirkens eröffnet werden.
Gerade dieses Ziel bildete aber einen der Angriffspunkte gegne¬
rischer Einflüsse. Man sah darin einen Vorstoß des Protestanten
Billroth gegen die katholischen Orden und glaubte diese
,, Konkurrenz“ bekämpfen zu müssen — als handle es sich um
ein Geschäftsunternehmen, aus dem nur einzelne ihren Nutzen
ziehen sollen und nicht um eine Sache der Menschlichkeit, für
die es nie genug Mitarbeiter geben kann.
War demnach schon die Gründung einer solchen Pflegerinnen¬
schule ein eminentes Verdienst, so wurde dies noch wesentlich
dadurch erhöht, daß Billroth diese Schule im Rahmen eines
Musterkrankenhauses, das eigens für diese Zwecke erdacht und
erbaut war, eingerichtet sehen wollte.
Das Vorbildliche u. zw. für alle Zeiten ohne Rücksicht
auf den Wandel der Mode — Vorbildliche dieses Krankenhauses
lag in dem bis dahin noch nirgends und niemals vorher so
ausgesprochenen und durchgeführten Bestreben, eine Heil- und
Pflegestätte zu schaffen, die nicht nur allen Anforderungen der
Hygiene entspricht, sondern auch in allen ihren Einrichtungen,
in der ganzen Anlage und Administration darauf ausgeht, dem
kranken Menschen keinen Komfort und keinen Irost vorzu¬
enthalten, auf den er — und lebe er auch sonst in den dürftigsten
Verhältnissen — Anspruch machen darf, weil dieser Komfort einen
höchst wesentlichen Behelf darstellt, um ihn in seinen Leiden und
in seiner Not über das Betrübende seiner Lage hinwegzubringen.
Hier im Billroth sehen Krankenhause sollte der kranke Mensch
nicht nur der denkbar besten Hilfe in seinem körperlichen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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'J
Schmerz teilhaftig werden, es sollte ihm zudem zum tröstenden
Bewußtsein kommen, daß hier die Armut keine Komplikation
der Krankheit bildet. Es mag mancher, der das Rudolfinerhaus
schwer krank aufgesucht hat, dort zum erstenmale in seinem
Leben das Gefühl der Behaglichkeit kennen gelernt haben und
die Freude, daß die Blumen des Gartens auch für ihn blühen
und duften.
So wurde dieses Rudolfinerhaus von Billroth nicht nur
als eine Unterkunftsstätte, wo Kranke gebettet, mit Medikamenten
versehen und operiert werden, gedacht, sondern als ein Eiort,
wo die Menschlichkeit danach strebt, zur Wissenschaft zu werden,
um für jede Art von Not auch das richtige Mittel zur Abhilfe
bereit zu haben. Darin lag auch das ganz Besondere bei der
Erbauung dieses Hauses und darin ist der Anlaß gegeben, seine
Gedenktage in feierlicher Weise zu begehen. Man ehrt das Andenken
Theodor B i 1 1 r o t h s, wenn man seine Schöpfungen ehrt und
es war hesondes erfreulich, daß dieser Gedanke auch aus des
Kaisers Worten zu entnehmen war. A. F.
In der feierlichen Schlußsitzung der kais. Akademie der
W i s se n s c li af 1 e u in Wien, welche unter dem Vorsitze des
Herrn Erzherzogs Rainer am 28. Mai slattgefunden hatte, wurde
Professor der Chirurgie an der Universität Wien A. Ereiherr
V. Eiselsherg zum korrespondierenden Milgliede im Inlande
und der Ih-ofessor der Anatomie in Berlin W. Waldeyer zum
korrespondierenden Mitgliede im Auslande gewählt.
Ernannt: Im landwehr-ärztlichen üffizierkorps : im Aktiv¬
stande: zu Oberstabsärzten erster Klasse die Doktoren: .lulius
T6th, Stephan Hrabeczy und Anton Sebeök; zu Oberstabs¬
ärzten zweiter Klasse die Doktoren: Oskar Papp, Maximilian
Radnai, Ignaz Erdödi. Nikolaus Teodorovits und Adalbert
Polin szky de Kassa; zu Stabsärzten die Doktoren: Eduard
Birö und Armin Rosenberg. — Dr. Oskar Beuttner zum
Ordinarius für Gynäkologie und Dr. R. Seigneux zum a.-o. Pro¬
fessor und Leiter der gynäkologischen Poliklinik in Genf.
♦
Elerrn Dr. Josef Wiesel, Assistenten am k. k. Kaiser-Franz-
.Toseph-Spitale in Wien, wurde der von der Wiener LlniversiLiU
jedes dritte Jahr zur Verleihung kommende Bamberger- Preis
für seine Arbeit über ,,Elrkrankungen der Arterien im Verlaufe
akuter Infektionskrankheiten“ verliehen.
Verliehen: Dr. Ismar Boas in Berlin der Professortitel.
*
Habilitiert: Dr. Strecker in Breslau für Anatomie
und Biologie, Dr. Montefusco für Hygiene in Neapel — Doktor
Diterikhs in Odessa für Orthopädie.
*
Gestorben: Dr. A. Cliarrin, Professor der allgemeinen
Pathologie zu Paris.
Allgemeiner österreichischer I r r e n ä r z t e t a g.
In der Jahressitzung des Wiener psychiatrischen Vereines vom
14. Mai wurde beschlossen, daßi der schon früher angezeigte öster¬
reichische Irrenärztetag am 4. und 5. Oktober 4907 in Wien statt-
finden solle. Es sind folgende Referate vorgesehen: I. Zum
gegenwärtigen Stande der Pflegerfrage, Ref. Dr. Starlinger-
Mauer-Oelding. H. Aerzteaus lausch zwischen Kliniken und An¬
stalten, Ref. Hofrat v. Wagner- Wien. HI. Zur Reform der
j^sychialrischen Kuratel, Ref. Dr. Schweighofe r- Salzburg und
J. U. Dr. Siegfried Türkei -Wien. Anmeldungen von Vorträgen
werden bis Ende Aügust erbeten an die Schriftführer des psychi¬
atrischen Vereines: Priv.-Doz. Dr. A. Pile z- Wien IX/2, Laza¬
rettgasse 14 und E. Ra im a nn- Wien IX/3, Alserstraße 4.
*
Wie seinerzeit kurz gemeldet, findet in Amsterdam vom
2. bis 7. September 1907 der Internationale Kongreß' für
Psychiatrie, Neurologie, Psychologie und Irren¬
pflege statt. Während der Zeit des Kongresses befindet sich das
Sekretariat im Universitätsgebäude, bis dahin ist der Sitz: Prin-
sengracht 717. Als Kongreßsprachen sind Deutsch, ETanzösisch
uml Englisch zulässig. Den Referenten stehen 20 Minuten .zur
Verfügung, während für die Diskussion jedem Redner fünf Mi-
imlen zugestanden werdoi. Für die ^Mitteilungen können nur
15 ^Minuten gewährt werden. Referenten, die vollständige
oder auszugsweise Drucklegung ihrer Bericdde zwecks V<“rbrcitung
unter den ^Mitgliedern wünschen, werden ersucht, das Manuskript
vor dem 15. Juli an das Sekretariat gelangen zu lassen (Prin-
sengraebt 717). Das Manuskript darf 15 Druckseiten nicht über¬
schreiten. Abbildungen, graphische Darsterun.en usw. werden
nur auf Kosten der Verfa.sser aufgenommen. Die Ueberschriften
der Jlitteilungeji müs.sen das Sekretariat spätestens vor dem
1. August erreichen. Mitglieder, welche Instrimiente einzusenden
oder Anordnungen zu Versuchen zu treffen beabsichtigen, werden
um zeitige ^Mitteilung, vor dem 15. Jidi gebeten. Dem Komitee
gehören aus Oesterreich an: E'rankl v. Hoch wart, Wien,
Hofrat J. Wagner v. Jauregg, Wien, Prof. C. Mayer, Inns¬
bruck. Prof. H. Obersteiner, Wien, Prof. A. Pick, Prag,
Dr. E. Redlich, Wien, Dr. J. Starlinger, Mauer-Oeling. Von den
Tliemen, welche am Kongresse zur Verhandlung kommen, seien
folgende hervorgehoben: 1. Aus Psychiatrie, Neurologie: Neueste
Theorien über den Ursj)rniig der Hysterie. Chronische Alkohol¬
psychosen. Kortikale Lokalisation der sensiblen Funktionen.
xMyasthenia gravis und andere Formen von Myasthenie. 2. Aus
Psychologie und Psychopbysik : Die Psychologie der Pubertät.
Euiterscbied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. Die Se¬
kundärfunktion. Die Vorgeschichte der Psychopathen. 3. Aus
Irrenpflege: Die Verwallung^seinrichtung der Irrenanstalten und
die staatliche Beaufsichtigung dei" Irrenpflege. Die Familienpflege
und die Arbeit auf dem Lande. Die Pflege der Alkoholisten.
Gesamte Fürsorge der abnormen Kinder. Schließlich sei noch
bemerkt, daß ein Wolmungskomitee bereit sein wird, die Mil-
glieder des Kongresses bei der Unterkunftsfrage zu beraten. Um
allen xVnfragen zu genügen, werden Interessenten gebeten, sich
vor dem 15. August mit ausführlicher Angabe des Gewünschten
an untenstehende Adresse zu wenden: Dr. D. M. van London,,
Prinsengracht 717, xVmsterdam.
*
A e r z 1 1 i c b e E' o r t b i 1 d u n g s k u r s e an der G r a z e r
Universität. Vom 30. September bis 12. Oktober werden an
der medizinisclien Fakultät in Graz ärztliche Fortbildungskurse
abgehalten. iAn der Abhaltung der Vorlesungen und praktischen
LTebungen beteiligt sich der gesamte Lehrkörper. Außerdem findet
ein Besuch der Tuberkuloseheilstätte in Hörgas sUitt. Die Kurse
werden unentgeltlich abgehalten. Zur Deckung der Auslagen wird
eine Einschreibgebühr von K 20 erhoben. Die Anmeldungen
können schriftlich vom 1. Juni ab, mündlich in der dem Beginne
der Kurse vorangehenden Woche, d. i. vom 23. September bis
inklusive 29. September von 9 bis 1 Uhr, in der Universitäts-
quästur erfolgen. Die Einschreibgebühr ist bei der Anmeldung
eiiizuzablen. Eventuelle xVuskünfte können bei der Universitäts-
quästur eingeholt werden.
*
Priv.-Doz. Dj’. Friedrich Wechsberg, gew. suppl. Vor¬
stand und I. Assistent der I. medizinischen Universitätsklinik
in Wien, wohnt vom 20. Mai d. J. an Wien I., Universitäts¬
straße 11. Sprechstunde von 3 bis V25 Uhr. Tdlephon Nr. 22.506.
*
Berichtigung. Seite 646, Spalte 2, Zeile 21 von unten
soll heißen: Diese Ef f lore sze uzen erinnern an Mi-
liariab läse heil, und Zeile 2 von unten: von statt mn.
*
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 20. Jahreswoche (vom 12. bis
18. Mai 1907). Lebend geboren, ehelich 609, unehelich 307, zu¬
sammen 916. Tot geboren, ehelich 52, unehelich 30, zusammen 82.
Gesamtzahl der Todesfälle 778 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 204 Todesfälle), an Bauchtyphus 3,
B’lecktyphus 0, Blattern 1, Masern 25, Scharlach 2, Keuchhusten 2,
Diphtherie und Krupp 5, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 6,
Lungentuberkulose 139, bösartige Neubildungen 47, Wochenbett¬
fieber 4. Angezeigte Infektionskrankheiten: An Rotlauf 54 (-f-6), Wochen¬
bettfieber 4 (-[- 1), Blattern 1 (-j- 1), Varizellen 66 (-f- 10), Masern 452
(-|- 32), Scharlach 111 ( — 29), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 6 (-j-S),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 86 (-j- 13), Keuch¬
husten 40 ( — 26), Trachom 1 (=), Influenza 0 (0), Genickstarre 10 (— 4).
Freie Stellen.
Bei der k. k. Polizeidirektion in Wien gelangt die Stelle eines
Polizei-Oberbezirksarztes der VIII., ferner eine, eventuell
mehrere Stellen eines Polizeibezirksarztes der IX. und eine
eventuell mehrere Stellen eines Polizeibezirksarztes der X. Rangsklasse
mit den systemmäßigen Bezügen zur Besetzung. Bewerber um diese
Stellen haben ihre ordnungsmäßig instruierten Gesuche u. zw. solche,
die bereits im öffentlichen Dienste stehen, im Dienstwege bis spätestens
15. Juni 1. J. bei dieser Polizeidirektion einzubringen. F'ür alle diese
Stellen wird außer den im § 2 der Instruktion für die Amtsärzte der
k. k. Polizeidirektion in Wien vorgeschriebenen Erfordernissen eine
mehrjährige Verwendung im polizeiärztlichen Dienste und genaue Kenntnis
der Wiener Verhältnisse verlangt. Bemerkt wird noch, daß diese Stellen
für den g.esamten Polizeirayon von Wien ausgeschrieben sind, daher die
Kompetenz mit der Beschränkung auf einen bestimmten Bezirk unstatt¬
haft ist.
r
Nr. 2‘6
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 1907.
711
y erhandlnngen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte.
INHALT:
Offlzielles Protokoll der k. k. Oescllscliaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 31. Mai 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderlieilknnde in Wien.
Sitzung der pädiatrischen Sektion vom 16. Mai 1907.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden, vom 15. bis
18. April 1907.
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu llerliii.
4. Sitzungstag.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 31. Mai 1907.
Vorsitzender; Prof. Dr. L, Königstein.
Schriftführer: Dr. v. Haberer.
Dr. Hans v. Haberer: Meine Herren! Der 42jälirigo Herr,
den ich Hinoi aus der Klinik meines Cliefs, des Herrn Hofrates
V. Eisei sh erg vorsfelle, war bereits im Jahre 1887 (legen-
sland einer Demonstration in der k. k. Gesellschaft der Aerzte.
Im Anzeiger der k. k. Gesellschaft der Aerzte fand ich Idoß die
Bemerkung, ,,Herr Dr. Frey stellt einen Fall von multij)ler Fn-
chondromhildung vor“. Nach den Angaben des Palienten war
ihm damals, als er im 21. Lel)e]isjahre stand, auf der Abteilung
V. Mosetig durch Enukleation des linken Daumens ein Chon¬
drom enlfernt worden, welches sich seit dem 13. Lebensjalirc
des Patienten entwickelt hatte, anfangs heschwei'delos vejtief,
aber schließlicli ,,vereilerle“. Im selljcii Aller war ihm auch ein
entsprecheud der Grumlphalaux des vierten linken Fingers sitzen¬
des Chondrom enlfernt worden. Die Herren sehen die Narben
von dem damaligen Eingriffe. Fs wäre noch nachznlragen, daß
Paf. angeblich ans einer Familie stammt, in der älmlidie Bil¬
dungen an keinem Bepräsenlanten vorgekoniineti s ‘isn. Zur Zeit,
als Ikit. an seiner linken Hand operiert wurde, bestanden bereits
recht anselmliciie Geschwülste im Bereiclie des linken Vorder¬
fußes und des rechten Vorderarmes in der Nähe des Haudgedenkes.
Die FnUvickluiig dieser beiden Geschwülste verlegt Pat. in das
14. und ,16. Fehensjahr. Fr ließ sich die.ser Geschwülste wogen
im 32. Lebensjahre abermals oiieriercn und wurde ihm damals
in einem Akte auf der v. M o se ti g scheu Al)Leilung der liidcc
Vorderfuß eiinkleiert, der rechte Vorderarm ampidiert. Zur Zeit
dieser lelzleii Operation bestanden auch schon andere Tumoren.
IVenn Sie zniiäclist von dem gi'oßen Tumor an der linken Beckeii-
hälfte abselien Avollen, auf den ich, da er angeblich als letzter
anftrat, aucli zum Schlüsse zu spreclien kommen werde, so fallen
Ilmen do(di auch bis weithin eine Reihe von Tumoren auf, die der
Patient eidsprechend der Ferse des rechten Fußes, an beiden
Ober- und Unterschenkelu, am linken Vordcirarme, an der rechten
Thoraxhälftc, der linken Skapnla und dem reelden Hüftbein trägt.
Diese Tumoren sind teilweise kleiner, zum Teil aber sehr groß,
wie z. B. der fast kindskopfgroße Tumor am rechten Oberschenkel.
Sie sitzen alle den betreftenden Knochen fest auf, sind knorncl-
hait, an einigen Stellen elastisch, von grohknol'iger Oherfläciie.
Ihre Lokalisation anlangeud, ist zu tretonen, daß sie überall
in der Nähe solcher Teile vom Knochen sitzen, wo normaler¬
weise Kno)])el, wenigstens heim jugendlichen Individnnm zu
finden ist, au den langen Bölirenknochcn also in der Nachhar-
schaft der Epiphysen.
Der größte Tumor, de.ssentwegen der Patient auch die Klinik
änfsucld, tiiidet sich an der Außenfläche des linken Hüftbeines.
Dieser Tumor, der jetzt last mannsko])fgi'oß ist, soll seit dem
35. Lebensjahre des Palienlen bestehen, anfangs langsam, seit
zwei Jahren schnelle)', seit Januar 1. .1. )'ap:d gewachsen sein.
Vor zwei Monaten brach er auf und seither besteht ans der liefe)i,
kralei'förmigen Zei'fallisliöhle eine ühei'ans reicldiche, aasliaft stin¬
kende Sekretion, die den Patienten aus der Gesellscliaft anderer
Älenschen verhannl und ihn sell)st dej'art belästigt, daß er nicht
mehr ordodlich essen kann und permanentes Ekelgefühl hat.
Fr bittet also, dringeiid, ihm die Ges<'hAvnlst auf oiveralivem Woge
zu enlfej'iien. Fs .sei noch bemei'kt, daß keine der Geschwülste
je dem Kranken Schmerzen verursachf hal. Meine Herren! Das,
was hier vorliegt, ist ein typisches Krankheitshild, nändicli das
der innlliplcn F.xosfosen imd Chondrome. Die Hötd,geid)ilder,
welche ich mir herumzuieichen erlaube, zeigen Ihnen in deut¬
licher Weise die.se Exostosen lind Ghondronie, wobei namentlich
lelzlerc durch die ihnen eigene, zierliche Zciclmnng anffallcn.
Am Bönlgenhilde des liidmn Vordei-ai'iiies möchte ich )iocli auf
flie auffallende Kürze des unteren Uliia''ii l: s aulmm'ksam machen.
Herr t’j-of. Kolisko liatte die Güte, iidcli darauf aufmerksain
zu machen, daß geiadc die.se WachlumssLüi'ung der Plna nahezu
typisch für das in Bede stehende Ki'ankhcilsliild fei mul daß
sie bald in erhchlicherem Grade vorkommt, oder eben nur an-
gedcnlet bleibt, wie in diesem Falle. Herr Prof. Kolisko demon¬
strierte sic mir an einer Beilie von Skeletten. Wachstnmsano-
malien sind ja üherliau])t fast stets hei diesem Krankiieilshiidc
nachweisbar und so zeigt auch der eben vorgestellte Patient
einen hetiüchtlich längeren Ober- als Unterkörper, wätirend nor-
malerweiso ja gei'ado das nmgekelirte Verhältnis bestellen soll.
Noch ein Wort über die Art des den Patienten jetzt so
sehr belästigenden Beckentumors. Ans dem schnellen Waclis-
tnmo desselben in letzter Zeit und aus seinem Zerfalle dürfen
wir nicht ohne weiteres schließen, daß es sich hier jetzt um
maligne Degeneration eines nrsprüiigüdi gutartigen Tumors han¬
delt; denn beides, sowohl schnelles AVachstum, als auch Zerfall
kommt bei Chondromen vor. Innere Metastasen sind niclit nach¬
weisbar und so kann es sich auch hier noch um ein einfaches
Cliondrom handeln. Mein Chef plant, diesen Tumor zu entfernen,
wodurch die Janchnng wohl am liesten hekänipft wird und den
Defekt eventuell sekundär plastisch zu decken. Ueher den Ans¬
gang der Opei'ation und den mikroskopisclien Befund des Tumors
werde ich zu späterer Zeit hei'ichten. AVenii wir auch den
Patienten von .seiner Knochenerkrankung nicht heilen können,
so ist doch hier ein symptomaiisch-clnrui'gisehes Vorgelien nicht
nur ei'lanl)!, sondern direkt geboten.
Meine Herren! Das Vorkommen mnlliplcr Chondrome ist
bekannt, ebenso wie das Vorkommen von Chondromen, die mon¬
ströse Größen erreichen. Hie Pointe dieses Falles liegt in dimi
Vorkommen so großer multipler Chondrome und in diese)' Hin¬
sicht stellt er ein Analogon zu Webers Fall vor. Da dieses
Vmkommnis doch selten ist, so erlaubte ich mir, den F)ill zu
zeigen.
Priv.-Doz. Dr. Nobl demonstriert einen Fall von Syphilis
maligna praecox. Das durch besondere Akuilät des Ver¬
laufes und exfRiisite Tendenz zum Zerfall der irritativen Syphilis-
prodnkte ausgezeichnete Kraidcheitshild betrifft einen 44jährigen
ifaim, der nach kaum viermonatiger Infektion ausgebreitete
und tiefreichende Zerfallsphänomeiie darbietet, wie solche sonst
nur gelegentlich dem Tertiärismus zu entsprechen pflegen. Wie
so häufig hei der galoppierenden Lues, ist auch hier ein phage¬
dänischer Primäraffekt als Ausgangspunkt der Seuchen .zu be¬
trachten, der am Präputialsanm.heginnend in kurzer Zeit zu völliger
Einschmelzung der Vorhaut und eines Teiles des Penisintegnments,
sowie gangränöser Zerstörung der Glans und des vorderen An¬
teils des Corpus cavernosum der Urethra geführt hatte. Als
Residuen sieht man noch infiltrierte, stark prominente exkavierte
Infiltrationshöcker der erhaltenen Glieddecke, die Glans bis auf
einen kleinen Stumpf reduziert, die Harnröhre erweist sich
in 4 cm langer Ausdehnung völlig zerstört, wobei die Corpora
cavernosa penis entblößt zutage treten und das Orifizium 3 cm
hinter dem Sulkns an der Mitte des Penisschaftes mündet. Nach
nur mäßiger Sklerosierung des Drüsenapparates, ist es zur Eruption
rasch kontlnierender, tlächenhaft ansgebreitetei', mäßig elevierter
Infiltrate im Bei’eiche des Stammes und der Kopfhaut gekommen,
die alsbald im ganzen Umfange der ulzerösen Zerstörung und
Nekrose anheimfielen. Die Kopfhaut wird von handtellergroßen,
bis an das Periost reichenden, zackig konturierten, meist schon in
Reinigung begriffenen, von den Säumen her überhäutenden Ge-
schwürsfiächen, denen sich solche an der oberen Brustappertnr
und namentlich am Bücken hinzngesellen, eingenommen.
Von den Momenten, welche für die Erklärung der Älalignität
des Syphilisverlanfes gewöhnlich herangezogen werden, trifft im
vorliegenden Falle kein einziges zu. Der kräftig entwickelte
Pat. zeigt nach keiner Richtung eine konstitutionelle Minder¬
wertigkeit und war niemals dem Potns ergehen. Auch sind für
eine etwaige Mischinfektion mit den banalen Eitererregern
(Staphylokokken, Streptokokken) keinerlei Anhaltspunkte zu ge¬
winnen. Naheliegender wäre es, den Grund der rasch fortschreiten¬
den Zerstörung in einer besonderen Beschaffenheit des Virus zu
erblicken, das bei seiner massenhaften Ansammlung in den Ge-
wMjsinodnkten und der hiebei reichlichen Entwicklung von
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 23
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Eiidotoxinmengeii den ausgedelinten Zerfall am besten erklären
könnte. Hiemit steht aber das Ergebnis der Spirochäten-
e X p 1 o r a t i o n n i c b t i m E i n k 1 a n g. Wiederholt entnommene
Proben der zerfallenden Präpntialsegmente und der ulzerös zer¬
störten Infiltrate der Kopfhaut, haben sich bei der Untersuchung
in der Dunkelfeldbeleucbtung als von Spirochäten völlig frei
erwiese n, ebenso konnten in den nach G i e m s a behandelten
Ausstrichen und Abschabpräparaten keine Spirillen auf-
gefuuden werden. Nur die Durchmusterung vieler Schnittreihen
von silberimprägnierten Rand Sektoren der Hinte r-
hauptin filtrate bat in einzelnen, einen von der Norm abweichen¬
den spärlichen Spirochätengehalt ergeben. Es korrespondiert diese
Erfahrung mit den Befunden von Buschke und F i s c h e r, II e rx-
heimer u. a., die in Fällen von maligner Syphilis (eils
überhaupt keine, teils nur verschwindend kleine Mengen der
S c h a u d i n n sehen Spirochaete pallida auffinden konnten.
Priv.-Doz. l)r. Erben zeigt an einem Falle von simu¬
lierter Monoplegie die De m a s k i e r u n g s m e t. Ii o d e n. Der
Mann bewegt sich flink auf seinen zwei Krücken. Das linke
Bein hat eine schlaffe Eälmiung, er kann kein Gelenk will¬
kürlich bewegen, nur die Zehen rührt er wenig. Vor sieben Mo¬
naten setzte plötzlich eine linksseitige Hemiplegie ein, fler Aiin
besserte .sich durch elektrische Behandlung, so daß mau jetzt
nicht einen Rest von Behinderung merkt. Merkwürdig war der
Verlauf dieser M'iederhersleliung, zuerst wurde der Daumen be¬
weglich, dann die übrigen Finger, dann der Ellbogen. Wir sind
bei der Ttnterbrechung der M'illkürbahnen die umgekehrle Ord¬
nung gewöhnt : zuerst die proximalen Gelenke, dann die distalen,
zuletzt der Daumen.
Dies und noch eine weitere Häufung ungewöhnlicher Um¬
stände regten zu eingehenderer Analyse an. Beim Stationär-
W'C'rden einer Hemiplegie bleibt meist eine Schwäche des Armes
zurück, indes sich die Funktion des Beines größtenteils her¬
stellt. Doch sind Ausnahmen wie in diesem Falle bekannt. Selt¬
sam war auch, daß die sieben Monate bestehende absolute Läh¬
mung ohne Steigerung der Reflexe und ohne Kontraktur geblieben
war (schlaffe Lähmung); es gibt auch für solches Vorkommmi
v(M(M'nzelle Beol)achtungen. Die Zunge streckt er nach links
hinaus, kann sie aber über Auftrag zum rechten Mundwinkel
bringen — lauter Ungereimtheit. Noch ein neurologisches Detail :
bei z(nilralen Lähmungen bleibt die Plantarflexion im Sprung¬
gelenke und in den Zehen erhalten, indes die Dorsalflexion stärker
gelähmt ist, meist ist sie ganz ausgefallen (W e r n i c k e scher
Lähmungstyj)us) ; hier ist gerade die Zehenstreckung geblieben.
Die angeführten fünf Momente regten den Zweifel an und
die folgende Untersuchung begründete {lie Diagnose der Simu¬
lation. Nachzutragen ist noch, daß das gelähmte Bein nicht
kühler isl, keine Inaktivitätsatrophie aufweist, der Bauchreflex
und die Kornealreflexe l)eiderseils intakt sind. Ananmestisch er¬
fuhr ich von seinem bewegten Leben, er machte auf der „Novara“
in Begleilung unseres Thronfolgers eine Weltreise, erkrankte in
Neu -Guinea an Malaria oder gelbem Fieber, wnar dann Gen'
dann in Bosnien, jetzt ist er stellenloser Privatbeamter. Am
30. Oktober 1906 bekam er morgens einen Schwindel, stürzte
nieder und wurde ins Spital gebracht, konnte sechs Wochen
keinen Laut von sich geben und mußte seine Wünsche auf
(‘ine Tafel schreiben (Apha.siio frei einer linksseitigen Lähmung!).
.\ls nach drei IMonaten der Primarius auf die Besserung des Armes
hinwies und daranfügle, er solle damit zufrieden sein, verlor
(‘r das Vertrauen und ließ sich in ein anderes Krankenhnus
lians])oi'lieren. Vor dem Abschiede wurde er mit zwei Krücken
versehen. In dem zweiten Spitale blieb er bis Mitte Mai. Ich
konnte in seine Krankengeschichte Einsicht nehmen und erfuhr,
daß sich dort zweimal unter tonischen und klonischen Krämpfen-
eine totale linksseitige Hemiplegie einstellte, die nach drei bis
vier Tagen bis auf die bestehende Beinlähmung verschwand.
Man konnte zu keiner Diagnose kommen.
Ob das ganze eine Täuschung gewesen, weiß ich nicht,
aber seine jetzige Monoplegie beruht auf willkürliche Bewegungs¬
losigkeit. Daß er heweg(‘n kann, werden folgende drei Proben
Ijcwcisen.
1. Er kann das Sprunggeletdc und Kniegelenk auf Befehl
weder beuge- noch streckwärts bringen, aber beim Schwingen
auf den Krücken verkürzt er das Bein (im Knie- oder Sprung-
g('lenke), denn er schleift nicht mit der Fußspitze.
Da ist noch die Möglichkeit geblieben, an eine funktionelle;
Lähmung ,zu denken (hysteri.sche oder psychische Lähmung). Bei
sc'lchen Lähmungen gelingen in den gelähmten («liedern mit-
uuler automalische und willkürliche Bewegungen, die auf will¬
kürliche Innervation nicht zustande kommen. Das isl der B(‘griff
der psychischen Ijähmung, der Kranke will, aber kann nicht.
Die nächsten zwei Versuche zeigen, daß er die „gelähmten Teile“
bewußt innerviert, daß er kann, aber nicht will.
2. Ich erhebe seinen Unterschenkel bis zur Hojizontalen
und lenke seine Aufmerksamkeit auf das Sprunggelenk, indem
icli ihn anfeuere, durch äußerste Kraftentfall.ung eine Bewegung
im Sprunggelenke zu erzielen. Wenn ich mitten in seinem Be¬
mühen meine unterstützende Hand sinken lasse, so bleibt der
passiv erhobene Unterschenkel in der Höhe und senkt sich bald
darauf, sowie er die List merkt. Er konnte demnach für einen
VToment mit seinen Muskeln das Gewicht des Unterschenkels
tragen.
3. Ich täusche ihn über die Wirkung der Schwere. Er
legt sich auf den Bauch, ich erhebe seinen Unterschenkel und
lasse ihn aus. Der Unterschenkel wird von der Schwere wieder
herabgezogen. Darauf hebe ich den Unterschenkel über den
rechten Winkel hinaus, so daß die Schwere nunmehr im Sinne
einer Kniebeugung wirkt. Ein schlaff gelähmter Unterschenkel
würde jetzt stehen bleiben oder durch den Zug seiner Schwere
die Kniebeugung noch vermehren. Er aber vollzieht auch jetzt
eine wuchligo Knicstreckung ; die erste Hälfte dieser Bewegung
mußte er durch Kontraktion des Kniestreckers erw-uken, die
zweite Hälfte geschieht durch die eigene Schwere. Lagert mau
den Oberschenkel auf eine schiefe Ebene, so kann man diese
Methode noch verfeinern und den Anteil der willkürlichen
Streckung variieren.
Ich bin auf Grund der zwei letzten Versuche sicher, daß er
willkürlich das Knie slrecken kann. Fast sieben Monate lange
Spitalsbeobachtung konnte der iMann ertragen.
Reg. -Arzt Dr. Doerr: Ueber ein neues Desinfektions¬
verfahren mit F'ormalin auf kaltem Wege. (Erscheint
ausführlich.)
Diskussion : Dr. Artur Weiß bemerkt zu den Ausführungen
des Vorredners, daß er seit Jahresfrist mit bakteriologischen
Studien über die desinfizierende Kraft des Autan beschäftigt sei
und daß er als Resultat seiner Versuche in einer der letzten
Sitzungen der Gesellschaft der Aerzte einen Apparat zu demon¬
strieren in der Lage war, der eine exakte Desinfektion von in¬
fizierten Kathetern und von Zystoskopen in der Zeit von drei,
sicher jedoch von sechs Stunden ermöglicht.
Seine gemeinsam mit Dr. Mautner im Laboratorium des
Prof. Monti an der Allgemeinen Poliklinik ausgeführten Des¬
infektionsversuche im Raume waren von befriedigendem Effekte.
Es gelang, Reinkulturen von Diphtheriebazillen, Bacillus pyocyaneus,
Typhusbazillen, sowie von weniger resistenten Staphylokokken¬
kulturen dauernd abzutöten, während resistentere Staphylokokken¬
stämme und Kolibakterien in ihrem Wachstum deutlich behindert
wurden. Von der Erwägung ausgehend, daß es bei einer Ueber-
dosierung des Mittels gelingen dürfte, auch resistentere Stämme
abzutöten, übertrug der Vortragende seine Desinfektionsversuche
vom Raume auf Zylindergläser, in welchen er sämtliche ex¬
ponierte Kulturen, darunter auch Anthraxbazillen und deren
Sporen dauernd abzutöten vermochte. (Demonstration von Klischee-
abdrücken, auf welchen die mit desinfizierten Kulturen beschickten
steril gebliebenen Nährboden, den ein üppiges Wachstum zeigenden
Kontrollnährböden gegenübergestellt sind.) Der Vortragende betont
die Notwendigkeit einer exakten Desinfektionsmethode für Zysto-
skope, da die bisher geübte mechanische Reinigung mit Seifen¬
spiritus keine sichere Gewähr für die Sterilisation des Instrumentes
biete. Auch die Aufbewahrung der so gereinigten Instrumente
in Zylindergläsern, auf deren Boden sich Trioxymethylenpastillen
befinden, die Formaldeheyd in gasförmigem Zustande abgeben,
könne höchstens den Hinzutritt einer Luftinfektion verhüten
(R. C. Rosenberger, Therap. Gazette 1905), sei aber nicht
imstande, etwa anhaftende Keime vollständig abzutöten.
Hofrat Prof. Esc her ich meint, daß man doch für exakte
Abdiclilung von Fenstern und Türen bei der Desinfektion Sorge
tragen müsse. Er weist auf ein Verfahren hin, das einer seiner
.Vssislenlen, Dr. -Flick, in Graz angegeben hat und das im
wesentlichen darin besteht, daß eine sehr geschmeidige Lehm¬
masse durch eine Klystierspritze durchgestoßen und zu langen
Würsten geformt wird. Diese Vlasse kann dann in dieser Form
direkt zur Ahdichtung benützt werden.
Priv.-Doz. Dr. Alexander berichtet im .\nschlusse an den
von Primarius Latz ko gehaltenen Vortrag (Sitzung der Ge
Seilschaft der Aerzte, 3. Mai 1907, über die chirurgische Therapie
des Puerperalprozesses) über 45 Fälle von otitischer Sinusthrom¬
bose und Pyämie und demonstriert von neun Fällen die operativ
entfernten Thromben. Es liegen Thromben aus dem Sinus sigmoideus,
Sinus transversus, petrosus inferior und dem Bulbus der Venajugu-
laris sowie der Jugularis interna selbst vor. Alexander be¬
tont die Wichtigkeit der Ausschaltung der V^ena jugularis vor
Nr. 23
VVlliNKIl KLINISCHE WOCIIENSCHKIFT. 1907.
713
der Operation am Ohre, die Notwendigkeit der Drainage der
erkrankten Vene (Jugnlarishautfistel) und die vollständige Ent¬
fernung obturierender Thromben. Die wandständigen Thromben
sind mehr weniger flach, rasenförmig, oft strichförmig oder
punktförmig. Nach ihrer Lage entsprechen sie häufig zirkumskripten
Periphlebitiden. Die obturierenden Thromben sind strangförmig,
walzenrund und besitzen gewöhnlich spitz zulaufende Enden.
Hieraus ergibt sich für nicht zu lange Thromben typisch die
Spindelform und es zeigt sich, daß auch der obturierende Thrombus
nur in seinem mittleren Teile das Gefäßlumen vollständig verlegt,
während die beiden Enden in die bluthaltigen Abschnitte des
Sinus vorragen. Die Bulbusthromben entsprechen in ihrer Gestalt
der flach- oder spitzkugeligen Ausgußform des Bulbus. Die
Jugularisthromben sind zumeist unregelmäßig strangförmig und
mit Knötchen oder kolbenförmigen Fortsätzen versehen. In der
Mehrzahl der Fälle sind die eitrig entzündlichen Veränderungen
des Thrombus im mittleren Teile desselben am weitesten vor¬
geschritten und setzen sich von da aus nach den beiden Enden
zu fort. In diesen Fällen finden wir den mittleren Tbrombus-
abschnitt gelbgrau oder mißfärbig, die beiden Enden tiefrot ge¬
färbt. Dieses makroskopische Verhalten läßt jedoch keinen Schluß
auf die Infektiosität des Thrombus zu, der gewöhnlich in seiner
ganzen Längsausdehnung von Mikroorganismen gefüllt ist. Endlich
sind die Fälle keineswegs selten, in welchen der eitrige Zerfall
des Thrombus an seinem Ende beginnt. In allen Fällen ist daher
bei der Operation die vollständige Entfernung obturierender
Thromben anzustreben.
Durch die freundliche Unterstützung meines Chefs, Hof¬
rates Politzer, war ich vom Beginn meiner Assistentenzeit an
in der Lage, mich eingehend mit der Klinik der oti tischen Pyämie
zu beschäftigen. Unser Material von insgesamt 45 Jugularis-
ausschaltungen läßt sich in zwei Gruppen bringen : das Material
bis 1903 umfaßt 13 Fälle von Pyämie mit fakultativer Venen¬
ausschaltung und primär oder sekundär angelegter Jugularis-
hautfistel. Von diesen 13 Fällen sind, wie die Tabelle zeigt,
neun geheilt (ßO^/o), vier gestorben (31®/o), darunter nur einer (25'7o)
an Meningitis. Vergleicht man diese Zahlen mit den statistischen
Daten anderer Autoren, so zeigt sich ungefähr die gleiche Mor¬
talität, dagegen ein Prozentsatz von 50 bis 1007o der an Menin¬
gitis Verstorbenen. Daraus ergibt sich, daß infolge der durch die
Jugularishautfistel verbesserten Drainage die Gefahr der Menin¬
gitis bei otitischer Pyämie verringert wird. Die zweite Gruppe
umfaßt 32 Fälle mit obligater Venenausschaltung und Jugularis¬
hautfistel. Von diesen Fällen sind 25 geheilt (78%). Diese Ver¬
besserung des operativen Resultates (78% Heilung gegen 69“/o)
rechtfertigt die Anschauung, daß tatsächlich durch die vor der
Operation am Ohr vorgenommene obligate Jugularisausschaltung
die Möglichkeit der Verschleppung von Infektionskeimen bei der
Meißelarbeit am Ohr herabgesetzt wird. Dagegen ist der Quotient
der an Meningitis Verstorbenen ungefähr gleich geblieben (25“/o
und 297o).
Die Vergleiche unserer Zahlen mit solchen aus der Zeit
vor der methodischen Venenausschaltung lassen aber auch die
Leistungsfähigkeit der ganzen Methode der Venenausschaltung
bei otitischer Pyämie erkennen. Es ist danach gelungen, eine
Mortalität von 81% (L e u t e r t), (ältere Jahresberichte) oder
von 42% (die von Körner durch Statistik*) von 308 Fällen
gefundene Mortalität) bis auf 22°/« herabzusetzen. Der Prozentsatz
der an Meningitis oder eitriger Enzephalitis Verstorbenen hat
sich sogar von 77°/o Leute rts und 62°/« (ältere Jahresberichte)
bis auf 25 bis 29%i verringert.
Können wir für die nächste Zukunft erwarten, daß die
Sterblichkeitsziffer bei otitischer Pyämie sich noch weiter ver¬
kleinern lassen wird? Die Antwort erhalten wir gleichfalls aus
unseren Zahlenreihen. Unter den 22°/n Mortalität unserer Fälle
sind außer den zwei an Meningitis Verstorbenen noch Fälle ent¬
halten, die an Lungenabszessen zugrunde gegangen sind. Zwei
Fälle kamen mit Perforationsperitonitis infolge Milzabszesses oder
Leberabszesses zur Autopsie. Ein weiteres Heruntergehen der
Sterblichkeit wird somit aus der Frühdiagnose der Metastasen und
der Möglichkeit, sie frühzeitig chirurgisch zu behandeln, zu er¬
warten sein.
Die Heilung metastatischer Lungeninfarkte und Abszesse
wird dann öfter als bisher gelingen und eine eitrige Perforations¬
peritonitis infolge perforierten Milz- oder Leberabszesses wird
verhütet werden können.
*) Körner weist selbst auf die Unzuverlässigkeit dieser Statistik
hin, da ja in der Mehrzahl nur geheilte Fälle und von den zur Autopsie
gelangten nie besonders bemerkenswerte Befunde mitgeteilt worden sind.
Die tatsächliche Mortalität ist somit bei weitem größer.
Die Verbesserung der Diagnose der otitischen Pyämie selbst
wird es aber auch ermöglichen, die Fälle rechtzeitig zur Opera¬
tion zu erhalten, bevor sich noch die Thrombose auf sämtliche
Hirnblutleiter ausgedehnt hat. Wir sehen aber auch aus unseren
Zahlen, daß wir jetzt nach dem völligen Ausbau der Operations¬
methode der Venenausschaltung kaum mehr imstande sein
werden, die Mortalitätsziffer der an Meningitis verstorbenen
Pyämiefälle noch weiter herabzusetzen. Hier ist das Kapitel der
Heilbarkeit der otitischen Pyämie als selbständiges Thema zu
Ende und geht in die brennendste Frage der modernen Oto-
chirurgie, in die der Heilbarkeit der eitrigen Meningitis über.
Wiederholt ist die chirurgische Heilung der otitischen Meningitis
versucht worden. Sind wir auch nach den bisherigen Resultaten
von einer systematischen Operationsmöglichkeit noch weit, ent¬
fernt, so können wir doch mit berechtigter Hoffnung in die Zu¬
kunft blicken. Die Erfolge in der chirurgischen Behandlung der
eitrigen Meningitis werden auch für die Behandlung der otitischen
Pyämie einen neuerlichen Erfolg bedeuten.
(Erscheint ausführlich.)
Diskussion: Flofr. Politzer: Noch vor zehn Jahren ging
ich mit einer gewissen Scheu an die Unterbindung der Jugular-
vene bei Freilegung und Ausräiimung des thrombosierten Sinus
Iransversus. Seit dem Anwachsen des Materials an der Klinik
und der fortgesetzten Erfalirung hat sich, wie die oben vovge-
brachten Daten Alexanders beweisen, dieser Eingriff als sehr
erfolgreich erwiesen. Wir unterbinden die Jugularvene in allen
Fällen, bei denen pyämisches Fieher, Schüttelfröste auf eine otili-
sche Sinusaffektion schließen lassen und der bei der Operation
freigelegte mißfarbige oder derb sich anfühlende Sinus eine Er¬
öffnung desselben indiziert. Für besonders wichtig erachte ich
die Jugiilarimterbindung bei wandsländiger Tbrombose des Sinns,
weil bei dieser am leichtesten septische Thrombenpartikel in den
BlutsLrom verschleppt uiid Metastasen in der Lunge und in an¬
deren Körperteilen veranlassen. Aber auch bei vollständiger
Thrombosierung des Sinus ist die Jugrdarisunterl)indung nicht
überflüssig, weil durcdi sie bei Ausräumung des Thrombus, wobei
man oft bis zum Biübus ventriculi jugularis Vordringen mußi,
die Luftaspiration durch die Jugularvene, mit ihrem oft letalen
Ausgange, hintangehalten wird. Die Jugularisunterbindung ist eine
rein anatomische Präparierarbeit, die jeder ausführen kann, tier
sie vorher genügend an der Leiche eingeübt hat'.
Dr. Karl Berdach: Wenn die Lungen-, bzw. Atem¬
gymnastik trotz der Häufigkeit der Lungenerkrankungen in
unseren Landen noch nicht jene Würdigung in der ärztlichen
Praxis gefunden hat, die ihr ohne Frage zukommt, so dürfte der
Grund zuvörderst in dem Umstande zu suchen sein, daß bis nun
kein entsprechender praktischer Behelf zur Förderung der Atem¬
gymnastik Aerzten und Kranken zur Verfügung stand. Dieser
Apparat, welchen ich der geehrten Gesellschaft zu demonstrieren
mir erlauben will, ist nunmehr — wie ich glaube — berufen,
diese Lücke auszufüllen. Er ist in sinnreicher Weise von
Sigalin in Warschau konstruiert und ,,R h y t h m o s k o p“ ge¬
nannt worden, weil man an ihm den Rhythmus der Atem¬
bewegungen absehen kann.
Er besteht aus einem in einem Kästchen eingeschlossenen,
von einem konischen Pendel regulierten Uhrmechanismus, der
zwei kleine herzförmige Exzenter in Bewegung setzt, auf welchen
ein großer Zeiger ruht, dessen Bewegungen den Rhythmus der
Atembewegungen mit deutlicher Markierung der Atempause nach
jeder Exspiration imitieren.
Wenn nun der Apparat vor den Kranken hingestellt wird,
so richtet dieser seine Atembewegungen gewissermaßen auto¬
matisch im Sinne der Bewegungen dieses Zeigers ein, etwa so
wie wir auch den Rhythmus unserer Schritte nach dem Takte
einer vorbeiziehenden Soldatenabteilung unwillkürlich einzustellen
pflegen.
Besonders wertvoll für die Atemgymnastik ist die Möglich¬
keit, auch das Anhalten der Atmung nach jeder tiefen Inspiration
auf dem Apparate zu markieren, indem es durch eine einfache
Verschiebung der Lagerung des Zeigers von einer Exzenterrolle
auf die andere gelingt, den Zeiger nach jeder Aufwärtsbewegung,
welche die Inspiration bedeutet, eine gewisse Zeit anzuhalten.
Ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorteil des xVpparates
liegt in der Möglichkeit, die Atemgymnastik — wenn ich so
sagen darf - - zu dosieren. Es ist ja nicht gleichgültig, mit
welcher Intensität der Kranke mit Tuberkulose oder einem Herz¬
fehler dieselbe betreibt. Ich kann nun die Bewegungs¬
geschwindigkeit des Zeigers in der Weise regulieren, daß er in
der Minute 24, 18, 16, 14, 13 oder 8 Exkursionen macht und
überdies durch eine Stillstandvorrichtung die Länge der Atem¬
pause bestimmen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 23
7i^
Heiläufig will ich noch bemerken, daß der Apparat sich
auch für den Gesangsunterricht und die Behandlung des
Stotterns empfiehlt, wobei es ja in außerordentlicher Weise
auf zweckentsprechende Atmung ankommt.
Endlich dürfte derselbe auch in der versicherungs¬
ärztlichen Praxis sich bewähren, in welcher bekanntlich die
vitale Lungenkapazität durch den Thoraxumfang nach tiefster
Inspiration, hzw. vollkommener Exspiration beurteilt wird. Wenn
wir nun den zu Untersuchenden auffordern, möglichst tief zu
inspirieren, so atmet er nicht selten entweder überhaupt nicht
oder stoßweise ein, während er durch diesen Apparat — wie
eingangs erwähnt — automatisch angeregt wird, mit der von uns
gewünschten Intensität und gleichmäßig zu atmen.
Prim. Dr. Moszkowicz hcschreiht eine von ilun auf An¬
raten des Herrn Priv.-Doz. Ur. Alfred Fuchs luid mit Hilfe
des Herrn Professors Tandler ausgearbeilete IMetliode zur
Bloßlegung und Enlfernuug von H y p o p h y se n t u m o re u,
welche sich in einigen Punklen von der am Lebenden mit Erfolg
angeAvendelen Opmulionsmethodc unterscheidet, die Professor
Sc hl offer vor kurzem (23. Mai 1907) in der Wiener klinischen
Wochenschrift publiziert hat. Nach dieser Methode wurde seit
Dezemher 190G sechsmal die normale Hypophyse an der Leiche
Idoßigelegt.
Die äußere Nase wird zur Seite geklappt, das Septum,
die beiden oberen Nasenmuscheln und die Siehheinzellen wei'den
entfernt. Dagegen bleibt die innere Wand der Orbita und der High-
jnorshöhle beiderseits intakt. Die Entfernung der vorderen und
unleien Wand der Stirnhöhle und Teilen der frontalen Fortsätze
der Oberkiefer schafft ausgiebig Raum.
Um einer Meningilis vorzuheugen, Aväre die Operation zwei¬
zeitig auszuführen. Im ersten Akte der Operation wird bis in
die Keilbeinhöhle vorgedrungen, jedoch die lelzte Lamelle, welche
noch den Hypophysentumor deckt, bleibt erhalten. Nun wii'd
ein gestielter Hautlappen von der Stirne in die WTmde ge¬
schlagen, dessen Ende in die Keilbeiiihöhle zu liegen kommt.
Im zweilcn Operationsakte wird die letzte Knochenlaim'lle
durchl)rochen, der Hypophysentimior entfernt und die Spitze des
llaullappens durch Tamponade in die Sella turcica gedrückt. (Er¬
scheint ausführlich in dieser Wochenschrift.)
Priv.-Doz. Dr. Heinrich Schur und Dr. Josef Wiesel:
Demonstration einer Reaktion im Blutserum von
N ep hr i tikern. (Siehe Originalartikel in dieser Nummer.)
Diskussion: Dr. Rudolf Kaufmann: Ich erlaube mir im
Anschluß an diese Demonstration von Priv.-Doz. Dr. Schur und
Dr. Wiesel mitzuteilen, daß Prof. Dr. M a n n ab e r g und i c h seit
über einem Jahr mit ganz gleichartigen Untersuchungen beschäftigt
sind, nämlich mit Untersuchungen ü ber den Adrenalingehalt des Blutes
bei verschiedenen Krankheiten, insbesonders bei Nephritis, mit Hilfe
der E h r m a n n sehen Froschpupillenreaktion. Wir haben dabei, wie
ich vorauschicken möchte, so starke Erweiterungen der Frosch¬
pupillen, wie ich sie an den demonstrierten Präparaten sehe, nicht
erhalten und gerade unsere Versuche, die Methode zu vervoll¬
kommnen, haben bisher die Mitteilung unserer Resultate verzögert.
Ich zweifle nicht, daß die glücklichere Wahl der verwendeten
Tieraugen die Herren Schur und Wiesel zu besseren Resul¬
taten geführt hat; wir haben, wie Ehr mann es angegeben hat,
Wasserfrösche verwendet, während Schur und Wiesel die
Untersuchungen mit Augen von Laubfröschen ausgeführt haben.
Immerhin sind auch unsere bisherigen Resultate bemerkens¬
wert. Wir sind dazu geführt worden, in Bezug auf die Erweite¬
rung der Froschpupillen dreierlei verschiedene Blutsera zu er¬
kennen: solche, bei welchen die Reaktion sehr deutlich erfolgt,
solche, bei welchen sie wenig deutlich ist und solche, bei welchen
die Reaktion ganz ausbleibt. Unter den wenigen Fällen mit sehr
deutlicher Reaktion sind zwei Fälle von chronischer Nephritis,
welche wir gleich anfangs untersucht haben. Unter den Fällen,
in welchen das Serum wenig wirkte, ist außer zahlreichen Fällen
anderweitiger Erkrankungen und gesunder Individuen auch ein
Fall von Nephritis mit Urämie und sehr hoher Spannung. Unter
den auf die Pupille zweifellos wirkunglosen Seris ist ein Fall von
Addison hervorzuheben, bei welchem die Sektion eine hochgradige
Degeneration der beiden Nebennieren ergab.
Da wir die Absicht haben, unsere Untersuchungen fortzu¬
setzen und die bisherigen Resultate sich zum Teil mit den Be¬
funden von Schur und Wiesel decken, habe ich mir erlaubt,
sie hier vorzubringen.
Diskussion zu der Demonstration von Primarius Doktor
Moszkowicz.
Prof. Dr. Tandler: ]\leine Herren! Kollege Moszkowicz
hat die Schwierigkeiten der intrakraniellen Entfernung der Hypo¬
physe mit Recht hervorgehoben und ich kann ihm diesbezüglich
vom topographisch-anatomischen Standpunkte nur vollkommen
beistimmen. Die Hypophyse auf dem Wege, den Krause für
die Exstirpation des Ganglion Gasseri angegeben hat, freilegen
zu wollen, halte ich deshalb für unmöglicb, weil man den Sinus
cavernosus durchsetzen müßte und dabei mit der S-förmig ge¬
schlungenen Art. carotis interna in Konflikt käme. Außerdem
würden die gesamten Augenmuskelnerven schwer geschädigt
werden. Geht man aber die Hypophyse intrakraniell von vorne her
an, so stößt die Ablösung der Dura mater an der Lamina cribrosa
auf große Schwierigkeiten. Sie würde sicher einreißen und damit
der Zweck der Operation, extradural vorzugehen, vereitelt werden.
Es ragt wohl ein Teil der Hypophyse frontalwärts über das
Chiasma nervorum opticorum hinaus, wie dies seinerzeit
Z u c k e r k a 11 d 1 betont hat, doch wäre trotzdem bei dieser
Methode das Chiasma besonders gefährdet. Dabei ist von der
gewaltsamen Kompression des Gehirns, wie sie bei diesen Me¬
thoden notwendig, vollkommen abgesehen. Die Aufsuchung der
Hypophyse von der Nasenhöhle hingegen, welche zum mindesten
anatomisch gewiß keinerlei Schwierigkeit in sich schließt, scheint
mir auch technisch-chirurgisch die günstigste. Nach Aufklappung
der Nase und nach Entfernung des Septums, der beiden oberen
Nasenmuscheln und des Siebbeinlabyrinths bis an die Lamina
papyracea jederseits liegt die vordere Wand der Keilbeinhöhle in
der Tiefe eines ziemlich breiten Wundtrichters vollkommen frei.
Entfernt man nun die deutlich vorspringende Crista sphenoidalis
und die dünne vordere Wand der Keilbeinhöhle, so ist diese
damit breit eröffnet und so der Zugang zur Hypophyse freigelegt.
Ich möchte Wert darauf legen, die untere Wand mit der Crista
in jedem Falle exakt zu entfernen, da die Zugänglichkeit des
eigentlichen Operationsfeldes hiedurch bedeutsam gefördert wird.
Die Schwierigkeit der Operation beginnt erst nach Eröffnung der
Keilbeinhöhle, da sowohl diese selbst als auch die Beziehung der
Hypophyse zur Keilbeinhöhle eine große Zahl individueller
Variationen aufweist. An den mitgebrachten Demonstrations¬
objekten können Sie einen Teil dieser Variationen sehen. Zunächst
ist die Unterteilung der Keilbeinhöhle einerseits durch die oft
bedeutsame Deviation des Keilbeinseptums, anderseits durch
akzessorische Septen vielfach so unregelmäßig, daß ohne genauere
Kenntnis hier eine Orientierung oft schwierig sein dürfte. Auch
horizontale Unterteilungen kommen, wenn auch selten, vor und
sind aus den genannten Gründen bemerkenswert. Daß selbst¬
verständlicherweise auch die Größe der Keilbeinhöhle für die
Operation von Bedeutung sein kann, brauche ich nicht besonders
zu betonen. Untersucht man eine größere Zahl von Schädeln, so
zeigt sich, daß die Foss’a hypophyseos, also die Einlagerungsstelle
des Hirnanhanges, verschieden tief sein kann und daß sie dem¬
entsprechend verschieden weit in den Sinus sphenoidalis vorragt.
Je größer diese Hervorragung ist, um so einfacher ist der Sitz
der Hypophyse von der Keilbeinhöhle her zu erkennen. Auf die
Tatsache, daß der Knochen gerade an der Hypophysenprominenz
besonders dünn ist, kann man sich nicht verlassen, da, wie dies
an den Präparaten zu sehen ist, sowohl vor der Hypophyse, als
auch hinter derselben die Basis cranii sehr stark verdünnt sein
kann. Eine etwas brüskere Perforation an dieser Stelle würde
unfehlbar zu einer Verletzung der Hirnbasis führen. Die Orien¬
tierung wird bedeutend erleichtert durch den Umstand, daß bei
Hypopbysentumoren die Prominenz der Hypophyse gegen die
Keilbeinhöhle bedeutsam vergrößert ist. In manchen t'ällen ist
sogar die knöcherne Bedeckung der Hypophyse vollkommen ge¬
schwunden und diese ragt, nur von Dura mater gedeckt, in die
Keilbeinhöhle hinein. Einen solchen Fall von Adenom der Hypo¬
physe möchte ich hier an einem Sagittalschnitt demonstrieren,
welchen auch Zucker kan dl in seiner Anatomie der Nase
wiedergegeben hat. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß
die Aufsuchung der vergrößerten Hypophyse leichter ist als die
der normalen. Nebenverletzungen, wie Verletzungen des Sinus
cavernosus, der Karotis und des Nervus opticus sind absolut ver¬
meidbar, insolange man sich streng an die gegebenen Vorschriften
hält und die laterale Wand der Keilbeinhöhle nicht verletzt. Das
topographische Verhalten der Hypophyse können die Herren an
den vorhandenen Präparaten ersehen.
Priv.-Doz. Dr. Alfred Fuchs: Angesichts der chirurgischen
Erfolge tritt an uns die Aufgabe der Indikationsstellung heran,
welche Aufgabe für die nächste Zeit noch keine ganz leichte sein
wird. Von der Schwere des Eingriffes abgesehen, können wir
zurzeit noch kein Urteil über die Ausfallserscheinungen haben,
welche der Totalexstirpation der Hypophyse folgen werden.
Ferner wird der Entschluß zur Operation für uns und für den
Kranken schwer sein in allen Fällen, wo keine progressiven
Augensymptome vorhanden sind. Diese Fälle aber sind zahl¬
reicher als jene mit Hemianopsie und progressiver Sehstörung.
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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S c li 1 o f f o r s Indikation gaben die Kopfschmerzen al), welche
hei Hypophysentninoren im Gegensatz zu anderen Gehirn¬
geschwülsten gewöhnlich auffallend gering sind oder ganz fehlen.
Aus diesen Gründen konnten wir uns in mehreren Fällen der
letzten Monate zur Operation noch nicht entschließen. Aber schon
die relative Sicherheit, mit welcher hei dem Verfahren von
Moszkowicz die Gefahr der Meningitis umgangen wird, wird
den Entschluß in künftigen Fällen erleichtern und wir werden
wohl in dem nächsten progredienten Falle nicht zögern, dem
Patienten die Operation vorzuschlagen.
Dr. Hans v. H a b e r e r : Der Klinik meines Chefs, Hofrates
V. Eiselsherg ist für die nächste Zeit ein Patient mit Hypo¬
physistumor zur eventuellen Operation in Aussicht gestellt und
infolgedessen beschäftigen auch wir uns eingehender mit der
Frage der operativen Technik dieses Eingriffes. Außerdem hat
mein Chef seit einer Reihe von Jahren immer wieder Tierversuche
angestellt, die sich mit der Entfernung der Hypophyse beschäftigten.
Ich durfte ihm hei einer größeren Anzahl dieser Versuche Assistenz
leisten und habe auch schließlich seihst einige derartige Versuche
ausgeführt. Da Herr Primarius Moszkowicz bisher nur über
Leichenversuche verfügt und das von ihm geschilderte Verfahren
noch keine Anwendung gefunden hat, so ist es wohl erlaubt,
auch ohne persönliche Erfahrung über die Methode eine Meinung
dazu zu äußern. Zunächst unterscheidet sich das Verfahren von
Moszkowicz meines Erachtens nach nur in ganz unwesent-
lichenPunkten von der von Schl offer ausgebildeten und mit Glück
am Lebenden bereits angewendeten Methode. Der Umstand, daß
Moszkowicz zweizeitig operiert, mag den Eingriff aseptischer
gestalten, aseptisch aber kann er wohl auch dadurch nicht werden.
Hingegen möchte ich doch dagegen Bedenken tragen, einen so
schmalen Hautlappen als Plombe an die verletzte Schädelbasis
zu schlagen, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie derselbe
dort anheilen wird. Ich möchte meinen, daß gerade das wichtige
Stück dieses schmalen Lappens, welches den gesetzten Defekt
an der Schädelbasis decken soll, doch sehr leicht nekrotisch
werden kann, abgesehen von den schlechten Bedingungen, die es
für eine Anheilung überhaupt vorfmdet. Ich gebe aber gerne zu,
daß, wie so oft, auch hier probieren über studieren geht. Die
durch das Ausschneiden des Lappens gesetzte hochgradige Ver¬
unstaltung spielt bei einer so schweren und großen Operation,
wie sie eine Hypophysenexstirpation vorstelll, wohl nur eine
sekundäre Rolle. Ich möchte aber vorschlagen, wenn man schon
den zweizeitigen Weg hei der Operation eines Hypophysentumors
betritt, den Knochendefekt zu plombieren, so, wie der Zahnarzt
den Zahn plombiert. Dazu würde sich z. B. Kupferamalgam
eignen, das neben dem Vorzug, daß es auch in nicht absolut
trocken gelegten Höhlen hält, noch obendrein eine leicht des-
infektorische Wirkung besitzt. Dieses Mittel hat sich uns bei den
Tierversuchen recht gut bewährt und wie ich zufällig erst heute
durch ein Gespräch über dieses Thema mit Herrn Prof. B i e d 1
erfuhr, hat Biedl, der doch eine besonders reichhaltige Er¬
fahrung über diese Experimente besitzt, mit gutem Erfolge Zement¬
plomben benützt.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Silzung der pädiatrischen Sektion vom 16. Mai 11)07.
Hecht stellt ein 4V-'jähriges Kind mit Pertussis und
hämorrhagischer Dialhese vor. Die Ilauthlutungen hei
lelzterer unterscheiden sich von den hei Pertussiis vorkommemlen
Stauungshlutungen durch ilua! vorwiegende Lokalisation an den
Extremitäten, wälnend die Stauungshlutungen hauplsächlich au
der Gonjuncliva bulbi und an der Bnist auftreten. Die Herah-
selzung der Resistenz der Gefäße hat Vortr. dadurch ziffern¬
mäßig nachgewiesen, daß er den negaliven Druck maß, welcher in
aufgeselzten Schröpfköpfen herrschen muß, um in der Haut Blut¬
austritte zu erzeugen. Bei dem vorgestellten Kinde sind vor
vier Wochen im Verlaufe der Pertussis Blutungen in der Haut
der unteren Extremitäten aufgetreten.
N. Swohoda führt einen elf,jährigen Knaben mit ange¬
borenem Herzfehler vor. Das Herz ist verbreitert, über
demselben ist ein systolisches Geräusch hörbar u. zw. am
lautesten im zweiten Interkostalraum links. Die subjektiven Be¬
schwerden des Patienten sind gering, er wird bei schnellem Gehen
kurzatmig, klagt über Kältegefühl und wird hei Anstrengung
zyanotisch. Merkwürdig ist es, daß der Knabe leicht und lange
(bis zu 24 Stunden) weint. Pat. hat ausgesprochene Trommel-
schlägelfinger mit Beteiligung der Knochen der Endphalangen.
Außerdem zeigt er Zeichen von Lungentuherkuloso, seit zwei
Jahren Hcmeraloi)ie und Xerosis triangularis corneae; die Vene:!
des Augenliinlergiundes sind bis auf das DoiJpelle ervveitei t.
Fe. m i denuu ;.rierl S w o h o d a ein vierjähri es Kind, we’ches
nach Applikation einer Teersalhe Nephritis mil
(Jedem en bekommen hat. Das Kind bekam wegen nässenden
Ekzems am Hiiiterkopf eine 3"/oige Salbe von Ol. cadinuni. Binnen
(dniger Stunden traten ausgedehnte (Jedeme auf, im Harn fanden
sich Eiweiß, Blutkörperchen und Zylindei', die tägliche llarn-
menge sank unter öüü cm'*. Im ganzen konnte höchstens Vag
des Ol. cadinuni zur Resorption gelangen. Vortr. warnt vor
allzu ausgedehnter Anwendung der Teersalhe hei Kindern.
Th. Escheiich frägt, oh die Nephritis nicld durch In-
feklion von der Hautwunde aus entstanden sein konnte.
N. Swohoda erwidert, daß sich dies nicht ausschließen
lasse; die Mutter gah aber an, daß das Kind früher niemals
Oedeme hatte, diese stellten sich erst einige Stunden nach Appli¬
kation der Salbe ein.
Herrn. Schlesinger hat mehrere Fälle von Nephritis nach
Anwendung von Teersalhe gesehen, zwei derselben endeten letal.
N. Swohoda beobachtete Auftreten von Oedenien und
Tod nach Inhalation von Terpentindämpfen. Bei der Sektion
fand sich große weiße Niere.
A. Hecht erklärt, daß die Untersuchung des Harns (auf
gepaarte Schwefelsäuren mittels Baryumhydrats) Aufschluß dar¬
über gibt, ob der Organismus mit Phenolverbindungen gesättigt
ist. Diese vereinigen sich im Harne mit der vorhandenen Schwefel¬
säure, welche dann mit Baryumhydrat einen Niederschlag gibt.
Wasservogel stellt einen Knaben ndt bilateraler
Heini atrophia faciei vor, welche seit zwei Jahren zu be¬
merken ist. Die Körpermuskulatur ist kräftig entwickelt, die
Fossae caninae sind eingefallen, die Haut des Gesichtes ist ver¬
dünnt und der Panniculus adiposus geschwunden. Es dürfte auch
die Gesichlsmuskulatur an dem atrophischen Prozesse teilnehmen.
Das Verhalten der Kopfnerven ist normal. Eine Behandlung
mittels Elektrizität und Massage war erfolglos, es werden daher
subkutane Paraffininjektionen zur Behebung der Entstellimg an¬
gewendet werden.
W. K n ö p f e 1 m a c h e r demonstriert das anatomische Prä¬
parat von Verlegung der T r a c h e a ,d u r c h eine Bronchia 1-
drüse. Das 2V2jährige Kind bekam am achten Tage nach Er¬
krankung an Diplitherie des Pharynx und Larynx einen Anfall
von Trachealstenose, welclier trotz Tracheotomie anhielt, dabei
atmete die rechte Lunge fast gar nicht. Die Obduktion zeigte,
daß der rechte Bronchus fast ganz und die Trachea zum Teil
von einer vergrößerten Bronchialdrüse verlegt waren.
A. Baumgarten stellt ein fünfjähriges Mädchen mit
Jlemia trophia linguae vor, welche naclneiner vor 3 Vs Jahren
an den Halslymphdrüsen ausgeführlen Operation eingetreten sein
soll; seither besteht auch eine Erschwerung der Sprache. Es
handelt sich um eine periphere Hypoglossuslähmung.
R. Neurath bemerkt, daß es auch kongenitale Fälle von
Hypoglossuslähmung gibt.
A. Bau mg arten weist darauf bin, daß eine solche hier
nach der Anamnese ausgeschlossen ist. Entartungsreaktioii ist
nicht vorhanden.
W. Knöpf clmacher erklärt dieses Fehlen von Entartungs-
reakiion dadurch, daß vom Hypoglossus einer Seite .beide Zuiigen-
hälflen versorgt werden.
B. Schick: Die physiologische Nagollinie des
Säuglings. Bisher hat man Nagelveränderungen nur bei Lues
besondere Aufmerksamkeit geschenkt; fast in allen Fällen hau-
dell es sich hiebei um entzündliche Vorgänge (Paronychie). Ueber
nichtentzündliche Nagelveränderungen bei Säuglingen in Form
von Querlinien findet man drei Beispiele bei Heller. Ihre
Entstehung wird auf Magendarmkatarrhe, bzw. auf Lues be¬
zogen. Vortr. beobachtet diese Linie bei ganz gesunden Kindern
in einem bestimmten Alter. Um den Beginn der fünften Lebens¬
woche, häufiger gegen Ende derselben, erscheint bald früher
am Daumen, bald früher an den Fingern eine wallarlige Idnie,
die vorrückend deutlicher wird und bogenförmig', mit dom kon¬
vexen Rande gegen das freie Ende des Nagels gerichtet, cpier
über den Nagel läuft. Um den 60. Lebenstag hat die Linie die
IMitte des Nagels erreicht, um den 90. Lebenstag gelangt sie
an den freien Rami desselben. Am weitesten voraus ist die
Linie meist am Daumen, am meisten zurück am kleinen Finger.
An den Nägeln der Zehen sind analoge Linien nachweisbar.
Vortr. gibt Zahlen über fortlaufende IMessungen an einem Kinde
und Messungen an verschiedenen Kindern und berechnet daraus
Durchsclmiitswerte, die wie alle Längenmaße, welche vom Wachs-
tume abhängig sind, nicht als fixe Zahlen gelten dürfen. Mit
Rücksicht auf individuelle Schwankungen hat die physiologische
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 23
Nugelliiiie eine gewisse Hudculung als Allersiiiali ujkI ist aucJi
forejisiscii vorwcrlbar. Die Ursache der iXagelliuieidjildaiig sielil
Vorlr. in der Schädigung des Organismus durch den Uehergang
vom inlta- ziun exlraiderinen J.,ehen. Als analoge Störungen
sind his jetzt die physiologische Korpergewichtsahnahme in der
ersten W oche und die physiologische Desquamation hekannt. Die
vorühei'gehende Störung der gleici)Uiäßigen Nagethildung wird
deswegen erst vier his l'ünf Wochen nacli der Einwirkung der
Ursaclie sichthai', weit ein Teil des Nagels durch den Nagel¬
wall gedeckt Avird.
K. Hoch singer bemerkt, daßi die luetisclien Nagelt'urchen
tiefer sind als die physiologisclien, außerdem ist '1er hinter
der Furche liegende Teil des Nagels verändert. Diese Nagel¬
furche ist der Ausdruck der schlechten Ernährung und der kon¬
sekutiven AVachstumsstörung in der Eruptionsperiode .der Lues.
N. Swohoda hat das V^erhalten der Nagelfurchen hei Sy¬
philis und hei Scharlach studiert. Bei Lues hat er das Auftreten
von zwei Furchen an einem Nagel heohachtet.
Th. Escherich weist darauf hin, daß die Ursache der
physiologischen Nagelfurche die Lhiterernährung der Kinder in
den ersten Lebenstagen ist. Es wäre interessant, festzustellen,
ob hei ausreichender Ernährung Avährend dieser Periode eben¬
falls eine Nagelfurche auflritt und oh sie aucli bei Frühgeborenen
zu heohachten ist. Eine Analogie zu der pathologischen Nagel¬
furche bilden die Furchen aus Zahnschmelz bei Syphilis und
hei Tuberkulose.
B. Schick bemerkt, daß er in seinem A^ortrage hervor¬
gehoben habe, daß die physiologische Nagelfurche unter dem
Einflüsse der Lues tiefer Avird.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden
15. bis 18. April 1907.
(Fortsetzung.)
Referent : N. Meyer- Bad Wildungen.
IV. Sitzung: Dienstag den 16. April, nachmittags.
G. K 1 e m p e r e r - Berlin : Zur Lehre von der A^er-
f e 1 1 u n g.
Neuere Untersuchungen hatten gezeigt, daß angeblich der
Fettgehalt normaler und verfetteter Nieren gleich sei ; es schien
danach der Aufassung der Boden entzogen, als sei die Verfettung
ein nekrobiotischer Prozeß. Zur Klärung dieser Frage hat
Klemperer den Aetherextrakt verfetteter Nieren in seine ver¬
schiedenen Bestandteile zerlegt und gefunden, daß in einer Fett¬
niere von chronischem M. Brightii, Avelche 3'G“/o Aetherextrakt
enthielt, nicht Aveniger als 1‘7% Cholesterinester und l’ßVo Lezi¬
thin, also 90“/o des Aetherextraktes als Lipoidsubstanzen enthalten
Avaren. Aehnliche, Avenn auch nicht ganz so hohe Zahlen des
Cholesterin- und Lezithingehaltes ergab die Analyse der Fettnieren
von zAvei Diabetikern, welche im Leben Lipämie gezeigt hatten.
A^on normalen Nieren konnte Klemperer bisher nur eine
untersuchen, Avelche in 100 g frischer Substanz 1’4 g Aether¬
extrakt, 0’3 Cholesterin und 0’6 Lezithin ergab. Die Untersuchungen
Averden fortgesetzt; sie versprechen Aveitere Aufklärung des Ver¬
fettungsproblems. (Autoreferat.)
Diskussion. R o s e n f e 1 d - Breslau, Hesse- Kissingen,
K 1 e m p e r e r - Berlin. Rosenfeld: Im Gegensatz zum Unter-
hautfettgeAvebe vermag sich das Cholesterin in den Organen
abzulagern. Es besagt also die Cholesterinanhäufimg in den
Organen noch keine Entstehung an Ort und Stelle. Bei Ver-
fütterung häufe sich Cholesterin auch im Blute an. Die ScliAvan-
kungen des Fettgehaltes der Nieren bewegen sich zAvischen
15. bis 237o, Klemperer habe aber nur eine Niere untersucht.
Klemperer: R o s e n f e 1 d habe keine Cholesterin- und
Lezithinbestimmungen gemacht; Fettanhäufung bedeute noch
keine Cholesterinanhäufung. Im Blut sei z. B. der Cholesterin¬
gehalt in der Norm und bei der Mästung sehr gering und nur
in dem besonderen Zustand der diabetischen Lipämie erhöht.
B e r g e 1 1 - Berlin : 1. V e r h a 1 1 e n der Salze orga¬
nischer Säuren im Organismus.
Im Gegensatz zu der Liebig sehen Anschauung, daß
pflanzensaure Alkalien völlig in Natronkarbonat veinvandelt würden,
ergaben Kohlensäurebestimmungen des Harns, daß dies nur teil-
Aveise der Fall. Die Karbonatbildung ist bei Natriumazetat ungleich
höher als bei Zitrateinfuhr.
2. B e d e u t u n g der Löslichkeit der Eiweiß-
k ü r p e r für die Verdauung.
An dem Beispiel des löslichen Kaufalbumins ließ sich er¬
weisen, daß die lösliche Form die Eiweißkörper für das Ferment
(Pankreatin) um das ATehrfache adä([uater macht als die unlösliche
Form. Die löslichen EiAveißstoffe der Natur sind von ferment¬
hindernden Stoffen begleitet. Daher ist ihr diätetischer AA^ert geringer
als der der koagulierten Form.
B 1 u m - Straßburg : Untersuchungen überAlkap-
t o n u r i e.
Experimentelle Prüfung des AA^eges, auf dem bei der
Alkaptonurie die merlcAvürdige UiUAvandlung von Phenylalanin
und Thyrosin erfolgen kann. Die Untersuchung geschah derart,
daß die in Betracht kommenden Substanzen (Ortho-, Meta-, Para-
thyrosin) synthetisch dargestellt Averden und nach ihrer Ver-
fütterung beim Alkaptonuriker das Verhalten der Homogentisin¬
säure, des charakteristischen Harnbestandteils, quantitativ ermittelt
wurde.
B r u g s c h und S c h i 1 1 e n h e 1 m - Berlin : Zur Stoff¬
wechselpathologie der Gicht.
Der endogene Harnsäurewert des Urins beim Gichtiker
ist auffallend niedrig (besonders bei der Bleigicht), dabei findet
sich trotz monatelanger purinfreier Diät (an neun Gichtikern
geprüft) entgegen dem Nichtgichtiker eine nachAveisbare Menge
Harnsäure ijii Blute, die also nur einer Störung im endogenen
Nukleinstoffwechsel ihren Ursprung verdanken kann. Die Kurve
des exogenen HarnsäureAvertes im Urin nach Nukleinsäurever-
fütterung verläuft Aveit langsamer und niedriger als beim Gesunden.
Trotz Zufuhr großer Mengen von Nukleinsäure (50 g in fünf
Tagen) steigt der Harnsäure wert des Blutes beim Gichtkranken
nicht Avesentlich an ; es kann sich also nicht um eine Retention
von Harnsäure im Blut handeln, sondern es muß eine ver¬
langsamte Harnsäurezersetzung vorliegen. Damit geht Hand
in Hand eine verzögerte und verminderte Harnsäurebildung, Avas
einmal aus der exogenen Harnsäurekurve hervorgeht, wofür
dann ein Aveiterer BeAveis neben dem niedrigen endogenen Harn-
säureAvert die verlangsamte und vermehrte Purinbasenaus¬
scheidung im Gichtiker-Urin nach AVeinsteinsäurefütterung bildet.
Die Toleranz des Gichtikers gegenüber Aminosäuren (Glykokolle
und Alanin) ist Avie beim normalen Individuum. Der Glykokollbefund
des Gichtikerharns hält sich in denselben Grenzen wie beim
normalen. Eine Gykokollbildung aus Harnsäure läßt sich experi¬
mentell nicht bcAveisen.
Diskussion: AVohlgemuth - Berlin bemerkt, daß auch
er die Toleranz des Gichtikers gegenüber Aminosäuren als normal
gefunden habe. Schiften heim: Die Versuche sind nicht
beAveiskräftig, Aveil bei den großen verfütterten Mengen des
Wohlgemuth (45 g Glykokoll an einem Tage) sicher ein großer
Teil den Organismus passiert haben müßte und nur deshalb dem
NachAveis entging, Aveil die angeAvandte Methode (a-Naphthyl-
isozyanat) für den klinischen NachAveis unbrauchbar ist.
AVohlgemuth betont, daß aus den Resultaten nicht auf
die Methode geschlossen werden dürfe.
B r u g s c h berichtet, daß er selbst mit der Methode gearbeitet
und sie für die Untersuchung des Urins als absolut unbrauchbar
gefunden hat.
E m b d e n - Frankfurt a. M. : Beitrag zur Lehre von
der Azetonurie.
E m b d e n erörtert die Frage, ob präformiertes Azeton sich
im Urin vorfindet. Man vermag das xVzeton vermittels Vakuum¬
destillation bei niedriger Temperatur zu entfernen. Bestimmt
man im Anfang die Gesamtmenge des Azetons und der Azetessig-
säure und nach der Vakuumdestillation die Azetessigs^ure, so
kann man aus der Differenz ersehen, ob und Avieviel Azeton
im Harn vorhanden war. Bei leichter Azidose findet sich gar
kein Azeton im Harn präformiert vor, bei schAverer Azidosis geringe
Mengen freien Azetons. Die Möglichkeit, daß sich Azetessigsäure
etAva zersetzt, ist aber nicht auszuschließen.
F a 1 1 a und A. G i g o n - AVien : U e b e r E m p f i n d 1 i c h-
keit des Diabetikers gegen EiAveiß und Kohle¬
hydrat.
In mehreren Fällen von Diabetes mellitus, Avelche ihrem
ganzen A^erlauf nach als der schweren Form zugehörig angesehen
Averden mußten, zeigte sich, daß in einer eiAveißreicheren Periode
mehr Zucker ausgeschieden wurde, als in einer kohlehydrat¬
reichen. AATirde nun in solchen Fällen zu einer strengen Stan¬
dardkost an einzelnen Tagen Kohlehydrat oder EiAveiß zugelegt,
so Avurde in den Kohlehydratversuchen fast immer noch ein
beträchtlicher Teil der zugelegten Kohlehydrate verwertet, in den
EiAveißversuchen trat hingegen eine Steigerung der Zuckeraus¬
scheidung auf, die im Verhältnis zur Menge des zuckerbildenden
Materials größer Avar als in den Kohlehydratversuchen. Diese
Untersuchungen führen also geradezu zu der paradoxen Tatsache,
daß solche schAvere Fälle von Diabetes mellitus bei kohlehydrat-
reicher Kost mehr Zucker ausnützen als bei eiweißreicher Kost.
Diese Fälle, die anscheinend gar nicht selten sind, sind also
Nr. 23
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
717
empfindlicher gegen Eiweiß als gegen Kohlehydiat, während
leichte Fälle bekanntlich das entgegengesetzte Verhalten zu zeigen
pflegen. Vielleicht sind solche schwere Fälle gegen die mit Zu¬
fuhr von Eiweiß verbundene Steigerung der Wärmeproduktion
empfindlicher. Es ist jedenfalls zu erwarten, daß es in solchen
Fällen vorteilhafter sein wird, vorerst die Eiweißzufuhr stärker
zu beschränken als die Kohlehydrate, besonders wenn gleichzeitige
Azidose besteht.
Georg Zuelzer - Berlin : Untersuchungen über
den experimentellen Diabetes.
Z u e 1 z er ging aus von dem Nebennierendiabetes, der
durch die subkutane Injektion von Adrenalin hervorgerufen wird
und versuchte, die Analogie desselben mildern Minkowski sehen
Pankreasdiabetes nachzuweisen. Die Durchblutung der Leber von
Nebennierendiabetestieren und entpankreasten Hunden ließ eine
Analogie erkennen. Während nämlich bei Durchblutung normaler
Hundelebern der Blutzucker um 8 bis 15°/o stieg, stieg er bei
Nebennierendiabeteslebern um 50 bis 113, bei Pankreasdiabetes¬
lebern um 26 bis 66%. — Zuelzer machte nunmehr die An¬
nahme, daß die Zuckerausschüttung eine Wirkung des Adrenalins
sei, die normalerweise vom Pankreasferment paralysiert werde.
Er versuchte deshalb den Adrenalininjektionsdiabetes durch gleich¬
zeitige oder vorübergehende Injektion von Pankreasextrakt zu
unterdrücken, was in zahllos wiederholten Versuchen gelungen
ist. Ebenso suchte er umgekehrt dexi Pankreasdiabetes dadurch
zu unterdrücken, daß er den normalen Zufluß des Adrenalins
in den Organismus durch Unterbindung der Nebennierenvenen
verhinderte. Diese sehr komplizierten Versuche sind in gewissem
Sinne ebenfalls als gelungen zu betrachten.
Eine sehr wertvolle Stütze für die Annahme eines positiven
Nebennierendiabetes im Zuelzer sehen Sinne gaben ältere Unter¬
suchungen von S e e g e n. Dieser Autor fand das regelmäßige
Auftreten einer Hyperglykämie 10 bis 15 Minuten nach Unter¬
bindung der Vena cava inferior oberhalb der Nierenvenen.
Zuelzer deutet die Versuche so, daß die Unterbindung unter¬
halb der (von S e e g e n nicht beachteten) Nebennierenvenen
stattfand, daß es dadurch zu einer stärkeren Hyperämie und
Ausschwemmung der Nebennieren kam, so daß ihr wenig ver¬
dünntes Sekret in den Kreislauf gelangte und die zuckeraus-
schüttende Wirkung analog wie bei der subkutanen Injektion von
Adrenalin ausüben konnte. S e e g e n hat auch Leherdurchblutungen
in vivo bei dem durch Unterbindung der Vena cava inferior oberhalb
der Nierenvenen unwissentlich erzeugten Nebennierendiabetes
gemacht und ebenso wie Zuelzer bei seinen postmortalen
Leberdurchblutungen eine ganz erhebliche Blutzuckerzunahme
gegen die Norm gefunden.
Zuelzer kommt also zu dem Schluß, daß höchstwahr¬
scheinlich der Minko w skische Pankreasdiabetes ein negativer
Pankreas- und ein positiver Nebennierendiabetes ist. (Autoreferat.)
Lüthje- Frankfurt a. M. ; Beitrag zur Frage der
Z u c k e r ö k o n o m i e im T i e r k ö r p e r.
Lüthje hat vor zwei Jahren über den Einfluß der Außen¬
temperatur auf die Zuckerausscheidung bei pankreasdiabetischen
Tieren berichtet : In der Kälte steigt die Ausscheidung und in der
Wärme sinkt sie. Diese Versuche sind von Allard wiederholt
und bestätigt worden, allerdings mit der Einschränkung, daß der
Einfluß der Umgebungstemperatur nur in den Fällen auftrete,
bei denen das Pankreas nicht vollkommen exstirpiert sei. Lüthje
kann auf Grund neuer Versuche diese Auffassung nicht akzep¬
tieren. Er fand bei seinen neuen Versuchen bei vollkommener
Exstirpation den Einfluß der Außentemperatur so wirksam, wie
in seinen früheren Versuchen. Daß es sich um wirklich voll¬
kommene Exstirpation handelte, wurde dadurch bewiesen, daß das
betreffende Stück des Dünndarms in Serienschnitten zerlegt und
mikroskopisch durchmustert wurde.
Entsprechend diesen erneuten Befunden bleibt Lüthje
bei der Erklärung, die er bezüglich des ganzen Vorganges vor
zwei Jahren gegeben hat : ,,Es handelt sich um einen wärme¬
technischen Vorgang.“
Diese Anschauung wird im wesentlichen gestützt durch
neue Versuche von Embden und Lüthje, in denen gezeigt
wird, daß die Höhe des Blutzuckergehaltes bei normalen Tieren
ebenfalls in ausgesprochenster Weise abhängig ist von der Höhe
der Umgebungstemperatur. In der Kälte steigt der Blutzucker¬
gehalt, in der Wärme sinkt er. (Autoreferat.)
Diskussion: v. Noorden - Wien schließt sich der von
Lüthje gegebenen Deutung der Versuche an und teilt mit, daß
auch bei fiebernden Nichtdiabetikern infolge der hohen Ansprüche,
die das Fieber an die Wärmeregulation stellt, der Zuckergehalt
des Blutes sich erhebt. Ferner habe er die Erfahrung gemacht,
daß Diabetiker, wenn sie aus der gemäßigten Zone in die Tropen
kommen, dort vielmehr Kohlehydrate vertragen als zu Hause.
Therapeutisch könne man das freilich kaum ausnützen, da andere
Nachteiie diesen Vorteil wieder illusorisch machen.
M i n k o w sk i - Greifswald hält die Versuche von Allard
aufrecht. Es sei bei den schwer pankreasdiabetischen Hunden
keine Temperaturbeeinflussung zu finden gewesen. Auch Diabetiker
reagieren nicht auf Temperaturänderungen.
E m b de n - Frankfurt hat schon vor zwei Jahren Versuche
mit gleichen Ergebnissen wie Lüthje anstellen können. Die
Tiere schieden in der Kälte weit mehr Zucker aus als in der
Wärme.
Falta-Wien hat an zwei diabetischen Hunden, die mit
Staehelin auf ihren respiratorischen Gaswechsel untersucht wurden,
keine Aenderung in der Zuckerausscheidung und keine Aenderung
im Quotienten D : N feststellen können. Die Temperaturdifferenzen
betrugen 12'* C. Die Hunde fieberten. Die Versuche wurden inner¬
halb der erten sechs Tage des Bestehens des Diabetes angestellt.
Minkowski- Greifswald : Seine Versuche wurden an
Tieren angestellt, die 12 bis 14 Tage lang und mehr lebten.
Lüthje: Die Tatsache, daß Allard mit seinen Ergeb¬
nissen in einem Wfiderspruch zu meinen Resultaten steht, bedarf
weiterer Aufklärung. Es gibt gewisse Faktoren, die den Einfluß
der Außentemperatur geringer machen, das ist der Grad der Er¬
nährung. Bei den Versuchen von Falt a dürfte noch die geringe
Temperaturdifferenz genügen, um den Widerspruch zu erklären.
B e r g e 1 1 und Fleisch mann - Berlin : Beiträge zur
Analytik und Therapie des Diabetes.
Die Vortragenden teilen mit, daß die von Eckenstein
und Blanksrner angegebene Methode der Azetonbestimmung
mit Paranitrophenylhydrazin sich gut zur Harnazetonbestimmung
eigne, wie sich ihnen aus einer größeren Analysenreihe ergeben
hat. Die diuretische Wirkung des Natriumbikarbonats wird in ihrer
Bedeutung als unerwünschte Nebenwirkung der Alkalitherapie
gewürdigt. Die Natriumbikarbonattherapie ist daher bei den gering¬
fügigen Graden der Azidosis nicht als indifferente Maßnahme an¬
zusehen, um so weniger, da die qualitative Azeteonreaktion eine
überscharfe Reaktion ist. Eine prophylaktische Natronbikarbonat¬
darreichung ist zu verwerfen.
R o s e n f e 1 d - Breslau : V e r f e 1 1 u n g s f r a g e n.
Vortr. geht von der Tatsache aus, 1. daß die Agentien,
welche Leberverfettung am Hungertiere bewirken, immer der Leber
Glykogen resp. Glykose entziehen ; 2. daß Zufütterüng von Kohle¬
hydraten zu den verfettenden Substanzen die Leberverfettung
verhütet.
Ad 1 wird nun untersucht, ob die Entziehung auch anderer
Kohlehydrate verfettend wirkt, indem dem Körper durch größte
Mengen Kampfer und Menthol Glykuronsäuren entzogen werden.
Die in der Tat nach Kampfer und Älenthol auftretende Leber¬
verfettung wird vomVerf. aber nicht auf Glykuronsäureentziehung
bezogen, sondern von der nach Fischer anzunehmenden Glykose-
entziehung durch Kampfer etc. abgeleitet. Sie läßt sich durch
Glykosezufütterung verhüten.
Ad 2 wird festgestellt, welche Kohlehydrate diese verfettungs¬
hindernde Wirkung haben. Nachdem festgestellt ist, daß 0 2g
Phloridzin per Kilo und Tag subkutan die Leber verfetten läßt,
daß Zufütterung von 8 g Saccharose oder Dextrose per Kilo und
Tag die Verfettung ausschließt, werden zu 0’2 g Phloridzin mit
8 g Mannit, Glykuronsäure und Glykosamin verfüttert — alle ohne
daß die Leberverfettung verhütet worden wäre.
Redner schließt, daß, wenn die Kohlehydrate die Verbren¬
nung der Fette einleiten, und dies durch Bildung einer Paarung
von Kohlehydraten mit Fetten geschieht, diese Paarung nicht
zwischen Fetten und den verfütterten Kohlehydraten, sondern
zwischen Fetten und dem Hexosemolekül stattfinden muß.
(Autoreferat.) (Fortsetzung folgt.)
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin. (Fortsetzung).
Diskussion über Prostataexstirpation (Fortsetzung).
Payr -Graz hat in einigen Fällen mit sehr gutem Erfolge
unter lokaler Anästlresie operiert. Zur Ausdehnung der Blase hat
er stets die Luftfüllung angewendet, ohne jemals einen Zwischen¬
fall erlebt zu haben.
R 0 V s i n g - Kopeidiagen fühi’t die Prostatektomie nur aus,
wenn die anderen Behandlungsniethoden ihn im Stiche lassen;
insbesondere wendet er auch die schonenderen Operations-
methoden an. flOnial hat er die Vasektomie gemacht und 60 gute
Erfolge dabei erzielt. Führt ihn diese Methode nicht zum Ziele,
dann macht er die Zystostomie, er näht über die Blase <‘ineii
?
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 23
til
weiclien, sich über dem Katheterauge kiioi)fai'lig erweiternden
Kalheler ein. Diese Katheter können aus der Blase nicJit. heraus-
i'uischen und iialten diclit. Dann wird die Zystitis mit Lapislösung
i)eJiandelt. Die Leute können den Katheter daueind tragen. Diese
seine Opejalion ist ungelahrlich. Auch Rovsing macht auf
den psychischen Effekt der J'rostaiektomie aufmerksam; er führe
daher <,lie Prostatektomie nui' dann aus, wenn die Dj'üsc so groß
ist, daß sein Katheter nicht vertragen wird.
Riedel- Jena hat hei seinen Prosta lektomien auffallend
schlechte Resultate gehabt. Er hat von acht Kianken fünf verloren.
Diese sind zweifellos an den Folgen der Operation gestorben,
nändich an f.ungeuembolie; ilic Embolie hatte in Thromben des
Plexus i)rostaticus ihren Ersprung. Rietlel ist für die supra-
pu bische Methode.
R o V s i n g - Ko])enhagen ; To I alexstirpation der Harn¬
blase mit doppelseitiger Ureterostomia lumbalis.
Rovsing erwähnt die Tatsache, daß' Blasenkarzinome sehr
.spät oder gar nicht Metastasen machen. Auf der anderen Seite ist
die Entfernung eines malignen Tumors aus der Blase mit Erhal¬
tung derselben sehr schwierig. Auch ergibt diese Operation sehr
schlechte Resultate. Rationell sei daher die Totalexstirpation.
Dieselbe habe sich bisher wenig Freunde erworben, weil die
AT'rsorgung der Ureteren Schwierigkeiten mache. Bisher seien
diese Schwierigkeiten nicht überwunden worden, alle bisher ge¬
übten Methoden hatten sehr große Unbecfuemlichkeiten im Ge¬
folge und führten außerdem schließlich zur Pyelonephritis, der
die Patienten erliegen. Das Neue seiner Methode besteht darin,
daß, nachdem die Blase exstirpiert ist, die Ureteren beiderseits
in die Lumhalgegend eingepflanzt Averden. Die Einzelheiten der
Operation müssen in der Originalarheit eingesehen Averden. Zur
Aufnahme des sich aus den lumbal implantierten Ureteren ent¬
leerenden Urins dient ein besonders konstruiertes Rezeptakuiurn,
das sich bewährt hat. Der Apparat Avinl demonstriert. Rovsing
hat im ganzen dreimal operiert. Alle drei Patienten haben die Ope¬
ration üherstanden. . Einer der Patienten hat später Urämie be¬
kommen und ist gestorben. Bei den anderen liegt die Operation
noch zu kurze Zeit zurück, als daß man ein Urteil über das
Dauerresultat haben könnte. Aber er könne jedenfalls sagen,
daß es sich bei seiner Methode um eine ganz aseptische Blasen-
exslirpation handle.
K a U s c h - Schöneherg : Die S c h r u m p f b 1 a s e und ihre
B e h a n d lung (Dannplaslik).
Kausch bespricht zunätdist die ver.schieden; n Ursachen
der abnorm kleinen Blase (angeboren, Neurose; aulierluilb sich
ahspielende Prozesse, entzündliche Tumoren; innerhalb der Blase
liegende Tumoren und Steine; konzentrische Hypertrophie). Die
hei Aveitem häufigste Ursache ist die interstitielle Zystitis mit
Schwund der Muskulatur (Schrumpfblase). Der Zustand der
scliAAmren Fälle, bei denen die Kapazität auf 10 bis 20 cm^ herab¬
geht, ist ein unerträglicher; schließlich gehen alle Patienten an
der aufsteigenden Entzündung zugrunde.
Die Behandlung besieht in Dilatation der Blase, diese ist
aber bei dem Vorhandensein oder Auftreten entzündlicher Pro¬
zesse verboten und führt auch sonst meist nicht zum Ziele.
Dann Avurdo in einem Falle die suprapuhische Dauerfistel an¬
gelegt und die BcscliAAmrden des Patienten sind dadurch ver¬
ringert Avorden.
Kausch hat in meinem Falle, der genauer besprochen Avird,
eine Düimdarmschlinge total ausgeschaltet utid mit der kleinen
Blase, die 20 enU faßio, in Verbindung gebracht. Der Patient
wurde geheilt (mllassen, kontinent, mit einer Kapazität von
200 curb Das V'erfahren Avird bei sonst nicht zu heilender, ab¬
norm kleiner Blase und bei der lolalen oder armäliernd totalen
Exslirpation des Organs empfohlen. (Selbstbericht.)
S. J a c o b y - Berlin demonslriert seine neuesten, sehr ver¬
einfachten Instrumente der S t e r e o z y s to s k op ie und
S t e r c o z y s t o p h o t o g a p h i e. Das Stereozystoskop gibt
auf die einfachste "Weise die Mogliclikeit, hinokulär in das
Blaseninnere zu sehen, d. h. die Objekte im Blaseninnern ohne
Alühc körperlich zn sehen im Gegensatz zu den flächen¬
haften Bildern, die man erhält, Avenn man nur mit einem Auge
zys loskopiert.
Die Lösung des Problems beruht auf der Beweglichkeit des
einen Okulars mit den dazugehörigen beiden rechtwinkligen Pris¬
men um rlie Achse des gleichseüigen optischen Apparates. Durch
di(' BeAvegtichkeit des einen Okulars ist die Möglichkeit gegeben,
die Okulare auf die Augenen Ifernung eines jeden Unter¬
suchenden genau einzuslellen. Beim Durchsehen durch das
Stereozystoskop erblickt man zAvei innere Gesichtsfelder
und in jedem dei'selben ein f 1 äc h e n li a f t c s Bihl a'ou dem
eingesielllen Objekt, ln dem Momente, avo die beiden Bildchen
eich in der A u gen e n 1 f e«i'n u n g des Untersuchenden zueinander
befinden — d. h. avo sie auf e n 1 s p rec h e n de Stellen (hu-
beiden Netzhäute fallen — decken sie sich ganz, und Avir
sehen körperlich. Das Instrument kann auch als Demon-
s t r a ti o 11 s z y s 1 0 s k o p dienen, indem Lehrer und Schälet’
gleichzeitig hindurchsehen. Das Stereozystoskop besitzt Irri¬
gation, ist sehr handlich; es erfordert der Gebrauch des-selhcm
keine besondere Technik. Wenn man bei den Nitz eschen Zysto-
skopen zu einer scheinbar körperlichen Vorstellung gelangt, so
ist es das Resultat vieler Mühe, Avährend das Stereozysto¬
skop gleich das erste Bild körperlich bringt.
Das neue Ph o t o g ra p h i e s te re o z y s to s k o p ermöglicht
im Gegensatz zur ersten Methode des Autors die gleichzei¬
tige Aufnahme der beiden Bilder. Die optische Kombination ist
eine völlig neue; nur die Objektive sind getrennt, beiden ge¬
meinsam ist eine große Alittellinse. Durch diese Optik entstehen
größere und lichtstärkere Bildchen, die durch die Kreuzung sämt¬
licher Strahlen in der Mittellinse in gewünschter Anordnung auf
die Platte fallen. Die Kassette ist so eingerichtet, daß man fünf
Bilderpaare in Exposilionspausen von etwa acht Sekunden auf
eine Platte bringen kann. Es gelangen stereoskopische Auf¬
nahmen von Steinen, Blasentumoren, einer Blasenscheidenfistel,
einer DiAmrlikelblaso und eines Varix der Blase zur Demonstration,
des.sen feinste VerzAveigungen noch körperlich Avahrgenommeu
Averden.
Mühsam-Berlin: Als Palliativoperalion hei erschwerter
Urinenlleerung, z. B. bei Prostatahyperlrophie, steht die Sectio
alia mit Anlegung einer Witzelschen Schrägfistel obenan. Wir
machen dieselbe in den Fällen, AAmlche Avegen Alters oder aus all¬
gemeinen anderen Gründen für die Radikaloperation nicht ge¬
eignet sind. Diese suprapuhische Schrägfistel habe ich mit der
von Goldmann Amrgeschlagenen Zystopexie verbunden, indem
ich bei einem 82jährigen, sehr dekrepiden Manne die Blase Aveit
vorzog und die Nahlreihe dann noch zwischen den Rekli fest¬
nähte. Die Fistel funktionierte gut, schloß sich dann hinnen
acht Woclien, gleichzeitig begann Pat. spontan Urin zu lassen
und ist somit von seiner Urinretention geheilt.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 7. Juni 1907, 7 IJlir abends^
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Chrobak stattfiiidenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Professor Dr. M. Benedikt; Physiologie und Pathologie der
Zirkulation.
2. Dr. Bild. Kaufiuanii: Ueber Kontraktionsphänomene am Magen.
Vorträge haben angemeldct die Herren: Dr. Jul. Bartel und
Prof. S. Stern.
Bergmeister, Paltauf.
Verein für Psychiatrie und Neurologie.^
Programm der Dienstag den 11. Juni, 7 Uhr abends, im Hörsaal
Y. Wagner stallfindenden
wissenscliafiliclien Sitzung.
a) Demonstrationen: Assistent Dr. Oskar Fischer, Assistent Doktor
0. Fötzl und Priv.-Doz. Dr. A. Schüller, Dr. Bonvicini und Assistent
Dr. 0. Pötzl.
b) Vortrag: Hofrat v. Wagner; »Der Unzurcchnungsfähigkeits-
paragraph im neuen Strafgeselzenlwurf.« Raimann.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
; Die nächste Sitzung der pädiatrischen Sektion findet im Hörsaale der
Klinik Eschericli Donnerstag den 6. Juni 1907, um 7 Ulir abends, statt.
Vorsitz: Dozent Dr. Zappert.
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Dr, Freih. v. Pirquet; Ueber diagnostische Impfung mit
Tuberkulin. Das Präsidium.
V.rantwortlichtr B.daktour: Adalbert Karl Trnpp. Verlag Ton Wilhelm Branniüller in Wien.
nniftW von Uruno D.irtelt, AVien XVIII., ThoreaiengaBse 8.
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H, Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Faltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger,
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
XX. Jahrgang. Wien, 13. Juni 1907. Nr. 24.
tr ■ - - ^
Die
„'fVleuer kllulscbe
WocUeiisclirlft“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großqnart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an die Verlags¬
handlung.
INH
1. Originalartitel ; 1. Aus dem bakteriologischen Laboratorium
des k. u. k. Militärsanitätskomitees in Wien. Ueber ein neues
Desinfektionsverfahren mit Formalin auf kaltem Wege. Von
Dr. Doerr, k. u. k. Regimentsarzt, und Dr. H. Raubitschek,
k. u. k. Oberarzt.
2. Aus dem diagnostischen Institut der Universität in Budapest.
(Direktor: Prof. A. v. Koranyi.) Untersuchungen an einem
Falle von Pankreatitis und Hepatitis interstitialis chronica
luetica nach Beseitigung der Pfortaderstauung durch reich¬
liche Kollateralenhildung. Von Dr. Julius Bence, Assistenten
des Instituts.
3. Aus dem Moskauer Marien-Krankenhaiis. Ein Fall von Leber¬
zirrhose mit Keratin behandelt. Von Dr. S. M. Zypkin,
Privatdozenten der Universität Moskau.
4. Zur Farbensinnprüfung im Eisenbahn- und Marinedienste. (Fort¬
setzung und Schluß.) Von Dr. J. Rosmanit.
5. Berichtigung. Von Dr. Dominik Pupovac.
ALT:
n. Referate: Pathologie und Therapie der Frauenkrankheiten.
A. Martin und Ph. Jung. Ref.: Schauta. — Lehrbuch der
Hygiene. Von M. Rubner. Ref.: A. Sch atten froh. —
Ueber die Desinfektion von Büchern, Drucksachen n. dgl.
mittels feuchter, heißer Luft. Von Dr. Franz Bai ln er.
Klinisches Jahrbuch. Ref.: Graßberger.
in. Aus Terscbiedeuen Zeitschriften.
IT. Standesaiigelegenlieiten. Anklagen gegen Mediziner und ihre
Rückwirkung auf die Gesamtheit. Von Prof. E. Lang.
V. Vermischte Nachricliteu.
YI. V erhandlungeu ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichte .
(Aus dem bakteriologischen Laboratorium des k. u. k.
Militärsanitätskomitees in Wien.)
Ueber ein neues Desinfektionsverfahren mit
Formalin auf kaltem Wege.*)
Von Dr. R. Doerr, k. u. k. Regimentsarzt, und Dr. H. Raubitschek,
k. u. k. Oberarzt.
Meine Herren! Im Laufe des letzten Jahres hatte ich
wiederholt Gelegenheit, eine Reihe verschiedener Modifikationen
des Formalinverfahrens im Aufträge des Reichskriegsministeriums
zu überprüfen und bin zu dem wenig befriedigenden Schlüsse
gelangt, daß zwar eine oder die andere den theoretischen
Anforderungen des Laboratoriumexperiments Genüge leistet, daß
aber keine eine größere praktische Bedeutung und Aussicht hat,
allgemeinen Eingang beim Publikum und bei der Aerzteschaft
zu gewinnen.
Als Lö w^) und Trillat^) im Jahre 1892 die bedeutungs¬
volle Entdeckung der hohen Bakterizidie des Formalins
machten, hatte es allerdings zunächst den Anschein, als ob
ein Weg angebahnt wäre, um das bisherige, bei Laien und
Aerzten verhaßte, von hervorragenden Autoritäten als in¬
suffizient erkannte Verfahren der mech anise h-chemischen
Wohnungsdesinfektion durch ein neues brauchbares
und wirksames System zu ersetzen.
*) Nach einem von Dr. Doerr in der k. k. Gesellschaft der Aerzte
am 31. Mai 1907 gehaltenen Vortrag.
In der Tat folgte eine Mitteilung der anderen ;
Aronson-Schering^), Trillat selbst, Rosenberg^),
Walter -Sc hloßmann^). veröffentlichten ihre Erfindungen,
die aber von vielen, besonders italienischen Hygienikern
bekämpft wurden, bis Flügge^^) und die Breslauer Schule,
Rubner und Peerenboom^) und schließlich Praußnitz®)
eine solide theoretische Basis der Formalindesinfektion
schufen und Methoden ins Leben riefen, deren wir uns
heute fast allgemein bedienen.
Und doch können wir nicht behaupten, daß diese
theoretisch gewiß leistungsfähigen Systeme eine entsprechende
Popularisierung erfuhren. Sie erfordern sämtlich kostspielige
Apparate, zum Teil von recht komplizierter Konstruktion,
ein geschultes Desinfektionspersonal und ärztliche Aufsicht,
um nicht die Befolgung der zahlreichen Vorschriften und
damit den Erfolg dem guten Willen der Desinfektoren zu
überlassen.
So wird mir jeder, der in diesen Dingen über Erfahrung
verfügt, einräumen, daß die verdienstvollen Untersuchungen
von Flügge, Rubner und ihren Nachfolgern nur auf die
Desinfektionspraxis der größeren Städte reformierend ein¬
gewirkt haben, daß sich aber in kleinen Orten, am Lande etc.
noch alles so verhält wie ehedem. Hier lohnt es Sich eben
nicht, für die relativ seltenen Fälle unerläßlicher Wohnungs¬
desinfektion einen teueren Apparat zu kaufen und meist
ist auch niemand da, Aerzte mit eingerechnet, der es ver¬
stünde, eine Formalindesinfektion sachgemäß zu leiten.
V
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
Hiezu gesellt sich noch ein jisychologisches Moment.
Das Publikum und der von ihm abhängige praktische Arzt
geben den Forderungen der Hygiene ja nur unter dem Drucke
der Gefahr nach. Ist ein Apparat um diese Zeit nicht vor¬
handen, so wird im besten Falle eine mechanisch-chemische
Desinfektion zweifelhafter Wirksamkeit verfügt, die Anschaffung
des Apparates aber ad calendas graecas verschoben.
Wo ein Arzt überhaupt fehlt, war eine Förmalin-
desinfektion bisher geradezu undurchführbar.
Aber auch in der Großstadt artet die Formalin¬
desinfektion, wo es sich nicht um Spitäler oder ähnliche
Anstalten handelt, direkt zu einer Fiktion aus, die gerade im
Fachmann ernste Zweifel wachrufen muß, ob der .Laie und
der praktische Arzt mit ihrem Widerstand gegen die Sache
nicht recht haben. Jeder Apparat reicht nämlich nur für
eine bestimmte Raumgroße aus, meist für 100 m^, oft für
kleinere Dimensionen ; zur Desinfektion größerer Imkale
wären daher zwei oder mehr Apparate erforderlich. Sie
werden aber nicht aufgestellt, wenigstens nicht in der
Privatpraxis, sondern man begnügt sich, eine beliebige
Menge Formaldehyd meist mit veralteten Apparaten zu ent¬
wickeln, die zur Abtötung der Keime nicht ausreicht. Ich
könnte Ihnen mehr als ein Beispiel aus meiner immerhin
kleinen Erfahrung als Beweis für diese Behauptung zitieren.
Eine Kalamität im wahren Sinne des Wortes bildete
auch die Notwendigkeit, mehrere Zimmer einer Wohnung,
oder größere Räume öffentlicher Gebäude (Kasernen, Bahn¬
höfe, Schulen) gleichzeitig zu desinfizieren, da die zur
Bewältigung einer solchen Aufgabe erforderliche Zahl von
Apparaten wohl nur scluver aufzutreiben ist. Wie unangenehm
es aber ist, in solchen Fällen ein oder mehrere Privatzimmer
oder öffentliche Bäume bis zur beendeten Desinfektion der
Benützung zu entziehen und ein Zimmer nach dem andern
in Arbeit zu nehmen, liegt auf der Hand.
Endlich will ich nicht unerwähnt lassen, daß die
gegenwärtigen Formalinmethoden für militärische Zwvecke,
für das Feld und Manöver völlig unbrauchbar waren, wegen
der Unmöglichkeit, Apparate und große Flüssigkeitsmengen
unter diesen schwierigen Verhältnissen milzuführen.
Es läßt sich daher wohl begreifen, daß man nach
einem neuen Verfahren Ausschau hielt, welches diese Miß-
slände nicht aufweist. Im Vorjahre entdeckte nun der
Chemiker Eichengrün^) die Autanmethode, die darin
besteht, daß man einfach ein weißes, aus Paraform und
Superoxyden bestehendes Pulver mit Wasser übergießt. Es
tritt Entwicklung von Formaldehyd- und Wasserdampf ein,
und, wie die Arbeiten von W esenberg^*’), Selter^*),
Nieter’2), Tomarkin und Heller^^), Sternberg^'^) und
neuerdings von Xylander^-^) zu beweisen scheinen, auch
eine ausreichende Abtötung der Keime. Auch ich habe
dieses Verfahren geprüft und verschließe mich natürlich nicht
seinen Vorzügen, vor allem der Entbehrlichkeit der Apparate,
die wie wir gesehen haben, den Krebsschaden der früheren
Systeme bilden.
Anderseits gestehe ich aber unumwunden ein, daß
ich im Autan die ideale Lösung des Problems nicht zu
erblicken vermag.
Das Mittel ist vor allem sehr teuer. Die Desinfektion
von 100 nr'^ kostet trotz aller Ermäßigungen der ])atent-
besitzenden Firma noch immer K ßO (Xylan der). Sie
w^erden mir zugeben, daß dieses Desinfektionsmittel für
öffentliche Zwecke unerschwinglich ist und in der Privat-
])raxis wohl auch nur bei den bemittelten Schichten der
llevölkeruiig empfohlen wmrden kann. Soll z. B. eine kleinere
W'ohnungvon insgesamt 500 m'Mmftraum desinfiziert werden, so
übersteigen die Kosten K 100. Zu einer derartigen Ausgabe
gehört aber selbst bei reichen Leuten eine gewisse Opfer-
wiliigkeit .und ein wohl nicht überall vorhandenes Ver¬
ständnis.
Es muß aber noch ein anderes Moment Bedenken
erregen. Die mit Autan erzielten Resultate sind keines¬
wegs überall günstige gewesen und speziell das
.■'.ubnersche Institut hat mehrere Arbeiten im Druck, die
sich, wie ich gehört habe, ablehnend verhalten.*) Der
Grund liegt, wie aus meiner Erfahrung hervorgeht, in der
wechselnden Zusammensetzung des Präparates. Das Autan
ist aus gewissen, hier nicht näher zu erörternden Gründen,
schwer herzustellen und so mögen kleine Fehler bei der
Fabrikation die Ursache sein, warum manche Proben über¬
haupt nicht oder nur wenig reagieren. Auch zersetzt sich die
Masse, wenn sie nicht in hermetisch geschlossenen Gefäßen
aufbewahrt wird, schon unter der Einwirkung feuchter Luft.
Ist also eine Büchse undicht, so wird das Präparat bei
längerer Konservierung unwirksam. Das ist natürlich ein
ganz kolossaler Uebelstand. Ueberhaupt ist es ungemein
mißlich, Substanzen in der Desinfektionspraxis anzuwenden,
deren Zusammensetzung Fabrikationsgeheimnis einer Firma
ist. Man ist da doch der reellen Geschäftsgebarung und der
Gewissenhaftigkeit der Fabrikation auf Gnade und Ungnade
ausgeliefert. Deshalb ist auch das Bestreben, Körper von
bekannter chemischer Konstitution zu Desinfektionszwecken
anzuw^enden, so alt wde die wissenschaftlich fundierte Des¬
infektionslehre selbst.
Wenn ich Ihnen heute einen Bericht erstatte über die
Ergebnisse einer anderen Methode, so geschieht dies gewiß
nicht, um dem Bestehenden etwas Neues hinzuzufügen,
sondern weil ich die Ueberzeugung hege, daß in der Sache
ein Fortschritt von wesentlicher Bedeutung liegt.
Vor wenigen Wochen machte mich Admiralstabsarzt
Gruber auf eine Arbeit von Evant und Bussel’*’) auf¬
merksam. Diese beiden Autoren fanden, daß beim Ueber-
gießen von reinem übermangansauren Kali mit
der doppelten Menge Formalin eine stürmische Ent¬
wicklung von Formaldehydgas stattfmdet. Die Masse schäumt
unter starker Erhitzung auf, stößt dichte Schwaden von
Formaldehydgas aus und nach fünf Minuten ist die Reaktion
beendet. Es bleibt nur eine trockene braune Masse zurück.
Es lag auf der Hand, daß das Verfahren von Evant
und Bussel, welches in Amerika bereits ausgedehnte Ver¬
wendung findet, nicht nur alle Vorzüge des Aulanverfahrens
besitzt, vor allem die Entbehrlichkeit der Apparate und die
Vermeidung von Feuersgefahr, sondern daß es geradezu die
beste Lösung der Formalinfrage repräsentiert. Die erforder¬
lichen Reagenzien Formalin und übermangansaures Kali sind
von bekannter und konstanter Zusammensetzung, sind überall
zu haben, wo Apotheken, Drogenhandlungen etc. bestehen,
sind billig, da 1 kg von jeder Substanz im Handel nur K 1
kostet, die Handhabung mindestens so einfach, wie beim
Autan.
Ich habe mich daher sofort mit Dr. Raubitschek
daran gemacht, den desinfektorischen Wert der Methode
von E V a n t und Bussel zu prüfen.
In der von den beiden Amerikanern empfohlenen Form
konnte aber der bakterizide Effekt nicht als befriedigend
bezeichnet werden. Wir konnten, wenn wir nach der ursprüng¬
lichen Vorschrift für 100 m^ Raum 1 kg Formalin und ’(2
Kaliumpermanganat verwendeten, nur GH/o d^r ausgelegten
Testobjekte sterilisieren. Es war nicht schwer, nach den
grundlegenden Arbeiten Flügges und Rubners den
Grund dieser Mißerfolge zu ermitteln. Wie wir aus diesen
Publikationen wissen, hängt der desinfektorische Effekt jeder
Formalinmethode nicht nur von der Menge vergasten
Formaldehyds, sondern wesentlich davon ab, ob die Luft
des betreffenden Raumes vollständig mit Wasserdampf gesättigt
ist oder nicht. Als wir nun mit verschiedenen Hygrometern den
Sättigungsgrad der Atmosphäre beim Eva n t-R u ssel sehen
Verfahren maßen, betrug derselbe nur 807o der Ganzsättigung
mit Wasserdampf. Auch wird beim E v an t-Russe Ischen
Verfahren konzentrierte Formalinlösung verdampft, wobei
bekanntlich Polymerisation zu unwirksamem Paraform
auftritt, ein weiterer Grund für die Erklärung der unzureichenden
Desinfektions Wirkung.
*) Inzwischen ist die Arbeit von Christian, Hyg. Rundschau
1907, erschienen.
Nr. 24f
WIENER KLINISCHE
Uni cine ausreichende Vernebelung von Wasserdainpf
zu erzielen und die l’olymerisation zu verhindern, setzten wir
zunächst einfach Wasser dem käuflichen Formalin zu, fanden
aber, daß bei einigermaßen nennenswerter Verdünnung die
Reaktion ähnlich wie beim Autan gänzlich ausbleibt.
Wohl aber führte uns ein anderer Weg zum Ziele.
Erhöht man die Menge Kaliumpermanganat
aufs Doppelte, so kann man das Formalin mit dem
gleichen Volumen Wasser verdünnen. Die Vernebelung erfolgt
dann restlos, die Hygrometer zeigen eine völlige Wassersättigung
der Luft an und die desinfektorischen Effekte müssen wohl als
sehr zufriedenstellend bezeichnet werden, wenn ich Ihnen mit¬
teile, daß wir eine vollständige Abtötung aller Testobjekte,
auch der Milzbrandsporen, natürlich nur, soweit sie oberflächlich
exponiert waren, konstatierten. Allerdings sind wir auch mit den
angewandten For malin mengen erheblich gegen¬
über Evant und Russel gestiegen und wenden Wasser
und Formalin in denjenigen Quantitäten an, die die gründ¬
lichen Versuche Flügges für das Breslauer Verfahren als
notwendig bezeichnen.
Mit dem Detail unserer Versuche*) möchte ich Sie
nicht behelligen, um so mehr als wir in kurzer Zeit unsere
Protokolle in der Hygienischen Rundschau veröffentlichen
werden. Wir wollen nur bemerken, daß wir uns nicht, wie dies
gewöhnlich geschieht, auf die Desinfektion kleiner Räume
beschränkten, sondern absichtlich in großen Zimmern
experimentierten, um den praktischen Verhältnissen Rechnung
zu tragen und insbesondere über die gleichmäßige Verteilung
des desinfizierenden Gases Aufschluß zu gewinnen. Auch für
Kästen und darin aufgehängte Kleider, für Wagen, Waggons etc.
hat sich die Methode als durchaus praktikabel und wirksam
bewährt.
Vielleicht ist es nicht überflüssig, über den Vorgang
der Desinfektion hier ein paar Worte zu sprechen, für den
Fall, daß jemand von Ihnen noqh vor dem Erscheinen
unserer ausführlichen Mitteilung selbst praktische oder
theoretische Versuche anstellen möchte.
Der Raum wird einfach wie zu einer anderen Formalin¬
desinfektion hergerichtet; schließen Fenster und Türen exakt,
so ist eine besondere Abdichtung nicht erforderlich, nur
Ofentüren müssen des starken Zuges wegen verklebt werden,
ebenso schlecht schließende einfache Fenster oder Türen. Den
Kubikinhalt des Raumes muß man approximativ kennen oder
berechnen, da sich natürlich nach demselben die Mengen
Kaliumpermanganat, Formalin und Wasser richten.
Nach vielen Vorversuchen schlagen wir vor, für 100
2 kg Kaliumpermanganat,**) 2 kgFormalinund 2kg Wasser
zu verwenden, eine einfache Formel, welche die komplizierten
Tabellen der früheren Apparate überflüssig macht.
In ein oder besser mehrere recht große Gefäße
aus Metall (Blecheimer, Waschzuber, Kochkessel, Badewannen,
*) Als Beispiele seien hier kurz angeführt:
I. Methode nach Evant und Russel (500 g KMnO^ + lOOO g
Formalin pro 100 m^).
Raum von 76 m'^ abgedichlet, Temperatur 18® C.
Testobjekte: Milzbrandsporen, Staph, aur. auf Glas, an Seiden¬
fäden, Leinwandflecken angetrocknet. Exposition: teils offen, teils in
Papierkapseln eingehüllt. Einwirkungszeit: 6 Stunden. Hygrometer:
80®/o Ganzsättigung nach 5 Minuten, nach 30 Minuten langsames Absinken.
Resultat: 61'6®/o der Testobjekte abgetötet.
II. Formalinmengen erhöht (1000 g KM11O4+2OOO g Formalin
pro 100 m®).
Raum von 150 m® abgedichtet, Temperatur 18® G.
Testobjekte wie oben, außerdem Typhusbazillen, Pyocyaneus,
Subtilissporen, Diphtherie. Behandlung und Verteilung wie oben. Hygro¬
meter ca. 86®/o, sinkt nach 1 Stunde.
. Resultat; von allen Testobjekten 91®/o, von den verdeckten 82®/o
abgetötet.
HI. Modifikation mit erhöhten Kaliumpermanganatmengen und
Wasserzusatz (Doerr-Raubitschek): (2000 g KMnO^T 2000 g
Formalin -f 2000 g Wasser).
Derselbe Raum, analoge Testobjekte (169 Stück) wie im Vor¬
versuch, nur Pyocyaneus, weil zu empfindlich, weggelassen. Hygrometer;
95®/o nach 5 Minuten, sinkt erst langsam nach 1 Stunde.
Resultat: von allen Testobjekten 98'3®/o, von den offenen 100®/o
abgetötet.
**) Kal. permang. cryst. pur.
WOCHENSCHRIFT. 1907. 721
alte Fässer) wird zunächst das Kaliumpermanganat hinein¬
geschüttet, sodann das Formahn-Wasser-Gemisch. Man hat
dann einige Sekunden Zeit, das Lokal zu verlassen, die Tür
zu schließen und wenn nötig von außen abzudichten. Da die
Masse sehr heftig aufschäumt, so darf man in ein Gefäß, das
ca. 25 Liter faßt, nicht mehr als je 1 kg von jedem
Reagens (Kaliumpermanganat, Formalin, Wasser) einfüllen.
Um die Entstehung von Flecken des FußlDodens durch Ueber-
laufen zu verhüten, was übrigens bei Einhaltung der vor¬
stehenden Maßregel nicht vorkommt, kann man das oder die
Gefäße auf Bretter, alte Tische, auf Fetzen 0. dgl.* aufstellcn.
Nach sechstündiger Einwirkung ist die Desinfektion beendet.
Die Türen werden geöffnet und der Formalindampf durch
Lüftung oder durch Ammoniakneutralisation (mit dem
Beyer sehen Ammoniakentwickler) entfernt.
Die Kosten einer Desinfektion nach diesem von uns
modifizierten Verfahren betragen K 4 pro 100 m^, sind also
mehr als siebenmal geringer als beim Autan verfahren.
Wir heben nochmals die Feuerungefährlichkeit, Einfach¬
heit, Billigkeit der Methode hervor und den Umstand, daß die
Reagenzien überall zu haben, resp. rasch zu beschaffen und
stets von gleicher Wirksamkeit sind.
Jetzt ist es auch dem Landarzte, ja jedem intelligenten
Laien möglich, eine Desinfektion vozunehmen; Größe und
Zahl der zu desinfizierenden Objekte ist natürlich irrelevant.
Mit Befriedigung hat es uns auch erfüllt, daß wir in
der Lage waren, diese Methode so umzugestalten, daß sie
für Kriegs- und Manöververhältnisse verwendbar erscheint.
In ihrer ursprünglichen Gestalt war das natürlich schon des¬
halb ausgeschlossen, weil man eben Formalin im flüssigen
Zustande nicht transportieren kann. Nun hat die moderne
Industrie gefunden, daß man durch minimale Seifenzusätze
flüssiges Formalin in feste, haltbare Form bringen kann.
Diese Präparate können in Blechbüchsen ausgezeichnet
verpackt und mitgenommen werden. Löst man den weißen,
salbenartigen Inhalt in entsprechenden Wassermengen, so
reagiert er mit Kaliumpermanganat wie flüssiges Formalin.
Die Kosten werden sich wohl nicht erheblich höher stellen,
soweit unsere Informationen reichen, als mit flüssigem
Formalin und jedenfalls ganz enorm hinter der Pfuhlschen^Q
Kriegsmethode mit festem Paraform Zurückbleiben.
Literatur;
b Löw, Journ. f. prakt. Chemie, Bd. 33. — ®) Tri Hat, Compt.
rend., Bd. 114. — ®) Aronson-Schering, Zeitschr. f. Hyg. 1897,
Bd. 25. — Rosen b erg, Deutsche med. Wochenschr. 1896 und Zeit¬
schrift f. Hyg., Bd. 24. — ®) Walter und Schloßmann, Münchener
med. Wochenschr. 1898. — ®) Flügge, Zeitschr. f. Hyg., Bd. 29. — -
Ö R u b n e r und Peerenboom, Hyg. Rundsch. 1899. — ®) Praußnitz,
Münchener med. Wochenschr. 1899. — ®) Eichengrün, Zeitschrift
f. angew. Chemie 1906. — ®®) Wesenberg, Hyg. Rundschau 1906. —
'b Selter, Münchener med. Wochenschr. 1906. — Nieter, Hygienische
Rundschau 1907. — ®®)Tomarkin und Heller, Zentralbl. f. Bakt.
19()7, Orig., Bd.43. (Daselbst Autanliteratur.) — “) Sternberg, Hygienische
Rundschau 1907. — Xy lander, Arbeit a. d. kais. Gesundheitsamt
1907. (Daselbst Autanliteratur.) — ^®) Evant und Russel, Hygienies
Laboratories, Washington 1906, und Hyg. gönör. et appliqu., April 1907.
— ®b Pfuhl, Deutsche militärärztl. Zeitschr. 1899, 28. Jahrg.
Aus dem diagnostischen Institut der Universität in
Budapest. (Direktor: Prof. A. v. Koranyi.)
Untersuchungen an einem Falle von Pankreatitis
und Hepatitis interstitialis chronica iuetica
nach Beseitigung der Pfortaderstauung durch reich¬
liche Kollateralenbildung.
Von Dr. Julius Beiice, Assistenten des Instituts.
»Von konstant bei Pankreasaffektionen aiiftretenden, der
physiologischen Forschung vollständig entsprechenden Sym¬
ptomen kann bis jetzt nicht die Rede sein«, sagt Leube in
der Einleitung zu dem Kapitel der Pankreaserkrankungen
seines Lehrbuches. Man kann sogar behaupten, daß in vielen
Fällen eine entschiedene Divergenz zwischen der physio¬
logischen Forschung und den klinischen Erfahrungen besteht.
Dieselbe geht so weit, daß man sogar die hohe Wichtigkeit
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
*
der grundlegenden Entdeckung v. Mehrings und Min¬
kowskis bezweifelte und den Parallelismus zwischen den
Ergebnissen ihrer Tierversuche und den klinischen Erfahrungen
leugnete. Denn selbst Hanse mann — einer der größten
Verfechter der Pankreasdiabetestheorie — leugnet es nicht,
daß es Fälle gibt, in denen das Drüsengewebe des Pankreas
ganz untergegangen ist und der Diabetes dennoch ausbleibt.
Darum hielt ich die Mitteilung meines Falles für interessant,
weil bei vollständigem Schwund des Drüsengewebes das
Krankheitsbild genau denselben Verlauf nahm, wie ihn jener
der Versuchstiere nach Pankreasexstirpation aufweist.
Die Krankengeschichte der Pat. sei in dem folgenden
wiedergegeben ;
Anamnese: Pat. ist hereditär nicht belastet. Ihre erste
Schwangerschaft endete mit einem Abort im dritten Monat, die
zweite und letzte zur rechten Zeit mit der Geburt eines toten
Kindes. Mit 17 Jahren litt sie an Typhus. Im Dezember 1901
hatte Pat. einen Schüttelfrost, dem Fieber folgte, welches einige
Stunden dauerte. Pat. meldete sich zuerst mit Schmerzen im linken
llypochondrium und mit einer bedeutenden Vergrößerung der
Milz im März 1902 bei uns. Im September desselben Jahres
kehrte Pat. wieder in die Klinik zurück, da inzwischen ihr Bauch
und ihre Füße geschwollen waren. Die Milzgeschwulst vergrößerte
sich, außerdem bestand Aszites und Anasarka. Auf der Bauch¬
wand waren mehrere geschlängelte Venen sichtbar. Stuhl normal.
Der Aszites wollte nach dem Gebrauch der gewöhnlichen Diuretika
nicht weichen. Während einer Kalomelkur verschwanden dann
die Oedeme beinahe vollständig. Die Pat. nahm nachher längere
Zeit Jodkali und der Aszites kehrte bis zur letzten Aufnahme
in der Klinik, welche im Februar 1906 erfolgte, also etwa 3'/-2 Jahre
lang, nicht wieder zurück. Pat. soll sich bis Oktober 1905 ganz
wohl gefühlt haben. Zu dieser Zeit begann sie an Abführen zu
leiden, wobei sie täglich 8 bis lOmal Stuhl hatte. Gleichzeitig
hatle Sie einen überaus guten, beinahe unstillbaren Appetit, aß
sehr viel, durstete stark und urinierte viel. Der Stuhl war seit
der angegebenen Zeit weißlich-grau. Pat. verlor in den letzten
vier Monaten 18 kg an Körpergewicht.
Status praesens: Die stark abgemagerte Pat. (Körper¬
gewicht 38 kg) ist von mittlerer Statur. Die Haut trocken, sehr
blaß. Im Gesicht ein unregelmäßiger pigmentloser Fleck. Neben
beiden Kukullarisrändern mehrere bohnengroße Lymphdrüsen in
rosenkranzartiger Anordnung. Spitzenstoß im dritten Interkostal¬
raum ein Querfinger außerhalb der Maniillarlinie. Die untere
Grenze der rechten Lunge ist bei Atembewegungen nahezu un¬
beweglich. An der Bauchhaut mehrere geschlängelte Venen, außer¬
dem ein etwa handbreiter pigmentloser Reif. Die Leberdämpfung
beginnt in der Parasternallinie am oberen Rand der siebenten
Rippe. Von hier nach links übergeht der helle nicht tympanitische
Schall der Lunge unmittelbar in den tympanitischen des Bauches
über. Von der vorderen Axillarlinie nach rückwärts fehlt die
Leberdämpfung. Die Milz ist bedeutend vergrößert. In der Bauch¬
höhle sind nicht die geringsten Spuren einer Flüssigkeits¬
ansammlung feststellbar. Körpertemperatur normal. Appetit und
Durst erhöht. Urinmenge 1450 cm'“*, spez. Gew. 1047, Zucker
10‘5“/o. Diazetessigsäure, Azeton wie Indikanreaktion
negativ. Stuhlentleerung 8 bis lOmal täglich. Der Stuhl ist
hell, gelbgrau mit einzelnen gelblichen, ausgesprochen
an Butter erinnernden Teilen, von breiiger Konsistenz,
intensivem an ranzige Butter erinnernden Geruch. Die Reaktion
stark sauer. Bei der mikroskopischen Untersuchung sind viele
Fettropfen, Fettkristalle und sehr viele unver¬
änderte quergestreifte Muskelstücke sichtbar.
Der Krankheitsverlauf war folgender:
1. März. Körpergewicht 39'4 kg, Urinmenge 950 cnP mit
77'9 g Zucker (8'2"/o). Um 10 Uhr vorm, beginnt mit der Dar¬
reichung von l'O Karmin, die erste Versuchsperiode zur Unter¬
suchung der Fettausnützung (s. weiter unten). Das Karmin er¬
scheint um 5 Uhr nachm, im Kote. 8 Stühle.
2. März. Körpergewicht 38‘3 kg, Urinmenge 1200 cm^ mit
86‘4 g Zucker (7‘2''/o). 6 Stühle.
3. März. Körpergewicht 38T kg, Urinmenge 880 cm^ mit
52-8 g Zucker (5-96'’/o). 7 Stühle.
Das Gewicht des Trockenkotes der letzten 3 Tage betrug
370 g- ^ .
4. März. Körpergewicht 38'1 kg, Urinmenge 1030 cnP mit
68’0 g Zucker (6'6"/o). Um 10 Uhr vorm, erhielt Pat. l’O Karmin.
Auf die verschiedenen Mahlzeiten verteilt bekommt Pat. täglich
9 Stück Pankreontabletten,
5. März. Körpergewicht 38'2 kg, Urinmenge 940 cm^ mit
7G’l g Zucker (8'l°/n). 4 Stühle.
6. März. Körpergewicht 38'2 kg, Urinmenge 1190 cm® mit
107’1 g Zucker (97o). 5 Stühle.
7. März. Körperwicht 38'3 kg, Urinmenge 1400 cm® mit
92‘4 g Zucker (6’6‘Vo). Die zweite Versuchsperiode wird mit der
Verabreichung von l'O Karmin um 10 Uhr vorm, abgeschlossen.
Der Trockenkot der letzten 3 Tage war 250 g.
27. März. Die Fäzes sind flüssig, rötlich schwarz, blutig,
Pat. ist anämisch. Puls schwach, 135 pro Minute. Indikanreaktion
des Harnes negativ.
31. März. Pat. wird 3 Tage per Rektum ernährt. Die Blutung
hört auf. Im Urin viel Azeton.
7. April. Pat. erhielt die regelmäßige Kost und außerdem
200 g Butter, worauf im Kote viel flüssiges Fett erschien. Pat.
hatte tagsüber Abführen. Im Urine schwamm an der Oberfläche
flüssiges Butterfett, das bald nach der Entleerung erstarrte.
15. April. Pat. bricht Blut, dessen Menge 1 Liter betrug.
Hochgradige Anämie. Puls kaum fühlbar. Hypodermoklyse niit
l'l Liter physiol. Kochsalzlösung worauf sich die Patientin er¬
holt. Die rektale Ernährung wird wieder aufgenommen. Pat.
leidet große Hungerqualen.
20. April. Nachdem sich die Patientin wieder erholt, kehrt
sie zur regelmäßigen Kost zurück. Urinmenge 1200 cm® mit 6"/o
Zucker. Indikanreaktion des Harnes negativ. Der Stuhl unver¬
ändert fetthaltig.
29. April. Pat. klagt über Spannung im Bauche. Bei der
Untersuchung findet man einen freien Flüssigkeitserguß.
1. Mai. Ausgesprochene Fluktuation im Bauch, die Dämpfung
daselbst in stetiger Zunahme.
6. Mai. Der Bauch sehr gespannt. Wegen Atembeschwerden
werden 5V2 Liter Flüssigkeit durch Punktion entfernt, wonach
eine bedeutende Erleichterung folgt.
9. Mai. Die Patientin erbricht große Blutmengen.
10. Mai. Das Blutbrechen wiederholt sich, außerdem besteht
Diarrhoe mit blutigen Abgängen. Pat. ist sehr anämisch. Puls
kaum fühlbar.
12. Mai. Andauernd blutige Stuhlgänge.
13. Mai. Das Blutbrechen wiederholt sich, worauf der Exitus
eintritt.
Wie aus dieser Krankengeschichte ersichtlich, litt die
Pat. an einem Diabetes mit hochgradiger Abmagerung, mit
massigen, flüssiges Fett und viele quergestreifte Muskelfasern
enthaltenden Stühlen. Diese kurz gefaßte Beschreibung genügt
schon, um die Aufmerksamkeit auf eine Erkrankung des
Pankreas zu lenken. Nachdem die Krankheit schleichend,
ohne stürmischen Beginn einsetzte und mehrere Monate
dauerte, waren alle akuten Erkrankungen von vornherein
ausgeschlossen. An eine Zyste war nicht zu denken, nachdem
in dem sehr gut tastbaren Abdomen keinerlei Resistenz zu
fühlen war ; dasselbe galt auch von den Tumoren, obzwar
bei den letzteren eventuell eine infiltrativ wachsende
Geschwulst, welche keine größeren Dimensionen erreichte,
nicht ganz auszuschließen war. Auch die Symptome für
Steinbildung fehlten, denn die Pat. klagte über keinerlei
Schmerzen, welche eine diesbezügliche Deutung zjjgelassen
hätten. Außerdem konnte man alle die Erkrankungen aus¬
schließen, die einen Druck auf die Papilla Vateri ausgeübt
hätten, denn es fehlte die Gelbsucht. Man mußte daher eine
chronisch verlaufende, mit keinerlei Vergrößerung einher¬
gehende, auf die Nachbarschaft keinen Druck ausübende
Erkrankung annehmen, die sich nicht nur auf die Kompression
des Ausführungsganges beschränkt, denn wie Claude
Bernard bewies, genügt dies nicht zur Entstehung des
Diabetes, sondern eine solche Erkrankung, die den Untergang
des Drüsengevvebes selbst verursacht. Als eine derartige
Krankheit ist vor allem die Pankreatitis interstitialis chronica
zu betrachten, bei der eine Ueberwucherung des interstitiellen
Bindegew^ebes zu einem Verfalle des funktionsfähigen Drüsen¬
gewebes führt und so alle die genannten Ausfalls¬
erscheinungen erklären kann. Die Annahme wurde dadurch
unterstützt, daß die Kranke gleichzeitig an einer Laennec-
schen Hepatitis interstitialis chronica litt, an einer Krankheit,
deren anatomischer Charakter mit der angenommenen Ver¬
änderung des Pankreas genau übereinstimmt. Hoppe-
Seyler und d’Amato haben darauf hingewiesen, daß in
vielen Fällen von Hepatitis interstitialis ähnliche Ver-
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
72';
änderungen des Pankreas zu finden wären. D’Amato
äußert sich sogar derart, daß mancher die Hepatitis be¬
gleitende Diabetes in der erwähnten Veräpderung des
Pankreas seine Ursache haben dürfte.
Bezüglich der Ursache dieser Erkrankung des Pankreas
ist es wahrscheinlich, daß dieselbe Ursache, welche die
interstitielle Entzündung der Leber hervorbrachte, auch im
Pankreas zu einer ähnlichen Veränderung führte. Als solche
Ursachen kommen in erster Reihe Alkoholismus und Lues in
Anbetracht. Alkoholismus konnte beinahe sicher aus¬
geschlossen werden, hingegen spricht vieles zugunsten der
Lues. Die Pat. leugnete zwar eine luetische Infektion, doch
endete von zwei Schwangerschaften die eine mit einem Abort,
die zweite mit der Geburt eines toten Kindes, ohne daß
anderweitige Ursachen hiefür eine Erklärung gegeben hätten.
Anderseits wurden bei der klinischen Untersuchung, wie bei
der Sektion am Halse Drüsen mit entschieden luetischem
Charakter gefunden und endlich zeigte die Hepatitis auf Jod¬
kaliumbehandlung eine ausgesprochene Besserung, obzwar die
Ursache dieser Besserung auch unabhängig von der Be¬
handlung der gleichzeitigen Ausbildung des Kollateralkreislaufes
zugeschrieben werden könnte.
Die klinische Diagnose wurde durch die Sektion, welche
Herr Dr. Kirälyfi, Assistent des II. pathologisch-ana¬
tomischen Instituts, vornahm, vollständig bestätigt. Der
Sektionsbefund war folgender ;
Die abgemagerte Leiche ist auffallend anämisch. Der Bauch
vorgewölbt, ln der Bauchhöhle 2'5 Liter reines Serum. Das
Peritoneum glatt und glänzend. Ausgedehnte Verwachsungen
zwischen dem Zwerchfell, der Leber bzw. der Milz und dem
Peritoneum der vorderen Bauchwand. Aus dem atrophischen
rechten Leberlappen gehen zahlreiche fächerartig angeordnete
Stränge zum Peritoneum des Zwerchfells. Im Epigastrium ist der
linke Leberlappen sichtbar in der Größe von zwei Fäusten,
welchen ähnliche Adhäsionen mit dem Zwerchfell verbinden. Am
Halse sind mehrere erbsengroße, harte Drüsen zu finden, deren
Schnittfläche glattweiß ist. Die Pleura ist mit Ausnahme der
rechten unteren Lungenoberfläche frei, dort ist sie mit dem
Zwerchfell fest verwachsen. Das Herz ist, abgesehen von der
Anämie, normal. Die Lungen ödematös. Die Aorta glatt, glänzend.
Die Milz bedeutend vergrößert, ihre Kapsel fibrös verdickt, die
Schnittfläche blaßrot, anämisch, glatt, mit ausgesprochener Binde¬
gewebsbildung. Die Leber bedeutend verkleinert, deformiert, be¬
sonders atrophisch ist der rechte Lappen, dessen unterer Rand
papierdünn ist. Sonst zeigt die Leber das ausgesprochene Bild
einer interstitiellen Entzündung. Die Gallengänge sind frei, die
Gallenblase enthält wenig Galle. Der Hauptstamm der Vena
portae ist frei, die nächsten Aeste hinter dem Duodenum, wie
auch die Vena lienalis sind thrombotisiert. An der Stelle
des Pankreas befindet sich zähes, weißes, nar¬
biges Bindegewebe, Drüsengewebe ist gar nicht
sichtbar. An der Schnittfläche kommt das Lumen der
Art. pancreatica zum Vorschein. Im Magen wie in den Gedärmen
ist überall flüssiges Blut. Die übrigen Organe sind hochgradig
anämisch. Die mikroskopische Untersuchung des Pankreas, die
ich ebenfalls Herrn Dr. Kirälyfi verdanke, zeigt eine aus¬
gesprochene Bindegewebswucherung mit teils jungen, rundzellen¬
reichen, teils zellenarmen faserreichen, ja sogar teilweise hyalin
degenerierten, narbigen Bindegewebssträngen. Das eigentliche
Drüsengewebe ist beinahe ganz verschwunden, nur hie und da
sind einige Azini sichtbar, deren Zellen aber auch teils degeneriert,
teils ganz nekrotisiert sind. Die L a n g e r h a n s sehen Inseln
sind ganz verschwunden. Aehnlicherweise sind auch im über¬
wucherten Bindegewebe nekrotische Teile zu sehen. Die Gefä߬
wände sind teilweise verdickt.
Das anatomische, bzw. mikroskopische Bild entspricht
in diesem Falle dem Endstadium des durch Hansemann
zuerst als »genuine Granularatrophie« bezeichneten
Bildes. Die ähnliche und schon vier Jahre vorhin festge¬
stellte Erkrankung der Leber, läßt mit voller Sicherheit dar¬
auf schließen, daß auch im Pankreas die Bindegewebswuche¬
rung zuerst kam, und daß die eigentlichen Drüsenteile erst
durch diese verdrängt wurden. Die Analogie, die Hanse¬
mann mit der Granularatrophie der Niere aufstellt, scheint
auch hier zutreffend zu sein, denn das mikroskopische
Bild entspricht ganz jenem. Auch in meinem Falle ist eine
Verdickung und| teilweise Obliteration der Gefäße, außerdem
sind auch hier kleinzellig infiltrierte, teils hyalin degene¬
rierte Bindegewebspartien zwischen den wenigen erhaltenen
nekrotischen Drüsengängen zu finden. Die Granularatrophie
des Pankreas hat histologisch denselben Typus wie die pri¬
märe Granularatrophie der Niere, nur erreicht sie aus leicht¬
verständlichen Gründen im Pankreas einen höheren Grad.
Der Unterschied ist also nur ein gradueller.
Wenn nun schon eine Granularatrophie als Ursache
des Diabetes betrachtet wird, so ist es noch immer fraglich,
ob die Schädigung der eigentlichen Azini oder die der
Langerhans ’sehen Inseln die Ursache des Diabetes
bildet. Von vielen Seiten (Di eckhoff. So bol eff, Opie,
Weichselbaum und Stangl, Lancerau x)*) wurde
bestätigt, daß die Erkrankung der L an g e rh a n s sehen
Inseln den Diabetes verursacht, doch stehen nach Naunyn
dieser Annahme noch einige Bedenken entgegen, indem
Schmidt in zwei Fällen, Karakascheff in 11 Fällen
von Diabetes die Inseln verhältnismäßig besser erhalten fanden
als das übrige Pankreasgewebe, während Sauerbeck nur
die Spärlichkeit der Inseln, aber sonst nichts Krankhaftes
fand. Haläsz untersuchte in 30 Fällen von Diabetes die
Veränderungen des Pankreas und folgerte daraus, daß die
Aetiologie des Diabetes im jungen Alter noch unbekannt sei,
manchmal läßt sich vielleicht die Krankheit mit einem an¬
geborenen Defekt des Organes in Zusammenhang bringen;
hingegen beim Diabetes höheren Alters sind stets Blut¬
gefäßveränderungen zu finden. In den letzteren Fällen be¬
schränkte sich die Erkrankung der Gefäße in einigen Fällen
bloß auf diejenigen der Inseln, bei anderen Fällen war der
größte Teil der Pankreasgefäße erkrankt, wieder in anderen
bildete die Gefäßerkrankung des Pankreas nur eine Teil¬
erscheinung der allgemeinen Arteriosklerose. Die Inselver¬
änderungen sah Haläsz öfters neben hochgradiger Schädi¬
gung des Parenchyms, diejenige der Inseln prävalierte aber
stets, nur selten war ein solcher Fall, in welchem die Er¬
krankung der Inseln eine einfache Teilerscheinung der Paren¬
chymerkrankung gebildet hätte. In seiner klassischen Studie
über Pankreaserkrankungen tritt Mayo Robson entschie¬
den für den ätiologischen Zusammenhang der L an ge rh an s-
schen Inseln mit dem Diabetes in die Schranken. An der Hand
teils eigener, teils aus 0 p i e’s Arbeit entstammender mikro-
*) S. Naunyn; Diabetes. — II. Ausg. 1906.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
skopischer Präparate beweist er die Ursachen der verschie¬
denen Auffassungen. Tatsache ist, daß nicht jede interstitielle
l’ankreatitis mit Diabetes verbunden ist. Dies erklärt Mayo
Dobson durch die verschiedenen Formen der interstitiellen
Entzündungen und zwar wären nach ihm dreierlei Formen
zu unterscheiden : 1 . die interlobuläre, bei der die Inseln erhalten
bleiben und kein Diabetes entsteht; 2. die interazinäre,
welche mit der Erkrankung der Inseln einhergeht und immer
Diabetes zur Folge hat; 3. die allgemeine Zirrhose des Pan¬
kreas, welche ebenfalls Diabetes verursacht, da in diesen
Fällen die Atrophie der Inseln auch da zu sein pflegt.
Mein Fall wäre als dritte Form aufzufassen und erlaubt
folglich keine Entscheidung zwischen der ätiologischen Rolle
der Langerhans sehen Inseln und sonstigem - Gewebe,
da beide fast vollständig untergingen. Soviel muß aber doch
hervorgehoben werden, daß in diesem sicher pan¬
ic re a tischen Diabetes die Langerhansschen
Inseln vollständig verschwanden, hingegen
sind Spuren der eigentlichen Drüsensubstanz
noch erhalten, also auch in diesem Falle prä-
valiert der Untergang der La n gerha ns’ s ch en
Inseln,
Der Verlauf der Glykosurie entsprach auch den Tier¬
versuchen, indem der Urin anfangs 9 bis IO'^/q Zucker enthielt,
mit dom Fortschreiten der Krankheit und Abnahme der
Ivräfte verminderte sich der Zuckergehalt auf 3 bis 47o5 ver¬
schwand aber niemals vollständig.
Da in meinem Falle auch diejenigen Teile des Pankreas
schwer erkrankt waren, welche der äußeren Sekretion dienen,
ist es selbstverständlich, daß außer dem Diabetes auch eine
hochgradige Störung der Darmverdauung nachzuweisen war.
Die eingehendere Untersuchung dieser Störung war um so
wichtiger, weil bis jetzt eigentlich nur wenige Fälle ver¬
öffentlicht sind, in denen die Diagnose des vollständigen
Unterganges der Drüse am Sektionstische bestätigt und zu¬
gleich genaue Nahrungsausnützungsversuche angestellt waren.
Außerdem fehlte in diesem Falle die sehr oft vorkommende
und störende Komplikation des Gallengangverschlusses.
Ganz besonders ist aber hervorzuheben, daß in diesem Falle
der weiten Kollateralen zufolge eine nachweisbare Pfort¬
aderstauung nicht vorhanden war, daß also der Einwand,
welchen Brugsch den an einem ähnlichen Falle, doch bei
bestehender Stauung, anknüpfenden Auseinandersetzungen
von Weintraud entgegenstellt, wegfällt.
Ein anderer Ein wand wäre nach ßrugsch, daß meine
Pat. an Diabetes leidet. Hirschfeld betrachtet die Stea-
torrhoe und Azotorrhoe bei Diabetiker für ein sicheres
Zeichen des pankreatischen Ursprunges. Er beschreibt einen
Fall mit 30 bis 357o Fett und Eiweiß verlust bei gleichzeitigem
Diabetes. Es fehlt aber die Bestätigung der Diagnose durch
die Autopsie. Dieser Beobachtung gegenüber erwähnt
Brugsch einen Diabetiker mit 19-77o Fett und lP97o Fi-
weißverlust im Kote, bei gleichzeitiger Azetonurie. Diesem
Pat. gab er einige Tage hindurch die v. N o o r d e n’sche
Haferkur mit 15 0 g Natrium bicarboncium pro Tag, worauf
der Fettverlust auf 5‘67o, derjenige des Eiweises auf 5'17o
herabfiel. Brugsch folgert daraus, daß in diesem Falle
keine Pankreaserkrankung bestand, sondern daß das von
außen zugeführte, wie das aus den Darmsekreten stammende
Alkali zur Absättigung der Azidose resorbiert wurde. Später
erhöhte sich die Azidose trotz derselben Maßnahmen und der
Fettverlust erhöhte sich wieder. Auch in diesem Falle fehlt
die Autopsie. Mit dem Umstande, daß nach Zufuhr
des Alkalis und Regelung der Diät der Fettverlust geringer
wurde, ist noch nicht bewiesen, daß hier keine Pankreas¬
erkrankung vorlag. Denn man könnte die Wirkung der er¬
wähnten Maßnahmen auch so erklären, daß die Pankreas¬
sekretion ungenügend war-, wie aber Deucher, Brugsch
und auch mein Fall (s. u.) zeigt, kann trotz eines ausge-
.■^iwochenen Ausfalles des Pankreassekretes eine Spaltung des
Fettes stattfinden, die Spaltung geht aber größtenteils nur
bis zur Fettsäurebildung. Wird nun Alkali von außen zu-
geführt, so kann Seifenbildung und damit bessere Resorption
entstehen. Der Fall von Brugsch kann folglich ebenso
als Pankreaserkrankung gedeutet werden als nicht. Anderer¬
seits sprechen die Tierversuche, wie andere mit Sektions¬
befunden befestigte Beobachtungen von Diabetes mit Stea-
torrhoe und Azotorrhoe so sicher für Pankreaserkrankungen,
daß ich mit Hirschfeld übereinstimmend in erster Reihe
in solchen Fällen die Annahme eines Pankreasdiabetes für
begründet halte.
Da in meinem Falle die klinische Diagnose durch die
Sektion bestätigt wurde, gewinnen die Untersuchungen über
die Fettausnützung ein besonderes Interesse.
Auf eine gestörte Ausnützung des Fettes mußte schon
bei der einfachen Besichtigung des Stuhles geschlossen wer¬
den. Die Stuhlentleerungen waren Monate hindurch sehr
massig, grau und enthielten außerdem sehr viel flüssiges
Fett, das in der Form von gelblichen, ßüssigen Massen, die
bald nach der Entleerung erstarrten und an der Oberfläche
des Kotes erschienen, sich äußerte.
Das flüssige Fett vermehrte sich sehr auffallend mit
der Erhöhung der Fettaufnahme. So erhielt die Pat. bei einer
Gelegenheit probeweise 200 g Butter außer dem zu der Be¬
reitung der sonstigen Nahrungsmitteln verwendeten Fette.
Damals floß tagsüber das flüssige, ölartige Fett aus dem
Rektum der Pat. Aber selbst, wenn die Nahrung geringere
Fettmengen enthielt, wie z. B. während der ersten Versuchs¬
periode, erschien im Kote auch stets flüssiges Fett. Das von
Ury und Alexander als besonders charakteristisch her¬
vorgehobene Symptom der Pankreaserkrankungen war also
auch in meinem Falle vorhanden.
Eine nächste Frage bildet der absolute Fettgehalt des
Kotes bei Pankreaserkrankungen. Wir finden in der Literatur
zahlreiche Fälle mit Steatorrhoe und viele ohne derselben.
Unter den ersteren befinden sich viele solche Fälle, bei denen
zugleich Ikterus zugegen war. Unleugbar ist aber, daß man
auch in einigen Fällen von unkomplizierten Pankreaserkran¬
kungen einen hohen Fettgehalt fand. Eine nähere Aufklärung
als die einfache Beobachtung des Fettgehaltes des Stuhles,
gaben uns über die Folgen von Pankreaserkrankungen genaue
Stoffwechselversuche. Diese zeigten, daß in den Fällen von
Pankreaserkrankungen 507o oder noch mehr des Nahrungs¬
fettes unresorbiert mit dem Kote verloren gingen.
Eine vielumstrittene Frage bildet, wie sich die Fett¬
spaltung bei Ausfall des pankreatischen Sekretes im Darm
verhält. Nach den ersten Versuchen F. Müllers wäre das
Ueberwiegen des Neutralfettes im Kotfette, d. h. die mangel¬
hafte Spaltung, das Charakteristische. Aehnliche Ansichten
vertraten v. Noorden, Anschütz, Weintraud und
Katz. Der letztere nimmt sogar an, daß nur bei einer Ver¬
minderung der Kotfettspaltung unter 707o Beteiligung
des Pankreas an der Verdauungsstörung zu denken sei. Diesen
LTntersuchungen widersprechen vor allejn die mehrfach be¬
stätigten Tierversuche Abelmanns, die zeigten, d-aß nach
Exstirpation des Pankreas der Kot verhältnismäßig wenig
Neutralfett enthält, daß die Fettspaltung beinahe normal
bleibt, mit dem Unterschiede, daß in dem gespaltenen Fette
die freien Fettsäuren der Seife gegenüber erheblich über¬
wiegen. Diese Versuchsergebnisse fanden in sehr genauen
klinischen Beobachtungen von Deucher, Albu, Zoja und
Brugsch ihre Bestätigung. Sie fanden nämlich, daß bei
teils nachträglich durch Sektionen festgestellten Pankreas¬
erkrankungen eine beinahe normale Fettspaltung im Kote
stattfindet, insbesondere war die Menge der freien Fettsäure
überwiegend u. zw. mehr auf Kosten der Seifen als des
Neulralfettes. Eben diese geringe Menge an Seifen hält Zoja
für ein wichtiges Merkmal behinderter Pankreassekretion, wäh¬
rend Fr. Müller das Mengenverhältnis von freien Fettsäuren
und Seifen von dem Zufalle abhängig hält, nämlich von
der Menge des am Orte der Spaltung anwesenden Alkalis.
Um die in meinem Falle nachweisbaren Störungen für
die Pathologie des Pankreas verwenden zu können, müßten
also der absolute Fettgehalt des Kotes, die Ausnützung des
Nahrungsfettes und die Fettspaltung berücksichtigt werden.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
720
Die Bestimmiingsanordnung, die ich der Liebenswürdigkeit
des Herrn Prof. L. v. L i e b e rm a n n verdanke, war folgende :
Beiläufig 10 g des Trockenkotes standen 24 Stunden lang
in 100 g kaltem Alkohol. Während dieser Zeit wurde die Mischung
mehrere Male gut durchgeschüttelt und nachher ahfiltriert. Im
Filtrat befanden sich die freien Fettsäuren und Seifen, im llück-
stande, der gut mit Alkohol ausgewaschen wurde, blieb das
neutrale Fett. Letzteres bestimmte ich mit dem Soxhletschen
Apparat, indem ich während 72 Stunden extrahierte und nachher
das Fett wog. Das Filtrat wurde zum Trocknen ahgedampft,
nachher mit Aether extrahiert, wobei die ätherlöslichen Fettsäuren
in Lösung gingen, während die Seifen zurückblieben. Von den
Fettsäuren wurde der Aether abdestilliert, die zurückgebliebenen
Fettsäuren getrocknet, gewogen, dann wieder in Alkohol aufgelöst
und mit alkoholischer Kalilauge titriert. Der Rückstand nach der
Aetherextraktion des Filtrats, welcher auch die Seifen enthielt,
wurde in heißem Wasser aufgelöst, mit verdünnter Schwefelsäure
gekocht. Die Seifen gingen infolge dieser Behandlung in die ent¬
sprechenden Fettsäuren über, welche im Schütteltrichter mit Aether
extrahiert und wie oben weiterbehandelt wurden.
Zur Feststellung der Nahrungsausnützung erhielt die Patientin
die von A. Schmidt festgestellte Diätformel. Der Kot wurde in
dreitägigen Perioden gesammelt, getrocknet und so untersucht. In
der ersten Periode wollte ich die Nahrungsausnützung ohne jeg¬
lichen Einfluß untersuchen, während ich in der folgenden Periode
täglich neun Stück Pankreontabletten beigelegt habe. Zur
Abgrenzung des Kotes erhielt die Patientin l’O g Karminpulver
nüchtern. Tags zuvor bekam die Patientin eine von der während
der Versuchsperiode verwendeten ganz abweichende Diät, um
auch dadurch eine genauere Abgrenzung des Kotes zu erreichen.
Die angeordnete Probediät war folgendermaßen zusammen¬
gesetzt :
Einnahme
Trocken¬
rückstand
g
Fett
1
N
1-5 Liter Milch
238-0
48-0
7-3
80 g Hafergrütze
72-0
4-8
1-7
50 g Butter
43-0
42-0
—
125 g mageres Rindfleisch
30-0
2-5
4-4
100 g Zwieback
88-0
10
1-3
Zusainiueu . .
466-0
98-3
14-7
Bilanz
Einnahme an Fett.
Ausgabe durch Kot .
295-0
. 169-0
-f 126-0
Nicht resorbiertes Fett . 57*3'’/o
Einnahme an N
Ausgabe durch Kot
Nicht resorbiertes N
. 44-1
. 14-7
+ 29-4
. 33-47,
Das nicht resorbierte Feit besteht aus:
Neutralfett .
Zwei Fettsäuren . 55*47o
Seifen . 8*0''/o
In den nächstfolgenden drei Tagen erhielt die Patientin bei
obigerDiät täglich neun Pankreontabletten. Die Ausgabe imKot l)etrug
während dieser Periode 250 g Trockensubstanz, von welcher in
je zwei Portionen Fett, bzw. N bestimmt wurde und folgende
Resultate lieferte ;
Ver¬
suchs¬
zahl
Trocken¬
kot
g
Neutral¬
fett
Felt-
säure
Seifen
Gesamt-
Neu¬
tral¬
fett
Fett¬
säure
Seifen
I
9-88
1-1653
3 047
0 284
29 60
77'38
7-21
11
11-26
1-2608
3-283
0-338
27-99
72-88
7-50
I
083
— '
—
—
—
—
—
II
0-83
—
—
—
—
N
0 035
0-035 !
Die Durchschnittswerte berechnet und die freien Fettsäuren
und Seifen auf Neutralstearinfett umgerechnet, ergibt die Kot-
Gesamt-
Zusammen
N des gesamten
Trockenkotes
*
Neutral-
fett
Fettsäure
Seifen
Gramm
7o des
Trocken¬
kotes
Gramm
7o des
Kotes
28-8
78 72
7-7
115-22
4«-07u
10-5
4-2
Bilanz :
Einnahme an Fett
Ausgabe durch Kot
295-00
115 22
Nicht resorbiertes Fett
+ 179 78
Einnahme an N . .
Ausgabe durch Kot .
Nicht resorbiertes N
44-1
10-5
+ 33 6
23-S«/o
Während einer dreitägigen Versuchsperiode wurden daher
295'0 g Fett und 441 g N in Nahrung aufgenommen.
Die Ausgabe im Kot betrug in der ersten Periode 370 g
Trockenkot, von welchen in drei Portionen das Fett, in zwei
Portionen das N bestimmt wurde und folgende Resultate lieferte :
Ver¬
suchs¬
zahl
Trocken¬
kot
g
Neutral¬
fett
Fett¬
säure
Seifen
Gesamt-
N
Neu¬
tral-
fett
Fett¬
säure
Seifen
I
10-07
1-4013
2-434
0-352
51-43
89-33
12 92
—
II
9-86
1-4313
2-357
0-346
53-67
89-40
12 97
—
III
9-66
1-3168
2332
—
50-43
89-32
—
—
I
0-66
_
—
—
—
—
—
0-02555
II
0-68
—
—
—
—
—
—
0-02765
Die Durchschnittswerte berechnet und außerdem die freien
Fettsäuren und Seifen auf Neutralstearinfett umgerechnet, ge¬
stalten sich die Resultate wie folgt :
Gesamt-
Zusammen
N des gesamten
Trockenkotes
Neutral¬
fett
Fettsäure
Seifen
Gramm
7o des
Trocken¬
kotes
Gramm
7o des
Kotes
51-85
■ 936
13 50
169-0
45-6
14-7
4-0
Das nicht resorbierte Fett besteht aus:
Neutralfett . - . . 24-9«/o
Freie Fettsäuren . 68*4*'/o
Seifen . 6*PVu
Wenn wir nun die Ergebnisse der Versuche bei meiner
Pat. betrachten, finden wir, daß die absolute Fett¬
menge des Kotes bedeutend erhöht war, in¬
dem sie 4G'5'Vo der Trockensubstanz bildete. Dies ist um
so bemerkenswerter, da die Fettaufnahme eine verhältnis¬
mäßig geringe war, nämlich 98 3 g pro Tag. Aber noch
augenscheinlicher wird der Fettverlust, wenn das Kotlett mit
dem in der Nahrung aufgenommenen verglichen wird, hier
ergibt sich ein Verlust von 57-37o. Die Ausnützung des
Nahrungsfettes war folglich eine sehr schlechte, so wie man
dies in vielen Fällen von Pankreaserkrankungen fand.
Die nähere Untersuchung des Kotfettes zeigte, daß
dieses so verteilt war, daß 36'67o ^-uf Neutralfett,
55-47o auf freie Fettsäuren und 87o auf Seifen
fielen.
Nach der Angabe von Katz ist mein Fall mit der
03-47o betragenden Fettspaltung beinahe an der Grenze, wo
er überhaupt eine Pankreaserkrankung annimmt. Demgegen¬
über fand auch ich ein bemerkenswertes Ueberwiegen der
Fettsäuren neben den Seifen. In wenig bisher veröffentlichten
Fällen, in denen auch Ausnützungsversuche angestellt wurden,
ist ein vollständiger Untergang der Bauchspeicheldrüse so be¬
stimmt makroskopisch wie mikroskopisch festgestellt wie in
diesem Falle. Dieser Fall bildet bezüglich des Ausfalles der
Pankreassekretion ein Ebenbild der Tierversuche und tat-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
sächlich entsprechen die Ausfallsersclieinungen in vollem Maße
denselben. Ich kann mich daher vollständig dem Salze
llrugschs anschließen, »daß mangelhafte Fettspaltung kein
Attribut der Pankreaserkrankung ist«, ich muß vielmehr auch
denjenigen beistimmen, die das Ueber wiegen der freien
Fettsäuren auf Kosten der Seifen als die
charakteristische Eigenschaft des Mangels
der Pankreas Verdauung betrachten.
Wie soll aber die so ausgiebige Fettspaltung bei Weg¬
fall des Pankreassekretes erklärt werden ? Fr. M ü 1 1 e r unter¬
suchte den Einfluß der Darmbakterien, fand jedoch, daß diese
die Spaltung nur in geringem Maße befördern. Eine wichtigere
Rolle dürfte nach Volhard die fettspaltende Wirkung des
Magensaftes haben, welche aber nur auf natürlich emulgiertes
Nalirungsfett einen derartigen Einfluß ausübt. In diesem Um¬
stande dürfte vielleicht die Ursache liegen, daß die ver¬
schiedenen Autoren bezüglich der Fettspaltung bei Pankreas¬
erkrankungen so verschiedene Resultate erhielten. Denn es
ist nicht ausgeschlossen, daß, ähnlich wie in meinen Ver¬
suchen, in jenen Fällen, welche gleichlautende Resultate
lieferten, ein bedeutender Teil des Nahrungsfettes in fein
emulgierter Form gereicht wurde. So erhielt meine Pat. bei¬
nahe die Hälfte des Nahrungsfettes in Form von Milch. Außer¬
dem fand in neuerer Zeit Roldyreff eine Darmlipose und
F r o u i n konnte beweisen, daß im Darme bei Ausschluß des
Pankreassaftes, besonders bei freiem Zufluß der Galle, eine
ausgiebige Fettspaltung stattfindet, daß also der Darmsaft
selbst einen aktiven Anteil an der Fettverdauung hat. Das
fettspaltende Ferment des Magens, vereint mit demjenigen
des Darmes, außerdem die Mitwirkung der Darmbakterien,
vermögen gewissermaßen die Fettspaltung des Pankreassaftes
zu ersetzen. Diese Einwirkung der gena-nnten
Faktoren ist aber wahrscheinlich ausgiebiger,
wenn diese das Fett an einer womöglich
großen Wirkungsoberfläche an greifen können.
Hierin mag der Vorteil des emulgierten
Fettes liegen. Darum wären bei Pankreaserkrankungen
vergleichende Ausnützungsversuche wünschenswert, in denen
bei denselben Kranken einmal überwiegend emulgiertes, ein
anderes Mal nicht einulgiertes Fett zu geben wäre. Ich glaube,
daß derartige Versuche den Gegensatz der bisherigen Unter¬
suchungen erklären würden.
Minkowski und A b e 1 m a n n fanden in Tierver¬
suchen, daß sich die Fettresorption nach Pankreasexstirpation
bei gleichzeitiger Pankreasfütterung besserte. Viel¬
seitig verwendete man seither, teils mit Erfolg, Pankreas¬
präparate bei Fettstühlen.
Genaue vergleichende Nahrungsausnützungsversuche
stellte Salamon an und fand, daß der Fettgehalt des Kotes
abnahm. Einen ähnlichen Versuch nahm ich bei meiner Pat.
vor. Sie erhielt neun Stück Pankreontabletten täglich,
welche sie während den Mahlzeiten einnahm. Der Vergleich
der Nahrungsausnützung sei in der folgenden Tabelle angegeben:
Wie aus den vorliegenden Tabellen ersichtlich ist, be¬
wirkte das Pankreon eine bedeutend bessere Nahrungsaus¬
nützung. Das Kotfett wurde um 3P8°/o weniger. Interessant
ist es, die Wirkungsweise des Pankreons auf die Fettspaltung
zu verfolgen. Die größte Abnahme zeigt das Neutralfett im
Kot, indem es um 57-57o nach Einwirkung des Pankreons
abnahm. Die Seife zeigt auch prozentuell eine bemerkens¬
werte Abnahme, die absolute Menge ist aber so gering, daß
diese Aenderung kaum in Betracht kommt. Demgegenüber
änderte sich der Gehalt an freien Fettsäuren nur um 15'87o-
Das Pankreon hat daher eine bessere Spaltung und auch
eine ausgiebigere Resorption des Fettes herbeigeführt. Noch
augenscheinlicher wird dieses Resultat bei der Vergleichung
der prozentuellen Verteilung des Kotfettes vor und nach
der Pankreonbehandlung. Daraus ergibt sich, daß während
vor der Behandlung 36'67o auf das Neutralfett fiel, dieses
während derselben nur 24'97o betrug, die Seifen fielen von
8 0 auf 6-77o, hingegen erhöhte sich der freie Fettsäuregehalt -
von 55‘47o auf 687o- Aus diesem läßt sich leicht die Wirkung
des Pankreons ermitteln. Es befördert vor allem die Spaltung
des Neutralfettes in Fettsäuren und nachdem, trotz der
prozentuellen Erhöhung der freien Fettsäuren, diese wie
die Seifen sich in ihrer Menge absolut verminderten, muß
man annehmen, daß das fehlende Neutralfett gespalten, in
Seifen umgewandelt und so zur Resorption fertiggestellt,
tatsächlich resorbiert wurde. Nachdem aber der prozentuelle
Fettsäuregehalt höher wurde, kann man annehmen, daß mit
dem Pankreon nicht genügend Alkali im Darm vorhanden
war. Es wäre also zu überlegen, ob mit dem Pankreon
nicht zugleich größere Dosen von Alkalien zu geben wären.
Freilich könnte man jedoch dadurch vielleicht die Magen¬
funktion, deren Aufrechterhaltung aber besonders in Fällen
von Pankreasinsuffizienz schwer in die Wagschale fällt, be¬
einträchtigen.
Hier möchte ich noch einen zweiten Fall erwähnen
aus der Privatpraxis meines Chefs Herrn Prof. A. v. Koränyi.
Dieser Kranke leidet seit Jahren an Steatorrhoe, außerdem
zeigte sich vor einem Jahre 17o Zucker im Harne. Nach
entsprechenden diätetischen Maßnahmen schwand der Zucker
nach einigen Tagen. Die Steatorrhoe behandelte Herr Professor
V. Koranyi mit Pankreontabletten, welche sich sehr gut
bewährten. Ohne Pankreon hat der Pat. unaufhörliches Ab¬
führen, wobei der Kot größtenteils aus ölartig flüssigem Fett
bestand. Nach Einnahme des Pankreons hat der Pat. regel¬
mäßigen Stuhl. Seit Jahren benützt dieser Kranke das
Pankreon.
Diese beiden Fälle bestätigen die Erfahrung, daß bei
Erkrankungen des Pankreas, die sekretorische Funktion des
Organs durch Verabreichung der Organpräparate zu gutem
Teil ersetzt werden kann. Diese Wirkung wird aber den Ver¬
lauf der Krankheit sehr günstig beeinflussen, denn sie wird
die bei Pankreaserkrankungen auftretende rasche Abniagerung
Periode
Trocken¬
kot
Neutral¬
fett
Freie
Fettsäure
Seife
Gesamt¬
fett
inGramm
Fett
7o
des Kotes
N
inGramm
in “/„
I.
370
51-85
93-6
1356
169-0
45-6
14-7
40
ohne Pankreon
II.
250
28-8
78-72
7-7
115-22
46-1
10-5
4-2
mit »
120
23-05
14-88
5-86
53-78
—
42
—
Abnahme in Gramm
32-47o
57-57o
15-8%
430/0
31-80/0
+ O50/0
28-6o/„
+ O-20/o
» in Prozenten
Das nicht resorbierte Fett bestand aus :
Ohne
Mit
Pankreon 1
Neutralfelt .
36-6o/o
24-90/0 j
Freie Fettsäure. . . .
55-40/,
68-40/0
Seifen .
8-O0/0
6-70/0
und den mit dieser verbundenen Kräfteverfall des Pat. wesent¬
lich verhindern.
Der Wegfall des Pankreassekretes macht sich auch in
dem Eiweißumsatz fühlbar.
Hier finden wir schon volle Uebereinstimmung mit den
Tierversuchen. Abelmann fand nach Pankreasexstirpation
sehr große N-Verluste durch den Kot. Diese wurden klinisch
bei Pankreaserkrankungen vielseitig bestätigt und für ein
wichtiges Symptom derselben anerkannt. Die genauen
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
727
Ausnützungsversuche Weintrauds, Deuche rs, Hirsch¬
felds und Brugschs wiesen einen N-Verlust von
20 bis 407o nach, wobei der Trockenkot beiläufig 4% N ent¬
hielt. Meine Versuchsresultate stimmen vollständig überein
mit deren Angaben, indem der Trockenkot 47^ N ent¬
hielt, das einem 33-67oigen S t i ck s t o f f v er 1 u s t e der
aufgenommenen Nahrung entspricht. Diesem großen Eiwei߬
verluste entsprechend waren im Kote in großer Menge
quergestreifte Muskelreste zu finden.
Die Pankreonverabreichung bewirkte auch eine bessere
Ausnützung des Nahrungseiweißes. Der Stickstoffgehalt des
Kotes nahm um 28'67o ^-b.
Bemerkenswert ist, daß der Zuckergehalt des Urines bei
Pankreongebrauch unbeeinflußt blieb.
Die I n d i k a n r e a k t i 0 n des Harnes blieb bei wieder¬
holter Untersuchung negativ.
Dieses von Le Nobel als Ausfallserscheinung der
Pankreasfunktion betrachtete Zeichen kann ich also auch
bekräftigen.
Nach einer größeren Fettaufnahme hatte die Pat. einmal
eine Lipurie. An der Oberfläche des Harnes schwamm
eine nach Butter riechende fettige Masse.
In dem späteren Stadium der Krankheit trat ähnlich
wie in den Versuchen v. Mer in gs und Minkowskis eine
hochgradige Azetonurie auf.
Fig. 2.
Die Zirrhose der Bauchspeicheldrüse führte zu einer
hochgradigen Abmagerung. Die Pat. verlor in einigen Wochen
18 kg von ihrem Körpergewicht, trotzdem sie ganze Unmassen
von Speisen verzehrte. Die merkbaren Erscheinungen der
Pankreaszirrhose zeigten sich beiläufig ein Jahr vor dem
Tode. Der Verlauf der Krankheit wurde eigentlich durch die
komplizierenden Magenblutungen beschleunigt.
Nicht nur die Pankreaserkrankung, sondern auch der
Verlauf des Hepatitis verdient besprochen zu werden.
Fünf Jahre vor dem Tode zeigten sich die ersten Symptome
der Hepatitis. Im Anfang Milztumor mit Leibschmerzen, bald
nachher ein isolierter Aszites, dessen Bestand ein Jahr hin¬
durch in der Klinik verfolgt wurde.
Die Pat. wurde nach einer erfolgreichen Kalomeldiurese,
mit der Verordnung von Jodkali aus der Klinik entlassen.
Letzteres nahm sie Monate hindurch. Nach vier Jahren sahen
wir die Pat. wieder, der Aszites soll sich in der verlaufenen
Zeit nie erneuert haben, tatsächlich konnte man nicht die
geringste Spur von einer Flüssigkeitsansammlung in der
Bauchhöhle nachweisen.
Die Erklärung fanden wir schon in vivo, aber noch viel
ausdrücklicher bei der Sektion. In vivo sah man viele er¬
weiterte und geschlängelte Venen an der Haut der Brust
und des Bauches. Außerdem bestanden Zeichen, die darauf
hin wiesen, daß Verwachsungen zwischen der Pleura, der Dia¬
phragma und der Leber bestehen. Die physikalischen Zeichen
waren, daß die rechte Thoraxhälfte an der Atmung kaum
teilnahm, die untere Lungengrenze tiefer stand und ihre
Mobilität einbüßte, außerdem war über der rechten Lunge ab¬
geschwächtes Atmen hörbar. Eine rechtsseitige Pleuritis
war aus der Anamnese nicht annehmbar. Die Röntgendurch¬
leuchtung zeigte noch mehr, indem die rechte Zvverchfells-
hälfte beim Atmen ihren Stand kaum änderte. Dies bekräftigte
die Annahme, daß es sich hier um ausgedehnte Verwachsungen
handelt. Bei der Sektion fand man wie die beigelegte Photo¬
graphie zeigt, ausgebreitete fächerartige Verwachsungen zwischen
der Leber, der Milz und Diaphragma, welche wieder an
ihrer Brustseite mit der unteren Fläche der rechten Pleura,
bzvv. Lunge ganz flächenartig verwachsen war. Außerdem
gingen Bindegewebsstränge von der Leber und Milz zur vor¬
deren Bauchwand.
Diese Verwachsungen vermittelten neue Bahnen zwischen
der Pfortader- und Cava-Zirkulation in so ausreichender Weise,
daß diese genügten zur Aufhebung der Pfortaderstauung,
was darin zum Ausdruck gelangte, daß der Aszites für immer
verschwand.
Es entstand in diesem Falle auf natürlichem Wege ein
Ausgleich, wie man ihn mit der Talmaschen Operation
anstrebt. Dieser Fall bildet einen Beweis für die Richtigkeit
des Prinzipes der Talmaschen Operation.
Die von 1 1 o und 0 m i auf experimenteller Basis be¬
gründete Ansicht, daß die Hauptsache die Entstehung aus¬
gedehnterer Verwachsungen der Eingeweide mit der Bauch¬
wand, d. h. des Pfortader- und Cavagebietes ist und daß die
Verwachsung des Omentum nur von bedingter Wichtigkeit
ist, findet auch hier eine Bestätigung.
Zwei Wochen vor dem Tode entstand bei der Pat. ein
rapid wachsender Aszites, mit dem gleichzeitig Magen- und
Darmblutungen auftraten. Diese Erscheinungen suchten wir
mit einer Pyelothrombose zu erklären. Bei der Sektion fand
man zwar den Hauptstamm der Vena portae frei, die folgen¬
den zwei Hauptäste waren aber thrombotisiert.
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Chirurgie, Bd. 62, Heft 1 — 2.
Aus dem Moskauer Marien-Krankenhaus.
Ein Fall von Leberzirrhose mit Keratin
behandelt.
Von Dr. S. M. Zypkiu, Privatdozent der Universität Moskau.
-In unseren vorauagoihenden Arbeiten, die der Keratin¬
behandlung der interstitiellen Erkrankungen gewidmet sind,
beschränkten wir uns ausschließilich auf die entsprechenden
Erkrankungen des Rückenmarks. Seinerzeit gaben wir die
Erklärung dafür ab, warum wir es vorzogen, die Beobach-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHrIET. 190?.
Nr. 24
tiiiigcii iil)(!r (li(‘ tlirrapeulischc Wirkung des Keralins mil
den Kraiikbeiteii des Zenlraliierveiisystems zu Lcgiimeii.
Als Hauplgnuid diente di,e Erwägung, ,daß| bei den inter-
slilielbni Erkrankungen des Zentralnervensystems die ge¬
ringsten Scbwankungen in der Intensität der patbologiscb-
anatomiscben Veränderungen der kbniscdien ßeobacbiung
weit zugänglicber sind als in den übrigen parencbymatüsen
Organen.
Die mit der Keratinbebandjung bei Tabes dorsalis,
chroniseber Myelitis und disseminierter Sklerose erzielten
Erfolge fiibrten wir auf die Fälligkeit des Keratins zurück.
Olulin zu bipden, diesen cbemiscben Hauptbestandteil dos
Bindegewebes. Es mußi jedocb bemerkt werden, - daß die
günstige tberapeutiscbe Einwirkung des Keratins bei inter-
slitiellen Erkrankungen des Nerv^ensystems aucb eine andere
Erklärung zuläßit. Es laucbt nämlicb die Frage auf, ob
nicbt in diesen Fällen das Keratin unmittelbar auf die
parenchymatösen Elemente des Nervensystems einwirkt,
indem es ihre Ernäbrung bessert. Zugunsten dieser Annabme
würde , sogar bis zu einem gewissen Grade der Umstand
sprechen, daß das Neurokeratin, ein Stoff, welcber einen
Bestandteil der Nervenzellen und Nervenfasern ausmacbt,
sieb seiner cbemiscben Zusammensetzung nacb nur sehr
wenig vom gewöbnlichen Keratin untersebeidet. Kübne
uml Cbittendeito) fanden im Plexus bracbialis 316°/oo,
in der Klei.ubirnrinde 3-12'’/()ö, in der weißen Substanz des
(Iroßbirns 22-43‘’/()o, in der weißen Substanz des Corpus
callosum 25-72 bis 29-ü2'Voo und in der grauen Subslanz
der Großibirniinde 3-27Vüo Neurokeratin.
Wir balten die erstere Erklärung für wabrscbeinlicbor,
sebon deswegen allein, weil wir Gelegenbeit batten, das
Keratin bei rein i)arencbymatösen Erkrankungen desZentral-
nervensysteins zu verordnen, jedocb obne jeglicben Erfolg.
Um jedocb die Frage, welche von den beiden oben an-
gefübrteii Deutungen der Wabrbeit näber kommt, endgültig
zu entsebeiden, sind Beobacblungen über die tberapeutiscbe
Einwirkung des Keratins bei interstitiellen Erkrankungen
anderer parouclbyinatöser Organe, wie der Leber, der Nieren,
des Herzens u. a., erforderlicb, wO' natürlicb von einem
unmittelbaren Einflußides Keratins auf die parencbymatösen
Elemente keine Rede sein kann. Von diesem letzteren Ge-
siebtspunkte aus, ist ein Fäll von Leberzirrbose besonders
iuteressaid, in welcbem wir zu Bebandlungszwecken Keratin
anwandten. Wir geben zur Besebreibung dieses Falles über.
tkit. E. A., Küstersfrau, aufgenomnaen in das Moskniior
.Marien- Krankenhaus am 2. Februar 1905. Pat. .wohnt beständig
•auf dem l.ande, wo sie sich mit Hauswirtschaft, zeitweise auch
mit Feldarlx'it heschäfligl.. Iln- Vater litt an hochgradiger Trunk-
siudit und slaih in' <‘inem Alter von 58 .fahren an Schwind-
siudit. ihre .MutUu- slai’h ü5 .fahre alt an irgendeiner Magenkrank-
lu'it. (ics(diwist('r sind am Leheii uiid gesund. Pat. hat zehnmal
geboren und außerdem vor zehn .lahren einen Ahoi't durcbgemachl.
Die letzte Gehurt war Anfang .funi 1904. Einige Zeit nach der
h'tzteii G(4)urt begann Pat. zu bemerken, daß sich ihr Leih
vergrößerte. Bald tlarauf traten Uedeme des Gesichtes, der Ex¬
tremitäten, sowde des Rumpfes auf. Diese Schwelluiigen ver-
schwamh'u zeitweilig und stellten sich sodann von neuem ein.
Di(' l'ergiaößierung des Leihesmnfanges nahm jedoch stetig und
allmählich zu. Bis zur gegenwärtigen Erkrankung war Patiimtin
stets gesund, ohne an irgendwelchen nennenswerten Kraukludteu
zu leiden.
Status praesens: Pat. sieht sehr al)gem.agert aus. Haut
und sieht har(‘ Schleimhäute l)laßi. Gesichtslärhe grüidichgraii. Eis
zu den Knien leicheiule.s Oedem der Beine.
ä' e r d a u un gs o r ga ne ; Zunge idcht belegt. Schluckakt un-
heldmhul. Apijetit ladib'digend. Gefühl von Schwere und
Schmerzen in d<‘r Magimgruhe nach dem Essen. Weder Aufstoßen,
uech Sodhremnen, no(di ladielkeit, mxdi Erhrechen. Stuhlgang
i-‘g(>ijii;iiii;i', 'Uiglieh. Ahdomen erlu'hlich vergrößert.. Umfang des
L-eÜM-s in Xahelhöhe in stehender Stellung = 110 cm. Perkussion
dos ,\hd->iuens im Slelum ('rgiht Dä.mi)fung. Die olrere Grenze
der Dänrj'fujig veifäuft vier Queifinger breit olMuhalh des Nabels.
Di-uMi(h(‘ Fluktuation.
b Zit. nach Hammarslen, Tjehibucli der physiolog. Chemie.
Leber Ijedeutend vergrößeil, auf Druck nicht, schmerz¬
haft. Der Rand ist stumpf, die Oberfläche leicht höckerig. Der
Leherrarul ragt unter dem Rippenbogen hervor, an der Linea
mannllaris dextra um sechs Finger breit, an der Linea para-
sternalis dextra um sechs Finger, am Schwertfortsatze um sechs
Finger, an der Linea parasternalis sinistra um fünf Finger, an
der Linea mamillaris sinistra um drei Finger breit.
Milz nicht palpahel.
Urogenita lap parat: Harnlassen normal. Letzte Men¬
struation im Juli 1904. Uterus verkleinert, derb, bart. Portio
vaginalis verstrichen. Uteruskörper ein wenig retroflektiert.
Ovarien nicht palpahel.^) Tägliche Urinmenge 700 cm^. Spezi¬
fisches Gewacht 1018. Farbe gelb. Reaktion sauer. Weder Eiweiß
noch Zucker. Im zentrifugierten Bodensätze nichts Abnormes.
Respirationsorgane: Unbedeutender Husten mit
schleimigem Auswurfe. Perkussion und Auskultation der Lungen
ergibt nichts Abnormes.
Zirkulations Organe: Dyspnoe. Herzstoßi im sechsten
Zwischeni‘ii)penraume in der Linea axillaris anterior. Obere Herz¬
grenze an der vierten Rippe, rechte an der Linea sternalis dextra,
linke an der Linea axillaris anterior. Bei der Auskultation des
Herzeus systolisches Geräusch an der Herzspitze. Arterien skle-
rosierl. Puls 90, Arterie von schwacher Füllung.
Nervensystem bietet keine Abweichungen von der
Norm dar.
L y m p h d r ü s e n ni rgejids vergrößiert,.
Krank he its verlauf: Einige Tage nach ihrer Aufnahme
ins Krankenhaus wurde der Patientin Coffeinum natrosalicylicum
0-2 + Calomel. 01, dreimal täglich eine Oblate verordnet. Die
llrinsekreiion begann zuzunehmen und erreichte 2000 cm^ in
24 Stunden. Nichtsdestoweniger verringerte sich der Aszites nicht
im mindesten, sondeiai nahm im Gegenteile sogar noch etwas
zu. So betrag am 11. Februar 1905 der ßauchumfang in der
Höhe des Nabels 111 cm, hatte sich also um einen Zentimeter
vergi'ößert. Angesiclits dessen, sowie infolge der zunehmenden
Dyspnoe wurde am 16. Februar die Punktion des Abdomens vor¬
genommen und aus der Bauchhöhle zwölf Liter einer grünlichen
seröseji Flüssigkeit entleert. Der Bauchumfang betrug nacli der
Punktion 92 cm. Das Oedem der Beine verschwand nach einigen
Tagen vollständig und trat, solange die Patientin im Kranken¬
hause verweilte, nicht mehr wieder auf. Der Leibesumfang hin¬
gegen began Ji nach kurzer Zeit von neuem anziwacbsen. Am
24. Februar betrag er 95 cm, am 3. März erreichte er bereits
101 cm. Die täglich ausgesebiedene Harnmenge schwankte , in
dieser Zeit zwischen 800 und 1500 cm®. Sogleich nach ihrer
Aufnahme ins Krankenhaus stellte sich bei der Palientin Neigung
zur Verstopfung ein, welche die ganze Zeit über hartnäckig an-
bielt. Da Stomatitis auftrat, wurde das Kalomel ausgesetzt und
der Kranken Koffein allein verordnet, das' sie bis zum 3. März
1905 gebrauchte.
Am 2. März wurde an die K e r a t i n b e h a n d 1 u n g ge-
schritten. Angesichts der Stauung im Pfortaderkreislaufe konuten
wir nicht auf eine ausreichende Verdauung und Resorption des
Keratins rechnen. Deshalb zogen wir es vor, das Keratin sub¬
kutan zu applizieren: Keratini 2-0 + Solutio natrii bicarbonici
IG' 10 0, eine Spritze täglich.
Im Laufe der ersten beiden Vlonate nach Einleitung der
Keratinbehandlung nahm der Aszites fortdauernd zu ^und der
Bauchumläng erreiclde am 28. April 1905 109 cm. Die tägliche
Urinmenge schwankte vom 3. März bis zum 28. April zwischen
1000 und 1600 cm®. Seit den ersten Tagen des Mai begann jedoch
der Aszites abzunchmen. So betrag der Bauchumfang am 3. Mai
108 cm, am 5. Mai 107 cm, am 7. Mai 105 cm, am 9. Mai 102 cm,
am 21. Mai 100 cm, am 23. Mai 99 cm.
Am 24. Mai wurde die rechte Herzgrenze an der Linea
mediana hestimmt. Die Dyspnoe ver.schwand zu dieser Zeit voll¬
ständig. Das Befinden der Kranken erfuhr eine erhebliche Besse¬
rung. Der Kräfteverläll nahm ab. Die täglich ausgeschiedene
Harnmenge schwankte vom 28. April bis znrn 26. Mai zwischen
1200 uud 2000 cm®. Am 26. Mai erreiclde der Baucluimfang
95 cm. Dia Leber ragte unter dem Rippenbogen hervor an der
Linea mamillaris dextra um fünf Finger, an der fänea i)ara-
sternalis dextra um fünf Finger, am Processus xipboideus um
fünf Finger, an der Linea parasternalis sinistra um vier Finger
l)i-eit und an der Line-a mamillaris sinistra konnte sie bereits
gar nicht mehr palpiert werden.
Angesichts der erheblichen Besserung in den Verhältnissen
der nonualen Blutzirkulation wurde d<“r Kranken am 27. Mai
das Keiatiii innerlich verordnet: 10 Tabletten täglich ä 0-5.
Der Genitalbefund wurde von Herrn Dr. N. Smirnow am
2. Dezember 1905 erhoben.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
729
Dio vsuhkii lauen Koraliniiijeklionc'ii wurden a,iu 12. Juni ausgeselzt.
Von diosom Tage au ualuu Dal. das Iveraliii ausscldießlicli inner¬
lich. Am 24. Juni helrug der Umfang des Abdomens 94 cm. Am
28. Juni ragle der Leberrand unter dem Rippenbogen Iiervor an
der Linea niamillaiis dextra um zwei Finger, an der Linea para-
slernalis dextra um drei Finger, am Processus xiphoideus um
fünf Finger, an der Linea paraslernalis sinistra um zwei Finger
breit, an der Linea inamillaris sinistra wird er gar niclit palpiert.
30. Juni. Recbte Herzgrenze in der Linea mediana, linke
einen Finger breit nach außen von der Linea inamillaris sinistra.
Haiudmmfang 94 cm. Puls 84, von guter Füllung.
21. Juli. Baucbumfang 93 cm.
27. Juli. Baucbumfang 92 cm.
8. xUigtist. Leber ragt hervor an der Linea maxillaris dextra
um zwei Finger, an der Linea parasternalis dextra um drei
Finger, am Processus xiphoideus um fünf Fingei', an der Linea
])arasternalis sinistra, um zwei Finger breit, an dei- Linea ma-
niillaris sinistra nicht palpabel. Bauchumfang 91 cm.
11. August. Bauchumfang 89 cm.
15. August. Bauchumfang 87 cm.
27. August. Bauchumfang 87 cm. Bei Perkussion des Ab¬
domens in aufrechter Stellung Dämpfung, die fünf Finger breit
unferbalb des Nabels beginnt.
24. September. Leber ragt unter dem Rippenbogen hervor
an der Linea mamillaris dextra um zwei Finger, an der Linea
parasternalis dextra um zwei Finger, am Processus xiphoideus
um fünf Finger, an der Linea parasternaJis sinistra um zwei
Finger breit. Bauchumfang 87 cm.
25. September. Zum ersten Male nach einer Pause von
14 Monaten stellte sich die Menstruation ein.
2(). September. Bei Perkussion des xVbd omens durchwegs
tympanifischer Schall.
30. September. Menstruation beendet.
9. Oktober. Bauchumfang 87 cm.
15. Oktober. Bauchumfang 89 cm.
Was die täglich ausgescbiedeno Harnmenge betrifft, so
schwankte sie vom 27. Mai bis zum 12. August zwischen 1200
und 1800 cm*. Nur dreimal erreichte sie 2000 cm*. Vom 12. August
bis zum 1. Februar 1906 schwankte sie zwischen 2000 und
2600 cm*. Mehrere Male erreichte die tägliche LI rinmenge an
die 3000 cm*. Unter 2000 cm* sank sie bloßi zwölfmal.
Vom 15. Oktober an wurde eine allmähliche Ansammlung
von Flüssigkeit in der Bauchhöhle, hei gleichbleihender täglicher
H a r m n en g e beobachtet.
19. Oktober. Bauchumfang 91 cm.
2400 cm*.
25
2400 cm*.
1.
2000 cm*.
6.
2200 cm*.
17.
2400 cm*.
24.
2400 cm*.
27.
Tägliche
Oktober. Bauchumfang 93 cm. Tägliche
November. Bauchumfang 91 cm.
Harnmenge
Harnmenge
Harnmenge
Tägliche
Noveinber. Bauchumfang 91 cm. Tägliche Harnmenge
November. Bauchumfang 90 cm. Tägliche Harnmenge
November. Bauchumfang 89 cm. Tägliche Harnmengc
November. Beginn einer heftigen menstruellen Blutung,
die bis zum 2. Dezember anhält.
T9. Dezember. Bauchumfang 91 cm. Harnmenge 2400 cm'.
24. Dezember. Menstruation, die bis zum 31. Dezember
anhält. . . .
2. Januar 1906. Untere Lebergrenze : an der Linea manullans
und parasternalis dextra zwei Finger breit, am Processus xyphoi-
deus vier Querfinger breit unterhalh des Rippenbogens, an uei
Linea parasternalis und mamillaris sinistra nicht jyalpabel.
14. Januar. Bauchumfang 96
17. Januar. Bauchumfang 94
18. Januar. Bauchumfang 93
20. Januar Bauchumfang 95
23. Januar. Menstruation, die
cm.
cm.
cm.
cm,
Harnmengc 2000 cm*.
Hammenge 2500 cm*,
bis zum 30. Januar anhilt.
Seit dem 1. Februar wurde eine Abnahme tier täglich aus-
geschiedenen Urinmenge beobachtet. Meist betrii^g sie weniger
als 2000 cm*. Bloß zweimal erreichte sie diese Ziffer, iiämlich
12. und am 29. März.
am
5.
Februar.
Februar.
Februar.
Februar.
Februar.
IMenstiuat ionsbeginn.
Februar. Menstruation
10.
12.
17.
18.
Harnmengc
Harnmenge
Harnmenge
Harnmenge
Harnmenge
Bauchumfang
1600 cm*
1500 cm*. Bauchurnl
1800 cm*
1300 cm*
1200 cm*
Bauchumfang
Bauchumfang
Bauchumfang
96
95
99
96
95
cm.
cm.
cm.
cm.
cm.
25.
beendet. Bauchumfang 93 cm.
9. JMärz. llainmengt; 1800 cm*. Bauclmnifang 94 cm.
11. März. Ihirnmenge 1800 cm*. Rechte llerzgrenzc an
der Linea sternalis sinistra, linke an rler Linea mamillaris sinistra.
Iferzsloß im sechsten Zwischenrippenraume, an der Linea ma¬
millaris sinistra. Herztöne rein.
16. März. Harnmenge 1600 cm*. Bauchumfang 96 cm.
21. März. Harnmenge 1500 cm*. Bauchumfang 98 cm.
1. April. Harnmenge 1900 cm*. Bauchumfang 97 c.m.
5. April. Harnmenge 1800 cm*. Bauchumfang 98 cm.
10. April. Harnmenge 1500 cm*. Bauclmmfang 100 cm.
An diesem Tage verließ die Patientin Familienverhältnisse
halber das Krankenbaus.
Die Temperatur war die gesamte Zeit über, welche die
Patientin im Krankenhause verbrachte, fast stets normal. Nur
selten traten geringfügige Temi)eratursteigerungen auf, welche
gewöhnlich nicht länger als zwei bis drei Tage andauerten.
Die Patientin nalmi 10 bis 30 Keratintabletten täglich zu
sich. Im ganzen hatte sie vom 27. Mai 1905 bis zum 10. April
1906 4800 Tabletten verzehrt.*)
Resümieren wir in Kürze die durch, die Keratinbeliand-
lung erzielten Ergebniisse, so ist zu bemerken, daßi die
Patientin 14 Monate im Krankenhause verweilte, daßi sie
aufgenommen wurde mit Oedem der Beine und mit einem
derart hoebgradigen Aszites, daß, eine vitale Indikation zur
Punktion vorlag. Die Kranke litt an Dyspnoe und hatte ein
fast kachektisches Aussehen. Nach 14 Monaten verließ' sie
das Krankenhaus, ohne daß zum. zweitenmal eine Para¬
zentese vorgenommen wurde und ohne jegliche Indi¬
kationen zu diesem Eingriff. Die Patientin war imstande
schnell zu gehen, ohne daß dabei Dyspnoe auftrat. Aus¬
sehen und .Gesichtsfarbe waren völlig gesund, wenn nicht
gar blühend. Die kolossal vergrößertie Leber hatte sich er-
hehlich verkleinert. Der Aszites, mit welchem sie die An¬
stalt verließ, störte ihr Wohlbefinden nur sehr wenig. Der
liauchumfang war um 10 cm geringer als bei ilirer Auf¬
nahme ins Krankenhaus. Außerdem kann als Beweis für
die beträchtliche Besserung der Blutzirkuiation in der Bauch¬
höhle auf das Wiederauftreten der Menstruation hin¬
gewiesen werden, die bis dahin 14 Monate lang aus-
gesetzt hatte.
Was die Diagnose des betreffenden Falles aniangt,
so lag hier, abgesehen von der Leberzirrhose, bei der Auf¬
nahme der Patientin ins Krankenhaus noch eine Herz¬
dilatation vor, höchstwahrscheinlich auf dem, Boden einer
chronischen Myokarditis. Durch den letzten Umstand
kann bis zu einem gewissen Grade das in den ersten Tagen
ihres Krankenha,usaufenthaltes bei der Patientin beobachtete
Oedem der Beine erklärt werden. Dieses Oedem verschwand
einige Tage nach der Parazentese, um nicht mehr wiederzu¬
kehren. Allem Anscheine nach hat das Keratin auch auf
die Myokarditis eine günstige M/irkung ausgeübt, da die Herz¬
durchmesser, die bei der Aufnahme in das Krankenhaus
bedeutend vergrößert waren, sich allmählich verringerten
und nach einem Jahre (am 11. März 1906) fast die Norm
erreichten.
Nicht leicht ist die Frage zu entscheiden, um welche
xkrt von Leberzirrhose es sich in dem vorliegenden Falle
gehandelt hat. Möglich, daß hier eine portale Zirrhose
voiTag. Das Fehlen einer Milzvergrößierung spricht nicht
im mindesten gegen eine derartige Annahme, da l'rerichs
bekanntlich in der Hälfte dcj' Fälle von irortaler Zirrhose
keine Milzvergrößerung gefunden hat.
In unserem . Fälle ist übrigens auch die Möglichkeit
einer durch Herzinsuffizienz hervorgerufenen Leberzirrhose
(Cirrhose cardiaque) nicht ausgeschlossen. Bis zu ihrer
Aufnahme in das Krankenhaus litt die Patientin außer an
Vergrößerung des Leibes noch an häufigen Oedemen des Ge¬
sichtes, des Rumpfes und der Exlremitäteri, was bei dem
Fehlen irgendwelcher x)athol'Ogischer Lrischeinungen von
seilen der Nieren zum: Teil mit Störungen der Herztätigkeit
in Zusammenhang gebracht werden kann.
*) In diesem Falle wandten wir unter anderen die von Herrn
E. Merck, Darmsladt, horgestellten Keratintablelten an.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 24
Um welch eine Form der Leberzirrhose es sich auch
in dem vorliegenden Falle gehandelt hat, so ist der Heil¬
effekt der Keratin behänd lung jedenfalls sehr deutlich zutage
getreten. Die Leber hat sich hochgradig ver¬
kleinert. Dieser Umstand kann natürlich keineswegs durch
die j\Iöglichkeit des Uebergauges der Leberzirrhose in das
atrophische Stadium erklärt werden. Eine derartige Mög¬
lichkeit wird durch die Tatsache widerlegt, dah parallel mit
der Verkleinerung der Leber eine Abnahme des Aszites
einherging und daßi die Blntzirkulation in der Bauchhöhle
sich derart besserte, dah sogar die Menstruation sich von
neuem einstellte.
Nicht zu umgehen ist dennoch die Frage, warum die
Flüssigkeit, die Ende September aus der Bauchhöhle völlig
geschwunden war, seit Mitte Oktober sich wieder anzu¬
sammeln begonnen halte. Als Antwort darauf können wir die
Annahme aussprechen, daß irgendeine Komplikation ein¬
getreten ist, die wir uns nicht anders vorstellen können, als
in Form einer Thrombose eines oder mehrerer mehr weniger
großer Aeste der Pfortader.
Zur Farbensinnprüfung im Eisenbahn- und
Marinedienste.
Von Dr. J. Rosmaiiit.
(Schluß. '
Nun wollen wir der Frage nach der Leistungsfähigkeit
der amtlich vorgeschriebenen Methoden (Stilling und
Holmgren) etwas näher zu treten versuchen. Auch darüber
liegen äußerst wertvolle und wohlbegründete Untersuchun¬
gen Nagels vor, wie sie Pisher kaum zur Verfügung
standen. Er ging bei all seinen Kontrollprüfungen von dem
gewiß einzig richtigen Grundsätze aus, daß es keinen anderen
Weg gebe, die Zuverlässigkeit einer für die Praxis
bestimmten Alethode nachzuweisen, als daß man eine große
Anzahl von Personen nach dieser Methode untersucht und
nachher dieselben Personen am Spektralapparate, als dem
unbedingt zuverlässigsten Verfahren nachprüft. Nur so kann
man zu objektiven und einwandfreien Ergebnissen gelangen
und ein wirklich verläßliches Urteil über den Wert eines
bestimmten Prüfungsverfahrens gewinnen.
Bezüglich der Stilling sehen Tafeln wurde in der
Hauptsache folgendes erhoben :
Nicht lesen können die Tafeln 2 bis 9 (1 und 10 liest
jeder, der auch nur gaiiz mäßige Sehschärfe hat) die wirk¬
lichen Dichromaten (Protanopen und Deuteranopen) und die
in etwa gleicher (eher etwas größerer) Zahl vorkommenden
anomalen Trichromaten. Die Mehrzahl der letzteren besteht
die Holmgrensche Probe ohne wesentliche Fehler, wenn
auch meist mit Zögern; ein kleinerer Teil macht rramentlich
bei der Grünprobe bedenkliche Fehler, einige verhalten sich
sogar typisch wie Dichromaten. Am Spektralfarbenmisch¬
apparate, mittels der Rayleighschen Gleichung untersucht,
ergeben sich allesamt als anomale Triebromaten. Doch gibt
es nachweislich eine nicht ganz kleine Zahl von Personen mit
dicbromatisctiem und anomal-trichromatischem Farbensinn,
welche die Probe nacb Stilling bestehen.
Endlich findet man noch eine Grupi)e von Personen,
die wenigstens einen Teil der Tafeln nur mit Mühe, einzelne
gar nicht lesen können und sich bei genauerer Prüfung als
normale Triclmomaten herauss teilen.
Nagel faßt daher seijie Anschauung über den dia¬
gnostischen Wert des Stillingschen Verfahrens daliin zu¬
sammen, daß es als einziges, ausschlaggebendes entschieden
unzulässig sei und ohne Kontrolle durch andere Methoden
zu bedenklich falschen Ergebnissen führen würde, daß es
aber als einleitendes Unlersuchungsverfahren immerhin nütz-
licii sein kann, indem es relativ leicht und annähernd sicher
die Eruierung der weitaus größten Mehrzahl aller Farben-
untüehligen gestattet. Eine Unterscheidung der einzelnen
Systenie und Typen ist mit den Tafeln ausgeschlossen; eben¬
sowenig gibt es eine Kombination mit einer bisher üblichen
älteren Alethode, welche sowohl die Farbenblinden als die
anomalen Trichromaten exakt ermitteln ließe.
Dem H o 1 ni gre n sehen Verfahren haften zwei Mängel
an. 1. Die Notwendigkeit für den Untersuchten, selbst mit
Haud anlegen und eine Auswahl treffen zu müssen. Dadurch
sind wir Zufälligkeiten aller Art preisgegeben ; Befangenheit,
geringe Intelligenz, Mangel an Findigkeit, Farbendummheit
spielen mit herein und können das Verfahren wesentlich
erschweren, wie seine Ergebnisse beeinträchtigen. 2. Der
zu große Gesichtswinkel der farbigen Objekte. An einiger¬
maßen größeren Objekten, wie es die Ho Im gre n sehen
Bündel, aus V2 m Abstand betrachtet, sind, wählen die Ano¬
malen oft fehlerlos ; unter einem vier- bis fünfmal kleineren
Gesichtswinkel betrachtet, nimmt ihr Unterscheidungsver¬
mögen aber ganz bedeutend ab. Es wird dadurch erklär¬
lich, daß die Mehrzahl der anomalen Trichomaten die Probe
ohne wesentliche Fehler wenn auch meist mit Zögern,
besteht.
Aber auch viele Deuteranopen bestehen die WWllprobe
(nanientlich die Purpurprobe) glatt, weil sie, wie oben aus¬
geführt, auf großem Felde (mit den peripheren Teilen der
Netzhaut) nicht mehr dichromatisch, sondern tri chroma tisch
sehen und so eine spezifische Rotempfindung haben. Der
Gesichtswinkel, unter dem sich die Wollbündel präsentieren,
ist groß genug, um die periphere Rotempfindung entstehen
zu lassen ; die Langsamkeit, mit der sich diese entwickelt,
erklärt die Langsamkeit der Wahl. So kommt es, daß sich
die Deuteranopen in der Unterscheidung des Purpurs von
Grau, Blaugrün, Rot und Violett ganz sicher zeigen können
und erst bei der Orünprobe ihre Färbenuntüchtigkeit ver¬
raten. Daraus ergibt sich die praktische Regel, immer mit
der Grünprobe zu beginnen und diese für die Diagnose als
entscheidend zu betrachten. Berücksichtigt man, daß im
Eisenbahndienste das Erkennen kleiner farbiger Objekte
(weit unter der Föveagröße) in kurzer Zeit notwendig ist,
so muß man zugeben, daß die erwähnten neuen Beobach¬
tungen (dichromatische Fovea, tricliromatische Peripherie)
noch mehr gegen eine Viethode der Färbensinnprüfung
sprechen, bei der relativ große farbige f lächen dem Auge
lange dargeboten werden, wie es bei der Wollprobe unver¬
meidlich ist. Prüfung des fovealen Sehens muß ma߬
gebend sein.
Es wird also nur ein auf dem Gebiete der Färbensinn¬
störungen sehr erfahrener Untersucher imstande sein, mittels
eines guten Wollsortimentes (als solche läßt Nagel nur
die schwedischen gelten *) alle Farbenuntüchtigen, das heißt
sowobl Dichromaten wie anomale Trichromaten hinreichend
sicher von den Normalen zu sondern. Aber es gehört dazu
viel Zeit und ein reiches Maß von Erfahrung. Nagel meint,
er würde sich nicht getrauen, auf diese Weise zu unter¬
suchen. Wenngleich die meisten Farbenblinden und viele
Anomale so charakteristische Fehler machen, daß kein
Zweifel über ihre Farbenuntüchtigkeit bestehen kann, so ist
doch die Entscheidung darüber, ob man Dichromaten oder
anomale Trichromaten vor sich hat, häufig sehr schwer, nicht
selten unmöglich. Auch die Fälle können Schwierigkeiten
bereiten, in denen nur geringe Fehler gemacht werden,
z. B. ungesättigt grüne oder ungesättigt rote Färben nicht
sicher von grau, bzw. braun unterscheiden werden; man
kann es hier nicht nur mit anomalen Trichroanaten, sondern
sogar mit Deideranopen zu tun haben; mehrfach wieder¬
holte gründliche Untersuchung wird auch in solchen Fällen
schließlich ergeben, ob eine wirkliche Anomalie des Farben¬
systems vorliegt. Doch ist mit der Anerkennung dieser Sach¬
lage das Urteil über die Wollprobe als allgemeines amtliches
Untersuchungsmittel gesprochen. Mehrfache, im ganzen
stundenlang dauernde Untersuchungen dürfen ebensowenig
wie gründliche Erfalrrung in der Untersuchung nötig sein,,
um festzustellen, ob eine Person farbentüchtig oder farben¬
untüchtig ist. Die MehrzaJil der Bahn- und Vlarineärzte ward
also wohl darauf verzichten müssen, mit der Wollprobe
*) Ein b.;sondcrs' reicliliailiges Sorlinirnt vüiseinlnl A. Lindberg,
Torsaker in Scliwedon.
Nr. 24-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
alle Farbentüclit.igGii lierauszufiuden, da wohl bei keinem
von lins die Voraiissetznngen zutreffen, um so viel aus der
Probe heiauszubolen, als zu diesem Zwecke erforder¬
lich wäre.
Wenn wir nun versuchen, uns auf Grund der vor¬
stehenden Ausführungen Rechenschaft über den prakhschen
Wert dei bisher amllich vorgeschriebenen Prüfungsverfahren
zu geben, so kommen wir etwa zu folgenden Ergebnissen :
Sowohl Stilling als Holmgren für sich, als beide
zusammen, sind nicht geeignet, die Farben tüchtigen in ver¬
läßlicher Weise von den Farbenuntüchtigen zu scheiden
und wir sind bei bestem Willen und größter Vorsicht immer
der Gefahr von Fehlschlüssen ausgesetzt. Die Durchführung
beider Methoden ist umständlich, häufig mühsam und zeit¬
raubend (was namentlich für die Wollprobe gilt) und oft
sind wir nach langem Bemühen und erschöpfter Geduld
gerade so klug wie vorher und gezwungen, ergebnislos ab¬
zubrechen. Die Mehrzahl der Prüfer wird auf ihre schema¬
tische Durchführung beschränkt bleiben, weil eine fort¬
laufende, die einzelnen Phasen der Untersuchung beglei¬
tende, zu einem bestimmten 2aele führende geistige Mit¬
arbeit bei Stilling ausgeschlossen, bei Holmgren nur
wenigen erreichbar ist. Keine der Methoden gewährt die
Befriedigung voll und ganz getaner Arbeit, weil sie gleichsam
blind enden. Im Falle des Gelingens bleibt es ungewißi,
ob man nicht in eine Falle geraten; beim Versagen weiß
man erst recht nicht, was man vor sich hat, weil eine Diffe¬
renzierung der einzelnen Systeme und Typen auf diesem
Wege kaum möglich ist und uns so jeder genauere Einblick
in die Beschaffenheit des geprüften Sehorganes versagt
bleibt. Im günstigsten Falle kann man unter den Verhält¬
nissen der täglichen Praxis zu einer beiläufigen Sonderung
der vermutlich Farbentüchtigen von den venneintlichen
Farbenuntüchtigen gelangen, muß aber mindestens alle letz¬
teren zur Ueherprüfung und Klarstellung weitergeben, ohne
für die ersteren irgendeine Sicherheit zu haben. Bei der
großen Wichtigkeit des Prüfungsergebnisses für die Existenz
des einzelnen müssen wir (u. zw. nach den bereits vor¬
liegenden Erfahrungen mit Recht) darauf gefaßt sein, daß
versucht wird, durch fleißiges Einüben die Resultate zu ver¬
bessern, wodurch die Situation des gewissenhaften Prüfers
noch schwieriger wird. Endlich sei noch — allerdings als
ganz nebensächliches äußeres Moment — die Kostenfrage
berührt und bemerkt, daß Stillings Täfeln auf K 12,
Original-Wollproben auf ca. K 10 (die in hiesigen Wollhand-
lungen zusammengestellten minderwertigen Sortimente aller¬
dings nur auf etwa K 2-50) zu stehen kommen, während
Nagels Täfeln Mk. 1-20 kosten. Demnach kann man sich
wohl kaum der Ueberzeugung verschließen, daß wir mit
minderwertigen, wegen der ihnen anhaftenden bedenklichen
Mängel anderwärts mit Recht bereits verlassenen Methoden
arbeiten, und uns unter persönlicher Verantwortung sobald
als möglich exakteren Prüfungsverfahren zuwenden müssen.
Ein besseres Instrument konnte naturgemäß nur der¬
jenige schaffen, der es vermochte, die iVlängel der alten
Methoden in vollem Umfange klar zu erfassen, ihre Ursachen
und Konnexe in allen Verzweigungen bloßizuiegen und damit
gleichzeitig Mittel und Wege zu ihrer allmählichen Aus¬
schaltung zu gewinnen und der zugleich das technische Ge¬
schick besaß, die neu gewonnenen theoretischen Erkennt¬
nisse zur Herstellung eines praktisch brauchbaren Prüfungs¬
behelfes zu verwerten. Das ist Nagel mit seinen Tafeln
in so üherraschender Weise gelungen, daß sie heim ersten
Anblicke durch ihre Einfachheit förmlich verblüffen und
gerade diese ihre hervorragende Eigenschaft mag auch öfter
die Ursache ihrer vorschnellen Unterschätzuiig gewesen
sein. Erst wenn man alle Komponenten des durch ihn
so wesentlich erweiterten Wissens in sich, auf genommen
hat und dann daran geht, zwischen diesem und den Täfeln
eine Gleichung herzustellen, wird das durchschnittlich ziem¬
lich achromatische Farbenspektrum unserer Hirnhauptsrinde
allmählich trichromatisch und man lernt das Instrument
verstehen, schätzen und lieben. Dann erst können wir ver-
I folgen, mit welch ingeniöser Sorgfalt jede Eigentümlich¬
keit der Dichromaten und Anoinalen verwertet, wie wohl-
bedacht Tüpfel an Tüpfel gereiht und scidießlich zum Ringe
geschlossen ist und wie vollständig die bereicherte theo¬
retische Erkenntnis zum Zwecke der praktischen Diagno¬
stik ausgeschöpft erscheint. Wir gewinnen rasch Interesse
an der ganzen F'rage; die Theorie, das Studium der Tafeln
und die zunehmende Erfalirung befruchten sich gegenseitig
und schließlich geht man mit freudigem Eifer an die Sache,
was immer schon ein halber Erfolg ist. Während des ganzen
Prüfungsganges behält man die zielbewußite geistige Füh¬
rung, gewinnt immer klarere Einblicke in das Färbenunter¬
scheidungsvermögen der Untersuchten und wird nicht leicht
lasten, ehe das Endglied in der differentialdiagnostischen
Kette erreicht ist. Man staunt, in wie kurzer Zeit man
zwischen den einzelnen Systemen unterscheiden lernt, wie
vertraut man bald mit den zunächst eine gewisse Scheu
einflößenden Namen der Rot- und Grünanomalen wird und
merkt zu seiner Freude, wie diese bisher fremden Begriffe
allmählich Ii^alt und feste Form bekommen. Nicht minder
überrascht die Schnelligkeit, mit der man zum Ziele kommt.
30 Sekunden bis zwei Minuten sind Zeiten, die einen von
den alten Methoden her an ganz andere Einheiten gewohn¬
ten Prüfer einfach verblüffen und man lernt erst allmäh¬
lich und in dem Maße an dieses Wunder glauben, als
sich die Ueberzeugung festigt, daß man in raschem Frage-
und Antwortspiel der Natur hisher sorgfältig gehütete Ge¬
heimnisse entreißen kann.
So sind wir endlich bei der letzten entscheidenden
Frage angelangt, nach welcher Methode soll geprüft
werden? Die Antwort liegt in der Vorfrage, ob die ano¬
malen Tri Chromaten vom exekutiven Eisenbahn- und Marine¬
dienste ausgeschlossen werden sollen oder nicht. Nach den
im vorausgehenden dargelegten modernen wissenschaft¬
lichen Anschauungen und Kenntnissen von den Störungen
des Farbensehens wird sich wohl kein seiner Verantwort¬
lichkeit voll bewußter Arzt, kenne um die Sicherheit des
Betriebes ernstlich besorgte Verwaltung der Ueberzeu¬
gung verschließen können, daß diese Frage unbedingt
bejaht werden muß. Dann gibt es aber auch keine
Wahl mehr, denn es existiert bis jetzt nur ein ein¬
ziges für die allgemeine Praxis brauchbares Ver¬
fahren, welches die Ermittlung beider Systeme
von barbenuntüchtigen, sowie ihrer speziellen
Formen ermöglicht und das sind die Nagelschen
Tafeln. Diese Methode ist theoretisch so fest und klar
fundiert, so gründlich nachgeprüft und bewährt, in ihrer
Technik so überaus einfach und an der Hand der bei¬
gegebenen wissenschaftlichen Gebrauchsanweisung so leicht
zu erlernen; sie stellt an die Geschicklichkeit und Erfah¬
rung des untersuchenden Arztes, wie an die Intelligenz
des zu Prüfenden so geringe Anforderungen und führt ohne
Zuhilfenahme anderer kontrollierender Verfahren so rasch
und sicher zum Ziele, daß ihre allgemeine Einführung wie
eine. Erlösung von langer Qual empfunden werden wird.
Sie schafft mit den ihr zugrunde liegenden Prinzipien end¬
lich auch die längst erwünschte Basis für eine allgemeine
Verständigung, setzt an Stelle des bisher etwas chaotischen
Zustandes bestimmte, wohlbegründete und fest umgrenzte
wissenschaftliche Lehrsätze, bringt Ordnung in die bislang
ziemlich willkürliche und verworrene Nomenklatur und wird
hoffentlich auch bald bewirken, daß die einander oft direkt
widersprechenden Gutachten, welche das Standesansehen
ebenso schädigen, als sie die Entscheidung der Verwaltmig
erschweren, allmählich einer einlieitlichen Beurteilung
weichen. Durch Benützung dieses diagnostischen Verfahrens
kommen speziell wir Bahnärzte auch der behördlichen For¬
derung nach durchaus normalem Farbensinne möglichst
nahe, indem wir bei der Prüfung den feinsten Maßstab an-
legen und die Zahl der zweifelhaften Fälle auf das derzeit
überhaupt erreichbare Mindestmaß einschränken.
Die Einwendung, daß durch den obligatorischen Ge¬
brauch dieses Prüfungsinstrumentes die Zahl der Zurück-
732
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1Ü07.
Nr. 24
zuwcisenclen oder Avisziischeideiuleii ungebührlich an-
wachsen und daraus praktische Scliwierigkeiten entstehen
könnten, ist weder zutreffend, noch üherhaupt zulässig. Be-
kannllich nimmt man die Häufigkeit der Färhenhlindcn (unter
den Männern) ziemlich allgemein mit etwa 3°/o an und ebenso
hocli dürfte sich nach der bisherigen, schon ziemlich aus¬
gedehnten Erfahrung die Zahl der Anomalen belaufen. Dabei
ist aber zu berücksichtigen, daß die erstgenannten 3®/o ge¬
wiß nicht ausschließlich Dichromaten umfassen, denn die
Trennung der Formen war bisnun eine sehr mangelhafte
und die keineswegs scharf umgrenzten Begriffe ,, farben¬
blind“, „unvollständig farbenblind“ und ,, farbenschwach“
wurden auf das aller verschiedenste gedeutet. AVer halb¬
wegs gewissenhaft nach Holmgren oder Stilling unter-
sucbte, hat zweifellos mit den unvollständig Farbenblinden
oder Farbenschwachen auch einen wesentlichen Teil der
Anomalen ausgeschieden, so daß sich der schließ-
liche Prozentsatz der Farbenuntüchtigen (id est
Dichromaten + Anonialen) kaum über fünf er¬
heben dürfte. Das relative Anwachsen des bisherigen
Prozentsatzes wird eben ganz von der bislang angewendeten
Methode und der Gewissenhaftigkeit, mit der sie durch¬
geführt wurde, abhängen.*)
Wenn wir uns dabei gegenwärtig halten, daß wir nach
dem neuen Verfahren in voller Erkenntnis und aus wohl-
hegründeter Ueberzeuigung handeln und zu einwandfreien,
endgültigen Besultaten gelangen, so ist diese Beruhigung
durch die Einhuße von etwa 2Vo sonst noch so brauchbaren
Arbeitskräften gewiß nicht zu teuer verkauft. Allein die
Frage steht gar nicht so, als ob die Ausscheidung der Dichro¬
maten + Anomalen von unserem Belieben oder Wohlwollen,
dem jeweiligen Angebote an Arbeitskräften oder dem fis¬
kalischen Standpunkte abhängig wäre, sondern es ist eine
unahweisliche Pflicht, die uns auf Grund feststehender Tat¬
sachen zur Ausschaltung aller Färbenimtüchtigen zwingt.
Auch handeln wir nur so wirklich ökonomisch, weil wir
einzig auf diesem Wege größeren Gefahren und gegebenen
Falles daraus erwachsenden unvergleichlich höheren Aus¬
lagen in wirksamer W'^eise Vorbeugen können. Dabei ist es
ja selbstverständlich, daß jede einsichtsvolle Verwaltung
bemüht sein wird, ältere Bedienstete, die nun auf Grrund
vcrvollkornmneter Untersüchungsmethod(m ausgeschieden
werden müssen, diesen Förtschritt in der Erkenntnis nicht
etwa büßfen zu lassen, sondern die ganz Schuldlosen nach
Möglichkeit' vor materiellem Schaden zu bewahren.
Von Nagels Tafeln zur Untersuchung des Färbenunter¬
scheidungsvermögens ist seit 1906 die vierte Auflage im
Umlaufe. Die kleinen, weißen Kartenblätter zeigen je einen
aus farbigen Punkten (Scheibchen) zusammengesetzten Ring,
durch Farbendruck in den Verwechslungsfarben der Dichro¬
maten und Anomalen hergestellt. Die Zusammenordnung
der farl)igen Punkte zu Buchstaben oder Ziffern wurde ab¬
sichtlich vermieden und damit die Abhängigkeit von kleinen
f ehlem im Farbendrucke wie von der Geschwindigkeit der
IVirbeuperzeption, die bei dem' Gebrauche der S tillin g-
schen Tafeln so wesentlich in Betracht kommen, eliminiert.
Auch die oben erwähnten Mängel des Ho 1 m gr e ii sehen
\ erfahrens sind glücklich beseitigt. Die Objekte sind klein
genug, um überwiegend das foveale Sehen zu prüfen und
die Zusammenstellung der charakteristischen Färbenver-
w ‘cchslungen ist dem f arbenblinde,n abgenommen; sie liegen
auf den einzelnen Tafeln schon fertig vor und der Unter¬
suchte hat weiter nichts zu tun, als auf die Täfeln zu zeigen,
w(dche ilmi die von dem Prüfenden verlajigten Farben zu
eidhallen scheinen. Sie sind zunächst ausschließlich für
(.lie Bedürfnisse der färbensinnprüfung bei dem Eisenbahn-
*) In Hamburg, wo bei der deutschen Handelsmarine mit einem
ganz ungenügenden sogenannten H o 1 m g r e n sehen Verfahren wohl
der Rekord im Schnelluntersuchen erreicht wird (zuweilen bis zu
100 Personen in der Stunde) hatte z. R. ein Kollege in den letzten
vier Jahren unter 26.186 Untersuchten nur l'337o Farbenblinde; 103Kollegen
kamen in den gleichen Zeitabschnitte unter r)3.880 Geprüften auf l‘75'7n;
da wird ein genaues und sachgemäß angewendetes Verfahren allerdings
eine beträchtliche Steigerung des Prozentsatzes ergeben!
und Mariuepcrsoualc koustruiert und os ist keine s])ezielle
Rücksicht auf die Uuiersuchuug erworbeuer Färbeusiuii-
störimgeii oder die Möglichkeit der Simulation genommen;
auch für die Ermittlung der Trilauopie sind die Tafeln nichl
als sicheres Hilfsmittel zu betrachten.
In ihrer neuen Gesta-lt setzt sich die Sammlung aus
zwei Ahteihmgen A und B zusammen, denen eine genaue
Gebrauchsanweisung heigegeben ist. Die Nummern sind auf
der Ilückseite angebracht und sowohl wegen der Hinweisun¬
gen im Texte, als auch für den färbenhliiiden Arzt unent¬
behrlich. '
Als Einführung für jene, denen die Tafeln noch fremd
sind, mögen einige orientierende Bemerkungen gestattet sein.
Man gewinnt, die rascheste Uebersicht über die beim ersten
Anblick vielleicht etwas verwirrende Farbenfülle, wenn man
sich die 1(5 Tafeln der Abteilung A in drei (Truppen aus¬
einander legt.
F'ür die erste Gruppe wähle man die Tafeln ; 1, 2, 3, 5,
7, 8, 9, 10 und 15. Drei von diesen Blättern zeigen Ringe
in verschiedenen Schattierungen einer und derselben Farbe
(3 nur Rosa, 5 nur Grüu, 9 nur Grau); die übrigen Rot und
(Trün in solchen Schattierungen, daß sie für den Rotgrün-
hlinden beider Typen dem Grau, das auf vielen dieser Tafeln
enthalten ist, gleich auSiSehen. Bei genauer Betrachtung
wird ma,n die oben als typisch für die Dichromaten an¬
geführten Gleichungen zwischen Purpur (Rosa), Blaugrün
uud Grau leicht herausfinden. Tafel 15 zeigt den gleichen
Purpurton wie 3, dazwischen aber zwei graue Punkte, die
für den Dichromaten dem .Purpur gleich erscheinen, so
daß er die Mehrfarbigkeit des Ringes nicht zu erkennen
vermag. Es kommt ziemlich häufig vor, daß die zwei grauen
Punkte in leichtem Kontraste grün gesehen Averdeii, der
Farbensinn des Untersuchten aber trotzdem ein ganz nor¬
maler ist; man lasse sich also dadurch nicht irre machen;
wer dagegen die Differenz überhaupt nicht bemerkt, ist
meist abnorm. Während für den Färhentüchtigen auf allen
diesen Taifeln das Rot und Grün besonders hervorsticht, er¬
scheinen sie dem Dichromaten farblos, grau in verschiedenen
Schattierungen und hei der Frage nach roten und grünen
Punkten übergeht er sie meist achtlos.
ln die zweite Gruppe lege man sich die Täfeln: 6, 11
und 12, welche gelbgrüne, gelbbraune, blaugrüue und graue
Punkte enthalten. Ganz scharf sticht für jeden Rotgrün¬
blinden das Gelbgrün dieser Täfeln von allen übrigen Färben
ab; es ist ihm die einzige kräftige Tärbe in der Abteilung A
überhaupt und bei der Frage nach roten oder rötlichen
Punkten zeigt jeder unbefaaigene Dichromat fast ausnahms¬
los auf die Tafeln 6 und 11, meist auch 12; bei der Frage
nach nur roten Punkten wird dann häufig auf Tafel 12
gezeigt, weil Gelbgrün und Gellibraun mit Rot Gleichung
gel)en können. Diese höchst auffallende, die ganze Sach¬
lage im Augenblicke klärende Erscheinung — Rotsehen des
Gelbgrün und Gelbbraun — ist nach den vorausgeschickten
Bemerkungen über das Snektrum und die Scheingleichungen
der Dichromaten leicht verständlich.
Für die dritte Gruppe Ideiben die Tafeln: 3, 13, 14
und 1(5; sie zeigen die zur Erkennung der Anomalen hesoii-
ders wichtigen Verwechslungsfarben Grau und Grün.
Während sowohl die Rot- als die Grünanomalen die Frage
nach roten Punkten beinahe immer, zuweilen auch ohne
Zögern hestehen, werden sie l.ei der Frage nach nur Grün
oder nur Grau sofort unsicher und zeigen häufig auf solche
Tafeln, die grüne und graue Punkte zugleich enthalten.
Man. läßt sich dann möglichst schnell alle Täfeln zeigen,
die Grün, und dann alle, die Grau enthalten und, wird so
rasch dahinterkonnnen, inwieweit eine Differenzierung mög¬
lich. Wer eine der Tafeln mit Grau und Grün (4, 13, 14)
für einfarbig hält und den Irrtum nicht sogleich selbst be¬
merkt, oder wer auf Tafel 5 Grau, oder auf Tafel 9 Grün
zu sehen behauptet, ist sicher kein normaler Trichromat,
sondern farbenuntüchtig u. zw. meist anomal. Einen Diebro-
malen kann man erst dann diagnostizieren, wenn auch im
Rot Fehler gemacht werden. Auf Tafel IG ist das Grün
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
SO ungesättigt genoimneii, da,ß, sie als Reagens für wirklich
gutes Farbenunterscheidungsvermögen gelten kann; es ver¬
schlägt aber nichts, wenn sie fiir eintarbig angesehen wird,
weil der Farbensinn dabei ein durchaus normaler sein kann;
solche kleine Differenzen innerhalb der großen Gruppe der
Farbentüchtigen sind nicht von Felang und die Tafel könnte
ebensogut ganz wegbleiben.
Wer die Fragen nach roten, nur roten, nur grünen
und nur grauen Punkten rasch und sicher beantwortet, was in
wenigen Sekunden erledigt sein kann, ist l)eslimmt farben¬
tüchtig und jede weitere Prüfung kann entfallen. Wer die
für die Gruppen 2 und 3 ajigegebenen Verwechslungen
macht, ist Dichromat oder Anomaler und man muß zur
weiteren Charakterisierung und Trennung der Typen zur
Prüfung mit den Tafeln der Abteilung ß übergehen. Sie läßt
den Unterschied zwischen Dichromaten und Anomalen eben¬
falls scharf hervortreten und beide leicht vom Normalen
unterscheiden. In diesem zweiten Tdile der Prüfung hat
der Untersuchte Naimen zu nennen, wobei aber die Be¬
nennung nur als Indikator dafür dienen soll, ob er die Zu¬
sammensetzung der Ringe aus mehreren Färben bemerkt.
Sie enthält vier Tafeln. Bt mit Gelbgrün und Gelb¬
braun in je zwei Schattierungen, ist identisch mit x\i2. B2
und B3, unter sich fast gleich, enthalten außer einem leb¬
haften Rot ein reines Braun in zwei verschiedenen Ilellig-
keitsstufen. Für den Dichromaten sind diese drei Tafeln
einfarbig u. zw. für den Deuteranopen auch fast ohne
Helligkeitsunterschiede der einzelnen Punkte, während sich
für den Protanopen die roten Punkte du[ikel gegenüber
dem Braun abheben.
Charakteristisch ist das Verhalten der Anomalen gegen
die Tafeln Bi bis ßs. Manche, die zu den sogenannten Ex¬
tremen gehören, zeigen sich' schon bei Bi als abnorm; sie
bezeichnen die Tafel kurzweg als grün, seltener als braun
oder gelb, geben aber jedenfalls durch ihre Ausdrucks weise
zu erkennen, daßi sie nur einerlei Farbe sehen; sie gleichen
hierin den Dichromaten. Die Täfeln B2 und B3 nennt <ler
Anomale, vor allem der Grünanomale, wenn er unbefangen
an die Probe herantritt, ,,rot und grün“, weil kräftiges Rot
oder Grün einem daoeben sichtbaren Grau oder Braun eine
mehr weniger deutliche Beimischung der Komplementärfarbe
gibt. Das Braun dieser Tafeln isoliert gezeigt, nennen die
Anomalen richtig brann; neben dem Rot nennen sie es
grün. Bei Rotanomalen versagt dieser Teil der Prüfung zu¬
weilen und sie benennen das Braun richtig oder als grau.
Das beweist nicht, daß der Färbenkontrast bei ihnen geringer
sei als bei den Grünanontalen, sondern Rot hat für den
Rotanomalen wie für den Rotblinden einen sehr herair¬
gesetzten Reizwert und es läßt sich im! Farbendrucke ein
so lichtstarkes und dabei reines Rot nicht hersteilen, welches
den Farbenkontrast schon auf kleinen Feldern sicher aus¬
löst. An Nagels Färbengleichungsapparate oder seinem
Anomaloskop läßt sich der gesteigerte Kontrast auch in
diesen Fällen leicht nachweisen. Ein Mangel der Methode
kann darin kaum' gefunden werden, weil sich die Rotano-
mälen schon im ersten Teile der P'rüfutig durch Grün-Grau-
Verwechslungen erkennen lassen und auch die Tafel Bj.'
meist für einfarbig erklären.
Tafel B4 dient zur Unterscheidung der beiden Typen
der Dichromaten und Anomalen. Sie enthält ein kräftiges
Karminrot neben Grün von zweierlei Helligkeitsstufen. Rot
und Dunkelgrün sind in ihrem Helliigkeitsverhältnisse so
gewählt, daß für den Rotblinden wie Rotanomaien ersteres,
für den Grünblinden und Grünanomalen letzteres als das
dunklere erscheint. Während der Färbentüchtige eine solche
,,heterochrome“ Helligkeitsvergleichung nur unsicher .aus¬
führt, erscheint für den Farbenunlüchtigen die Aufgabe,
die „hellere“ oder „dunklere“ der beiden Färben zu nennen,
einfach und leicht. Auch B2 und B3 eignen sich zur Diffe-
rentialdiagnose : Braun und Rot sind lür den Grünblinden
und Grünanomalen fast gleich hell; dem Rotblinden und
Rotanomalen erscheint das Rot deutlich dunkler.
73i>
Da es bei den Nagelschen Täfeln auf Prüfung (h^s
foveaJen Sehens ankommt, ist es sehr wichtig, daß die
Tafeln aus angeniessem'r Entfernung beli'acldet wenden, am
besten aus nr Abstand, mindestens aber aus V2 m. Man
erhält hinreichenden Absfa,nd, wejm der Untersiudite auf¬
recht vor dem Tische steht, auf dem die Tafeln ausgebreitet
liegen. Versucht der Kandidat, immer wieder sich nieder¬
zubeugen und die Täfeln aus der Nähe zu betraebten, so
erweckt dies frei guter Sehschärfe begründeten Verdacht
auf Färbensinnstörung und fordert zu gründlicher Unb'r-
suebung auf. Die Täfeln der Abteilung B kaut), man aus
größerer Nähe (ca. 30 cm,) betrachten lassen.
Es wurde mehrfach daran Anstoß genommen, daß der
Untersuchte bei Abteilung B F’ärbennamen nennen muß.
Nagel erklärt dies als eine auf Mißverständnis berulKuide
Reminiszenz an die Zeit, wo man mit See bock uml Fl olm-
gren Front machen mußte gegen die Farbensinnprüfung
mittels Vorzeigen und Benenucnlassen farbiger Päpierstücko.
Prüfung mit Farbenbenennung ist zulässig und .erfolgreich,
wenn man Objekte voji kleinem Gesichtswinkel (U und
weniger) verwendet, ja man könnte durch bloßes Vorzeigen
und Benennen lassen solcher kleiner farbiger Objekte in hin¬
reichend großer Zahl und Nuancierung eine einwandfreie
Diagnose, ob farbentüchlig oder -untüchtig, stellen; aber
das wäre zeitraubend und mühsam; sehr viel schneller
geht es, wenn man immer mehrere Färben untereinander
zeigt, nach den Namen fragt und aus der Antwort entnimmt,
ob der üntersuchte die (lualitativen Unterschiede bemerkt
oder nicht; auf die Wahl der Namen koinmt es dabei
weniger an, namentlich bei Braun. Ob jemand z. B. die
Tafel Bl grün, braun oder gelb nennt, ist ganz belanglos;
wenn er aber auch auf besondere Nachfrage keine zweite
Farbe zu nennen weißi, die nol>en. der erstgenannten, vor¬
banden ist, so beweist dies sicher abnormen Färl)ensinn.
Man mache sich zur Regel, wenn in derartigen Fällen nur
eine Farbe genannt wird, immer sogleich zu fragen, ob
nicht noch eine andere Farbe da sei, weil ängstliche Leide
oft das Ihrige getan zu halien glauben, wenn sie Bi grün
oder B2 rot genännt haben, obgleich sie merken, daß
außerdem noch etwas da sei. Wird die zweite Farbe erst
auf besonderes Fragen genannt, so läßt man sich diese
farbigen Punkte mit einem Stifte anzeigen ; geht das schnell
und sicher, so kann man der qualitativen Unterscheidung
sicher sein.
Die Nage Ische Probe >riit einem älteren Verfahren zu
kombinieren, hat keinen ersichtlichen Zweck, da sie alle
weniger leisten und daher nicht zur Ergänzung dienen
können. Bei dem so bequemen S ti 1 1 i 11 g sehen Verfahren
ist außerdem die Gefahr naheliegend, daß sich manche Aerzte
mit der glatten Erledigung dieser Vorprobe begnügen und
die entscheidende Hauptprobe gar nicht mehr vornehmen.
Dies waren auch die Gründe, welche die deutschen Fasen¬
bahn-, Armee- und Marinebehörden bestimmten, nur die
Nagelschen Tafeln einzuführen und von jeder anderen
Methode abzusehen.
Die Tafeln müssen nach Möglichkeit vor Tageslicht
geschützt und sehr rein gehalten werden; man lasse sie
niemals berühren, sondern immer nur mit einem Stäbchen
danach zeigen; etwa beschmutzte Exemplare müssen aus¬
getauscht werden. Auch bei der Holmgrenschen Wolle
muß natürliclh von Zeit zu Zeit wegen der unvermeidlichen
Beschmutzung durch die herührenden Finger, Staub usw.,
eine Erneuerung des Sortinientes erfolgen.
Fan großes Verdienst hat sich Nagel auch durch die
Erfindung seiner Apparate zur Fdrbensinnprüfung erworben,
das namentlich jene Aerzte gebührend schätzen werden,
welche die Mühsal der bisherigen Verwirrung und <lie
Schwierigkeiten bei der lEiitscheidung fraglicher laille durch¬
gekostet haben. Sie sind in großem Betriebe einfach un¬
entbehrlich, da es ein anderes Mittel, zweifelhafte Fälle
sicher klarzustellen, überhaupt nicht gibt. Auch auf ander¬
weitige Hilfe ist zurzeit lucbt zu rechnen, da unsere physio¬
logischen Institute den großen Helmholtz scheu F’arben-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24;
inischapparate nicht besitzen und die Augenspezialisien, die [
man naturgemäß für die höchste Instanz halten sollte, diesen
Fragen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben und
die erbetene Entscheidung .in Ermangelung der erforder¬
lichen Hilfsmittel wohl auch oft gar nicht kreffen könnten.
Da die Handhabung der Apparate keineswegs schwer zu
erlernen und die Deutung der damit gewonnenen Resultate
nicht die geringsten Zweifel aufkommen läßt, so können
sich alle interessierten Verwaltungen und Aerzte leicht auf
eigene Füße stellen und jedem Konflikte in der Diagnose
mit absoluter Sicherheit , Vorbeugen. Um auch hier den
Kollegen vollen Einblick zu gewähren und eine selbständige
Entscheidung zu ermöglichen, sollen die zwei für unsere
Zwecke haüptsächlich in Betracht kommenden Apparate
kurz besprochen werden.
setzt (Fig. 4), welche durch eine dai’üher gelagerte Feder
(Fig. 4b) leicht fixiert erscheinen und je fünf halbkreis¬
förmige Ausschnitte von 1-2 cm Durclimesser tragen, von
denen je einer leer gelassen ist, während die angren¬
zenden ein rotes, grünes, gelbes und blaues Glas ent¬
halten.*) Blickt man durch die Trichteröffnung in den auch
innen geschwärzten Apparat, so sieht man im Grunde des
Rohres durch die leeren Revolveröffnungen (bei offenen
Schiebern) zwei halbkreisförmige, hell erleuchtete, weiße
Gesichtsfelder, die durch eine 4 mm breite mediale Leiste
voneinander getrennt sind (Fig. 3). Durch Drehen der Re¬
volver und Einschnappen der Feder kann man die oben
genannten farbigen Gläser in beliebiger Kombination ein¬
stellen; sie erscheinen lebhaft leuchtend in tiefschwarzer
Umgebung. In lochförmigen Ausschnitten der Feder sind
Fig.
3.
1. Nagels Farbengleichungsapparat.*)
Er besteht in seiner neuesten Form' aus einer schwarz
lackierten, zylindrischen Röhre mit trichterförmigem An¬
sätze am Okularende und einem 4-5 cm dahinter befind¬
lichen Auerhrenner, die zusamlnen auf einem Stativ be¬
festigt sind (Fig. l). Die distale Hälfte des 10 cm langen,
3-7 cm im Durclimesser haltenden Rohres ist durch eine
vertikale Scheidewand (Fig. 2a) in zwei seitliche Hälften
geteilt und an beiden Enden durch je zwei Halbscheiben
aus Milchglas abgeschlossen, die hinter den (gleich zu er¬
wähnenden) Farbenfeldem eine gleichmäßig helle Fläche
herstellen. In der Mitte des Rohres sind seitlich zwei revol-
verai'tig drehbare Scheiben von 4 cm Durchmesser einge-
*) Zu beziehen durch den Universitälsmechaniker Walter Oehmke
Berlin NW. 7, Dorotheensti aße 35. Preis Mk. 58. ’
die jeweilig eingestellten Farben durch ein gleichfarbiges,
rundes Scheibchen markiert, so daß der Prüfende die Farben
beliebig wechseln kann, ohne in den Apparat hineinzu¬
sehen. Eine am distalen Ende des Rohres angebrachte
rechteckige, durch einen horizontalen Spalt (Fig. 1 und 2c)
unterbrochene schwarze Metallplatte (Fig. 2) verdeckt für
die prüfende Person den Auerhrenner und trägt an ihrer
dem Lichte zugewendeten Seite zwei rechteckige schwarze
Metallschieber (Fig. 2d, d2), die durch uhrzeigerähnliche,
lange Hebel (Fig. 2f, fg) leicht seitlich hin und her bewegt
werden können und die Helligkeit beider Farbenfelder un¬
abhängig voneinander beliebig zu variieren gestatten. Die
*) Grün und Blau wurden eingefügt, um den Apparat auch zur Unter¬
suchung von erworbenen Farbensinnstimmungen verwenden zu können.
Für den praktischen Gebrauch wäre es bequemer, Avenn das gelbe Glas
unmittelbar neben dem roten stünde.
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Stellung der Hebel (und damit der Sebieber) kann in dem
bereits geiianiilen Spalte c der Schul zplatte, der zur Ver¬
meidung jeder Bleudnng durch zwei vorgestelite Glasplatten
(braun und farblos, big. 1 und 2 g) gedeckt erscheint, kon-
Irollierl und an zwei mit 1 und 2 bezeichneten Marken
(big. 2) abgelesen werden. (Die Ziftern stehen selbstver¬
ständlich auf der dem Beschauer zngewendeten Seite der
Blalle und sind in der Zeichnung nur der Deutlichkeit baiber
außen angeschriebeu.) Zeigt der Hebel auf Marke 1 (wie fo),
so beträgt die SpaÜbreite zwischen verlikalei' Scheidewand
und medialem Schieberrandc 1 mm (rechte Seite der Fig. 2)
und das Farbenfeld erscheint ziemlich stark verdindvcll.
Bei Einstellung des Zeigers auf Marke 2 beträgt die Spalt-
breite 3 mm (angedeutet durch die punkliorte Jiinie in der
linken Hälfte der Zeichnung); die Heiligkeit des farbigen
Feldes ist beträchUich größer. Steht der Hebel senkrecht
(wie fl), so ergil)t sich eine Spaltbreite von G mm und das
Farbenfeld erscheint hell erlenchtel.
Der Apparat ist so aufzustellen, daß die Trichterüffnung
vopi Fenster abgekehrt erscheint, doch soll helles Tages¬
licht in das Auge des zu Prüfenden fallen. Dieser sitzt
IV2 bis 2 m von der Trichteröffnung entfernt, damit <las
Bild der leuchtenden Felder auf den stäbchenfreien Bezirk
der Netzhaut falle; eine etwaige Ametropie muß korrigiert
werden; die leuchtenden Felder ziehen dann die Fixation
so wirksam auf sich, daß| man sicher sein kann, den Farben¬
sinn wirklich nur im fovealen Sehen zu prüfen. Bei Unter¬
suchung im Dunkelziinmer oder abends hei künstlicher Be¬
leuchtung setzt man den zu Prüfenden, unmittelbar vor die
Trichteröffnung.
Der Apparat dient in gleich vorzüglicher Weise zur
Erkennung der Dichromaten \\'[o der Anomalen und gestattet
in einer halben bis: zwei Minuten eine leichte und sichere
Diagnose des vorliegenden Typus. Er ist für Massen- wie
Kontrolluntersuchungen ganz vorzüglich geeignet und der
Einzelfall mit der Beantwortung von drei Fragen erledigt.
Zuerst zeigt man beider.s.eits rot, aber auf einer Seite
eine merklich geringere Helligkeit. Der Farbenblinde hält
die Helligkeitsungleichung für eine Farbenungleichung, da
er richtig urteilt, daß man sein Färbenunterscheidungsver¬
mögen prüfen wolle und gil)t, nach der Farbe gefragt, latsche
z\ntworten: ,,rot und grün“, ,,rot und gelb“, ,, grün und gelb“.
Dann macht man beide roten Felder gleich hell, um dem
Untersuchten zu zeigen, daß wirkliche Gleichungen zustande
kommen und erleichtert ihm dadurch die Anerkennung der
nun folgenden Scheingleichung. Sie wird mit Bot und Gelb
eingestellt, den Zeiger vor Gelb auf Marke 2, also leicht
verdunkelt. Es ist dies die Gleichung des Deuteranopen,
der sie sofort annimmt und beide Felder für ,, gleich“ oder
„gelb“ erklärt; damit ist die Diagnose für diesen Typus
entschieden. Der Protanop verweigert die Anerkennung
dieser Gleichung, da er in solclnmi Falle bekanntlich ein
fünfmal stärkeres (helleres) Bot verlangt. Das gegebene
Bot erscheint ihm deutlich dunkler als das Gelb und er
glaubt infolgedessen zwei verschiedene Farben zu sehen,
ol)wohl ihm beide Felder in WMirheit nur als verschiedene
Intensiläten derselben Farbe erscheinen ; er spricht dem¬
nach von ,,gelb und grün“, ,,rot und grün“ oder er nennt,
der objektiven Wahrheit entsprechend, das dunklere Feld
rot, das hellere gelb. Um nun die für den. ProUinopen gültige
Gleichung einzustellen, muß man das Gelb noch weiter ver¬
dunkeln, da es in der gegebenen Anordnung nicht möglich
ist, dem Bot die erforderliche größere Intensität zu geben.
Man schiebt den Zeiger vor Gelb auf Marke 1 und jetzt er¬
kennt der Protanop die Schoingleichung ohne weiteres an;
damit ist auch dieser Typus scharf gekennzeichnet. Es
sei noch bemerkt, daß die zur Unterscheidung der Rot¬
und Grünblinden dienenden Eiiistellungsmarken nur lür die
Farbengleichungen zwischen Bot und (mlb, nicld, aber füi
Bot und Grün gelten; dieses letztere gibt zwar für den
Dichromalen auch Gleicbung mit Bot und Cndb, doch müssen
die Einstellungen dafür besoivders ausprobiert werden.
Die Anomalen erkennen das Bol ganz gut -und machen
demgemäß bei der ersten Einstellung richtige Angaben. Bei
der dritten Einstellung (Bot und Dunkelgelb) kommt ihr ge¬
steigerter Farbeidcontrast zur Geltung und sie nennen das
Gelb ,,grün“; man hat damit ein becpiemes Hilfsmittel, dieses
charakteristische Symptom auch in jenen Fällen naclizu-
weisen, wo es, wie bei manchen Bofanomalen, an den
Tafeln nicht einwandfrei festgestellt werden kann. Auch
die beiden Typen lassen sich mit dem Apparate leicht unh'r-
scheiden. Man beläßt die Einstellung Rot und Gelb und
fordert auf, den Farbenimterschied zu vernachlässigen und
nur zu sagen, welches von den beiden Feldern <las hellere
sei. Der Anomale läßt sich hierauf bereitwillig ein, fast
so willig wie ein Dichromat und macht demnach auch ganz
bestimmte Angal)en. Der Grünanoinale verlangt eine Ileilig-
keit des Gell), bei der es auch für den Normalen eine an¬
nähernde heterochrome Flelligkeitsgleiclumg gibt; es ist dies
fast genau die Einstellung des Deuteranopen. Der Bot-
anomale dagegen verlangt die Einslellung, die der Protanop
wählt; sie erscheint für den Normaien ganz falsch, das
Bot im Verhältnisse zu Gelb viel zu hell.
2. Kleines S p e k t r a 1 p h o 1 0 m e t e r oder Apparat zu r
Mischung von Spektralfarben für diagnostische
Zwecke (Anomaloskop).
Da das souveräne Mittel zur Erkennung aller Färben-
sinnstörungeu, der große Helmholtzsche Farbenmiscli-
apparat wegen des hohen Preises und der Kompliziertheit
seiner Einrichtungen für Augenkliniken und.Aerzte nicht
in, Betracht kommt,' eine sichere Kennzeichnung der ano¬
malen Trichromaten aber nicht anders erfolgen kann, als
durch den Nachweis der charakteristischen Mischungs¬
gleichungen in der langweiligen Spektralhälfte, war es ein
glücklicher Gedanke Nagels, den genannten Laborato¬
riumsapparat bei tadellos exakter Arbeit so zu verein¬
fachen, daß er den Zwecken des Klinikers und Übergut¬
achters vollkommen gerecht wird. Da Nagel selbst sein
Anomaloskop erst letzthin beschrieben und abgebildet hat,*)
kann ich mich hier um so leichter auf kurze Angaben be¬
schränken.
Das Instrument, welches für Nernstlampe, Auerbrenner
oder Spiritusglühlicht eingerichtet werden kann, gestattet
die Unterscheidung der verschiedenen Arten von trichroi-
matischen Systemen an der sogenannten Bayle ighschen
Gleichung,; die Unterscheidung der beiden Hauptarten von
Dichromaten an den Scheingleichungen Bot-Gelb und Grün-
Gelb. In einem kleinen kreisförmigen Felde (2*^ Gesichts¬
winkel) sieht ma,n die untere Hälfte dauernd mit homo¬
genem Lichte der Wellenlänge 589 (Natriumlinie) erfüllt,
dessen lidensilät fein abstufbar ist; das obere Halbfeld
kann entweder mit reinem Ftot (670, Lithiumlinie) oder
Grün (53G, Thallinmlinie) oder einer beliebigen Mischung
dieser beiden lächter erfüllt werden. Der farbentüchligc
Beobachter kann leicht ein bestimmtes Mischungsvcrhällnis
von Rot und Grün einstellen, das bei Begulierung der Hellig¬
keit dem homogenen Natriumgelb gleich aussieht. Ebenso
leicht lassen sich für den Bot- und Grünanomalen das er¬
forderliche Plus an Bot und Grün, sowie die jeweilig not-
wöndige Helligkeit des Gelb feststellen. Der Farbenblinde
erhält die Gleichung mit Gelb bei jedem beliebigen
Mischungsverhältnisse von Rot und Grüji, ja auch niit
reinem Bot und reinem Grün und die beiden Typen u,nter-
scheiden sich nur dadurch, daß sie dem Gell) eine andere
Helligkeit geben müssen, um Gleichung zu erhalten. Es
ergeben sich dabei ganz bestimmte, nur in engen Grenzen
schwankende Zahlen, die an graduierten Trommeln abge¬
lesen und für jedes Instrument immer erst festgestellt wer¬
den müssen, dann aber dauernde Gültigkeit haben. Ver-
*) Zwei Apparate für die au gen ärztliche Funktions¬
prüfung (Adaptometer und Anomaloskop) von Prof. Nagel, Zeitschrift
für Augenheilkunde, Bd. 17, Heft 3. Zu beziehen von 1. Schmidt
& H a e n s c h, Berlin S. 42, Prinzessinuenstraße 16. Preis des Anomalo¬
skops inkl. Auerbrenner und Montierung auf einem Grundbrett Mk. 355.
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zoicliiK'l nia.li sicJi die lypisclion l*nnslcllnngon der nornialon
und anomalen Triehroniaten, sowie der Dichromaleii in
einer kleinen Tabelle, so kann man jed(' Diagnose rasch
und sicher stellen und kontrollieren.
Ein großer Vorteil beider InstmineiiLe besteht daiin,
daß man damit zu jetler Tageszeit unler immer gleich blei¬
benden Verhällnissen arbeiten kann und ihre Marken, respek¬
tive die einmal festges teil ten Zahlen für immer (iültigkeit
haben.
Bei dem Ileringschen Apparate macht sich die Ab¬
hängigkeit von der jeweiligen Tagesbeleucbtung recht un¬
angenehm bemerkbar und zu einigermaßen fixen Zahlen
kann man überhaupt, kaum kommen. Die hei trübem Wetter
feHtgestellten Ziffern gelten nicht für reinen Himmel und
umgekehrt; hei wolkig-windigem Wetter ist eine Bleichung
überhaupt kaum zu erzielen, weil die BeleuchtungsverhälL-
nisse jeden Augenblick wechseln; der Kundige wird sich
dadurch in der sicheren Stellung der Diagnose allerdings
idcht iMiirren lassen. Ob sich der Apparat aucli zur Er¬
kennung der anomalen Systeme verwenden ließe, wäre erst
festzuslellen ; die dazu erforderliche technische Einrichtung
ist gegetien, es müßte nur für entsprechende (iläser gesorgt
werden; die obengenannten Bebelstände dürften sich hier
allerdings noch störender liemerkbar machen.
Eine genauere Ausführung sei zum Schlüsse noch den
sogenannten praktischen Prüfungen auf der Strecke
gewidmet, die noch in . vielen Köpfen spuken und deren
Uesultate immer wieder herangezogen werden, um <lio
wissenschaftlichen Methoden zu diskreditieren oder als ent¬
behrlich hinzustellen. IcJr folge dabei wiederum Nagel.
Zeigt, man einem Farbenblinden oder Anomalen, d(‘r in
Pnterscbeiilung von Signaliiclilcrn s^hon geül)t ist, rote und grüne,
gut Ijrennende Signallaternen auf 100 m Distanz in unregelmäßigem
Wechsel, so isl die Wabrscheinliclikeit unriclitiger Denenmmg
äußerst gering. Dcträclitlicjier wird sie schon, falls der üeprütte
mit Signalli(dit,ern noch nichts zu tun hatte; sei cs, daß er das
Hot _,, gelb“, oder das Grün ,,weiß'‘, gelb oder blau nennt. Uebung
und K(mntnis <ler bei der Prüfung vorkommenden Farben isl
zum febleilosen Hesleben eines solchen Examens von größter
Bedeutung.
Wüi-de außer Rot und Grün auch die sogenannte farbiose
Eisenbabnlalei'ne verwendet werden, so würde die Wabrsebein-
licbk(‘it der Fehler ])ei aljnormem Fai'bensinne schon merklich
steigen. Würden die drei genannten Lichter auf 500 m gezeigt,
so Avürde die Feblerzabl l)ci Dichromaten und Anomalen schon
mebrc're Prozent Jietragen. Würden die roten, grünen und weißen
Signallateiiien nicht immer in gleicher Helligkeit und Entfernung,
sondern in versclüedener .Leuchtkraft und unter verscliiedcneni
Gesichlswitdvel gezeigt, so würde sich die Wahrscbeiidiclikeit rich¬
tiger und falscher Angaben kaum über das bloße Palen erheben.
Pei Anomalen wären die Fehler nicht so zahlreich, aber immer¬
hin nicht s(dten. Würden die genannten Signale immer nur für
kurze Zeit ((unige Sekuiuhm) sichtbar sein und die Entseduddung
über die Farbe i'ascb erfolgen müssen, so würde der Prozentsatz
licbliger Angaben bei eiiuMn Farbenblinden ziemlich genau niit
d('m zusammenfallen, der durch bloßes Palen (ohne liinzuseben)
(U'zielt würde; bei drei Färbern wäre die AVahrscbeinlicbkeit ein
Drittel, elxuiso groß, wie bei einem Blinden. Nur um wenig
l)essei’ steht es bei den Anomalen. Würden statt eines (dnzigen
Licbles nudirere Jielxmeinander sichtbar sein, so wird für eien
Fa.rb(ud)linden unter den ang<‘führlen Bedingungen die Wabrschein-
licbkc'il. falscher Angaben kaum erhöht, eher vielleicht um ein
ganz Geringes vei'inimlerl ; dagegen steigt sic durcdi den ab-
norimm Farbenkonirast für den Anomalen sehr bedeutend.
Daraus kann man cntnehnien, welch ninsländlicho
Versuchsanordnung getroffen werden müßte, wenn man auf
diesem Wege wirklich alle Earhcnbliiiden oder gar jioch
die Anomafen herausfinden wollte: niehrere ungleich weif
enlfc'rnte Gruppen von roten, grünen und wmißen Laternen
tnüßimi vom Standplätze des ITniersnchers aus schnell in
beliebigen Kombinationen nnd auf beliebig lange Zeit zum
.Aufleuchten gebracht werden können; auch ein sehr er-
lahrener Ihäifer würde selbst bei elektrischer Umstellung
10 bis 15 .Minuten brauchen, um Sicherheit über die .\rt
des vorliegenden Earhensinnes gewinnen zu können.
Sehr schön wurden diese aus reicher Jh’fahrimg ab¬
strahierten, nach dejTi Vorausgeschickten in ihrem Zusam¬
menhänge wohl ohne weiteres vefständlichen Deduktionen
durch Versuche heslätigt, die Nagel den an der Frage
interessierten Behörden vorfütirte, um ihnen die Gefähr¬
lichkeit der . Dichromaten und die Notwendigkeit der Ein¬
beziehung der anomalen Ti'ichromaten unter die Earben-
untüchligen ad oculos zu demonstrieren.
Den Versucbspersoneii wurden weiße,’ rote und grüne Signal-
lichter in wccbseludeu Intensitäten und Feldgrößen gezeigt, ohne
daß die Oualiiät des Beizlicbtes durch dk; Intensiläts- und Feld-
grcißenveräuderuugcni beeinfhd.U, wurde. Als- Licbiquelien dienten
Kobkmfadenglüblam])Cu, deren Licht jenem der Pelroleumlamue
sehr älmlich ist, zur Färbung Stücke von Originalscheiben der
königli(di preußischen Slaatsbalmen (Pubinglas und das bekannte
Blaugrün); die Helligkeit des weißen Licbl.es wurde durch ein
neulrab's Banchglas der des roten und grünen annähernd gk'icb
gc'inacbl. Durch Einscbiebeii einer Alattglas, scheibe konnte die
Intensität des betreffeiiden Signallicblcs auf etwa die Hälfte bis
ein Drittel, durch zwei solche etwa auf ein Secdistel herabgesetzt
werden. Die Veränderung der Feldgiöß^in gescliab durch Blenden
von 6 bis 1 mm Durchmesser; tlie größte entspracli eimun Ge-
sicblswiidcel von 4’, G”, die kleinste einem solchen von -ti"
(die gewöbnlicbe Signallalerne der Eisenbahn würde auf eine
Distanz voii 125, resp. 755 m unter den gleichen Winkeln er¬
scheinen). Der Verdunkelung der Licbter durch Trübung der
Almos])bäre (Nebel, Bauch, Hegen) Avar keine Ih'cbnung gedragen
und dafür gesoigl, daß die Versuchspersonen die Lichter stets
scharf, nicht versebwommen sahen und Gelegeidieit batten, die
Signallicbler beliebig lange zu belracbten, che sie über tlic Farbe
aussaglen. Der Beobachter saß, 5 m von den Lichtpunkten ent¬
fernt in einem so dunkel gehaltenen Zimmer, daß er an keinen
sekundären Merkmalen erkennen konnte, Avelche Farbe, welche
Helligkeit und Feldgröße eingestellt war. Die Versuchsperson be¬
fand sich somit mehrfach in günstigerer Lage, als der Eisen-
balmbedienslete auf der Strecke oder der Steuermann auf offener
See und Fehler, die an dieser Prüfungsvorriebtun^ gemacht wurden,
waren unter den ungünstigeren Bedingungen des praktischen Be¬
triebes um so sicherer zu erwarten.
Bei Normalen kamen VervA-echslungen überhaupt nicht Amr.
Bot Avurde unter allen Umständen erkannt; bei Grün zweifelten
einzelne Personen anfangs, ob es Blau oder Grün sei, niemals
aber wurde es }nil Weiß oder Rot verwechselt.
Nagel selbst (Deuleranop) wurde geprüft, ehe er sich an¬
gesehen batte, Avie die farbigen Licbter an der fertiggestellten
Versuchsanordnung aussahen, so daß er für die Benennung der
Sigiiallichter keine Aidiallsj)unkt.e balle, als den subjektiven Ein¬
druck ihrer Faibigkeit. Bot glaubte er mit einiger Sicherheit
von den beiden anderen Farben unterscheiden zu können, aber
Grün und Weiß konnte ei' nicht auseinander halten und stellte
sic einfach als ,,Nicblrnt“ dem Bot gegenüber. Auf 15 licblige
kamen 25 falsclie j\nlAvorlen; bei 12 Aum letzteren kam Bot ins
Spiel, indem er (mtAveder Bot ,,Avciß“ nannte oder Grün oder
Weiß „rot“. Dann bemübto er sich, die Untersclieidung zu er¬
lernen. Da ihm die drei Lichter lalsäcblicdi gleichfarbig, das
beißt alle mehr Aveniger gelblich erschienen, mußte er sekun¬
däre Kriterien zu Milk' nebinen; er lernte und merkte^' sich, daß
das Grün am Avenigsten gelb, fast Aveiß Avar, das Bot am liefsten
gelb, außerdem rote Licbl<u’ im allgemeinen am scbäj'fsten kon-
luriert. So bj-aebte er es dabin, daß auf 37 richtige AntAVorten
nur mehr sieben falsche kamen, also ca. IG'’/« Fehler; ein BeAA'eis
dafür, daß seine sekundären Hilfsmittel tatsächlicb, nützten; aber
auch der zehnte, ja der hundertste Teil solcher VerAvecbslungen
Aviirde zum Lokomolivfübrer oder Steuermann untauglich maclien.
Alle anderen farbenblinden Versuebspejsonen erklärten die Auf¬
gabe gleich bei den ersten Versuchen für unlösbar, alle Lichter
sähen für sie gleich u. zav. gelblich aus.
Die .Anomalen machten bei isoliert gezeigten Einzeilicbk'rn
selbst in dieser Versuebsanordnung (avo lichtscliAvacbe Signale
und kurze Exjiosition Avegfielen) ülK'rraschend Adele Fehler. Na¬
mentlich Avenn man isoliert nur Grün oder nur Weiß (bzAV. Gelb)
zeigt, sind sie fast ganz aufs B<Ben angOAviesen. Z('igt man
nudu-ere Licbter gleichzeitig, so scliAvanken ihre Angaben in kurzer
Zeit. Ein rotes Licht erklären sie im ersten .Momente für lot,
um si(di gleich darauf zu korrigieren und zu sagen, es sei doch
grün; so kann es (Avahrscbeinlich im Zusammeidiange mit ab-
sicblliclien oder unabsicbijichen BlickschAvankungen) mehrmals
Avecbs'cln, eine Erscheinung, die man Aveder l)ei Normalen iioch
bei Faibenblinden beol)aclilet. Auch der abnorme Simultankou-
1 trast zeigt sich Ix'i dieser Untersucbungsmclhode so deutlich als
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73^
möglich. Neben einem oder zwei liehen roten Liclilern ersclieiiit
für den Anoimden ein vveißes, Ja sellisl. ein kleineres oder diink-
Im'es Rot als Grün; nicht ganz so bestimmt erfolgt die Rezeich-
niing „rot“ für ein Weiß odm- lichtschwaclies Grün, das neben
beitem Grün steht. Rei ßO Versuchen, in diuien je drei Lichler
nebeneinander gezeigt wurden, finden wir von den 1)0 Lichtern
37 falsch hi'nannt.
Es schien mir nicht unwichlig, diese Versuche etwas
ausführlicher wiedei'ziigehen, da sie wohl auf jeden Un-
hefangenen ülierzeugend wirken dürften und c‘in und für
sich sehr lelirreicli sind, da sie eine gute Vorstellung von
dem Favhensehen der Dichromaten und Anomalen über¬
haupt geben. Vielleicht wird es jetzt ailmählich slide von
den sogenannten meist ganz unglaublich harndosen prak-
lischen Ueherprüfungen, sowie der immer und immer wieder¬
kehrenden Erfindung neuer Ealernenmethoden auf ganz un¬
zutreffenden wissenschaftlichen V oraiissetzungen.
In den Bestimmungen für die österreichische Handels-
marine ist eine sehr bedenkliche Prüfung init Signaliiehtern
sogar vorgeschrieben. Bei der deutschen Handelsmarine
sind derartige Examina sehr beliebt und als Kontrolle heim
Versagen einer an und für sich ganz ungenügenden Woll-
probe wird dort eine Nachprüfung mit der Evershusch-
schen Lampe vorgenommen.
Eine erst in letzter Zeit bekannt gewordene Tatsache
bildet übrigens eine ernste Mahnung, der F'arbensimRirüfung
die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Man erinnert sich
noch an die grauenvolle Kataslrophe, die vor mehreren
Jahren auf . der Elbe hei Hamburg eine große Zahl von
Menschenleben vernichtete : den Zusammenstoßi des Schlepp¬
dampfers ,, Hansa“ mit dem üherfüllten Passagierdampfer
„Primus“. In dem anschließenflen Gerichtsverfahren kam
zutage, daß der Kapitän des „Primus“ über die Laternen-
farhe des entgegenkommenden Schiffes Angaben machte,
die objektiv unmöglich richtig sein kojinten. Nagel sprach
schon damals die Vermulung aus, daß eine Earhensinn-
störung die Ursache gewesen sein könnte, es verlautete
aber nichts über ein etwaiges Prüfungsresultat. Erst letzt¬
hin, in den Kämpfen um die Neuordnung der Earhensinn-
frage, wurden beide Kapitäne untersucht und es ergab sich
tatsächlich Farbenblindheit des ,,Primus“-Kapitäns ; er war
als Flußischiffer und Führer eines ,, Binnenfahrers“ auf sein
Farbenunterscheidungsvermögen überhaupt nicht geprüft
worden. Dieser krasse Fall wird die obligatorisclie Ein¬
führung der Nage Ischen Tafeln für die deutsche Handels¬
marine jedenfalls heschleunigen, obwohl sich die deutschen
Seeschiffervereine samt ihren ärztlichen Sachverständigen
unter den sonderbarsten Argumenten dagegen stemmen.
Auch für unsere Handelsmarine sollte diese verallete,
auf ganz unrichtigen Prämissen beruhende, nur einer gefähr¬
lichen Scheinprüfung gleichkommende Beslimmung ehestens
beseitigt und durch ein modernes Prüfungsverfahren ersetzt
werden; denn als oberster Grundsatz muß gelten, daß die
Earbensinnprüfung, wenn sie überhaupt geübt ward, in einer
dem jetzigen Wissensstände entsprechenden Form durch¬
geführt werde.
Die maßigebenden Persönlichkeiten und Sachverstän¬
digen unserer Heeres- und Mariiieverwaltung bringen der
Frage das größte Interesse entgegen; sind, wie ich aus münd¬
licher Mitteilung weiß, über die neuesten Forschungsergeb¬
nisse in der Färbens hm frage genau unterrichlet und die Ein¬
führung der Nagelsqhen Tafeln und Aiiiiarate, sowie die
Untersuchung der Mannschaften sind bereits in die Wege
geleitet.
Audi unsere EisenlialmverwaUungen werden nach
Prüfung des derzeitigen Standes der tTage den geänderten
xVnschauungen zweifellos bald Rechnung tragen und siidi
selbst damit den größten Gefallen erweisen.
Die Bahnärzte der Südhahn haben schon vor Monalen
zu den hehördlich vorgeschriebenen Behelfen (Holmgren
und Stilling) noch die Nage Ischen Täfeln mit einer das
Wesen der Farhensinnslörungen kurz erläuternden Instruk¬
tion erhalten und wir sind eben an der Arbeit, das gesamte
im exekutiven Dienste stehende Personale an der Hand
dieses Verfahrens einer Ueberprüfimg zu unterziehen. Es
ist gelungen, wieder lebhaftes Interesse an der früher wirk¬
lich öden Frage zu erwecken; die Herren sind mit freudigem
Eifer an der Sache und die Tafeln, sowie das rasclie, ziel¬
bewußte und ergebnisreiche Arbeiten mit denselben finden
allgemeinen Bidläll. Kein Bediensteter wird als iärbentüchtig
erkamit, der die Probe nicht tadellos bestanden hat. Alle
Dichromaten und Anomalen oder irgendwie zweifelhaften
Fälle werden mi Nagels Farbengleichungsapparat
und Anomaloskop nachgeprüft (auch der Heringsche
Apparat wird fleißig henülzt) und die Diagnose. auf ihre
Richtigkeit geprüft, resp. ergänzt. So glaube ich hoffen zu
können, daß der Farhenshmkataster unserer Bediensteten in
Zukunft keine blinden Flecke mehr aufweisen werde.
Die Einführung in die Frage der [iraktischen Farhen-
siimprüfung verdaoke ich ausschließlich Herrn Professor
Nagel, dem ich für wiederholte, mit größter Geduld und
Nachsicht erteilte Unterweisungen und Demonstrationen, für
Eichung der Apparate und Lleberlassung der Skizzen seiner
Lehrbehelfe ganz außerordentlich verpflichtet hin. Für Aus¬
führung der Zeichnungen stehe ich hei Herrn Zdarsky
in Schuld.
Benützte Literatur:
h J. V. Kries, Die Gesichtsempfindungen. Handbuch der
Physiologie von Nagel, Bd. 3. Physiolgie der Sinne, Braunschweig 1905,
Friedr. Vieweg & Sohn. — h W. A. Nagel, Beiträge zur Diagnostik,
Symptomatologie und Statistik der angeborenen Farbenblindheit, Archiv
f. Augenheilk. 1899, Bd. 38, S. 31. Die Diagnose der praktisch wichtigen
angeborenen Störungen des Farbensinnes von Dr. scient. nat. et med.
W. A. Nagel, Wiesbaden 1899, J. F. Bergmann. Notiz über einige
Modifikationen an meinem Apparate zur Diagnose der Farbenblindheit,
Arch. f. Augenheilk. 1900, Bd. 41, S. 384. Zur Diflferentialdiagnostik der
angeborenen Farbensinnstörungen. Zentralbl. f. prakt. Augenheilk. 1904.
Einige Bemerkungen über den Typenunterschied unter den Farben¬
untüchtigen. Engelmanns Arch. f. Physiol. 1904, S. 560. Die Diagnose
der anomalen trichromatischen Systeme. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk.,
April 1904, Bd. 42, H, S. 366. Einige Beobachtungen über die Farben¬
sinnstörungen im Netzhautzentrum bei retrobulbärer Neuritis. Ebenda
1905, Bd. 43, S. 742. Was ergeben die neueren physiologischen Er¬
fahrungen über Anomalien des Farbensinnes bezüglich der zur praktischen
Prüfung geeigneten Untersuchungsmethoden? Aerztl. Sachverst.-Zeitg.
1904, Nr. 9. Dichromatische Fovea, trichromatische Peripherie. Zeit¬
schrift f. Psychol, und Physiol, d. Sinnesorgane 1905, Bd. 39, S. 93,
Leipzig, J. A. Barth. Fortgesetzte Untersuchungen zur Symptomatologie
und Diagnostik der angeborenen Störungen des Farbensinnes. Ebenda
1906, Bd. 41, Heft 4, S. 239, und Heft 5, S. 319. Versuche mit Eisen¬
bahnsignallichtern an Personen mit normalem und abnormem Farbensinn .
Ebenda, Bd. 41, Heft 6, S. 455. — ü Stabsarzt Dr. Collin, Veröffent¬
lichungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswesens, Heft 32. Zur
Kenntnis und Diagnose der angeborenen Farbensinnstörungen, Berlin 1906,
Hirschwald. — ü Hering E., Zur Diagnostik der Farbenblindheit, v. Graefes
Archiv für Ophth. 1890, Bd. 36, H. 1, S. 217. Eine sehr gute mit Abbildungen
versehene Beschreibung des Apparates findet man auch bei Brückner,
Chromatopsimetrie in Graefe-Saemisch Handbuch der gesamten Augen¬
heilkunde 1905, 2. Aufl., Bd. 4, S. 215. Hier auch ausführliche Literatur
über Farbensinnstörungen überhaupt.
Die geschichtliche Entwicklung der Lehre vom
Basalzellenkrebs.
Richtigstellungen zu dem Artikel von Dr. Hermann C o e n e n, Assistenten
der königl. chirurgischen Universitäts-Klinik in Berlin
in Nr. 20 der »Wiener klinischen Wochenschrift« vom 16. Mai 1907.
Von Privatdozent ür. Dominik Pupovac, Abteilungsvorstand der Wiener
Allgemeinen Poliklinik.
Wenn man sich der Aufgabe iiiilerzielil, eine geschichtliche
Entwicklung einer Lehre darzu stellen, so gilt als oberster Grund¬
satz, die herangezogenen Arbeiten richtig zu zitieren. So sehe iidi
mich denn, um AJißversländnissen vorzubeugen, veranlaßt, fest-
zuslellen, daß der Titel nieiner im .lahre 1898 in der Deulschen
Zeilscluift für Chirurgie erschienenen Arbeit nicht wie Herr Doktor
11. Coenon zitiert, ,, Leber die sogenannt.(Mi llautendotbeliome' ,
sondern ,,Zur Kasinslik nnd Hislologie der sogenannten Endo-
theliome“ lautet. Ferner möchte ich zu dem Satze Coenens,
,,Guleke konnte in der Festschrift für Exzellenz v. Bergmann
(Langenbecks Archiv 19Ü(i) eine Serie von subkutanen, leicht ver¬
schieblichen Geschwülsten des Gesichtes beschreiben, die sich
aus tibgesprengten Keimen der Parotis oder der 'rränendrüse ent¬
wickelt hatten, dieselben Typen, die Pup-ovac fl. c.) fälsch-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
Öö
licli als Kiidolliolioiiie ]K“Zcichnt>l hailc“, beiuerken, daß in meiner
Ar])ei(. l'ünf Fälle bosclirieben wurden u. zw. Fall 1: Submukös
gelegener Tumor des barten Gaumens; P'all II: Submuköser Tumor
der linken Wange; Fall 111: Submuköscr Tumor der Unlcidippe ;
Ikill IF: Submuküser Tumor der Oberlippe und scbließlicli Fall V:
Submuköser Tumor der Mundscbleimbaut in der UebergangsralLe
zwischen Tuber maxillae und aufsteigendem UiiLerkieferast.
t^eferate.
Pathologie und Therapie der Frauenkrankheiten.
Vierte Auflage.
Rearbeitet von A. Marlin und PIi. Jung.
Wien 1907, Urban & Schwarzenberg.
Das Frscbciiien der vicuten Auflage des bewährten Duclies
von A. Martin, eines der Altmeister imseres Faches, kann als ein
lilerai'isclies Ereignis bezeichnet werden. Da die dritte Auflage
voi‘ 13 .labren erschienen Und seit fast zehn Jabren vergriffen
war, so war eine Neubearbeitung der ganzen Materie notwendig
utni si)iegelt dieselbe die in den letzten zehn Jahren erreichten
Foi'tscbritte unseres Facbes wider, ln diese große Pause zwischen
der dritten tind vierten Auflage fällt die Herausgabe des großen
Werkes von A. Marlin: Handbuch der Erkrankungen der Adnex¬
organe, in drei Bänden. Wer dieses grundlegende Werk kennt,
wird begreifen, daß Martin gezwungen war, die längst not¬
wendig gewordene Neuausgabe seiner Gynäkologie liinauszn-
sebieben.
An allen Stellen seines Werkes sehen wir den erfahrenen,
gereiften Gynäkologen, der nun auch schon zn den älteren Lehrern
unseres Faches gehört. AVie ein Traum scheint es, daßi Schreiber
di(cses zu den Füßen dieses ersten gynäkologischen Operateurs
gesessen, daß es ihm' gestattet war, die ersten größeren gynäko¬
logischen Operationen durch ihn ausfiihren zu sehen, die heute
jeder klinische Assistent auszuführen verstellt. Mehr als ein
Vierleljabrliundcrt ist seitdem verflossen.
Ein IMann wie Martin kann \vohl das Recht für sich
beanspruchen, eine führende Rolle auf allen Gebieten seines
Faches innezuhaben. Wenn ich im folgenden trotzdem mein
yVmt als Kritiker bezüglich einzelner Fragen zu üben mir erlaube,
so soll dadurch der bedeutende Gesamtwert des Werkes von
A. Marlin nicht geschmälert werden.
Marlin erklärt sich als ein Anhänger der Lumbalanästhesie,
jedoch nur insoweit, als es sich um Operationen an Damm,
Rektum, Vulva, Vagina, Portio, Blase oder Inguinalkanal handelt;
auch für vaginale Zöliolomien eignet sich diese Art der lokalen
.Anäslbesie. Abdominale Zöliotomien führt Martin nach wie
vor unter allgemeiner Anästhesie aus.
Znr Ah'rhütung der Infektion der Hände empfiehlt Martin
den ausgedelintcren Gebrauch der Ginnmihandsclhihe.
Mit der Methode des Referenten, den Uterus bei hochgra¬
digem Prolaps aller Frauen ins Septum vesico- vaginale cinzn-
lagern, hat A. Martin sehr Unbefriedigende Erfahrungen ge¬
macht. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als an der Klinik
des Referenten diese Operation nach wie vor mit sehr gutem
Eifolge geübt wird. Hoffentlich läßt sich Martin durch anfäng¬
liche Mißerfolge nicht abschrecken.
A-on der Lappenspallung nach L a w s o n - Ta i t, ist
A. Mai’lin vollständig zurückgekommen. Es bilden sich lästige
'baschen in der vorderen Mastdarmwand und, wie ich hinzufügen
möchlc, auch in ‘der hinteren Scheidenwand. Auch wir ül)en die
Alelbode nicht mehr.
Rezüglich der Entstehung der Inversio uteri steht Martin
noch immer auf dem Slandpunkte, daß bei derselljen Iheruskon-
Iraktionen milwirkeji, obwohl er zugibl, daß der Uferus dabei
in seinen AVandungen häufig atiT)])biort oder fetlig eniartet ist.
Als Gbarakteristikum vorausgogangener SchwangerschafI
wild die Sägeform der Drüsen der Ulerusschleimhaiit (Opitz)
hingestellt. Doch kommt diese Form auch während der men-
struellen Tätigkeit zustande (llitschmann). Uebrigens bildet
Alai’lin selbst diese Sägeforin der Drüsen in Fig. 97 als Endo¬
metritis glandularis hypertrophica, als einen außerhalb des Puer¬
perium bestehenden Prozeß ab.
Der Vaporisation gegenüber verbäll sieb Martin mit Recht
ableimend.
Bezüglich der Enukleation von Myomen steht AI artin
auf seinem seit lange bekannten Standpunkte, obwohl er sich
den Einwänden der gegnerischen Seile nicht vcrscidießt. Er
gibt jedoch zu, daß bei längerer Beobachtung schließlich doch
sowohl die radikal als die konservativ Operierten zu einem völli¬
gen AVohlbefinden kommen.
Bezüglich des Operationsweges gibt er dem vaginalen den
Vorzug, trotz der Amrbesscrung der Bauclideckennaht und trolz
der Sicherheit, welche der Faszienquerschnitt für die spätere
Funktion der Bauchdecken hietet.
Bezüglich der Operation des Zervixkarzinoms 'bekennt sich
Al artin als Anhänger dos erweiterten abdominalen Operations-
verfabrens. Dagegen ist nichts eiiizuwenden, doch wäre cs ob¬
jektiv richtig und den Tatsachen entsprechend gewesen, die vagi¬
nale Operalionsmetliode, wie sie bei Zervixkarzinom von Sc hu¬
ch ardt, Staude und Ref. entwickelt wurde (mit Entfernung
der Parainetrien, Pi'äparation der Ureteren) wenigstens zu er¬
wähnen und nicht, wie das leider noch immer geschiedd, die
Tindniik der va.ginalen Operalion bei Karzinom mit der bei Myom
als' identisch hinzustellen. Tatsächlicti erreicht die vaginale Kar¬
zinomoperation heute schon einen absoluten Heilungs|)rozentsatz,
der dem der abdominalen Operation nicht wesentlich naclisteht.
Schauta.
♦
Lehrbuch der Hygiene.
Von M. Bubner.
8. Auflage.
Wien und Leipzig 1907, F. D e u t i c k e.
Bei der Besi)rechung der vor kurzem erschienenen achten
Auflage (h‘s umfangreichen, gegeinvärlig über 1000 Seilen fassen¬
den Rubncrschen Lehrbuches, Avird dem Referenten die yVuf-
gäbe sehr leicht gemacht, da von spärlichen Ergänzungen und
A^eränderungen einzelner Abschnitte abgesehen, Inhalt und Form
des Lehi'huchcs im großen und ganzen dieselben geblieben sind.
Alle die oft gerübmten Vorzüge des' Buches, in dem die seltene
Auelsei tigkeit des Vei'fassers klar in Erscheinung tritt, sind auch
der neuen Auflage zu eigen — freilich auch die Mängel der
früheren, die Ref. niemals verschweigen konnte, vor allem die
Avenig klare Form der Darstellung und die nicht genügend über¬
sichtliche Anordnung des Stoffes bei einer größeren Anzahl von
Abschnitten. Es ist befremdlich, daß dies namentlich für Gebiete
zu trifft, auf Avelcben der Verfasser sellrst Avissenschaftlich t ätig
ist. Der Anfänger dürfte sich z. B. kaum in dem Avichtigeu Ah-
schnitte der AVärmeükonomie zurechtfinden und auch andere Ka¬
pitel, AAÜe die AVasserversorgUng, nicht mit jenem Nutzen verar¬
beiten können, die der Inhalt der Abschnitte verdienen würde. Eine
gründliche Uniarheit'ung und bessere Gruppierung tut hier
di'ingend not. lieferen I ist aus den genannten GründeJi
schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, das Rubnersche
Lehrbuch zur Ergänzung der von ihm gehaltenen Vorlesungen
den Studierenden zu empfehlen, AvieAvobl er A'^orgeschrittene und
Physikaiskandidaten, die sich schon eingehend mit der Materie
beschäfligt haben, gerne auf das Buch verAA'Cist.
Klarheit und didaktisch eiiiAvandfreie Sichtung des Alaterials
sind eben bei einem Lebrbuche, das für den überlasteten Stu¬
denten der Medizin überhaupt verwertbar sein soll, V'orzügo,
auf die iiicbt verzichtet Averden kann. Es sei dem Relereuten
ferner geslattet, den AV'unsch auszusprechen, daß bei einer Avei-
teren Neuauflage einzelne Abschnitte auch hinsichtlich d(;s In¬
haltes eine Umarbeitung erfahiHm mögen, so in erster Linie der
Abscbnilt über Infeklionskrankheilen, der in manchen Eiiizcd-
heiten den gegeiiAvärtigen Stand der Forsclmng nicht ausreichend
Aviedergibl. So sollte sich in dem Biudie eines so verdienstvollen
Vorkäni])fers majicher hygienischen Disziplin die Bemerkung nicht
finden, daß der Alikrooj'ganisuuis der T^yssa ,,no(di nicht genügend
charakterisiert ist“. Auch in dem Abscbnille Quarantäne ist
auf die gegenAvärlige Bed(‘utung dieser Alaßnalnnen in ihrer
neueren .VnwendungsAveise nicht genügend Rücksicht genommen,
da es doch nicht angeht, Grenzkordon und die in modernejn
Sinne ausgestaltete Quarantäne in eine Reihe zu stellen.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
^ 7bü
lief, kann iriir wünschen, daß der Verfasser sich endlicli
einmal docli eidschließen niöiKe, gründlich an sein Werk Hand
anzuiegen, um das Buch auf jene Slufe zu hriugen, die seinem
Verfasser unheslriflen eingeräuml wiid. W^er das Biesengehicf
der Hygiene kennl, wird freilich die eingehende ArheiL zu
würdigen wissen, die die Umarbeifung eines großen Lehrhuches
erfordeid. A. Schatlonfro h.
*
lieber die Desinfektion von Büchern, Drucksachen und
dergleichen mittels feuchter, heißer Luft.
Aus dem hygienischen Institut der k. k. Universität Innsbruck.
Von Dr. Franz Balliier.
Leipzig und Wien 1907, F. Deu ticke.
Die Frage der Desinfeklion von Büchern, Drucksorhm und
ähnlichen Ohjeklen, die einei’s'eits durch eine Reihe von hekauuteu,
wirksamen Desinfeklionsverfahren, Schaden erleiden, anderseits
an die Tiefenwirkung des zu desinfizierenden iVgens große An¬
forderungen stellen, ist, bisher weder durch die Vervollkommnung
des chemischen Desiufektionsverfalirens (Formaldehyd), noch
durch die Versuche, das Dampfdesinfeklionsverfahren in ent¬
sprechender Modifikation heranzüziehen, einer hefriedigenden
Lösung zugeführt worden.
Es tiahen deshalh die vor mehr als einem Jahre veröffent-
lichfen Angahen der Fl üg gesehen Schule, über die gute Hes-
infeklionswirkung der protrabierten Behandlung von Büchern mit
trockener Hitze, in Fachkreisen größere Beachtung gefunden
und die Hoffnung erweckt, daß mit dieser Methode die Schwierig¬
keiten zu üherwinden seien.
B a liner zeigt in der vorliegenden, lesenswerten Broschüre
auf Grund zahlreicher, exakt angestellter Untersuchungen, daß
keines der hisher angewendelcn Verfahren einer strengen Kritik
slandhält. Hingegen läßt sich nach Bai liier durch Anwendung
feuchter heißer Luft (Temperatur von 95*^0 und 40% relative
Feuchtigkeit) schon in vier Stunden eine sichere nesinfektion
der Bücher erreichen, wobei weder Einbände noch Inneres der
Bücher nennenswerten Schaden erleiden. Die nähere Beschreihung
des ührigens recht einfachen Verfahrens uiiil des zur Desinfektion
nötigen Schrankes ist im Originale nachzulesen. Schulärzte, Bi-
bliotheksverwaltungen und Schulvorstände sollten sich mit dem
Inhalte des Büchleins, welches in seinem Schlußkapitel über die
Hygiene des Umganges mit Büchern bemerkenswerte Winke er¬
teilt, vertraut machen.
4
Klinisches Jahrbuch.
BJ. 16, Heft 1.
Jena 1906, Gustav F i s c h e r.
Das vorliegende erste Heft des XVI. Bandes des
kliniseben Jabrbuches enthält 26 Ahhandlungen aus der
Feder jener Leiter und Mitarheiter wisisenschafllicher Insti¬
tute und hehöitllicher Zentralen, die mit der Untersuchung
und Bekämpfung der im Jahre 1905 von Rußland nach
Preußen eingeschlepp ten C h d 1 e r a a s i a t i c a betrau t waren
und bietet eine solche Fülle bemerkenswerter Einzelbeiteii,
daß das eingehende Sludium des 378 Seiten starken Heftes jeilein
Arzte, der sich mit epidemiologischer Forschung befaßt, zur Pflicht
gemacht werden kann. Dies gilt um so mehr, als bei dieser
Epidemie zum ersten Male der ganze Apparat der modernen
Choleraüiagnostik und Prophylaxe in umfassender Weise mit dem
den preußischen Sanitätsbehörden eigenen wohlgeordneten Zu-
•sammengehen von Wissenschaft und Praxis in Tätigkeit trat und
so reichlich Gelegenheit vorhanden wair, den Wert der einzelnen
Maßnahmen zu erproben.
Außerordentlich helehrend sind jene Schilderungen, die sich
mit der Darstellung des unndttelhar nach dem Auftreten der
zuerst beohachteten Fälle von Choleraerkrankungcn unter den
die Weichsel befahrenden larssischen Flößern errichteten
Stroniübei'wachungsdienstes hefassen. In kurzer Zeit wnirden
in I^eußcn 60 Sli-omüberwachungsstellen errichtet, auf
welchen im ganzen 173 Aerzle tätig waren. Die einzelnen
Autoren schildern in ohjektiver WTdse, inwieweit sich die
Durchführung dieser Älaßnahmen bewährte. Es erwies sich
hier die infolge des außerordentlich niedrigen Bildungsgrades
der Flößer teilweise undurchführbare Desinfektion der verschie¬
denen Flößeroljjekle und der Dejckte der Flößer vveuiger wirk¬
sam als die strenge Durchführung der Aiizeigepflicld, sowie die
Ueberwachung des Absebubes der in die Heimat zurückkehrendeu
Flößer, welche z. B. an der Hauptahfertigung's'stelle am oheren
Teile der W^eichsel hei Brahemünde gesammelt und in plombierten
Eisenbalmwaggons nach Alexandrow'o abgeseboben wurden.
Ebenso wichtig als dieser Ucberwachungsdienst erwies sich
die in großem Alaßstabe durchgeführte hakteriologische Ihiter-
suchung der Dejekte von cholerasuspekten Personen und deren
Umgehung, durch die verschiedenen staatlichen und städtischen
bakteriologischen Untersuchungsanstaltcn. In dem . Institute für
Infektionskrankheiten zu Berlin allein wurden vom 21. August
his 18. November 1905 mehr als 2600 Einzeluntersuchungen vor¬
genommen, was hei dem Umstande, als die Zahl aller wirklich
heobachtclen Cholerafälle nur 280 erreichte, für die große Wach¬
samkeit der Aerzte und Behörden spricht.
Was die Durchführung der hakleriologischen Eidersuchung
betrifft, so richteten sich die Untersucher durchwegs nach der
vom 28. Januar 1904 vom Bundesrate erlassenen Anweisung
zur Bekämpfung der Cholera. Diese Anweisung hat sich im all¬
gemeinen nach dem Urteile der UntersUcher sehr hewährt. Immer¬
hin ergehen die Berichte manchen praktischen Wdnk für die Be¬
urteilung der kulturellen jMethoden, sowie für die Verwertbarkeit
der Agglulinationsprohe und des Pfeifferschen Versuches.
Mehrere UntersUcher sprechen sich für die Auflassung der'
regelmäßigen Aussaat des Materiales auf Gelatineplatten aus, da
die Resultate dieses Verfahrens gewöhnlich durch die gleichzeitig
eingcleitete Agarzüchtung mit oder ohne Peptonwasservorkultur,
welche komhiniert mit den biologischen Methoden verhältnismäßig
rasch zum Ziele führen, üherholt werden. Einzelheiten sind im
Originale nachzulesen.
Mit berechtigter Genugtuung sagt Kirchner am Schlüsse
des das Werk einleitenden Aufsatzes: ,,Man geht wohl nicht
fehl in der Annahme, daß die Aufmerksamkeit und der Eifer der
bcamleten und nicht heamteten Aerzte, die Tatkraft der Behörden
Und die Schnelligkeit, mit welcher die Maßnahmen ergriffen und
durchgeführt wurden, wesentlichen Anteil an dem glückliclum
Ausgange gehabt haben.“ Gr a ßb er gor.
Aus i/crsehiedetien Zeitsehriften.
294. Versuche von Uehertragung der Lepra auf
Tiere. Von Dr. P. V. Jezierski, 1. Assistenzarzt der medizi¬
nischen Klinik in Zürich (Direktor: Prof. Dr. H. Eichhorst).
Da die Frage der Uobertragbarkeit der Lepra auf Tiere noch
nicht geklärt ist, wurde an der Züricher Klinik eine Serie ver¬
schiedener Versuche angestellt, wobei das Uehertragungsmaterial
einem mit hochgradiger Lepra tuberosa behafteten Knaben ent-
noinmen wurde. Ein 'gesundes Meerschweinchen wurde in das
Zimmer des Knaben gebracht, der eitertriefende Kranke trug es
oft stundenlang mit sich herum und beschäftigte sich fortwährend
mit demselhen. Nach sechs Monaten wurde das Meerschweinchen
aus dem Zimmer entfernt, zwei Älonate lang isoliert und hernach
getötet. Einem zweiten Tiere (Kaninchen) wurde mittels Wafte-
tampous das Nasensekret des Leprösen in die Naseidiöhle ein¬
gerieben. Das Tier bekam eine vorübergehende Koryza und ein
Emphysem der Lungen, aber Leprabazillen wurden, als das Tier
nach 7V2 Monaten getötet wuirde, so wenig als im ersten Falle
gefunden. Einem Kaninchen wurde in die Nervenscheido des
bloßigelegten Ischiadiclis eitriges Wuudsekret des Leprösen in¬
jiziert, einem andeien Kaninchen wurden einige Kubikzentimeter
einer durch Vesikatoren gewonnenen, leprabazilleidialtigen
Flüssigkeit subkutan, einem Meerschweinchen dieselbe Flüssigkeit
intraperitoneal eingespritzt, die nach 9, 7V-', resp. 9 Monaten
getöteten Tieiu wiesen in ihren Organen keine Leprabazilten auf.
Schließlich wurden einem MeeiTSclnveinchen 3 cnP frisches
Blut des Leprösen intraperitoneal, einem anderen Tiere lepra-
hazillenhaltige Vesikatoiienflüssigkeit in die Ohrvenen injiziert
und die Tiere nach Älonatcn getölet. Resultat stets negativ, sämt¬
liche Organe enviesen sich sowohl makro-, wie mikroskopisch
durchaus' normal. Verf. berichtet über die zum Teile auch ab¬
weichenden (positiven) Resültate verschiedener Experimentatoren.
— (Deutsche med. Wochenschrift 1907, Nr. 16.) E. F.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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205. (Alis der Säug]iiigsabl<.‘iluiig des llainburgischeii Waisen-
baiises.) Ucber einen neuen Vorschlag zur Pb osp bor¬
er nä lining und P h o sp li o r l li e r a p i e im Kindesaller.
Von Dr. Karl Manchot. Die bislierige Pbosphorlberapie in Go-
slalt des Pbospborlebcrtrans bat zwei bedenkliclie Pcbelsfilndc.
Ziinä(disl geböri der clemenlare gelbe Phosphor zu den aller-
slärksten SLol'fwechsi'Igiflen lind zweilens ist der Phosphorleber-
li'an unbeständig und leicht zersetzlich, wodurch er seine Wirk¬
samkeit einbüßt. Versuche mit „Phytin“, einem organischen
Pflanzcnphosphor, enlsprachen nicht den Erwartungen des Ver-
fasers. Er griff daher auf die phosphorreiclien Vegelabilien
zurück, lim die organischen Phosphorsuhslanzen für die Plniüh-
rung aufzuschließcn und wählle den Hanfsamen russischer Iler-
kiinfl. Außer dem hohen Phosphorgehalt enthält derselbe nach
dmi hisherigen Analysen in grohen Umrissen etwa 22% stick-
sloffhallige Suhslanz, 13-ü% Kohlehydrate, 2G-3% llohfaser und
30 bis 31% Oel (Hanföl). Der feingemahlene Hanfsamen wurde
ursprünglich mit Benzin entölt, denn das Hanföl ist für die
Säuglingsernährnng iinz weck mäßig. Von den vereiniglen Ham-
hiirger Oelfahriken wird jetzt ein präpariertes Hanfniehl herge-
slelll, das sich in der praklischen Anwendung hestens hewährt.
Daraus bereitet Verf. eine Hanfmehlsuppe in folgender Weise:
lOÜ g enlülles Hanfniehl werden mit einem Liter Wasser ange-
rübrt und bei gelindem Feuer auf etwa 250 ciiP langsam einge¬
engt. Dazu sind iVa bis iVi Stunden erforderlicb. Die Mischung
soll eigentlich nicht kochen. Die Hanfslippe wird nun durch ein
feines Sieh gegossen, der Rückstand mit einem Holzlöffel sorgfältig
ausgedrückt. Die so erhaltene Suppe enthält noch Pflanzen¬
fasern, Schalenreste und wird nochmals filtriert. Auf diese
Weise erhält man eine dünne, milchige, weißigelbliche his
brälinlichgelhe Suiipe von deutlich sauerer Reaktion, die
angenehm schmeckt, aber einen leicht hitteren Nachge¬
schmack hat. Von dieser Suppe läßt der Vei'fasser je
nachdem 30, 40 bis 50 cnp der Flasche des Kindes zuselzen.
Sie verträgt sich mit allen ühlichen Milchmischungen, auch mit
Rulterniilch, Malzsuppe und verliert dadurch iliren Nachgeschmack.
Bei Kindern im zweiten Jahre wird die Hanfmehlsipipe den
Suppen, Rj'eien oder der Milch zugesetzt. Bisher ist dieselhe
hei den auf vier Monate sich erstreckemlen Versuchen von allen
Kindern anslandslos genommen worden und es konnten nicht
die geringsten Störungen der Verdauung oder des Allgemein-
hefindens beobachtet Averden. Im ganzen haben his jetzt
101 Kinder die Hanfniehlslippe bekommen. 71 Kinder standen im
ei'slen Lebensjahre. Außer den Rachitikern mul den Kindern
mit spasmophiler Diathesc zog Verf. zu diesen Versuchen haupt¬
sächlich elende, schwächliche und atrophische Kinder heran,
die durch Krankheit oder falsche Ernährung herunlergekommen
waren. Das Resultat war ein überraschend günstig(*s. Schon
nach zwei bis drei Tagen geht das KörpergeAvicht rasch in die
Höhe, nach acht bis zehn Tagen ist die V^eränderung im Aussehen
der Kindel' auffallend. Die fahle Blässe der Haut und Schleimhäute
vei'scliAvindet ; die Aveichen, schlaffen Muskeln Averden fest; die
Kinder werden frischer und munterer. Während der ersten zehn
J’age ist die Zunahme des Körjiergewichles ain slärksten; Verf.
sah Zunahmen bis zu GGO, ja bis 720 g in zebn Tagen. Ebenso
günstig Avar die Einwirkung auf den Allgenieinzustand bei raebi-
liscben Kindern im ersten und im zAveiten Lebensjahre. Anf-
lällig war der Einfluß auf die Schwiüße und auf die Anämiig
sowie auf die Störungen des KnochenAvachstums. Die Kranio-
tabes gebt zurück; die Zabnenlwickhing kommt in Gang. Audi
bei sechs Fällen von Spasmus glollidiiS Avar der Erfolg günstig.
Die Anlälle schwanden nach sechs his acht Tagen. Zur Frage
nach der Natur der Avirksamen Phosphorsuhstanz des entölten
Hanfsamens bemerkt Verf., daß anorganische Phosphate überbauiit
nirdit nachgeAviesen Averden konnten. Der Phosirhor ist zum
Aveilaus größten Teile als organisch gebuiulen anzunehmen. In
wcIcIku' Vlenge die organischen Phosphorsuhslanzen des Hanf¬
samens in der nach des Verf. Vorschrift hereileten Ihinfmehl-
suppe ('iilhalten sind, soll durch Aveilere Untei'suchungen fesl-
gesbdlt wei'tlen. Schon jidzl ahm' möchte Wu'f. die Hanfmehl-
suppe allen Kinderärzten angelegentlich innpfehlen. Zirrn Schlüsse
sei imch hervorgeboben, daß die HanfrnehJsu])pe in früheren
.lahrhuudei'ten ein A\eit Amrbreitetes und beliebtes deutsches
Volksnahrungsmiltel Avai', das nirr in Vergessenheit geraten ist.
— (Münchener rnediz. Wochenschrift 1007, Nr. 12.) G.
*
296. (Aus dem Guy Hospital.) Ueber Opsonine und
ihre VAu'Aye r I u n g in der praktischen Medizin. Von
Ih'j'bert French. Das Wesen der opsonischen Reaktion, soivie
der Begriff des opsonischen Index sirul sehr anschaulich ilurch
folgendes Beis])iel illustriert. Vhm zwei Reagenzgläschen Avird
das eine (A) mit frisch geAvonnenen Leukozyten, einigen Tu-
herkelbazillen iiml dem Blutserum der' Person, deren opsonischer
Index bestimmt Averden soll, das zweite (B), mit der gleichen
Menge Leukozyten, der gleichen Menge Tuberkelhazillen und der
gleichen Älenge Blutserums einer normalen Person beschickt. Die
beiden Rcagenzgläschen hleiben nun gleiche Zeit bei Körper¬
temperatur stehen. Hierauf AAmrden von dem Inhalte beider Rea¬
genzgläschen Ausstrichiiräparatc gemacht und die Menge dm'
Tuberkelhazillen gezählt, die von einer gleichen Zahl Leuko¬
zyten gefressen Avorden sind. Wenn z. B. je 100 mit dem Serum
der Versuchsperson vermengte Leukozyten insgesamt 150 Tu-
berkelhazillen, je 100 mit dem Serum einer normalen Person
vermengte Leukozyten 300 Leukozyten „gefressen“ liaben, so
sagt man: Die opsonische Kraft der Versuchsperson verhält
sich zur opsonischen Kraft einer normalen Person, wie 150:300
oder, kürzer ausgedrückt: Der opsonische Index der Versuchs¬
person beträgt 150/300 = 0 5. Die Serumgewinnung für die
Anstellung der oiisonischen Reaktion geschieht durch Einstich
ins Ohi'läppchen im übrigen ähnlich, Avie hei Anstellung der
Gr Li her- Wi da Ischen Reaktion. Da Vei’suche ergeben haben,
daß es gleichgültig ist, ob die Leukozyten von einer gesunden oder
kraideen Person stammen, sondern daß nur die Art des Serums
für die Größe der Phagozylose maßgebend ist, so ergibt sich,
daß die opsonische Kraft von irgend welchen im Blutserum vor¬
handenen Substanzen abhängt, Avelche eniAveder die Leuko¬
zyten oder die Bakterien oder aber beide zusammen in der
Weise beeinflussen, daß eine größere oder geringere Phagozy¬
tose zustande kommen kann. Es ist nun festgestellt, daß d;is
Blutserum eine Vielheit von Opsoninen gegenüber verschiedenen
Bakterien enthält. Es gibt Opsonine gegenüber Tuberkelbazillen,
gegenüber Slapbylokokken iisAv. Dabei kann ein Serum, welches
einen hohen oiisonischen Index gegenüber Tuberkelbazillen hat,
einen niedrigen gegenüber Slaphylokokken haben und umgekehrt.
Die Bestimmung des opsonischen Index hat süavoIiI diagnostische
Avie therapeutische Bedeutung. Wird z. B. einem gesunden Indi¬
viduum Vöcoü nig Tuberkulin R injiziert, so fällt sein opso¬
nischer Index für etwa zAvei Tage ein Avenig ah, steigt dann etwas
über tlie Norm lind; kehrt dann Avieder zu dieser zurück. Wird
dieselbe Quantität Tuberkulin R einem tuberkidösen Indi¬
viduum injiziert, so fällt sein opsonischer Index in beträcht¬
lichem Grade ah, bleibt durch eine Woche oder länger niedrig,
um dann allmählich zur Norm ziirückzukehren. Der technische
Ausdruck für dieses Verhalten lautet: Die negative Phase des
opsonischen Index gegenüber Tuberkelbazillen dauert beim Tuber¬
kulösen länger als beim Gesunden. Wird nun bei einem Tuber¬
kulösen noch einmal Tuberkulin injiziert, so hinge der opsonische
Index noch nicht zur Norm aufgestiegen ist, d. h. Avährend der
negaliAmn Phase, so fällt der opsonische Index noch mehr ab und
die negative Pbase zeigt eine sebr beträchtliche Verlängerung.
Dies erklärt nach Ansicht des Verfassers die anfänglichen schlech¬
ten Resultate Kochs ebenso Avie er in der VT'i'Avendung so kleiner
Dosen anstatt größerer einen Fortschritt gegenüber früher er¬
blickt II. zw. nicht zum geringsten auch darin, daß die Lokal-
reaklion lind die Tempera tursleigeriing nicht so ausgeiu'ägt sind
und dem Patienten weniger Unbehagen verursachen. Der Vor¬
gang der Tuherkulosebehandlung soll nun nach Verf. in jiraxi
folgender sein: Zunächst Avinl der opsonische Index der Vm'-
suchsperson gegenüber Tuberkelbazillen bestimmt. Ist dm'sidbe
iinterbalb 0-7 oder oberbalb 1-3, so s])richt dies mit höchster
Wahrscheinlichk<‘il. für Tuherkulose ■ — hiebei ist die Schulz¬
kraft des Oj'ganismiis im i'j'sten Falle niedrig, im zwidlen l''alle
boeb. Bei bohem oiisonischen Index ist von der 'ruberkulin-
behandlung nicht viel zu erwarten, da damit bewiesen ist, daß
die Schulzkraft des Organismus ohnedies hoch ist und Avohl
scliAverlich noch gesteigert Averden kann. 1st jeiloch der ojiso-
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
741
nisclve Tndox niodng, so wird V5000 mg tiiborkidin R sub-
kiilan iiulor ase])tisclieii Kaulelen iiijizieid. i>or opsoiiisclie Index
wird Iderauf olwa am dritten, siebenten, viei’zebnten nnd sieb-
zelndeii 'Page nach der Injeklion l)estiimnt. Zeigl. er keine neniiens-
werle Veränderung, so ist entweder keine; 'rnberknlose vortianden
odor die Dosis muß erhöbt werden, obgleicii in <Ien meisten
P'ällen Vr,f)on mg genügend ist. Die negative Phase geid nun meist
nach 14 'Pagen zu Ende und nach drei Wochen pflegt der opso-
nisclve Index die normale Höhe erreicht zu luabem. Jetzt wird
wieder ^/r.non mg injiziert, der opsonische Index wieder wie oben
kontrolliert (obgleich dies nicht iininer nötig ist., da erfahrungs¬
gemäß die Plrreichnng dei' normalen Höhe elienso lange Zeit
nach der zweiten Injektion erfordeiJ, wie nach der ersten), und
sobald die oi)sonische Ivurv<‘ das Anfangisnivean erreicht hat.
zum dritten Male injiziert. Naclvdeni man auf diese Wedse die
individuelle Reaktionsfähigkeit des Patienten ausprobiert hat, kann
man die Injektionen in regelmäßigen Intervallen ohne Kontroll('
des opsonischen Index wiederholen. Verf. hat mit dieser Methode
in einer Anzahl Fällen von Lupus, tuberkulösen Ilaulgeschwürcn
und Hlasen tuberkulöse sehr gide Erfolge gesehen. Er hetont aus¬
drücklich, daß die spezifische Hehandlung'von der hisher ühlichen
unterstützt werden muß und ihrerseits ein mächtiges Untei-
slützungsmittel für letztere darsLellt. Verf. erwähnt auch dia¬
gnostisch-therapeutische Versuche, die er nach der opisonischcn
Methode mit Staphylokokken, Streptokokken, Gonokokken und
Pneumokokken angeslellt hat, doch hält er dieselhen für noch
nicht spruchreif. — (Hritish medical Joui'ual, 2. Febiaiai’ 1907.)
J. Sch.
*
297. Die Radiotherapie der Syringomyelie. Von
Reaujard und Lhermitte. Die bisherige Behandlung der Sy¬
ringomyelie Avar eine rein symptomatische, bis dui'ch itic Ein¬
führung der Röntgenbehandlung eine Wendung eintrat. Es zeigte
sich, daß durch ‘ Radiotheraine ausgiebige und lang aidialtende
Resserungen bei Syringomyelie erreichbar siml, so daß die Pro¬
gnose günstiger erscheint. In der Literatur liegt bereits eine
Reihe von Mitteilungen \mr, Avelche sich über den Wert der
Radiotherapie bei Syringomyelie in günsti.gem Sinne äußern. Durch
die Radiotherai)ie ist auch ein tieferer Einblick in die Pathogenese
der Syringomyelie gewonnen Avorden, Aveil es sich zeigte, daß
ein 'Peil der Symptome dem Einflüsse der Röntgenstrahlen zu¬
gänglich ist, Avährend andere Symptome ein refraktäres Verhalten
zeigen. Die Vcifasser berichten über drei radiotherapeutisch be¬
handelte Fälle von Syringomyelie, avo durchwegs eine Abnahme
der sensorischen, motorischen und trophisidien Störungen erzielt
Avurde. Resonderes Interesse hietet ein elf Monate lang behandelter
Fall .mit 20 Bestrahlungen, die in einAvöchigen Irdervallen vorge¬
nommen Avurden. Schon nach der .9. Behandlung Avar ein Rückgang
der Sensihilitälsstörungen nachweisbar, nach der fünften Sitzung
zeigten die Fissuren und GescliAvüre an der rechten Hand Ilrilungs-
tendenz, linkerseits Avar die Muskelkraft erlnöht. Znm Schlüsse
der Behandlnng konnte eine AAmserdliche Besserung der motori¬
schen, sensorischen und trophistdien Störungen konstatiert Averden.
Aluskeln, Avelchc bereits die elektrische Erregbarkc'it (‘ihgehüßt
hatten, zeigten keine Erholung, Avohl al)er erholten sich atrophi¬
sche Muskeln mit elektrischer Erregbarkeit. Es Avurde vorwieg^md
die zerAÜkodorsale Partie des Rückenmarkes bestrahlt, Avegim
'Fhermoanalgesie einer Gesichtshälfte und Hemianalgesio Avurdo
auch die Medulla oblongata einige Male bestrahlt, Avorauf die
Erscheinungen zurückgingen. Die Wirkung der Röidgenstrahleu
erstreckt sich zunächst auf die gliomatöse Ncuhildung, die; in ähn¬
lichem Sinne, Avie andere neoplastische Bildungen beeinllußit wird,
Aveiter Avirken die Röntgenstrahlen durch Beeinflussung der Zir-
kulationsAmrhältnisse. Der Einfluß der Röntgenstrahlen erstreckt
sich auch auf die graue Suhstanz, Avelche der Ausgangspunkt
der verscliiedenen Sensibilitätsstörungen bei Syringomyelie ist.
Der rasclie Rückgang von Paresen erklärt sich aus der Aufhebung
von Kompressionswirkungen, destruktive Läsionen können durch
die Rördgenstrahlen nicht beeinflußt Avmrden. Bei Anwendung
der Röntgenstrahlen in therapeutischen Dosen, Avohei die Toleranz
der Haut den Maßslab ahgiht, ist eine Schädigung der g(‘sundcn
Elemente des Ner\mnsystems, Avie sie durch exzessive Bestrahlung
experimentell bei Tieren erzeugt AVurde, nicht zu befürchten.
Es ist die laterale Bestrahlung mit 25 cm Ahstand der Aidi-
kathode zu empfehlen, AAmil die Wirhelhogen für Röntgenstrahlen
durchgängiger sind, als die Dornforlsätze und Aveil bei Behand¬
lung der einen Seile die Haut der anderem Seite geschützt Averdem
kann. Man setzt, Avenn sich keine Progression der Besseiung
mehr zeigt, die Bestrahlung ans. — (Sem. ined. 1907, Nr. 17.)
a. e.
*
29(S. (Aus <ler Klinik Chrohak.) Ueher Füttejoing mit
0 V a r i a 1 s u h s I a n z z u rn Z av ecke der B e e i n f 1 n s s u n g d e r
Ges c h 1 e c h I s h i 1 d u n g. Eine expei imetdelle Studie von Privat
doz(ml. Dr. H. Peham. Nach einer sehr interessanten Uebersichl
über die verschH;denen 'Pheorien und Versuche um die Gx'schlechts-
licslimmung zu beeinflussen, berichtet Peham über die von ihm
vor, genommenen systematischen Fütterungsversuche an Kaninchen
mit Üvarialsuhstanz, Avohei von dem G('danken ansgegangen
wurde, daß die Plinverleibnng von Ovarialsubstanz Einfluß auf
die Geschlechtsstärke <les 'Tieres und damit auf die Geschlechts-
hestimmung der Nachkommen haben keinne. Die ansgedehiden
Versuche ergal)en, daß es nicht möglich Avar, durch Fütteiaing
mit Ova,iiafs’ul)stanz die Bildung und Ausscheidung von Eizellen
zu begünstigen, Avenn man bereits im Ovar gescblechtlicb
. differenzierte Arten annimmt, Avie es auch nicht gelang, (une
Aenderung der Geschlechtsstärke des Tieres zu erzielen und da¬
durch das Geschlecht der Nachkommen zu beeinflussen. Auf
die Ergebnisse der Versuche legt V^erf. um so mehr GeAvicht, da
es sich hier um die Einverleibung großer Mengen von Ovai'ial-
substanz handelte, die noch dazu von artgleichen Individuen
genommen Avar. — (Monatsschrift für Gehurtshilfe und Gynäko¬
logie, Bd. XXV, H. 4.) , E. V.
^ 1
299. B e m e r k n n gen zur Diagnose u n d Behand¬
lung der Zystitis und Pyelitis im Kindesalter. Von
Priv.-Doz. Dr. Leo Langstein, Oberarzt an der Universitäts-
Kinderklinik der kgl. Charite. Bei unaufgeklärten Krankheits-
zuständen im Kindesaller ist die Urinuntersuchung unerläßlich.
Du]‘ch Vorlegen von mit. Heftpflaster zu befestigenden Erlcnmeyer-
kölbchen sind auch hei Säuglingen Harnproben in frischem Zu¬
stande zu geAvinnen. Unruhe, Blässe, Mattigkeit, Appetitlosigkeit
sind hier oft die einzigen Symptome von seiten einer erkrankten
Blase, eine täglich dreimal vorgenommene Temperaturmessung
lehrt, daß der normale Verlauf durch einige subfebrile Steige¬
rungen nnterbroeben Avird. Von solcben schleichend verlaufenden
Zystitiden führt eine Reihe von Uebergängen zu akuten und
scliAAmren Formen. Da sleigt die 'Pemperatnr schon auf 40 Grade
und darüber, das Kind äußert Schmerzen (Anziehen der Beine,
lautes Geschrei), zumal heim Aufsetzen, die Gesichtsfarbe ist
blaß, in vorgeschrittenen Pallen fahlhlaß. In ganz schAveren
Fällen auch Nackensteifigkeit — Verwechslung mit Menitigitis
möglich. Der frische Urin ist trübe, enthält zumeist Kolibakterien,
ist sauer und eiAAmißh>THig. Die iPrübung ist bedingt durch Eilej'-
keärperchen, oft sind viele Bakterien Amrhanden. Die sauere Re¬
aktion .spricht für Kolizystitis, die alkalische Plarnreaktion für
die septische Form (Staphylo- und Streptokokken; bei letzterer
ist der Verlauf ein malignerer, die Beimischung von Blut häufiger.
Bei Pyocyaneus-Zystitis (Pyocyaneus-Sepsis) sind Blutungen auf
der Haut zn sehen. Die Blasenentzündung kann schließlich auch
durch den Diphlheriel)azillus bedingt sein (spezifische Therapie!).
1st die Nierengegend druckempfindlich, so Avird man an ein Uebcu'-
greifen der Entzündung auf das Niereidjecken denken, sicher
ist diese Annahme, A\mnn sich Fu’brechen und Durchfälle hiuzu-
gesellen, AAmnn der Eiwmißgehalt steigt, der spärliche Harn auch
Zylinder und andere Nierenelemente enthält. Die Zystitis kommt
bei Aveiblichen Kindern häufiger vor, die Pyelitis der iUteren
Mädchen ist nicht so selten. Zur Behandlung empfiehlt Verfasser
das Utropin. Säuglingen gibt man von einer Löisnng 1 bis 3 g
auf 100 g Wasser dreimal täglich 10 enU in der Milch, älteren
Kindern Dosen bis zu 1-5 g pro die. Auch Salol ist recht Avirk-
sam. Bei Säuglingen viermal täglich 01 bis 0-3 g, hei älteren
Kindern viermal 0-5 g. Die Spülung der Blase hat geringeren
Erfolg. Bei stai'ken Schmerzen Kataplasmen und Narkotika.
Reichliche Zufuhr von Flüssigkeiten (Molken, Fruchtlimonade,
Mandelmilch, alkalische Wässer, Bärentraubenzuckertee) bei
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 24
älteren Kindern, ebenso reizlose Diät (Milchspeisen und Vege-
tabilien). Heilung nach einigen Wochen. — (Therap. Monats¬
hefte 1907, Heft 5.) E. F.
* I
300. (Aus dem evangelischen Diakouissenkraukenhause in
Witten.) Die Hehandl'ung des Unterleibstyphus mit
Pyi’Jmiidon. Von Dr. Bruno Leick, Chefarzt der inneren Ah-
leiliing. Verf. räumt dem Pyramidon Ijei der Behandlung des
Unterleihslyph'us, abgesehen von Pflege und Diät, die erste Slelle
ein. Es leistet seines Erachtens mehr als die üldiche Bäderhehand-
lung. Verf. läßt, nach Valentins Vorschriften, alle zwei Stmi-
den, Tag und Nacht, 10 cm^ einer 2"/oigen (hei Kindern l®/oigen)
Lösung gehen. Nur in seltenen Fällen war er genötigt, 3”/oige
Lösungen zu verordnen. Der Patient erhält also im allgemeinen
alle zwei Stunden 0-2 Pyramklon. j\uf die zweistündliche Ver¬
abfolgung ist der Hauptnachdruck zu legen. Die profusen
Schweiße, über die von eiiizelnen Autoren geklagt wird, pflogen
meist nur im Anfänge der Behandlung aufzutroten. Wird die
Temperatur durch regelmäßige Gaben niedrig gehalten, fehlen die
lästigen Schweiße meist ganz. Jedesmal vor dem Eingehen läßt
Verf. die Temperatur messen. Ist sie unter 30** gesunken, so
wird das Mittel ausgesetzt. Zeigt sich nach zwei Stunden wieder
ein Ansteigen der Temperatur, wird Pyramidon wieder gegeben.
Wie lange es gegeben werden muß, hängt von dem einzelnen Falle
ah. Irn allgemeinen verfährt Verf. in der Weise, daßi er, wenn die
Kranken längere Zeit unter 37° geblieben sind, probeweise alle
drei Stunden die Arznei geben läßt. Bleibt die Temperatur
dauernd unter 37°, wird am nächsten oder übernächsten Tage
alle vier Stunden, dann alle sechs, alle acht, alle zwölf Stunden
gegeben und schließlich ganz ausgesetzt. In dieser Weise hat er
eine erhebliche Anzahl von Typhuskranken behandelt und es
niemals bereut. Die Bäderbehandlung hat er ganz verlassen.
Denn nach des Verfassers Erfahrungen leistet die Pyramidon-
behandlung bedeutend mehr als die Bäderbehandlung. Der Ein¬
druck des Kranken ist ein solcher, daß man ihn gar nicht für
einen Typhuskranken hält. Keine Benommenheit, keine Delirien,
keine A])alhie! Die Wirkung des Pyrarnirlons äußert sich zunächst
im schnellen i\bfallen der Temperatur. Von 40° und mehr auf
30°, ja auf 35°. Durch konsequentes Weitergeben des Mittels
gelingt es in den meisten Fällen, die Temperatur dauernd unter
37° zu halten, ln schweren Fällen wird man sich der 3°/oigen
Lösung bedienen müssen. Gleichzeitig mit der Temperatur geht
<ler Puls herab, meist 80 bis 90 Schläge in der Minute. Nie
konnte Verf. eine schädigende Wirkung auf das Herz konsta¬
tieren. Vor allem wird das Sensorium frei; nicht immer am
ersten Tage, aber doch am zweiten oder dritten. Die stärkste Be¬
nommenheit und Delirien weichen in einigen Tagen der Pyra-
midonbehandlung. Meist stellt sich bald guter Appetit ein, so daß
man Mühe hat, die Kranken bei flüssiger Kost zu erhalten. Eine
.Abkürzung des Krankheitsverlaufes konnte nicht konstatiert wer-
ih'ii. Schäilliche Nebenwirkungen hat Verf. nicht beobachtet. Bis-
weileir üült Erbrechen auf. Der Urin zeigt oft im Beginne der
Behandlung eine stark rötliche Färbung. Diese rührt von der
.Anlipyriiikomponeide des Pyiamjdons her. Eine Schädigung der
Nieren wurde niemals beobachtet. In den letzten vier Jahren
hat Verf. auf seiner Abteilung 113 Fälle von mitunter sehr
schweiem Ty])hus behandelt. Es starben elf; von diesen fünf
bald nach der Einlieferung. Es bleiben somit 108 PTQle mit sechs
Toten. Ein durchaus günstiges Resultat, das nicht ausschließilich
der Pyramidonwij'kung vom Verf. zugeschrieben wird, weil er
anfangs noch die Bäderbehandlung zuzog. Jedenfalls wünscht
Vei-f. dem Pyramidon bei der Typhusbehandlung mehr Beachtung
als bisher. Nur muß es konsequent alle zwei Stunden, Tag und
Nacht, angewendet werden. Nur dann ist ein guter Erfolg zu er¬
warten. — (Münchener mediz. Wocdienschrift 1907, Nr. 12.) (.J.
*
301. Ueber die diagnostische Bedeutung der In-
dikanurie. Von B. J. Slowlzöw. Das Indikan stammt be¬
kanntlich in letzter Linie aus den Eiweißkörpern. Durch die
Wirkung <‘iweißspaltender Enzyme entsteht nämlich aus letzteren
das '1 i7iiloj»han, aus dhisem durch die Einwirkung von Wass('r-
stoff in statu nascemli — Indol und «- Aminopro])iO'nsäure. Das
Indol wird — vorwiegend durch die Leber zu Indoxyl o.xydiert
und dieses dann zu Indoxylschwefelsäure oder Indoxylglykuron-
iSäure gepaart. Das Indikan ist indoxylschwefelsaures Kali. Der
Nachweis desselben beruht darauf, daß, qs durch Spaltung uiul
Oxydation in Imligo umgeAvandelt wird. Es gibt nun drei Möglich¬
keiten der In’dikanbildung : 1. durch die Eiweißzersetzung im
Darme; 2. durch die Eiweißzersetzung in Eiterherden und 3. durch
Eiweißzerfall im inlennediären Stoffwechsel. Slowlzöw gibt
nun eine Anzahl wertvoller Anhaltspunkte, um im speziellen
Falle die Quelle der Indikanbildung zu eruieren, von denen die
wichligisten folgende sind. Bei Indikanurie intestinalen Ursprunges
ist die Menge mittelgroß, sie erreicht ihr Maximum vier bis
fünf Stunden nach der Nahrungsaufnahme, Milchdiät, speziell
saure Milch hat. eine Verminderung der ausgeschietlenen Indikan-
menge zur Folge, ebenso die Verabreichung von Magisterrum
Bismulhi, dagegen bewirkt die Verabreichung von alkalischen
Wässern Steigerung der Indikanurie. Bei Indikanurie pyogenen
Ursprungs ist die Menge des Indikans groß, erreicht ihr Maximum
am Abend, ist unabhängig von der Zeit der Nahrungsaufnahme,
unabhängig ferner von Milch-, Wismut- und Alkalidarreichung,
geht dagegen nach Eröffnung des Eiterherdes zurück, ln den
Pallen, avo das Indikan in den Körperzellen selbst .gebildet Avird,
Avie z. 13. bei Hunger, Kachexie, Oxalurie etc. (Blumenthal
und Rosenfeld, SalkoAvsky und Weiß, Concetti, W e-
sener u. a.) zeigt die Ausscheidungskurve des Indikans folgende
Charakteristika: Die Menge ist nicht gering, die Ausscheidung
erfolgt gleichmäßig, ist unabhängig von Wismutdarreichung,
Milch, saure Milch und alkalische Wässer vermindern die Indikan-
menge. Verf. schließt seine interessanten Darlegungen init dem
lliiiAveisc, daß quanlilati\m Indikanbestiminungen uns in kom-
pliziej'ten Fällen inanchen guten differentialdiagnostischen An¬
haltspunkt liefern können. — (Russkij Wratsch 1907, Nr. '7.)
J. Sch.
*
302. Ueber den plötzlichen Tod im K i n d e s a 1 1 e r.
Von L. Cheinisse. Das Vorkommen plötzlicher Todesfälle im
Kindesalter Avird gewöhnlich auf Thymushypertrophie zurückge¬
führt, ohne daß diese Annahme auch durch entsprechende Be¬
funde genügend unterstützt Aväre. Der vor längerer Zeit be¬
hauptete Zusammenhang zAvischen Laryngospasmus und Hyp(u--
trophie, das Asthma thymicum, AAUirde vielfach Aviderlegt, doch
sind gerade in neuerer Zeit einige zugunsten des Zusammen¬
hanges sprechende Beobachtungen publiziert Avorden. Man hat
die Plyperplasie des Thymus auch nicht als direkte Ursache plötz¬
licher Todesfälle im Kindesalter, sondern als Teilerscheinung des
Status lymphaticus hingestellt. Der Status lymphathicus, eine
Hyperplasie des gesamten Lymphapparaies des Organismus, sollte
durch Ernährungsstörungen die Ilerzzeniren in dem Grade schä¬
digen können, daß: selbst unbedeutende, Anlässe einen plötzlichen
Herzstillstand herbeizuführen imstande sind. Es zeigt jedoeb die
Ph'fahrung, daß Hyperplasie des Lymphapparaies im Kindesalter
ein häufiges Vorkommnis ist, so daß der Befund auch bed plötz¬
lich Amrstorbenen Kindern sich ergeben kann, anderseits Avurde
bei plötzlichen Todesfällen bloße Thymushy])ertrophie ohne jedes
Anzeichen eines Status lymphaticus beobachtet. Der Mechanismus
des plötzlichen Todes bei Thymushypertrophie Avird in verschie¬
dener Weise, durch Kompression der Trachea, des Nervus vagus,
oder der großen Halsgefäße erklärt. Es ist zwar das Vorkommen
einer Abplattung der Trachea bei Thymushypertrophie erwiesen,
doch ist eine mechauische Erklärung des plötzlichen Todes durch
Kompression der Trachea nicht haltbar, AAmil die charakteristi¬
schen Erscheinimgen der Asphyxie bei den idötzlichen Todes¬
fällen ganz fehlen und nur ausnahmsAveise kleine kikchymosen
gefunden Averden. Eine andere Theorie bezieht sich auf die interne
Sekretion der Thymus und nimmt an, daß tlie Ueberladung d<'s
Blutes mit Thymussekjet eine extreme In ilabiliiät des Nerven¬
systems hervorruft, Avelche selbst bei geringfügigen Anlässen auf
reflektorischem Wege eine tödliche Synkope hervorruhm kann.
Der gleiche Inhibilionsmechanismus trifft aber auch für Fälhi
zu, Avo keinerlei Anzeichen einer Thymushypertrophie nachweis¬
bar Avaren. Das familiäre Vorkommen plötzlicher 'Todesfälle im
Kindesaller bei BlutsA'erwandts(diaft und Alkoholismus d('r Eltern
führt eher zur Annahme, daß darin eine Manifesüition schwerer
neujopalhischer Belastung zu erblicken ist. Unter dem Einflüsse
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
743
der heiTschemlen Lehre von der Thynuishyperlroplne als TJrsaclie
plötzlicher Todesfälle ini Kindesaller, hegnügt man sich öfler
mit einer oherflächlichen Insi)eklion der Brustorgane, wobei über¬
sehen wrd, daß trotz makroskopisch anscheinend normaler Be¬
schaffenheit des Herzens das Myokard schwere Vei'äiiderungon
aufweisen kann. Plötzliclie Todesfälle im Kindesalter können
auch mit hereditärer Syi)hi!is, Tuherkulose, chronischen Intoxi-
kalioncn, solche in den Tagen nach der Gehurt mit verzögertem
Gehnrlsakt oder pathologischen Zuständen der Mutter Zusammen¬
hängen. — (Sem. med. 1907, Nr. IG.) a. e.
303. (Aus dem Frauenkrankeninstitute Charite, Wien.)
Ueher Blulungen am Beginne der Pubertät. Von
J. Fischer. Fischer berichtet über zwei Fälle seiner Praxis,
in denen es sich um junge Mädchen von 12 und 14 Jahren han¬
delte, die an abundanten, das Leben bedrohenden Blutungen
aus dem Genitale litten. In beiden Fällen gelang es nach mannig¬
fachen therapeutischen Maßnahmen, durch Kürettage, die Blu¬
tung zum Aufhören zu bringen, doch erlag der zweite Fall bald
einer Epistaxis. Nach Fischer handelte es sich in beiden
Fällen keineswegs um Prozesse lokaler Natur, sondern vielmehr
um Blutungen aus dem Uterus, welche im ersten Falle durch
Hämophilie, im zweiten Falle durch Morbus maculosus Werl-
hofii. Den Fall von Hämophilie machen noch einige Momente
interessanter. Zunächst trat hier die Hämophilie bei einem weib¬
lichen Individuum auf, während ihr Vorkommen beim weiblichen
Geschlechte, das zwar als Konduktor der Erkrankung angesehen
wird, strittig ist. Ferner fehlte die Heredität und die für Hämo-
'philie charakteristischen Gelenksanschwellungen; schließlich
gingen faustgroße Koagulis ab, was mit beweist, daß die frühere
Ansicht, mangelhafte Gerinnbarkeit des Blutes als für Hämophilie
charakteristisch anzusehen, falsch ist. — (Monatsschrift für Ge-
hurlshilfe und Gynäkologie, Bd. XXV, H. 4.) E. V.
Jic
304. Ueher die Heilbarkeit des Magenkrebses
auf operativem Wege. Von Theodor Kocher in Bern.
Bis zum 1. Februar 1907 hat Verf. 122 Resektionen des Magens
ausgeführt, lieber die ersten 97 Fälle hat Dr. Matti, 1. Assistenz¬
arzt der Klinik, bereits ausführlich referiert, seither hat Verf. also
weilere 25 Fälle operiert, einmal wegen Ulkustumor, 24mal wegen
Krebs. Die Indikationen zur Operation wurden in den letzten
Jahren weiter gesteckt, daher die Zunahme der Zahl der Ope¬
rationen. aber auch der günstigeren Resultate in den nicht kompli¬
zierten Fällen. Matti hat in den ersten 97 Fällen eine Mor¬
talität von 17-7 To berechnet, von den letzten 25 Fällen der
abgelaufenen 2V2 Jahre starben vier, was eine Mortalität von
16 To ergibt. Bei diesen vier Todesfällen handelte es sich zweimal
um Nachoperation von anderwärts ohne Erfolg chirurgisch be¬
handelter Fälle, wobei schwere Komplikationen bestanden, über¬
dies waren die Erkrankungen sehr weit vorgeschritten, so daß
die Operation nur noch als ein Versuch zur Linderung der starken
Beschwerden unternommen wurde. Von 19 unkomplizierten
Magenresektionen ist kein einziger gestorben. „Wir dürfen also
sagen, daß wir zur Stunde mit der Technik der typischen Magen-
reseklion soweit gediehen sind, daß die operative Mortalität auf
Null gesunken ist.“ Hauptsache ist, das Leiden in seinen Anfangs¬
stadien richtig zu erkennen. Zur Feststellung eines Tumors mache
man sich die Untersuchung in guter Narkose zunutze. Sodann
achte der Arzt darauf, daß es keinen chronischen Magenkatarrh
gibt, ohne daß man bestimmte Ursachen (verkehrte Diät, Äliß-
brauch von iVlkohol, von Medikamenten, Störungen der Zirku¬
lation seitens der Leber, des Herzens, Allgemeinerkrankuiigen,
ganz besonders mechanische Ursachen als Folgezuslände früherer
Erkrankungen usw.) für das Fortbestehen der chronischen Ent¬
zündung nachweisen kann. Im weiteren bespricht Verf. eingehend
die zum Zwecke der Frühdiagnose eines Magenkrebses ersonnenen
und vielfach auch mit Vorteil geübten neueren Viethoden der
Untersuchung, die Vlagcnausheberung zur Prüfung der Ver¬
dauungsfunklion und des Säuregehaltes, die ,, okkulten Blutungen“
(Boas), den Eiweißiiachweis in der Sitülfiüssigkeit des nüch¬
ternen Viagens, nachdem Eiweißkost ausgesetzt ist (Salomon)
u. a. m. Von den 122 Fällen des Verfassers läßt er alle Fälle
aus, welche weniger als drei Jahre zurückliegen und auch zwei
Fälle, welche sich auf bloße Ulkustumoren beziehen, so bleiben
95 Operaliojien der Statistik von Dr. Vlatli. Von diesen leben
zur Stunde noch im besten Wohlsein dreizehn Operierte
laut neuesten Nachrichten. Eine Operierte starb neun Jahre
später an Lungcnluherkulose, ohne Rezidiv (Autopsie); von fünf
weiteren Fällen Ichten zwei noch fünf und sechs Jahre, ein
Fall starb nach drei Jahren an einer interkurrenten Krankheit,
ein Fall nach drei Jahren durch Ertrinken und eia Fall (rezidiv¬
frei) durch Perfoj'ation eines Vlurphyknopfes nach einem Jahre
und zwei Monaten. Zusammen sind es also 17 Fälle, welche nach
drei Jahren und darüber nichts vom Rezidiv darboten und 18,
bei welchen Rezidivfreiheit über drei Jahre oder durch Autopsie
innerhalb dieser drei Jahre nachgewiesen ist = eine Radikal¬
heilung von 18-3iTo über drei Jahre, resp. 19-3 To Rezidiv¬
freiheit. Der älteste Operierte lebt jetzt 19 Jahre seit der Ope¬
ration im besten Wohlsein, ein Vlann zehn .Jahre, drei leben
acht .Tahre; einer lebt sieben, einer lebt sechs, drei leben vier
Jahre nach der Operation. Wenn man alle nach der Kocher-
scheu Methode von Anfang an operierten Fälle, einfache und
komplizierte, zusammenrechnet, so erhalten wir 92 Fälle mit
14 Todesfällen = 15-2;To Vlortalität. Von den Radikalhcilungen
sind bis auf drei alle nach der Ko eher sehen Viethode operiert
worden. — (Korrespondenzbl. f. schweizer. Aerzte 1907, Nr. 9.)
E. F.
*
305. (Aus dem Vale of Clwyd- Sanatorium in Ruthin. Nord-
Wales.) Ueher i\myl nitrit hei Hämoptysie. Von George
A. Grace- Calvert. Verf. hat in 22 Anfällen von Hämoptysie
bei fünf Palienten durch Anwendung von Amylnitrit durchweg
prompte Wirkung erzielen können. Er zieht dieses Vlittel für
akule Lungenblutungen allen anderen, wie Vlorphiu, Ergot'n, Adre¬
nalin und Kalziumsalzen vor und pflegt immer drei Kapseln
mit Amylnitrit bei sich zu tragen. Die Wirkung ist angesichts der
allgemeinen Annahme von dem vasodilatatorischen Effekt desAmyl-
nitrits nicht vollkommen klar, obgleich F. Hare behauplet, daß sich
durch Amylnitrit im Tierexperimente eine direkte Anämisierung der
Lunge erzielen läßt. Doch selbst, wenn dies nicht der Fall wäre,
so könnte man sich vorstellen, daß durch die ßlutgefäßenvei-
terung im Splanchnikusgehiet sich so bedeutende V'Iengen Blutes
in den Gefäßen der Eingeweide ansammeln, daß eine relative
Anämie der anderen Organgehiete eintritt. Nach Einatmung des
Amylnitrits steht die Blutung nach kürzester Zeit und es werden
nur noch Koagula von Blut ausgehustet, welches vor Anwendung
des Vliftels ausgeströmt war. Nachl)lutungen durch nachträgliche
Gefäßerweiterungen kommen bei Amylnitrit im Gegensätze zu
Adrenalin nicht vor. Ein weiterer Vorzug besteht nach dem V^er-
fasser darin, daß durch das Amylnitrit der Husten nicht zum
Stillstand kommt, und die Gefahr des Liegenbleihens der Blut-
koagula vermieden wird. — (Lancet 1907, 6. April.) J. Sch.
*
306. Ueher Vlilz brand und seine Behanlung. V"on
San. -Rat Dr. Barlach, dirigierender Arzt des städt. Kranken¬
hauses in Neumünster. Verf. hat seit dem Jahre 1906 zehn Fälle
von Vlilzbrand in Behandlung gehabt. Was die Behandlungsweise
anbelangt, machte er früher nur Inzisionen mit antiseptischen
Umschlägen und gab Kognak oder Wein, sowie Kampfereinsprit¬
zungen. Da der Erfolg kein befriedigender war, ging er zu folgen¬
der Behandlung über: Um die Pustel Avird durch Punktionen
mit dem Thermokauter eine tiefe Rinne hergestellt, die Pustel
durch einen Querschnitt mit dem Vlesser tief gespalten, größere
Oedeme durch ausgiebige Inzisionen entspannt, kreisförmig in
näherer oder weiterer Entfernung von der Pustel Einspritzungen
von Jodtinktur gemacht. Umschläge mit Sublimatlösung über
Pustel, Oedem und Erysipel — nach Bedarf Kampfereinspi'itzungen
und Kognak. Die ganze Pi’ozedur dauert wenige Minuten und
scheint nicht besonders schmerzhaft zu sein. Der Erfolg dieser
Behandlung war ausnahmsweise ein überraschendei'. Todesfälle
sind , seitdem Verf. in dieser Weise verfährt, nicht mehr vor¬
gekommen. Durch diese Behandlungsmethode wird erreicht:
1. Erhebliche Herabsetzung der Gefahr. 2. Wesentliche Abkürzung
der Krankheitsdauer und da-niit zugleich der Erwerbsunfähigkeit
in schweren Fällen. 3. Eine Beruhigung der Arheiler und 4. Ver¬
anlassung, daß die Erkrankten nicht erst längere Zeit an sich
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
heriiinkurieron, sondern solort ärzlliehe Hilfe in Anspruch
nehmen. Den günsligen Erfolg erklärt sich Verf. folgendermaßen;
Durch die Rinne mil. dem (iliiheisen Aviid zugleich ein Schorf
gebildet, (hnlurch ein rvciteres Eindringen der Bazillen von der
Rristel in die umliegenden Ciewehc lunlichst verhindert. Zur
rnferst.ützung dieses Zweckes dient der tiefe Querschnitt durch
die Rustel, weil derselbe den durch die harte Pustel bewirkten
Druck aufhobt. Ebenso wird durch die Inzisionen ins Ocdem
und die dadurch geschaffene Entspannung einem weiteren Iler-
( inrücken der Bazillen von hier aus in den Körper niögliclist
vorgeheugt. l)ie Jodtinklur wirkt Jiach Ansicht des V'^erfassors
direkt als fiegengift, ohschon er nicht sagen kann, in ’'velchcr
Weise. Zum Schlüsse noch einige Beobachtungen des Ver¬
fassers: Die Allgemeininfektion tritt nicht alsbald nach der statt-
gchahlen Infektion auf. Meist liegen Tage dazwischen. Es
scheint, als oh durch das Hartwerden der Pustel und den da¬
durch ausgeühleii Druck die Allgemeininfektion zustande kommt
oder doch wesentlich beschleunigt wird. Weiters fiel auf, daß
da.s Allgemeinbefinden oft nicht ganz im Einklänge steht mit
der Schwere der Allgemeininfektion. Verf. führt diesbezüglich
('klatante Beispiele an. Man darf also auf das Allgemeinbelindeii
kein allzu großes (lewicht legen, vielmehr auf die äußeren Sym-
l)lonie. Frühzeitige ärztliche Behandlung ist Imi der Milzbrand-
infekfion von ganz außerordentlicher Wichtigkeit. Frische Fälle
ge^sfatfen nach des Verfassers Erfahrung eine recht günstige Prog¬
nose. — (Münchener mediz. Wochenschrift 11307, Nr. 15.) G.
*
307. Durch einen Fadcnpilz hervorgerufene,
chronische, multiple, subkutane Abszesse; subku¬
tane S]) or o trie hose. Von Lesne und M o nie r- V i s s a r d.
Bisher sind nur rvenige Fälle subkutaner Mykosen publiziert
worden, was aber nicht so sehr auf die Seltenheit der Affektion.
als auf die Schwierigkeit der Unterscheidung von Hauttuberkulose,
sypbilitischen Gujntnen und selbst gewöhnlichen Abszessen zu¬
rückzuführen ist. Als Erreger subkutaner Abszesse sind bisher
verschiedene Fadenjnlze beschrieben worden, unter anderem Bo¬
trytis, Soorpilze, Oospora oisteroides, sowie aueb der Strahlen¬
pilz. Die Sporotrichosen sind bisnun noch weniger bekannt,
ln der Literatur finden sieb einzelne Milteilungen über lymph-
angitische und disseminiertc gunmiöse Sporotrichose, durch Sporo-
Irichnin Schenkii, Ijzw. Sporotrichnin Beurmanidi hervorgerufen.
Es wurde auch fcstgestellt, daß Trichophyton- und Achorionarten
Irei subkutaner Impfung Abszesse hervorzurufen imstande sind.
Aus der mitgeteilten Beobachtung geht hervor, daß die mul¬
tiplen Subkutanen Hautabszesse bei Sporotrichose im Stadium
der Entwicklung leicht mit Hauttuberkulose, Hautgummen oder
den gewöhnlichen Staphylokokkenabszessen verwechselt werden
können. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit gewinnt die Diagnose
der Sporolrichose durch die Lokalisation der Herde an den Lymph-
bahnen und das Fehlen von Lymphdrüsenschwellungen. Auch
die nach außen durchgebrochenen Abszesse können mit Furunkel,
Gummen und tuberkulösen Hautfisteln verwechselt werden. Die
Si)orotrichose kann nur durch Untersuchung des Liters, sowie
Kultur- und Impfversuch mit Sicherheit nachgewiesen werden.
Die wirksa.me Therajjie besteht in durch längere Zeit fortgesetzter
Darreichung großer Dosen von Jodkalium, wodurch sichere Heilung
erreichbar ist. Die Inzision der Abszesse ist zu verwerfen, weil
sic zu sekundäier Infiltration der Wundränder führt. Bei iso¬
lierter Abszeßbildung mit leicht zugänglichem Sitze konnte die
Totalexzision versucht werden, doch mußte dabei die Eröffnung
der Abszeßhöhle im Verlaufe der Operation sorgfältig vermieden
werden. — (Bull, et Älem. de la Soc. med. des hö}). de Paris
1ÜÜ7, Nr. 10.) a. c.
Standesangelegenheiten.
Anklagen gegen Mediziner und ihre Rück¬
wirkung auf die Gesamtheit.
Wenn man die Konsequenzen, welche die Anklagen gegen
l\ledi7.iner nach sich ziehen, in ihrer ganzen Tragweite würdigt,
wird man bald zu der Feberzeugung gelangen, daß die Behördeu
im Interesse der Allgemeinheit irgeml etwas verkehren müssen.
Insoferne es sich um materielle Uebervorteilung, gegeben
etwa durch unerfüllte Abmachungen, durch übertrieben hohe -.|
Honoraransprüche oder durch (scheinbar oder faktisch) unnötige ^
Verteuerung des angewandten therapeutischen Apparates und an- ^
(leres der Art handelt, ist gewiß an dem bisher üblichen Rechtsver- a
fahren nicht zu rütteln; insoferne aber die große, große Mehrzahl
von Schadensklagen, bzw. Klagedrohungen, die gegen die Medi-
ziner erhoben werden, sich auf strafbare Verstöße gründen, die 3
ihn ethischer Verfehlung zeihen (z. B. daß er in unerlaubter .3
Weise experimentiert habe), oder ihn der Außerachtlassung oder 4
vielleicht gar der Unkennlnrs von anerkamden Regeln der \\Tssen- (3
Schaft Und der ärztlichen Kunst, also im allgemeinen diagnostischer
oder therapeutischer Irrtümer beschuldigen, sollte in Rücksicht M
auf die folgenden Auseinandersetzungen ein anderer Vorgang Platz
greifen. Ä
Nicht etwa, als! hätte cs der Mediziner nötig, irgendeine J
seiner Handlungen zu verschleiern; vielmehr hchaupte ich kühn, .s
daß der wahre Arzt sich stolzen Hauptes jederzeit dem Richter ■ 1
stellen kann. Seine Tätigkeit steht aber anderseits ihrem größten
Umfange nach so sehr im Dienste der Allgemeitiheit und trägt
überdies ein so bedeutendes und eigenartiges Gepräge an sich, ^
daß das Wohl der Bevölkerung es vollkommen rechtfertigt, wenn ^
ehvaige Beschuldigungen gegen ihn so viel als möglich der Parteien A
Leidenschaft entrückt bleiben. ’■
Die Juslilia lüfte doch ihre Binde im Interesse der Gesell-
Schaft und sehe zu, was die jüngste Zeit auf dem Gebiete aus-
geieift hat; die Göttin der Gerechtigkeit wird dann manches
in der Welt entdecken, was noch nicht „in den Akten“ sich
befindet. Ungezählt sind die Fälle, in denen die bloße Androhung
eines ,, Geschädigten“ den Arzt zu ,, gütlichem“ Ausgleich be¬
stimmt; andere finden sich von vornherein zu Geldopfern bereit, -t
nur um den Kopf frei zu behalten; die meisten zeigen sich nach .1
dem ersten Ueberreichen der Klage gefügig und nur Verein- |
zelte bieten jedem gerichtlichen Schritte Trotz und lassen sich t
durch keinerlei Scheu einschüchtern. Es ist klar, daß unter solchen 3
Verhältnissen gewisse zweifelhafte Elemente immer kühner werden 1
und daß auch unentsichlossene Parteien leicht zu Schritten zu -J
überreden sind, die ihnen mühelos neue Geldquellen eröffnen. J
Und so häufen sich denn die Attentate gegen Mediziner, zumeist ' i
solche, die an Staatsinstituten wirken und die der Natur der t,
Sache nach zu den hervorragendsten Vertretern der ärztlichen :
Wissenschaft Und Kunst zählen. ■ — ■ Die Vorstände von öffent- *
liehen Krankenstalionen wmrden selbst in jenen Fällen gewalt- i
sam herangezogen, wm die Verfehlung einen jüngeren Arzt he-
trifft, aus dem einfachen Grunde, wmil dann die hochgespannte 4
Entischädigungssuraine von etwa K 40.000 bis K 50.000 „zu un- j
geteilter Hand“ — so lautet der Terminus — mit mehr Aussicht ‘1
auf Erfolg an gesprochen werden kann.
Kühle Beurteiler werden zwar mit Recht behaupten: solchen
Angriffen ist am wirksamsten entgegenzu treten, wenn man ^
ihnen kühn die Stirne bietet, jede Zumutung eines Vergleiches
energisch zurückweist und es dem Kläger ruhig überläßt, seine \
Ansprüche vor Gericht zU bringen. — Gewiß muß dem vollkommen t
zugestimmt werden und ich für meine Person wäre nie dazu
zu haben, eine solche Affäre gütlich auszutragen. Aber jeder 1
billig Denkende wird zugeben, daß ein entschiedenes Festhalten
an seiner moralischen Ueberzeugung, wie so oft im Leben, so
auch hier den materiellen Ruin des Gesinnungstüchtigen nach
sich ziehen kann. Ein öffentlicher Prozeß., auch wenn er schließ- ’
lieh zur Abweisung des Klägers führt, ist für den Arzt immer
mit Schaden verknüpft. Jahr und Tag hindurch durch die
Zeitungen geschleift zu werden — eine ungerafene Hilfe, die
den Angeklagten gleichfalls mürbe machen kann — führt, ab¬
gesehen von dem zweifelhaften V^ergnügen, unausbleiblich zu
einer, mitunter großen materiellen Einbuße, auch wenn der Arzt,
was ja gewöhnlich der Fall ist, völlig losgesprochen wird. Genoß
der Kläger überdies noch die so leicht zu erlangende Wohltat
eines ex offo - Vertreters, so entgeht dem beklagten Mediziner
selbst der Ersatz seiner Prozeßko'sten. Die Tägesblätter tragen
dem zu wenig Rechnung; für ähnliche Angelegenheiten paßt
durchaus nicht di© Remerkung: ,,in ärztlichen Kreisen ist inan
auf den Ausgang des Prozesses gespannt“; ärztliche Kreise sind
über einen solchen Prozeß empört, die Spannung trifft nur
auf die große Menge zu, die allem, wms ihr als ,,Hetz“ gilt,
lüstern nachgeht.
Und nun die anderen Begleitumstände. Beilen wdr nur
von den Sachverständigen. Das Schauspiel, welches bei der Wahl
der Sacbverständigen geboten wdrd, ist genugsam bekannt. Dem
Beklagten ist die Person gewöbnlich gleichgültig, aber der Kläger
kann da nicht genug Skrupel auffinden. Der interessantere Teil
spielt sich, Avie begreiflich, während der Vorbereitung zur Klage
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
7
•iO
<iL; selhsIvorsUiiKllicli isl der Kläger peinlich darauf bedacht,
seine intimen Informationen nicht hei einem Kollegen (‘inzu-
holen, der viellei(dd. „Freund“ des Beklagten sein könnte; ein
kühles, seihst etwas gespanntes Verhältnis ist für solche Fälle
willkommeiwM' ; eine für die Klage auch nur einigermaBen günsli-
g-'ere Information, inshesondere, wenn sie unter der Maske der
Biederkeit erteilt wird, steigert die Zuversicht ins enorme, wenn¬
gleich solche Produkte des dunklen Kämmerleins im Lichte der
öffentlichen Verhandlung bis zur LTnkenntlichkeit verblassen.
Noch häßlicher fällt cs in Frscheinung, wenn der klägerische
Vei'li’eler sich in den Prozeß mit einer Zähigkeit verheiBt, wie
es nur der Parteileidenschaft zukommt. Ein Beispiel: In einem
,Zivilpj'Ozesse AvUrde der Kläger kostenpflichtig ahgewiesen ; ob¬
wohl der klägerische Vertreter die Aussichtslosigkeit Aveiterer
Schritte selbst einsah, Avas er dadurch dokumentierte, daß er
Amn einer Berufung ahzustehen bereit gewesen wäre, falls sein
(legner von <Ien Prozeßkos len ahgesehen hätte, verfolgte er die
Sache nach Ablehnung dieser seiner Proposition doch durch alle
Instanzen. (Die Beurteilung eines solchen Advokaten kann ganz
luhig seinen vornehmeren Fachgenossen iihcriassen bleiben.) Ja,
der klägerische Anwalt konstruierte sich künstlich
noch eine vierte Instanz, indem er einen Ausgleich mit
dem unmittelbar helroffenen jüngeren Arzle von Konzessionen
jener Partei abhängig machen Avollte,. gegen die er in allen In¬
stanzen sachfällig geworden war. Nur die Parteileidenschaft kann
so blind sein, nicht zu sehen, daß ein Mann, der iin BcAViißtsein
seiner ethischen Reinheit der (gericht'ichen) Herausforderung der¬
art Stand hält, nicht um Haaresbreite zurückweichl, zumal die
Möglichkeit hestand, etwa, nötigen Rücksichten für den jüngeren
KoHegen auf andere Weise zu genügen.
lEs fällt mir gar nicht ein, zu betonen, daßi Mätiner, deren
Namen in iler gesamten Avissenschaftlichen Welt sich vollsten
Klanges erfreuen, die, ahgesehen Amn ihrer amtlichen Stellung,
nicht zu unterschätzende Bestandteile Avesentlicher Attiibule des
Staates r>t‘.präsentieren, zu allermindest einen gCAvissen Schutz
Amrdienen.
Vom und’assendcren GesichtspLudvte, dem des (Icmeiii-
Avohles helrachtet, Avird ein solcher Schutz geradezu dringendes
Erfordernis; und stellen wir uns auf dieses höhere Piedestalc,
so AA'erden wir leicht überblicken, daßi unter der Herabsetzung he-
deutender Kliniker und Aerzte schließlich die Salubrität der Be¬
völkerung und der klinische. Unterricht die schwerste Einbuße
ei'leiden müssen. — Ich habe mich in diesem Sinne zum teil
schon in dem Aufsatze: „Schadensklagen gegen Medizinm“ (Wiener
klinische Wochenschrift 1906, Nr. 25) ausgesprochen, möchte aber
die aufgestellte Behauptung noch durch folgende Erlebnisse be¬
kräftigen. . . , . ■
Vor etAva fünf Jahren befand sich eine brau auf meiner
Abteilung, die mit syphilitischer Nekrose des Schädeldaches be¬
haftet Avar; die Nekrose belraf die ganze Dicke des Knochens.
Um die Frau vor den G-efahren einer Hirnbaut- und Hirnenlzün-
dung .zu bcAvahren, mußte man die Entfernung des kranken
Knochens ins Auge fassen. Ich führte den Eingriff aus und ob-
Avohl dadurch das Gehirn in der Ausdehnung einer Handfläche
bloß, gelegt Avar, genas die Frau; sie konnte ihren Beruf Avieder
aufnehmen, den sie noch heule zur vollsten Zufriedenheit ausfällt.
Vor Auclen Monaten befand sich ein Mann aut ineincf
Abteilung, gleichfalls mit syphilitischer Nekrose des Schädeldaches,
Was lag näher, als auch in dem Falle einen Vorgang zu orAvägen,
der früher schon ein so ausgezeichnetes Resultat_ ergeben hat? Zu
einem herzhaften Entschlüsse konnte ich mich jedoch nicht aut-
schwingen. — Die Aufklärung für meine Zurückhaltung faiul sich,
als mir mein Assistenteines schönen Tages referierte : der Kranke
Aväre zu einer Operation bereit, doch Avünschte er füi sich utu
seine Angehörigen einen Betrag von 20.000 fl. zugesichert, tails
die Operation ein günstiges Resultat nicht ergehen sollte. Ob
man nicht in einem solchen Falle, Avenn iiilt der Operation,
nicht zugeAAm'tet worden wäre, eventuell eine planinäßng Ami-
hei’eitete Klage zu erwarten geliahl. hätte ?
Seltene Beharrlichkeit und große Dreistigkeit bewies eine
Frau die mich Avegen einer Veränderung im (jesichte aufgesucht
hatte, Amn der sie sich entstellt glaubte und daiiiin opeiieit zu
Averden wünschte; ich lehnte ah. Nicht lange darauf erschien bei
mir konsiliariter dieselbe Frau in Begleitung eines meiner t^chuler ;
ich widerriet jeden Eingriff. — Der jungblütige Kollege heß sich
von der Frau 'zur Operation bestimmen und einige Monate spater
hatte sic ihn vors Gericht gestellt. In welch glühenden W or en
mag die Frau ihr Glücksgefühl, das sie nach der Oiieralion hesee en
würde geschildert haben, daß der junge Kollege, nebenbei be¬
merkt,’ ein geschickter Arzt und feiner Ko])f, trotz meiner Ab¬
mahnung sich zu einer Operation übeiieden ließ?
Es versetzt unserem Berufe den em])findlichsten Hieb und
entwürdigt ihn aufs tiefste, Avenn Avir bei den Kranken auch
etAvaigen dunklen Herzensregungen oder einer vielleicdd. noch
schlummernden Disposition zu solchen, tuichspürim sollten; kann
<‘in ,, diagnostischer“ Fehler in der Richtung nicht ('imnal zu
unserem Schaden, das andere iVIal zum großen Sebaden <les
Kranken aUsfallen ?
Wir sind an den Fortschritten der medizinischen Wissen¬
schaft mittätig Und brauchen darum nichl zu besorgen, der Pudiin-
redigkeit geziehen zu werden, Avenn wir heha.uptim, daß die
praklische Mcilizin uns manch Avesentliidie Bereicherungen zu
danken hat; unser ganzes Sinnen und Trachten ist ja stets
darauf gerichtet, auch die als scliAver heilbar und unheilbar
gehaltenen Erkrankungen in den Bereich der heilbaren zu ziehen.
Wir können dem so lange nachgehen als Avir treu einer In¬
stitution anhängen, Avelche-die großen österreichischen Kli¬
niker uns als köstliches Vermächtnis hinterlassen haben,
mit anderen Worten, als Avir unsere Handlungen unter das strenge
Gebot der eigenen moralischen und Avissenschaftlichen Verant¬
wortlichkeit stellen. Nun tritt aber rin fremdes Element hinzu, das
unser heiligstes Empfinden profaniert: Avir haben imt der neu auf¬
geschossenen Mania industriosa im Publikum und in Aveiterer
Folge hievon mit ilen brutalen Spitzfindigkeiten mehr oder Aveniger
geriebener Advokaten zu rechnen. Daß unter solchen Verhält¬
nissen die Tatkraft erlischl, die inilialive erstirbt, ist nur zu
begreiflich. Ohne Initiative ist aber kein Fortschritt möiglich,
auch nicht auf dem Gebiete der Medizin.
Unserer Stellung nach sind Avir berufen, zugleich Hüter
und Mehrei' der glorreichen Geschichte der öshuaeichischen Me¬
dizin zu sein und so gehietet schon die patriolische Pflicht, in
eindringlichen Worten darzulegen, zu Avelch scliAveren Folgen der
eben skizzierte Furor accusandi führen muß.
Prof. Eduard Lang, k. k. Primararzt.
Vermisehte flaehriehtcn.
M'ie die Tageshlätter berichten, heahsichtigt die Stadt Wien
aus Anlaß des GOjährigen Regierungsjuhiläums des Kaisers die
Summe von zehn Millionen Kronen SpilalszAvecken zu AA’idmen.
Es lu'aucht nicht besonders betont zu Averden, wie sehr iCS all¬
gemeinen Beifall finden muß', Avenn man das dynastische Ge¬
fühl in solcher Weise zum Ausdrucke gebracht sieht. Der W unsch,
den Entschluß' zu einer derartigen AufAvendung großer Geld¬
mittel für humanitäre ZAVccke vom besten Erfolge begleitet zu
sehen, darf um so sicherer auf Erfüllung rechnen, je mehr hei
der Durchführung der Idee dein tatsächlichen Bedürfnisse Rech¬
nung getragen Avird. Es ist ja schon viel geleistet, Avenn bei
dem alljährlich zu gcAvissen Zeiten in Wien herrschenden IMangel
an Amrliigharcn Spitalshetlen durch Errichtung eines neium groben
Krankenhauses dem BiMlürfnisse nach leichter Bergung der pflege¬
bedürftigen Kranken genügt Avüi'de. Mit dieser Widmung ließe
sich aber noch eine andere Aufgabe im Rahmen der spitals-
gemäßen Fürsorge für die Bevölkerung lösen. Nichts liegt näher,
als Avenn bei diesem Anlässe die Stadt Wien sich jener nur
allzuvielen seiner EinAvohner erinnern Avürde, deren Krankheit
der fatale Name des Morbus viennensis beigelegt Avurde.
Gerade diese sind es, die das größte Kontingent zur Ueber-
füllung der Krankenhäuser stellen und für deren abgesonderte
B'orgung, Verpflegung und Behandlung in eigenen, den Heil-
zAvel'ken nach Oertlichkeit und Einrichlung entsprechend ange-
paßten Heilstätten Sorge zu tragen eine auRrordentlich vm'-
dicnstvolle Tat Aväre. Mit einem Schlage Aväre dann einerseits
der Ueherfüllung der Spitäler, der immer AAÜeder beklagten Sjutals-
not ein Ende bereitet, anderseits für die Assanierung der Stadt
und im Kampfe gegen die gerade die Wiener Bevölkerung heini¬
suchende Seuche ctAvas höchst Bedeul.sames geleistet. Selbst-
verstämllich Aväre in der Gcniarkung der (iroBstadt nicht dei
richtige Platz für eine derartige Pleilstätte. Sic müßilc in Avald-
reicher, ländlicher Umgehung errichtet Averden, irgemhvo in gün¬
stiger Lage in Niederösterreich, ein zAAmites Alland im großen
Stile, — So Avenig uns die Rolle eines ungehetenen Ratgebers
gefallen mag, so Idol ten Avir es doch tür unsere iPflicht, diesei
^ Avie uns' scheint — höchst heachtensAverten Anregung von
sehr geschätzter kollegialer Seite Ausdruck zu gehen.
Die Red.
*
/Ernannl: Dr. Jos. Grin sch gl zum
Niederöstei'reich.
Oherbezirksarzt in
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
Am 5. Juni feiorte Geheimrat v. Winckel in I\lünchen
seinen 70. Geburtstag.
*
Verliehen: Dem außerordentlichen Professor der Laryn-
gologii' und Rhinologie an der Universität in Wien Dr. Ottokar
Chiari der Titel und Charakter eines ordentlichen Universitüts-
professors. — Dem Oberstabsarzt Dr. Ludwig Steinitzer in
Mostar das Ritterkreuz des Franz - Joseph - Ordens.
Prof. Dr. II. Hermann Küttner, Direktor der chir. Klinik
in IMarhurg, wurde dem einstimmigen Vorschläge der Rreslauer
medizinischen Fakultät entsprechend als Nachfolger Garres
nach Rreslau berufen und wird dem Rufe auch Folge leisten.
*
Der Röntgenologe Dr. Albers- Schönberg in Hamburg
ist vom preußischen Minister der geistlichen, Unterrichts- und
Medizinalangelegenheiten zum Professor ernannt worden.
*
Habilitiert: Dr. Oskar Fischer für Psychiatrie an der
deutschen Universität in Prag.
*
Gestorhen: In Rad Liebenstein Prof. M. Litten, leitender
Arzt des städtischen Krankenhauses an der Gitschinerstraße in
Derlin.
*
Die kaiserliche Akademie der Wissenschaften
in Wien hat u. a. die folgenden Subventionen bewilligt:
Prof. Kreidl in Wien zur Ausführung von Lichtmessungen im
Adriatischen Meere K 1000; Dr. H. Pfeiffer in Graz zur P'ort-
setz'ung seiner Studien über Serum gegen Brandwundengift K 1500;
Prof. Finger in Wien zur Fortsetzung seiner IMrschungen über
Syphilisimpfungen K 2000; Dr. P öch : AnthropoIOigische und ethno¬
logische Studien hei den Buschmännern K 25.0C0.
*
In der Sitzung des niederö ster reicht sehen Landes¬
sanitätsrates vom 3. Juni 1907 wurden folgende Referate
erstattet: 1. Vorschlag zur Besetzung der erledigten Stelle eines
Pjimararztes, zugleich Vorstandes einer medizinischen vlbteilung
im Stande der AViener k. k. Krankenanstalten. 2. Gutachten
über die Desinfek lions Vorschriften für die Wiener k. k. Kranken¬
anstalten. 3. Gutachten über die neuprojeklierie Kläranlage einer
Landcs-IIumanitätsanstalt. 4. Gutachten über ein Ansuchen um
Konzessionierung einer Kaltwasserheilanstalt in einer Land¬
gemeinde in Niederösterreich. 5. Gutachten über die Schulärzte¬
frage.
*
Nach dem 26. Jahresbericht (Vereinsjahr 1906) des
Rudolfiner- Vereines betrugen die ordentlichen Einnahmen
im Jahre 1906 K 136.462-20, die ordentlichen Ausgaben K 226.445-96.
Aufgenommen wurden im Rudolfincrhaum (Direktor Regierungsrat
Dr. Gersuny) im Jahre 1906: 1211 Kranke, um 44 weniger als im
Jahre 1905. Die Zahl der Verpflegstage beziffert sich auf 22.966,
um 320 weniger als im Jahre 1905. Der Verpflegstag kostete
pro Kopf K 9-86. Die unmittelbare rein pekuniäre Wohltätig¬
keitsleistung des Rudolfinerhauses betrug im Jahre 1906
K 121.164-88.
*
Wie die Münchener medizinische Wochenschrift mit¬
teilt, wird nun im Deutschen Reiche die zweite Akademie
für praktische Medizin u. zw. in Düsseldorf ins
Leben treten. Die Eröffnungisfeier ist für Ende Juli fest¬
gesetzt. Prof. Lubarsch, Vorstand des pathologisch -bak-
t-etiologischen Institutes am kgl. KrankeninsÜtut in Zwickau, wurde
als Professor an die Akademie berufen und soll die Leitung des
pathologisch-anatoinischen Institutes an den Krankenanstalten in
Düsseldorf übei-nehmen.
*
Wir erhalten folgende Zuschrift: Von verschiedenen Seiten
eidialten wir Reklamationen wegen unterbliebener Einladungen
zu dem Feste am 2. Juni. Tatsache ist, daßi es sich dabei um
abgesendete, aber nicht angekommene Eiidadungen
handelt. Einige Adressaten haben das leere Kuvert verschlossen
zugestellt ei’halten und es wurde ihnen ein Strafporto auferlegl.
Es hat vielleicht einigen Nutzen, dies zur Kenntnis zu bringen.
Jene Herren Kollegen, die den neuen Pavillon im Rudolfinerhause
zu besiiditigen wünschen, werden hüfli -bst dazu einge'aden. Vom
15. bis 20. Juni wird zwischen 4 bis 6 Uhr nachmitta.gs jemand
zur Fahrung bereit sein. Die Direktion ties Kudolfinerhauses ;
Dr. Gersuny.
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Gemeindegebiet. 22. Jahreswoche (vom 26. Mai bis
1. Juni 1907). Lebend geboren, ehelich 669, unehelich 280, zu¬
sammen 949. Tot geboren, ehelich 68, unehelich 31, zusammen 99.
Gesamtzahl der Todesfälle 657 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 17‘3 Todesfälle), an Bauchtyphus 1,
Flecktyphus 0, Blattern 0, Masern 27, Scharlach 3, Keuchhusten 3,
Diphtherie und Krupp 6, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 1,
Lungentuberkulose 130, bösartige Neubildungen 35, Wochenbett¬
fieber 2. Angezeigte Infektionskrankheiten; An Rotlauf 37 ( — 9), Wochen¬
bettfieber 1 { — 1), Blattern 5 (+ 3), Varizellen 69 ( — 11), Masern 563
(-U 9), Scharlach 121 ( — 9), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 4 (— 9),
Ruhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 60 ( — 28), Keuch¬
husten 45 (-j- 7), Trachom 2 (-}- 2), Influenza 0(0), Genickstarre 18(-1-11)
Freie Stellen.
D i s't r i k't s a r z t e s s t e'l 1 e für den Sanitätsdistrikt Part-
s c h e n d’o r f - H a u s d 0 r f, politischer Bezirk Neutitschein (Mähren),
mit dem Sitze in Partschendorf. Der Distrikt zählt 2638 Einwohner. Die
Gesamtbezüge des Distriktsarztes betragen K 1444 jährlich, von welchem
Betrage K 1000 als Grundlage der distriktsärztlichen Pensionsberechtigung
angerechnet werden. Der Distriktsarzt hat das Recht, eine Hausapotheke
zu führen. Die Gesuche sind bis 23. Juni d. J. beim Obmanne der
Sanitätsdelegierten Herrn Franz Kaufmann in Partschendorf ein¬
zubringen.
Gemeindearztesstelle in Orta. d. Antiesen (Ober¬
österreich) bis 1. September d. J. zu besetzen. Sitz des Gemeindearztes ist
Ort, eine Viertelstunde von der Eisenbahnhaltestelle Hart entfernt. Ein¬
wohnerzahl 1830. Fixe Bezüge K 700. Verpflichtung zur Haltung einer
Hausapotheke. Gesuche sind bis 1. Juli 1. J. an die Gemeindevorstehung
Ort a. d. Antiesen zu richten.
Distriktsarztesstelle für den Sanitätsdistrikt St. Veit,
politischer Bezirk Pettau (Steiermark). Der Distrikt besteht aus 12 Ge¬
meinden mit 6705 Einwohnern und 83 km* Flächenraum. Landessub¬
vention K 300, Bezirkssubvention K 300, Beitragsleistung der Gemeinden
K 352. Der Distrikfsarzt hat seinen Wohnsitz innerhalb des Dienst-
sprengels zu nehmen. Kenntnis einer slawischen Sprache und Haltung
einer Hausapotheke erforderlich. Gesuche bis 30. J u n i 1. J. an die
k. k. Bezirkshauptmannschaft Pettau einzusenden.
Mehrere Sanitätsassistentenstellen im öffentlichen Sanitäts¬
dienste für Tirol und Vorarlberg. Bewerber um eiue dieser Stellen haben
ihre gehörig instruierten und insbesondere mit dem Nachweise über all¬
fällige besondere wissenschaftliche Qualifikation versehenen Gesuche bis
längstens 20. Juni d. J. beim Statthaltereipräsidium in Innsbruck ein¬
zubringen.
Gemeindearztesstelle für den Sanilätssprengel A h r n t a 1
mit ca. 4000 Einwohnern mit dem Sitze in Steinhaus, Gemeinde
St. Johann (Tirol). Wartgeld K 2000 jährlich; Naturalwohnung nebst
Benützung eines Gemüsegartens. Führung einer Hausapotheke erforder¬
lich; Ordinationen und Visiten werden nach dem für das Pustertal ver¬
einbarten Tarife honoriert. Gesuche mit dem Nachweise der österreichischen
Staatsbürgerschaft und dem im Inlande erworbenen Doktordiplom sind
bis 15. J u n i d. J. an die k. k. Bezirkshauptmannschaft Bruneck zu
richten.
Forstarztesstelle bei der k. k. Forst- und Domänenver¬
waltung Attergau in Weißenbach mit dem Wohnsitze des Arztes in
Unterach (Oberösterreich). Die Instruktion sowie die sonstigen Be¬
stimmungen über die Ausübung des ärztlichen Dienstes können bei der
k. k. Forst- und Domänenverwaltung Attergau, bei der k. k. Forst- und
Domänenverwaltung in Gmunden, sowie auch beim k. k. Ackerbau¬
ministerum in Wien eingesehen werden. Mit der Stelle ist der Anspruch
auf eine Jahresbestallung von K 1800 verbunden. Ein Anspruch auf
Altersversorgung wird durch diese Anstellung nicht begründet. Bewerber
haben ihre Gesuche bis längstens 30. Juni d. J. bei der k. k. Forst und
Domänendirektion in Gmunden zu überreichen. Diesen Gesuchen muß ins¬
besondere angeschlossen sein: 1. die Altersnachweisung; 2. der Nachweis
über den erlangten Doktorgrad; 3. über die Staatsangehörigkeit; 4. über
das untadelhafte staatsbürgerliche Verhalten; 5. ein amtsärztliches Zeug¬
nis über die physische Eignung und 6. ein Nachweis der bisher zurück¬
gelegten ärztlichen Tätigkeit. In dem Gesuche haben die Bewerber auch
anzugeben, ob sie in der Lage sind, nach Verständigung über die er¬
folgte Verleihung der Forstarztesstelle ihren Dienst sofort anzutreten oder
binnen welcher Frist dies zuversichtlich geschehen kann. Bewerber,
welche eine besondere Ausbildung in der operativen Chirurgie und
Geburtshilfe nachzuweisen imstande sind, erhalten den Vorzug vor anderen.
In Gemäßheit des Landesgesetzes vom 18. März 1888, L.-G.- und
V.-Bl. Nr. 13, wird behufs Besetzung der Stelle des Gemeindearztes
für den Sanitätssprengel Pozoritta, mit dem Wohnsitze in Pozoritta,
der Konkurs ausgeschrieben. — Die mit dem Posten verbundene Jahres¬
dotation beträgt K 1200 und gelangt bei dem k. k. Steueramte in Kimpolung
in monatlichen atizipativen Raten zur Auszahlung. Außerdem erhält der
Gemeindearzt für Dienstreisen die mit der Kundmachung der Bukowinaer
k. k. Landesregierung vom 18. Dezember 1890, L.-G. u. V.-Bl. Nr. 24,
bzw. vom 27. April 1895, L.-G.- u. V.-Bl. Nr. 12, normierten Gebühren.
Bewerber um diesen Posten haben nachzuweisen; 1. die Berechtigung
zur Ausübung der Heilkunde in den im Reichsrate vertretenen Königreichen
und Ländern; 2. die österreichische Staatsbürgerschaft; 3. die Kenntnis
der deutschen und in hinreichendem Maße jene der Landessprachen,
d. i. der rumänischen und ruthenischen Sprache. Dementsprechend in¬
struierte Gesuche sind binnen vier Wochen vom Tage der ersten Ein¬
schaltung in der >Czernowitzer Zeitung« hieramts einzubringen.
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Sitzung vom 7. Juni 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde in Wien.
Sitzung der pädiatrischen Sektion vom 23. Mai 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 7. Juni 1907.
Vorsitzender: Hof rat Prof. R. Chrobak.
Schriftführer: Prof. R. Paltauf.
Hofrat C h r o h a k teilt mit, daß er Geh. Rat Prof. v. W i n k e 1,
Ehrenmitglied der k. k. Gesellschaft, persönlich im Namen der
Gesellschaft zum 70. Geburtstage beglückwünscht hat.
Priv.-Doz. Dr. Alfred Fuchs demonstriert einen Fall von
„D y SOS to se eleid ocräni enne“. (Erscheint ausführlich in
dieser Wochenschrift.)
Prof. Dr. L. Königstein: Herr Ch. stellte sich im Jahre
1901 mit einer Cataracta complicata in meiner Ordination
vor, die nicht zur Operation gelangte, weil die Lichtempfmdung
eine zweifelhafte war. Vor acht Tagen, also nach sechs Jahren,
kam er wieder, weil auf demselben Auge starkes Tränen, Licht¬
scheu etc. aufgetreten war und ihn arbeitsunfähig machte. Nim
ist aber das Bild, welches das Auge jetzt darbietet, ein merk¬
würdiges und schönes, wie ich es noch nicht gesehen und desseiit-
halhen ich Ihnen den Kranken vorstelle. Die ganze Vorderkammer
ist von einer Masse erfüllt, die bei seitlich auffallendem Lichte
ein Flirren, Glitzern, Gleißen und goldiges Aufleuchten zeigt,
wie wenn die Kornea mit Rotgold durchsetzt wäre. Die Masse
entspricht wahrscheinlich Cholestearinschollen und Schüppchen,
die sich dicht an die Membr. Descenietii anlegen und auch im
IWrenchym der Hornhaut eingesprengt scheinen und ihre eigen¬
tümliche Färbung vom Blutfarbstoffe beziehen. Aetiologisch muß
wohl angenommen werden, daß die Kapsel der geblähten Linse
seinerzeit geborsten und die Linsensubstanz eine regressive Meta¬
morphose eingegangen, die sich in Bildung von Cholestearinmassen
äußerte und daß in dem degenerierten Auge häufig Bfutanstriite
(sowie auch jetzt) in die Vorderkammer erfolgten. Das zweite
Auge ist hochgradig myopisch.
Prim. Dr. Lotheissen demonstrieiT einen 47jährigen Ba-
tienten, der die seltene Erscheinung des Skapularkrachens
zeigt. In der deutschen Literatur existiert bisher mir eine Mit¬
teilung von Küttner, einen Fall der v. Brunsschen Klinik
betreffend; die übrigen 22 Fälle stammen ans Frankreich und
Italien. Das Krachen zeigt sich beim Heben der rechten Skapula
und ist auf größere Entfernung hörbar. Da hier Tuberkulose und
Mnskelatrophic des Serratus ansznschließen sind, das Röntgen-
verfahren keinen Knochenvorsprung ergibt, muß man an ein
proliferierendes Schleimbeulelhygrom denken. Heißilnfüinwen-
dnng usw. brachten -keine Besserung, die Therapie kann also
nur eine operative sein.
Dr. V. Aberle demonstriert einen geheilten Fall von an¬
geborener linksseitiger Kniegelenksluxation nach vorn und
doppelseitigen Spitzfüßen. (Erscheint ausführlich in dieser Wochen¬
schrift.)
Dr. Kapsammer: Ein 23jähriger, kräftiger, wohlgenährter
Mann kommt mit der Klage über Störungen beim Urinieren und
über in der letzten Zeit aufgetretene blutige Färbung des Harnes
im Mai 1907 in Beobachtung. Die Hämaturie hatte meist einen
terminalen Charakter ; die Miktionsstörungen Jjestanden in zeit¬
weise auftretender kompletter Retention mit Blasenkrämpfen,
ferner in oft plötzlicher Unterbrechung des Harnstrahles. Patient
wurde 1903 und 1905 unter der Diagnose eines nervösen
Sphinkterspasmus jedesmal durch mehrere Monate lokal
behandelt.
Die Zystoskopie ergab links von der Medianlinie einen mit
seiner Kuppe der linken Uebergangsfalte unmittelbar anliegenden,
walnußgroßen Tumor von glatter Oberfläche. Dieser zeigte
deutliche, von der Unterlage mitgeteilte Pulsation, scheinbar ein
geringes Schwanken in seinem Volumen und bei einer gewissen
Stellung der Zystoskoplampe eine Transparenz, ähnlich einem
Hydrokelensacke. Diese Merkmale sprachen für das Vorhanden¬
sein einer zystenartigen Erweiterung des intravesikal
gelegenen linken Ureterendes. Durch einen Indigokarmin¬
versuch erschien eine Klarlegung der Verhältnisse bezüglich der
Uretermündungen möglich. Diese in einer zweiten Sitzung vor¬
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden, vom 15. bis
18. April 1907.
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin.
4. Sitzungstag.
genommene Untersuchung blieb aber die erwünschte Aufklärung
schuldig, insofern auf der linken Seite kein blauer Strahl zu
sehen war und überdies die bei der ersten Zystoskopie wahr¬
genommenen Merkmale nicht beobachtet werden konnten, so daß
das Vorhandensein eines soliden Tumors doch nicht ganz aus¬
geschlossen erschien.
Die vor drei Wochen von mir ausgeführte Sectio alta
ergab die Richtigkeit der zuerst gestellten Diagnose. Nach Er¬
öffnung der Blase zeigte sich am Blasenboden ein schlaffes, in
seiner Form einer welken Feige entsprechendes Gebilde, welches
mit einem schlanken Stiele in der Gegend der linken Ureter¬
mündung der Blasenwand aufsaß, mit seiner Kuppe das Orificium
uretrae internum erreichte. Die Oberfläche zeigte an dem Stiele
das Aussehen der normalen Blasenschleimhaut, die Oberlläche
der Kuppe erschien gewulstet und stark gerötet. Man konnte
Volumsschwankungen der Art beobachten, daß sich dieses
Gebilde einmal vollkommen prall füllte, um nach Entleerung von
Flüssigkeit wieder in den schlaffen Zustand zurückzukehren.
Leider konnte die Austrittsstelle der Flüssigkeit nicht beobachtet
und auch nachher nicht festgestellt werden, da gelegentlich des
Abtragens der Zystensack mit der M u s e u x sehen Zange zerrissen
wurde. Die Operation war rasch beendet : zwei gegenüberliegende
Catgutnähte vereinigten die Schleimhaut des Ureters mit der der
Blase, zwei weitere dienten dazu, um rechts und links von der
Uretermündung die Blasenschleimhaut zu vereinigen.
Die Wand der exstirpierten Zyste zeigt im Inneren längs
verlaufende glatte Muskelfasern, welche ziemlich weit aus¬
einander liegen, die innere Oberfläche ist mit einem mehr¬
schichtigen Ureterepithel bekleidet, die äußere, dem Blaseninnern
zugekehrte Oberfläche zeigt nur nahe der Insertionsstelle mehr¬
schichtiges Plattenepithel, die Kuppe entbehrt vollständig eines
Epithelbelages; sie ist von einem gefäßreichen Granulations-
gevvebe gebildet.
Der Verlauf war ein vollkommen glatter, der Bat. konnte
14 Tage nach der Operation die Anstalt verlassen.
Die drei Wochen nach der Operation vorgenommene
Zystoskopie mit Indigokarmininjektion ergab wertvolle Auf¬
schlüsse :
Die linke Uretermündung liegt symmetrisch mit der rechten
in normaler Entfernung von der unteren Uebergangsfalte.
Links: Rechts:
Indigokarminreaktion:
18 Minuten post injectionem 12 Minuten post injectionem
hellblauer Strahl, welcher blauer Strahl, welcher
25 Minuten post injectionem 15 Minuten post injectionem
an Intensität der Färbung tief dunkelblau erscheint,
noch nicht zugenommen hatte.
Diese Untersuchung ergab also normale Funktion für
die rechte, geschädigte Funktion für die linke Niere.
Letztere ist wohl die Folge einer durch die chronische Harn¬
stauung bedingten Druckatrophie der Niere. Die mit Harn prall
gefüllte Zyste hat anderseits durch Vorlagerung vor das Orificium
urethrae internum zu den genannten Miktionsstörungen geführt ;
das häufige Einklemmen der Zystenkuppe am Blasenhals wurde
die Ursache der an derselben Vorgefundenen Erosionen.
Während derartige zystenartige Umgestaltungen des vesi-
kalen Ureterendes meist überzählige, abnorm tief ausmündende
Harnleiter betreffen, handelt es sich in dem gegebenen Fälle um
einen einzelnen an normaler Stelle in die Blase mündenden
Ureter.
Doch dürfte auch in diesem Falle eine Bildungsanomalie,
ein abnormer Verlauf des Ureters in der Blasenwand, eine
abnorme Enge seiner Mündung, vielleicht eine ursprüngliche
epitheliale Verklebung die Ursache der Mißbildung sein.
Für die Annahme einer angeborenen Mißbildung
ergibt der vorliegende Fall eine Reihe von Anhaltspunkten :
Der Bat. soll schon als Kind seit seiner Geburt bei der
Miktion stets Schmerzäußerungen von sich gegeben haben ; es
wurden schon damals vorübergehende Unterbrechungen des Harn¬
strahles beobachtet. Weiter hören \vir, daß aus drei aufeinander-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
;ö
folgenden Schwangerscliaften der Mutter des Pat. als erster ein
mit einer Hypospadie behafteter Bruder, als zweiter ein im
fünften Monate abortierter kompletter Zwitter und als dritter der
in Besprechung stehende Kranke resultierte.
Dr. Oskar Semeleder: Meine Herren! Ich halle heuer
im Februar Gelegenheit, Ihnen eine neue Methode der Behandlung
des Plattfußes und des Klumpfußes und anderer Belastungs¬
deformitäten mitzuteilen, welche jeden operativen Eingriff und jedes
Redressement unnötig macht. Die Methode verwendet die Körper¬
schwere des Pat., also gerade jene Kraft, welche diese Deformitäten
erzeugt oder verschlimmert, zur Korrektur ; es gelingt, durch Hebel¬
apparate, welche am besten in der Form eines unauffälligen
Schuhes konstruiert werden können, die Richtung der einwirkenden
Körperschwere in bestimmter Richtung und in beliebiger Kraft-
slärke abzulenken und selbst bei hochgradigen Plattfußfällen
ohne jeden Eingriff, geradezu beim Spazierengehen des Pat.
eine Korrektur zu erzielen. Ich verweise diesbezüglich auf
meine Ausführungen im Februar. Ich stellte Ihnen damals
einige Plattfußfälle vor, bei welchen die Korrektur als vollständig
gelungen zu bezeichnen war. Ich habe bei dieser Gelegenheit
behauptet, daß auch Klumpfüße sich auf diese Weise redressieren
lassen und ich werde mir die Freiheit nehmen, Ihnen
demnächst eine Reihe solcher Pat. vorzuführen. Ich möchte
mir nur erlauben. Ihnen heute schon diese kleine Pat. mit
Peroneuslähmung vorzustellen, weil sie schon in den nächsten
Tagen mit ihren Angehörigen Wien verlassen wird. Ich will heute
über den Fall nicht viele Worte verlieren, nachdem die Neurologen
Priv.-Doz. E 1 z h 0 1 z und Prof. v. F r a n k 1 - H o c h w art, welche
das Kind von Anfang an behandelten, heute abwesend sind und
ich ersucht wurde, das Kind im Herbste noch einmal vorzustellen.
Ich will nur erwähnen, daß die fast sechs Jahre alte Pat. vor
ca. 2V2 Jahren ein Trauma erlitt, sie stürzte über ein Wasch¬
becken aus Porzellan und durchschnitt sich in der Mitte des
Oberschenkels mit einem Scherben den Ischiadikus. Die Nerven¬
naht wurde zehn Tage nach dem Unfälle vorgenommen. Auf .eine
durch 1^2 Jahre fortgesetzte elektrische Behandlung und forcierte
Massage kehrten die einzelnen Funktionen wieder zurück, nur
die Peroneuslähmung blieb bestehen. Sie ist eine vollkommene
und wurde auch in letzter Zeit von Prof. v. F r a n k 1 - H o c h w a r t
zu wiederholten Malen konstatiert. Als natürliche Folge der
Peroneuslähmung trat kurze Zeit nach dem Unfälle die Klumpfu߬
stellung auf, welche in der gewohnten Weise mit Gips und Ap¬
paraten behandelt wurde. Die Korrektur wurde wiederholt vor¬
genommen, es war aber nicht möglich, mittels der bekannten
Apparate die Korrektur aufrecht zu erhalten. Die Tendenz zur
Rezidive war einfach nicht zu besiegen. Es wurden deshalb
mehrere Autoritäten des In- und Auslandes konsultiert, der Zu¬
stand blieb der gleiche. Vor einem Jahre kam die Pat. in meine
Behandlung. Bei der Uebernahme stand der Fuß in Klumpfu߬
stellung, ein plantares Auftreten ohne Apparat war unmöglich.
Das Kind trug damals einen Hessing sehen Schienenhülsen¬
apparat mit Knöchelriemen. Am äußeren Knöchel waren Dekubitus,
daneben Schwielen und Schleimbeutel zu konstatieren. Die Waden¬
muskulatur vollständig atrophisch. Ich brachte meine Methode
zur Anwendung, Sie sehen hier das Resultat, das jetzt seit Monaten
sich konstant erhält. Sie sehen vor allem, daß das Kind aus¬
gezeichnet geht, es kann laufen und auch tanzen. Eine Atrophie
der Wadenmuskulatur ist kaum zu bemerken. Meine Herren ! Diese
Erscheinung einer auffallenden Erstarkung der Muskulatur konnte
ich in allen bis jetzt von mir behandelten paralytischen Fällen
von Plattfuß und Klumpfuß bemerken. Dieses Symptom war in
jedem Falle so auffallend, daß immer die Pat. selbst oder ihre
.'Vngehörigen darauf aufmerksam wurden und mir darüber spontan
Mitteilung machten. Ich erkläre mir diese Erscheinung damit,
daß ich imstande bin, durch das Körpergewicht die Funktion
der gelähmten Muskulatur geradezu zu ersetzen und den nicht
gelähmten Muskeln einen Antagonisten zu schaffen, welcher die
Jnaktivitätsatrophie der noch lebenden Muskeln verhindert. Der
Pat. hat daher auf der einen Seite eine entwickelte Muskulatur,
auf der anderen Seite das Körpergewicht als elastisch wirkenden
Widerstand und der Pat. ist imtande, durch entsprechendes
Anspannen oder Nachlassen dieser einseitig wirkenden Muskeln
sein Sprunggelenk in einer der Funktion entsprechenden Weise
zu fixieren und zu gebrauchen. Er bekommt dadurch ein aktions-
fähig(>s, funktionstüchtiges Gelenk. Eine Rezidive ist dabei aus-
'p-.-^cidossen.
Meine Herren! Ich stelle Ihnen hier noch zwei Pat. vor, um
Ihnen den Nachweis zu führen, . daß die Methode in der Platt-
fußbehrMMlIung auch den schwersten Fällen gewachsen ist. Die
;nne Pat. hteiit seit vier Wochen in meiner Behandlung. Die Platt-
fußb- ;:chwerden waren derartige, daß die Pat. wochenlang bett¬
lägerig war und absolut nicht gehen konnte. Die früher bretthart
fixierten Plattfüße sind heute mobil und die Pat. machte am
Sonntag eine fünfstündige Partie ohne alle Beschwerden. Aus
der Photographie und dem jetzigen Befund ersehen Sie, daß diese
Plattfüße mit ausgesprochener Subluxation des Talus zu den
allerschwersten Formen gehören, ebenso wie die Füße der
zweiten Pat., welche erst vom heutigen Tage an behandelt
wird. Ich werde mir erlauben, die beiden Pat. nach beendeter
Therapie Ihnen wieder vorzustellen.
Diskussion: v. Aberle: Die Bemerkungen, die ich mir
im Anschlüsse an die Demonstration des Herrn Vorredners zu
machen erlaube, beziehen sich einerseits auf dessen Ausführungen
üher den paralytischen Klumpfuß, anderseits auf diejenigen über
den Plattfuß.
Was nun den ersten Punkt anbelangt, so muß ich betonen, daß
auch unsere Pat. mit paralytischen Klumpfüßen ohne jeden Apparat
nur mit einem einfachen Schuh mit äußerer bis 1 cm hohen
Keileinlage herumgehen. Es muß nur selbstverständlich jedesmal
vorher die Korrektur der Deformität je nach der Schwere des
Falles entweder durch einfache redressierende Bewegungen oder
durch Redressement in Narkose vorgenommen worden sein. Ich
werde mir in nächster Zeit erlauben, der geehrten Versammlung
eine Reihe von schweren paralytischen Klumpfüßen zusammen¬
zustellen und zu demonstrieren — ich beschäftige mich eben
mit diesem Thema — um Ihnen zu zeigen, mit welch einfachen
Mitteln wir nach Beseitigung der fehlerhaften Fußstellung aus-
kommen, ohne Apparat, ohne Sehnentransplantation, nur mit
dem einfachen Schuh. Wenn Dr. Semeleder behauptet, daß
unter der Einwirkung seines Schuhes die Muskelkraft des Beines
eine bedeutende Stärkung erfahren habe, so bemerke ich nur, daß
das Wiederkehren der Muskelaktion auch in unseren Fällen von
paralytischen Klumpfüßen eine alltägliche Erscheinung ist. Nur
muß die Fußdeformität behoben worden sein. Wir sehen dann
sogar in der anscheinend vollkommen gelähmten Peronealmus-
kulatur und den Extensoren neuerdings eine Funktion sich ein¬
stellen, einfach dadurch, daß die Muskeln nach der Stellungs¬
korrektur entspannt werden und wieder unter günstigere Funktions¬
bedingungen gebracht wurden.
Was aber die Anwendung des Semeleder sehen Schuhes
bei Plattfuß betrifft, muß hervorgehoben werden, daß dieselbe
Wirkung auf viel einfachere Art erzielt werden kann, nämlich
durch den schiefen B e e 1 y sehen Absatz. Es ist daher auch nicht
richtig, daß erst durch den Semeleder sehen Schuh das Körper¬
gewicht in den Dienst zur Korrektur des Plattfußes gestellt wurde.
Ganz dasselbe Prinzip verfolgt der genannte schräge Absatz, in¬
dem dadurch genau dieselbe Hebel Wirkung ausgeübt wird. Nur
müssen die Seitenteile des Afterleders versteift sein und diese
die Ferse gut fassen. Dadurch wird das Afterleder beim Auf¬
treten auf die schiefe Absatzfläche selbst schief von oben außen
nach unten innen gestellt, so daß bei jedem Schritte ein Redresse¬
ment des Sprunggelenkes im Sinne der Korrektur erfolgt.
Denn es kann für die Wirkung ganz gleichgültig sein, ob
der Absatz im Augenblicke des Auftretens bereits schief gestellt
ist, oder wie beim S e m e 1 e d e r sehen Schuh durch Zasaminen-
drücken der äußeren Absatzpartie erst abgeschrägt wird. Die
Hebelwirkung bleibt in beiden Fällen dieselbe.
Für die leichten und mittelschweren Fälle von Plattfuß
kommen wir aber wohl stets mit den gewöhnlichen Maßnahmen
aus. Gegen den wirklich schweren, starr fixierten Plattfuß der
arbeitenden Klasse, dem wir, wie wir zugeben müssen, oft ratlos
gegenüberstehen, nützt natürlich auch der Semeleder sehe
Schuh nichts, schon aus dem einfachen Grunde, weil diese Art
Plattfuß gegen jede Supinationsbewegung absolut unzugänglich ist.
Oft ist man aber anderseits geneigt, einen spastisch fixierten
Plattfuß als äußerst schwer zu bezeichnen, der jedoch schon unter
einfacher Bettruhe in kürzester Zeit wieder vollkommen be¬
weglich wird. Ich kann hier speziell aus letzter Zeit einen Fall er¬
wähnen. Derselbe betraf eine Kassierin, welche vollkommen spastisch
fixierte Plattfüße aufwies. Schon nach achttägiger Bettruhe waren die
Füße wieder vollkommen weich und beweglich und nach weiteren
acht Tagen konnte die Pat. ohne irgendwelche Beschwerden mit
gewöhnlichen Einlagen ihren Dienst versehen.
Würde in den Spitälern nicht immer Platzmangel für die
tatsächlich bedauernswerten Plattfußpatienten bestehen, so wäre
auch für die schwersten Fälle die Frage der Behandlung gelöst.
Dr. Oskar Semeleder: Ich kann ruhig behaupten, daß
ich unter ca. 60 schweren Plattfußfällen, welche durch die
anderen Methoden nicht einmal schmerzfrei wurden und die ich
nach meiner Methode behandelt habe (vielleicht zufälliger¬
weise) bis jetzt keinen einzigen Mißerfolg aufzuweisen
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
749
habe. Auf den Vorhalt des längst verlassenen H e e 1 y sehen
Schuhes habe ich bereits gelegentlich meiner ersten Mitteilung
entsprechend geantwortet. Dieser Schuh ist nicht imstande, einen
hestehendeii Plattfuß zu korrigieren, sondern wird durch den
Plattfuß beim ersten Tritt deformiert, paßt sich der Deformität
an und wird in seiner Wirkung der Keileinlage gleichgestellt.
Auch über diese habe ich bereits gesprochen. Weder sie, noch
der B e e 1 y sehe Schuh hat etwas mit dem seinerzeit von mir mit¬
geteilten neuen Prinzipe gemein. Wenn uns Herr Dr. R. v. A h e r 1 e
mitteilt, daß auch durch eine dreiwöchentliche Liegekur die
fixierten Plattfüße mobil werden, so fehlt noch die weitere Beob¬
achtung, wie lange bei diesem Pat. die Rezidive auf sich warten
läßt. Es ist übrigens nicht gleichgültig, ob der Pat. drei Wochen
ins Rett gelegt werden muß oder sofort nach Anlegung der Apparate
aktionsfähig ist und seinem Berufe nachgehen kann. Mit einem
Paar solcher Apparate ist der Pat. imstande, seine Plattfüße
jahrelang korrigiert zu erhalten; in den meisten Fällen braucht
er nach einmal erzielter Korrektur diese Apparate später nur ein-
oder zweimal wöchentlich zu tragen und wird sich dadurch sicher
vor einer Rezidive schützen.
Wenn Herr Dr. R. v. A b e r 1 e behauptet, daß diese Peroneus¬
lähmung nur eine leichte sei und diese Plattfüße nur leichte
Formen darstellen, so muß ich doch betonen, daß ich doch aus¬
drücklich mitgeteilt habe, daß es sich um eine schwere vollständige
Lähmung des Peroneus handelt, welche zu wiederholten Malen ver¬
geblich nach den Methoden behandelt wuirde, auf welche Herr
Dr. V. A b e r 1 e hingewiesen hat. Ebenso könnte ich Ihnen, meine
Herren, Plattfußpatienten vorstellen, welche durch Jahrzehnte
nach diesen und allen möglichen anderen Methoden behandelt
wurden, aber erst durch Anwendung meiner Methode von ihrem
Leiden befreit wurden.
Prof. Dr. Benedikt spricht über physiologische und
pathologische V orgänge im Zirkulationsapparate. Zu¬
nächst erinnert er wieder an seine Beobachtungen über Krämpfe in
großen Gefäßen, z. B. an einen Krampf in beiden Art. cru rales, der
bald heilte. Weiters ruft er ins Gedächtnis seine Beol)achliin,g
zurück, daß die Pulse der homonymen Arterien beiderseits in nor¬
malem Zustande ungleich voll sind und daß gleiches Vollsoin schon
auf eine Zirkulationsstörung hindeutet. Dabei besteht ein aus¬
gleichendes Verhältnis. Wenn der Karotispuls der einen Seite
voller ist, als jener der anderen Seite, so ist der Radialispuls
der ersten Seite kleiner und umgekehrt. Dieses Verhältnis ist
gewiß nicht ein rein anatomisches, da es sich ändeiu kann. Aus
zahlreichen Versuchen mit Basch ergab sich ein ungleicher
Druck in den homonymen Arterien. Eine Störung dieses Verhält¬
nisses ist die Regel ; sie ist sehr häufig ein Prodromalsymptom
von Apoplexie.
Besondere Beachtung verdient das starke — autonome —
Pulsieren von Arterien ohne Drucksteigerung von der Peripherie
und vom Zentrum aus. Der Typus solcher Pulsationen ist jener der
Bauchaorta bei Hysterischen. Dabei findet eine Eiaveiterung über
das gewöhnliche Maß hinaus statt u. zw. unter Drucksleigerung.
Schon aus dieser pathologischen Beobachtung ging eine aktive Er-
wöiterungsfähigkeit hervor, die durch die physiologischen Ge-
fäßiienön gestützt Wurde. Die Physiologen faßten diese Erweite¬
rung als Aufhebung der bestandenen Tonizität auf, w'ährend die
pathologische Beobachtung eine aktive Erweiterung — eine aktive
Diastole erwies. Als der einzig mögliche Mechanismus dieser
aktiven Diastole ist nach Benedikt die Uehers treck u n g der
Ringfasern über das gewöhnliche Maß. Die Tatsache der Ueljer-
streckung von Zellen wurde z. B. bei den Mimosenzcllen nach-
gew’iesen und man hat dann eine ,, Hyperendosmose“ angenommen.
Diese Hyperendosmose ist aber eine gewöhnliche Erscheinung
hei wachsenden und bei sich vermehrenden Zellen und (lieso
Streckung findet natürlich vorwaltend in den Achsen des \\ achs-
tums, z. B. bei zylindrischen, elliptischen und rhomboidalen
Zellen, statt.
Um die Tatsache der Ueberstreckung der organischen Crefäßr
zellen klarzustellen, ist es gut, auf den Begriff der Hemmung
einzugehen, der durch die Tatsache der Wirkung der Vagusfasern
aufs Herz zuerst in die Physiologie eingeführt wurde. Hemmung
ist ein Begriff, ein Wort ohne Vorstellujig und ohne eigentliche
Erkenntnis. Um eine Einsicht in ihr Wesen zu gewinnen, müsse
man auf das Urphänomen der Hemmung in den Zellen zurück¬
gehen. Jede Zelle verrichtet auf Reiz eine „Arbeit“, welche
den biochemischen und morx)hologen Bestand der Zelle schädigt.
Diesem Abbau wirkt das Urpbänomen des Lebens, nändich die
Kraft des Kampfes um die Existenz und Erhaltung der Eigenart
der Zellen, entgegen. Der Reiz verliert seine Kraft und durch
Endosmose regeneriert sich die Zelle, ln zusammengc'selzten Grga-
nis'men Avird diese la.mmiendo Kraft dunli Nervenreiz verstä.ikl.
Diese toidsierenden Nerven sind also lleniinungsnerven, welche
den Wiederaufbau der Zellen fordern und wdc war gleich betonen
wollen, auf eine höhere Stufe bringen können. Von den Physio¬
logen hat nur Gas keil erkannt, daß beim Wiederaufbau der durch
das Funktionieren in ihrem Bestände an Substanz und Energie
herabgekommenen Zellen die Hemmungsnerven — die Vagi —
eine wichtige Rolle spielen. Durch diesen M'iederaufbau wird
die Zelle AvenigstenS bis zur früheren Ruhelage gestreckt. Daß
die Zellen durch starke Reizung der Hemmungsnerven auch ül)er-
streckt wörden können, daran dachte auch Gaskell idcht. Eine
Streckung der Neiwen findet sich mittels Endosmose beim Aufhören
der zusammen ziehenden Reize jedenfalls ein, damit die Muskel¬
faser wieder in ihren früheren Zustand jn der Ruhe zurückkehre
und w’enn dabei die die Endosmose fördernden Hemmungsnerven
mitAvirken, so ist eine Ueberstreckung, leicht denkbar. Dies ge¬
schieht geAviß bei der aktiven ErAveiterung ■ — Diastole — der
Arteiien über das gewöhnliche Maß hinaus.
Das Muskelsystem der Arterien mit ihren konstringierenden
und erAAöiternden Nerven bildet also „Lokal herzen“, welche
eine notAArendige Ergänzung des Zentralherzens Inlden. Letzteres
kann seinem Druck nach nicht den verschiedenartigsten Ruhe- und
Tätigkeitszuständen der verschiedenen Organe nachkommen. Dazu
sind lokale Vorrichtungien, Avie sie soeben beschrieben wurden,
nötig und für die der Vortragende bereits in einer Publikation
im Jahre 1875 den Ausdruck ,, Lokalherzen“ prägte.
Die NotAAöndigkeiten dieser Hilfsvorrichtungen Avurde viel¬
fach — ohne klare Vorstellung — vorausgesetzt, zuletzt von
Tigerstedt, <ler aber engherzig das Lokalherz auf die kon¬
stringierende Wirkung und die Erschlaffung: beschj'änkte. Die
aktive Eiweiterung und ihr Mechani.smus Avurde erst vom Vor¬
tragenden erkannt und formuliert. Der .Vortragende erschloß die
Existenz der Lokalherzen noch aus einer anderen fundamentalen
Fragereihe. Wieso die Zellen der verschiedenen Organe ihre
Eigenart durchs Leben trotz des gemeinsamen Nährsafles — des
Blutes — erhalten, ist eine Grundfrage der Biologie. Man hat
dafür das Wort ,, spezifische Auslese“ erfunden, aber dieses Wort
sei nur ein Ausdruck der Tatsache, aber keine Erkenntnis. Bei
einer Umfrage an alle Biologen würde Avohl die Antwort erfolgeti,
diese auslesende Kraft sei an die verschiedenen organischen Be¬
standteile der Zellen gebunden. Diese Antwmrt ist aber einseitig.
Die Injeklionstechnik hat erwiesen, daßi jedes Organ sein
eigen konstruiertes Haargefäfiisystem habe, also eine eigenartige
endo- und exosmotische Vorrichtung. Damit diese aber den je¬
weiligen und allgemeinen Bedürfnissen der Gewebe entspreche,
ist ein Lokalherz nötig, das dem Kapillarsysteme die nötige ßlut-
menge mit der nötigen Strömungsgeschwindigkeit und unter dem
nötigen Drucke zuführe.
Diese Hilfsvorrichtung für die Auslese haftete dem Vortra¬
genden schon als Student in seiner Vorstellung, da gerade zu
jener Zeit in Wien die Injektionsteclmik durch Be r res und
Hyrtl in Aöller Blüte stand.
Der Vortragende erinnert dann an den Satz, daß <lie Aus¬
gleichung von Zirkulationisstörungen nicht bloß nach hydrostati¬
schen Grumlgcsetzen vor sich gehe, sondern auch unter Inter¬
vention des NerArensystemes in entfernten Gefäßgebielen.
Der Vortragende geht iiun zur Frage der Theorie des Herz¬
stoßes über, die Systole der Herzkammer beginne an der Herz-
s.pitze und die erste M'irkung sei der Verschluß] der Vorhofs-
kla]')x>en, wdihrend erst in einem zAveiten Momente der Verschluß
der Arterienklappen aufgehoben Avurde. In diesem ersten Mo¬
mente stelle die Herzkammer einen bydraulischen Widder (?)
dar, d. h. eine Strömung, die sich selbst den Ausgang durch
ein Ventil verschließt. In diesem Momente des Verschlusses ent¬
stehe eine sehr heftige Erschütterung, in diesem Momente entstehe
auch der Herzstoßi und es kann kein Zweifel sein, dalf Herzsioß
und die Erschütterung im hydraulischen Widder identisch sei.
Dieses habe Dr. Karl Schmidt in Bruck a. d. Mur erkannt,
und somit gebühre einem österreichischen Arzte die Ehre, das
alte Problem gelöst zu haben.
Der Vortragende stellt dann Betrachtungen über die
„Schichtenarbeit“ im Herzen, in den Gefäßen und in den Avill-
küidichen Muskeln zur Erörterung, Avobei er hervorhebt, daß er
die Lehre, daß bei Avillkürlichen Muskelzusammenziehungen iinnuM-
nur ein Teil des Längenschnittes und ein Teil des Querschnittes,
je nach der intendierten Hubhöhe und Hebeintensität in Ansiiriu h
genommen Aveide, zurücknehme. Nur der Begriff der Scliicbt-
arbeit in dem Sinne ist absolut festzubalten, daßi in jeder Zelle
in jedem Momente nur ein Teil der lebendigen Kräfte zur .Arbeit
benützt AAörden könne.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
Zum Sclilusse stellt der Vortragende eine historische, dehk-
niethodische Heti-achtung an: der größle Aufenthalt iin Fort¬
schreiten der Medizin sei der Irrtum gewesen, daß die Arterien
sijirituseingescddossene Lehensgeister oder Fneuma enthalten. Der
schlichteste, aber gesunde medizinische Denker, auch ein Bader
aus einem Pfahldorfe, mußte die Tatsache aus Verletzungen, aus
den Ej-gebnissen bei Operationen erkennen, daß| die Arterien im
Leben Blut enthalten und daß. daher die Leere der Arterien eine
LeichenerscheinUiig sei und das Problem laute : Wieso Jiach dem
Tode die Arterien leer werden? Ein weiterer Satz, der nicht ohne
Begründung war, lautete, daß <lie Lehensgeister, also die Lebens¬
energien durch die Arterien den Geweben zugeführt werden und
da man sich diese Lebensgeister als luftartig vorstellte, hatte
man das Bedürfnis, sich die Arterien als blutleer vorzustellen.
Bei unbeugsamem Tatsächlichkeitssinne hätte man sich aber sagen
müssen, daß diese Lebensgeister schwimmen und tauchen können
und so durch das Blut zu den Gewebezi gelangen. (Dm- Vortrag
wird in der nächsten Sitzung fortgesetzt werden.)
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
Sitzung vom 23. Mai 1907.
H. G e ]' her s teil t eine 43jährige F rau mit Syringomyelie
und vollständiger A n ä s t h e s i e d e r Korne a vor. N ac h
einem vor vielen Jahren erfolgten Sturz bekam Pat. Krampf¬
anfälle in der linken oberen Extremität mit Parästhesien, Schwindel-
anfällen und Abnahme der motorischen Kraft im linken Arme,
später Schwellung der linken Hand und des linken Unterarmes.
Vor einigen Jahren trat unter Fieber eine Schwellung ties linken
Schul tergelenkes auf, aus welchem durch Inzision eine gelbliche
Flüssigkeit entleert wurde, bald darauf erfolgte bei einer raschen
Bewegung eine Luxation in diesem Gelenke. Jn der Folge erlitt
Pat. mehi‘f;iche Verletzungen und Verbrennungen, wobei sie keinen
Schmerz verspürte. Die Untersuchung ergibt bei der Patientin
eine partielle Empfindungslähmung an der linken oberen Ex¬
tremität, an der liidcen Brustseite bis zur Mittellinie und hinauf
bis zur Scheitel-Ohr-Kinnlinie, ferner Atrophie der kleinen Hand¬
muskeln, trophische Veränderungen der Haut, Skoliose der
M'irbelsäule, Steigerung der Patellarreflexe, nystagmusartige
Augenbewegungen, ferner eine vollkommene Anästhesie der
linken Kornea, Fehlen des Rachen- und Niesreflexes. Auf eine
Erkrankung der Medulla oblongata weisen die bestehende links¬
seitige RekuiTenslä Innung, sowie der Umstand hin, daß Patientin
nach Eintritt der Dunkelheit die Sicherheit im Gehen Amriiert.
K. G 1 a e s s n e r demons i rier t lebende B a 1 a n t i d i u m c o 1 i
aus dem Stuhle eines Pat., der vor sechs Wochen an einer
heftigen Enteritis erkrankte. Unter dem Mikroskope sieht man
ovale, bewimperte Gebilde mit einem bohnenförmigen Kern und
mehreren kontraktilen Vakuolen; an einem Pole sitzt der trichter¬
förmige Mund, am entgegengesetzten der After. Im Innern des
Balantidiums findet man Blutkörperchen und Zerfallsprodukte der¬
selben. Die Parasiten zeichnen sich durch eine große Beweglich¬
keit aus. Die Stühle des Patienten sind blutig-eitrig, <lie Er-
kraidmng ist sehr hartnäckig und die Therapie machtlos.
J. Friedjung führt ein Ißjähriges Mädchen mit mon¬
go 1 o i d e r Idiotie vor. IWt. zeigt Schiefstellung der Augen,
Anderdung von Epikanthus, kleinen Mund, auffallend große Zunge,
eine Hernia umbilicalis und Schlaffheit der Gelenke. Der Intellekt
der Patientin ist stark zurückgeblieben, die Menses treten nur
selten ein, die Sprache ist undeutlich, die Hände sind zyanotisch
und ihre Weich teile verdickt. Nach der Anamnese dürften here¬
ditäre Lues und nervöse Belastung dem Leiden zugrunde liegen.
R. Kienböck demonstriert einen durch Röntgen¬
strahlen geheilten Fall von lymphatischer Leu¬
kämie. Bei dem Patienten traten vor Auer Jahren Drüsen-
schAA'ellungen und ein derartiges Schwächegefühl auf, daß er
arbeitsunfähig AAmrde. Vor zwei Jahren ergab die Blutuntcu--
suchung fünf ^Millionen rote, 185.000 Aveiße Illutkörperchen und
15-9'’/o Hämoglohingehalt. Die Milz überragte um 5 cm den
Rippenbogen. Seit 2Vi' Jahren wurde die Röntgenbehandlung
in zehn Zyklen durchgeführt, Avobei durch acht bis vierzeim Tage
die A’ergrößerten Drüsen, die Milzgegend und die Extremitäten-
knoctiou in kleinen Dosen bestrahlt Avurden. Die Milz und die
Drüsen A'erkleinerten sich schnell, nach der Sitzung stellten sich
zunächst Uebelkeit und Fieber bis zu 38° (toxische Initialsym-
ptomci em, die Zahl der Aveißen Blutkörperchen stieg zuerst an
vFolgo der AusschAAemmung dei-selhen), dann fiel sie ab. Hier¬
auf folgte schmdl eine Aveitgehende Besserung, so daß. Patient
Avieder arbeitsfähig wurde. Die roten Blutkörperchen haben sich
auf AÜer Millionen verndudert. Wenn längere Zeit die Behandlung
ausgeselzt Avird, Amrgrößern sich die Drüsen Avieder, alle Er¬
scheinungen verscIiAAunden aber auf neuerliche Bestrahlung.
L. AC Schrötter stellt einen zehnjährigen Kna,ben mit
Obliteration der Aorta in deri’ Gegend des Ductus
Botalli vor. Die Gegend des Jugulum, der Karotiden und
Suhklavien zeigt eine starke Pulsation, dagegen ist in den Krurales
kein Puls zu fühlen. Es findet sich ein deutlich ausgebildeter
Kollateralkreislauf, in Avelchem die Arteriae thoracicae longae,
Intei'kostalarterien und xArteriae epigastricae einbezogen sind.
Pat. hat eine Stimmbandlähmung, klagt aber sonst über keine Be-
schAverden, der Kollateralkreislauf ist also in ausgedehntem Maße
ausgebildet.
LudAvig SchAveiger: Ueber tabetiforme Verände¬
rungen der Hinters trän ge bei Diabetes. Vortr. berichtet
über Hintej'slrangsveränderungen in den Rückenmarken zweier
Diabetiker, die er im AViener neurologischen Institute untersuchte.
Er fand, daß es sich bei ihnen nicht um einen Prozeß handle,
der dem bei der perniziösen Anämie beschriebenen analog ist,
sondern es war eine inkomplette Degeneration der hinteren
Wurzeln vorhanden. Die sogenannten endogenen Fasersysteme
Avaren intakt, in einem der Fälle Avar die charakteristische tabische
Veränderung der Wurzeleintrittszone vorhanden und die Clark-
schen Säulen Avaren in einem der Fälle ihres dichten Fasern¬
netzes beraubt, ln den aufgehellten Gebieten war die Glia leicht
verdichtet. Das periphere Nervensystem konnte nicht untersucht
Averden, die beschriebene Hinterstrangsveränderung ist aber jeden¬
falls von einer eAumtuell vorhandenen Erkrankung desselben un¬
abhängig. Auch Avurden bei Polyneuritis diabetica noch keine
solchen Hinterstrangsveränderungen beschrieben. Acht Fälle der
Literatur zeigen im AAmsentlichen ebenso zu deutende Verände¬
rungen. Die klinischen Symptome sind sehr gering, soAvohl in
den Fällen des Vortragenden, als auch in denen der Literatur.
Es dürften dabei die relative Akuität und die geringe Intensität
des Prozesses eine Rolle spielen. Fehlen des Patellarreflexes
ist achtmal, lanzinierende Schmerzen sind zweimal verzeichnet.
Lues ist außer in einem Falle der Literatur in einem der eigenen
Fälle nachgeAviesen, dürfte aber auch in diesem, Avie Vortragender,
gestützt auf das klinische und histologische Bild, ausführt, nicht
als Ursache in Betracht kommen. Fünfmal ist Tuberkulose kon¬
statiert; es liegen hier schwere Diabetesfälle vor, häufig mit
Tuberkulose kombiniert. Der beschriebene tabetiforme Rücken-
marksprozeß gehört mit den bei Ergotismus beschriebenen und
einigen AAmiteren in eine Gmppe. Er ist ein weiterer BeAveis
dafür, daß auch Systemerkrankungen des Rückenmarkes auf
toxischer Basis entstehen können.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden
15. bis 18. April 1907. (Fortsetzung.)
Referent: N. Meyer -Bad Wildungen.
V. Sitzung: MittAvoch den 17. April, vormittags.
B ü r k n e r - Tübingen : 1. Demonstration einer Zähl¬
kammer. 2. Demonstration eines Apparates zur Ermit¬
telung der Blutgerinnungszeit.
B ü r k n e r demonstriert 1. eine Zählkammer, die bessere
Resultate gibt, als die bisher üblichen ;
2. einen handlichen Apparat, der eine gleichmäßige Temperatur
in dem das mit Blut beschickte Glasplättchen enthaltenden Raum
garantiert und so exakte Ermittelungen der Blutgerinnungszeit
gestattet.
C. Hirsch- Leipzig und W. S p a 1 1 e h o 1 z - Leipzig : Kor o-
narkreislauf und Herzmuskel, anato in i s c h e und
experimentelle Untersuchungen.
W. Spalteholz berichtet zugleich im Namen von
C. Hirsch von seinen gemeinschaftlich mit dem letzteren an-
gestellten Untersuchungen über die VerteilungSAveise der Koronar¬
arterien des Herzens und über die Folgen des experimentellen
Verschlusses dieser Gefäße. Es handelte sich dabei namentlich
darum, über die Frage von den Anastomosen der Koronararterien
und über die Bedeutung von pathologischen Verhältnissen Auf¬
schluß zu erhalten.
Spalteholz ging bei seinen anatomischen Untersuchungen
davon aus, daß die Anastomosen, wie überhaupt die ganze Gefä߬
verteilung im Herzen durchaus gesetzmäßig sein müssen und
suchte deshalb zunächst das Verteilungsprinzip der Arterien fest¬
zustellen ; Avenn dies gelungen ist, so ist damit auch die Frage
von den Apastomosen gelöst. Spalteholz verarbeitete besonders
Nr. 24
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
751
Hunde- und Menschenherzen. Er injizierte mit einer Leimmassc
welche reichlich mit Chromgelb versetzt ist. Nach der Injektion
werden die Herzen im ga.nzen, soweit wie nur irgend möglich
durchsichtig gemacht. Die Herzen kommen zu diesem Zwecke
nach ihrer Härtung zunächst in absoluten Alkohol, dann werden
sie in zweimal gewechseltes Benzol überführt und schließlich
in ein Gemisch von ungefähr drei Volumteilen Benzol und ein
Volum Schwefelkohlenstoff übertragen. Bei diesem Optimum der
Aufhellungsflüssigkeit werden die dünnen Teile der Herzwände
ganz durchsichtig, die dickeren Teile aber soweit aufgehellt, daß
man durch die oberflächlichen Schichten mehrere Millimeter in
die Tiefe hineinsehen kann.
Spalteholz erläuterte dann an der Hand von großen
Tafeln und Photographien die Verhältnisse zunächst beim Hund.
Bei diesem anastomosieren die Koronararterien dicht unter dem
Perikard oder in den oberflächlichen Schichten des Myokard ganz
außerordentlich reichlich. Benachbarte Aeste beider oder einer
und derselben Arterie hängen durch zahlreiche stärkere und
feinere Aeste zusammen. An den Ventrikeln sieht man dabei
ein Netz, das in Einzelheiten etwas wechselt, dessen Maschen aber
im allgemeinen in der Richtung der Muskelzüge etwas in die
Länge gestreckt sind und in vielen Beziehungen auffällig dem
Arteriennetz in den Muskeln des Stammes ähnelt. An der Aorta,
A. pulmonalis etc. hängt dieses Netz mit den Vasa vasorum dieser
Gefäße zusammen.
Erwachsene menschliche Herzen lassen sich im allgemeinen
nicht so gut injizieren, wie Hundeherzen. An guten Präparaten
sieht man aber ebenfalls zahlreiche Anastomosen, gröbere und
feinere, an der Oberfläche oder dicht unter ihr, die sich im Prinzip
genau so verhalten wie beim Hund. An einigen aufgeschniftenen
menschlichen Herzen war am linken Ventrikel besonders schön
das Verhalten der Gefäße innerhalb des Myokard zu sehen. Von
dem oberflächlichen Netz gehen annähernd senkrechte Aeste in
die Tiefe, die teilweise innerhalb der Muskulatur Anastomosen
bilden, teilweise bis nahe unter das Endokard ziehen und in die
Papillarrnuskeln und Trabeculae carneae umbiegen. In diesen
laufen sie, einfach oder zu mehreren, parallel zu deren Achse,
anastomosieren miteinander und bilden so langgestreckte Anasto-
mosenbögen. Herzen menschlicher Neugeborener lassen im all¬
gemeinen leichter das Vorhandensein von Anastomosen erkennen,
als die von Erwachsenen und es drängt sich dabei der Vergleich
mit dem Hundeherzen noch mehr auf als bei diesen. Dabei liegen
die Gefäße zum Teil relativ und absolut oberflächlicher als beim
Erwachsenen. Die Verteilung innerhalb der Muskulatur ist beim
Neugeborenen und Erwachsenen gleich.
Das Herz entbehrt also nicht der Anastomosen oder ist
arm an ihnen, sondern es ist im Gegenteil sehr reich mit ihnen
versehen.
Diese anatomische Feststellung erlaubt aber nicht, ohne
weiteres Schlüsse über die Funktionsfähigkeit der Anasto¬
mosen zu ziehen. Um diese kennen zu lernen, unterband
C. Hirsch an sieben Hunden und zwei Affen den Ramus des-
cendens anterior der A. coronaria sinistra in verschiedenen Höhen.
Die Tiere überstanden die Operation, die unter Anwendung der
Brau er sehen Ueberdruckmethode ausgeführt wurde, ausge¬
zeichnet. Kein Tier starb an den unmittelbaren
F o Igen der Operation. Die Tiere wurden nach drei bis
vier Wochen getötet, ihre Herzen wurden injiziert und weiter
untersucht. Dabei zeigte sich, daß stets ein Infarkt entstanden
war ; er lag von der Unterbindungsstelle entfernt
und entsprach nicht dem ganzen Verteilungs¬
gebiet der unterbundenen Arterie, sondern nur
dessen zentralem Teil ; er ist dabei von etwas wechselnder Größe,
beeinträchtigt aber auch dann, wenn er groß ist,
durchaus nicht dieF unktionsfähigkeit des Herzens.
Damit stimmen auch viele Beobachtungen am Menschen überein.
Daß der Verschluß größerer Koronararterienäste vom Menschen
gewöhnlich nicht so leicht ertragen wird, liegt daran, daß bei
diesen entweder die Gefäße oder die Muskulatur oder beides erkrankt
sind, oder daß die vis a tergo mangelhaft funktioniert.
36. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Chirurgie
zu Berlin. (Schluß.)
G. Glücks mann -Berlin: E-ndo rektale und endo-
s i g m o i d e a 1 e Operationen.
Die Schleimhautpolypen des Mastdarmes und der Flexura
sigmoides, einzeln oder multipel auftretend, stellen ein Krank¬
heitsbild von weittragender Bedeutung dar. Denn einerseits
können sie, oberflächlich exulzerierencl*, die Quelle hartnäckiger
Blutungen sein, die in ihrer langen Dauer oft schwerste In-
anitionszuständc im Gefolge haben, anderseits droht liei ihnen stets
die Gefahr der malignen Degoneralion. Soweit diese Gebilde
der Mastdarmampulle angehören, waren sie. bereits früher der
Diagnose durch Digilalexplorafion und damit der an diesei' Stelle
relativ einfachen chirurgischen Therapie zugängig. Anders stand
dies um Gebilde derselben iVrt, welche in der Flexura sigmoides
zur Ausbildung kamen. Diese entzogen sich vermöge ihrer Weich¬
heit und geringen Größe jeglicher Palpalionsmöglichkeit durch
die Bauchdecken, während sie natürlich vom Anus aus ebenso¬
wenig erreichbar sind.
Vortr. berichtet über eine Serie solcher Polypenerkrankungen
der untersten Darmabschnittc, welche er sämtlich rektosko-
pisch, bzw. s i gm o s k Op i s c h diagnostiziert, und auf dem¬
selben Wege, also per vias naturales, entfernt hat. Be¬
sonders wichtig war das in zwei Fällen, in denen die papillären,
haselnuß-, bzw. kirschgroßen, ges liehen Tumoren 19, bzw. 21 cm
hoch gesessen haben. Das Instrumentarium, dessen sich
Gl ticks mann bediente, bestand aus einem von ihm modifizierten
Straußschen Sigmoskop, sowie aus einem Polypenschnürer, der
sich von den in der Rhinologie gebräuchlichen nur durch seine
Länge unterscheidet. Nach der Abschnürung wurde durch einen
eigenen Pulverbläser ein kleiner Wundschorf erzeugt. Gelegent¬
lich ist Tamponade vermittels eines ebenfalls für diesen Zweck
konstruierten Tamponators erforderlich. Die Instrumente sind bei
G. H a u t e 1, Berlin, Karlsstraße 19, erhältlich. Mikroskopisch
enviesen sich die beiden aus der Flexura sigmoides stammenden
Tumoren als reine tubulöse Adenome. Demgegenüber zeigten
verschiedene von den auf gleichem Wege aus der Ampulla recti
entfernten Polypen bereits atypischen Bau, z. B. ein von Privat¬
dozenten Dr. Pick mikroskopisch untersuchter, dem Material des
Dr. S c h ö n s t a d t entstammender Polyp erwies sich als Adeno¬
karzinom. In solchen Fällen ist natürlich nach Sphinkterdehnung
die möglichst radikale Entfernung des Geschwulstbodens indi¬
ziert, wie dies z. B. in dem eben zitierten Falle seitens des Doktor
Schön Stadt durch ausgiebige Kauterisation geschah. Ent¬
sprechendermaßen würde bei uachgewiesener Malignität eines aus
der Flexura enlfernten Polypen ebenfalls ein radikalerer Eingriff,
nach dem jetzigen Stande der Chirurgie die Laparotomie, an¬
zuschließen sein.
H. S te tti nIer-Berlin stellt einen Knaben im Alter von
13 Monaten vor, der mit einer Atresia ani et communicatio
recti cum parte prostatica urethrae (atresia ani ure-
thralis) geboren war. Die Kommunikation des blind endigenden
Rektums mit den Harnorganen kann an drei Stellen stattfinden,
am seltensten am Blasenscheitel, am häufigsten am Blasengrundo
und an der Pars prostatica urethrae. Zur operativen Beseitigung
der ersteren wird sich der auch von Lotsch mit gutem Erfolge
eingeschlagene Weg der Laparotomie, Trennung von Blase und
Älastdann und Durchführung des' Darmendes nach dem Damme,
am ehesten eignen. Für die tiefer gelegenen Kommunikationen
am Blasengrunde und der Urethra empfiehlt Vortr. im Gegensatz
von V. Esmarch ein zweizeitiges Vorgehen, nicht etwa in dem
Sinne, daß die zweite Operation, wie das bisher meist
geschehen, auf ein späteres Lebensalter verschoben wird,
sondern möglichst bald der ersten folgen soll. So wurde in dem
vorgesbellten Falle die erste Operation (Anlegung einer Darm¬
öffnung an normaler Stelle) am zweiten Lebenstage, die zweite
Operation (ebenfalls vom Damme aus Trennung der Urethra vom
Rektum) nach vier Wochen ausgeführt. Bemerkenswert war, daß
bei der zweiten Operation die Harnröhre an der Kommunikations¬
stelle völlig durchrißi und über einem Nelatonkatheter genäht
werden mußte. Ers bildete sich zunächst eine perineale Urinfistel
aus, die sich nach fünf Wochen wieder schloß. Die Harnröhre
ist jetzt für ein BoUgie Nr. 11 durchgängig. Urinentleerung nor¬
mal. Mastdarmfunktion nahezu befriedigend. Bei der Nach¬
behandlung Avar die Darreichung von Ammenmilch und die sach¬
gemäße Pflege in der Berliner Säuglingsklinik von großem Werte.
Ferner zeigt Vortr. ein Präparat von einem mit Peritonitis
und hochsitzend em D a r m v e r sch lu s s e in die Berliner
Säuglingsklinik gebrachten Achtmonatskinde, das 72 Stunden nach
der Geburt, 60 Stunden nach Anlegung eines Anus praeternatu¬
ralis starb. Der Dünndarm endete 75 cm unterhalb des Pylorus
blind. Außerdem bestanden auch w^eiter unten mehrfache Ver¬
engerungen, teilweise auch Achsendrehungen des Dünndarms, wäh¬
rend der ganze Dickdarm fedeikieldünn war. Vortr. hält die
Peritonitis für eine sekundäre, die Verengerungen teilweise für
Hemmungsbildungen.
Kausch demonstriert ein Präparat von Blindsack-
Sanduhrmagen und Gastroenterostomie.
Der Magen besteht aus diui Säcken : der größte, kardiale,
hat die Größe eines normalen Magens; der Blindsack ist etwa
752
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 24
(‘in Diiftol so groß, er geht von dem pylorisclion Sacke ans,
der wieder einem Drittel des vorigen entspricht. Zwisclten dorn
kai'dialen und pylorisclien Sacke trefindet sich ein großes, otfenes
(h sr inviir, in das Pankrc'as greifend. Die Kommunikalioneu
zwis(dien den Säcken sind weil, der Pylorus liegt an der hinteren
^\'and, dicht neben dem GescliAvürsrande, stellt einen schmalen
Schlitz dar und ist ahgeknickt.
Die Gastroenterostomie wurde am tiefsten Pnnkt des Blind¬
sackes in folgender Weise ausgefiihrt: Die senkrecht von oben
nach unten herabsteigende oberste Dünndarmschlingc wurde (iner,
mit ibi'(‘r lialben Zirkund'erenz angenäht, so daßi der Wagen an der
Darmschlinge aufgebängt war; die Gastroenterostomie wurde
mittels Nabt angelegt. Der ursprüngliche Querschlitz hat sich
in ein weit klaffendes Dreieck verwandelt, an dessen. Spitze der
Darm sich so weit verengt hat, daß' gerade eine Kornzange Platz
iial. Die Fistel funktioniert geradezu ideal.
Bei der höchst elenden, antünischen Patientin, die olren eine
s(diwei‘e Magcnblutung ül)erstanden, brach ani dritten läge nach
der (dperation ein Inanitionsdelirium mit Nahrungsverweigerung
aus, dem Pat. am vierten Tage erlag. Es dürfte sich empfehlen,
in solchen Fällen der Gastroenterostomie sogleich die Gastro¬
stomie mit Einlegung des Schlauches in den abführenden Darm¬
schenkel hinzuzufügen.
K 1’ a use- Berlin : Zur Kenntnis der Rücke n mark s-
1 ä h ni u n g 'e n.
Krause spricht nicht von den Fällen, bei denen es sich
um Tumoren oder Knochenmarkerkrankungen handelt, vielmehr
von einer von ihm nicht genügend beachteten Erkrankung, d-ie
doch nicht so selten zu sein scheint, denn bei 20 Kanaleröff¬
nungen hat er sie achtmal angetroffen. Stets war bei den Patienten
von (U'sler neurologischer Seite aus, auch von Krause, die
Diagnose auf Tumor gestellt worden, auf Grund einer Brown-
Sequard sehen Lähmung; stets zeigte die Operation, daß davon
nicht die Rede war. Vielmehr fand sich stets eine sehr starke
Araclmoidalspannung. Er berichtet über seine operierten Fälle
und kommt an der Hand dieses Materials zu dem Schlüsse, daßi
die Henlesche Ansicht, die Araclmoidea stelle keinen Doppel¬
sack, sondern ein Bindegewebe sehr hydroptschen Charakters rlar,
zu Recht bestehe. In allen Fällen handelte es sich um eine
Menijigiüs spinalis serosa durch Erkrankung des Knochens, oder
Lues, oder alte, eitrige Prozesse. Die Lumbalpunktion erreicht
in diesen Fällen nichts. Es gibt bisher kein diagnostisches Merk¬
mal, um diese Affektion von den Tumoren zu unterscheiden.
Deshalb ist nur die Laminektomic am Platze, der dann die
Eröffnung der Dura folgen muß.
Je nkel- Göttingen bespricht einen Fall, der klinisch den
Eindruck einer Qnerschnittläsion machte. Pat. fiel auf das Genick,
zeigte sofort Lähmungen aller Extremitäten bei Erhaltung des
Bewußt.seins, Sensibilitätsstörungen, Temperatur bis 42°, fast minus
Diaphiagmaalmen, starke Schweiße, Priapismüs, Die Wirbelsäule
schien nicht verletzt. Elf Tage s.uäter Exitus. Die Sektion ergab
mikroskopisch eine Zerreißung der Hinterhörner. In der Zer-
reiß'Ungsspalten war die weiße Substanz gedrängt worden; es
fanden sieb minimale Blutungen. Als Aetiologie nimmt Jenkel
die größere Beweglichkeit der Halswirbelsäule an, die Dislor¬
sionen ohne Frakturen oder Luxationen gestattet. Keinesfalls
liandelt es sicli bei diesem so seltenen Befunde der Heterotopie
uni postmortale Artefakte.
H o f f m a n n - Graz mach'e die Pharyngo^omia suprahyoidea
transversa als Voroi>eration zur Entfeiaumg eines Sarkoms der
Schäd(*lbasis. Die Uebersicht über den ganzen Epipharynx war
ühen-ascdiend gut, die Blutung ininimal, die Narkose wurde durch
ein Drain geleitet, das durch die Wunde in den Kehlkopf ein¬
geführt wurde. Der Tumor wurde ausgelöst. Naht, reaktions¬
loser Verlauf. Der Einwand der Aspirationsgefahr gegen die
Operation wird von Hoffmann als belanglos zurückgewiesen.
Diskussion: Schloffer hat auf dem nasalen Wege einen
Hypophysentumor entfernt, brd glattem Verlaufe.
Kuhn geht durch die Mundhöhle vor und empfiehlt die
perorale Tiibage.
V. H aberer-M’ien (Icmons'riert Präparate von inplan-
tierten Nieren in die Milz.
C 1 a i rm o n t- Wien zeigt Karzinome, die von der Basal¬
schicht ausgehen. Diese Tumoren sind relativ gutartig gegen¬
über den Kankroiden und s'ellen einen Uebergang zu den Ade-
nonum dar. Sie sind einzuteilen in: 1. Tumoren des Gesichtes.
Klinisch ist hiebei maßgebend, daß es sich stets um ältere Leute
handelt, um einen längeren Bestand, um scharfe Begrenzung
niit hohem Mall, um Tllzeralionen in der Mitte, die nicht in
di(‘ ''liefe gehen und um Fehlen von Drüsen. 2. 'rumoren des
Schädels, die pilzartig waclisen. 3. Tumoren auf Schleimhäuten,
die vom geschichteten Pflasterepilhel ausgehen (Uvula). Die Pro¬
gnose ist meist günstig. Therapeutisch zeigt die Bestrahlung gute
Erfolge.
Diskussion: Friedrich schließt sich den Ausführungen
Clairmonts aii, König sen. glaubt ab und zu einen Zusammen¬
hang mit Verletzungen gesellen zu haben.
V. Saar bespricht vier b^älle von Cystadenoma
mammae. In zwei Fällen ist eine Exstirpation der Tumoren
gemacht, da die Prognose günstig gestellt v’urde. ln beiden Fällen
traten Rezidive auf, die eine Amiiutation erforderlich machten.
Deshalb empfiehlt v. Saar stets die Amputatio mammae.
S u t e r - Innsljruck teilt die Erfahrungen mit P e r u h a 1 s a, m
mit, die bei Behandlung von 562 Fällen gesammelt wurden, von
leichten Verletzungen bis zu den schwersten Zertrümmerungen.
Seine Ergebnisse faßt er dahin zusammen, daß der Perubalsam
die Bakterien mecbanisch einhüllt, daß er bakterizide Eigen¬
schaften hat Und daß er diese Eigenschaft weiter an seine Um¬
gebung gibt. Einwirkung des Balsams auf die Nieren hat Suter
nicht gesehen.
Diskussion: B o r c h a r d hat mehrere Fälle schwerer Ne-
phrilis gesehen. Suter erklärt diese Nephritiden dadurch, daß
dem Balsam oft ai'omalische Substanzen beigemengt sind.
Bralz halte Fälle gesehen, bei denen Bleigeschosse, die
im Körper verblieben, schwere Bleivergiftungen hervorgerufen
haben. I
Clairmoji t-AVien teilt die Bebandlung der Mastdarmstiik-
turen der v. Eiselsbergschen Klinik mit. Meist kolostomiert
V. Eiseisberg Und schließt den Spülungen die Bougierung
ohne Ende an. So sind zwei Fälle völlig geheilt, die anderen
wesen llich gebessert.
P. Reichel- Chemnitz: Demonstration eines sel¬
tenen Falles von Aneurysma der Arteria femoralis.
Vorlr. demonstriert das durch Tötalexstirpalion gewonnene
Präparat eines traumatisch durch fünf Jahre zuvor entstandenen
Aneurysmas der Schenkelarterie, das durch seine außergewöhn¬
liche Form eine Seltenheit, wenn nicht_ ein Unikum darsLellt.
Das Aii'eürysma bestand aus zwei völlig voneinander getrennten,
eiförmigeii, ja faustgroßen, mit Blut und Gerinnseln gefüllten
Bindegewebssäcken, welche von ihren oberen Polen je durch
einen kurzen, fingerdicken Stiel mit der gleichen Stelle der Ar¬
teria femoralis kommunizierten, die ihrerseits sonst unverändert
zwischen beiden Säcken hinabzog. Zustande gekommen war diese
eigentümliche Form durch den Sitz der Stichverletzung des Ge¬
fäßes genau an seiner Durchtrittsstelle durch den Adduktoren¬
schlitz. Durch den Blutauslritt hatten sich zu beiden Seiten
des Adductor magnus Hämatome gebildet, die sich dann zu je
einem Aneurysmasack umwandel len, der eine zwischen Adduktor
und Sartorius, der andere zwischen Adduktor und Semimem¬
branosus. Pal. wurde durch die Operation geheilt und vollständig
arbeitsfähig.
Programm
der am
Freitag den 14. Juni 1907, 7 IJlir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Königsteiii stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Prof. 0. Loewi: Eine neue Funktion des Pankreas und ihre
Beziehung zum Diabetes mellitus. (Vorläufige Mitteilung.)
2. Professor Dr. M. Benedikt : Physiologie und Pathologie der
Zirkulation.
3. Dr. Kud. Kauriuaim: Ueber Kontraktionsphänomene am Magen.
Einen Vortrag hat angemeldet Herr Prof. S. Stern.
Bergmeister, Paltauf.
Ophthalmolo gische Gesellschaft in Wien.
Programm zu der am Mittwoch den 19. Juni 1907, 7 Uhr abends
im Hörsaal der Klinik Schnabel staltfindenden Sitzung.
H. Wintersteiner: Mitteilungen über Geschwülste des Auges.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
in Wien.
Die nächste Sitzung findet im Hörsaale der Klinik Neusscr Donnerstag
den 13. Juni 1907, um 7 Uhr abends, statt.
Vorsitz: Hofrat Prof. v. Neusser.
Programm:
1. Demonstrationen.
2. Dr. V. Decastello und Dozent Dr. Kienböck: Ueber Radio¬
therapie der Leukämie. Das Präsidiu m.
Vtiantworllichtr Ridaktaur:
Adalbert Karl Trupp. VtrUf ron Wilhelm Branmfiller in Wien.
Drnok Ton Bruno Bartelt, Wien XVIII., ThereaiengasBe 8.
rr-
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C. Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. y. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Escherich, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Schrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
— ^ _
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wickenburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
Die
..Wieuer klliilsclie
Woclieuscltrift“
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Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
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sendungen an die Verlags¬
handlang.
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Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
Abonnements deren Abbestel¬
lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
Ill s era t e
werden mit CO h = 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille¬
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebercinkommen.
XX. Jahrgang.
Wien, 20. Juni 1907.
Nr. 25.
INH
1. Origiualartibel : 1. Aus dem staatlichen serotherapeutischen
Institut in Wien. (Vorstand: Prof. R. P a 1 1 a u f.) lieber Para-
tj'phusgifte und deren Neutralisation mit Typhusantitoxin.
Von Prof. R. Kraus und Dr. R. v. S t e n i t z e r.
2. Die Bedeutung der herabgesetzten Salzsäureproduktion sfiihig-
keit in der Diagnostik der Magenerkrankungen. Von Doktor
A. V. T o r d a y, Assistenten an der II. internenKlinikin Budapest.
3. Aus der k. k. III. medizinischen Universitätsklinik (L. von
Schrötter) und der k. k. pädiatrischen Universitätsklinik
(Th. Escherich) in Wien. Zur Bronchoskopie bei Fremd¬
körpern. Von Dr. phil. et med. Hermann v. Schrötter in
Wien.
4. Aus dem klinischen Ambulatorium für Nervenkranke in Wien.
(Vorstand: Hofr. v. Wagner.) Ein Fall von Scheuthauers
„Kombination rudimentärer Schlüsselbeine mit Anomalien des
Schädels“. (Dysostose cleido-cränienne.) Von Privatdozent
Dr. Alfred Fuchs, klinischem Assistenten.
5. Aus der Prosektur und dem bakteriologischen Institut der mähr.
Landeskrankenanstalt in Brünn. (Vorstand: Prosektor Priv.-
Doz. Dr. C. Ste rn b e r g.) lieber den Nachweis von Milzbrand¬
bazillen an Pferdehaaren. Von Dr. Athanas Theodorov,
Sofia.
ALT:
6. Aus dem .staatlichen serotherapeutischen Institut in Wien.
(Vorstand : Prof. R. P a 1 1 a u f.) Erwiderung zu den Bemerkungen
L. Zupniks über Spezifizität der Bakterienpräzipitine. Von
Dr. M. V. E i s 1 e r.
7. Paracelsus in Oesterreich. Von Privatdozent Dr. phil. Franz
Strunz, Wien.
II. Referate: Die Röntgenstrahlen im Dienste der Neurologie,
Von Wilhelm Fürnohr. Knochensyphilis im Röntgenbild. Von
R. Hahn und Deycke. Die Röntgentherapie nach ihrem
heutigen Stande. Vortrag von Ed. Gottschalk. Mitteilungen
aus der Wiener Heilstätte für Lupuskranke. Herausgegeben von
Prof. Dr. Ed. L a n g. Archives of the Roentgen Ray. Edited by
Cl. A. Wright and W. Deane Butcher. Archiv für physi¬
kalische Medizin und medizinische Technik. Heravisgegeben von
Kraft und Wiesner. Fortschritte auf dem Gebiete der
Röntgenstrahlen. Herausgegeben von A 1 b er s - Sc h ö nb e r g.
Die Kathodenstrahlen. Von G. C. Schmid t. Ueber elektrische
Entladungen im luftverdünnten Raum. Von Prof. Dr. E. Sommer.
Der Gummidruck. Von Th. Hofmeister. Ref.: Kienböck.
III. Aus verscliiedeuen Zeitschrifteu.
IV. Vermischte Nachrichten.
V. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften und Kongreßberichto.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in
Wien. (Vorstand: Prof. R. Paltauf.)
Ueber Paratyphusgifte und deren Neutralisation
mit Typhusantitoxin.
Von Prof. E. Kraus und Dr. R. y. Stenitzer.
Wir haben in einer früheren Arbeit (Wiener klinische
Wochenschrift 1907, Nr. 6) clargelegt, flaß. es gelingt, in
Bouilloiikuhnren von einer Heihe von Typhusslilmnien, iniler
Bemcksichtiginig des Alkaleszenzgrades und des Alters der
BoiiillonkulLnr, giftige Substanzen nachzuweisen, welche irn
lierkörper (Pferd, Ziege) Aiititoxinproduklion hervorzurufeii
vermögen und mithin als echte Toxine anzusehen sind.
Giftwirkung und Giftnentralisation konnten wir am besten
am Kaninchen mittels intravenöser Injektion studieren.
In Fortsetzung dieser Versuche haben wir dieselben
aucli auf artverwandte und Diotogisch nahestehende Mikro¬
organismen, wie Paratyphusstämme. Mäusetyphus- und
Schweinepestbazillen ausgedehnt und dabei Resultate er¬
halten, die wir im folgenden kurz mitteilen wollen.
Die in größeren Kolben (zwei Liter) angelegten
Bouillonkulturen wurden bei 37® bebrütet, nach verschie¬
denen Zeiten, nachdem sie auf ihre Reinheit geprüft worden
waren, karbolisiert (4 cnF konzentrierte Karbolsäure auf
einen Liter Kulturflüssigkeit), 24 bis 48 Stunden stehen
gelassen und dann durch Päpierfiller, analog wie Diphtheric-
bouillou, klar filtriert. Die Filtrate wurden dann bezüglich
ihrer Giftigkeit an Kaninchen (intravenös) ausgewertet. Auf
diese Weise gelingt es nun (siehe Tabelle I) bei einer Reihe
Tabelle I.
Alter
der Kultur
Nährboden
Bouillon 2'4 NaOH’)
Bouillon Soda (Diphtherie)*)
11 Tage
Schottmüller B. 2'0®)
14 Tage
Seeman 10, Burri 2'0
15 Tage
Wagner 3'0, Seeman 30,
Brion-Kayser 2‘0, Widal 2'0,
Suipestifer Ostertag 3 0
Swoboda 2'0, Mäusetyphus
Tromsdorf 2’0, Kazda 2'0,
Suipestifer 5'0
18 Tage
Golio 3 0, Burri 3*0
27 Tage
von Para
yphusstämmen, sowie ai
Ballasch 2 0, Burri 2-0
ich hei Mäiisetyphiis- iint
Sctiweinepestbazilleii, nach li bis 27 Tagen Kulturfiltrate
zu erhalten, welche in Mengen von 1 bis 3 cnF bei intra¬
venöser Injektion Kaninchen in 5 tiis 24 Stunden töten.
Charakteristische Krankheitszeichen, oder typische
pathologisch - anatomische Veränderimgen, lassen sich hei
den injizierten Tieren ebensowenig wie bei Intoxikation mit
Typhnsgiften konstatieren. Die Kaninchen werden zuerst
liinfällig, bekommen Diarrhoe und können bereits nach fünf
Stunden verenden. Rei der Obduktion findet man häufig
flüssigen Darminhalt und leichte Injektion der Darmschleim-
haut. — Unsicherer ist die Giftwirkung auf Meerscliweinchen
und Mäuse.
') Vom Phenolphthaleinpunkt 2'4 cm® 5®/o NaOH.
Vom Lackmusneutralpunkt 10 cm® Normalsodalöiung auf einen Liter.
®) Schottmüller B. 2'0 bedeutet: keimfreies Bouillonfiltrat Schott-
inUller B, tötet intravenös ein Kaninchen von ca. 800 g binnen 5 bis
24 Stunden.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
Das ExporiiTionliereii mil. den Knllnrfilt.rat.en ist ancli
hier analog wie hei Typhns deshalb sehr erschwert, weil
wir hier auch ein labiles Gift vor uns haben, welches binnen
wenigen Tagen seine Wirksamkeit fast vollständig verlieren
kann. Diese Feststellung ist insofern von Interesse, als sie
im -Gegensätze steht zn der wiederholt nachgewiesenen llitze-
beständigkeit der Gifte der Fleischvergiftung (Bacilhis ente-
rilidis); allerdings ist bisher der Nachweis der anligenen
Natur dieser hitzebeständigen Gifte nicht erbracht worden.
Wodurch wir nns aber besonders zur kurzen Veröffent-
lichung unserer Befunde bewogen fühlen, ist der Umstand,
daß es, wie wir an der Hand unserer Versuchsprotokolle
zeigen können, gelingt, diese Gifte in spezifischer
Weise durch Typhusantitoxin zu neutralisieren.
Es erscheint diese Tatsache als ein interessantes Ana¬
logon in helreff der Beziehungen von Typhus- zu Para¬
typhustoxin, wie das El Tor -Toxin zu den Toxinen anderer
Tabelle II.
Serum
Dosis
inem^
Toxin
Dosis
Tier
Resultat
Typhus (Karl)
1-0
Sceman
4
Kaninchen
lebt
0-8
>
4
t
»
0-5
4
»
t
01
4
»
J.
1
Normalserum I
10
4
t
» II
1-0
4
t
—
—
4
S>
t
Typhus (Kail)-
OT
Burri
3
lebt
01
3
3>
t nach 3 Tagen
005
3
»
t
Meningokokken
(Klara)
01
3
t
Cholera (Kalif)
01
3
+ i
—
J>
3
t i
Tabelle HI.
i
1 Serum
Dosis
Toxin
Dosis
Tier
Resultat
Typhus (Janus)
1-0
Seeman
4
Kaninchen
lebt
0-3
■J>
4
lebt
i
0-5
»
4
.t.
1
1
1 y>
01
4
3>
t
—
4
t
Typhus (Janus)
1 0
Swoboda
3
lebt
05
3
X>
t
OT
3
T>
t
—
—
>
3
J.
t
, Cholera (Lektor)
10
3
JL
1
Norm. Pferdeser.
10
Seeman
4
t
Tabelle IV.
Serum
Dosis
Toxin
Dosis
Tier
Resultat
Typhus (Mayer)
1 0
Seeman
4
Kaninchen
lebt
>
08
4
Normalserum
10
4
t
—
'ft
4
t
Mayer
10
Sprung(Typ.9
3
lebt
0-5
3
>
lebt
>
01
y>
3
f nach C Tagen
—
—
7>
3
t nach 5 Stunden
Cholera (Lektor)
10
3
y>
^ Dysent. (Infant)
10
>
3
.
h Prilventiver Schutz: Das Toxin wurde 24 Stunden nach dem
Serum injiziert.
Vibrionen. Wie Kraus und Pribram zeigen konnten, ver¬
mag man durch Immunisierung von El Tor- Toxin ein anti-
toxisches Serum zu erhalten, welches auch die Toxine an¬
derer agglulinatoriscli differenter Vibrionen neutralisiert.
Wie ans den vorangehenden Protokollen ersichtlich
ist, gelingt es, mit dem Serum von den Pferden Karl
und Janus, welche mit steigenden Dosen von
T y p h u s k u 1 i n r f i 1 1 r a, I e n i m m u n i s i e r t w n r d e n, d i e
Toxine zweier Paratyphnsstämme anti toxisch
zu beeinflussen. Auch ein a n t i to x i s c h e s Typ h u s-
pferdeserum, welches uns von Herrn Dr. Mayer
(Berlin) in liebenswürdigerweise z u r V e r f ü g u n g
gestellt wurde, war imstande, ein Paratyphus-
kul turf iltra.t im Tierkürper zu neutralisieren.
Tabelle V.
Serum
Dosis
Zeit
Toxin
Dosis
Tier
Resultat
Typhus (Janus)
10
Kazda
3
Kaninchen
lebt
10
Swoboda
3
T>
lebt
10
Ö
<v
Mäusetyphus
lebt
Trommsdorf
Cholera (Lektor)
1-0
c
Ö
Kazda
3
t
*
1-0
m
Swoboda
3
t
10
Mäusetyphus
q
t
(M
Trommsdorf
Dysenter. (Komt.)
1-0
O
Kazda
3
t
■»
10
P
Swoboda
3
t
1-0
Mäusetyphus
t
Trommsdorf
Zimi Schlüsse sei noch in Tabelle V ein’ Versuch
mitgeteilt, aus dem hervorgeht, daß das Pferde serum
Janus imstande is t, Kaninchen gegen Para typ hu s-
u n d M ä. u s e t y p h u s to x i n präventiv in spezifischer
Weise zu schützen.
Die Wertigkeit der Typhusseren ist keine erhebliche,
was uns nicht wundernehmen soll, in AnbelTacht des ^noch
niederen antitoxischen Titers gegenüber den eigenen Typhus¬
toxinen. Immerhin aber tritt, wie aus den angestellten .Kon¬
trollen mit Normalseren und anderen antitoxischen Immun¬
seren (Cholera, Dysenterie) hervorgeht, ihre Spezifität zu¬
tage. Die heterologen Seren, welche die zugehörigen Toxine
(Cholera, Dysenterie) neutralisieren, sind nicht imstande,
die Wirkung der Typhus- und Paratyphusgifte zu be¬
einflussen. I
Nach diesen vorläufig mitgeteilten Resultaten ist es
wahrscheinlich, daß die nach gewiesenen löslichen
Gifte des Paratyphus, ebenso wie die der Typhus¬
bazillen, Körper sein dürften, welchen anti-
gene Eigenschaften zu kommen. Wenn auch der
direkte Beweis, den wir zu erbringen versuchen
wollen, bisher noch aus steht, darf man wohl aus .dem Er¬
gebnisse des Neutralisier ungs Versuches mit Typhusantitoxin
diesen Schluß sich erlauben. Es bleibt weiteren Versuchen
vorhehalten, die Beziehungen der Toxine der Paratyphus¬
stämme A und B zueinander und zu den anderen artver¬
wandten (Mäusetyphus, Schweinepest, Fleischvergiftung),
sowie zum Typhustoxin, nacli dieser Richtung hin fest¬
zustellen. Nach den vorliegenden Versuchen von Kutscher
und Meinike, Boehme (Zeitschrift für Hygiene 1900,
Bd. 52), welchen eine gegenseitige aktive Immunisierung
mit Bakterien gegen Infektion mit Paratyphus, Mäusetyphus,
einer Reihe von Enteritidisstämmen gelang, sowie nach den
Versuchen von Boehme, wonach Psittakoseseriim gegen
Typhusinfektion schützte, erscheint uns nicht aussichtslos,
auch hier nach einer gewissen Gemeinschaft der Toxine
(Parlialloxine), wie sie Kraus bereits für Vibrionen ge¬
funden hat, zu suchen.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
755
Die Bedeutung der herabgesetzten Salzsäure-
produktionsfähigkeit in der Diagnostik der
Magen erkrankungen.
Von Dr. A. v. Tordsiy, Assistenten an der II. internen Klinik in Budapest.
Es is(. eine callgomeiiie und längst bekannte Talsaelie,
(laß di(^ Angalten des magenkranken Patiejilen niemals oder
mir seilen wertvolle Anliaitspnnkte für eine sichere Dia¬
gnose lictern, daß man also auch auf Grund der genauesten
Anamnese kaum imstande sein wird, sich ein klares und
zutrel'fendes Kraiikheiisbild zu konstruieren. So klagen zum
Beispiel die Kranken über ein brennendes Gefühl nicht nur
dann, wenn ihr Magen zuviel Salzsäure sezerniert, sondern
auch in Fällen, wo die Sekretion herabgesetzt ist; ferner
gebürt das Aufstoßpn und der saure Geschmack im Munde
zu den konstanten und gemeinsamen Klagen aller Alagen-
leidenden.
Wollen wir nun eine richtige Diagnose aufs teilen, um
auf dieser Basis eine entsprechende, womöglich kausale The¬
rapie in Anwendung bringen zu können, so müssen wir,
da die subjektiven. Klagen des Kranken wenig verwendbare
Daten liefern, zur objektiven Untersucluing schreiten und
vor allem die chemischen und mechanischen Funktionen
des betreffenden Magens einer genauen Probe unterziehen.
Nachdem aber die Sekretionsfähigkeit des Magens auch
bei einem und demselben Individuum in ziemlich weiten
Grenzen variiert, so müssen die Untersuchungen wieder¬
holt angeslellt werden.
Den wichtigsten Teil der Magenfunktion bildet die
Salzsäureproduktion, neben welcher die Rolle des Pepsins
und des Labfermentos Ijloß als untergeordnet bezeichnet
werden kann.
Produziert der Magen weniger Salzsäure, als es den
normalen Verhältnissen entsprechen würde, oder aber
sistiert die Salzsäureproduktion überhaupt, so spreeben wir
im erstoren Fälle von Subazidität, im letzteren Falle hin¬
gegen von Anaziclität, resp. Achylie. Im sul)- oder anaziden
Magensekrete ist freie Salzsäure gewöhnlich überhaupt nicht
enthalten, gebundene Salzsäure ist i]i Fällen, wo die Ge-
samlazidität 20 überschreitet, als höchstwahrscheinlich vor¬
handen anzunehmen. Bei solch kleinen Werten ist ganz
wenig Milchsäure ohne Bedeutung. Im weiteren Sinne des
Wortes bedeutet Achylia gastrica eigentlich das volistän-
(lige Fehlen der Salzsäure, im engere]i Sinne jedoch sprechen
wir von Achylia gastrica dann, wenn bei negativem Salz-
und Milchsäurebefunde wenige Tropfen oder ein Kubik-
zentirneler Vio-normale Natronlauge zur Neutralisierung des
Magensekretes genügen.
Martins und Einhorn unterschie(.len eine Achylia
simplex als selbständige Form, bei welcher die Ursache
dieses Zustandes nicht zu eruieren wäre, im Gegensätze
zu jener Achylia gastrica, deren Veranlassung uns bekannt
ist und die eher als Begleiterscheinung anderer pathologi¬
scher Verhältnisse zu betrachten w.ä.rc. Solche, die Achylia
gastrica mit sich bringende oder sie hervorrufende Krank¬
heiten wären; Anaemia perniciosa und im allgemeinen alle
schweren Anämien, Nervenkrankheiten (Hysterie, Base¬
dowsche Krankheit), Arteriosklerosis, Störungen des Stoff¬
wechsels, Herz- und Nierenleiden, Tuberkulose, Gastritis
der Potatoren und schließlich Karzinom.
In Fällen von Sub- und Anazidität (Achylia gastrica)
wird der nach einem Probefrühstück entleerte Mageninhalt
schon durcli sein Aeußeres die l)estehenden Verhältnisse
verraten : wenig Magensekret und schon mit freiem Auge
leicht zu unterscheidende Semmelbiaichstücke. Die Gesamt¬
azidität ist, wie wir schon oben erwähnten, gewöhnlich
gering, doch gibt es aucli Ausnahmsfällc, wo, sie ziemlich
hohe Werte erreicht, wie .50 l)is 60.
Vor kurzem hatte ich sell)st Gelegenheit, einen Fäll
zu beobachten, in welchem bei Vorbandensein' eines in
der Pylorusgegend pah)ablen Tumors, in dem nach Ablaut
von sechs Stunden aus dem Magen entferiden Inhalte eine
Gesamtazidität von 60 nachweisbar war, ohne daß Salz¬
oder Milchsäure daselljst vorhanden gewesen wäre. Der¬
artige Umstände treten gewöhnlich dann ein, wenn an der
Stelle eines Ulcus pylori ein Karzinom entsteht oder wenn
])ei einer nicht gerade durch Karzinom verursachten Pylo-
lusstenose die Magensekretion aus irgendeinem Grunde
berabgemindert ist. Das Fehlen der Milchsäure ließe sieb
dadurch erklären, daß die gebundene Salzsäui'e jeneGärung,
deren Produkt die Milchsäure bildet, bintanballe; keiiuis-
falls ist es aber Bedingung, wie dies Hammerschla. g
meinte, daß Milchsäure nur in pepsinlosem Magen entstehe;
denn wenn sonst die Verhältnisse die Milchsäureentwick¬
lung begünstigen, so kann Pepsin diese Gärung nicht ver¬
hindern. Fehlt im Magensekrete Salzsäure, so verschwinden
aus demselben das Pepsin ,und das Labferment oder sind
nur mehr in geringem Maße daselbst vorhanden. Strauß
führt an, daßi anazides Magensekret die Fähigkeit besitze,
zu peptonisieren, falls es gebundene Salzsäure eiithalte.
Sowohl bei Anazidität als auch ])ei Hypazidität köunen
klinische Symptome vollständig fehlen; die Kranken be¬
klagen sich über ihren Magen nicht oder kaum und mil¬
der Zufall führt zur Erkenntnis der wahren Sachlage, wenn
man z. B., wie ich es tat, bei Nervenkranken systematisch
Magenwaschungen vornimmt, oder wie Lief schütz, der
bei einer Reihe von greisen Individuen die Alagenfunktion
prüfte und hiebei einige Fälle von Achylie fand. Meistens
haben aber die Patienten Beschwerden und Klagen über
ein spannendes Gefülil im Magen, über ^ufstoßen, Druck
oder Diarrhoe. Manchmal erscheinen die Schmerzen bei
leerem Magen, wie bei Hyperchlorhydrie und verschwinden
nach dem Essen; auch Icann der Kranke an Erbrechen leiden,
ohne daß der Entleerung des Magens mechanische Hinder¬
nisse im Wege stünden. Die Schmerzen, welche des öfteren
Brechreiz oder Erbrechen auslösen, können gar oft von
der Ueberreiztheit des Magens oder von dem Umstände
herrühren, daß die Magenschleimhaut ungemein empfind -
lieh und leicht verletzbai* ist; noch schlimmer gestalten
sich die Verhältnisse dadurch, daß der Magen mit dem
Verluste der Salzsäure sein kräftigstes Desinfektionsmittel
und energischestes Bakteriengift einbüßt und hiedurch un¬
fähig wird, sich gegen den Einfluß der Bakterien und ihrer
Toxine zu schützen. Bei solchen Kranken finden wir zu¬
weilen Hypermotilität, d. h. eine Stunde nach iVufnahme
des Probefrühstückes ist der Magen total leer. Die Erklä¬
rung dieser Erscheinung ist einerseits in dem überreizten
Zustande des Magens zu suchen, infolgedessen er seinen
Inhalt so rasch als möglich los zu werden sich, bestrebt,
anderseits aber in dem Umstande, daß ein Magen, der zu
sezernieren aufgehört hat, den darin befindlichen Speisen
gegenüber sich indifferent verhalten wird, da er ja die
Fähigkeit, die aufgenommene Nahrung aufzuarbeiten, ver¬
loren hat. Die Diarrhoe ist die logische Folge obiger Zu¬
stände, indem selbe nicht nur durch die in den unverdauten
und gärenden Speisen vortrefflich gedeihende Bakterien¬
flora und deren Toxine hervorgerufen wird, sondern zum
großen Teile dadurch entsteht, daß der Mageninhalt nicht
als Brei, sondern in größeren oder kleineren Stücken in
den Darmkanal gelangt und daselbst einen mechanischen
Reiz ausübt. Bei solchen Kranken, bei denen die Sub¬
oder Anazidität Verdauungsstörungen nicht hervorruft, er¬
setzt die erhöhte Fünktion der Darmdrüsen die entfallende
Magenfimktion ; meistens jedoch sind die Gedärme einer
solch gesteigerten Aufgabe nicht gewachsen, sind nicht
fähig, vollständig zu kompensieren, weshalb dann fi‘üher
oder später die oberwähnten Symptome der Anazidität auf-
treten und den behandelnden Arzt auf die richtige Spur
lenken.
Die Anazidität tritt selten primär, als selbständiges
Krankheitsbild auf, sondern sie bildet meistens die Begleit¬
erscheinung anderer pathologischer Verhältnisse. Sie kauu
bei Neurasthenikern entstellen, bei denen oft eine seil langimi
konstatierbare Anazidität plötzlich verschwindet, um einer
vollsländig normalen MagenfmdGion zu weichen. Manch-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
/öü
mal ist l)ei begiimeiidem Luiigenspiizeiikatarrli eine chro¬
nische Aiuuidität zu beobachten; ferner ist bei schwerer
Anämie und Anaemia perniciosa die xVchylia gastrica keine
eben seltene Erscheinung und ist letztere oft sehr schwer
von der im Anfangsstadiiim des Magenkrebses auftreten-
den zu unterscheiden. Doch sind bei Anaemia perniciosa
die Kranken gewöhnlich nicht mager, allenfalls ist kein
rapides Sinken des Körpergewichtes bei ihnen zu konsta¬
tieren und sind auch ihre, auf den Magen sich beziehenden
Klagen fast ohne Bedeutung.
Anderseits erschwert die Diagnose jener Umstand, daß
infolge von Karzinoma zuweilen ähnliche destruktive Blut¬
veränderungen hervorgerufen werden, als dies bei Anaemia
perniciosa der Fall ist, sO' daß die bloße Untersuchung der
roten Blutkörperchen eigentlich kein definitives Resultat
liefert.
Strauß glauht, daß in solchen Fällen das Verhalten
der weißen Blutkörperchen maßgebend wäre, indem bei
Anaemia perniciosa die mononukleären, bei der durch Kar¬
zinoma heiTorgerufenen Blutveränderung hingegen die poly¬
nukleären Blutkörperchen vorherrschend wären. Besonders
schwierig ist die Aufstellung «ler Diagnose in solchen Fällen
vmn Achylie, in denen wir es mit einer diffusen Form
von Karzinoma zu tun haben, insbesondere, wenn die Knöt¬
chen an der untersuchenden Fland nicht zugänglichen Stellen
sitzen und Metastasen nicht auffindbar sind. Hier sind es
dann die Röntgenstrahlen, zu denen wir unsere Zuflucht
nehmen, denn diese zeigen uns Veränderungen schon in
einem Stadium, in welchem alle vorhandenen Symptome
und klinischen Untersuchungsresultate kaum zum Verdachte
auf Magenkrebs berechtigen. Obgenannter Autor rät sogar,
das Mediastinum zu durchleuchten, da die in demselben be¬
findlichen Drüsen oftmals Metastasen aufweisen.
Im Anfangsstadium des diffusen und nicht palpablen
Karzinoms, wmlches sich nicht selten unter der Maske einer
Achylia gastrica verbirgt, werden uns in einer Unzahl von
Fällen die chemischen und motorischen Untersuchungen
des Magens, sowie alle jene Methoden, die die Frühdiagnose
des Magenkrebses bezwecken, im Stiche lassen. Insbeson¬
dere schwierig wird sich die Situation gestalten, wenn das
Karzinom an der Hinterwand des Magens O'der am Fundus
sitzt, also kein mechanisches Hindernis bildet; hiedurch
tritt auch keine motorische Insuffizienz ein, weshalb wieder
eine ganze Reihe klinischer Symptome entfällt. Solche
Kranke klagen überhaupt nicht über Magenbeschwerden und
wenn ja, so sind seihe eher für Hyperazidität oder Ulcus
ventriculi charakteristisch, so z. B. Magenschmerzen und
Sodbrennen bei leerem Magen, wmlche Erscheinungen nach
erfolgter Nahrungsaufnahme verschwinden, in anderen
Fällen wieder anwachsen.
Ferner müssen Krebskranke nicht gerade kachektisch
wmrden, wenigstens nicht zu Beginn ihres Leidens, denn
ich hatte einen Patienten, bei dem eine Probelaparotomie
die auf Karzinoma gestellte Diagnose bestätigte, der aber
trotzdem im Verlaufe von drei Wochen 3 kg zunahm!
Im Magensekrete kann Salzsäure fehlen, Milchsäure
aljer trotzdem gar nicht oder nur minimal vorhanden sein,
nämlich dann, wenn keine größeren motorischen Störungen
eintreten.
Die Tatsache, daß ein im Anfangsstadiiim befindliches
Karzinom die Salzsäureproduktion nicht hindere, verfocht
zuerst Ewald gegen van de Val de und auch ich hatte
wiederholt Gelegenheit, mich vmn der Richtigkeit des Ewald-
schen Standpunktes zu überzeugen. Erwähnenswert ist auch
die ^Möglichkeit, daß eine Anazidität auch auf die AVeise
zustande kommen kann, daß Darminhalt in den Magen ge¬
rät, wodurch die im Magen befindliche Salzsäure neutrali¬
siert wird.
Eine Folgeerscheinung der erhöhten Vulnerabilität der
Magenschleimhaut bei beginnendem Magenkrebs sind klei¬
nere und größere Blutungen, weshalb zuweilen in den Fäzes
Ilämoglobinspuren nachweisbar sind. Auch gibt es Fälle,
in denen eine Waschung des nüchternen Magens blutiges
Waschwasser zutage fördert ; dies herechtigt schon zum V
Verdachte auf Karzinoma, jedoch nur zum Verdachte, denn
bei einer durch Alkohoiahiisus hervorgerufenen Gastritis , a
können hie und da ehenfalls kleinere Blutungen Vorkommen, a
Eine derartige Blutung beobachtete ich bei Waschung eines -9
Magens, in welchem nebst einem Krebse eine Hypermol ililät 9
vorhanden war und wO' eine in der rechtsseitigen Brust-
höhle allgesammelte chyliforme blüssigkeil zeigte, daß auch T
schon dort Metastasen existieren. -
Wie die Erfahrung lehrt, kann selbst eine Salomon-
sehe Probe bei beginnendem Karzinom versagen, wenn keine ?
Ulzeration entstand und die Entleerung des Magens media- ''J
nische Hindernisse nicht stören. Das Sinken des Körper- ‘1
gewichtes ist gleichfalls kein Alaßistab, denn die an cliro-.
nischer Gastritis und Dyspepsia nervosa Leidenden magern
ja auch zusehends ah. ^
Die Anazidität ist eine Begleiterscheinung oder — g
besser gesagt — ein Symptom der verschiedensten Krank- |
lieiten, so z. B. bei diffusem Karzinoma, wenn der Tumor J
keine motorischen Störungen verursacht. J
Die Angaben des Patienten, wie : heftige Schmerzen ;a
in der Magengegend, Brechreiz, zunehmende Schwäche und ^
Abmagerung, werden den Verdacht des Arztes erwecken. J
Oft bestärkt die Diagnose pin in der Magengegend fühlbares
Knötchen und eventuell vorhandene Drüseninfiitrationen. ^
Blut ist in vielen Fällen im Mageninhalte nachweisbar,
hie und da in den Fäzes. Eine weitere Bestärkung erfährt 1
die Diagnose durch das Röntgenbild welches in, zweifei-
haften Fällen stets herzustellen ist, schon deshalb, weil es A3
oft Veränderungen zeigt, bevor noch klinische Symptome . i
oder andere Untersuchungsresultate Aufschluß geben ’
können. '
Immerhin wird es — vorläufig wenigstens — eine ■
iVnzahl von Karzinomen geben, bei denen einige oder alle d
klinischen Symptome fehlen, welche vvdr heute als charak- ■;
teristisch für Krebs bezeichnen, und die uns so die Auf- ;
Stellung der Diagnose erschweren; und bis vvdr dann durch i
alle Schwierigkeiten hindurch endlich zur Erkenntnis der i
Sachlage gelangen, ist oft der Zeitpunkt des chirurgischen
Eingriffes versäumt. ^ - i
Aus der k. k. III. medizinischen Universitätsklinik j
(L. V. Schrötter) und der k. k. pädiatrischen Universitäts- ,
klinik (Th, Escherich) in Wien. -j
Zur Bronchoskopie bei Fremdkörpern. ^
Von Dr. phil. et med. Heriuanu y. Schrötter in Wien, ;
Aeußere Gründe lassen es mir wünschenswert er- ,■
scheinen, ahermals zum Gegenstände der Bronchoskopie das ]
Wort zu nehmen und zwar wähle icii — aus meinen Er- y
fahrungen des heurigen Schuljahres — diesmal zwei J
Fremdkörperfälle^) aus, vmn denen der eine in sym- '
ptomatischer Hinsicht, bzw. durch das Fehlen charak- :
teristischer Erscheinungen Interesse Ijeansprucht, während '
der andere in technischer Richtung Beachtung ■;
verdient.
Fall l. Der früher stets vollkommen gesunde, 35jährige '
Beamte A. v. B. befaßt sicli mit Taschenspielerei; im besonderen
führt er seit Jahren das Kunststück aus, Münzen oder Stifte in'''
der Nase verschwinden zu lassen, die dann beim Munde wieder '
zum Vorscheine kommen. Er steckt die Münze in die linke Nasen- ;
höhle, läßt dieselbe unter Bückwärtsneigen des Kopfes in den
Rachen gleiten und fängt sie ,,mit einem Ilustenstoße an der
Klappe“, gemeint ist offenbar der Kehldeckel, auf. Er hat dieses .
Kunststück etwa tausendmal gezeigt. Einmal und zwar im Vor-
jähre, passierte ihm bereits das Mißgeschick, daß die Münze,
ein Zweihellerslück, in die Speiseröhre gelangte und daselbst F
durch ca. 16 Stunden verblieb; während dieser Zeit hatte er
deutlichen Kupfergeschmack imM;nde, Er sucht ' in einer Rettungs¬
station Hilfe, woselbst man ihm eine Kartoffelkur vmrordnete;
diese war auch nach weiteren 24 Stunden von dem gewünschtc'n
Ei’folge begleitet, indem der fremde Körper mit dem Stulde abging.
h Ueber weitere Beobachtungen auf dem Gebiete der Lungen¬
krankheiten wird demnächst an anderer Stelle berichtet werden.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
757
i»
- 1
.V
4
i;
hJp.
J’^
Seil (lie.scr Zcil lialL* ei' hoi seiiieii Vorführmigeu nie einen An¬
sann; nur wenn voi'iihei'gehender Schnupfen oder Kaiarrli J)e-
steht, vermag er die i\liin/.e nicht durch die Nase zu l)riugcn
In der Nacld_des 8. März 1<)0G, um V4I2 ülir, wollle er
sein luins.sUick wiedm' in größerer fleselischaft vorführen. F.r
ließ die i\lunzc, diesmal vieUeichl elwas rascher als gewölmlich,
dureil die Nase hinaligleilen, vcrmochle dieselbe, wie er angiljl'
nicht meiir aufzidangen nnd fühlte, daßi sic in die Luftröhre
hinahgehillen SCI. Ks I raten jedoch weder Erstickimgsgofühl noch
llustenreiz ein, so daß seine Umgehung, sowie auch ein an¬
wesender Arzt der Meinung waren, daß die Münze in die Speise-
r (••) h re geraten sein müsse. Da er aher trotz Fehlen von Hustenreiz
dennocli lühlte, dal.! sich etwas Fiemdes in der Luftröhre hefindc
hustete er nach einiger Zeit alisichtlicli hei verschiedener Körper-
slellung, in der Hoffnung, die Münze dieser Art zum Vorscheine
zu liringen. Außerdem wmrde, wiewold Gelränke, sowie feste
Siieisen anstandslos geschluckt werden konnten, zirka eine halho
Stunde nach dem Ereignis von Herrn Kollegen N. Tugendliat
eine Untersuchung der Speiseröhre mittels Bougie und Münzen-
vorgenommen, wobei sich der Oesophagus vollkommen
erwies. Der Kranke gab sich jedoch nicht zufrieden; er
heliauptelo, mit aller Entschiedenheit gefühlt zu haben, wie die
Münze in die Tiefe geglitten und an einer Stelle, entsprechend
dem (1 lit len Interkostalraume rechts, knapp neben dem Sternum
stecken gehliehen sei. Auch empfand er mäßige Atemheklemmung,
die sich liei rascherem Gehen fühlbar machte. Da sich Fat. nicht
heruhigen konnte, sandte ihn Dr. Tugendhat an unsere Klinik
mit dem Ersuchen, „einen angeblich aspirierten Fremdkörper,
den ich nicht erreichen kann“, zu entfernen. Man begreift nach
der vorigen Schilderung den xVusdruck „angeblich“, indem der
Kollege heim Fehlen jeglicher Beaklionserscheinungeu, die sich
doch_ sonst hei einem solchen Ereignisse einstellen, trotz der
Versicherung des Kranken nicht rocht an die Gegenwart der
Münze im BronchialhaUme glauben wollte. — Und in der Tat,
als sich Pat. an der Klinik vorstellte, war sein ^Verhalten
ein solches, daß' auch wir zunächst an rler Anwesenheit des
(äjrpus alienum zweifeln mußten. Nur der Umstand, daß der
Kranke versicherte, eine eigenartige Wahrnehmung an liestimmter
Stelle zu ispüren, forderte zu einer genaueren Untersuchung
auf. Doch wir wollen dem Befunde nicht vorgreifen.
fängei
frei
Pal. begab sich noch mit dem ersten Frühzuge nach Wien,
woselbst er Um 7 Uhr morgens (4. März) aulangte. Auch während
der Fahrt hestanden keine hesonderen Beschwerden; nur als
ei’ die Stiege des Bahnhofes hinaheilte, machte sich wieder Be¬
klemmungsgefühl auf der rechten llrustseite geltend. Erst
um 10 Uhr hatten wdr Gelegenheit, den Kranken zu sehen.
Bei der bloßen Besichtigung, wie gesagt, nichts Auffallen¬
des; keine Differenz in der Ilespiration beider Seiten. Nach
seinen Sensationen befragt, deutete er auf den rechten, dritten
Interkostalraum, auf eine Stelle, etwa 1 cm nach außen von
der Parasternallinie. Ei' habe die Empfindung, sagte er, als oh
sich hier ein Ventil befinde, das die Atmung erschwere. Anf-
Fig. 1.
gefordert zu husten, gab er in der bezeiebneten Gegend ein
Gefühl von schmeizhaftem Drucke an. Bei der Uerkussion des
Thorax keine Veränderungen; die Lungengrenzen allenihalhen
i'ospira torisch verschieblich. xVueh die xVuskultation lieferte kein
sicheres Ergehnis: Bei ruliigcr Bes[)iralion beiderseits gleich
starkes Vesikuläi’almen ; hei tiefmi Respirationen schien das
Atomgeräusch üher der rechten Seite vermindert und namentlich
rechts ohen, sowohl vorn als hinten, also dem ( thorlappen ent¬
sprechend, schwächer als links zu sein. Ein sinnfälliger Unler-
schied war jedoch im Vorhallen <ler beiden Seiten nicht festzu¬
stellen. An der von dem Kranken hezeichneten Stidle vermochte
man keine hesondero Wahrnehmung zu machoii; hronchitische
Geräusche fehlten. Als wir aber den Patienten der fladio-
skopre unterzogen, trat der fragliche Fremdkör])er sofoid mit
aller Schärfe in Erscheinung. Wie man aus der nach dem Radio-
gramm gezeichneten Skizze (Fig. l) ersieht, fand sich rechls,
knapp Unter dem Ansätze der dritten rechten Bippe, dem rechten
Lungenhilus entsprechend, ein kreisrunder, dunkelschwarzer
Schattenfleck von ca. 20 mm Durchmesser, der mit einer Hälfte
über die Kontur des Mediastinums hervorragte, mit der anderen
in dem mediaslinalen Schatten gelagert war, aber noch deullich
innerhalb desselben zum x\usdrucke kam. Bei tiefer Respiration
führte der beschriebene Schatten Exkursionen von etwa 1 bis
2 cm Breite in auf- und absteigender Bichtung aus; hei Husten¬
stößen trat eine stärkere Dislokation desselben nicht ein.
Sprach der Umstand, daß; sich die Münze rec h ts vom media-
stinalen Schatten befand, sebon an sich für deren Anwesenheit im
Anfang;steile des rechten Bronchus und gegen die Speiseröhre, so
wies auch das Verhalten bei Drebung des Körpers, seitlicher
Durchslrahlung, auf dessen (festen) Sitz im Bronchialhaume. Das
Zwerchfell bewegte sich beiderseits gleich, eine seitliche Ver¬
schiebung des Mediastinums hei der Respiration war nicht zu
heohachten. Bei Untersuchung des Larynx mit dem Kehlkopf¬
spiegel konnten wir ferner den henierkenswerten Befund einer
streifenförmigen Hämorrhagie an der vorderen Trachealwand, der
Höhe des vierten his fünften Ringes entsprechend, nachweisen;
man vermochte his gegen die Bifurkation zu sehen, tiefer hinab
gelang der Einblick nicht mehr. Noch sei bemerkt, daß der
Kranke vor unseren Augen feste Bissen ohne Anstand zu schlucken
vermochte. : : ' '
Man begreift, daß wir zunächst an die Endoskopie der
Luftwege :schritten, da wir nach dem Gesagten den Fremd¬
körper im rechten Bronchus, also jener Stelle entsprechend, er¬
warten durften, an welcher derselbe vom Kranken genau
lokalisiert wurde.
Schon bei der Untersuchung mit dem Kehlkopfspiegel war
deutliche H y p ä s t h e s i e der Bachenschledmhaut auf ^efallen. Älan
konnte daher voraussichtlich mit einer geringen ]\Ienge von Kokain
hei der Bronchoskopie auskommen. In der Tat genügt es, den
Kehlkopf und den oberen Abschnitt der Luftröhre zweimal mit
20Toiger Lösung zu pinseln, wobei ebenfalls verminderte Reflex-
erregharkeit hervortrat. Nur die gut entwickelten Zähne des
Kranken erforderten eine liesondere Kopfstellung, um den Wuder-
stand beim Vorscliiehen des Tubus zu mildern. Als Instrument
benützte ich zunächst das von L. v. Schröttcr angegebene
xVntroskop*) (leucbtendes Glasrohr), mit welchem der fremde
Körper auch präzise gesichtet und den Anwesenden demonstriert
werden konnte. Leider hraimten, um dies gleich' vorweg zu
nehmen, die Lämpchen des Instrumentes im geeigneten Momente
durch, andere waren gerade nicht zur Hand, so daß die Ex¬
traktion mit einem iMetallluhus und Anwendung des C as }) er¬
sehen Bcleuchtungsapparates durchgeführt wunle. - — Besichti¬
gung: Im mittleren Anteile der Luftröhre nichts Auffallendes;
H
V
Fig. 2.
die Schleimhaut im Bereiche der Bifurkation leicht gerötet, ,an
der Carina trachae keine Veränderungen. Etwa 1-5 cm unter
derselben präscntieid sich die Münze im reiditen Bronchus. Sie
ist, wie beistehende Skizze (Fig. 2) zeigt, in nahezu frontaler
Richtung stecken geblieben und dabei derart geneigt, daß ihre
Berliner klinische Wochenschrift 1906, Nr. 47, S. 1501.
758
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. Nr. 25
veiilialwiirls gericlilclc Fläclic in ixTsiieküvisclier Vin’kiirzung /.u
selion ist; das woiljc (ilaiizlicht ihres oberen llandes springt
in die Angen. Die Scddeimluuii daselbst stark gerötet, ninscblicßit
diii liandi)artien der Aliinzc. DoJsahvärts erkeiint man den Ein¬
gang in den recblen ()l)erlappcid)r()nehns, der znm Teile von dem
Fr(Mndkör])er vej'deckt wird. Ans dem Spalte zwiscben der Münze
lind der vorderen Umrandung des Droncbns siebt man nacb
■einiger Zeit (vgl. die Abbildung) SeblcimUlasen hervorperleii.
Der Fremdkörper zeigt dentlicb passive Pulsation in dorso-ven-
Irabn- Hicblnng; eine res])iratorisebe Bewegung desselben ist bei
ru Inger Atmung nicht wabrzunehinen, bei tiefer Respiration da¬
gegen wird die Münze bewegt, n. zw. derarl, daß sie wie ein
K 1 ap p en ven 1 i 1 die Alündnng des ()berlap])e]dn-oncbus deckt,
um dieselbe bei der folgenden Exspiration in dem- früher ge¬
nannten Umfange Avieder frei zu geben. Stärkere Druckdiffe¬
renzen vermochten also bei der jiur teilweisen Umklannnernng
d'(!r Münze eine Veränderung ihrer relativen Lage, und damit
eine vorübergehende Beeinträchtigung der Ventilation des Ober-
lappens herbeizuführen.
Das Sc brött ersehe Bohr wird durch einen Tubus von
9-5 mm Lichtung ersetzt und derselbe bis auf einen Abstand
von 28 cm von der Zahnreihe dicht an die Aiünze vorgeschoben.
Das Aiheitsb'ld wird kokainisiert .und mittelst Aspiration (Kaut-
s<diukscbhui(di) von schleimigem Sekrete gereinigt. Es gelingt nun
umudiwer, die Alünze niit unserer FremdköriKU'pinzette bei sagit-
taler Stellung der Branchen zu ergreifen und dieselbe, nachdem sie
präzise gefaßt worden war, zu lockern und' mitsamt dem Rolu'e
zu extrahieren. Der Kranke gab sofort au, wesentlich leichter
zu atmen: ,,der Druck in der Brust ist völlig geschwunden“,
,,icb ahne jetzt so frei, als ob ich eine doj)pelt so große Luft¬
röhre hätte“. Einige absichtlich ausgefübrte llustenbcweguugen
fördern uui' geringe Alengen eines kaum Idulig gestriemten
S(dileimes nach aufwärts. — So konnte der fremde Körper zirka
elf Stunden, nachdem er aspiriert Avorden Avar, glatt entfernt
weiAbm. Es handelte sich, Avie gesagt, um ein ZAveiheller-
stück mit einem Durchmesser Amn 19 mm und einer Dicke von
1-5 mm; an den Flächen der Alünze Avaren boix-its grünliche
Flecken (u'kennbar.
In den Nachmil tagsstunden bestand etwas Koi)fschnicrz.
Am nächsten Tage mäßiger Ilustenreiz, der bis zum Abende
ajdiielt. Bat. expehtorierte geringe Alengen eines rötlich tin-
gierten, gelblichen Schleimes. Am 6. März, also zwei Tage nach
dem Eingriffe, stellte er .sich Avieder vor. Die Untersuchung
ergibt vollkommen normale Verhältnisse; keine Bronchitis der
rechl<“n Seite. Eine mit Rücksicht auf die auffallende An¬
ästhesie der Pharynxschleimhaut vorgenommene, genauere Unter-
smdmng des Status nervo.sus ergibt verminderte, Ijzav. feh¬
lende Reflexerregbarkeit der Nasen- und Rachenschleirn-
baut. Ebenso eiAveist sieb der Kehlkopfeingang der Sonden¬
berührung gegenüber ziemlich indifferent. K o r n e a 1 re f 1 e x
heiderseits vermindert, Patellarreflex beiderseits gesteigert,
Dermograi)liie angedeulet. Sonst keine fuidctionellen Stigmata.
Die Nasengäuge beiderseits gleich, etwas Aveiter als dies de norma
der Fiill ist. — Als charakteristisch für die Leichtigkeit, mit
Avelcher der fremde Körper getragen Avurde, mag angeführt sein,
daßi (hau Kranken, nach Hause zurückgekehrt, seitens seiner Um-
gi'bung nicht geglaubt Avurde,' daß in der Tat ein ZAveiheller-
stück aspiriert und entfernt Avorden Avar.
Wie schon in der Einleitung ])emerkt, liegt das In-
t(!resse dieses Fremdkörperfalles, abgesehen von den äußeren
Uinsländen, vor allein in dem Fehlen der hekaiinlen
Symptome, Avelche sonst die Aspiration eines ('oriius
alieimm begleiten; es bestand kein Erslickuiigsgefühl, kein
Hustenreiz. Dieses Verhalten AAurd durch den Nachweis
anderer Zeichen funktioneller Störung verständlich. Nicht
nur der Pharynx, sondern auch der Kehlkopf und die
'rrach(*()l)ronchials(dil('indiaut zeigten hier herabgesetzte, be-
zic'hungsAveise fehlende lleflexerregharkeit. Dennoch Avurde
die UegeuAvart des fremden Körpers im Bronchialbaume
emi>f linden und der Sitz der .Münze, Avas besonders beach¬
tenswert ist, auf das bestimmteste lokalisiert. Bekanntlich
gidien ja die Angaben der Patienten in dieser Richtung
Aveit auseinander, hier jedoch deckten siidi die Sensa¬
tionen des Kranken und der objektiv feststellliare Befund
in überraschender AVeise. Auch aauu' in der Fat, durch den
besonderen Sitz der Alünze im rechten Bronebus Axuanlaßt,
das Bestehen eines Vmdilmechanismus zu lumhachten, der
vom Patienten mit entsprechenden Gefühlen hei der Be-
spiraiion Avahrgenommen und sogar mit dem richtigen
Namen hezeichnet wairde. — Die verminderte Sensibilität
der Nasen- und Bachenschleimhaut dürften Herrn A. v. B.
zur Ausführung des besprochenen Kunststückes aindi be¬
sonders befäbigt halien.
Ich möchte hier nicht unterlassen, einen Fall anzu¬
führen, welchen Aveiland 1. /\. Killian (Wonns) vor zAvei
Jahren initgeteilt hat, da die Beobachtung milder meinigen
manche Aehnlichkeit autAveist. Es handelte sich ebenfalls
um die Aspiration einer Münze, eines Pfennigstückes, in
den rechten Bronchus, die aber im Gegensätze zu unserem
Fälle Amn dem Patienten nicht an einer dem Sitze ent¬
sprechenden, sondern an entfernter Stelle, in der Gegend
des .Tugulums lokalisiert wurde.
Der 29jälu'ige SImletd, L. St. besebäftigto sich ebenfalls
mit vorscliiedenen KimsLstückcn. Er nabm ein Pfennigstück in
den Mund, „um dasselbe von da in die Nase überwandern, zu
lassen“. Um dii'. Täusebung durebzufübren, sclmiuggcllo er zuvor
ein ■ anderes Pfennigstück in die Nase. Dieses glitt nun bei
nach rückAvärls gebeuglem Kopfe in den Ibudien und versclnvand
in der Tief(\ Auch in diesem Falle kein Hustenreiz, keine Alem-
nol. Als Sitz des Fj'emdkör|)ers Avurdo das Jugulum, n. zw. (dne
Stelle links von der Mittellinie angegeben. Die Münze konnte
mit Hilfe des Ke b I k o ]> f s pi e ge I s bei enlsprecdiender Haltung
des Ki'anken mit aller Sicberbeit im Eingänge des reiditen Bron¬
chus '(‘rkaunt werden. Man sah ,,eine dicke, Aveißc Linie, Avclche
Avie eine Sehne den idealen Quersclmilt des rechten Bronebus
überspannh;“. Die Extraktion Avurde im Wege der direkten
Methode vojii Kehlkopfe aus a.m sitzenden Patienlen unter
lokaler Anästhesie glatt beAveikslelligt.
Ist es selbst mit Hilfe der Rad i o s k o p i e, wie
ich Seite 478 und folgende meines Buches^) aus-
geführt habe, nicht immer leicht zu entscheiden, ob
sich ein fremder Köriier im Oesoiihagus oder im
Bronchialliaume befindet, und sind dieser Art be¬
reits mehrfach Verwechslungen vorgekommen — so Avar
hier durch den Umstaud, daß die Münze rechts Amin
Mediastinum, bzAV. die rechte Kontur desselben ca. V2 cm
überragend, in Erscheinung trat, so gut Avie liOAviesen, daß
sich dieselbe in den Luftwegen und mit Rücksicht auf
ihren Sitz, rechts unterhalb der dritten Rippe, im Anfangs¬
teile des rechten Bronchus befinden müsse. Deshalb schritten
Avir auch gleich an die endoskopische Besiiditigung des
Bronchialbaumes, um erst, wenn diese vergeblicb gewesen
Aväre, die Speiseröhre zu untersuchen. — Der Fäll zeigt
schließlich auch Avieder, Avie man sich bei positiAmn Angaben
des Kranken nie mit einer oberflächlichen Untereuchung
liegnügen darf, sondern alle Umstände auf das genaueste er¬
wägen und die gebotenen Hilfsmittel heranzieben soll.^)
Die physikalische IJntersuchung der Bruslorgane, soAvie der
Kehlkopfspiegel hätten in diesem Fälle, der durch das Fehlen
Axm Initialerscheinungen, durch den Mangel eines sicheren
auskuhalorisclien Befundes geradezu charakterisiert Avar,
keine bestinnnten Anhaltstuinkte für die GegenAvart eines
fremden Körpers gegeben. Erst nach mehreren Tagen Aväre
die Sachlage durch das Auftreten von Folgoerschei innigen
klar gCAVorden. Hier vermochten in der Tat nur die moilernen
Unlersuchungsmethoden, die Badioskopie und Broncho¬
skopie eine sichere Entscheidung herheizuführen.
Die Extraktion dos fremden Körpers in unserem
Falle hätte Avohl auch einem Ungeübten keine nennens-
Averten SchAvicrigkeilen bereitet, da die lleflexerregharkeit
der Bronchialschleimhant Avesentlich hciuligesetzt Avar und
erst stärkerer Druck auf die Wandung zu vermehrter
Schleimsekrelion und leichter HustenhcAAmgung führle. Es
biMlurfto nur geringer Alengen des Anästhetikums, um den
Münchener med. Wochenschrift 1903, Nr. 37, .S. 1601.
D Klinik der Bronchoskopie. Jena 1906, G. Fischer.
Daß es nicht überflüssig ist, neuerdings auf eine möglichst ein¬
gehende "Würdigung solcher Fälle hinzuweisen, bei Avelchen ein
Fremdkörper im Spiele zu sein scheint, hat uns vor wenigen Wochen wieder
die Krankengeschichte eines 41jährigen Mannes J. C. aus Wien gelehrt,
von welchem ein Knochenslück in den rechten Bronchus aspiriert worden
war. Erst neun Tage nach dem Ereignisse kam Pat. in meine Behandlung.
Der Fremdkörper wurde auch hier glatt im Wege der oberen Methode
entfernt. (13. Mai 1907.) Der Fall wird demnächst an anderer Stelle
ausführlich publiziert Averden.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
759
Eingrifl’ iin Wege dos geraden Rohres auf das scliotiendstc
durchführen zu köiiiien.
Tall 11. Üenigegonühcr lagen die Verhäilnisse in dem
folgenden falle wesentlich schwieriger, da es sich einer¬
seits um ein Kind noch im Säug lings alter, andererseits
um ein Knochenstück von relaliv ganz besonderer
CIröße handelte, das in den rechten Bronchus hinahgelangt
war. War die erste Beobachtung durch das Fehlen patho¬
logischer Symptoine ausgezeichnet, so forderten in dem
folgenden Falle manifeste Erscheinungen einseiti¬
ger Broncho Stenose zu entsprechender Intervention auf.
Als ich mich, einer freundlichen Aufforderung von Hofrat
Escherich folgend, am 8. Oktober 1906 in das St. Aiincn-
Kindcrspilal begab, waren es die Erscheinungen hochgradiger
Dyspnoe, welche das Krankheitshihi l>ei dem zehnnionatlichen
Alädchen M. S. beheiTsclitcn. Das Kind war am Morgen tlesselben
Tages mit der Angabe aufgenommen worden, atn Vorabend
ein Knochenslück ,,versc]duckt“, bzw. aspiriert zu haben.
Ueber das Ereignis Avurdc folgendes erzählt: Um zirka 7 Uhr
abends aß die Großmutter eine Wurst und gab dem Kinde ein
Stückchen davon, um es daran saugen zu lassen. Plötzlich be¬
gann das Kind zu sclireien, es wurde rot im Gesichte und es
stellten sich heftige Atembeschwerden ein; die Stimme war rauh,
heiser und von Pfeifen begleilet. Bald danach traten Würgen
und Erbreedien auf. Die Atemnot ließ; zirka eineinhalb Stunden
spül er nach und das Kind horte zu schreien auf. Währeml der
Nacht nahm cs linier Sclnnerzensäußerung, zuckenden Bewe¬
gungen, noch etwa Vs Eiter Milch zu sich und vermochte darauf
mehrere Stunden zu schlafen. Am Morgen des 8. Oktober
keine Nahrungsaufnahme. Da die Atembeschwerden forthe-
steben, wird das Kind ins Spital gebracht. Dasselbe, mittel¬
groß, von sehr gutem Ernährungszustände (eine Wägung wurde
nicht vorgenommen). Am Skelett deutliche Zeichen der Rachitis,
größere Drüsenpakete fehlen. Hautdecken blaß. Die Stinuno rauh,
wobei die Heiserkeit in ihrer Intensität wechselt ; im Rachen nor¬
maler Befund, die Schleimhaut blaß. Die Respiration von hör¬
barem Slridor begleitet, freciuent, mit hochgradiger inspira¬
torischer Einziehung der rechten Brustseite. Husten
besieht nicht. Temperatur afebril. Leber und Milz nicht ver-
gi'ößert. Die Anamnese ergab noch, daß das Kind von gesunden
Eltein stamme und bisher an keiner Krankheit, Ausschlag, ge¬
litten habe. Auf Grund der vorstehenden Symptome wurtle von
Hofrat Escherich und seinen Assistenten die Wahrscheinlich-
keitsdiagnose : Fremdkörper, angeblich Knochenslück, ini
rechten Bronchus gestellt .Als ich das Kind um V2I2 Uhr
sah, konnte ich mich dieser Diagnose nur anschließen. Höchst
auffallend war die inspiratorische Einziehung im Bereiche der
rechten Brusthälfte; ich habe noch niemals diese Erscheinung
so ausgesprochen gesehen als es hier der Fall war. Bei den
forzierlen Inspirationen sank nämlich die Gegend des rechten
Rippenbogens (oberbalb der Leber) derart ein, daß daselbst eine
etwa 2 cm tiefe Grube von keilförmiger Gestalt, mit nach
unten gerichteter Spitze zustande kam. Auch hinlen trat die
Einziehung der unteien Brustwand hervor. Linkerseits erweiterte
sich der untere Thoraxraum deutlich und es war nui' eine mäßige
Einsenkung der Inlerkostalräunie zu beobachten. Der au.xiliäre
Resinralionsapparat in voller Tätigkeit, iVtemfrequenz ca. 40”; der
Kehlkopf tritt bei der Inspiration um ein Geringes nach abwärts.
Bei der Auskultalion war keine deutliche Differenz im Verhalten
beider Seilen zu konstatieren. Schnurren und Rasselgeräusche
waren, offenbar von der Trachea fortgeleitet, auf beiden Seilen
nahezu in gleicher Intensität zu hören; die Atmung strulorös.
Auch gegenwärtig keine Hustenbewegung; die Stimme beim
Schreien rein.
Mit dem Kehlkoi)fsijiegel war nichts Auffallendes zu sehen,
wir schritten daher V2I Uhr mittags an die direkte Inspektion,
wiewohl ich nur ein Rohr von 7 nun äußerem Durchmesser (6-7 mm
Lichtung) zur Hand halte, von dem es mir fraglich erscheinen
niußle, ob mit demselben ein Passieren der Glottis möglich sein
wünle. Die Untersuchung wurde derart vorgenommen, daßi das
Kind in eiii Leinlucli! gehüllt auf den Schoßi einer Schwester zu
sitzen kam, der Ko|)f von einem Gehilfen gehalten. Der
Rachen- und Kehlko|)feingang werden einmal mit lOo/oiger Kokam-
lösUng gepinsedt. Hierauf wird der Tuhiis, mit einem englischen
Katheter armiert, unter Leitung des^ lingers unschwer in den
Kehlkopf eingeführt. Letzterer passiert die Glottis, es gelingt
jedoch nicht, den Tubus über die Stimmbäiuler hinaus v'orzu-
schieben. Ich versiudie vorsichtig gesteigerten Druck, aber ver¬
geblich; es fehlte nicht viel, ich glaube ein Rohr von_ etwa
6 mm wäre noch durchzuführen gewesen, irotzdeni ich mit dem
Tubus sozusagen bloß auf den Stimmbändern stand, vermochte ich
während der Inspirationen des Kindes vorühergehend einen Ein-
hlick gegen die Bifurkation zu gewinnen uiul da sah ich, als
llustcnbewegung auftrat, wenigstens auf einige Augeid)licke in
der Tiefe von rechts her ein weißes Gebilde hervorschimmern, das
seine Form, sobald es neuerlich in Erscheinung Irat, nicht zu
ändern schien. Es war kaum zweifelhaft : es mußte sich um
den supponierlen Fremdkörper handeln. — Ein sofortiger
Extraktionsversuch war mit Rücksicht .auf die Unmöglichkeit,
mit dem Tubes in die Trachea vorzudringen, leider ausge¬
schlossen; wir hatten erst ein geeignetes Rohr zu beschalfen.
Die Respiration des Kindes schien nach dieser Unter¬
suchung weniger beschwerlich zu sein. Auf das Zimmer
gebracht und beruhigl, war die inspiratorische Einziehung
der Brusiwand rechts vorne unten kaum mehr angeileutet.
— Wiewohl ich an diesem Tage wegen Mangel eines passenden
Tubus auf eine kunstgerechte Extraktion des Fremdkörpers ver¬
zichten mußte, so wollten wir mit Kollegen Dr. Preleilner
dennoch deji Versuch machen, denselben ini Wege einer
improvisierten Aspiration zu entfernen, da es ja immerhin
möglich war, daß das Knochenslück dieser Art gelockert
und expektoriert werden konnte. Ein zuvor gut gereini.gter
englischer Katheter (mit zentraler Oeffnung) wurde unter
Leitung des Fingers vorsichtig gegen die Bifurkation vor¬
geschoben Und mittels einer großen Spritze und eines zwischen¬
geschalteten Schlauches eine plötzliche Druckdifferenz herbei¬
geführt — ohne Erfolg. Auch nachdem wir ein zweitesmal unter
Vermeidung jedes stärkeren Druckes in die Tiefe eingegangen
waren und a.si)iriert hatten, kam der Fremdkörper nicht zum
Vorscheine. Wir gewannen vielmehr den Eindruck, daß derselbe
eher noch tiefer hinabgelreten sei, da die so auffallende Ein¬
ziehung der rechten, unteren Brustwand vollkommen geschwunden
war und das Kind, wiewohl noch dysj)noisch, zeitweise mit beiden
Seiten annähernd symmetrisch atmete. Bei ruhiger Bettlagc war
das Einsinken der Inlerkostalräunie recids und links nahezu
gleich'; bei Aufregung blieh allerdings die rechte Brusthälfte bei
der Respiralion zurück. Inwieweit an der Veränderung die gc-
sleigerte Atemmechanik während der ersten Unlersuclumg oder
das Eingehen mit dem Katheter beteiligt waren, läßt sich nicht
mit Bestimmtheit entscheiden, jedenfalls mußten wir aber aii-
nebnien, daß der Fremdkörper seine Stellung im
rechten Bronchus u. zw. derart geändert hatte, daß nicht
mehr das ganze Gebiet desselben abgesperrt sein konnte und
anscheinend die Venlilation des Ober- und Mittellappens der
rechten Lunge wieder (zum Teile) frei geworden war. — Wie
dem auch sei, die Respiralion ging leichter von statten, die
Dyspnoe ließ nach, das Kind war bedeutend ruhiger geworden.
Nachmittags 4 Uhr Temperatur 36-9”, am Abend 37”. Nachts
jedoch, gegen 10 Uhr, begann das Kind wieder stark ,,oinzu-
ziehen“ und so laut, rasselnd zu atmen, daß man das Geräusch
bis auf den Gang hinaus hörte; es lag dabei auf der rechten
Seile. Die Erscheinungen dauerten bis in die frühen Morgen¬
stunden hinein, dann besserte sich der Zustand wieder.
9. Oktober: Morgens 7 Uhr Temperatur 37-1”. Beim
Trinken verschluckt es sich leicht und hustet ilabei. Um Mittag
Temperatur 37-6”, Frequenz der Respiration 40, des Pulses 170.
Ein präziser Lungenbefund ist bei der starken Fortleitung dos
Irachoalen Atemgeräusches nicht festzustellen; das Inspirium er¬
scheint jedoch rechts hinlen oben rauher als links.
Nach dem Befunde am Vorlage hatte ich in aller Eile ein
Rohr von 5mm Durchmesser, ohne Aufireibung am distalen
Endo herstellen lassen, das mit mehreren kreisförmigen Fenstern
(Durchmesser = 2 mm) versehen war. Was die Länge des Tubus
anlangt, so durfte dei’solbe nicht zu kurz gewählt werden. Einer¬
seits mußte ich mit Rücksi(dit auf die geschilderten Symptome
auf einen relaliv tiefen Sitz des Fremdkörpers ('Teilungsstelle
für die Unlerlappenäste) rechnen, anderseits schien es wünschens-
werl, daß noch ein hinreichender Anteil des Rohres behufs ])c-
(luemcr Führung desselben über den Oberkiefer des Kindes vor¬
ragte. Die Läng(! d<!S gesamten Tubus betjug 18 cm, jene des
zylindrischen Rohrabsclmiltes bis zum konusförmigen Ansätze
15 cm. Ich verzichte auf eine Wiedergabe desselben.
x\ls ich das Kind um VaPd Uhr (9. Oktober) sah, war
die Atmung angestrejigt, aber die starke Einziehung der rechten
Seite, wie sie am gestrigen Vormitlage so auffallend war, fehlte.
Gesichtsfarhe blaß, Lippen- und Munds(ddeimhaut gut gefärbt.
Schon die Erfahrung bei der ersten Inspeklion batte mich in
meiner Hoffnung beslärkl, den Eingriff auch bei diesem Kinde
im Säuglingsaller ohne Narkose durchführen zu können. Außer¬
dem wollte ich die Operation auch in der .\rt bewerkstelligen,
daß der Befund des Fremdkörpers den anwesenden Aerzlen demon-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
N-. 25
rtiU
striort werdcii konnte; icli halte mir daher bloß den C a sp er¬
stdien BeleiichlungSigriff mitgenommen. Vorliercitungen zu einer
eventuellen Tracheotomie ließ ich nicht treffen.
Das Kind wurde wieder bis zum Halse hinauf in ein Lein-
Imdi eingehüllt, von einer Schwester auf den Schoß genommen,
dei- Kopf von einem Gehilfen gehalten. Rachen- und Kehlkopf-
eingaug wurden einmal unter Leitung des (ungedeckten) Fingers
mit lüFdiger Kokainlösung gepinselt. Unschwer gelang es, das
zur Schonung der Stimmheänder mit einem weichen Katheter ar¬
mierte Rohr durch die Glottis hindurch in die Trachea ein¬
zuführen. Aber die Releuchtung des Gesichtsfeldes mit der
Casper sehen Lampe war bei der Enge des Tubus eine so
ungünslige, die Glanzlichter im oberen Teile störten derart, daß
es nicht gelang, einen hinreichenden Einblick zu gewinnen oder
gar andere an der Inspeklion teilnehmen zu lassen.®) 'Auch war
die Lampe der vorhandenen Stromquelle^, bzw. dem Rheostaten
nicht vollkommen angepaßt. Ich mußte daher die Untei’suchung
ahhrechen und sandte an die III. medizinische Klinik, um mir
meinen Rheostat und den Clarschen Stirnspiegel holen zu lassen.
Nach ungefähr drei Viertelstunden^ um ca. V2I Uhr, ^varen diese
Rehelfe zur Hand und nun ging alles relativ rasch von statten.
Ich verzichtete jetzt vollständig auf die Anwendung
von Kokain, da ich nach den bisherigen Erfahrungen zur üeber-
zeugung gelangt war, die Einführung des Tubus auch ohne dieses
Hilfsmittel — bei dem Alter des Kindes von fraglichem Werte
— bewerkstelligen zu können. Unter Leitung meines (unge¬
schützten) Zeigefingers gelingt es .Avieder, um die Epiglottis herunv
zukommen und das mit dem Katheter armierte Rohr in die
Trachea einzuführen. Die Unruhe des Kindes kann leicht durch
entsprechende Haltung behoben Averden, ebenso lassen sich die
durch Hustenstöße beAvirkten BeAvegungen ausgleichen. Nachdem
die im Tubus aufsteigenden Schleimhlasen mittels meines Aveichen
Aspiralionsschlauches ’') ahgesaugt sind, vermag ich das Gesichts¬
feld mit der Clarschen Lampe, auf das schärfste zentriert, zu
beleuchten. Ich erkenne den zarten Bifurkations'sporn und rechts
Amn demselben, auf ca. 1-5 cm tiefer rückend, finde ich ein
reiiiAveißes Gebilde die Lichtung versperren; scharf hebt sich
dasselbe von der geröteten Schleimhaut des Bronchus ah. Es
ändert seine Lage nicht. Eine Täuschung ist ausgeschlossen,
(;s muß in der Tat der Knochen sein. Er befindet sich in einer
Tiefe von ca. 13 cm Amn der Zahnreihe. Während ich unter¬
suche, hört man auch das „zVnschlagen“ des unteren Rohrendes
an den Fremdkörper; mit einer Sonde einzugehen, wäre ZAveck-
los geAvesen. Noch A'crmag ich kein Lumen zu finden. Unter
vorsichtig gesteigertem Drucke auf die vordere Wand tritt aber,
besonders bei tiefer Insi)ii'alion, ein kleiner, halbmondförmiger
Spalt in Erscheinung und ich sehe die jMöglichkeit, an dieser
Stelle, um die sich hier darhielende Kante des Knochens herum¬
zukommen. Während ich mich unter Avechselndem Drucke vor-
utid rückAvärls beAAmgc, um mich über die Konfiguration des Fremd¬
körpers zu orienlieren, Avijxl es mir immer klarer, daß' (;s sich
H
r
Fig. 3.
um ein plalteiiföiuiiges Kuochenfragmeiit handeln müsse, lliese
\'ersuche erfonk-rn Behulsamkeit, um beim respij'al.orischen Wogen
des Arbeitsfeldes keinen Uimül.zen Druck auf den Fremdkr)i'[)ei’
auszuüben, bdi veiinag dieserart eine Verletzung der Schlcim-
baut und Bildung zu Ami'ineidmi. Ich bin selbst erstaunt, trotz
der Enge des Gesicbtsfeldes einen so klaren Einblick in die
Situation zu geAvinnen; das .Vrbeitsfeld liegt ca. 38 cm (Länge
d('S Tubus 18 cm, Distanz der oberen Rohrmündung von der
®) Ich bemerke hier, daß die Casper sehe Lampe kürzlich durch
die Firma L. und H, Löwenstein (Berlin) hinsichtlich -ihrer Optik
verbessert AA^orden ist, indem das austretende Licht zentriert in den
Tubus gelangt und die den Einblick störende Dispersion an der oberen
Rohrmündung vermieden ist.
’) Bezüglich VerAvendung desselben vergleiche mein Buch 1. c.
S. 21 und 22.
Stimlampe ca. 20 cm) von dom untersuchenden Auge entfernt;
das Zimmer Avar nur zur Hälfte verdunkelt. UiiAvillkürlich bedauere
ich, den schönen Befund nicht auch den Aiwesenden demon- \
silieren zu können. Nach der Lage des Knochens, welche in
beistehender Figur 3 bei SV^facher Vergrößerung Aviedergegeben .-li
ist, konnte mit Hoffnung auf Erfolg an die Entfernung geschritlen ^
AAmrden, AvieAvohl cs mir klar Avar, daß es sich um ein Gebilde
Aujii ansehnlicher Größe handeln mußte.
Zur Extraktion hatte ich mir unsere Fremdkörper¬
pinzette mit nicht zu kleinen, gut gerifften, drehbaren
Branchen zurecht gelegt und zuvor die notwendige Länge '
des Instrumentes — ca. 1 cm mehr als jene des TAibus
— durch leichte Biegung seiner Leitröhrc und einen kleinen
Heftpflasterstreifen markiert. Ich Avußte dadurch genau, avo und
wie sich die Branchen öffnen Avürden; denn an dem Instrumente
vorbeizusehen, Avar nahezu ausgeschlossen. Dennoch gelang es
bei den Aveiteren Eingriffen für Augenblicke, den weißen Schimmer
des Knochens neben den Branchen zu erkennen. Alles kam darauf q
an, Avenigstens mit einer derselben Amn \mrne (ventralwärts) 1
her an der sich darbietenden Kante des Knochens herumzukommen
und die Branche in den halbmondförmigen Spalt vorzuschieben.
Nach der Lage des Fremdkörpers im Bronchus mußte ich den-
selben sohin mit sagittal gestellten Branchen, also senkrecht ■
auf die Richtung der Kante, zu erfassen trachten.
Ich verzichte auf die Benützung von Kokain oder Adrenalin. b
Das erstemal ist mein Eingehen vergeblich ; man hört deutlich das ' ;
Kratzen des Instrumentes, den „harten“ Klang des Tubus am i
Knochen. Ein Einblick überzeugt midi, daß ich eine Verletzung der
Wand vermieden habe. Es blutet nicht, nur einige! Schleimblasen he- j
ginnen hervorzuquellen. Alle Aufmerksamkeit ist darauf zu richten,
die KörperbeAAmgung des Kindes zu mildern und trotz der for¬
cierten Respiration Veränderungen des Cresichtsfeldeis auszu-
gleichen; dabei Avird entsprechender Druck auf die vordere Bron- ^
chiahvand ausgeübt, um dieselbe sanft abzudrängen und dieser- ^
art die Kante des Knochens nach Möglichkeit in der Mittellinie ^
zu erhalten. Es geht dies um so leichter, als ein hinreichender ^
Anteil des Rohres ca. 5 cm über den Oberkiefer vorragt, der sich
gut mit den Fingern der linken Hand führen läßt. Mittlenveile ß
sind einige Schleimblasen aufgetreten, die Avieder mit dem Kaut- ^
schukschlauch abgesaugt Averden. Unter Amrsichtigem Drucke mit
der geöffneten Pinzette gelingt es nunmehr, den Fremdkörper 2
während einer Inspiration zu erfassen. Ich fühle dies deutlich
am Schieber des Instrumentes und dadurch, daß ich die ge- *
schlossene Pinzette nicht mehr in den Tubus zurückziehen kann. !
Nun aber Avird die Sache kritischer. Ich versuche steigenden
Zug nach oben, doch es rührt sich nichts. Ich trachte durch ,
i'elalive Verschiebungen von Pinzette und Rohr die Wandspannung j
des Bronchialrohres zu mildern, aber es nülzt nichts; trotz be-
reils kräftigen Zuges folgt der Knochen nicht. Ich traue mich !
vorläufig nicht größere Kraft anzuAvenden und lasse daher den ^
gut gefaßten Fremdkörper Avieder ans. Eine abermalige Inspektion 3
überzeugt mich, daß der immerhin starke Zug ohne sichtbare W
Reaktion auf die Wandung geblieben ist; denn auch nach Aspi- 3
ration mit dem Schlauche tritt kein Blut im Gesichtsfelde auf. J
Ich gehe neuerdings ein, um den Knochen, jetzt rascher als ^
früher und in derselben Richtung, zu erfassen; aber Avieder der
gleiche Widerstand beim Exlraktionsversuche. Uh habe geradezu -J
das Gefühl, den Bronchialbaum, bzAv. die Lunge mitzuheben und w
lasse daher den Knochen abermals aus. Während alledem he- %
lehrt .mich der Gesichtsausdruck, im besonderen die Röte der
Lippen des Kindes, daß die Venlilation in hinreichendem Maße M
durch die im Tubus mehrfach angebrachten Löcher von statten s
geht; der Allgemeinzustand ist befriedigend. Wieder zeigt mir ß
die Inspektion des Arbeitsfeldes, daß auch die letzte Traktion S
ohne Folge, Blutung, geblieben ist. Für einen Augenblick eiwäge ■*
ich den Versuch, den Knochen trotz seiner anscheinenden Härte
zu morzellieren, um ihn Anelleicht auf diese Art herauszubringen, |-
AA’as aber Avieder in anderer Richtung gefährlich geAvesen Aväre. 'b
Das Fehlen einer bedenklichen Reaktion nach den bisherigen A
Eingriffen bestärkt jedoch meine Eiwartung, den Fremdkörper T'
trotz seiner festen Verankerung in to to nach außen zu fördern. .•
Ich führe jetzt Aumsichtig lockernde BcAAmgungen unter seitlichen '
und drehenden Exkursionen des Instrumentes aus, die ich durch
die Haltung des Tubus entsprechend unterstütze, dann .steigere W
ich den Zug unter Vergrößerung der lateralen BeAvegungen mehr
und mehr • — endlich unter bereits beträchtlichem, jedoch in
seiner Wirkung genau abgestuftem Zuge folgt der Knochen. Noch
immer macht sich störender Widerstaml füldbar. Indem ich die
BeAvegungen mit den Instrumenten fortsetze und den Kopf des
Kindes zur Entspannung der Teile neigen und in geeigneter
Weise drehen lasse, komme ich vorwärts. So vermag ich.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
761
währeiul icli den mit der Pinzette gefaßten Knochen fest an das
dishde Rolnende heranziehe, beide Inslrtnneide, znlelzt unter
gioßen in der Sagiltalen erfolgenden E.xknrsionen, olnie stärkeres
Hindernis ini Kehlkopfe glalt nacli außen zu fördern. Nocli in situ,
von den Branchen des Insirninentes erfaßd — vgl. Fi]g. 4 — .
konnle der Knochen den Anwesenden demonstriert werden; et
war nur an einer der Flächen von schwach rötlich fingiertem
Schleime bedeckt. A\ir sind über die Cfröthe desselben erstaunt.
Eine noch rasch ausgeführte Besichtigung der Schlund-
gegend mit dem Kehlkopfspiegel ließ, für einen Moment, da das
Kind hustet, einen Einblick in die Gloltis zu, so daß ich mich
noch überzeugen konnle, daß alles in Ordiumg war. Uehrigens
hatte ich das h(;stimmle Gefühl,- trotz des vorhandenen Wider¬
slandes nichts verletzt zu haben. Der währenddessen expekto-
Fig. 5 (nat. Größe).
rierte Schleim zeigte keine blutige Beimischung. Wie ne])enstehende
Fig. 5 zeigt, handelt es sich um ein flaches Knochenstück von
dreieckiger Gestalt, das seiner Struktur nach der Kortikalis eines
Röhrenknochens entspricht; die eine Fläche ist glatt, während
die andere, die im Bronchialhaume mehr nach abwärts gekehrt
war, Rauhigkeiten aufweist. Die Dimensionen des Fragmentes
betragen: Breite (a — b) 8-6 mm, größte Länge 11-5 mm, Dicke,
entsprechend der Kante h — c, 1-6 mm. Der Inhalt einer der
Flächen beträgt ca. 47 mnr, ist somit, was nicht ohne Interesse
erscheint, ca. 2V:;nnal größer als der Querschnitt (19-6 mm^) des
zur Extraktion verwendeten Rohres.
Ich glaubte die vorstehende Schilderung ausführlicdi
wiedergehen zu sollen, um die nicht unbedenkliche Situation und
die Schwierigkeiten zu beleuchten, welche hier zu überwinden
waren und die man in Anbetracht der Größe des Fremdkörpers be¬
greiflich finden wird. Die Verkeilung des Knochens an der Ver¬
zweigungsstelle des rechten Bronchus war eine so feste, daß
ich denselben, wie gesagt, zweimal ausließ, um mich erst über
die Wirkung des angewendeten Zuges zu urderrichten. Noch
in keinem meiner Fälle habe ich eine solche, allerdings vorsichtig
dosierte Kraftleistung, ausühen müssen, um den Fremdkörper
fjH'i zu bekommen. Trotzdem ging die Sache rascher von statten,
als es vielleicht iiach der gegebenen Darstellung scheinen könnte.
Der Eingriff dauerte von der ersten piüzisen Einstellung des
Knochens bis zu dessen definitiver Beseitigung ca. 11 Minuteii;
seine EnRvicklung, nachdem er das letzte Tlal gefaßt worden
war, aber gewiß 1 Minute. — Icli darf mir wohl die persönliche
Bemerkung gestatten, daß. mir die Extraklion des Fremdköi'pers
auch schon am ersten Tage und in <ter.selhen Weise gf-dungen
Wäre, wenn ich das passende Rohr von erforderlicher Länge
zur iland gehabt hätte.
Das Kind hot keine Zeichen der Erscdiöpfung; die Atmung
war entschieden ruhiger geworden. Temperatur nachmittags 4 Uhr
ßTMF Am Abend nahm das Kind Milch zu sich; das ruhige Ver¬
hallen beim Trinken bestätigt, daß sicher nichts verletzt worden
war. Tagsüber zwei breiige Stuhlerdlecrungen. Aliends 8 Uhr
Temperatur 38-1°; von einer genaueren Untersuchung wird Ab¬
stand genommen. Der erste Teil der Nacht verlief unruhig; das
Kind warf sich hin imd her, dann etwa von 2 Uhr an trat
liofor Schlaf ein. Die Respiration unhörhar. 10. Oktober:
Temperatur 38-2‘’. Frequenz deS' Pulses 170, der.selhe regelmäßig.
Nahrungsaufnahme (Milch) ohne Ansland. Stimme heiser; die
Respiration ruhig, gleiclnnäßig, ohne Einziehungen erfolgend. Ah
und zu trockener Husten. Die Körpertemperatur hält sich über
38”, um am Airende — vgl. beistehende Kurve, Fig. ß — Ibr
Maximum, 38-5”, zu erreichen; die Pulsfrequenz 180. Trotz
der Fieberhewegung der Gesamlzustand des Kindes befriedigeml.
Eine StUhlenileerung. 11. Oktober: Morgentemperatur noch
immer 38 ()”, aber die nächsten Messungen dieses Tages ergel)en
bereits Rückgang des Fiebers; Abendtemperatur. 38-1”. Das
Kind nimmt die ihm verabreichte Milch ohne Zeichen von Wider¬
willen oder Schmerzen zu sich. Ein deutlicher Entzündungsherd
ist weder in der rechten, noch in der linken Lunge nachweisbar.
Therapeutisch Dunstumschlag während der Nacht; das Kind wird
fleißig herumgetragen. • Eine Stuhlentleerung.
12. Oktober: Morgens noch 38-2”, dann beginnt die Tem¬
peratur mit Entschiedenheit abzufalten,' auch die Pulsfrequenz
ist im Laufe des Tages auf 150 und gegen Abend auf 126 herab¬
gegangen. Das Kind ist wesentlich frischer; es reagiert auf An¬
rufen und streckt die Hände aus. Unbelästigt atmet es luhig,
unhörbar; die Respiration erfolgt symmetrisch. Wenn sich das
Kind aufregt, wie bei der Untersuchung, so besteht leichter,
inspiratorischer Stridor, welcher die Auskultation der Lungen er¬
schwert. Das Atenigeräusch rechts im Bereiche des Oherlappens
verschärft, das Exspirium rauh und gedehnt; außerdeiu über der
ganzen rechten Lunge ab und zu mäßig zahlreiche, feuchte, nicht
konsonierende Rasselgeräusche. Bei der Perkussion scheint der
Schall rechts hinten oben etwas leerer als links zu sein; ein
deutliches Dämpfungsgehiet ist nirgends zu konstatieren. Herz-
aklion regelmäßig, die Töne rein. Das Abdomen nicht aufge¬
trieben, nicht gespannt, Stuhlgang normal. In den Nachmittags¬
stunden klingt der Husten entschieden ,, lockerer“ als an tlen
Vtertagen. Ahendtemperatur 37T”. 13. Oktober: Die Tempe¬
ratur ist tagsüber auf 37-2” herabgesunken; Pulsfrequenz 154.
Die Stimme des Kindes rauh, bei starkem S(direien ist die Heiser¬
keit jedoch gering. Freciuenz der Respiration ca. 35, dieselbe
erfolgt gleichmäßig. Nur hei Unridre des* Kindes ist noch leichter
Stridor hernerkhar, keine Hustenbewegung. Verschärfung des
yVtemgeräusches ist mit Sicherheit bloß rechts hinten oben nach-
weishar. Köiqiergewicht 6-8 kg; Nahrungsaufnahme befriedigend.
14. Oktober: Das Kind nahezu afebril ; Temperatur im Mittel
37-1”. Erscheinungen von Bronchitis fehlen. Zwei Stühlen tleerun-
gen. 15. Oktober: Körpertemperatur normal. Frequenz des
Pulses 124. Allgemeinbefinden vollkommen befnedigend. Körper¬
gewicht 6-5 kg. Nahrungsaufnahme reichlich. Objektiv ist
rechts bilden oben in größerer Ausdehnung Verschärfung
des Atemgeräusches vorhanden. Die Stimme des Kindes
noch immer heiser. 16. Oktober: Das Wohlbefimlen hält an;
letzte Messung 36-9”. Das Kind wird geheilt entlassen. — Viel¬
leicht wären, wenn ich die Extraktion schon am ersten Tage
(9. Oktober), also 17 anstatt ca. 41 Stunden nach item Ereig-
762
WlEAEll KLINISCHE WOCIIENSCHIUFT. 1907.
Nr. 25
nisse, hätte ausführen können, die genannten Erscheinungen
der Bronchopneumonie, die Fieberbewegung zu vermeiden
gewesen, die übrigens bereits nach drei Tagen geschwunden waren.
Am 25. Oktober 1906 wird das Kind in der pädiatri¬
schen Sektion der Gesellschaft für innere Medizin in Wien
vorgestellt.®) Die Stimme rein, kein Katarrh, die llespira-
tion symmetrisch. — Was die ferneren Schicksale des¬
selben anlangt, so sei, wiewohl dieselben für die Beurteilung
der Kranken-, bzw. Operationsgeschichte belanglos sind,
in Kürze berichtet:
Zunächst gedieh das Kind gut weiter. Mitte Januar 1907
trat nach heftigem Schreien eine kleine Nabethernie auf, welche
entsprechend behandelt wird. Bald danach stellte sich eine
Schwellung des vierten Fingers der linken Hand ein, flie rasch
vorüberging; gegenwärtig besteht eine spindetförmige, nicht
schmerzhafte Verdickung am zweiten Gliede des rechten Mittel¬
fingers, die seitens der Pädiater als Spina ventosa aufgefaßt
und entspi'echend l)ehandelt wird. Ich habe das Kind zuletzt
am 5. l\Iai 1907 wieder gesehen; es besitzt ein Körpergewicht
von 12 kg, hat also um 6 kg zugenommen. Befund der Thorax¬
organe vollkommen normal.
Bevor wir die Operationsgeschichte besprechen,
auf welche ich in dieser Mitteilung das Hauptgewicht legen
möchte, zunächst noch Einiges über die sonstigen Um¬
stände des Falles.
Wie mir ein erfahrener Pädiater erzählte, trifft man
in der Wiener Bevölkerung den Brauch, Milchkindern Wurst¬
stücke als ,, Kräftigungsmittel“ zum Saugen zu geben, nicht
so selten an. Auch hier war es ein Stück Wurst, idas den
Knochensplitter enthielt, welchen das Kind aspirierte. Als
das Knochenfragment in der Pinzette zum Vorscheine
kam, waren wir alle nicht wenig über die Größe desselben
erstaunt. — Dieser Befund fordert zu einer näheren Be¬
trachtung auf.
Würde man sich lediglich an die in den Handbüchern
der Anatomie gegebenen Daten halten, so erschiene es
allerdings befremdlich, wie ein Knochenstück von diesen
Dimensionen in die Trachea, bzw. den rechten Bronchus
eines zehn Monate alten Kindes gelangen konnte. Ohne
auf nähere Details einzugehen, wird nach F. Merkel und
anderen der Durchmesser der Fuftröhre für das erste Febens-
jahr mit rund 5 bis 6 mm angegeben, wobei individuelle
Schwankungen betont werden. Dabei ist der fron tale Durch¬
messer größer als der sagittale, anderseits aber wieder die
laiftröhre in letzterer Richtung dehnbarer. Die kürzeste
Kante des extrahierten Fremdkörpers betrug fast 9 mm, so
daß schon auf Grund obigen Wertes ein Findringen des be¬
schriebenen Knochenfragmentes in die Trachea ausge¬
schlossen erscheint und dies um so mehr, wenn wir l^e-
rücksichtigen, daß die Daten über das Finnen der Luft¬
röhre an der Leiche gewoninni wurden. Nicaise, sowie
Le jars haben nämlich gezeigt, daß die Weite der Trachea
und Bronchien nach dem Tode durch Wegfall des Muskel-
tomis der Hinterwand wesentlich größer als im Leben ist.
Lediglich auf Grund der anatomischen Daten, deren
Ueberlragung auf vitale Verhältnisse an sich schon (Starr¬
heit der Teile, Koagulationsvorgänge u. a.) bedenklich er¬
scheint, würde somit die Aspiration des Knochenfragmentes
nicht zu erklären sein. Hallen wir uns jedoch dieDehnbar-
keit der betreffenden Teile am lebenden Kinde, sowie
den mechanischen Effekt des inspiratorischen
Luftstromes vor Augen, so wird das Ereignis verständ¬
lich. Ich konnte seinerzeit, August 1901, bei einem elf
Moiiale alten Kinde mit einem Bohre von 6-7 mm äußerem
Durchmesser von der Tracheotoniiewunde aus in die Luft¬
röhre, sowie in den rechten und liidien Bronchus eingeheii,
ohne merklichen Widerstand übei'wiuden zu müssen. Aller¬
dings ist, wie ebenfalls Lejars^) 1901 betont hat, bekannt,
daß die Trachea nach dem lAiftröhrenschnille im Bereiche
(h'r eröffnelen Gegend, offenbar durch den Zug der Mus¬
kulatur ihrer Hinlerwand, weiter wird. Dach das nur mdjen-
b(d. Der Kuochen dürfte in unserem Falb' zunächst mit
®) Vgl. den bezüglichen Sitzungsbericht in der Wiener med.
Wochenschrift 1906, Nr. 46, S. 2261.
») Revue de Chirurgie 1891, Bd. 11, S. 337.
seiner Kante a — b in sagittaler Richtung, die Spitze vor¬
aus, in den Larynx gelangt, bis in den subchordalen Raum
vorgedrungen und daselbst vorübergehend stecken ge¬
blieben sein. Hier löste er Hustenstöße mit tiefen In¬
spirationen aus, während welcher die Glottis ad maxi¬
mum erweitert und der Knochen durch den nachstürzenden
Luftstrom in die Trachea geschoben wurde. Dies konnte
um so eher geschehen, wenn seine Fage anfänglich eine
solche war, daß er dem Luftstronie eine günstige Angriffs¬
fläche (Quersteilung) hot. Weitere, den Hustenstößen vor¬
ausgehende Inspirationen werden ihn nun ruckweise in die
Tiefe gezogen haben und dies um so leichter, je mehr er
auf seinem Wege nach, abwärts den Querschnitt der Trachea
beeiiiträchtigte.
Die Druckdifferenzen, welche für diese Vor¬
gänge maßgebend sind, können beträchtliche sein. Wie
ich mich im Zusammenhänge mit anderen Unter¬
suchungen^*^) durch direkte Messung ■ — allerdings am Er¬
wachsenen — überzeugt habe, können bei Verstopfung der
Trachea mittels Tamponkatheters negative Schwankungen
in der Größe von bis Vs Atm. auftreten und der Unter¬
schied zwischen exspiratorischem Drucke heim Pressen und
tiefstem Zwerchfellstande sogar Vs Atrn. ausmachen. Ohne
auf eine mathematische Betrachtung der kinetischen
Energie des Luftstromes (Bonders, Meißner,
Reichmann, Geigel u. A.) einzugehen, von welchem
der Fremdköri>er getroffen, bzw. fort gerissen wird,
sei hier nur angedeutet, wie sich die Verhältnisse schon
in rein statischer Richtung gestalten können. Nehmen
wir eine Dichtung der Luftröhre, D. = 6 m, an, die der
Knochen auf seinem Wege nach abwärts temporär verlegt
haben mag, so konnte sich auf den bezüglichen Querschnitt
von 28-3 mnU ein Druck geltend machen, der einer plötz¬
lichen Belastung des Knochenstückes um ca. 112 g ent¬
spricht. In Wahrheit kommt es jedoch auf die Geschwin¬
digkeit und Reibung des Luftstromes an, um den dyna¬
mischen Effekt, bzw. die Arbeitsleistung desselben be¬
urteilen zu können. In dieser Hinsicht wäre auch auf die
Bildung von Luftwirbeln Rücksicht zu nehmen, welche das
Druckgefälle an einzelnen Stellen beträchtlich zu ändern
vermögen. Ferner ist darauf zu verweisen, daß das Kaliber
der Luftröhre bei Kindern, wie ich in meinem Buche, ^')
in Uebereinstimmung mit Pieniäzek und FTetcher-
Ingals erörtert habe, durch die Respiration beein¬
flußt wird. Und zwar dürfte durch vertiefte, rasche In¬
spirationen nicht nur eine relative (gegenüber der Ver¬
engerung bei forcierter Exspiralion), sondern, infolge der
größicren Dehnba.rkeit des Tracheobronchialrohres im kind¬
lichen Alter, auch eine reelle Erweiterung der Lich¬
tung stattfinden. Diese Kaliberschwankungen werden bei
angestrengter Respiration infolge Vergrößerung der im Zeit¬
differential entstehenden intra- und extratrachealen Druck¬
differenzen um so ausgesprochener sein.^^) Wir verstehen
dieserart, wie durch die Wirkung der bei der Inspiration
sozusagen von oben erfolgenden Luftstöße einerseits und
der Veränderungen des Kalibers, inspiratorische Er¬
weiterung, andererseits eiiiTief er rücken des Knochens
zustande kommt. Unterstützt wird dieser Vorgang durch die
Spannung, bzw. die Kontraktion der Ringmuskulatur der
hinteren Trachealwand, die ein Zurückweichen des Knochens
gegen den Kehlkopf verhindert und dazu beitragen mag, den-
sellien tiefer zu schieben. Der durch den Fremdkörper ver-
ursachle Reiz führt zu gesteigerler Schleimi)roduklion, wo-
*“) Verfahren zur Bestimmung der maximalen Arbeitsleistung
der Atemmuskulatur.
”) 1. c., S. 125 bis 135.
Ausführliche Angaben über die Dehnbarkeit des Tracheo¬
bronchialrohres (Nicaise 1899) in verschiedenen Lebensaltern und bei
bestimmt variiertem Drucke sind bisher noch ausständig. Wir
hoffen über solche Studien, die nach Analogie der von Thoma und
seinen Schülern sowie von Straßburger an den Arterien vor¬
genommenen Versuche angestellt werden sollen, demnächst berichten
zu können. Ebenso behalte ich mir vor, auf eine rechnerische Betrachtung
der mechanischen Arbeit des respiratorischen Luftstromes zurück¬
zukommen.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
763
durch die Wandung schlüpfriger und die Reibung des durch
den Luftstrom getriebenen Knochens yermindert wird.
Er kommt an die B i f u r k a t i o n s s t e 1 1 e und tritt in¬
folge der günstigeren anatomischen Verhältnisse, größere
Weite und Steilheit des rechten Bronchus gegenüber
dem linken, sowie unter dem stärkeren inspira¬
torischen Zuge C, Bungenkapazität“ von rechts zu links
wie etwa 100:80) in den rechten Bronchus ein, bis
er durch den sich steigernden Widerstand aufge¬
halten lind fixiert wird. Die Streckung des
Bronchialbaumes während der Inspiration (Tendeloo,
H. V. Schrott er), durch welche vorhandene Winkel ge¬
mildert werden, begünstigt das Vordringen des Frernd-
körpors nach der Tiefe hin. Dort wird er durch die reak¬
tive Schwellung der Schleimhaut, das wulstformige Vor¬
ragen derselben über die Knochenränder, sowie durch Kon¬
traktion der Bronchiahnuskulatur festgehalten. Hiezu kommt
noch die Wirkung zeitweise auftretender Hustenstöße, durch
welche, wie auch G. Gottstein,^^) sowie P. Tetens-
Hald^^) betonen, der FremdköiTper nur um so fester in
den Bronchus hineingetrieben und die Verkeilung gestei¬
gert wird. Gottstein (S. 379 seiner Mitteilung) hat im
besonderen die Schwierigkeiten der Elimination eines, den
Bronchus vollständig obstruierenden Fremdkörpers vor
Augen, wobei er bemerkt, daß der Druck unterhalb des¬
selben, also in dem abgesperrten Bezirke, jenem der äußeren
Atmosphäre gleichkomme. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß ,,im Momonte des Hustenexspirationsstoßes“ ein und
zwar beträchtlicher Ueber druck gegenüber jenem der
Luft in der mehr minder verschlossenen Seite auftreten
und dadurch ein vorhandener Fremdkörper nur noch fester
verkeilt werden muß. Nur darf man nicht der Vorstellung
Raum geben, als ob in dem abgesperrten Lungenlappen
keine respiratorischen Druckschwankungen zustande kämen.
Auch die Lungen-, bzw. Bronchialluft dieser Seite wird beim
Husten zusammengepreßt, wie man sich mittels eines Bal¬
lonkatheters und manometrischer Messung überzeugen kann ;
ich verweise in dieser Richtung auch auf eine Kurve, die
bei einer Patientin, A. P., mit hochgradiger Stenose des
linken Hauptbronchus (cf. mein Buch, S. 322) im angedeu¬
teten Wege gewonnen wurde. Richtig aber ist, wie gesagt,
daß der Druck in der Trachea im Momente des Husten¬
stoßes wesentlich jenem überlegen sein muß, der unter¬
halb des Fremdkörpers zustande kommt. Außer der ver¬
minderten oder bei längerer Dauer der Obstruktion (Atelek¬
tase) so gut wie fehlenden Vis a tergo ist die Elimination
eines über die Bifurkation hinaus vorgedrungenen Fremd¬
körpers noch dadurch erschwert, daß die Bronchien beim
Husten verengt, die Abgangs winkel vergrößert, der Bron¬
chialbaum bis zu einem gewissen Grade zusammengeschoben
werden. — Dadurch, daß der Husten unter den genannten
Umständen die Verschiebung eines Fremdkörpers nach der
Peripherie befördert, steigert er auch die Gefahr entzünd¬
licher Komplikationen.
Doch wir können hier nicht ausführlicher auf diese
Verhältnisse eingehen. (Schluß lolgt.)
Aus dem klinischen Ambulatorium für Nervenkranke
in Wien. (Vorstand : Hofr. v. Wagner.)
Ein Fall von Scheuthauers „Kombination rudi¬
mentärer Schlüsselbeine mit Anomalien des
Schädels“. (Dysostose cleido-cränienne.*)
Von Privatdozent Dr. Alfred Fuchs, klinischem Assistenten.
Meine Herren ! Ich erlaube mir. Ihnen einen Fäll vor¬
zustellen, welcher zwar w^eniger direktes neurologisches
Interesse besitzt, als vielmehr wegen der Seltenheit der
Mitteilungen aus den Grenzgebietender Medizin und Chirurgie, 1907.
Suppl. Bd. HI, S. 270.
>9 Sitzungsber. des dänischen oto-laryngologischen Vereines vom
17. Dezember 1906; s. Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1907, Nr. 4, S.223.
*) Demonstration in der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte,
7. Juni 1907.
Symptomengruppierung .bemerkenswert erscheint. Es han¬
delt sich nämlich um eine angeborene Mißbildung, eine
,, Kombination rudimentärer Schlüsselbeine mit Anomalien
des Schädels“, wie sie von S che uthauer ^) zuerst be¬
schrieben wurde. Pierre Marie und P. Sainton^) haben
diese Anomalie als ,,D y s o s t o s e c 1 e i d o - c r ä n i e n n e h e r c-
ditaire“ bezeichnet, unter welchem Namen in der Literatur
eine Reihe analoger Beobachtungen verzeichnet erscheinl.
ln letzter Zeit hat auch M. Klar'^) diesem Gegenstände
eine Abhandlung gewidmet. Ferner findet sich eine Zu¬
sammenstellung .der Literatur über diese merkwürdige Aliß-
bildung bei Maurice V i 1 1 a r e t und Louis F r a n co z,'^) welche
die erwähnte Nomenklatur von Marie und Sainton ak¬
zeptierend, unter der Bezeichnung der ,, Dysostose cleido-
cränienne“ eine Familie von vier Mitgliedern beschreiben,
welche dieselben Erscheinungen boten. Die Autoren zitieren
auch als hiehergehörend einen in Wien von Preleitner^)
beschriebenen Fall von angeborenem partiellen Klavikular-
defekt. Die radiologische Seite der Sache behandelt
Schüller in seinem Atlas ^) unter Bezugnahme auf Prä¬
parate des Wiener pathologischen Museums.
Der vorliegende Fall betrifft einen 23 Jahre alten Mann,
welcher wegen eines Konjunktivalkatarrhes die Klinik des
Herrn Hofr. Schnabel aulsuchte und von dort zur Unter¬
suchung seines auffallenden Schädels an uns gewiesen
wurde (wofür ich Herrn Koll. Laub er sehr dankbar bin).
Aus der Anamnese des Patienten, welcher die Sym¬
ptome der Alißbildung in sehr charakteristischer, mit, den
in der Literatur bekanntgegebenen Fällen vollkommen kon¬
gruenter Weise bietet, ist nur hervorzuheben, daß er ein
Zwillingskind ist. Der andere Zwilling starb bald nach .der
9 Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 1871, Nr. 37, S. 293
Bulletins de la Soc. mdd. des höpit. de Paris 1897 und 1898-
9 Osteodysplasie der Schlüsselbeine, der Schädeldeckknochen und
des Gebisses. Zeitschrift für orlhop. Chirurgie 1906, Bd. 15, S. 424.
Iconographie de la Salp6triere 1905, S. 303.
9 Wiener klin. Wochenschrift 1903, S. 70.
9 1905, S. 54.
764
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
Gcl)nrl und ist über dessen Aussehen nichts zu ermitteln.
Weder die Eltern noch die Geschwister des Mannes, von
welchen mehrere ani Leben sind, noch sonst jemand in der
Familie, sollen so auffallende Schädelbiklungen haben, sollen
auch alle viel größer sein als er. Er ist 148 cm lang und
in auffallendem Gegensätze zu dieser niedrigen Statur steht
sein ]iach Art eines Hydrozephalus enorm envoitertes Kra-
nium (Zirkumferenz 62 cm, Ouerumfajig 40V2 cm, sagittal
— Nasenwurzel — protub. occip. 38 cm).
An dem Schädel kann man die offen gebliebenen Fon¬
tanellen und Nähte sehr gut tasten. An Stelle der Schlüssel¬
beine finden sich frei flottierende, kurze und schmale
Knochenspangen, rechts 5 cm, links 6 cm lang, mit spitzig
zulaufenden Enden, so d.iß man auch diesem Patienten
die Schultern bis zur vollkommenen Berührung nach vorne
Zusammenlegen kann. (Siehe Abbildung.)
Ferner hat der Mann eine verkümmerte Bildung der
Kiefer, des Oberkiefers sowohl als des Unterkiefers, auf
welches Vorkommnis inshesondere auch Klar (l. c.) auf¬
merksam macht, wobei das ganze Gebiß des Mannes aus
zebn Zähnen besteht (wovon drei Molares, vier Prämolares,
zwei untere Eckzähne und ein mittlerer oberer Schneide-
zabn).
' Aeußerlich sowohl als durch Tästbefund sind keine
weiteren Skelettanomalien nachweisbar, welche vielleicht erst
bei der von Koll. Schüller vorgenommenen llöntgenunter-
suchung sich ergeben werden. Die Untersuchung ergibt auch
sonst keinen pathologischen Befund, weder an den Organen,
noch ajii Zentralnervensysteme; insbesondere ist auch das
psychische Verhalten des Mannes durchaus normal und be¬
sitzt derselbe eine seine Bildungsstufe (er ist Bürstenbinder)
sogar überschreitende Intelligenz.
So interessant die hier in Betracht kommenden ana¬
tomischen Fragen sind, so ist das neurolögische Interesse
trotz der enormen Schädeldeformation, in den bisher belcannt
gewordenen Fällen, mangels weiterer Defekte des Zentral-
nervensystemes ein begrenztes. Daisselbe beschränkt sich
zunächst auf den Umstand, daß, entsprechend dem Defekte
des knöchernen Schultergürlels, meist auch Muskelaplasien
des Schultergürtels beobachtet werden. Bei dem vorgestellten
Manne z. B. eine defekte (wenn nicht ganz fehlende?) An¬
lage der Musculi infraspinati, wodurch die Schidterblätter
ein eigentümliches Aussehen erlangen.
Aus der Prosektur und dem bakteriologischen Institut
der mähr. Landeskrankenanstalt in Brünn. (Vorstand :
Prosektor Priv.-Doz. Br. C. Sternberg.)
lieber den Nachweis von Milzbrandbazillen an
Pferdehaaren.
Von Dr. Atlianas Tlieodorov, Sofia.
Die in Nummer 22 dieser Zeitschrift von Begimentsarzt
Dr. V. K. Buß veröffentlichte Mitteilung: Ueber den 'Nach¬
weis von Milzbrandbazillen an Pferdehaaren, und die
geringe Zahl einschlägiger lleobachtungen bilden die Ver¬
anlassung zur Publikation eines Falles von Milzbrand, der
vor kurzem in der hiesigen Prosektur zur Obduktion kam
und in dem es gleichfalls gelang, die lnfeklionsq.uelle —
auch in diesem Falle Pferdehaare — bakteriologisch ein¬
wandfrei festzustellen. Fs dürfte die Mitteilung vielleicht
auch deswegen von Interesse sein, da sich bei der Unter¬
suchung dieses Falles, wie aus den folgenden Ausführungen
}c:r- orgehen wird, einige interessante Nebeiibefunde ergaben
und. i's in unserem Falle auf relativ einfacherem Wege ge¬
lling, n ist, den bakteriologischen Nachweis der Alilzbrand-
bazillen an Pfordehaaren zu führen. Die von anderen Unter¬
suchern geübte i\Iethodik (Gruber bei Pferdehaaren, Heim
bei Ziegenhaaren) ist in der erwähnten Mitteilung von Buß
geschildert.
Maiie P., 37 Jahre, im zehnten Monate gravid, ließ sich
wegen eines fieberhaften Zustandes am 28. Mai in die tuesige
Landesgehäranstalt (Direktor Regierungsrat Prof. Dr. Rieilinger)
aidnelnnen, woselbst eine akute Laryngitis festgestellt wurde,
Pat. wurde deshalb in die Landeskrankenanstalt auf die Abteilung
des Herrn Prim. Katholitzky transferiert. Da die Atein-
beschwerden Zunahmen, wurde hier die Tracheotomie ausgeführt.
Die Ki'anke start) nach einer halben Stunde, worauf die Sectio
caesaixia in raortua vorgenommen und eia totes Kind entwickelt
wurde.
Dem ])ei der Oliduktion aufgenommenen Protokolle (Pro-
sektor Priv.-Doz. Dr. C. Sternberg) sei hier folgendes ent¬
nommen : Die äußere Besichtigung ergab außer der Tracheotomie-
und der Laparotondewunde keinen besonderen Befund. Die
weichen Schädeldecken gerötet, das Schädeldach oval, dünn, mit
einem leichten Osteophyt an der Innenfläche. Die Dura mater
gespannt, die inneren Hirnhäute zart, über der Konvexität des
Stirnhirns und stellemveise auch über dem Kleinhirn mit kleinen
und einigen größeren Blutaustritten (namentlich entsprechend den
Furchen) bezeichnet, sonst keine Blutungen aufweisend; stellen¬
weise, so namentlich über den Schläfelappen, sind die Meningen
mit leicht getrübter Flüssigkeit durchtränkt. Die Substanz des
Gehirnes auffallend ödematös, teigig weich, wenig blutreich, stellen¬
weise sehr blaß; namentlich die Substanz des Stirnhirnes sehr
weich, ln den Seitenventrikeln klare Flüssigkeit.
Unterhautzellgewehc fettreich, Muskulatur welk, blaß. Im
linken Pleuraraume etwa ein halber Liter blutige Flüssigkeit;
beide Lungen frei, lufthältig, nur im linken überlappen, nahe
der Oberfläche, ein durch die Pleura durchschimmernder, nuß-
großer, derbelastischer, ziemlich scharf begrenzter, dunkelroter,
luftleerer Herd, wn dein sich am Durchschnitte eine geringe
Menge hämorrhagischer Flüssigkeit abstreifen läßt. Die rechte
Lunge allenthalben lufthältig, mäßig blutreich.
Das Zellgewebe im vorderen Mediastinum hochgradig ödema¬
tös durchtränkt, über der Herzspitze fast schwappend. Im Herz¬
beutel einige Tropfen klaren Serums ; das Herz von entsprechender
Größe, die Klappen zart und schlußfähig; das Herzfleisch blaß,
mürbe, leicht zerreißlich.
Die Milz auf das Drei- bis Vierfache vergrößert, mit ge-^
spannter Kapsel, sehr weich, am Durchschnitt blaurot, reichlich
Pulpa ausstreifbar.
Die übrigen Bauchorgane zeigen keinen besonderen Befund,
weswegen ihre Beschreibung hier unterbleiben kann.
Die Tonsillen nicht vergrößert, die Schleimhaut des weichen
Gaumens blaß, die aryepiglottische Falte hei’der.seits geschwollen
und gerötet, ebenso die Schleimhaut der Epiglottis und des Kehl¬
kopfes. In der Vorderen Wand der Trachea findet sich eine
Schnittwunde (Tracheotomiewunde), die Schleimhaut der laift-
röhre stellenweise mit Blutungen bezeichnet. Die Lymphdrüsen
an der rechten Halsseite, wie die hronchialen Lymphdrüsen beider¬
seits beträchtlich vergrößert, sehr weich, dunkelrot, wie blutig
infarziert, von der Scbnittfläche reichlich blutige Flüssigkeit aus-
streifbar. /
Die Sektion des der Leiche beigegebenen, durch Sectio
caesarea enthundenen Kindes ergibt keinen pathologischen Befund.
In Deckglaspräparaten aus dem hämorrhagischen Infiltrate
der Meningen Und dem Oedeni im Zellgewehe des vorderen Me¬
diastinums fanden sich reichlich einzelne und in langen Ketten
angeordnete, typische Milzhrandbazillen, wodurch die bereits ana¬
tomisch gestellte Diagnose Milzbrand bestätigt war.
Zur hakteriologischen Untersuchung wurden der Gehirnrinde
samt Meningen, den dunkelroten, weichen Lymphdrüsen am Halse,
dom mediastinalen Zellgewehe, dem Lungenherde und der Milz
Stückchen entnommen, mit steriler Kochsalzlösung verrieben und
von den resultierenden Aufschwemmungen je etwa V2 cm"^ Mäusen
intraperitoneal injiziert. Außerdem erhielt ein Meerschweinchen
1 enri eines Gemisches von IMilzsaft und Oedemflüssigkeit intra¬
peritoneal injiziert. Von denselben Organen wurden Kulturen
auf Agar und Gelatine angelegt.
Die vom Gehirn und von der Milz angelegten Kulturen
ergaben reichliches Wachstum typischer Milzbrandbazi 1 ten, die
sich im Tierversuche als sehr virulent erwiesen. Aus den übrigen
Organen (Lymphdrüse, Lunge und Oedeni) gelang der kulturelle
Nachiveis nicht.
Sämtliche geimpften Mäuse erlagen der Infektion, und zwar
teils in weniger als 24 Stunden, teils (die mit Lymphdrüsen und
Lungensaft injizierten Mäuse) nach etwa 36 Stunden.
Der Sektionsbefund war bei allen Mäusen im wesentlichen
identisch. \Mn sämtlichen Tieren wurden aus dem Peritoneal¬
exsudate, aus dem Milzsafte und aus dem Herzhlute Deckglas¬
präparate angefertigt und Kulturen angelegt. Das Ergebnis war
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
765
diMchw'Cg oin positives, indem überall IMil/dirandbazillen gefunden
wurden.
Das geimpfte Meerschweinchen ging nach 2i SLunden ein
Die haktei'inlogische Uiitersuchnng der Organe ergab gleichfalls
einen positiven Hefund.
Envähnl sei noch, daß, mit zweien der Vers'uclisniänse im
seihen Gefäße eine dritte, nicht geimpfte Maus eingesperrt war;
dieselho hatte ein«' der an Milzbrand eingegangenen Mäuse,
welcher die Rrustorgane fehlten, aji, genagt. Auch diese Mans
nmrde ungefähr 24 Stunden später tot anfgefunden. Die hak-
teriologische Unters'uchnng der Organe dieser Maus ergab im
Herzblute und im Milzsafte reichlich Milzhrandbazillen. Im Darm¬
inhalte gelang der Nachweis derselben nicht.
Von dieser Maus wurden Stückchen vom Darme, ferner
eine mesenteriale Lymphdrüse, welche makroskopisch schwärz¬
lich aussah, und die Milz histologisch untersucht. Die Darm¬
wand zeigte keine besonderen Veränderungen (Blutungen oder
Entzündungserscheinungen). Bei Gr am scher Färbung fanden sich
in den oberflächlichen Lagen der Schleimhaut, sowie in den
Follikeln vereinzelte Gram-positive Bazillen, die morphologisch
vollkommen Milzhrandbazillen entsprachen. In der Milz fand sich
eine große Menge typischer jMilzbrandhazillen,. allentharben in der
Pulpa zwischen den Follikeln, während diese selbst frei blieben.
Die Bazillen lagen in großen Nestern und Zügen beisammen,
zum Teile innerhalb der Bluträume. Die Mesenterialdrüse erwies
sich bei der histologischen Untersuchung sehr zellreich, die Lymph-
sinus beträchtlich erweitert, ihr Endothel desquamiert. Milzhrand¬
bazillen fanden sich in der Drüse vereinzelt, etwas zahlreicher
sind sie im umliegenden iFettgewebe nachweisbar, woselbst man
sie auch im Lumen großer Blutgefäße findet.
Von der Leiche der Verstorhenen wurden Stückchen aus
dem Stirnlappen des Gehirns, aus dem im Protokolle erwähnten
Herde des linken Oherlappens und aus der Milz histologisch
untersucht.
Der Herd in der Lunge zeigt bei mikroskopischer Unter¬
suchung in seinem peripheren Anteile die Alveolen vollständig
dui'ch ein fihrinreiches, zellarmes Exsudat ausgefüllt. Die Al¬
veolarwandungen erscheinen verbreitert, reichlich von ein- und
mehrkernigen Leukozyten durchsetzt und enthalten in der Um¬
gebung der Kapillaren feinkörnigen Detritus. Im Zentrum des
Herdes findet sich eine umfangreiche, unscharf begrenzte Blutung,
innerhalb welcher nur vereinzelte Reste von Alveolarwandungen
sichtbar sind. Zwischen dieser Blutung und dem beschriebenen
Gewebe findet sich ein breiter Streifen, innerhalb dessen weder
Alveolarwandmigen, noch elastische Fasern sichtbar sind, der
vielmehr von Detritus gebildet wird, dem vereinzelte Chromatin¬
schollen, Kerntrümmer und ab und zu noch erhaltene Kerne
von ein- Und mehrkernigen Leukozyten beigemengt sind. Bei
Fibrinfärbung zeigt sich in dem früher beschriebenen, mehr peri¬
pheren Anteile ein reiches Fibrinnetz. Bei Bakterienfärbung finden
sich allenthalben im Bereiche dieses Herdes sehr zahlreiche
typische Milzhrandbazillen, namentlich in großer Menge in den
weiten Lymphräumen unter der Pleura.
Entsprechend dem makroskopischen Befunde finden sich
auch mikroskopisch Blutaustritte unter den Meningen, nament¬
lich über den Furchen; in denselben sind auch herdweise An¬
häufungen von ein- und mehrkernigen Leukozyten in einem zarten
Fihrinnetze zu sehen. Bei Gram-Färbung finden sich an diesen
Stellen typische Milzhrandbazillen. Die Milz zeigt keine beson¬
deren Veränderungen; in den nach Gram gefärbten Pj’äparaten
finden sich in der Pulpa zerstreut Milzhrandbazillen.
Außerdem wurden von dem Fötus der Leiche Leber und
Älilz bakteriologisch untersucht. Weder kulturell, noch durch Ver¬
impfung auf Mäuse gelang in diesen Organen der Nachweis von
Milzhrandbazillen ; die Versuchstiere blichen dauernd gesund.
Durch diese Untersuchungen war die auf Grund des
anatomischen Befundes bereits gestellte Diagnose Milzbrand
einwandfrei erwiesen.
Die von Herrn Stadtphysikusstellvertreler Dr. Koka 11
gepflogenen eingehenden Erhebungen über den Ursprung der
Erkrankung, für deren freundliche Ueberlassung wir Herrn
Dr. Kok all auch an dieser Stelle unseren wärmsten .Dank
aussprechen, ergal)en, daß die Verstorbene H^iimarbeiterin
der Preßtücherfabrik S. in Brünn war und daß .sie sich mit
dem Flechten von Roßhaaren zu Preßtüchern beschäftigte.
Nach Aussage ihrer Angehörigen soll sie in den letzten Tagen
Husten mit blutigem Auswurf gehabt haben und auch ihre
Kinder, sowie einige andere Personen in der Umgebung, die
der gleichen Beschäftigung o])liegen, sollen angeblich ähn¬
liche Erscheinungen aufweisen.
Die genannte Firma S. in Brünn hatte vor ungelahr
drei Monaten von dem Tierhaarexporleur B. in Moskau zwei
Waggons Roßhaare bezogen, welche in ca. 70 kg schweren,
in Sackleinen verpackten Ballen hier einlrafen und nach
und nach verarbeitet wurden.
Die genannte Firma bat einen eigenen Dampfreini¬
gungsapparat Rir Roßhaare; da ihr jedoch derselbe nicht
genügend verläßlich erschien, hatte sie seit einent Jahre
mit der Lohefärberei G. in Bimnn ein Abkommen behufs
Reinigung und Entfettung der Roßhaare getroffen. Die bei
dieser Firma gleichzeitig gepflogenen Erhebungen ergaben,
daß die Roßhaare zunäclist in Ballen durch eine Viertel¬
stunde in einem Kessel mit kochendem, mit Soda versetztem
Wasser eingelegt und sodann einem Waschprozeß, eventuell
einer Färbung unterworfen werden. Die auf diese Weise
gereinigten Roßhaare kommen dann zur Strähnebildung in
die Firma S. zurück, von wo die fertigen , Strähne zum
Flechten der Preßtücher in Rahmen an Heimarbeiter ins
Haus abgegeben werden. Die Firma S. beschäftigt gegen¬
wärtig 44 Familien von Heimarbeitern, darunter 30 in
Königsfeld ; unter letzteren befand sich auch die Marie |P.
Auf Grund dieser Erhebungen wurden von Herrn
Stadtphysikusstellvertreter Dr. Kokall eine Reihe von Ver¬
fügungen getroffen, so auch die Sterilisation sämtlicher bei
der Firma S. lagernden Roßhaare durch die städtische Des¬
infektionsanstalt angeordnet, obwohl diese Roßhaare, aus
Rußland kommend, das Eingangszertifikat an der österreichi¬
schen Grenze besitzen müssen.
Vor der Desinfektion wurden von Herrn Dr. Kokall
ans zwei Ballen ungereinigter Roßhaare, sowie aus je einem
Ballen gereinigter PLoßhaare der Firma S. und einem Ballen
gefärbter Roßhaare der Firma G. Proben entnommen und
dem Prosektor Priv.-Doz. Dr. C. Sternberg, zur bakterio¬
logischen Untersuchung übergeben.
Dieselbe wurde in der Weise durchgeführt, daß aus
jedem dieser Päckchen eine kleine Menge Haare fein zer¬
schnitten und etwa eine Stunde in steriler Kochsalzlösung
ausgelaugt wurde. Von der resultierenden trüben Flüssig¬
keit wurde je 1 enU Mäusen intraperitoneal injiziert. Von
diesen Versuchstieren ging nur eines (etwa nach 36 Stunden)
zugrunde, welches mit dem Waschwasser einer Probe un¬
gereinigter Roßhaare geimpft worden war. Die Obduktion der
Maus ergab den gleichen Befund wie die der früher er¬
wähnten Versuchstiere. Die bakteriologische Untersuchung
des Peritonealexsudates, Milzsaftes und Herzblutes, sowie
die histologische Untersuchung der Milz und Leber ergaben
sehr reichlich typische Milzhrandbazillen.
Ein Vergleich des aus diesem Tiere gezüchteten Milz¬
brandstammes mit dem direkt aus der Leiche kultivierten
Stamme ergab, daß beide imgefähr die gleiche Virulenz im
Tierversuche aufwiesen. Die mit diesen Stämmen infizierten
Mäuse gingen noch vor Ablauf von 24 Stunden ein und ließen
aus ihren Organen Reinkulturen von Milzbrandbazillen ge¬
winnen.
Gelegentlich der, wie vorhin erwähnt, vom Stadt-
physikat angeordneten Desinfektion der verschiedenen Ballen
Roßhaare in der städtischen Desinfektionsanstalt wurde da¬
selbst die Wahrnehmung gemacht, daß die Roßhaare vielfach
noch mit verwesten Hautstücken im Zusammenhänge
standen, die infolge der Fäulnis einen penetranten Gestank
verbreiteten. Aus einem Ballen fiel auch eine Kugel heraus,
wie solche sich in Sprenggeschossen vorfinden. Mit Rück¬
sicht hierauf und in Berücksichtigung der Tatsache, daß die
Haare aus Rußland stammten, wurde vom Stadtphysikate
der naheliegende Verdacht ausgesprochen, ,,daß die tieri¬
schen Produkte direkt von Pferdekadavern des russisch-
japanischen Krieges stammen. Daß hiedurch die Verbreitung
nicht nur von Milzbrand, sondern eventuell auch anderer
Krankheiten eine drohende ist, wird durch den Umstand er-
WIEJVER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 25
I üü
leichtert, als diese Haare an der Einbriichstelle in Oester¬
reich keiner Desinfektion unterzogen werden.“
Aus ähnlichen Erwägungen sah sich das Brünner
Stadtphysikat bereits im Jahre 1903 veranlaßt, an das
k. k. Ministerium des Innern im Wege der k. k. mährischen
Statthalterei mit einer Eingabe heranzutreten, in welcher
um entsprechende Regelung der einschlägigen Verhältnisse
angesucht wurde; auch damals kamen nämlich unter den
Arbeitern der früher genannten Firma S. Milzbraiiderkran-
kuiigen vor. In Erledigung dieser Eingabe wurde, wie wir
dem betreffenden Akte entnehmen, mit Erlaß des k. k. Mini¬
steriums des Innern, Z. 39.479/106 — 2, eröffnet, ,,dah über
die Frage der Desinfektion der tierischen Haare z-um Zwecke
der Verhütung von Milzbrand erkrankungen bereits ein Gut¬
achten des k. k. Obersten Sanitätsrates vorliegt und daß
wegen Durchführung der von dem genannten Fachrate be¬
antragten Maßnahmen Verhandlungen im Zuge sind“. Diese
Erledigung ist vom 29. September 1903 datiert; leider
scheinen die erwähnten Verhandlungen auch heute noch
nicht zu Ende geführt zu sein.
Fassen wir die übrigen Ergebnisse der Untersuchung
dieses Falles zusammen, so wäre noch einiger Umstände
besondere Erwähnung zu tun.
Bemerkenswert ist zunächst der relativ geringe anato¬
mische Befund, insbesondere die wenig weit vorgeschrit¬
tenen Veränderungen im Gehirne. Bei dem Umstande, als
auch der Herd in der Lunge nur eine .geringe Ausdehnung
hatte, hätte bei der Sektion leicht die Art der Erkrankung
verkannt werden können. Jedenfalls beweistauch dieser Fall
neuerdings, von welch großem Werte die bakteriologische
Leichenuntersuchung sein kann.
Des weiteren ist von Interesse, daß in den Organen
der Frucht Milzbrandbazillen nicht nachgewiesen wurden.
Diesbezüglich liegen in der einschlägigen Literatur verschie¬
dene Befunde vor. Während Br au eil, Davaine, Bol¬
linger und Eppinger keinen Uehergang der Milzbrand¬
bazillen von der Mutter auf das Kind nachweisen konnten,
vermochten Strauß und Chamberland, Koubassoff,
Perron cito, March and. Pal tauf Milzbrandbazillen in
den Organen von Föten von an Milzbrand verstorbenen
Müttern nachzuweisen.
Schließlich wäre noch der positive Befund bei jener
iMaus zu besprechen, die experimentell nicht infiziert worden
war, die aber mit Milzbrandmäusen in einen gemeinsamen
Käfig eingesperrt wurde. Auf den ersten Blick wäre es das
Naheliegendste, die Milzbrandinfektion dieser Maus darauf
zurückzuführen, daß sie zweifellos eine Milzbrandmaus an-
gefressen hatte. Im Einklajige damit würde auch der .histo¬
logische Befund von Milzbrandljazillen in den oberflächlichen
Schichten der Darmschleimhaat und in einer mesenterialen
Lymphdrüse stehen. Anderseits wird aber bekanntlich von
hervorragenden Autoren (Koch, Gaffky und Löffler) auf
Grund einwandfreier Untersuchungen eine Infektion mit
.Milzbrand bazi II en vom Magendarmkaiiale aus in Abrede
gestellt, da die Milzbrandbazillen ,,im Magen wesentlich
unter dem Einflüsse des sauren Magensaftes alsbald ab¬
getötet werden und somit überhaupt nicht Gelegenheit haben,
in die tieferen Abschnitte des Verdauimgstraktes zu ge¬
langen . Die Fütterung selbst hoch empfänglicher
f’ierarten mit sporenfreiem Kulturmaterial oder mit Organ¬
stückchen und Gewebssaft von Milzbrandtieren bleibt völlig
wirkungslos“ (So beruh eira). Es ist daher auch für unseren
Fall ein anderer Infektionsmodus in Betracht zu ziehen und
wir können in dieser Hinsicht vor allem die Möglichkeit nicht
vo]i iler Hand weisen, daß sich die fragliche Maus vielleicht
bei dem Annagen des toten Tieres oder sonst bei irgend¬
einem Anlasse eine Verletzung zugezogen hat und daß diese
Verletzung die Eintrittspforte für die Milzbrandbazillen ge¬
wesen ist.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in
Wien. (Voi^stand: Prof. R. Paltauf.)
Erwiderung zu den Bemerkungen L. Zupniks
über Spezilizität der Bakterienpräzipitine.
Von Dr. M. Y. Eisler.
In meiner Mitteilung über die Spezifität der Bakterien¬
präzipitine wurden auch die betreffenden Arbeiten Zupniks
besprochen. Dadurch hat sich der Verfasser veranlaßt gesehen,
meine Kritik als ganz unberechtigt zurückzuweisen. Dieser Ver¬
such Zupniks muß wohl als gänzlich mißglückt bezeichnet
werden, denn seine Entgegnung besteht bloß darin, daß er ver¬
sucht, mir nachzuweisen, ich hätte die Arbeiten, die ich zu seiner
Inkrimination zitiert habe und vor allem seine eigenen Puhli-
kalionen nicht gelesen, andere Arbeiten der Agglutinalionsiiteraiur
nicht berücksichtigt etc. Das Tatsächiiehe meiner Arbeit, nämlich,
daß die „Gattungspezifität“ Zupniks bloß als ein neuer Aiis-
dmek für die vor i h m bereits bekannte spezifische Mii-
agglu filiation sei, wird von ihm nur insoferne bestritten,
als er die Entdeckung dieser Tatsache als sein Verdienst in
Anspruch nimmt, mit welchem Rechte, resp. Unrecht, soll noch
gezeigt werden. Die weiteren von Zupnik (Zeitschrift für Hy¬
giene, Bd. 49), aus der Tatsache der Mitagglutination gezogenen
Schlüsse, sind in der bereits von mir eiwähnten Arbeit von
Kolle (Zeitschrift für Hygiene, Bd. 52) gebührend gewürdigt,
so daß ich mich mit dem Hinweise auf die Publikation begnügen
kann, um so mehr, als ich hier nur auf die ‘von Zupnik er-
Hobeiieii Voiwürfe antworten möchte.
iDer erste dieser Vorwürfe besteht darin, ich hätte aus
der Agglutinationsliteratur nur drei Arbeiten (Gruber, Achard
und Pfaundier) erwähnt, d. h. mir diese Stellen herausgegriften,
die sich scheinbar gegen Zupnik verwenden lassen, dagegen
alles das mitzuteilen imterlassen, was die Stützen meiner Be¬
schuldigung zunichte macht. Bei Berücksichtigung der geradezu
kolossalen Agglutinationsliteratur fehlt es, wie ich sehr wohl
weiß, nicht an Arbeiten, die sich gewissermaßen im Sinne Znp-
niks veiwerten lassen; doch nicht um solche einzelne Beob¬
achtungen handelt es sich hier, sondern um die allgemein lierr-
schende, durch zahllose Untersuchungen gestützte Anschannng
in dieser Frage, welche trotz der Aüsführungen Zupniks in
der Agglütination — selhstverständlich unter Berücksichtigung
der notwendigen Versuchstechnik, welche Herrn Zupnik zu fehlen
scheint (Kolle, Zeitschrift für Hygiene, Bd. 52) — eine art-
spezifische Reaktion sieht.
Auch habe ich nicht, wie Zupnik sagt, die zwischen
der Gr über scheu und seiner Arbeit erschienenen Publikationen
ganz aus dem Auge gelassen, ich erwähne hier als Beispiel dafür,
daß ich eine Arbeit Dur ha ms erwähnt habe, in der dieser
Autor ganz genaue theoretische Vorstelhmgeu über das Wesen
der spezifischen Mitagglutination — Beemfliissung des Bazillus
Gärtner durch Typhusserum — entwickelt und welche Zupnik
wohlweislicli in meiner Arbeit übersehen hat. Ebenso
habe ich die Arbeit von Kolle (Zeitschrift für Hygiene, Bd. 52)
zitiert, in der ja auch zahlreiche andere Milteilimgen, so von
Kolle und Pfeiffer, sowie von Kollo, G o 1 1 s c h 1 i c h. Heisch,
Lenz, Otto erAvähnt Averden, Avelche Zupnik nach dem Urteile
K olles nicht völlig A'crstanden hat. Ich habe mich mit der
Zitierung einiger Aveniger Arbeiten hognügi, weil ich annahm,
daß diese bei vorurteilsfreier Beurteilung genügen würden, den
Stand der PTage zu charakterisieren. Ich glaube, daß mir diese
Aufgabe auch, außer hei Herrn Zupnik, geglückt isl.
Was ]iuii die von mir angeführte Arbeit Gruhers, respek¬
tive G r u b e r s und D u r h a m s hetriffi, so hat Z n p n i k einige,
ihm passende, Stellen aus diesen Arheiteu lierausgeuommen, an¬
dere aber, die ihm weniger angenehm Avaren, unglücklicherweise
Avieder übersehen, ebenso wie es ihm bei der Arbeit von Durham
.passiert ist. Zupnik sagt, daß Gruber in der Arl)ei( mit
Durham angiht, daß er mit Verdüimimgeii 1:1 gearheiiet liahe.
Dies geschah zu dem Zwecke, um eine möglichst rasche Iminoi)i!i-
sierung und HäufcheidAÜdimg der Bakterien zu hewirkeu. In der¬
selben Arbeit schreiben aber Gr über und Durham, daß hoch-
Avirksame Immunseren in erstaunlich liohen Verdünnungen deut¬
lich agglomerierende Wirkung heivorhringcn. Fenier zitiert Zup¬
nik: daß \mrschiedene fremde Immunseren und uiiler Umständen
seihst Normaiseren deutlich agglomerierend auf Choleravihrionen
und Typhusbazillen einAvirken. So Zupnik. Dann kommt aber
im Original folgende nicht ganz unAviciitige, von Zupnik leider
wieder nicht angeführte Stelle: Bestehen auch keine durch¬
greifenden, qualitativen, so bestehen doch in den.
meisten Fällen genügend große quantitative Unter-
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
röT
sc. liiiMio in (Um' Wirkung d (> r I in in unseren auf ilire
siiezifiscli z u ge li ö r i g(‘ und auf fremde Hakferien, um
s ie d i a g n o s t i s c li verwerfen zu können. HesciiäCligen wir
uns gieicli niif d<M‘ zweilen „Inkriminafion“, nämlich Ziipnik
und seine Milai lieiler hälfen sich die Ermifflung der diagnosfi-
sche]i Bedeulung des übersten Agglulinalionslifers angeeignei.
Außer der von mir angefnlirfen und von Zupnik iiekrillellen
Anmerkung über die Berücksichtigung der Quantitäten
kann ich ihm noch mit einer anderen Stelle aus dieser Arbcdl,
die aber nicht bloß eine Anmerkung ist und auch nicht ’durch
das Wöi'lchen vielleicht eingelcilet ist, somit den strengen An¬
forderungen Zupniks hoffentlich genügen dürfte, dienen. Nach¬
dem Gruber und Durham sagen, daß auch Bazillus Giirlner
von 'rypßRs.serum in völlig typischer Weise agglutiniert wird,
fahren sie folgendermaßen fort : Allerdings zeigen sich auch
hier noch qu an ( i ta ti ve Unterschiede in der Wirkung
d es Ty p hu si in mu n s e r u m s auf Bac. enterifidis u n (I
auf echte T y p h ns b a z i 1 1 e n, was man hei Erprobung
von S er 11 m ve r d ü n n u n g e n deutlich erkennt. Ich glaube,
daß dieser Satz, welcher aus dem Jahre 1896 stammt, deutlich
genug spricht und eigentlich jede weitere. Polemik mit Zupnik
überflüssig macht. Schon in diesen .ersten Publikationen über
Agglutination haben Grube rund Durham das Wesentliche dos
Vorganges erkannt. Daß die zahllosen Arbeiten der folgenden
Jahre manches neue Detail gebracht und zum Ausbaue der Lehre
heigetragen haben, wird niemanden, außer vielleicht Zupnik,
venvundern. Uebrigens schreibe ich diesbezüglich in meiner Arbeit
wörtlich folgendes: Bei genauer Durchsicht der Arbeiten Zup¬
niks über die Agglutination kann man nur die Ueberzeugung
gewinnen, daß Zupnik durch seine Untersuchungen, wie so
viele andere dazu beigetragen hat, die bereits von den ersten
Untersuchern der Agglutination erkannten Verhältnisse zu be¬
stätigen und unsere Kenntnisse über diese Reaktion, namenllich
ihre diagnostische Verwertbarkeit, zu erweitern,
Höher kann ich das Verdienst Zupniks auch jetzt nach
seiner Erwiderung nicht bewerten. Die Schuld daran liegt doch
nicht an mir.
Zupnik wirft mir ferner vor, daß ich mich auf eine im
Jahre 1896 publizierte Mitteilung von Achard und Be ns au de
bezogen habe. Ich gebe Zupnik ohne weiters zu, daß ich mich
hei diesem Zitate geirrt habe und stelle damit fest, daß Achard,
resp. Ben sau de (These de Paris 1897) bereits im Jahre
1897, also sechs Jahre vor Zupnik, gesagt hat, ^daß
n i c h t d i e Agglutination a 1 s s o 1 c h e, sondern der G r a d
derselben spezifisch sei.
Mein sogenannter dritter Stützpunkt, nämlich die Arbeit
Pfaundlers, kommt überhaupt nicht in Betracht; da ich ja
seihst in meiner Arbeit schreibe, die Anschauungen Pfaundlers
könnten infolge späterer Untersuchungen nicht mehr in der ui’-
sprünglichen Form aufrechterhalten werden.
Ich könnte auch die Neugierde des Herrn Zupnik befrie¬
digen und ihm mitteilen, warum voraussichtlich Gruber, Dur¬
ham, Achard und die anderen Forscher ihm gegenüber keine
Prioritätsansprüche geltend gemacht haben; ja wenn Zupnik
von der Bedeutung seiner Arbeiten weniger überzeugt wäre, könnte
er die Antwort vielleicht selbst finden.
Endlich behauptet Zupnik, ich habe seine Arbeiten nicht
gelesen. Ich kann ihn des Gegenteiles versichern und sogar
behaupten, daß ich dieselben sehr genau studiert habe, Avas bei
der WeitschAveifigkeit und unklaren SchreibA\mise Zupniks eine
keinesAA’egs leichte Aufgabe Avar. Womit Avill nun Zupnik seine
Behauptung beweisen? Er sagt, ich hätte geschrieben, daß es
ihm möglich gCAvesen sei, unter Berücksichtigung der A’gglut.ma-
tionseigentün'dichkeiten jedes der betreffenden Immunseren, die
einzelnen Arten der Hogcholera.gruppe zu differenzieien.
ich dabei unter Hogcholera gruppe Amrstanden habe, kann Avohl
keinem ZAA'eifel unterliegen. Ich habe diese Bezeichnung m dem
allgemein üblichen Sinne gebraucht und die dazu gehörigen Alten
sogar namentlich angeführt. Es sind zum größten feile diejenigen
Bakterien, die Zupnik unter den typhoiden Erkrankungen des
Menschen zusammenfaßt. Es ist mir nicht eingefallen, zu be¬
haupten, daß Zupnik die einzelnen Arten von Schwemepest-
errogern imittels Agglutination unterschieden hat, da er ja, wie
ich wmhl geAvußf habe, diese Arten nur kultuiell unterscheu en
will und eine Hogcholcragruppe nach seiner Auffassung unhaltbar
ist. Es kann sich also nach dem Gesagten nur um Paratyphus-
und FleischA^ergiftungsbakterien handeln. Nur von diesen a.so
gilt meine Behauptung. Was aber sagt Zupnik? *
GS ganz nninöglicli, cinzGluc BtikticriGnurtcn iinltGls Aggliuina lon
zu differenzieren, sondern nur die klinische Diagnose ,von sic len
verschiedenen typhoiden Erkrankungen — a"sgenommen den fall
Holst — des Mensidien zu shdleii. Nun wäre allerdings zwisidien
diesen heidim Alögliidikeilcii, eventuell dm' Dnim'schied, daß dii'
ersterc mittels hochAvertigi'r Immunseren, die zweite ji'doch mil
Patien lenseren erfüllt Avird. Auf diesen Fntersidiied liabe aber
gerade ich in meiner Arbeit Avii'der bingewieseii, für die Bidiauptung
Zupniks kann aber die.ser Unlm-schied iiirdit gelten, da er jn
seiner diesbezüglichen Arbeit (Zeitschrift für Hygiene, Bd. 52)
Avahllos drei Pa tien lenseren und eine Anzahl Kanin¬
chen i m mu n se re n verwendet hat.
In diesem Falle kann ich also beim besten Willen keinen
Unterschied ZAvischeii meinen Worten uml der AusdrucksAA'eise
Zupniks finden. Ich muß also den Voiwurf Zupniks, daß icdi
seine Arheitcn nicht gelesen habe, auf das entschiedenste zurück-
AAmisen.
Alles bisher Erörterte bezieht sich auf die Agglutination,
AAmlche in meiner Arbeit über die Spezifität der Bakterieu-
präzipitine liloßi AAmgen ihrer Uebereinistimmung mit den Prä¬
zipitat ionsA''orgängen herangezogen Avurde. Meine Ausführungen
über die Bakterienpräzipitine erledigt abei' Zupnik nur ganz
nebenbei in zehn Zeilen. Durch Anführung der Versuche A'on
Kraus und durch eigene Untersuchungen, habe ich gezeigt, daß
es mittels der Präzipitation, ebenso Avie durch die Agglutination
gelingt, seihst sehr nahestehende Bakterienarten (Vilirionen,
Kapselbakterien, Dysenteriebazillen) zu differenzieren und die Vlit-
teilung Zupniks, daß er in meinen Präzipitationsversuchen eine
Avillkommene Bestätigu ng der G a 1 1 u n g s s p e z i f i t ä t der Bak¬
terienpräzipitine sieht, enthehrt nicht einer geAvissen unfreiAvilligen
Komik. Nach den eben eiwälmten Versuchsresultalen, Avelche die
Artspezifität der Präzipitation dartun, ist es aber geradezu lächei'-
lich, AAmnn Zupnik A^erlangt, ich hätte, um die Familienspezifität
der Reaktion üherhauiit in Diskussion ziehen zu dürfen, Arten
mehrerer Gattungen in den Bereich meiner Versuche ziehen
müssen.
Durch diese Ausführungen glaube ich die ungerechtfeiJigten
Beschuldigungen Zupniks gegen mich genügend zurückgeAviesen
zu haben, AAmmit diese Polemik für mich auch erledigt ist. An
dem Wesen der Agglutination und Präzipitation Avird natürlich
auch durch diese jüngste Publikation Zupniks nicht das Ge¬
ringste geändert und, ich kann nach Avie vor mit vollem Rechte
hehaupten, daß sich Zupnik auf diesem Gebiete Verdienste
anmaßen Avill, die ihm in keiner AVeise gebühren.
Paracelsus in Oesterreich.
Von Privatdozent Dr. phil. Franz Strunz, Wien.
Die Geschichte der NatLirAvissenschafteii und Medizin,
ja sogar die der Philosophie, weist nicht viele auf, die
als Gelehrte von so seltsamer persönlicher Eigenart waren,
als der aus einem alten schAvähisctien Adelsgeschlechte
stammende Theophrastus Paracelsus. Man kann aller¬
dings an Leonardo da Vinci denken, an die .großen mittel¬
alterlichen Physiker oder an führende Alchimisten, ich
glaube aber, es Averden sich schwerlich Gegenstücke finden,
von derselben originären Kraft und einem ähnlichen stim-
mungsstarkeii Namen. Es ist ein geschichtlicher Hauch über
diesen durch und durch deutschen Manu, wie er nur die
ganz großen und aiifweckeiiden Geister umgab, die unser
Leben reich und wichtig gestaltet haben, aber deren Gaben
und Neigungen bald — gar zu liald — zu einer mythologi¬
sierenden Deutung drängten. Fast bei keinem Zweiten der
Geistesgeschichte hat der ,,P».uhm“ so entiStellt und eiit-
Avirklicht, so raisch und sicher das einst Lebendige in einen
Mythus gewandelt, als hei diesem im Grunde so ischlichten
und ehrlichen Manne. Er taucht auf in einer .Zeit, als ein
neues Gefühl des Lebens sich langsam aus' den späimittel-
alterlichen Stimmungen entbindet und eine \mllig neue
A'Ienschenkunde sich vorbereitet, als überhaupt der Sinn
für die Beobachtung des Menschlichen und die Vertiefung
in die intime Person ein verfeinertes Gefühlsleben voraus¬
setzen. Dais Persönliche, seine sichtbare Seite und die
köiTperlichen, man möchte Scigen, physiologischen Ansdrncks-
mittel schaffen an einem neuen Geschmacke, d. h. an einer
ganz neuen Sinnlichkeit der Vernunft. Das liegt in einer
Schärfe der Beobachtimg menschlicher Affekte, die gerade
auch bei Paracelsus auffallend ist, denn der psychologischen
Gedankengänge sind liei ihm so viele, daß man ihn unwill¬
kürlich dem genialen Beobachter und Anatomen Leonardo
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
da Vinci iialieziibringen versucht ist. Auch das Gefühls-
vorhälliiis zur Natur gestaltet sich in diesen Tagen — 'wie
einst ain Ende des Altertums — wieder intimer und indi¬
vidueller, ja es vermag sogar die leisesten IMelodien der
Dinge in eine feingestinnnte Kunst uinzusetzen und Sein
und Werden, Reifen und Welken, üherha.upt alle Erfüllungen
und „dunkeln Zufälle“ des Lehens als persönliche W^erte
in die Seele zu tragen. Man projizierte seine Gefühle auf
die Welt der Natur und empfing sich, seihst seelisch reicher
und tiefer zurück. Das neue Lehensgefühl der llenaissance,
das sich anfänglich so langsam und dann mit , großer Kraft
aus der Kontinuität des Mittelalters entwickelt hat, führte
zu einer neuen inneren Stellung zur Natur, zu einer neuen,
in hunter Vielfalt sich differenzierenden Fähigkeit des Ein-
fühlens in die Natur, das uns ihre wunderharsten Reson-
nanzen des Lehens und des Todes empfindbar macht. ^Das
ist das Natur ge fühl, wie es in den großen Naturforschern
und Aerzten der Renaissance wohnte und die Schätze ihrer
Erfahrungen mit den Symbolen ihrer Seele umgab. Auch
das ist ein Zug, der sofort an Paracelsus Aenken läßt.
Aber noch vieles andere, das das völlig ahblühende Mittel-
alter vorhereiten half: die persönliche Innerlichkeit des
religiös -sittlichen Prozesses und die neue Frömmigkeit des
inneren Erlebens, der subjektiven Gewißheit und symbo¬
lischen Rede, die Ablehnung aller religiösen Technik, die
Deutung der Welt aus dem ,, Lichte der Natur“, d. i. dem
Göttlichen, das die Welt zur Vollendung bringt, damit sie
ebenfalls göttlich werde. Und unter ,,Welt“ verstand Para¬
celsus auch (las Geringste, das uns der Alltag zuträgt, die
ganz unscheinbarsten Dinge, von denen man nur selten
spricht und doch — ,, seltsam weit, als ob es mehr be¬
deute, hört man das Wenige, das noch geschieht“.
Paracelsus entstammt einem angesehenen schwä¬
bischen Adelsgeschlechte, das in der Nähe von Stuttgart,
beim Dorfe Plieningen seinen Stammsitz Hohenheim hatte.
Es ist (lies die alte Familie der Bömbaste, .deren Schloß
schon um 1100 genannt wird. Darum führte auch der große
Naturforscher und Arzt eigentlich den richtigen Namen
Theophrast Bombast v. Hohenheim. Neben dieser Unter¬
schrift und Theophrastus Paracelsus ist nur noch die
Benennung Theophrast v. Hohenheim historisch.^) Alle an¬
deren Bildungen sind .erfunden und unecht. Geboren wurde
er am 10. November 1493 in einem Bauernhause ,an der
Sihlbrücke (am Fuße des Etzelberges) bei Einsiedeln im
Kanton Schwyz, wo sein gelehrter Vater, Wilhelm Bombast
V. Hohenheim, als praktischer Arzt wirkte. Es ist liicht
Aufgabe dieser Zeilen, zu untersuchen und darzutun, wie
und warum ein Ast der schwäbischen Familie sich hieher
nach der Schweiz verschlug und aucli die Details .der ein¬
zelnen Lebensepochen des werdenden und fertigen Gelehrten
sollen nur erwähnt werden, soweit sie zu Hohenheims Wirk-
saankeit in Oesterreich Bezug haben. Schon im Jahre
1502 hatte die Familie Einsiedeln verlassen und war nach
Villach in Kärnten ül)ergesiedell, wo Theophrasls Vater eben¬
falls der ärztlichen Praxis oblag. Von geistesbildendeiU)
Einflüsse auf Paracelsus waren neben Wilhelm Bombast
V. Hohenheim, u. a. die Schriften des Benediktinerabtes
von Si3onheim, des gelehrten Polyhistor Johannes Trithe-
9 Dßi' Name >Paracelsus< ist keineswegs mit Celsus zusammen¬
zubringen, sondern die Uebertragung von »Hohenheim«. Auch »Paramirum«,
»Paragranum« u. a. sind ähnliche Bildungen. — Vielfach legte man ihm
die Namen Aureolus und Philippus bei. Historischerwiesen sind sie nicht.
9 Besonders in philosophischer Hinsicht dürfte der im folgenden
genannte Johannes Trithemius als bildende Lektüre in Betracht kommen.
In chemischen und alchimistischen Disziplinen unterwies ihn Sigmund
Füger mit seinen Hilfsarbeitern, in deren Laboratorien der junge Para¬
celsus (1510—1520) viel verkehrt haben dürfte. Vgl. »Große Wundarznei«
(Chirurg. Bücher und Schriften, Fol.-Ausg., Straßburg 1605, S. 102). Im
übrigen weiß man von seinen »Lehrern« und »Bildnern« nichts Be¬
stimmtes, geradeso wie von seinen Universitätsjahren. . Die Füger von
Friedberg waren Mitbesitzer an den Silberbergwerken von Schwatz.
Vgl. Albert Jäger: Beiträge zur tirolisch-salzburgischen Bergwerks¬
geschichte, Wien 1875, 8®, bzw. »Archiv für österr. Geschichte«, 53. Bd ,
•S. 17, 99 und 102; Joh. von Sperger: Tyrol. Bergwerksgeschichte,
Wien 1766.
mius (1462 lös 1516) und der Silbcrl)ergwcrkbesil.zer und
Chemiker Sigmund Ifüger von Friedberg zu Scbwafz, mit
seinen Laboraid.en. Er bezog dann die Hohe Schule'”^) und
es war das auch der Beginn seines schicksalsreichen jind
berühmt gewordenen Wanderlebens, das er bis zu seinem
Tode nicht mehranfgah. ,, Besser ist Ruhe denn Unruhe, aber
nützer Unruhe denn Ruhe“ — sagt er im Codex Vossi-
anus.^) Fast ganz Europa hat der rastlose und wißbegierige
Mann durchquert und überall ernste ärzlliche Arbeit getan.
Bis Schweden, Dänemark, England, Spanien u. a. erstreckte
Paracelsus seine Wanderungen und auch Ungarn, Kroatien,
Krain und Italien nennt er in den ,, Chirurgischen Büchern“
als Reisestationen., Besonders betont er auch, daß er .nicht
nur wisäenschaftlich hochgebildeten Medizinern und Natur¬
forschern zu Füßen sah, sondern auch aus dem Borne der
Volksweisheit und alltäglichen Erfahrung Wertvolles und
Bleibendes schöpfte. 1526 versuchte Paracelsus in Straßburg
eine bleibende Wohnstätte als Chirurg aufzuschlagen, doch
noch im seihen Jahre zieht er nach Basel, .wo er einen
einflußreichen und berühmten Mann glücklich hehandelt
hatte ; ich meine den hochangesehenen Buchdrucker Jo¬
hannes Frohen aus Hammelburg in Franken. Hier in dieser
geistig so regen Universitätsstadt gewann er intimere
Beziehungen zu Desiderius Erasmus^) und seinen, insbe¬
sondere auch theologisch stark interessierten Kreis. Schon
am 5. Juni 1527 erließ Paracelsus, der neuernannte .Stadt¬
arzt und Professor, an die Studenten der Baseler Universität
sein Programm der medizinischen Vorlesungen (die sogen.
Intimatio®) und betonte hiebei rückhaltlos und energisch
seine Jleform. Ein prächtiges Stück paracelsischer Kraft
und Thiahhängigkeit und zugleich die von einem hohen
Bewußtsein getragene Kriegserklärung gegen das griechisch-
arabische Systein der Heilkunde, gegen Claudius Galenos
und Avicenna, gegen lebensdürre scholastische Wortkunst
und ,, philologische“ Medizin! Anfeindungen und Pamphlete,
die nun von gegnerischer Seite sich reichlich einstellten,
taachten ihm aber auch in Basel die Wirksamkeit .als Arzt
und Gelehrten unmöglich, um so mehr, als er ^selbst durch
sein geradezu provokatorisches Sichaussondern den Haß
seiner wissenschaftlichen Gegner nur noch schürte. Schon
damals stand seine Lebenshaltung unter dem Leitgedanken :
,,Dn sollst keines Anderen Knecht sein, wenn du .dein
eigener Herr, Wille und sell)stiges Herz sein kannst“. . . .
Ein berühmtes Paracelsus wort! Anfang Februar 1528
ist er aus Basel ins Elsaß geflohen. Er wandte
sich über Mühlhausen, Ensisheim, Ruffach nach Kol¬
mar. Von nun ab kam der wandernde Gelehrte nicht
mehr zur Ruhe. Sein Lebensweg führte ihn weit hinaus
in schweizerische, österreichische und deutsche Gaue. Um
1529 verließ er wieder Kolnrar und zog nach .Nürnberg,
von da — am Wege gegen Regensburg — im Dezember
desselben Jahres nach Beritzhausen im Labertale. Hier
reiften seine berühmte polemische Schrift das ,,Buch Para-
granum“ und die umfassende Grundlegung seines Systems,
die zwei inhaltreichen Päramirumbücher. Das Beste, was
er an theoretischen Werken geschriel)en hat! Dann treffen
wir ihn in Amherg, 1531 in St. Gallen, 1532 zog er über
Hundwill und Urnäsch ins Appenzellerland. Es war in den
9 Wohin Paracelsus sich damals von Kärnten aus als junger
Universitätsstudent wandte, ist nicht bekannt. Auch wissen wir nicht
genau, wann und wo er seine akademischen Studien mit der Promotion
beendet und wo er zuerst praktisch gearbeitet hat. In betreff der zeit¬
lichen Aufeinanderfolge kann man da nur vermuten. Allerdings nennt
er im allgemeinen die Hohen Schulen der Deutschen, Italiener und
Franzosen.
9 Univers. -Bibliothek Leyden.
9 Er wohnte während seiner Baseler Jahre (1521 — 1529) bei
Froben.
®) Vgl. Toxites libr. XIV. Paragraphorum Ph. Th. Paracelsus.
Straßburg 1575. Das »Programma« ist gezeichnet: Theophrastus
Bombast ex Hohenheim, Eremita Utriusque Medicinae Doctor ac
Professor. Er las aber als erster in deutscher Sprache und schloß alle
philologische Exegese alter Autoren von seiner lebendigen Natur-
wissenschaft aus. Das war ein scharfer Bruch mit dem Mittelalter.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. 769
Tagen der lautesten konfessionellen Slreitpraxis.') Innsbnick,
Sterzing und Meran liat er in Jahren seiner ^Not und Ent-
behrnng als Flüchtling aufgesucht, die beiden letzteren
Städte iin Jalire 1534 während der Pestzeit. Paracelsus
sagt aber, daß er in Meran ,,Ehr und Glück gefunden“ .
Sommer 1535 wandte er sich von Meran nach Bad Pfäffers
n. zw. durchs Vintschgan, A'eltlin und Oberengadin. Dann
finden wir ihn am \\ege nach Schwaben, wo sein Aufent¬
halt in Memmingen und Mindelheim ebenfalls aus den
Quellen nachweisbar ist. Das nächste Reiseziel war die
Reichsstadt Ulm, wo er sein monumentales Werk,
die ,, Große Wundarznei“, bei Hans Varnier zum
Drucke bringen wollte, ein Unternehmen, das sich
aber infolge der mangelhaften typographischen Aus¬
führung zerschlug. Paracelsus reiste daher, als er die
ersten Druckproben gesehen hatte, sofort nach Augsburg,
um hier einen anderen Drucker für seine Arbeit, zu gewinnen!
Es ist dies Heinrich Steiner, der auch im Sommer 1536
das berühmte, die meisten Auflagen erlehende Werk Hohen¬
heims fertigstellte. Es ist Ferdinand L gewidmet. Die Rimer
Edition aber erklärte Paracelsus wegen ihrer minderwertigen
Ausführung für ungültig. Frühjahr 1537 wanderte er von
Augsburg kommend, über Eferding an der Donau (Besuch
beim Pfarrherrn Johann v. Brandt) nach Kromau^) in
.Mähren, wohin zu kommen ihn der erkrankte Johann [Von
der Leipnik, der erste Erbmarschall von Böhmen, aufge¬
fordert hatte. Ein noch erhaltenes ärztliches Konsilium er-
’) Hier wies man dem landfahrenden und armen Gelehrten die
Tür. Man glaubte nicht, daß ein Mensch in so schlichter Gewandung ein
Arzt sei. Vgl. Paracelsus: Von der Pestilentz an die Statt Stertzingen.
Straßburg 1576 (herausg. von Michael Toxites). Das äußerst inter¬
essante in Meran geschriebene Vorwort macht uns so recht seine leid¬
volle und düstere Stimmung fühlbar. Er schreibt unter dem Eindrücke
der unangenehmen Wirksamkeit im Kanton Appenzell (Sommer 1533),
wo der innerlich so freie Mann die »Hundskette« des konfessionellen
Fanatismus nicht ertragen konnte. Darum entzog er sich diesen Kreisen
durch die Flucht, wenn auch als ganz mittelloser und armer Mann.
Er floh nach Innsbruck und von da über den Brenner nach Sterzing und
Meran. So sagt Paracelsus in dem Vorwort zu dem genannte Buche
»Von der Pestilentz« : »Wiewol mich dz gegenwertig jar, in ein vnge-
duldig Ellendt getrieben, dann Gunst, GewaltvnddieHunds-
ketten, waren mir zuschwer vberladen, auss welcher zwanck-
nus frembder Land behend zu besuchen bezwungen nach kurtze dich zu
[bejrichten Inspruck heimgesucht. Dieweil ich aber derselbigen gleich-
messigen Staffierung mitelmessig erschien, not was fürbass zustreichen,
also Stertzingen erlanget, do ich sonderlich zween Freundt ge¬
funden, den Kerner vnnd Marx Poschinger, die nit wenig Freündschafft
inir bewisen, vnder welcher die Pestilentz in der Region inge¬
rissen .... in betrachtung meiner not .... kein arcanum nit ver¬
halten .... Aber du Leser meins Eilends halben, hab kein acht, lass
mich mein vbel selber tragen .... zweu Bresten halt ich an mir, an
demselben ort, mein Armut, vnd mein Prombkeit, die Armut
ward mir aussgeblasen, durch jren Bürgermeister, der etwan zu Ins¬
pruck die Doctor hatte gesehen, in seidenen Kleider an den Fürsten¬
höfen, nit in zerissen lumpen an der Sonnen braten, jetzt wardt
der Sententz gefeit, dz ich kein Doctor were, der Frombkeit halben
richtet mich der Prediger, vnnd der Pfarrer auss, dieweil vnd ich der
Venus kein zutitler (= Frauenschmeichler) bin, auch mit nichten lieb
diejenigen, die da lehren, dass sie selbs nit thun, also ward ich in
Verachtung abgefertigt, doch nit von gemeinem raht nach der
Gemein, sonder wie oben wol verstanden mag werden (d. b. also nur
vom Bürgermeister und den Theologen), hab mich weiter mit sampt
Marxen Poschinger hinweg an M e r o n gemacht, dasselbs Ehr vnnd
Glück gefunden.« — Die sinnstörenden Entstellungen von Toxites
habe ich nach der Textrevision Karl Sudhoffs (Paracelsus-Frschgn. 11. Heft
1889, S. 160 — 161) korrigiert. Aus Frühling 1533 stammen auch die
Worte der Handschrift »De Goena Domini XI Theophrasti Hohen-
heimensis« usw. (Herzogi. Bibliothek in Wolfenbüttel »Codex Extra-
vaganeus« Nr. 160 in 4°) : »So wil ich aber von Irer (d. h. der Theo¬
logen) hoff art vnangetast sein, Gott wirds auch wol seihest
herfürbringen, zu seiner Zeit, wie sein Göttlich willen ist. Ich hette hie
bey mir mit etlichen Pfaffen davon geredt. Aber grosse hoffart presumirn
vnd andere torheit ist viel bey Inen. Etliche, aber wenig, kommen offte
zu mir, und Ich zu Inen, die nit gar vngeschickt weren, so sie nit In
der Hundsketten legen gebunden . . . .« Man entnimmt schon
aus dieser Bemerkung, daß Paracelsus auch praktisch an den damaligen
religiösen Kontroversen teilnahm. Nicht nur als Literat. Er stand aber
jenseits aller Partei und bekannte sich weder — wie er sagt — zu den
»Pfaffen« noch zu den »Predigern.« Seine Stellung in der Reformations¬
geschichte bedarf noch einer gründlichen Untersuchung. Einen Beitrag ver¬
suchte der Verf. in seiner Paracelsusbiographie (Leipzig 1903) zu bringen.
®) Vgl. die Vorrede zum »Buf he von den tartarischen Krankheiten«.
Opera. Fol.-Ausg. von Joh. Huser. Straßburg 1603, Bd. 1, S. 282.
iniierl, an diese Zeit. Auch wurde hier ein .drittes Buch
der ,, Großen Wundarznei“ fertig, das ebenfalls die Widmung
an Ferdinand E trägt,^) wie auch die ersten Partien der
,,Astronomia magna“, der Schluß des ,, Buches von den
tartarischen Krankheiten“ 1°) und die deutsche Fassung der
„Defensiones“ und des „Labyrinthus“. Es wird berichtet,
daß Parsicelsus beim Verlassen von Kroniau eine Jlenge
Bücher und selbstgeschriebenes Manuskriptenmaterial zu¬
rückgelassen habe. Er sei abgereist, erst nachdem er ^,,von
Seiner Gnaden einen gnädigen Urlaub erbeten und Erlaubnis,
weiter zu ziehen“, auch ,,zu ferneren Diensten sich em¬
pfehlend und nicht, ohne eine Ordnung zu hinterlassen,
wie sich Seiner Gnaden weiter verhalten solle“. Dann
wanderte er seinem neuen Ziele entgegen, zuerst zur [March
und dann längs ihrer Täler gegen Süden — • gegen Wien.
Am Freitag vor Michaelis 1537 kam Paracelsus riach Preß-
burg, wo ihm, wie man aus dpn städtischen Kammerrech¬
nungen des Archives der Stadt von 1537/38 entnehmen
kann, beim Stadtrichter Blasius Beham ein offizielles Fest¬
mahl gegeben wurde.^^) Bald nachher — also noch 1537 —
ist er nach Wien gekommen. Hier in unserer Stadt dürfte
man Paracelsus großes Interesse entgegengebracht haben,
wenn es auch den damaligen Wiener Aerzten nicht gerade lieb
zu sein schien, den weltberühmten Kollegen unter sich
zu sehen. Mich dünkt, daß ihn auch Ferdinand J. (f 1564),
dem er sein Hauptwerk, die bereits erwähnte ,, Große Wund¬
arznei“ gewidmet hatte, zweimal in Audienz empfing. Der
Bericht Crato v. Crafftheims (Leibarzt Kaiser [Maxi¬
milians H.i^) dürfte verläßlich sein und ich sehe daher
keinen Grund, ihn zu bezweifeln. Er sagt uns .auch : Para¬
celsus habe dem Herrscher furchtlos und schlicht nahe¬
gebracht, daß er nicht die Absicht habe, mit seinen Doktoren
zu disputieren; er lasse ihnen ihre alte Wissenschaft und
ärztliche Kunst und er behalte die seinige. Er spricht über¬
haupt nicht besonders begeistert von seinen Wiener Kollegen
und betont auch, daß sie es immer vermieden, jmit ihm zu¬
sammenzukommen oder gar über seine moderne chemisch-
tberapeutiscbe Heilkunde und physiologiscb-pathologische
Chemie zu sprechen. Paracelsus sagt das sehr launig und
mit feiner Ironie : ,,Sie haben befunden, es sei besser, so
ich zu St. Stephan bin, sie seien auf , dem Hohen [Markt;
und gehe ich an den Lugeck, daß sie gegen St. Laurenzen
gehen. “^®) Später hat er dann auch erfahren müssen, wie
die Wiener Aerzte die Drucklegung des ,,Labyrintlms“ und
der ,, Defensiones“ hier zu vereiteln verstanden und mit
Verbitterung sagt er von seinen Standesgenossen: ,,er habe
eben wieder einmal vergessen, daß ein Krügler gegen den
anderen sei, und daß man der Katze nicht den Schmer ab¬
kaufe . “i*^) Im übrigen schien sich Paracelsus in Wien
recht wohl und glücklich zu fühlen, denn ,, an guten Gesellen
fehlte es nicht — meint er im ,. Spitalbuch“ — mit denen
®) Sie trägt das Datum: Kroraau, 4. Juni 1537. Vgl. seine »Chirurg.
Bücher und Schriften«. Straßburg 1603, Fol.-Ausg., S. 126.
^®) Die Lehre vom Tartarus, ein Hauptbestandstück seines medi¬
zinisch-chemischen Systems, umfaßte die Ausscheidungen, Versinterungen,
Steinbildungen, Präzipitate in den Nieren, Harnblase, Gallenblase etc.
Der Name Tartarus ist rein bildlich gemeint und bezieht sich auf
den Weinstein, der sich bei der Gärung des Traubensaftes in den Fässern
absetzt, dem heutigen sauren Kalisalz der Rechtsweinsäure. Paracelsus
reiht die tartarischen Krankheiten in eine völlig neu ätiologisch be¬
stimmte Krankheitsgruppe ein.
“) Diese Nachricht stammt allerdings von dem sehr übelberatenen
Verfasser von verleumderischenParacelsus-Fabeln, Thomas Lieber (Erastus).
Vgl. seine Disput, de medicina. Basil, ap. Pernam, 4°, 1571, Bd. 4, S. 159.
— Erastus kann man als Paracelsus-Quelle neben »Gewährsmänner« wie
B. Dessenius, Ath. Kircher, Herrn. Conring oder den »modernen« Armand
Delpeuch u. a. stellen.
Vgl. des Verfassers Paracelsus-Biographie (Leipzig 1903), wo
der genaue Wortlaut wiedergegeben ist. S. 73.
Paracelsus Opera., Fol.-Ausg. von Joh. Huser. Straßburg 1605,
Bd. 1, S. 888.
Christi. Gottl. von Murr: Neues Journal zur Literatur- und
Kunstgeschichte. Leipzig 1799, Bd. 2, S. 233.
‘b Paracelsus Opera., Fol.-Ausg. von Joh. Huser. Straßburg 1605,
Bd. 1, S. 248 (im Widmungsbrief an die Stände von Kärnten).
'b Paracelsus ebd.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
<u
ich an der Donau mein Cield vertumnielte“.'^ Auch reiche
Honorare flössen ein und kost hare Geschenke, die ihm den
Wiener Aufenthalt, sorglos und sonnig gestalteten. Freilich
liat er ebenfalls , hier viel reiche ärztliche Hilfe geleistet
und miler Armen und Kränken viel Gutes getan, so daß noch
die Sage uns das fesselnde und unsagbar sympathische
Bild einer gediegenen Persönlichkeit überliefert.. Er hat
ja. sellist gesagt, der Aerztestand wäre die höchste und
wunderharste Fakultät, ,,aber der Arzt dürfe kein Larven¬
mann sein, kein altes Weib, kein Henker, kein Lügner, kein
Leichtfertiger^ sondern es muß ein wahrhaftiger Mann sein.“
Fnd damit gab uns Paracelsus sein eigenes Porträt als
Arzt, seine erquickende Freimütigkeit, sein reiner Sinn und
die geradezu provokatorische Offenheit sind aus diesem
Geiste heraus.^®) Die Wiener Sage hat diese Züge unver¬
geßbar in der Erinnerung behalten . Der im Jahre 1852
verstorbene Antiquar Franz Gräffer in Wien erzählte oft
von einem Besuche des Paracelsus beim Buchhändler Spann¬
ring in der Schönlaterngasse (im Basiliskenhaus Nr. 678,
neu 7); er schildert ihn als ein kleines, glattrasiertes Männ¬
chen mit dünner Stimme, das den Eindruck eines Dreißigers
machte.^^)
Wo wohnte Paracelsus in Wien? Soviel man aus
ältej-en Wiener Chroniken und Memoiren“®) eiiitnimmt, nennt
man immer den sogenannten ,, großen Federlhof“ (heute
1., Bäckerstraße Nr. 2, bzw. Lugeck Nr. 3, als 768) damals
das ,,Lazla-Haus“ (nach dem Besitzer Ladislaus von Edlas-
berg) genannt. Aber es wird auch noch eine zweite Wohnung
angeführt: das ,,Küß den Pfennig-Haus““^) heim Wirte
Wangier ,,zum schwarzen Adler“ neben dem Kronen-Hause
in der Adlergasse (Nr. 723, neu Nr. 4). Es ist wohl anzu-
nchmen, daß Paracelsus mehrere Wohnungen in Wien be¬
zog und oft nur auf kurze Zeit, ja ,oft nur für eine Nacht.
Eben vom ,,Küß den Pfennig-Haus“ wird dies erzählt, in
welchem sein Famulus (ein Verwandter des Buchhändlers
Oporinus) krank wurde, worauf er dann das fütifte ,und
sechste Stockwerk des Turmes im ,,Lazla-Haus“ (,, großer
Ferlerlhof“) bezog. Auch finden sich Andeutungen und
Sagen, die darauf hinzuweisen scheinen, daß Paracelsus
ebenfalls im Servitenkloster ganz kurze Zeit gewohnt haben
dürfte. Ich nanntie oben das ,,Küß den Pfennig-Haus“. Es ist
gewiß, daß der Name nicht von der recht verschiedenartig
drapierten Sage herkommt, daß Paracelsus einen auf den
Boden geworfenen Pfennig in ein Goldstück umgewandelt
hahe usw., denn der Name Hanns Küssenpfennig wird als
Eigentümer dieses Hauses schon 1411 — und 126 Jahre
später kam erst Paracelsus nach Wien — in der ,, gemeinen
Stadt Steuer-iVnschlagbücher“ und auch anderwärts im
Grundbuche genannt. Uebrigens leitet sich das Wort von
Kux-Pfennig ab u. zw. ,,Knx“ im Sinne von ,, Bergwerks¬
anteil“. Der letzte dieses übrigens nicht unberühmten Na¬
mens, ein gewisser Karl Küßdenpfennig, seines Berufes
nach Gärtner, starb 1839 in Wien. Ob er in ganz Oester¬
reich erloschen ist, konnte ich leider nicht erfahren. Das
,,Lazla-Haus“ an der Ecke des Lugeck in die obere Bäcker¬
straße wurde 1846 auf 1847 demoliert, das „Küß den
Pfennig-Haus“ mit seinem vorspringenden llundturm 1877
auf 1878 umgebaut. Das auf Paracelsus bezugnehmende’
Paracelsus Chirurg. Bücher und Schriften. Fol.-Ausg. von Joh.
Huser. Straßburg 1605, S. 311.
Vgl. des Verfassers Ausgabe: Volumen Paramirum und Opus
Paramirum. Leipzig-Jena 1904.
Franz Gräffer: Kleine Wiener Memoiren . Zur Geschichte
und Charakteristik Wiens und der Wiener, 11. Teil. Wien 1845. (Fr. Becks
IJniversilätsbuchhandlung), S. 287 bis 294. Selbstredend ist seine
novellistische Skizze »Paracelsus in Wien« nicht als eine einwandfreie
Quelle zu werten. Als Stimmungsbild ist sie nicht uninteressant.
Schimmer: Häuserchronik .... 1819, S. 146; W. Kisch: Die
■ Ren Straßen und Plätze Wiens, Bd. 1, Wien 1888; Moritz Bermann:
All- m : Neu-Wien, Wien 1888; Franz Gräffer a. a. 0.; Carl Aberle:
Grabdenkmal, Schädel und Abbildungen d. Theophrastus Paracelsus.
Salzburg 1891.
Ich möchte daran erinnern, daß aber auch Häuser wie, I. Bez.,
F"* iaingen .i'aße 3 (606) und IX., Marktgasse 25 (52), diesen Namen
führten.
Staiulbild mit liischriftverseu soll leider schon 1810 bei
Adaptieruiigsarbeiten in \’erltist geraten sein.
Paracelsus ist auch ein zweites Vlal in Wien gewesen
und zwar 1541 auf der Hin- oder Bückreise nach, l)zw. von
Breslau nach .Salzburg.
Noch im Jahre 1537 zieht er wieder nach Villach in
Kärnten, wo unterdes am 8. September 1534 sein Vater
gestorben war.^^) Hier und in St. Veit arbeitet er nunmehr
metallurgisch und mineralchemisch, wozu ihm die Bergwerke
im Lavanttale reiche Gelegenheit boten. Georg Joachim
Bheticus erzählt^®) von großen Heilerfolgen, die auch den
damals in St. Veit weilenden Leibarzt des Königs von Polen,
Albert Basa, in Verwunderung versetzten. Das ist bis .1539.
Dann folgen ärztliche und Naturforscherreisen und Berufun¬
gen nach Augsburg, München; Anfang 1541 nach Grätz in
Oesterr.-Schlesien (3. Januar), Breslau (16. .Januar) und
dann, wie bereits erwähnt, ein zweitesmal nach Wien. Im
trühling ,1541 war der bereits kränkelnde Paracelsus be¬
stimmt schon in Salzburg, der letzten Station seiner an
Arbeit und Geschehnissen so reichen Wanderung. Er hatte
den W^eg über Ischl genommen und ,,am Schober“ (Fuschl-
see) im Landgut ,, Strobel“ Bast gemacht, von wo er seinem
Ireunde .Takob Töllinger in Aussee ein ärztliches Konsilium
übermittelte.^^) Die leise Gerührtheit in den warmen Gru߬
worten macht uns unwillkürlich fühlbar, als ob er mitten
im erwachenden Lenz schon gespürt hätte, daß leider sein
Leben langsam im Entgleiten ist und daß die bitterernsten
Tage nicht fern sind, ,,wo die Gesichter der Leute an den
Fenstern trübe werden“ . Der Brief trägt das Datum
vom 15. April 1541. Also das war kurz vor seinem Ein-
Ireffen in Salzburg und fünf Monate vor seinem Tode. Noch
einmal taucht dann sein Name in einem Konsilium auf:
es ist dies der Bericht an Franz Boner in Krakau und trägt
Salzburg, 5. Augusti 1541 als Datum.
Paracelsus wohnte in Salzburg am rechten Salzachufer,
au der Ecke des Platzl. Später zog er in die Herberge ,,zum
weißen Roß“ in der Kaigasse, wo er im ,, kleinen Stübel“
am ,, Sankt Matthäus’-Tag, den 21. des Monates Septembris,
Mittags Zeit“ vor seinen Bekannten und dem kaiserlichen
Notar Hans Kalbsohr sein Testament machte. Michael
Toxites, der Herausgeber desselben^''’) berichtet, daß Para¬
celsus dabei ,, schwachen Leibs“ auf einem Bette saß. Das
Testament ist das letzte, was uns der Geist des großen
Gelehrten hiiiterlassen. Nochmals lesen wir, wie er, der
ja selbst arm und mittellos war und zeitlebens am ,, Pflug
^‘9 Ueber die Beziehungen von Vater und Sohn wissen wir so gut
wie nichts, wenn auch in der »Großen Wundarznei« (Chir. Bücher
und Schriften, Fol.-Ausg. Straßburg 1605, S. 102) bei Erwähnung seiner
Lehrer das bekannte Wort steht: »Erstlich Wilhelmus von Hohenheim,
mein Vater, der mich nie verlassen hat.« . . . Als dieser starb, dürfte
gewiß Paracelsus in der Ferne gewesen sein, denn erst vom 12. Mai
1538 ist das Dokument über Tod und Nachlaß datiert. Man vergleiche hier¬
über den Wortlaut der Urkunde bei Michael Toxites: Testanientum Philippi
Theophrasti Paracelsi. Straßburg 1574 (gedruckt durch Christ. Müller).
S. 7 bis 8: »Am Tage unserer lieben Frauen Geburt des Jahres 1534,
ist der ehrbar wohlgelehrt und berühmt Wilhelm Bombast von
Hohenheim, der Arzney Licentiat, verschienen, nachdem er zu
Villach als ein Inwohner bei 32 Jahr ungefährlich gewohnt und all
die Zeit seines Wesens Wandel und Leben gegen aller meiniglich ehrbar,
ehrlich und wohl gehalten; das mir, Richter Rat und die ganze Gemein
der Stadt Villach um der Wahrheit willen zu bekennen schuldig ist.« —
Man kann wohl annehmen, daß Paracelsus erst 1537, d. h. nach seinen
großen Wanderungen durch Europa — also nicht schon früher einmal
— nach Villach kam. Es möchte hier erwähnt sein, daß Paracelsus nicht
nur Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien, England, Schw'eden, Däne¬
mark, Polen, Ungarn, Walachei u. a. als Länder seiner Wanderung nennt,
sondern ganz besonders auch Kroatien und Windisch Mark (Krain). In
der »Großen Wundarznei« (Chir. Bücher und Schriften, Fol.-Ausg. Stra߬
burg 1605, S. 48) erzählt er Erinnerungen an die Hafenstadt Zengg »zu
Zeug in Krabaten«.
'•'^) Rheticus starb am 4. Dezember 1576 zu Kaschau. Er war ein
bedeutender Vertreter der Lehre des Kopernikus und als Arzt ein warmer
Anhänger des Paracelsus. Vgl. das Brieffragment des Rheticus in Michael
Neanders »Orbis terrae partium succincta explicatio« 1583 (spätere Aus¬
gabe 1586 u. 1589), 89 Karl Sudhoff: Rheticus und Paracelsus. Verh. der
Naturf. Gesellsch. in Basel, Bd. 16.
^9 Paracelsus Opera Fol.-Ausg. Straßburg 1603, Bd. 1, S. 692.
^®) Michael Toxites: Testamentum Ph. Theophrastus Paracelsi . . . .
Straßburg 1574.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
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tie]' A'ahning“ stand, ,,der ariuoii ^leiischen von den Kirclien“
gedenkt und das Wenige, was er aus den Stürmen seineis
mhelosen Lel)ens gerettet hatte, „arm, elend und dürftig
Leut“ zueignet. An Büchern fand man neben medizinischen
und besonders theologisclien Mauuskripten — meist Arbeiten
aus seiner letzten. Zeit — nur sehr wenig: eine Handbibel,
ein xXeues Testament, die Inlerpretationes super Euangeha
in duobus libellis von Hieronymus, Concordiae Bibliorurn
und ein Buch medizinischen Inhaltes. Am 24. September,
also drei Tage nach der Testamentserklärung, des .fahres
1541 ist Paracelsus im Alter von 48 Jahren zu Salzburg
gestorben. Die Beerdigung des, berühmten Arztes und Natur¬
forschers erfolgte unter großer Teilnahme am Friedhofe
zu St. Sebastian, wo er — nach eigenem Wunsche — mitten
unter den Armen des Versorgungshauses (Bruderhäusler)
eine Ruhestätte fand. Doch schon ein halbes Jahrhundert
später sah man sich infolge dos Baues der Gabriel-Kapelle im
Friedhofe genötigt, die Gebeine zu exhumieren un^l an her
Mauer der Kirche von St. Sebastian zu bestatten. .Auch die
Grabplatte mit der bekannten Inschrift wurde dahin über¬
tragen. 1752 erhielt dann der große Tote im Stiegenhause
der St. Sebastianskirche ein pyramidenartiges Grabdenkmal,
wo jetzt auch seine Gebeine ruhen. Die alte Platte mit dem
Epitaph ist ebenfalls wieder angebracht worden. In Zeiten
der großen Epidemien pilgerte das Volk oft an das Grab des
Paracelsus und noch in den Dreißigerjahren des vorigen
Jahrhunderts war die Erinnerung an seine ruhmvolle Heil¬
kunst nicht erloschen.
Ich erwähnte schon flüchtig, daß auch die schrift¬
stellerische Tätigkeit des Paracelsus mit ihren reifsten Pro¬
dukten auf Oesterreich weist. Vieles ist hier zu Ende geführt
worden, vieles direkt begonnen und abgeschlossen. Es kann
nicht Aufgabe dieser Skizze sein, eine genaue Uebersicht
zu bringen und soll nur einiges genannt sein, das auf öster¬
reichischem Boden entstanden oder beendigt wurde : die
.meisten theologischen Schriften (Abendmahlschriften, Bibel¬
kommentare, Mariologisches u. a.) aus 1532 bis 1535,-')
die aber heute noch ungedruckt sind, das Volumen primiun
suae philosophiae de divinis operibus et secretis naturae
(23 Bücher), das Volumen secundum de vita beata, .die Bücher
über Bergsucht (um 1534/35), das Pest-Büchlein an die
Stadt Sterzing (1535), die berühmte Große Wundarznei (be¬
ziehungsweise das HI. Buch), die Astronomia magna oder
philosophia sagax der großen und kleinen AVelt, die
Chronik des Landes Kärnten, die neun Bücher De natura
rerum, die deutsche Fassung der Defensiones und desLaby-
rinthus IMedicorum u. a. Von heute noch erhaltenen Hand¬
schriften, bzw. Abschriften (ungedruckt) weisen auf Oester¬
reich die beiden groß.en theologischen Sammelschriften in
der I^eydener Universitätsbibliothek die früher im Besitze
der böhmischen Grafen Orsini von Rosenberg waren. Einen
sehr wichtigen, ja grundlegenden Kodex haben wir im Kloster
Ossegg bei Dux in Böhmen, der mit seinen wertvollen Ver¬
zeichnissen pa.racelis,ischer Schriften für die weitere For¬
schung richtunggebend war.-®)
Hier in Wien (Hofbibliothek) liegen ebenfalls mehrere
recht wertvolle Manuskripte, die sich aber meist auf
Chemisch- Alchimistisches des Paracelsus beziehen. Zum
Beispiel Manuskript 11.259: das sind 389 beschriebene
-®) Noch am selben Tage u. zw. — wie damals gebräuchlich —
12 Stunden nach eingetretenem Tode, lieber Grabdenkmal u. a. vergleiche
man Karl Aberle a. a. 0. Der Wortlaut der Epitaph kann wohl als
bekannt vorausgesetzt werden.
-'0 ln diesen Tagen unterschrieb er sich gern: »Theophrastus Von
Hohenheym, der Heyligen Schrillt Professor, beider Artzney Doctor.«
Zum Beispiel in der Ueberschrift zur Vorrede im Buche: Von der
Pestilentz an die Statt Stertzingen (herausgegeben 1576 von Toxites)
oder in den zwei Briefen an den Magistrat von Memmingen (10. Oktober
1536). Oder 1533 in einer Handschrift: »Sacrarum literarum medi-
cinarumque doctor«, in der Abendmahlsabhandlung »Coena Domini
Declaratio« steht: »Aureolum (!) Theophrastum Paracelsum Sacr. L
Doctorem«.
28) Vgl. die Reproduktionen in des Verf. Paracelsusbiographie.
Daselbst auch das Faksimile eines Originalprozeßes der Wiener Hof¬
bibliothek.
Blätter in Quart, wohl um L60Ü gescliriel)eu. Oder
Mauuskript 11.428, dann 11.200 (Manuskript Ambras 158),
das ein iriieresisantes Konsilium von Blatt 240/41 enthält.
Auch seien genannt die Manuskripte 11.144 (Vlftte des
XVI. Jahrhunderts), 11.114/15, mit schon gedrucktem Mate¬
rial. Nun ist sehr wichtig, daß Manuskript 11.144 zwischen
Blatt 126 und 127 zwei Zettel eingeheftet, hat, deren erster
ein echtes Rezept von der eigenen Hand Paracelsus’ ist.
Wenn man auch heute noch nicht abschließend über
Paracelsus und sein Werk sprechen kann, wenn, wir auch
vorerst nur die Leitgedanken seines Systems in den Um¬
rissen sicherzustellen vermögen — ganz zu schweigeii von
seiner völlig eigenartigen, außerkirchlichen Theologie des
dogmenlosen ,, christlichen Humanismus“ — so wissen wir
doch schon, daß er nicht nur ein Klassiker in der Ge¬
schichte der VIedizin und der Naturwissenschaften war,
sondern a.uch ein wirklich genialer Mensch. Alles, was er
sagte, trug das Kolorit seiner Subjektivität und zeugte von
jener verinnerlichten Art eines durchseelten Denkens. Es
waren wenige unter den Menschen der Renaissance,
welche einer w, ahrhaft humanistischen Lebensstellung
so starke Vlächte entbunden und sie dabei als ,, Re¬
ligion“ mit erciuickendem Freimut in die uralte Me¬
lodie des Natu r geschehens verwoben haben. Menschen,
welche mit gleicher Gefühlsinneriichkeit für die un¬
mittelbaren Beziehungen der Seele zum Unendlichen so er¬
greifende Worte fanden, ln diesem, aber nur in diesem
Sinne war Paracelsus auch IMystiker und Gefühlsphilosoph,
denn die Einheit des Seelischen und Sinnlichen, des .Sub¬
jekts und Objekts war im Tiefsten seiner Empfindung ver¬
ankert und erfüllte sein ganzes Wesen. Auch bei ihm erwacht
das Erkennen zuerst aus warmem, innerem Erleben, das an
Mystik gemahnt und Gefühlsspekulation genannt werden
kann. Und dabei ist er einer der ersten , großen Empiriker
und Experimentatoren. Erfahrenheit, \V'’ohlgeübtsein, Ver¬
such, Beschreibung der Tatsachen sind Worte, die bei JhiH
in den verschiedensten Varianten immer wiederkehren.
Naturforschung ist auch ihm schon ein Suchen nach gesetz¬
lichen Abhängigkeitsbeziehungen des Wirklichkeits¬
zusammenhanges. Dazu kommt eine reiche Detailkenntnis
in den einzelnen naturwissenschaftlichen und medizinischen
Gebieten — ich erinnere z. B. an seine medizinische Chemie
oder an klimatologische Erfahrungen — und besonders auch
seine große, rein anschauliche, ästhetische Auffassung der
Natur, die an Goethe gemahnt. Die cheimisch-therapeutische
Heilkunde und physiologisch-pathologische Chemie sind
überhaupt durch Paracelsus begründet worden, und daß er
mit der hellen Sinnlichkeit der Renaissance den Sinn für
das Leben wachrief und dadurch biologischen Interessen
freiere Bahn schuf, ist sein zweites Hauptverdienst. Er¬
faßt Gott, Welt und Seele als ein Einheitliclies (zusammen :
Gott ist die Welt, die Welt ist beseelt auid die Seele ist
göttlich. Darum der unendliche Wert der letzteren. Unser
tiefster Grund ist auch der Weltgrund, unser tausendfarbiges
Leben ist auch der Welt Leben, es ist fortschreitende Ver¬
gottung, so wie Gott sich wieder entgottet und iNatur wird.
Das Göttliche ist die Vollendung, es ist der Endpunkt aller
Evolution, denn alles will im ,, Lichte der Natur“ vollendet
sein. Das ist der permanente Umsatz des Göttlichen, psy¬
chischen und Physischen. Himmel und Erde sind dasselbe,
denn der Mikrokosmos ist der Makrokosmos und umgekehrt.
Der Mensch ist die Natur und die Natur ist der Vlensch.
Immer kehren sie in der anthropomorphisierenden Natur¬
philosophie des Paracelsus wieder: Lebenseinheit, Unend¬
lichkeitsgefühl und Erklärung der Natur aus dem Menschen !
Man bemerkt da unwillkürlich die Verwandtschaft mit der
Gefühlsphilosophie der Renaissance und des Humanismus,
mit den Lehren vom Mikrokosmos, wie sie Cusanus, Reuch-
lin, Agrippa u. a. ausgesprochen haben, oder mit der sensu-
alistiscben Verherrlichung des Menschen bei Melanchthon,
Taurellus, I^uther und Böhme. Aber dabei war Paracelsus
ein großer Dichter pes Todes. Er hat mit den Fähigkeiten
des echt phantasievollen Menschen und doch krilischeii
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
Forschers über das Sterben inicl seine körperlichen und
seelischen Ausdrucksmittel nachgedacht und in wunder¬
barer Bildlichkeit der Sprache von den dunkeln Seltsam¬
keiten eines erlöschenden Lebens geredet. In ergreifenden
Bildern und Allegorien verwebt er die Gesetze des Todes
mit Dichtung, Philosophie und Ethik und nicht an letzter
Stelle sind es seine heute noch ungedruckten theologischen
Schriften, die uns Wertvolles vermitteln. Freilich darf man
nicht an konfessionelle Ergüsse und dogmatische Wort¬
spielerei denken, vielmehr Paracelsus steht auf völlig außer¬
kirchlichem Boden. Weder mit Luther noch mit Rom hat
er auf den Höhepunkten seines Lebens gemeinsame Sache
gemacht. Er war durch und durch liberal und .tolerant,
trotz seiner warmen religiösen Begabung und tiefen Fröm¬
migkeit. Die Sage — nicht am wenigsten die isalzburgische
— hat Paracelsus als einen lauten Mann der Gasse ge¬
schildert, als einen marktschreierischen ,, Goldmacher“ oder
theatralisch herausgeputzten Faust. Wir wissen heute, daß
(u- nichts von dem gewesen ist. Wenn er auch als' wisseni-
schaftlicher Polemiker den scharfen und volkstümlichen Ton
seiner Zeit anschlägt, so war er doch im Tiefsten und
Letzten ein stiller und einsamer Mensch. Die Welt Rer
Seele hat immer über .ihn Gewalt besessen und sogar die
Oberfläche seines Lebens spiegelt ihre Schicksale und Wand¬
lungen. Man kann von ihnen reden, wie kürzlich ein feiner
Dichter- Arzt die Geschichte einer Seele erzählt hat: ,, eines
Menschen mühevolles Wandern; aus Jugend zur Blüte, aus
leisem BlätterfaJl zum Tode“ .
Literatur:
In betreff der biographischen, bibliographischen und quellenmäßigen
Details und der Paracelsischen Naturwissenschaft verweist der Verfasser
auf sein Buch: Theophrastus Paracelsus, sein Leben und seine Per¬
sönlichkeit, Leipzig (Verlag Eugen Diederichs) 1903. Weiter auf seine
Paracelsus- Ausgabe: Das Buch Paragranum, Leipzig (ebd.) 1903; Volumen
Paramirum und Opus Paramirum, Leipzig-Jena (ebd.) 1904 und seine
Abhandlungen: Ein Chemiker der deutschen Renaissance, Chemiker-Zeitung
1906, Nr. 63; Theophrastus Paracelsus, Monatshefte der Comeniusgesell-
schaft, Berlin (Weidmann) 12, 1903; Die naturwissenschaftlichen Grund¬
lagen der Psychologie des Johann Bapt. van Helmont, Zeitschrift für
Philosophie und philosophische Kritik 1904. lieber van Helmont und Para¬
celsus vergleiche des VerfassersMonographie: Johann Bapt. van Helmont. Ein
Beitrag zur Geschichte der Naturwissenschaften. Wien und Leipzig
(F. Deuticke) 1907. Eine Abhandlung, die sich mit den theologischen und
ethischen Gedankengängen des Paracelsus beschäftigt, veröffentlicht er in
dem nächsten Heft der »Religion und Geisteskultur« (herausgegeben von
Privatdozent Lie. Tb. Steinmann). Göttingen, im Verlage von Vandenhoeck
und Ruprecht. — Ganzbesonders sei aber auch hier auf diekritischenundgeist-
vollen Forschungen des Leipziger Gelehrten Prof. Karl Sudhoff verwiesen : Ver¬
such einer Kritik der Echtheit der Paracelsusschen Schriften. Bd. 1 (Berlin
1894), Bd. 2 (Berlin 1899); Paracelsus-Forschungen, l. Heft 1887, II. Heft
1889; Hohenheims literarische Hinterlassenschaft, Rom 1904 (Atti del
Congresso internazionale de scienze storiche; Volume XII, Sezione VIII:
Storia delle Scienze fisiche, matematiche, natural! e mediche); Paracelsus
in Meran (Verhandlungen des Naturforschertages in Meran [1905]. II.
2. Hälfte. Abt. f. Gesch. d. Med. u. Naturw.); Rheticus und Paracelsus
(Verhandlungen der Naturforschergesellschaft in Basel. Bd. 16). — lieber
Paracelsus inSalzburgvergleicheman Karl Aberle: Grabdenkmal, Schädel und
Abbildungen des Theophrastus Paracelsus. Salzburg 1891. — Daß schon
1883 und dann 1893 der bekannte Wiener Gelehrte und Chemiker Pro¬
fessor Alexander Bauer für Paracelsus so warme und feinfühlige Worte
fand (Wiener Zeitung Nr. 283 bis 285, 1893; Chemie und Alchemie in
Oesterreich, Wien 1883), also in einer Zeit, wo die diesbezügliche For¬
schung noch in den Anfängen war, möchte hervorgehoben werden.
Hßfet'ate.
Die Röntgenstrahlen im Dienste der Neurologie.
Von Wilhelm Füruohr.
375 Seilen mit 28 Abbildungen.
Berlin 1906, S. Karger.
Die Neurologen haben frühzeitig das Röntgen verfahren für
ih.’e vVissenschaft herangezogen, man braucht bloß einen Blick
::: d;. seit zehn Jahren erschienenen Archive aus Deutschland,
• :na i rarikroich zu werfen, um sich davon zu überzeugen, ln
A;.'n sind iienedikt und H. Schlesinger, in Berlin Oppen-
l'.eim unter den ersten zu nennen. Radiologische Illustrationen
'tor N'mroiogie wurden am ersten Böntgenkongresse in Berlin von
t-; pi-nheim und Kassirer in einer großen Sammlung aus¬
gestellt. A. Schüller hat in einem eigenen Werke den Schädel
bearbeitet.
Oppenheim wies zuerst am Lebenden die Erweiterung
der Sella turcica hei Hypophysistumor nach (1899), er ist es
auch, der Füruohr zur vorliegenden Arbeit veranlaßte. Wir
sehen da Revue passieren die Krankheiten des Gehirns und
Schädels, des Rückenmarks und der Wirbelsäule, der peripheren
Nerven, die ,,vasomotorisch-trophischen Neurosen“ usw. Auch
die a.kute und chronische Knochenatrophie, wie sie (U’st durch
die Radiologie näher erforscht wurde (Sud eck und Kienböck),
Herz- und Zwercbfellerkrankungen, Akromegalie, Riesenwuchs,
Myxödem, Zwergwuchs und vieles andere wird dargestellt, soweit
es durch die Röntgenuntersuchung bereichert ^vurde, selbst die
Lokalisation von Fremdkörpern im Schädel und Wirbelkanal. Kurz,
Fürnohr hat mit großem Fleiße und bewundernswerter Ge¬
wissenhaftigkeit alles Einschlägige gesammelt und in schöner Dar¬
stellung wiedergegeben. Alit Recht bemerkt Oppenheim in dem
vorangeschickten Vorworte : „Man wird Fürnohr die Anerkennung
nicht versagen, daß er seiner Aufgabe Herr geworden ist und
in der mit vielem Fleiße und Sachkenntnis geschaffenen Alono-
graphie etwas Nützliches und Wertvolles bietet.“ Nur zwei kleine
Ausstellungen seien mir gestattet: in der Diagnose der Hirn¬
tumoren und tabischen Wirbelsäuleveränderungen hätte strengere
Kritik Platz greifen sollen; und zweitens hätte das Buch an
Uebersichtlichkeit Avomöglich noch gewonnen, wenn vom Kleiu-
drucke ausgiebigerer Gebrauch gemacht worden wäre. Das an¬
gefügte große Literaturverzeichnis Avird vielen willkommen sein.
*
Knochensyphilis im Röntgenbild.
Von R. Halm und Deycke.
Hamburg 1907, L. Gräfe & Sille m.
Stellt den XIV. Ergänzungsband der von Albers-Schön¬
berg herausgegebenen Fortschritte auf dem Gebiete der
Röntgenstrahlen dar. Es ist ein Atlas, der durch die aiißer-
ordenilich schönen Reproduktionen, 84 Bildern auf zehn Brom¬
silbergelatinetafeln, großen Wert besitzt. Alan sieht da die sel¬
tenen und typischen KnocheiiA-eränderungen durch Lues an großem
Materiale dargestellt, die man oft aus dem bloßen Anblicke des
Radiogramms richtig diagnostizieren kann. 44 Textseiten gehen
die notwendigen Erläuterungen; auch sind die früheren Arbeiten
Amn Hahn, A. Köhler, Holzknecht und Kienböck berück¬
sichtigt, nur auf die Syphilis der Kinder ist zu AA’^enig Gewicht
gelegt. Sehr gut ist, daß nur solche Fälle benützt Avurden, bei
denen die Diagnose Syphilis vollkommen sicher Avar. Kein Kliniker
oder pathologischer Anatom Avird an dem neuen Werke achtlos
vorübergehen.
♦
Die Röntgentherapie nach ihrem heutigen Stande.
Vortrag von Ed. Gottsclialk.
Stuttgart 1907, F. Enke.
Der auf Veranlassung des Landeskomitees für das ärztliche
Fortbildungswesen in AVürttemberg, am 27. Alärz 1907, gehaltene
Vortrag Gottschalks, gibt einen brauchbaren üeberblick über
das Thema. — 35 Seiten. — Einige Krankengeschichten finden
sich ebenfalls vor, zuletzt leider die haltlose Bemerkung: ,,Die
Expositionszeit soll sich jeAveilig auf 6 bis 15 Minuten beschränken;
die Expositionsfläche soll bei der Unzuverlässigkeit der Do-
sierungsraittel nie sehr groß geAvählt Averden.“
*
Mitteilungen aus der Wiener Heilstätte für Lupuskranke.
Herausgegeben von Prof. Dr. Ed. Lang.
1. Folge. Mit 38 Abbildungen.
Wien 1907, J. Safäf.
Enlliält vor allem A. Jungmanns Bericht über die
in der Anstalt im Jahre 1905 geleistete Arbeit. Die Arbeit Avar
dank dem großen Alateriale und der Hingabe der Aerzte sehr
groß, der Bericht ist mit großer Sorgfalt abgefaßt. Zu den bisher
operierten 240 Fällen von Lupus sind 53 neue gekommen, deren
Krankengeschichte mitgeteilt AAÜrd. Von 197 dauernd beobachteten
früheren Fällen sind 173 rezidivfrei geblieben. Hierauf folgt der
Bericht über 148 nach Fi n sen behandelte Lupusfälle, Avobei
Jungmanns automatische Drucklinsen in Verwendung kamen.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907. 773
Zinn ScliliisR'O sind die inif Rönlsonstrahlon und Radiani go-
inaclileii Kifahniiigeii erwäfiiil, uiit Reigabe einer Ablvildimg von
Jung man ns „Ililngeslaliv“ für die Röntgenröhre. 102 Seilen.
*
Archives of the Roentgen Ray.
Nr. 77—82 (Dec. 1906 — May 1907),
Edited by Cl. A, Wright and W. Heaiie Butcher.
London and New York, Rebman.
Stanley Green findet die Röntgenuntersuclmng für die
Friilitliagnoso der Lungen luberkulose wertvoll und gibt Radio-
gramme bei sie sind ohne die heute bekannten Kunstgriffe
bergestellt. Er legt atif das Williams sehe Symptom der ein-
seilig verminderten Zwergfellbewegting und die mangelnde Spit^en-
aufbellung beim Inspirium Gewicht, beschreibt die Yerdunk-
lungsherde durch Infiltrate, den Schatten des Pleuraergusses und
das Verhalten der Lunge oherhalh, endlich den Verlauf der Er¬
krankung bei fortgesetzten Untersuchungen.
Hall Edwards teilt seine günstigen Erfahrungen über
Lupusbehandlung mit Röntgenstrablen und Kombination mehrerer
Verfahren mit. Schöne Photographien vor und nach der Be¬
handlung.
Rordi er bestätigte durch Versuche — wie auch gar nicht
anders zu erwarten war — die alte Erfahrung, daß ein Dosi¬
meter (Baryuniplatincyanür) sich um so schneller färbt, je rascher
im Primärslrom die Unterbrechungen, also auch im Sekundärstrora
die Röntgenlichtschläge aufeinanderfolgen u. zw. waren die für
eine hestimmte Dose erforderliche Expositionszeit und die Unter¬
brechungszeit genau im arithmetischen Verhältnisse verkehrt pro-
porlioniert; bei 500 Unterbrechungen in der Sekunde betrug z. B.
die Expositionszeit 20 Minuten, bei 1000 Unterbrechungen zehn
Minuten. Es erklärt sich diese Exaktheit durch Verwendung eines
guten Quecksilberunterbrechers. Würden bei langsamen Unter¬
brechungen stärkere Röntgenlichtemissionen erfolgen, als bei
schnellen, so wäre das Verhältnis ein anderes.
Derselhe Forscher prüfte auch die von Freund mit dem
Jodometer und vom Referenten mit dem Quanlimeter unter¬
suchten Strahlungsregionen der Röhre mit seinem Radiometer
nach und kam ebenfalls zum Resultate, daß das Optimum der
Strahlung nicht gerade unter der Röhre, sondern mehr kathoden-
wärls liegt. Älit Recht wird daher die gebräuchliche Position
der Radiometerträger beanständet.
Haret hat einen neuen radir^ogischen Operationstisch kon-
stmiert.
McK ulloch findet — es handelt sich um eine Frau mit
tuberkulösen Lymphomen — , daß durch Röntgenbestrahlung die
Schutzkraft (Opsonic index) gegen Tuherkelbazillen auf den nor¬
malen AVert gehraebt werden kann.
Laquerriere hat von einem Kollegen folgende Mittei¬
lung erhalten, welche beweist, daß — wie erwartet — die radio-
chemische Sterilität des Mannes transitorisch sei n
kann.
Ein 32jähriger Arzt hat seit sechs Jahren (seit 1900) im
Röntgenlaboratorium gearbeitet und sich täglich etwa eine Stunde
(ausnahmsweise bei Experimenten sieben Stunden) dem nahen
Röntgenlicht ausgesetzt. Ein Jahr darauf, als seine klaitresse
nicht mehr schwanger wurde, sah er ein, daß seine Befruchtungs¬
fähigkeit geschwunden war. In der Tat wurde das Frauenzimmer
später durch einen anderen Mann schwanger. 1903 heiratete
der Arzt, er setzte seine radiologische Tätigkeit fort, von 1905
an mit — allerdings wenig gewissenhaftem — Gebrauch von
ScliUtzvorrichtungen. Im September 1905 wurde der Same unter¬
sucht, es fand sich Oligonekrospermie, die Lihido sexualis war nicht
herahgesetzt. Nun begann der Arzt regelmäßig Bismutkautschuk¬
schürzen zu tragen; drei Monate s])äter enthielt das Sperma
wieder ziemlich reichlich lehende Spermatozoen und die Frau
wui'de Ende Januar 190G 'schwanger. Der Fall ist dem Lapow-
skis ähnlich.
Frau Dr. A. F. Sa will gibt einen ausführlichen Be¬
richt über 36 radiolherapeutisch behandelte Fälle von
II e r p e s tonsurans. Sie veiwende te d as S a 1) o 1 1 r a u d-
Noireische Dosimeter und fand es sehr verläßlich; nie¬
mals zeigte sich Idiosynkrasie des Patienten. Die Haan.'
fielen prompt nach zii’ka zwei Wochen aus. Als die Haare nach I
mehreren Monaten nachwuebsen, war die Krankheit geheilt bis auf
fünf Fälle mit Rezidive; hier war aber der Kopf nicht vollkommen
epiliert worden. In neun Fällen, war der Nachwuchs der Haare
spärlich u. zw. weil überexponiert worden war, wahrscheinlich
infolge Annäherung des S. N. - Scheibchens auf mehr als halbe
F oku s h au tdi s t a n z .
R. Jones und D. Morgan bringen einen Bericht mit
schönen Photographien und Radiogrammen über Knochenzyslen,
Osteosarkome Und Chondrome.
Jubb bildet einen Fall von Perobrachius, Flossenarm ab;
Bunting eine Doppelmißbildung. Orton geniert* sich nicht,
das Ratliogramm eines normalen Kniegelenkes zu bringen, mit
den häufigen Sesamhen in Gaslroknemius und will uns heute
(1907) noch einreden, daß es sich um einen freien Körper im
Gelenke handle. Abbe demonstriert in eleganten Abbildungen,
Avie man mit Radium einen Gewehrlauf mit Patronen darstellen
Und durch einen mehr als 1 dm starken Granit eine mit Blei¬
draht geschriebene Schrift radiographieren kann.
*
Archiv für physikalische Medizin und medizinische
Technik.
Herausgegeben von Kraft und Wiesiier.
2. Band, Heft 1 und 2 (Oktober bis Februar 1907).
Leipzig, 0. Nemnich.
Rieder schildert die von ihm erfundene Technik der
Orthoröntgenographie des Herzens, die also als weitere
Vervollkommnung zur Orthodiaskopie tritt und einwandfreie
Resultate gibt. Schöne Radiogramme sind auf Tafeln beigefügt.
Auch wird so der Einfluß der Körperlage und Respirationsphase
auf Lage von Zwerchfell und Herz studiert.
' Grashey mach tauf einige radiodiagnostische Fehldiagnosen
aufmerksam, so bei Klavikulafrakturen, Blasenaufnahmen, Kuie-
aufnahmen, avo man Ossifikationsherde im Bandapparate sieht
und nicht für Steine, bzw. freie Körper halten soll.
Wichmann hat LupUs mit Radium behandelt und dann
mikroskopisch untersucht; in oberen Schichten war die Affektion
geschAA'Unden, in tieferen aber nicht, entsprechend der ungünstigen
Tiefenverteilung des Lichtes im GeAvebe.
Gehldorf hat einige Quellsedimente auf Radioak¬
tivität Und Emanation geprüft, von Kreuznach, Münster
am Stein, Reichenhall, Salzschlirf, Kissingen, Landeck in Schlesien,
mit bedeutendem GeJialte: bis zu 4740 Volt Potentialabfall durch
125 g in der Stunde. Joachimsthaler Uranpecherz gab 13.000 Volt
Abfall.
Hilde brand gibt das Reshltat seiner radiologischen Unter-
süchungen Amn Verengerungen des Oesophagus bekannt, 'er
.reproduziert technisch vollkommene Radiogramme des mit Wis¬
mutbrei gefüllten Oesophagus bei Karzinom, Narbenstrikturen
und Spasmus.
Boas behandelt die Technik des Baues der Induktoren,
die eine geAvisse Größe nicht übertreffen müssen und betont die
Wichtigkeit, Primärströme von nicht zu hoher Spannung zu Amr-
Avenden.
Sommer gibt Ratschläge zur physikalischen Nachbehand¬
lung von Frakturen; er hat eine große Anzahl von Radiogrammen
in Holzknechts Institut bearbeitet.
*
Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen.
Herausgegeben von Albers-Schönberg.
Bd. X, Heft 4 bis 6.
Hamburg, L. Gräfe & Sille m.
M a 1 1 h i a s und Fett is t es gelungen, Gallenblase n-
konkremente — sie Avaren sebr kalkreich — auf der radio¬
graphischen Platte zur Darstellung zu bringen. Die Operation
bestätigt die Diagnose.
Rieder hat in einem interessanten Falle Darmstri.k-
luren mit der radiologischen Wismutmethode nachgewiesen und
durch treffliche Radiogramme , illustriert.
Gottschalk hebt die Möglichkeit der Frühdiagnose der
Knochen tuherkulose durch Röntgenstrablen neuerdings hervor.
Weisflog bat Enterolithen im Processus vermiforiuis nach¬
gewiesen.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
' i
De lke.sk a mp crfursclit das Yerliallen der Knorhemirterien
l)(‘i Erkrankungen und Frakliiren an in.jizierlen Pr<äparaton.
Scliii'f: Vortrag auf dom III. inUumationalen Kongresse
für Eleklrobiologie und medizinische Radiologie in Mailand,
5. l»is i). September 1906, behandelt die l{adiotherapio des E[)i-
Ihelioms, die Erfolge sind nach eigenem Materiale und enormer
Kasuistik geschildert.
Seblayor bebandell die ebronisebe \Virb(dsäuIenankylosc
vom klinischen und. radiologischeii Standpunkte an lebendem Ma-
leiiale und an Präiuiraten. Von Interesse ist die sich dabei ent¬
wickelnde Knochenatropbie.
Sjögren schildert Fälle von Oesophagusdilatation, die topo-
grapbi.schen Vci'hä II nis.se lassen sich mit der Wismntmolhode
genau nachweisen. ■
Lu dl off diagnostiziert radiologisch eine Reihe von Kreuz-
beinfrakt'uren.
Deycke verfolgt im Radiogramme die Knochenverändc-
jungen bei Leijra.
Driiner bringt eine lange Abhandlung über stereoskopische
Messung in der Röntgentechnik.
W. Krause studiert die Beziehungen der Halsrippe zur
Zervikodorsalskoliose am Lebenden, Verhällnisise, die bisher nur
am Präparate erforscht worden waren.
Schürmayer prüft die Lage der Nieren in normalem
und pathologischem Zustande mittels des Radiogramnies und
kommt zu wertvollen therapeutischen Ergebnissen.
*
Die Kathodenstrahlen.
Von Gt. C. Scliinidt.
2. Auflage.
127 Seiten mit 50 Abbildungen.
Brauftschweig 1907, F. V i e w e g & Sohn.
ist als zweites Heft der ,, Wissenschaft“, Sammlung natur¬
wissenschaftlicher und mathematischer Monographien erschienen.
Eine leichtverständliche Abhandlung für Chemiker und Mediziner,
mathematische Entwicklungen treten in den Hintergrund. Zum
Schlüsse des dabei streng wissenschaftlichen Werkes wird von dem
bekannten Physiker auseinandergesetzt, wie die Eigenschaften der
Kathodenstrahlen zu dem Begriff des Elektrons geführt haben.
Ausstattung und Abbildungen musterhaft.
*
Ueber elektrische Entladungen im luftverdünnten Raum.
Experiraentalvortrag in der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft der
Stadt Winterthur von Prof. Dr. E. Sommer.
München 1907, 0. G m e 1 i n.
. Sehr leicht gesebriebenes, 18 Seiten starkes Heftchen, das
uns die neuesten Kenntnisse über das G e i ßd e r - Licht, die Ka¬
thoden- und Kanalstiahlen übermittelt.
Der Gummidruck.
Von Th. Hofmeister.
2. Auflage.
Halle a. S. 1907, W. Knapp.
Der Gummidruck wird bekanntlich als künstlerisches Aus-
diucksmittel in der Photographie verwendet. Mit diesem Ver¬
fahren wird das Bild ,, nicht kleinlich, peinlirdi genau“, wie es sonst
die Photographie bedingt, sondern ,,groß, breit, flott, scharf oder
unscharf“, wie es dem Künstler beliebt, gebracht. Für medi¬
zinische Zwecke wird der Gummidruck also selten geeignet sein,
da es hier gewöhnlich gei-ade auf möglichst detaillierte Wieder¬
gabe ankommt. Hofmeister hat es sich zur Aufgabe gemacht,
nicht die große Zahl der erfundeneji Methoden, sondern bloß die
einfachste und beste zu schildern, die auch er am meisten ausübtr
K i e n b ö c k.
Aus versehiedetien Zeitschriften.
308. Z u j- A e t i o 1 o g i e u n d D i a g n o s e der Gelen k s-
maus. Von Dr. P. Ewald, Assistemzarzt der orthopädisch-
chirurgischen Klinik des Prof. Dr. Vulpius in Heidelberg. Ein
18jäbriger ki-äftiger iMann, der früher viel Sport betiieben hatte,
jetzt aber seit zwei Jahren die Bewegungsspiele vernachlässigte.
machte eines Tages einen ^Vettlauf u. zw. „links herum“, so
daß also bei der runden Bahn das linke Bein dauernd (due
relativ größere Belastung erfuhr. Bei einer stärkeren Anstren¬
gung knickte er ])lötzlicb mit dem tinken Knie ein (kein Fehliritl.
keine Verdrehung des Beines), empfand starken Schmei'z und
konnte nicht mehr auftreten. Bald Anschwellung, welche nach
Ruhe sclnvand; es blieb jedoch die Unmöglichkeit, das Kui(‘
ganz zu strecken und über einen rechten Winkel hinaus zu
beugen. Nach vier Wochen kam er auf die Klinik. IMan fand
an der Außenseite des linken Kniegelenkes eijien erbsengroßen,
äußerst beweglichen, glatten Körper, diagnostizierte eine Gelenks¬
maus, schiiitt darauf ein und beförderte den freien Gelenkskörper
heraus. Dem 'Aussehen nach stammte das Corpus mobile von
einer Geleidcsfläche, wahrscheinlich von einem Femurkondylus.
Lagerung auf einer Schiene. Als man am neunten Tage den
Verband abnahm, bemerkte man zur großen Ueberraschung, daß
wieder ein solcher freier, ähtdichor Geleidcskörijer voi'handen sei.
Abermalige Exzision. Entlassung des Kranken nach weiteren
14 Tagen. Der Fall ist in zweifacher Hinsicht lehrreich. Es .
erfolgte die Absprengung beim angestrengten Laufen, bei einer
Potenzierung der noimalen Funktion, mithin bei einer keines¬
wegs schweren Gewalteinwirkung und bei einem gesunden Ge¬
lenke. Die rein mechanische Entstehung des Gclenkskörpers ist
auch in forensischer Hijisicht (Begutachtung von Fnfällen) wichtig.
Sodann ist das multiple Auftreten von Gelenkskörpern zu beachten
Eine Rönigenaufnahme wäre wohl angezeigt gewesen, doch lag
bei der Klarheit des Falles eine solche nicht nahe; immerhin
wird es sich empfehlen, in Hinkunft stets an eine solche Multi-
plizität zu denken. Die von Bü dinger in neuerer Zeit für
Gelenksmäuse empfohlene „große Inzision“ möchte Verf. aber
trotz alledem nicht anraten. — (Deutsche mediz. AVochenschr.
1907, Nr. 18.) E. F,
*
309. Zur Frage der Wirkung des Digalens (Digi¬
toxin um solubile Cloetta) auf die Blutversorgung
des ar mb 1 ü tie r he r ze n s. Von J. A. Tsch u j CAvsky,
CharkoAv. Bei der Würkung des Digalens auf die Herztätigkeit
müssen drei Pei’ioden unterschieden Averden. Die erste Periode
Avird durch folgende Erscheinungen charakterisiert. Der Tonus
der Amntrikelmuskulatur Avird geringer. Systole und Diastole
Averden verstärkt, so daß die Gesamtamplitude der A^entrikei-
kontraktion doppelt so groß oder größer wird. Geringere A^erlang-
samung der Pulsfrequenz bei kleinen Dosen (1:6 — 7,000.000),
Ptdsbeschleunigung bei mittleren (l ; 3,500.000) und großen Dosen
(l : 1,000.000) juit rasch vorübergehender Pulsverlangsaniung zu
Beginn. Die erste Periode, AAmlche am ausgesprochensten und am
längsten andauernd bei Benützung kleiner Dosen zutage tritt,
hat soAvohl für <Iie Blutversorgung des Herzens selbst als auch
für die des Gesamtorganismus die größte Bedeutung und kommt
daher vor allem am Krankenbette in Betracht. Die zweite Periode,
Avelche vor allem bei AnAA^endung mittlerer und großer Dosen
zutage tritt, erhält ihr Gepräge dui’ch allmäbliche Tonuserhöhung
der Amntrikelmuskulatur, die erhöhte Schnelligkeit und Dauer der
Systole und geringeres Ausgeprägtsein der Diastole, Avodurch die
Gesamtamplitude der Kannnerkontraktion eine A^erminderung er¬
fährt, ferner Erhöhung der Schlagfrequenz. Diese Peiiode, Avelche
allerdings auch für den Therapeuten dadurch gewisse Vorteile
bieten kann, daß durch die Amrstärkung der Systole größere peri-
pherc AViderstände überAvunden AA’erden köjinen, birgt jedoch
AA'ieder große Gefahren in sich und bildet daher die äußerste
Grenze zAvischen therapeutischer und toxischer Wirkung. Die
dritte Periode entspricht einer bej’eits halbtoxischen AATrkung,
tiitt nur bei mittleren und großen Dosen ein und ist durch sehr
starkes Ueberwiegen der Systole über die Diastole charakterisiert.
Die Herztätigkeit erhält dadurch einen krampfartigen Charakter;
hie und da tritt Block auf. Die Analyse des AVirkungsniechanismus
des Digalens ergibt, daß soAvohl der Aluskelej'regungs-, wie auch
der Hemmungsapparat des Flerzens in Tätigkeit gesetzt Avird. ln
der ersten Periode findet eine stärkere Reizung des erregenden
(Systolenverstärkung) und eine mäßige des hemmenden Apparates
statt (DiastolenAmi'stärkung und Ptdsverlangsamung in der zAveiten
Periode zeigt sieb eine noch stärkere Reizung des Erregungs¬
und SchAvächung des Hemmungsapparates, zugleich aber eine
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907,
775
direkte Reizung der Herzmuskulatur (Toiiusverstärkung). In der
dritten Reriode iritl die Reizung des muskelerregenden Ai)parales,
SOU ie der Herzinuskulalur selbst ganz in den Vordergrund und zu-
gleich eine vollkommene IJnlerdrückung des hemmenden Apparates.
Rezüglich der Rlutversorgung de.s Herzens unter dem Einflüsse
des Digalens niüsisen auch <lrei Stadien unterschieden werden.
Der Koeffizient der Blutvrersorgimg sinkt zunächst ein wenig,
steigt dann an, um allmählich wieder ahzusinken. In vielen
Fällen, besonders hei großen Digalendosen, kann dieses letzte
Stadium eine Verlängerung zeigen. Die Regünsligung der Blüh
Versorgung ist bis zu einem gewissen Grade der Größe der
Digalendose proportional und kann die Größe des das Herz durch-
strömenden Blutes verdoppelt werden. Die oben beschriebenen
\ eränderungen der Blutvcj-sorgung sind von der übrigen Herz¬
tätigkeit unabhängig und hängen von der Einwirkung des Digalens
auf das Gefäßsystem des Herzens ab, indem die Größe der Blutver-
sorg'ung eine bunktion der größieren oder geringeren Weite der
Herzgefäße darstellt. — (Russkij Wratsch 1907, Nr. 9.)
.1. Sch.
*
310. Ueber den vestibulären S y mp to men kom¬
plex. Von F. Raymond. Neben dem durch Ohrensausen,
Schwindel, Erbrechen, Glcichgowichlsslörungen und Nystagmus
gekennzeichnelen M e n i e r eschen Symptomenkomplex existiert
auch ein veslibulärer Symptomenkomplex; während ersterer den
Ausdruck einer Reizung des vestibulären Apparates darstellt, ist
letzterer als Ausdruck einer Paralyse zu betrachten. Klinisch
ist der vestibuläre Symptomenkomplex durch das Fehlen der
Orientierung bezüglich der Veränderungen der Körperlage, Gleich¬
gewichtsstörung und Fehlen des Drehschwindels gekennzeichnet.
Zum Nachweis bedient man sich eines Apparates, welcher aus
einem horizontalen, um eine vertikale Achse drehbaren Brett
besteht. Während unter normalen Verhältnissen bei geschlossenen
Augen die Drehungen des Apparates und deren Richtung deut¬
lich wahrgenommen werden und beim Stillstand der Bewegung
ein Gefühl der Drehung in entgegengesetzter Richtung eintritl,
nehmen Patienten mit vestibulärem Symptomenkomplex bei ge¬
schlossenen Augen weder die dem Apparat erteilten Drehimgen
wahr, noch tritt bei Stillstand das Gefühl der Drehung in ent-
gegenge.setzler Richtung auf. Bei Drehung des Apparates tritt
nonnalerweise auch rotatorischer Nystagmus ein. Das Aus¬
bleiben des Nystagmus hei der Rotation läßt auf eine vestibuläre
Erkrankung schließen, welche rechterseits sitzt, wenn der Ny¬
stagmus beii Drehungen von rechts nach links ausbleibt und
linkerseits, wenn er bei Drehungen von links nach rechts aus-
bleibt. Der Vestibularapiiarat dient nicht nur zur Wahrnehmung
passiver Bewegungen, sondern auch aller aktiven Bewegungen
heim Heben, Reiten usw. Das Kleinhirn fungiert als Zentral¬
station, zu welcher alle peripheren Eindrücke, die im Dienste der
Erhaltung des Gleichgewichtes stehen, gelangen. Die Febermitt-
lung zum Kleinhirn erfolgt durch den Nervus vestibularis, so daß
Erkrankungen dieses Nervs zu Störungen des Gleichgewichtes
führen müssen. Eine weitere Leistung des Nervus vestibularis
ist die Regulierung der Augenbewegungen während der Drehung
oder der Progression des Körpers. Die Leistung der Vestibular-
nerven steht im Dienste des Orientierungssinnes imd der vesti¬
buläre Symptomenkomplex ist der klinische Ausdruck einer Er¬
krankung des Labyrinths. — (Bull, de l’Acad. de Äled. 1907,
Nr. 13.) a. e.
*
311. Zur Frage der Oe s o i) h a g u s p 1 a s ti k. Voji Doktor
med. IV. Rohitzky. ln der Literatur sind bisher plastische
Operationen an der Speiseröhre nur bei Oosopbagiiskai'zinomen
berichtet, v. Hacker hat als erster nach Resektion eines
Karzinoms den Defekt der Speiseröhre durch eine Lai)penplastik
aus der Halshaut zu decken versucht, indem er in einem ersten
Operationsakt aus zwei seitlichen rechteckigen Hautlappen die
bin tore Whind, das beißt eine hintere Rinne an Stelle des Oeso-
phagusdefektes bildete; in einem zweiten Akte durebtreunte er die
seitliche Basis der beiden Hautlappen und stellte, indem er die
beiden Hautlappen, die an der Innenfläche mit Epidermis be¬
kleidet sind, vorne zusammennäbte, so ein vollständiges Rohr her.
In den meisten der in der Literatur erwähnten Fällen wurde
auch der erkrankte Kehlkopf mitreseziert, so daß die klassische,
ZAveiflügelige, v. Hacker sc he Methode nur bei fehlendem
Kehlkopfe mit gutem Erfolge aiisgefübrt wurde. Eine Oesophagus-
plastik bei narbiger Striklur ist bisher in der Eiteiatur nicht,
berichtet. Verf. ist es nun geglückt, mit gutem Erfolge eine
Oesophagusplastik bei Narbenstenose aiiszuführen. Eine dOjäbrige
Frau verätzte sich mit Königswasser Mundhöhle und Speiseiöbre,
nach vier bis fünf Monaten zeigten sich die ersten Symptome
einer Oesopliagusstriklur, die 15 cm hinter der Zahnreibe begann;
sie wurde erfolgreich mit systematischer Bougierung behandelt
und geheilt entlassen. Nach drei Jahren, in wereber Zeit, die
Patientin ohne Behandlung war, kam sie wieder in das Spital,
wo man nun eine absolut undiirchgängige Striklur konstatierte.
Nach vielen vergeblichen Versuchen, per os und per gastrostomiam
eine feinste Sonde durch den Oesophagus zu führen, entschloß sich
der Autor zu einem operativen Eingriffe. Die Speiseröhre wurde
im Halsteil freigelegt, von oben und von unten Sonden eingeführt
und der impermeable narbige Oesophagusteil — zirka 6 cm lang
— ISO exzidiert, daß ein schmaler rückwärtiger Streifen, die
beiden ösophagotomisclien Oeffnungen verbindend, stehen blieb;
nun wurde aus der Haut des Halses ein Lappen mit einem Stiel
nach unten Umschnitten und über ein durch Faden nach oben und
unten gesichertes Drainrobr, mit der Epidermis nach innen, an
das obere Oesophaguslumen in den bestehenden Rest so genäld.,
daß ein neues, am Stiel noch offenes Rolir gebildet war; in
einem zweiten Operationsakte wurde die Basis des Stieles durch-
trennt und nun auch die untere Oeffnung vollständig umsäumt,
so daß die Kontinuität der geschlossenen Speiseröhre vollkonuuen
bergestellt war. Das Drainrobr wurde am 20. Tage entfernt,
nachdem Pat. schon vorher per os flüssige Nahrung erhielt.
Pat. befindet sich zirka sieben Monate nach der Operation voll¬
kommen wohl, kann alles genießen; es besieht eine im Oesophogo-
skop sichtbare leichte Ausbuchtung im unteren Ahsclmitte des
neuen Rohres, jedoch kein deutliches Divertikel. Verf. glaubt, daß
der Erfolg vor allem darin begründet ist, daß während der opera¬
tiven Behandlung die Speiseröhre als Leitrobr für Speisen gänzlich
ausgescbaltet wurde, und hält daher die Gastrostomie für einen
normalen Vorakt jeder plastischen Operation am Oesophagus.
— (Archiv für klin. Chirurgie 1907, Bd. 82, Heft 2.) F. H.
*
312. T h 0 r a X s c h ü s s e u n d B a u c h d e c k e n s p a n n u n g.
Von 0. Hildebrand. Es ist dem Verfasser wiederholt aufge-
fallen, daß l)ei Thoraxverlctzungen Bauchdeckenspannung zu sehen
und zu fühlen ist und daß, sei es die weitere klinische Beob¬
achtung, sei es die Operation, resp. die Sektion, jede Beteiligung
des Abdomens ausschließen ließ. Es werden vier Fälle von
Schußverletzungen des Thorax ausführlich mitgeteilt, hei welchen
ausgesprochene Abdominalsymptome vorhamlen waren (sfarrc!
Kontraktur der Bauchmuskeln oder Schmerzen an umschriebemer
Stelle), ohne jede Spur von Abdominalverletzung. Di'ei Fälle
waren penetrierende Schußverletzungen, in einem war die Tborax-
wand nicht einmal vollständig durchsetzt. Die Einschüsse lagen
alle im Bereiche des Thorax, drei in Interkostalräumen, einer
hatte eine Rippe gebrochen. In drei Fällen war eine exquisite,
linksseitige Spannung der Bauclimuskulatur vorhanden, während
in dem vierten ebenso wie in dem di'itbm Falle heftige Schmerzen
in zirkumskripten Partien des Abdomens angegeben wurden. Bei
anderen Verletzungen des Thorax, z. B. bei Stichverletzungen,
hat Verf. ähnliche Erscheinungen nicht beobachtet. Dies wird
damit erklärt, daß bei Schußverletziingen- vielfach noch eine zweite
Verletzung der Thoraxwand vorhanden ist und daß die Bauch¬
muskeln von der unteren Hälfte der Interkostalnerven versorgt
werden. Es können also im Bereich des Thorax Verletzungen
von Jnterkostalnerven eintreten, deren nervöses Ausbreitungs¬
gebiet die Bauchwand ist. In den vom Verf. mitgeteilten vier
Fällen lagen die Verletzungen der Rückwand des riiorax und
eine Veiielzung der Seitenwand alle im Bereiche der unteren
Hälfte der Rippen, also auch der unteren Hälfte der Interkostal¬
nerven mit dem Versorgungsgebiet in der Rauchwand. Durch
Reizung des sensiblen Nervenanteiles eines unteren luterkostal¬
nerven werden Schmerzen im Abdomen, resp. wiial Kontraktur
der Bauchmuskeln ausgelöst. Eine Bauchdeckenspannung in
solchen Fällen zeigt also noch keineswegs eine VMiJetzung des
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
Alxloniens an nnd gil)l. auch darum noch keine Indikation /air
Laparotomie ab. — (Berliner klin. Wochcnsclir. 1907, Nr. 18.)
E. F.
*
313. Ueber das Vorlialteii des arteriellen Blut¬
druckes bei puerperaler Eklampsie. Von H. Vaquez.
Es ist schon seit längerer Zeit bekannt, daß der Puls während der
■eklampliscben Krampfanfälle hart Und gespannt ist, daß ferner
Akzcnluation des II. Aortentones besteht und aus diesen Be¬
funden der Schluß auf eine Veränderung im Zirkulationsapparat
gezogen werden kann. Es ist die Blutdrucksteigerung bei
Eklampsie ein konstantes, namentlich unmittelbar vor den An¬
fällen stark hervortretendes Phänomen, welches wichtige dia¬
gnostische und prognostische Schlüsse gestattet. Die Angabe,
daß während der Schwangerschaft und des Wochenbettes nor-
malorwerse Blutdrucksteigerung besteht, ist nicht stichhältig; eine
Blutdrucksteigerung ist unter physiologischen Verhältnissen nur
während des Geburtsaktes, am stärksten beim Austreten des
Kopfes nachweisbar und hängt mit der gesteigerten Muskelarbeit
zusammen. Sonst ist arteiielle Hypertension während der
Schwangei’schaft- und im Wochenbette ein pathologisches Phä¬
nomen, welches der Eklampsie zukommt. Der Beweis des Zu¬
sammenhanges zwischen arterieller Drucksteigerung und Eklampsie
wird durch die sphygmomanometrische Messung, sowie durch
die Untersuchung des Pulses, der Gefäße und des Herzens er
bracht. Die Drucksteigerung bei Eklampsie ist nicht nur konstant,
sondern auch oft sehr beträchtlich, wobei die normalen Werte um
10 bis 12 cm überschritten werden können. Blutdruck und Ge¬
fäße zeigen bei Eklampsie das gleiche Verhalten, wie bei Blei¬
vergiftung und Morbus Brightii. Die bloße Palpation des Pulses
ist täuschend, da es sich meist um jugendliche Individuen mit
dünner Und weicher Radialis handelt. Während des Bestehens
der Hypertension ist der zweite Aortenton in gleicher Weise akzen¬
tuiert, wie bei Saturnismus und Morbus Brightii. Die Perkussion
des Herzens ergibt Vergrößerung der Herzdämpfung, welche zu¬
nächst und meist ausschließilich durch Hypertrophie des linken
Ventrikels bedingt ist, häufig ist Galopprhythmus vorhanden. Die
Blutdrucksteigerung ist nicht eine Folge der Konvulsionen, sondern
geht deren Auftreten voraus Und erreicht meist unmittelbar vor
den Anfällen maximale Werte. Die Hypertension zeigt entweder
kurze paroxys tische Steigerungen, oder hält sich durch längere
Zeit auf dem Niveau, während ällmähliches Absinken zur Norm
auf Heilungstendenz hinweist. Anhaltende Blutdmcksteigerung
nach Ablauf der Konvulsionen ist prognostisch bedenklich, ist
jedoch der Dmck auf 15 bis 16 cm gesunken, so ist die Gefahr
vorüber, wenn nicht vorher schwere Komplikationen, wie zum
Beispiel Hirnblutung, aufgetreten sind. Die Blutdruckmessung ist
für die Diagnose der Eklampsie wichtiger, als die Untersuchung
des Harns, weil eklamptische Konvulsionen jzu einer Zeit auftreten
können, wo noch kein Eiweiß im Harn nachweisbar ist. Eklampsie,
Urämie und Saturnismus zeigen die gleiche Pathogenese. Amau¬
rose und Hemianopsie treten bei Eklampsie auch unabhängig von
Urämie auf und sind auf Gefäßkrampf zurückzuführen ; auch
Tetanie Und Delinen der Puerperae sind eklamptischer Natur
und durch Gefäßkrampf bedingt. Die Hämorrhagien bei Eklampsie
stehen nicht mit Infektion oder Intoxikation, soudera mit der
raschen und hochgradigen Steigerung des arteriellen Blutdruckes
in Zusammenhang. Die schweren Veränderungen in der Leber
bei Eklampsie sind durch die Modifikationen des Organs unter
dem Einflmsse der Gravidität zu erklären. Außer an der Leber,
findet man an den Nieren, dem Gehirne und den Meningen häufig
Veränderungen. Die pathologischen Befunde bei Eklampsie sind
durchwegs durch die Blutdrucksteigerung zu erklären. Es ist aber
nicht richtig, wie dies viele Theorien tun, die Eklampsie auf
die verschiedenen Organ Veränderungen zurückzuführen; diese sind
nicht Ursachen, sondeiai Folgen der Eklampsie, hzw. der die Patho¬
genese hebe rrsch enden Steigerung dos arteriellen Blutdruckes. Es
können trotz schwerer klinischer Erscheinungen, pathologische
Veränderungen, z. B. der Nieren, vollständig fehlen. Die momen-
lane arterielle Ischämie erklärt auch die schweren parenchyma¬
tösen Degenerationen der Ueber Und der Niere, welche bei
Eklampsie gefunden werden. Die Bluldrucksteigerung ist die Folge
eines Gefäßkrampfes, welcher in der Regel rasch vorübergehl.
Länger anhaltender Gefäßkrampf führt zu schweren Folgezu¬
ständen, wie HirnldutuTig, akute gelbe Leberatrophie und Ne¬
phritis. Bei Frauen, welche an Eklampsie gelitten haben, findet
man nicht selten im späteren Leben dauernde Hypertension und
deieir Folgezuslände. Jedenfalls beherrschen die Gefäßkrisen und
die konsekutive Blutdrucksteigerung die Pathogenese der Eklampsie
und es sind alle anderen Theorien hinfällig. — (Sem. med.
1907, Nr. 11.) a. e.
*
314. (Aus der Provinzial-Hebammenlehranstalt Breslau.) Er¬
folge bei hoher Zange. Von Dr. C. Riemann. Die Arbeit
ist ein interessanter Bericbt über 100 ausgeführte hohe Zangen.
Das Gesamtresultat derselben ist folgendes: O^/o Sterblichkeit der
Mütter; 16®/o verlängertes fieberhaftes Wochenbett; 7°/o mütter¬
liche Verletzungen schwereren Grades; 31, bzw. 22 Sterblich¬
keit der Kinder; 10% kindliche Verletzungen schwereren Grades.
Zu den schwereren Verletzungen der Mutter gehören : ein Scheiden-
dammrißi, ein bis auf den Knochen reichender Scheidenriß, ein
tief in das Parametrium sich erstreckender Zervixrißi, eine Rekto¬
vaginalfistel, eine Peroneuslähmung, eine Blasenureterenscheiden-
fisbel Und Peroneusparese ; die kindlichen Verletzungen schwereren
Grrades waren; dreimal eine Plexuslähmung, eine Infraktion des
Scheitelbeines, dreimal eine Impression 'des Stirn-, beziehungs¬
weise Scheitelbeines, zweimal eine Stirnfraktur, ein Kephalhäma-
tom. Sein Urteil über den Wert der hohen Zange faßt Riemann
in folgendem zusammen: 1. Die hohe Zange birgt für Mutter
und Kind nicht die Gefahren, daß sie inl allgemeinen, wie be¬
sonders bei engen Becken, zu verwerfen ist. 2. Die Kindersterb¬
lichkeit mit 31, bzw. 22%, die mütterlichen Verletzungen in
7%, die Verlängerung des Wochenbettes in 16% und die kind¬
lichen Verletzungen in 10% der Fälle weisen jedoch darauf hin,
daß die hohe Zange nicht ohne strengste Indikation, d. h. ohne
daß für Mutter oder Kind eine ernste Gefahr besteht, angelegt
werden darf. 3. Die besten Resultate liefert die hohe Zange :
a) bei gut figuriertem Kopfe und frischem Kinde, d. h. wenn die
Indikation von der Mutter ausgeht. In solchen Fällen gelingt
es, bei starken Verengerungen von 8 bis SVr ein relativ starke,
lebensfrische Kinder zU entwickeln; b) bei Multiparen mit
9 bis IOV2 cm. 4. Die Leistungsfähigkeit der hohen Zange nimmt
mit zunehmender Beckenverengerung ab. Als eigentlich konkur¬
rierende Operationen kommen nur in Betracht die Symphyseo-
tomie und die Pubiotomie. Sein Urteil darüber faßt Riemann
in folgenden Worten zusammen: ,,Habe ich die Wahl zwischen
zwei Operationen, die wie die Symphyseotomie und Pubiotomie
5 bis 7% Mütter und 17 bis 19% Kinder zum Opfer fordern, und
der hohen Zange, die bei einer Mortalität der Mütter gleich 0%
nur eine um ca. 4% erhöhte Sterblichkeit der Kinder zur Folge
hat, so werde ich im Interesse der Mutter stets dieses zweite Ent¬
bindungsverfahren vorziehen.“ — ■ (Monatsschrift für G'eburtshilfe
und Gynäkologie, Bd. 25, H. 4.) E. V.
♦
315. (Aus dem syphilidologischen Laboratorium des In¬
stituts für experimentelle Medizin.) Beobachtungen über
Bewegung und Agglutination der S p i r o c h a e t e pal¬
lida. Von 1). K. Sabolotny und P. P. Maslakovvetz. (Vor¬
läufige Mitteilung.) Zur Entnahme des Spirochäten enthaltenden
Materiales bedienen sich die Verfasser eines kleinen Saugappa¬
rates. Bei diesem Verfahren erhalten sie weitaus mehr Spiro¬
chäten, als mittels anderer Verfahren. Wird derart gewonnenes
Material mit physiologischer Kochsalzlösung versetzt, so kann
man die Spirochäten in suspendiertem Zustande bis zu einer
Woche aufbewahren. Ward einer derartigen Spirochätenauf¬
schwemmung Serum von Personen zugesetzt, die schon lange
syphilitisch sind, so läßt sich eine sehr charakteristische Er¬
scheinung beobachten — nämlich ein Zusammenkleben oder eine
Agglutination der Spirochäten. Die Spirochäten treten zunächst
mit den Enden aneinander und bilden sternförmige Figuren.
Die weiteren Stadien bestehen darin, daß aus den Sternen Knäuel
werden ; die zuletzt angelagerten Spirochäten bewahren zunächst
noch ihre Bewegungsfähigkeit, welche allmählich erlischt. Die Ge¬
samtdauer der Verklebung beträgt drei bis vier Stunden. Mittels
Färbung der Präparate läßt sich der ganze Vorgang als unzweifel¬
hafte spezifische Agglutination der Spirochäten demonstrieren.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
777
Bei weiterer Beobaehtung der Knäuel sieht man einen körnigen
Zeifall deiselben, so daß* — ■ auch nach Färbung — die einzelnen
Spirochätenindividuen immer weniger deutlich werden. Die Ver¬
fasser glauben, daßi der Grund der schweren Äutfindharkeit der
Spirochäten hei terliären Luesformen in der körnigen Degeneration
infolge der Serumwirkung zu suchen ist. Indem weitere Unter¬
suchungen in Aussicht gestellt werden, wird der Meinung Ilauni
gegehen, daß die Erscheinung der Spirochätenagglutination eine
wichtige Stütze für das Studium der Syphilisimmunität bildet.
— (Bussky Wratsch 1907, Nr. 11.) J. Sch.
*
316. Ueber tuberkulöse Sklerodermie. Von Milian.
Die Narben nach tuberkulösen Hauterkrankungen zeigen verschie¬
dene Form, bekannt sind namentlich die keloidartigen und ge¬
strickten Narben. Eine bisher weniger beachtete Form kann man
als Sklerodermienarben bezeichnen. Man findet an der Mündung
von Knochenfisteln, bei veraltetem Lupus vulgaris und Lupus
erythematosus Hautstellen, welche die Merkmale der typischen
Sklerodermie aufweisen. Da man an diesen Stellen noch mani¬
feste tuberkulöse Herde nachweisen kann, so kann man eigent¬
lich nicht von Narben sprechen Und bezeichnet den Befund rich¬
tiger als tuberkulöse Sklerodermien. Bei Unterschenkelgeschwüren
findet man in der Umgebung öfter das für Sklerodermie »harak-
teristische Verhalten, ebenso auch bei den nach Unterschenkel-
geschwüren zurückbleibenden Narben. Man faßt diesen Befund
gewöhnlich als trophische Störung auf und bezeichnet ihn als
„glossy skin“. Der Verdacht, daß diese varikösen Geschwüre
mit „glossy skin“ tuberkulösen Ursprunges sein könnten, wurde
in zwei Fällen durch die Ergebnisse der klinischen Untersuchung
und durch die positive Reaktion der Patienten auf Tuberkulin
bestätigt. Von einem derartigen Geschwüre wurde ein vom Ge¬
schwürsrande entnommenes Stückchen einem Meerschweinchen
subkutan überimpft und das anscheinend vollständig gesunde Tier
nach vier Monaten getötet. Es fand sich das Bild einer generali¬
sierten sklerotischen Tuberkulose mit beträchtlicher harter Schwel¬
lung der Lymphdrüsen, Milz- und Lebertumor, sowie Tuberkel
in der Lunge. Aus dieser Beobachtung geht hervor, daß eine
tuberkulöse Sklerose der Haut vorkommt und daß die mit „glossy
skin“ einhergehenden varikösen Geschwüre in Wirklichkeit tuber¬
kulöse Geschwüre sind, welche die sklerotisch- tuberkulöse Varie¬
tät der Unterschenkelgeschwüre repräsentiere]!. — (Bull, et Mein,
de la Soc. med. des hop. de Paris 1907, Nr. 11.) ' a. e.
*
317. (Aus dem Rockefeller-Institute for Vledical Researcb.)
Die Sensibilität ider Abdoniinalorgane und die Be¬
einflussung ders eiben durch Injektionen von Ko¬
kain. Von L. Käst und S. J. Meitzer, New -York. Es besteht
ein Widerspruch darin, daß es zweifellos einen intraabdominalen
Schmerz gibt, der bei Peritonitis, Appendizitis, Darm-, Gallen¬
blasen- und Nierenkoliken etc. in die Erscheinung tritt, während
die Chirurgen, welche so viele Laparotomien ausführen, seit der
Benützung der Schleichschen Infiltrationsanästhesie ohne all¬
gemeine Narkose immer wieder behaupten, daß die Eingeweide
dabei völlig unempfindlich seien. Lennander und Bier sagen,
daß man die Eingeweide schneiden, drücken, brennen könne,
ohne dem Patienten irgendeinen Schmerz zu bereiten. Magen,
Darm, Netz, Mesenterium, Milz, Heber, Gallenblase, Niere, Harn¬
blase, Uterus etc. sind nach Le-nnander ohne jede Empfin¬
dung für Schmerz oder andere G-efühlseindrücke ; nur das Peri¬
toneum parietale ist schmerzempfindlich. Die meisten Chirurgen
glauben auch, daß die entzündeten Organe ebenfalls keinen
Schmerz empfinden. Das Auftreten von intraäbdominalen Schmer¬
zen (ohne Operation) erklärt Lennander damit, daßi die
Schmerzen entweder vom Peritoneum, parietale oder von den
Spinalnerven der hinteren Bauchwand (Lymphangitis und Lymph¬
adenitis, welche sich gegen die rückwärtige Bauchwand fort¬
setzen), vielleicht auch von der unteren Fläche des Zwerchfelles
heiTühren. Die Verfasser führten nur Tierversuche aus. Bei
narkotisierten und laparotomierten Katzen irnd Hunden zeigte
der gereizte Magendarmkanal (nach dem Erwachen aus der Aether-
naj'kose) lebhafte Schmerzempfindung. Wurde airer zur An¬
ästhesie die Sc hie ich sehe Miischung angewandt, so schwand
schon kurze Zeit nach der Injektion alle Empfindlichkeit des
Darmes. Auch sehr kräftige faradische Beize blieben nunmehr
ohne jede Reaktion. Nach 30 bis 40 ßlinuten war die Em¬
pfindlichkeit wiedergekehrt. Das Kokain übt also selbst in einer
geringen Menge nicht nur einen lokalen, sondern auch einen
allgemein anästhesierenden Einfluß aus. Die anästhesierende Wir¬
kung auf die Eingeweide trat auch dann auf, wenn das Kokain
in die Vorder- oder Hinterbeine, in die Brustmuskeln etc. injiziert
wurde. Eine etwas größere Dosis von Kokain, z. B. 003, hob
alle Empfindlichkeit auch an entzündeten Organen auf und auch
das parietale Peritoneum verlor danach jede Empfindung-. Die
Verfasser resümieren: Die derzeit herrischende Anschauung, ge¬
gründet auf exakte chirurgische Beobachtungen, ist die, daß die
Bauebeingeweide sowohl im normalen als auch entzündeten Zu-
stiiade keiner Sebmerzempfindung fähig sind. Wir haben am Tier¬
experimente gefunden, daß die Empfindlichkeit für Schmerzeiu-
diücko vorhanden ist in normalen Organen und daß dieselbe
beträchtlich erhöht ist in entzündeten Organen. Wir haben weiter
gefunden, daß eine subkutane oder intramuskuläre Injektion einer
relativ kleinen Dosis von Kokain imstande ist, die Empfindlich¬
keit in normalen wie in entzündeten Organen vollständig auf¬
zuheben. Wir gelangen deshalb zur Annahme, daß die Anästhesie
der inneren Bauchorgane, wie sie von den Chirurgen festgestellt
wurde, in dem Hebrauche von Kokain ihre Erklärung findet.
Wir haben schließlich gefunden, daß die Injektion einer geringen
Kokainmenge auf den Erregungszustand des narkotisierten und
operierten Tieres eine beruhigende Wirkung ausübt. Es ist ein-
leucbtend, daß die beiden, die Kokainwirkung betreffenden neuen
Tatsachen auch für die praktische Medizin von Bedeutung werden
können. — (Berliner klinische Wochenschrift 1907, Nr. 19.)
E. F.
318. E r f a h r u n g e n ü b e r P u b i o t o mi e . Von P. B a u ni m.
ln einer ausführlichen Arbeit berichtet Bau mm über seine an
zehn Pubiotomien gemachten Erfahrungen. Es wurden vier Erst¬
gebärende und sechs Mehrgebärende operiert. Siebenmal Avurde
das Kind mit der Zange entwickelt, dreimal wurde es nach der
Operation spontan geboren, ln allen Fällen war die Indikation
durch ein Mißverhältnis zwischen Kopf und Becken gegeben,
in der Hauptsache handelte es sich um Becken mit einer Con-
jugata diagonalis von 8V2 bis 10 cm. Von den zehn Müttern
ist keine gestorben. Fünfmal fanden sich, abgesehen von Damm¬
rissen, keinerlei Verletzung der Scheide, während fünfmal starke
Scheidenzerreißiungen zu konstatieren waren u. zw. dreimal der¬
art, daß man von der Scheide aus mit zwei Fingern zwischen
die durebsägten Knochenenden gelangte; eine dieser Verletzungen
ereignete sich bei spontanem Geb urts verlaufe nach der Ibrido-
tomie. Der Wochenbettverlauf war in keinem Falle tadellos. Drei-
n'ial traten vorübergehende Temperatursteigerungen auf, in den
sieben übrigen Fällen traten sehr unangenehme Komplikationen
ein; besonders bemerkenswert ist das dreimalige Vorkommen
von Sequesterbildung an den durchsägten Knochenenden. Wie¬
wohl es in keinem einzigen Falle zu einer kallösen V^ereiniguiig
der Knochen kam, konnte man doch mit der wiedererlangten
Gehfähigkeit zufrieden sein. Die Erfahrungen lassen das Urteil
Bau mm s dahin lauten, „daß die Pubiotomie keine leicht zu
nehmende Operation ist. Die Gefahren sind groß', die nach-
folgienden Komplikationen sind ernster Natur, sie treten sehr
häufig auf und sind im voraus unberechenbar, mag man es an-
. fangen, wie man will.“ Da die Sectio caesarea lOO^/o lebende
Kinder, die Pubiotomie nur einige 80% gibt, während die Sterb¬
lichkeit der Mütter bei der Pubiotomie nur wenig geringer ist,
so darf man nach Bau mm, wenn man mit einer Schwangeren
mit zu engem Becken die beste Entbindungsart berät und diese
Schwangere bereit ist, im Interesse ihres Kindes ein Risiko für
ihr Leben und ihre Gesundheit einzugehen, ihr nur ein für das
Kind absolut sicheres Verfahren in Vorschlag bringen und das
ist nur der Kaiserschnitt. Solange die Umstände die genügende
Asepsis für die Operation garantieren, hält Bau mm auch nach
Beginn der Geburtstätigkeit an diesem Grundsätze fest. Sind die
Chancen für den konservativen Kaiserschnitt vorüber und handelt
es sich darum, die Geburt mit Erhaltung ' des Kindes zu be¬
schließen, dann bleibt, wenn die üblichen Methoden versagen,
nur die Pubiotomie übrig. Auch künstliche Frühgeburten, sofer'-'
778
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
sie nicht vor dein letzlon Monat eingeleitet sind, rechifertigen
iin Notfälle die Pubiotoinie, weil solche Kinder nach der Geburt
mit ziemlicher Sicherheit am Leben zu erhalten sind. Für falsch
aber hält Bau mm die Kombination von künstlicher Frühgeburt
und Puhiolomie als methodisches Entbindnng'sverfahren bei engem
Becken zu empfehlen. Daß die Fubiotomie eine Operation für
die allgemeine Praxis ist, glaubt Baumm aus zwei Gründen
nicht: 1. 1st die Puhiotomie noch keineswegs ein nach allen
Seilen hin geklärtes Verfahren. Wir stehen noch im Sladium
der Versuche und Kontroversen. Unsere Erfahrungen sind hier
noch nicht abgeschlo.ssen. 2. Setzt die Indikalionsstelluiig ein
reiches IMaß von geburtshilflicher Erfahrung und gehurtshilflichem
Feiugefühl voraus, wie es von einem nicht s]iezialistiscli aus¬
gebildeten Geburtshelfer kaum zu verlangen ist. — (Monatsschrift
für Geburtshilfe und Gynäkologie, Bd. 25, H. 4.) E. V.
*
319. Ein neues tierisches Heil s e r u m gegen m i k r o-
hische Infektionen heim Älenschen. Von Professor
B. Deut sch mann in Hamburg. Verf. hat durch Einführung
sUdgender Dosen von Hefe in den Tierkörper und durch nach-
herige Entnahme des Blutes von solchen Tieren ein Serum ge¬
wonnen, das zunächst für Augenkrankheiten infektiöser Natur
liestimmt war. Es wurde aber auch bei anderen Infektionskrank¬
heiten versucht und erwies sich als ein hervorragendes Unter¬
stützungsmittel des menschlichen Organismus im Kampfe gegen
Pneumo-, Stuphylo-, Streptokokken, resp. deren Toxine, indem
es nicht nur das Allgemeinbefinden günstig beeinflußte,'- sondern
auch den Krankheitsprozeß abkürzte, was sich durch prompte
Herabsetzung der Temperatur um zwei bis drei Grad, nach einer
einmaligen, subkutan, resp. intermuskulär verabreichten Dosis von
2 bis 4 cnP und durch die schneller eintretende Krisis und Ab¬
heilung der entzündlichen Prozesse dokumentierte. Das Serum
hat sich bei Hunderten von Injektionen als absolut unschädlich
enviesen. Auf Ersuchen des Verfassers hat D. Deneke im All¬
gemeinen Krankenhause zu Hamburg 24 Fälle von kruppöser
Pneumonie mit dem Serum hehandelt. Drei waren bereits mori¬
bund. Von den übrigen zeigte die Hälfte als Serumwirkung ein
Absinken der Temperatur, gebessertes Allgemeinbefinden. Auf¬
fallend war, daß am vierten, einmal sogar am zweiten Kra.nkheits-
tage ein plötzlicher kritischer Abfall nach der Injektion eintrat,
dem schnelle Genesung folgte, ln der zweiten Hälfte der 'Fälle
zeigte sich zwar auch ein Fieberahfall, aber nicht mit wesentlich
geändertem Krankheitsverlaufe. Geschadet hat das Serum ]iie.
Bei Envachsenen beträgt die Dosis für die Injektion 3 bis 4 cm®,
bei Kindern 0-75 bis 1 cm®. Die Injektion ist zu Aviederhplen,
wenn nach spätestens zwei Tagen ein kritischer Abfall nicht
eingetreten ist. Die intramuskuläre Einspritzung Aviid am Ixvsten
in Brust oder Bauch gemacht. .Vueh septische oder pyämische
Infektionen, soAvie Eiysipel, schwere Influenza, akute Angina,
(dgnen sich für die Serumhehandlung ; zu versuchen ist es auch
bei Scharlach, Masern, Typhus, hei Furunkulose, Akne, Impetigo,
Ekzemen. Die xVnwendungsweise richtet sich hei fiebernden
Kranken nach der Körpertemperatur und der ScluA-ere der
Affeklion, sonst nach dem Grade der Erkrankung und nach dem
Uohensalter der Patienten. Gegeben Averden Dosen von 0-5, 1,
U5, 2, 3 und 4 cm®, zAvei bis dreimal Avöchentli(di. IDas Serum
kann auch in doppelter Dosis per rektum durch Klysma verab¬
reicht Averden. Hervorragendes leistet das Serum bei den akuten
und chronischen, besonders eitrigen Entzündungsprozessen am
Auge. Verf. teilt einige typische Krankheitsfälle mit. Jede andere
Therapie neben der speziellen Serumbehandlung Avar ausge¬
schlossen; das Auge Avar nur unter leichtem Verbände gehalten.
Schweje Fälh' von Hypo]jyonkeralitis gelangten zu schneller
Heilung mit auffallend geringer Hornhauttrübung. Verf. empfiehlt
cs auch, prophylaktisch hei üperationen und Verletzungen, avo
nur der geringste Verdacht auf Infektion besteht; es genügen
hier einmalige Dosen Amn 2 cm®. Bei schon ausgehrochenem Krank-
heitsi)rozessc muß die Dosis eA^entuell auf 3 bis 4 cm® g(^steigert
Averilen. Bei eingelretener Besserung ist es ratsam, die Injek-
lioneu in größeren Pausen noch fortzusetzen. Auch Irei Tuber¬
kulose Avurde das Seium versucht; in einigen Fällen alter chirur¬
gischer Tulx'rkulosen, bei einer schAveien Blasentu berkul ose erwies
sich dasselbe als ileilmiltel, bei anderen Fällen versagte es. Bei
Lupus Avirkte es günstig auf schnelle Abstoßung der Borken. Boi
fiebernden Phthisen rät Verf., mit kleinen Probedosen, 0-5 bis
UOciii® zu beginnen. Das Serum Avird nacb den Aiigaben des
Verfassers in Hamburg bergestcllt und in Fläschchen mil 2 cm®
Inhalt ahgegehen ; der Preis dieser Dosis ist Mk. 2-20. — (.Alüiich.
mediz. Wochenschrift 1907, Nr. 19.) ■ G.
*
320. (Aus dem städtischen Krankenhause IMoahil in Berlin.)
Escalin (Aluminiumglyzerinpaste) ein Mittel zur
Stillung von M a g en d a r in h 1 u t u n ge n und zur Ver¬
schorfung, von IMagengeschAV üren. Von Professor Doktor
G. Klemperer. Bei Einnahme von Bismutum subnitricum kann
man auch Vergiftungen erleben. Verf. hat eine solche Vergiftung
mit lehensgefährlichen Symiptomeir einmal seihst nach Verab¬
folgung von 10 g Wismut in AufschAvemmung beobachtet. Er
suchte also .seit Jahren nach einem ungiftigen Ersätze. Diesen ,
glaubt er im feingepulAmrten Aluminium gefunden zu haben.
Durch Tieiwersuche Avurde dessen \mllige Ünschädlichkeit und
dessen Wert bei begrenzter Abrasio der Magenschleimbaut vor¬
erst dargetan. Sodann nabmen gesunde Menschen schadlos bis
zu 20 g auf einmal. Da man es nicht mit Wasser verrühren kann,
so empfahl sein chemischer Mitarbeiter Dr. Umber, das iVlumi-
nium mit Glyzerin im Verhältnis von 2:1 zu Aau’reiben ; das
läßt sich leicht und ohne Rückstand mit Wasser zu einer Emul¬
sion auf schlemmen. Man verschreibe das Escalin, so Avurde das
Präparat getauft, in Pastillen ä 2-5 g. Je fünf Pastillen sind
in Stanniolhüllen in Glasröhrchen Amrpackt. Man Avirft vier Pa¬
stillen in ein halbes Glas Wasser und verrührt so lange, bis
eine ganz gleichmaßiige AufschAvemmung entstanden ist. Diese
trirdvt der Patient auf nüchternem Magen. Den Rückstand schlemmt
man nochmals mit Wasser auf und läßt auch dies trinken. Danach
soll der Patient eine bis ZAAmi Stunden ohne Nahrung bleiben.
Die Erfolge Avaren gute. Zwölf Fällen profuser IMagenhlutungen
AAUirden je 10 g Escalin gegeben, danach den ganzen Tag keine
Nahrung, allenfalls schluckten sie kleine Eiis, Stückchen. Die Kranken
erhielten in sechsstündigen Intervallen je 300 cm® Milch per
rectum und bei bedroblicher Anämie subkutane Kochsalzinfu-
sionen. Am nächsten Morgen Avieder 10 g Escalin und danach
in ein- bis zAveistündlichen Pausen je 100 g gekühlter Milch.
Ebenso am dritten und vierten Tage, Avohei am Aderten Tage
sebon mehrmals aufgeAveichter ZAAÜeback, auch Gelbei zur Milch
zugesetzt Avurde. Vom fünften Tage an Kartoffelpüree, dann ge¬
mischte Kost. Alle ZAvölf Fälle sind ohne Rezidiv geheilt. Her¬
vorheben möchte Verfasser, daß auch der Stuhl danach Amlt-
konmien hlutfrei war und blieb, naebdem einmal das Aliuninium
in demselben erschienen Avar. Weiters kam ein Fall von scliAAmrer
Darmlilutung aus einem Duodenalgeschwüre, auch eine starke
Darmblutung in der vierten Woche eines Bauchtyphus mit Escalin
zur Heilung. Ferner Avurden‘17 Fälle von rundem iVIagengeschAvür
damit behandelt. Schon vom ersten Tage an bekam der Kranke
kleine Gaben eisgekühlter Milch, vom dritten Tage Gelbei und
ZAviehack, vom fünften Tage geAviegtes Fleisch. Die Kranken
AVurden bald schmerzfrei (Aluminiumschorf), Blut in den Stuhl¬
gängen (bei Beginn der Behandlung nachweisbar) wurde am
ersten bis zweiten Tage nach dem Wiedererscheinen des Alu¬
miniums (der Stuhlgang bekommt eine silberfarbige Beimischung)
nicht mehr gefunden. Escalin scheint also die Heilung des Ulcus
zu fördern. Den Säuregehalt des Magens beeinflußt das Escalin
nicht. Auch bei chronischen Diarrhöen aus DarmgescliAvüren,
bei Darmphthise Und beim einfachen chronischen Darmkatari'h
brachte das Escalin rasche Besserung, resp. Heilung. Diese Fälle
sind indes noch nicht zahlreich genug. Empfehlen kann Verfassm’
das Älittel schon jetzt als Heilmittel für Magen- und Darm-
hlutungen, in zAveiter Linie als Abkürzungsmittel der Kur bei der
Heilung von JMagengescliAvüren. — (Die Therapie der (.legenwart,
Mai 1907.) E. F.
*
321. (Aus der therapeutischen Klinik des Prof. A. M. LeAvin
des medizinischen Institutes für Frauen zu St. Petersburg.)
Materialien zur funktionellen Diagnostik. Uelx'r
die Funktionsstörungen des Herzens bei fibrinöser
Pneumonie. Von A. S. SzoloAvzowa. Die Verfasserin hat
bei einer Anzahl von Pneuiuoniefällen (zwölf Fälle von fibiinöser,
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WUCHENSCHRIFT. 1907.
779
ein Fall von grippöser Pneuinoiüo) die Funklionspriilung des
Herzens nach Katzen stein durchgeführt. Die Methode besteht
darin, daßi dem Herzen durch Kompression beidei’ Femoralarterien
eine erhöhte Arbeitsleistung zugemutet wird. Das gesunde Herz
antwortet aut diese erhöhte Inans])ruchnalime mit verslärkter
Arbeit, die nach außen hin durch Steigen des arteriellen Druckes
sinnfällig wird. Der Puls bleibt liiebei entweder unverändert od(U'
seine Frequenz nimmt ab. Bei hypertrophischem Herzen im
Stadium der Kompensation erhielt Katzen stein Blutdruck¬
erhebungen über 15 mm Quecksilber und zugleich Pulsverlang¬
samung. Tritt jedoch nach Kompression der Kruralarterien ge¬
ringe oder keine Blutdruckerhöhung oder gar Senkung des Blut¬
druckes ein und wird dabei der Puls frequenter, so ist das Herz
je nach der jeweiligen Kombination dieser Erscheinungen, die
bei Katzenstein ausführlich erörtert werden, in minderem oder
höherem Grade funktionsuntüchtig. Die Verfasserin kommt nun auf
Grund ihrer sehr genauen klinischen Beobachtungen zu folgenden
Resultaten. Das Gift der fibrinösen Pneumonie hat eine ziemlich
anhaltende Wirkung auf den Herzmuskel u. zw. läßt sich mittels
der Ka tz en steinschen Methode Funktionsuntüchtigkeit des
Herzens noch zu einer Zeit nachweisen, wo sonstige objektive
vVnzeichen hiefür fehlen. Die stärkste Schwächung der Herztätig¬
keit bestellt nicht zur Zeit der Krise, sondern zwei bis drei
Tage nach derselben. Bei Grebrauch von Digitalis — selbst zur
Zeit der Krise — tritt eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit
des Herzens ein u. zw. ist diese Besserung der Funktionstüchligkeit
viel dauerhafter als bei Gebrauch von anderen Hei'zmitteln, dei'cn
Wiikung sehr bald nacli dem Aussetzen wieder abklingt. Die Ver¬
fasserin hält es für wahrscheinlich, daß die günstige Wirkung
der Digitalis außer der direkten Wirkung auf den Herzmuskel
auch darauf berulil, daß der bei fibrinöser Pneumonie — besonders
zwei bis drei Tage nach der Krise — niedrige Blutdruck erböhl
wird. (Da durch die interessanten Untersuchungen von
.Tanowsky (diese Wochenschrift 1907, Nr. 16) der Wert der
K a l z e n s t ei n sehen IMethode in Zweifel gezogen worden ist, so
liegt in den positiven Resultaten obiger Aidieit ein Hinweis darauf,
über die K a tzens t einsche Methode derzeit noch nicht ganz
hinwegzugehen. Bef.) — (Russkij MTulsch 1907, Nr. 7, 11, 12.'
J. Sch.
*
322. U e b e r d i e B e r e c h t i g u n g e i n e r a k t i V e r e 11 R i c h-
tung in der geburtshilflichen Therapie. Von M. 11 of-
nieier. Hofmeicr erörtert die Frage, wieweit sich die Geliurts-
helfer (in erster Linie im Interesse des Kindes) einer mehr
aktiveren Richtung in der geburtshilflichen Therapie zuzuwenden
haben. Die Frage, ob bei Eklampsie durch ein aktiv-chirurgisches
Vorgehen hessere Resultate wie bisher siidi auch für die Kinder er¬
reichen ließen, läßt Hofmeier offen. Ob sich bei Fällen von
Nabelschnurumschlingungen oder von Placenta praevia durch
weitergehende operative, chirurgische Eingriffe wesentliche Besse¬
rungen erzielen lassen werden, bezweifelt Hofmeier stark. Nach
seinen Erfahrungen bei Placenta praevia glaubt Hofmeier be¬
stimmt, daß sich unter prinzipieller Verwendung der kombinierten
Wendung und unter Zuhilfenahme der Metreuryse in einzelnen
Fällen, wo das Leben des Kindes ernstlich in Frage kommt,
durchaus befriedigende und genügende Resultate ohne chirur¬
gische Eingriffe werden erzielen lassen. Ob man bei Becken¬
endlagen, Querlagen etc. gelegentlich einmal durch weitergehende
chirurgische Eingriffe: Spaltung des Zervix, Spaltung des Becken¬
bodens etc., ein stark gefährdetes Kind eher am Leben erhalten
wird, wird im Einzelfalle zu erwägen sein. Eine sachgemäße
Metreuryse und Kolpeuryse wird auch hier in mancher Beziehung
die Prognose bessern können. Wenn auch ein völliger \ erzieht
auf die künstliche Frühgeburt derzeit Hofmeier nicht bej'ech-
tigt erscheint, so hofft er doch, daßi unter Beschränkung der In¬
dikation auf nicht zu erhebliche Verengerung und unter Durch¬
führung eines aktiveren Verfahrens bei der Leitung dieser (;(e-
burten die Resultate für die Kinder noch erheblich verbesserungs¬
fähig sind. Hofmeier sieht eine mäßiige Vermehrung der Quanti¬
tät der Operationen, besonders der Zangenoperationen, im Inter¬
esse des Kindes durchaus für berechtigt an und hält auch eine
gewisse Verschieluing in der Qualität unter kritischer Berück¬
sichtigung des Einzelfalles durchaus für angezeigt. Den Nutzen
des j'adikalen Standpuidrtes aber, den einzelne Geburtshelfer in
dieser Fruge cinnehmen, kann Hofmeier durchaus nicht für
erwiesen halten. - - (Zeitschr. für Geburtshilfe und Gynäkologie,
Rd. 59, H. 2.) _ E. V.
^/ermisehte flaehriehten.
Ernannt: Der a. o. Professor Dr. Alois Lode zum ordent¬
lichen Professor der Hygiene in Innsbruck. — Sanitätskonzipist
Dr. Richard C h r i s t o p h zum Bezirksarzte und der Sanitäts¬
assistent Dr. Emil Brück zum Sanitätskozipisten ^ für Nieder¬
österreich. — In Paris : Der Professor der medizinischen Pathologie
Dr. H u t i n e 1 zum Professor der Kinderheilkunde und Dr. S e g o nd
zum Professor der chirurgischen Klinik. — Dr. Teissier zum
Professor für innere Medizin in Lyon.
*
Dr. Jaroslav Hlava, Professor der palhologischeu Anatomie
und derzeit Rektor der böhmischen Universität in Prag wurde als
lebenslängliches Mitglied ins Herrenhaus berufen.
♦
Verliehen: Dem mit dem Titel eines außerordentlichen
Universitätsprofessors bekleideten Privatdozenten und Primarärzte
des Kaiser - Franz - Joseph - Spitales in Krakau Dr. Alexander
Bossowski das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens. - Dem
Priv.-Doz. für innere Medizin und Laryngologie Dr. Felix
Klemperer in Berlin der Professortitel. — Dem Priv.-Doz.
für Physiologie Dr. Oskar Schulz in Erlangen der Professortitel.
— Den Priv.-Doz. Dr. Gürber (Physiologie), Dr. Rostoski
(innere Medizin) und Dr. Burkhardt (Chirurgie) in Würzburg
der Titel und Rang eines außerordentlichen Professors.
*
Habilitiert: Dr. Ed. A 1 1 a r d für innere Medizin in
Greifswald.
W 0 h 1 f a h r t s V e r e i n für Hinterbliebene d e r
Aerzte Niederösterreichs. Der Wohlfahrtsverein hielt
am 27. April unter Vorsitz seines Obmannes Herrn Dr. T e'nnen-
baum im Festsaale des Wiener medizinischen Doktorenkollegiums
seine diesjährige, von Aerzten aus ganz Niederösterreich stark
besuchte Generalversammlung ab. Es wurden unter großer
Akklamation der Mitglieder Herr Hofrat Prof. Ch.robak wegen
seiner besonderen Verdienste um die Aerzteschaft wie um den
Verein sowie die bekannte Philanthropin Frau Marie Thielen,
die dem Vereine neuerdings unter schmeichelhafter Anerkennung
seines segensreichen Wirkens K 5000 gespendet hat, zu Ehren¬
mitgliedern ernannt. Dem Rechenschaftsberichte des Ausschusses
ist zu entnehmen, daß im Jahre 1906 an die Hinterbliebenen
verstorbener Mitglieder K 14.000 und in den wenigen Jahren
des Bestandes K 93.000 ausbezahlt worden sind und daß der
Verein über einen Reservefonds von K 23.000 verfügt. Dem
Vereine gehören fast alle Professoren, Dozenten und Primarärzte
Wiens und 890 Aerzte als Mitglieder an. In den Vorstand wurden
Dr. Tennenbaum (Obmann), Prof. Dr. K. A. Herzfeld und
Dr. J. Weis (Obmannstellvertreter), Dr. Seif (Kassier) und die
Herren Dr. Bergmann, Dr. F r i e d I, Dr. Lang, Doktor
S c h m ar d a, Dr. F. Steiner und Dr. W a 1 d s t e i n gewählt.
*
Der soeben erschienene Geschäftsbericht des Deutschen
Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose, erstattet vom
Generalsekretär Dr. Nietn er, weist für das abgelaufene Jahr
erfreuliche Fortschritte auf. Danach bestehen zurzeit in Deutsch¬
land 87 Volksheilstätten mit 8422 Betten und 35 Privatheilstätten
mit 2118 Betten, eine Anzahl, welche die Gesamtheit aller in
ganz Europa bestehenden Volksheilstätten übertrilft. Im Bau sind
weitere 11 Volksheilstätten, mit 800 Betten. Auch die Einrichtungen
zur Unterbringung tuberkulöser Kinder haben eine Erweiterung
erfahren ; es bestehen an Heilstätten für Kinder mit ausgesprochener
Tuberkulose 17 Anstalten mit 650 Betten und für skrofulöse
Kinder 67 Anstalten mit 6092 Betten. Als besonders erfreulich
ist die schnelle Entwicklung der Auskunfts- und Fürsorgestellen
zu bezeichnen. Im Laufe weniger Jahre sind 117 derartige Stellen,
von denen 31 von Gemeinden bestritten werden, errichtet, in der
Mehrzahl nach dem von P ü 1 1 e r & K a y s e r 1 i n g für Berlin
organisierten System. Auch die Fürsorge für Schwei’kranke ist
im stetigen Fortschritt begriffen. Es gibt bis jetzt 10 besondere
Pflegeheime und zwei weitere sind im Bau. Dazu kommen noch
67 WLalderholungsstätten und zwei ländliche Kolonien. Der
Geschäftsbericht des Zentralkomitees ist für Interessenten unent¬
geltlich beim Generalsekretär, Eichhornstraße 9, zu erhalten.
*
Am 14. und 15. September 1907 findet in der neuen Kunst¬
gewerbeschule in Dresden, Eliasstraße, die erste Jahres-
780
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
versaiiiinluiig der Gesellschaft Deutscher iVerveii-
ärzle stall. Programm. I. Eröffnung und Begrüßung der Ver¬
sammlung am Samslag, den 14. September früh 9 Uhr durch
11. Oppenheim- Berlin. II. Referate ; Chirurgische Therapie der
Gehirnkrankheiten mit Ausschluß der Tumoren. Bef. F. Krause-
Berlin. Die Hirnpunklion. Ref. E. Ne ißer- Stettin. Chirurgische
Behandlung der Rückenmarkshautgeschwülste. Ref.: L. Bru}is-
llannover. Therapie der Erkrankungen der Cauda equina. Ref.:
R. Cassirer -Berlin. Nachmittagssitzung um 8V2 Uhr. Fort¬
setzung der Referate und Diskussion derselben. III. Vorträge:
Nonne -Hamburg: Differenliakliagnose des Tumor cerebii.
Scbüller- Wien: Schädel-Röntgenographie mit Demonstrationen.
Hartmann- Graz: Beiträge zur Diagnostik operabler Hirneikran-
kungen. S ae 11 ge r- Hamburg: Ueber Herdsymptonie bei diffusen
Himerkrankuirgen. xV. Pick -Prag: Thema Vorbehalten. Drille
Sitzung am 15. September um 9V2 Uhr. Aschaffenburg-Köln:
Die , Bedeutung der Angst für das Zustandekommen der Zwangs¬
vorstellungen. V. Frankl -Hoch wart- Wien: Ueber die Diffe-
rentialdiagnose der juvenilen Blasenstörungen und über das spinale
Blasenzentrum. Kühne-Kottbus : Die kontinuierliche Bezold-
Edelmannsche Tonreihe als Untersuchungsmethode für den
Nervenarzt. L. R. Älüller- Augsburg: lieber die Empfindungen in
unseren inneren Organen. K o bus ta m m- Königstein und
Warnke- Berlin: Demonstrationen zur physiologischen Anatomie
der Medulla oblongata. Oppenheim-Berlin: Allgemeines und
Spezielles zur Prognose der Nervenkrankheiten. Veraguth-
Zürich : Die Bedeutung des psycho-galvanischen Reflexphänomens.
E. Müller-Breslau (a. G.): lieber die Symptomatologie der mul¬
tiplen Sklerose. K. Reic her-AVien (a. G.): Kinematograpbie
in der Neurologie.
*
Der dritte internationale Kongreß, für Irrenpflege findet unter
dem Präsidium des Herrn Hofrates Prof. Dr. Obersteiner,
vom 7. bis 11. Oktober 1908 in AVien statt. Beitrittserklärungen
zu demselben, sowie Anmeldungen von A'^orträgen wollen bis
spätestens 1. Juli 1908 an den Generalsekretär Priv.-Doz. Doktor
xAlexander Pilcz in AVien IX., Lazarettgasise 14, eingeschickt
werden, welcher auch nähere Auskünfte zu erteilen bereit ist.
Das genauere Programm wird seinerzeit verlautbart werden.
♦
Im Jahre 1906, dem 34. seit der Eröffnung, haben im
Leopoldstädter Kinde rspitale in AVien 14.001
Kinder ärztliche Behandlung gefunden. Von diesen waren nach
dem Ausweise des leitenden Primararztes Dr. Passini 1189
Spitalspfleglinge, 12.504 Ambulante und 308 Impflinge. An
Diphtherie waren 319 erkrankt und mit Serum behandelt worden.
Mortalität 7‘52'^'o.
♦
Lehrbuch der Gynäkologie von Prof. Max Runge.
Dritte Auflage. Verlag von J. . Springer, Berlin. Preis
Mk. 10. Die vorliegende Neuausgabe dos Lehrbuches, dessen
zweite Auflage in dieser AA^ochenschrift (s. Nr. 6, Jahrgang 1904)
eine eingehende Besprechung erfahren hat, ist wieder einer sorg¬
samen Durcharbeitung unterzogen worden. Ein wesentliches Ge¬
wicht wurde auf die Angabe der wichtigsten Literaturquellen ge¬
legt, die es dem Leser ermöglichen, über einzelne Kapitel sich
ausführlicher zu unterrichten.
*
Im A'^erlage von F. Enke in Stuttgart ist soeben der von
Prof. J. Schwalbe in Berlin herausgegebene Jahrgang 1907
des Jahrbuches der praktischen Medizin er¬
schienen. Preis M. 13. Der vorliegende Jahrgang, von dem
hauptsächlich dessen frühzeitiges Erscheinen rühmend hervor¬
zuheben ist, gibt in der alten bewährten Gliederung einen voll¬
ständigen kritischen Ueberblick über die Publikationen des ver¬
gangenen Jahres. Das AVerk macht es dadurch auch dem be¬
schäftigten Praktiker möglich, in bequemer AV eise bezüglicb aller
Gebiete der praktischen Medizin sich im Laufenden zu erhalten.
Aus dem Sanitätsbericht der Stadt Wien im
erweiterten Geraeindegebiet. 23. Jahreswoche (vom 2. bis
8. Juni 1907). Lebend geboren, ehelich 567, unehelich 28t), zu-
sanunen 856. Tot geboren, ehelich 51, unehelich 24, zusammen 75.
Gesamtzahl der Todesfälle 646 (i. e. auf 1000 Einwohner ein¬
schließlich der Ortsfremden 17’0 Todesfälle), an Bauchtyphus 0,
l'iecklyphus 0. Blattern 0, Masern 31, Scharlach 2, Keuchhusten 3,
Diphtherie und Krupp 12, Influenza 0, Cholera 0, Ruhr 0, Rotlauf 3,
Lungentuberkulose 132, bösartige Neubildungen 51, Wochenbett-
hoher 3. Angezoipte Infeklionskrankheiten: An Rotlauf24( _ 13), Wochen-
belificber 5 (-f 4), Blattern 0 (- 5), A'arizellen 56 (— 13), Masern 436
{ ■ 127). Scharlach 110 (— 11), Flecktyphus 0 (0), Bauchtyphus 7 (-f 3),
I nhr 0 (0), Cholera 0 (0), Diphtherie und Krupp 79 (-[- 19), Keuch¬
husten 35 ( — 10), Trachom 4 (-[- 2), Influenza 0 (0), Genickstarre 9 ( — 9).
B'C r i c h t i gu n g : lii Nr. 24, Seite 749, ei-ste S|)alle,
36. Zeile von unten, soll cs ricblig beißen: Eine Störung dieses
A'erhältnisses ist in der Regel fatal.
Freie Stellen.
Stadtarztesstelle in der Stadt Mistek (Mähren). Mit
diesem Posten ist ein Jahresgehalt von K 2400 verbunden, wofür der
Stadtarzt sämtliche sanitären und sanitätspolizeilichen Agenden nach den
bestehenden Sanilätsgeselzen, sowie die Agenden des städtischen Kranken¬
hauses ohne weitere besondere Vergütung zu besorgen hat. Gewünscht
wird ein jüngerer Arzt mit Doktorat der gesamten Heilkunde, deutscher
Nationalität, welcher auch der böhmischen Sprache mächtig ist, mit
längerer Spitalspraxis und tüchtigen Kenntnissen in der Chirurgie und
Geburtshilfe. Die Anstellung erfolgt auf ein Jahr provisorisch und kann
nach dieser Zeit die definitive Anstellung, womit der Anspruch auf
Pension im Sinne der Dienstpragmalik der Beamten der Stadt verbunden
ist, erfolgen. Gesuche mit genauem Nachweis über den Lebenslauf unter
Vorlage des Geburts- oder Taufscheines sind bis längstens 30. Juni d. J.
an das Bürgermeisteramt der Stadt Mistek einzusenden, das auch gerne
bereit ist, etwaige Anfragen und Auskünfte ehetunlichst zu beantworten.
Von der Bibliothek.
Nachstehende Werke wurden seit 11. April 1907
(siehe Nr. 15 der Wiener klinischen Wochenschrift 1907)
für die Bibliothek der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
in Empfang genommen. Nr. 2.
Geschenke:
a) aus dem Nachlasse des Herrn Dr. Ed. Fischer.
Ables W., Die Arzneien und ihre Heiltugenden. Wien 1845.8“.
Kehrer F. A., Lehrbuch der operativen Geburtshülfe. Stuttgart 1891. 8“.
Langer C. v., Lehrbuch der systematischen und topograph. Anatomie.
Vierte Auflage, bearbeitet von Prof. C. Toldt. Wien 1890. 8“.
Lafaurie A., Ueber die Unzulänglichkeit der bisherigen Pemphigus-Dia-
gno e. Würzburg 1856. 8“.
Mühlibach N. Th., Der Kropf. AVien 1822. 8“.
Purcell J., Von der Kolik. Deutsch von Dr. Job. Aug. Gesner.
Nördlingen 1775. 8®.
Rosas A., Lehre von den Augenkrankheiten. Wien 1834. 8®.
Troschel M., Chirurgische Verbandlehre. Zwölf Kupfertafeln mit Be¬
schreibung. Fünfte Auflage. Berlin 1865. 8®.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und
Geisteski ankheilen. Halle a./S. 1896-1898. 5 Hefte.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augenheil¬
kunde. Halle a./S. 1896—1898. 7 Hefte.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Frauenheil¬
kunde und Geburtshilfe. Halle a./S. 1896 — 1901. 9 Hefte.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nasen-,
Ohren-, Mund- und Halskrankheiten. Halle a /S 1895 — 1898.
Zeitschrift der Wundärzte Oesterreichs. Proßnitz und Wien. 1866 — 1868.
4®. 3 Bände. (Ergänzung.)
Medizinisch- chirurgisches Zentralblatt. Red. v. Ch, L. Praetoriu s etc.
Wien 1870 — !895 4®. (26 Bände) Mil Beilage Mediz.-chirurgische
Journal-Revue 1875 — 1889. (15 Bände.) (Ergänzung.)
Transactions of the American surgical Association. Vol. Ill, IX,
Philadelphia 1885, 1891. (Ergänzung.)
Casopis Lekaruv Ceskyeh. V Pra/ie 1882 — 1887; 6 Bände.
Przeglad Lekarski. Krakow 1883—1887; 5 Bände. (Ergänzung.)
b) Verschiedene Geschenke:
Finger Ernest, Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. I Teil.
Die Hautkrankheiten. Leipzig und AVien 1907. 8®. Vom Autor.
Del Castillo R., Die Augenheilkunde der Römerzeit. Autorisierte Ueber-
setzung aus dem Spanischen von Dr. M. Neuburger. Leipzig
und AVien 1907. 8®. Von Herrn Prof. Neuburger.
Jolles Adolf, Die Fette vom physiologisch - chemischen Standpunkte.
Straßburg 1907. 8®. Vom Autor.
Waller, Medical Dictionary II. Fourth Edition, improved and enlarged
by M. White. Leipzig und Wien 1907. Von Herrn Dr. Max AVeiß.
Glenard H., Les Ptoses viscerales. Paris 1899. 8®. Von Herrn Privat¬
dozent Dr. Pauli.
Williamson R. F., Diabetes mellitus and its treatment. Edinburgh und
London 1898. 8®. Von Herrn Privaldozent Dr. Pauli.
Riant A., Le surmenage inlellecluel et les exercices physiques. Paris
1889. 8®. A'^on Herrn Dr. Galatti.
XV. Jahresbericht des Vereines Heilanstalt Alland für das Jahr 1906.
Wien 1907. 8®. Von der Direktion.
Der fünfunddreißigste schlesische Bädertag und seine Verhandlungen.
Bearbeitet und herausgegeben vom Vorsitzendvm P. Dengler.
Rcinorz 1907. 8®. Vom schlesischen Bädertag.
Die Gemeindeverwaltung der Stadt Wien im Jahre 1905. Bericht
des Bürgermeisters Dr. Lueger. Wien 1907. 8®. Vom Bürger¬
meister Dr. Karl Lueger.
XVe Congres international de Medecine. Lishonne 19 — 26 avril 1906.
Section : VII. Neurologie, Psychiatrie et Anthropologie criminelle.
XI Ophthalmologie, XIII. Obstötrique el Gynecologie. XVII. Medecine
coloniale et navale. Von Herrn Dr. v. Hovorka.
Die therapeutischen Leistungen des Jahres 1906. Bearbeitet vom
Herausgeber Dr. Pollatschek. Wiesbaden 1907. 8®. Vom Heraus¬
geber.
Nr. 25
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
781
Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
Offizielles Protokoll «1er k. k. Gesellschaft der Aerzte
Sitzung vom 14. Juni 1907.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde
Sitzung der pädiatrischen Sektion vom 6. Juni 1907.
INHALT:
in Wien,
in Wien.
24. Kongreß für innere
18. April 1907.
Medizin zu Wiesbaden, vom 15.
bis
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 14. Juni 1907.
Vorsitzender: Prof. Dr. Königstein.
.Schriftführer: Priv.-Doz. Dr. K. Stejskal.
Der Präsident der Gesellschaft Ilofrat Chroliak macht
Mitteilung von dem Ahlelien des ehemaligen, langjährigen Älit-
gliedes Dr. Joachim Freund und ersucht die Versammlung,
sich zum Zeichen der Trauer von den Sitzen zn erheben.
Weiters teilt er mit, daß der Verwaltungsrat der Gesellschaft
für den alle drei Jahre zu verleihendelm Goldberger-Preis
folgendes Thema: „Experimenteller Beitrag' zür Frage der Deein-
flussung von Organsystemen und Organfunktionen nnlereinander,
in normalen oder pathologischen Verhältnissen“, .gestellt hat,
Professor Dr. Hermann Schlesinger demonstriert einen
Kranken mit Spondylitis infectiosa nach Dengue-
Fieber.
Der 35jährige Kranke akquirierte im Oktober v. J. in
Aegypten typisches D e n g n c - F i e h o r. Diese in wärmeren Län¬
dern heohachtete Erkrankung wird auch in Europa bis zur Höhe
von Konstantinopel beobachtet. Sie ist eiue, wie es scheint, sehr
iiifektiö.se Krankheit, die hauptsächlich charakteris isch ist durch
jähen Beginn, heftige Schmerzen, namentlich in den Grelenks-
gCigenden und Steigerung der Schmerzen bei Bewegungen, durch
hohes Fieber, das nach einer Remission wieder ansteigt und end¬
lich durch das Auftreten eines Exanthems, dem eine Schuppung
nachfolgt, Dio Krankheit endet in der Regel mit Heitimg.
Pat. Irekam nach der Dengue eiive schwere Erkrankung
fies Zeniralncrvensystomes, wahrscheinlich eine Eiizephalo-Myelo-
meningitis mit Bewnßtlosigkcif, Ilirim rvenlähmungen, Exlremi-
tätenlähmungen, Opisthotonns, Nackensteifigkeit etc. Regierungs-
rat Dr. v. Becker in Kairo, der dem Vortragenden die genaue
Krankengeschichte in liebenswürdigster Weise ühcrmitteltc,
schrieb, daß er diese Komplikation, resp. diesen Folgezüstand
des Dengue-Fiebers bereits sechsmal heol)achtet habe.
Nach fast dreiwöchiger Bewußtlosigkeit allmähliche Besse¬
rung. Die Hirnncrvenerscheirmugen verschwanden allmählich, je¬
doch war Gehen, sogar Stehen ohne Unlerstützimg infolge starker
Schmerzen ünmöglich.
Als Pat. vor sieben AVochen nach Europa kam, wurde vom
Vor Ir. eine auf Druck empfindliche Kyphose der I^ondenwit'hel-
säiile gefunden, die sich offenbar erst auf der Heise ausgchildet
hatte und jetzt noch sichtbar ist. Es bestand L’atellar- und rechts¬
seitiger Fußklonns.
Das Fehlen irgendwelcher tuherkulöser Veränderungen in
der Lunge und am übrigen Körper, die Anamnese, welche das
Fehlen einer hereditären Belastung oder einer auf Tuherkiilose'
suspekten Erkrankung ergab, die Entwicklung des Wirifelsäulcn-
leidens im nnmittelharen Anschlüsse an das Dengue-Fieber, ließ
Vortr. von Anfang an an Spondylitis infectiosa im Sinne
von Qüinke denken. Der weitere Verlauf spricht für die.se
Annahme. Es trat in wenigen Wochen eine außerordentliche
Besserung des Zustandes ein, so daß Bat. schon allein mehrere
hundert Schritte gehen kann.
Eine, diagnostische Tuherknlininjektion (l mg) ergab nicht
die geringste lokale oder allgemeine Reaktion.
Die von Priv.-Doz. Dr. Kienböck vorgonominenen Röntgen-
nntersuchungen zeigten Snhluxationsslellung eines Wirbels, lodiie
Wirheldeslruktion, aber das Vorhamtensein einer allmählich kleiner
werdenden Älasse zwischen dem ersten und zweiten Ijcnden-
wirhel.
Mit Ausnahme des wegen Schmerzen im Kreuze noch etwas
mühsamen Ganges ist nirgendis eine motorische oder sensible
Störung nachweisbar.
Spondylitis mil ähnlichem Verlaufe wurde nach verschie¬
denen Infektionskrankheiten, relaliv am häufigsten nach Typhus,
lieohachtet. Vortr. hat im Vorjahre hei einem Typhuskranken eine
Spondylitis an gleicher Stelle Ijeohachtet; die Wirhelerkrankung
heilte aus, wie dies zumeist hei infektiöser Spondylilis der
Fall ist. l
Der vorgestellte Fall scltciiit der e rs t h e o 1) ac li¬
fe te einer S p o n d y 1 i t i s i n f e c t i o s a n a c h De n g u e-F i e h e r
zu sein.
Iri'of. V. Zeißl: Meine Herren! Vor mehr als vier Jahren, am
2G. Februar 1903, berichtete ich das erstemal in der Gesellschaft
für innere Medizin in Wien über die Wirkung des Atoxyls (Met-
arsensäureanilid) als Roborans. Unter den Kranken, über welche
ich damals referierte, befand sich ein Hörer der Philosophie, der
mit einem pustulösen Syphilid behaftet war. Da der Pat. sehr
abgemagert und hochgradig blutarm war, verabreichte ich ihm
genau nach Schilds Angaben zunächst Atoxyl, um ihn für
eine antisyphilitische Kur zu kräftigen. Unter ausschließlicher
Atoxylbehandlung nahm der Pat. in drei Wochen um 4 kg zu.
Obwohl dem Kranken in dieser Zeit 2'00 Atoxyl eingespritzt
worden war, sah ich keinen deutlichen Einfluß auf das Syphilid.
Ich verabreichte nun durch weitere 15 Tage noch 1'40 Atoxyl
und ließ täglich 3'00 graue Salbe einreiben und täglich 1’50 Jod-
natriurn einnehmen. Unter dieser Atoxyl-Quecksilber-Jodbehand-
lung nahm der Kranke noch um weitere 2 kg zu und schwand
der syphilitische Ausschlag und der Primäraffekt. Ich ließ noch
weitere vier Wochen 1‘50 Jodnatrium einnehmen und blieb der
erwähnte Studiosus Philosophiae bisher von Erscheinungen der
Syphilis frei.
Obgleich ich seit mehr als vier Jahren das Atoxyl an¬
wendete, habe ich doch noch nicht den Mut, ein endgültiges
Urteil über die Einwirkung desselben auf die Syphiliserscheinungen
zu fällen. Ich bitte mir den Ausdruck zu gestatten, ich habe die
Empfindung, daß die Syphiliserscheinungen deshalb schwinden,
weil das Atoxyl den Kräftezustand der Luetiker hebt. Es in seiner
Wirkung in gleiche Linie mit Quecksilber und Jod zu stellen,
wage ich noch nicht. Auf jeden Fall halte ich es für angezeigt,
namentlich bei schwächlichen Syphilitischen Quecksilber und Jod
nicht allein gebrauchen zu lassen, sondern daneben auch Atoxyl
als Roborans anzuwenden. Jedenfalls sieht man bei vulgären
Dermatosen (Lichen ruber, Psoriasis, Akne) eine Wirkung des
Atoxyls erst dann, wenn man mehrmals pro die 0‘20 Atoxyl ein¬
gespritzt hat. Es stellt sich ja auch bei asiatischen Pillen meist
erst dann eine sichtbare Wirkung ein, wenn man mehrere Tage
täglich je 0 05 Arsen inkorporiert hat.
Von den Pat., welche im Kaiser-Franz-Joseph- Ambulatorium
und in meiner Privatpraxis mit Atoxyl behandelt werden, sind
leider nur diese zwei erschienen.
Diesem Manne (P. X.), Postbediensteter, mit einem maculo-
papulösen Syphilide, wurden bisher 2'20 Atoxyl eingespritzt.
Nach der achten Injektion, also nach Einverleibung von 1’20
Atoxyl, traten Papeln an der Mundschleimhaut und eine Alopecia
luetica auf. Wie Sie an diesem Kranken sehen, sind die Er¬
scheinungen an der Haut und Schleimhaut in Rückbildung.
Der 28 Jahre alte J. E., Gemüsehändler, ist seit 1900
luetisch. Das letzte Rezidiv wurde mit Mergal bis 23. Mai 1907
mit Erfolg behandelt. Vom 10. bis 30. Mai war der E. von
Lueserscheinungen frei. Am 30. Mai haben sich an ihm Papeln
an der Eichel und der Skrotalhaut entwickelt, welche sich nach
Einspritzung von U40 Atoxyl ohne jede Lokalbehandlung langsam
involvieren. Er hat um 2 kg an Körpergewicht zugenommen.
Die Frau mit dem Erythema papulatum hat in 10 Tagen
l'OO Atoxyl erhalten, seit 12. Juni fängt das Erythem abzu¬
blassen an.
Herr W. infizierte sich 1902, wurde bis 1904 intensiv
behandelt und entzog sich bis Februar 1907 der ärztlichen Be¬
handlung. Im Februar 1907 bestanden ausgebreitete Papeln an
der Zungenoberlläche und Papeln am Skrotum. Bis 30. März
Heilung durch eine Zittmannsche Behandlung. Am 10. Mai
neuerlich Papeln an der Zunge und am Skrotum. Sieben Tage
35 Mergalkapseln. IVegen Gingivitis und Salivation Mergal aus¬
gesetzt. Vom 18. Mai bis 12. Juni 2'4 Atoxyl. Heilung der Zunge
bis auf eine linsengroße Stelle, Resorption der Effloreszenzen am
Skrotum. Es ist denkbar, daß hier die Nachwirkung des durch
sieben Tage verabreichten Mergals eine Rolle spielt. Als Prä¬
ventivbehandlung bei Bestand des Primäraffekts vor Ausbruch
des Exanthems konnte mein Assistent, Dr. Pollitzer, bisher
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 25
keinen Erfolg sehen. Obgleich ich, auch dann, wenn ich jeden
zweiten Tag längere Zeit 0‘20 Atoxyl einspritzte, n i e eine
Arsenvergiftnng sah, möchte ich doch vor zu großen Dosen
warnen, weil Wälsch bei Frühbehandlung eines Syphilisfalles
mit Atoxyl Intoxikationserscheinungen sah, ohne daß die
Syphiliseruption beeinllußt wurde.
Ich glaube, daß das Atoxyl sich einen gewissen Platz in
der Syphilistherapie erobern wird, schon deshalb, weil es nicht
ausgeschlossen ist, daß durch die roborierende Wirkung des
Atoxyls ein geringeres Quantum der Antisyphilitika zur Heilung
der Syphilis notwendig sein wird. Dr. D indermann und
Dr. Pollitzer werden nach längerer Beobachtungszeit über die
von uns mit Atoxyl behandelten Luetiker berichten.
Prof. Dr. 0. Loewi : E i Ji e n e ii e F u n k t i o n tl e s F a n-
k r e a s und i h r e B e z i e h u n g z u m D i a b e t e s mellitus.
Nachdem durch Eckhardts Versuche sympathische Hemmungen
für die Nerven nachgewiesen wurden, deren zentrale oder
periphere Reizung zu gesteigerter Umwandlung von Cdykogen in
Zucker und Uebertritt des letzteren in den Harn führt, schien
die Prüfung geboten, ob etwa das Pankreas die Funktion habe,
sympathische Hemmungen zu reizen und der Diabetes nach
Exstirpation des Pankreas die Folge des Wegfalls derartiger
Hemmungen sei. Als Objekt zur Prüfung dieser Hypothese diente
der Musculus dilatator pupillae, als Reagens auf die Funktions-
tüchtigkeit seiner Hemmungen sein Verhalten gegenüber In¬
stillation von Adrenalin, einer Substanz, die sympathische
Förderungsnerven reizt.
Für diese Wahl war folgendes bestimmend: Instilliert man
in ein normales Auge Adrenalin, so ändert sieb — außer beim
Frosch — die Pupillenweite nicht oder nicht merklich. Hat man
dagegen, wie Meitzer nachwies, 24 Stunden zuvor das
Ganglion cervicale sup. exstirpiert, so tritt bald nach der
Instillation von Adrenalin eine beträchtliche Mydriasis ein. Dem¬
nach sind mit der Ganglienexstirpation Hemmungen für die
Adrenalinempfmdlichkeit des Dilatator pupillae beseitigt worden.
Wenn anders also das Pankreas den oben supponierten reizenden
Einfluß auf sympathische Hemmungen übt, so muß nach
Exstirpation des Pankreas als Folge von Adrenalininstillation
Mydriasis eintreten. In der Tat trat bei den dieserhalb bisher
operierten Tieren — zwei Hunden und zwei Katzen — 24 Stunden
nach Totalexstirpation des Pankreas nach Adrenalininstillation
eine beträchtliche Mydriasis ein. Demnach scheint wirklich das
Pankreas sympathische Hemmungen zu erregen, bzvv. die Reiz¬
barkeit sympathischer Förderungsnerven herabzusetzen. Will
man vom Verhalten der sympathischen Hemmungen des Dilatator
pupillae einen Analogieschluß auf das der Hemmungen der
glykogenumwandelnden Nerven ziehen, so wäre damit das Auf¬
treten des Diabetes nach Pankreasexstirpation erklärt. — Die zu
diagnostischen Zwecken angestellte Prüfung des Einflusses von
Adrenalininstillation beim Menschen — bei der Untersuchung
wurde ich wirksam von Herrn v. Steyska, 1 unterstützt —
führte vorläufig zu. folgendem bemerkenswerten Ergebnis :
Bei 10 von 18 Diabetikern trat eine beträchtliche
Mydriasis ein.*) (Unter den negativen Fällen war ein Fall von
Akromegaliediabetes.) Von 28 anderen Kranken versebiedener Art
zeigten nur noeb zwei Mydriasis: erstlich ein Fall von Pankreas¬
gangverschluß (klinische Diagnose, ohne spontane oder auch nur
alimentäre Glykosurie ! Die beiden Pankreasfunktionen könnten
danach getrennt gestört sein), ferner war ein Fall von Basedow.
Hier dürfte das Auftreten der Adrenalinmydriasis nicht die
Folge einer absoluten, sondern einer infolge zu starker
fördernder sympathischer Impulse relativen Insuffizienz der
Hemmungen sein.
Diskussion: Dr. Ernst Freund: Ich möchte ganz kurz
darauf hinweisen, daß auch vom chemischen Standpunkt die
Beziehungen der von Prof. Loewi mitgeteilten hochinteressanten
Beobachtung zum Diabetes als sehr plausibel zu bezeichnen sind.
So groß auch die Anzahl der chemischen Untersuchungen hei
Diabetes ist, es ist im wesentlichen in bezug auf die Zucker-
aussebeidung keine (lualitative Anomalie des Stoffwechsels ge¬
funden worden und alle gefundenen Bilanzänderungen lassen sich
von dem Verluste des nicht behaltenen Zuckers herleiten.
Es gibt aber auch eine Reihe von klinischen Beobachtungen,
die direkt dagegen sprechen, bei Diabetes irgendeine chemische
Insuffizienz der Leberzelle anzunehmen, etwa die Fähigkeit,
Zucker in Glykogen umzusetzen.
*) Hei fünf ad hoc ophthalmologisch genau untersuchten Fällen
wurde ein völlig normaler Augenbefund erhoben; insbesondere fehlten
irgendwelche Anzeichen von Okulomotoriusparese.
Dahin gehört vor allem die Tatsache, daß unter dem
Einflüsse mancher fieberhafter und kachektischer Einflüsse
(Tuberkulose) die Zuckerausscheidung des Diabetikers geringer
werden kann.
Es ist nicht anzunehmen, daß gerade durch einen solchen
schweren Insult eine verloren gegangene chemische Funktion
wieder hergestellt wird. Das Fieber allein erklärt die Zucker¬
zerstörung nicht, da ja bei manchem Fieber die Zuckerausscheidung
bestehen bleibt.
Weiters spricht die von Külz entdeckte Tatsache gegen
die Annahme einer chemischen, substanzlichen Insuffizienz, daß
die Insuffizienz des Diabetikers eine relative ist.
Ein Diabetiker, der nicht einmal 100 g Kohlehydrat voll¬
kommen bewältigen kann, sondern 5 g ungenützt ausscheidet,
kann gleichwohl von weiteren gleichzeitig eingeführten 100 g
Kohlehydrat den allergrößlen Teil assimilieren.
Ja, es zeigt sich, daß der Diabetiker, je größere Mengen
Kohlehydrate man einführt, desto bessere prozentuelle Ausnützung
aufweist.
Wenn jemand z. B. bei 50 g Brot 27 g Zucker ausscheidet,
so scheidet er bei 100 g Brot niebt, wie man erwarten würde,
das Doppelte (54 g) aus, sondern nur 42 g und bei 200 g Brot
statt 108 g nur (10 g aus.
Diese Beobachtungen sind unvereinbar mit der Annahme
einer chemischen Insuffizienz; wären die Zellen insuffizient, so
müßte bei reichlicherer Einführung von Kohlehydraten um so mehr
Kohlehydrat unausgenützt bleiben.
Solche Beobachtungen lassen sich eher mit physikalischer
Insuffizienz der Leber erklären, derzufolge bei normaler Zell¬
beschaffenheit die Gelegenheit zur Zuckerresorption in den Ka¬
pillaren eine ungenügende ist, wie das z. B. durch zu raschen
Blutdurchtritt oder durch zu breite Gefäßbahnen möglich wäre.
Da ist es dann begreiflich, daß bei konzentrierteren Zucker¬
lösungen relativ mehr Zucker von den Randzellen der erweiterten
Kapillaren zur Resorption gelangt. Eine solche abnorme Durch¬
lässigkeit des Leberkapillargebietes ist ebenso akut wie chronisch
erzeugbar (Toxine) und abänderbar, z. B. durch das Fieber oder
durch nervöse Einflüsse, die ja die Zuckerausscheidung des
Diabetikers so wesentlich beeinflussen, ohne daß man annehmen
könnte, daß durch freudige Eindrücke eine verloren gegangene
Zellsubstanz wieder geschaffen werden könnte.
Diese Erwägungen haben mich schon in einem an dieser
Stelle im Jahre 1902 gehaltenen Vorträge veranlaßt, darauf hinzu¬
weisen, daß ,,die verschiedenen Formen des Diabetes mellitus
einheitlich auffaßbar wären als Folgen einer Gefäßlähmung,
resp. Reizung der Gefäßdilatation einmal von zentralen, das
andere Mal von peripheren Stellen des Nervensystems, einmal
durch fremde toxische, ein anderes Mal durch autotoxische Reize
hervorgerufen“.
Es schien mir passend, hieran zu erinnern, weil es zeigt,
wie die an der Pupille zu beobachtende Gefäßalteration bei der
Leber zur Zuckerausscheidung führen kann.
Priv.-Doz. Dr. F a 1 1 a : Meine Herren ! Herr Loewi hat
das Zustandekommen der Zuckerausscheidung beim Diabetes
mellitus in der Weise erklärt, daß der Zuckerausscheidung stets
Hyperglykämie und dieser wiederum eine vermehrte Umwandlung
von Glykogen in Zucker vorausginge. Ich möchte dem gegenüber
nur betonen, daß dieser Theorie andere Anschauungen gegenüber¬
stehen, vor allem die von der N a u n y n sehen Schule vertretene
Theorie von der Dyszooamylie, d. h. von der Störung in der
Glykogenese und die durch Respirationsversuche gut fundierte
Annahme, daß das Verbrennungsvermögen für Traubenzucker
teilweise oder völlig in Verlust geraten sei.
Den Ausführungen des Herrn F r e u n d kann ich nicht un¬
bedingt zustimmen. Das von Herrn Freund erwähnte Gesetz,
nach welchem bei Diabetikern auf Zulage von Kohlehydraten die
Steigerung der Zuckerausscheidung im Verhältnis zur Mehrzufuhr
zurückbliebe, daß also das Ausnützungsprozent anstiege, hat nur
sehr bedingte Gültigkeit. Es mag für manche leichte Fälle von
Diabetes mellitus zutreffen, für die meisten schweren Fälle gilt
es nicht, vor allem nicht für den experimentellen Pankreasdiabetes.
Hier sehen wir ja das Verbrennungsvermögen für Zucker auf der
Höhe der Stoffvvechselstörung völlig aufgehoben. Ich erinnere an
die Versuche, über welche ich hier vor kurzem berichtete, die
zeigten, daß auch bei Zufuhr ganz kolossaler Mengen von Trauben¬
zucker eine nennenswerte Verbrennung desselben nicht stattfindet.
Aehnliche Fälle sind auch aus der Pathologie des menschlichen
Diabetes bekannt. Es gibt überhaupt Fälle von Diabetes mellitus,
welche gegen Kohlehydratzufuhr außerordentlich empfindlich
sind. Vor allem aber stimmt das postulierte Gesetz nicht für die
Beziehungen zwischen Zuckerausscheidung und Eiweißzufuhr
Nr. 25
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Denn hier sehen wir in den schweren Fällen von Diabetes mellitus
häufig hei Zulage nicht sehr großer Mengen von Eiweiß kolossale
Zuckerausscheidungen auftreten, die in gar keinem Verhältnis
mehr stehen zur Menge des im Eiweiß mehr zugeführten zucker-
hildendon Materiales.
Voj'sia.ml Dr. Freund: Ich möclite zu (hui llemerkungeu
des Dr. kalta nur Ireinerken, daß seine exi)('riinen(ell(Mi l'h"g('i)-
nisse sich doch hau|)lsä(ddicli aut' den pankri'aslosen Hund he^
zielu'u, während <lie K i'i I z sclien Heohachtungen doch dem
menschlicdien Dial)et('s entspreclum.
Es ist allerdings auch niidd. zu hezweiteln, daß hei maxi¬
malem Charakter der Itrkrankung, z. D. hei maximalster Er-
weileriiug dei- Kapillaren, das Külzsclu^ Fhänomen nicht mehr
l)roduzierhar ist.
Prof. Loewi (Schlußwort): Gegenüber Herrn Freund
betone ich, daß ich die Reizung und Hemmung sympathischer
Fasern nicht auf Reizung und Hemmung der Rlutgefäßnerven
beziehe, da nach Eckhardts Versuchen eine splanchnische
Vasokonstriktion je nach dem Orte der Reizung mit, wie ohne
Glykosurie einhergehen kann.
Herrn Falt a erwidere ich, daß die Nötigung, eine Ver¬
brennungsstörung oder Unfähigkeit, Glykogen anzubauen, beim
Diabetes anzunehmen nicht vorliegt, wir vielmehr zur Erklärung
aller Symptome auch mit der alleinigen Annahme der nach¬
gewiesenen raschen Glykogenumwandlung in Zucker auskommen.
Priv.-Doz. Dr. K. Ullmann: 1. V a r i z c u ä h n 1 i c he
K a p i 1 1 a r p h 1 e b i t i s und I.. y m p h a n g o i t i s bei tuber¬
kulösem Tumor. Der SOjährige Mann wurde bereits am
23. Februar 1. ,T. wegen eines monströsen, stellenweise kolliques-
zierenden Skrofuloderma beider Gesäßbacken von einer tuber¬
kulösen Mastdarmfistel ausgehend in der dermatologischen Gesell¬
schaft von mir vorgestellt. (Vgl. Sitzungsprotokoll Wr. klin. Wochen¬
schrift 1907, Nr. 14, S. 431.) Es finden sich fast symmetrisch an
beiden unteren Extremitäten schwammartige, stellenweise beet¬
artig die Hautoberfläche überragende Infiltrationen, den oberen
Hautschichten angehörig, die ungefähr den Eindruck von ein¬
fachen Varikositäten machen, ohne es aber zu sein. Es handelt
sich augenscheinlich nicht um entzündliche Wandverdickungen
größerer Hautvenen, nicht um einfache Periphlebitis, sondern um
meist längsgestellte, ovaläre Plaques und Streifen, mit stellen¬
weise deutlich netzförmiger Anordnung. Einzelne, namentlich die
kleinsten Stränge sind rosarot, an ein urtikarielles Oedem er¬
innernd, die meisten grau oder bräunlich livid, der Farbe des
Tumors am Gesäß fast gleichend, so daß man sich des Eindrucks
nicht erwehren kann, es handle sich um metastatische Tumorbildung.
Die histologische Untersuchung von frischen und älteren
Partien, durch Exzision gewonnen, zeigt ein eigenartiges Rild, das
wegen seiner Seltenheit wohlverdient, festgehalten zu werden. Die
Präparate, die ich Ihnen hier eingestellt habe, ergeben im Wesen
eine chronische Entzündung des Bindegewebes mit Ausgang in
fibröse Verdichtung, der Prozeß sitzt lediglich in den obersten
Kutisschichten, ringsum der Venen, Lymphgefäße und Lymph¬
spalten des Papillarkörpers und der unten liegenden Kutisschichten.
Die Venenwände sind verdickt und etwas entzündlich ver.ändert,
die Lymphgefäße dagegen sehr auffallend wie varikös erweitert
und das Bindegewebe des Rete, wie ringsum die Gefäße und
Schweißdrüsen, von einer sulzig durchscheinenden Exsudatmasse
gleichmäßig durchsetzt. Nirgends ist eine Ansammlung von
Leukozyten oder von spezifisch tuberkulösem Gewebe, lymphoiden
Zellen zu bemerken. Demnach eine Stauungsentzündung im kapil¬
laren Gefäßgebiete. Ein Zusammenhang dieser umschriebenen
entzündlichen Veränderungen mit solchen an größeren Venen
kann hier weder klinisch noch histologisch konstatiert werden,
wohl aber finden sich auch hie und da deutlich varikös erweiterte
Hautvenen.
Die Veränderung dürfte mit der von L e j a r s beschriebenen,
retikulären Lymphangoitis Tuberkulöser viel Gemeinsames haben.
Es liegt nahe, eine durch den tuberkulösen Tumor bedingte
Kompression und Verödung größerer Gefäße als Ursache von
Stauung im Zusammenhänge mit der Schädigung des Gefäßsystems
durch die kreisenden toxischen Produkte aus dem Tumor für das
Zustandekommen der geschilderten Veränderungen in Betracht
zu ziehen. Schon 1860 hat Rokitansky Venenerweiterungen
in der Umgebung von Tumoren als einen nicht seltenen Befund
bezeichnet, eine Tatsache, die auch auf die toxische Schädigung
der Gefäßwand aus den Zerfallsprodukten des Tumors hinweist,
da es bleibende Erweiterung ohne Schädigung der Gefä߬
wand wohl nicht gibt.
2. 1 n f e k t i ö s e s G r a n u 1 o m in Form multipler
Knotenbildung im Gesichte. An dem 28jährigen, an¬
scheinend ganz gesunden Mann zeigten sich vor Jahresfrist zahl¬
reiche, dicht stehende, mäßig derbe, dem Lupus sehr ähnliche,
lachsfarbene bis braunrote, halb erbsen- bis halbbobnengroße Knoten
der Haut des Nasenrückens, die von den Nasenöffnungen bis
an die Wurzel hinauf reichten. Das unverhältnismäßig rasche
Wachstum der Knoten machte die Diagnose Lupus allerdings' schon
damals fraglich und mußte deshalb auch die pseudoleukämische
Natur der Uildungen ins Auge gefaßt werden. Der auffallend
günstige Elfekt einer Röntgenbehandlung schien die letztere An¬
nahme besonders wahrscheinlich zu machen. Doch ergab der
histologische Befund eines unbehandelten größeren Knotens, daß
sowohl Lupus als Leukämie ausgeschlossen werden mußten. Es
finden sich, wie die eingestellten Präparate zeigen, wohl die
Elemente eines Granuloms, d. h. hauptsächlich junge Rindegewebs¬
zellen mit langen spindeligen Kernen, die eine Art netzförmiges
Stroma abgeben und die in sich noch zahlreiche zellige Elemente
anderer Art enthalten, vorwiegend noch sogenannte Plasmazellen,
nur ganz vereinzelt aber mononukleäre Zellen, Mastzellen und
Lymphozyten. Die Infiltration sitztauch deutlich um mit Endothel
ausgekleidete Lymphgefäßspalten, nicht aber rings um Blutgefäße.
Auf andere Details soll hier vorläufig nicht eingegangen werden.
Die histologische Struktur gestattet es jedenfalls nicht, dieser
Bildung ohne weiteres einen Platz in der im Jahre 1899 von B o e c k
aufgestellten Gruppe der ,, benignen Sarkoide und Miliarlupoide“
anzuweisen, dazu fehlen ja Riesenzollen von sarkomatösem
Habitus und gerade die reichlichen Plasmazellen in diesem Falle
fehlen gänzlich bei Boecks Fällen. Auch in die von Kaposi
und S p i e g 1 e r aufgestellton ,, Sarkoiden“ Tumoren paßt dieser
Fall nicht ganz hinein, wegen klinischer wie histologischer Dif¬
ferenzen. Die Abwesenheit leukämischer Befunde an Drüsen,
Milz und Blut (Doz. Dr. Schur) schließt die Diagnose Pseudo¬
leukämie (Leukämie) ebenfalls aus, abgesehen von dem Mangel an
mononukleären Zellen im Granulom seihst. Läßt sich dieses also
nicht in bereits klinisch gut definierte und benannte und histo¬
logisch gut untersuchte ähnliche Bildungen einreihen, so wäre es
doch gewiß ebenso unangebracht, die Affektion schon jetzt als
eine eigenartige bisher nicht beschriebene aufzufassen. Dazu reicht
gerade bei den Granulomen die Histologie an und für sich nicht
aus, so lange wenigstens die Erreger selbst nicht bekannt sind.
Auch in diesem Falle -wurde nach dieser Richtung gesucht und
nichts gefunden. Klinisch scheint eine chronische Rhinitis atrophi¬
cans, für deren genauen Befund ich Herrn Prof. 0. Chiari besten
Dank schulde, vielleicht ätiologisch heranzuziehen zu sein. Ist
ja auch der Lupus nasi, wie eben gerade Chiari seinerzeit
zeigte, oft nur eine Fortsetzung der primären Schleimhautinfektion.
Herrn l’rof. Palla. uf sage ich für die freundliche Durchsicht der
Pi'äiKU'ate heslen Dank. — (Beide Fälle werden ausführlich l)e-
schi'iehen werden.)
Dr. C. v. Pirquet, Assistent der Klinik Esc her ich, stellt
ein sechsinonaligc's Kind vor, hei dem die Diagnose der
ruherkulose dui'ch die A 1 1 e r g i e i) r o h e gestellt wui’de.
Geboi'cm a,m 17. Januar 1907, wurde im Alter von fi'inf Wochen
hei der Fürsorgestelle des Vereines aufgenommen. Anamnese:
Mutk'f gesund, Vater lungeidvrauk, von neun Geschwislern leben
nur dr('i, die amh'nm sind sänitliche im Laufe der ersten zwei
Lebensjahre an uubekamilen Krankheiten gestorben. Bei der Auf¬
nahme war flas Kind gesund, speziell tlie Haut Ijot keijie Vd'i-
änderungeu, Gewicht 3640 g.
ln der Zeit vom 19. Februar bis jetzt wurde das Kind
jede Wüjche in der Schutzstelle gewogen und besi(ditigt. Die
Gewichtskurve zeigt bis 10. April eine gute, l»is 11. Mai eine
geringe Zunahme, seither Abfall von 5250 auf 4680 g. Am 22. j\l:lrz
lindet sich nolicu t: ,, Ulkus mudi Ekzem der rechten Wange, Tuber¬
kulose?“ 10. April. Lymiduulenilis colli. Ulkus der rechten Wange
größer. 26, April. Broiichilis. 11. Mai. Tuherkulinimpfung bei
Kind und .Mutier positiv. 21. Mai. Drüsenschwellung eher größer.
10. Juni. Tulx'rkuiid (Folliklis).
Bei der Spitalsaufnahme ;im' 12. Juni findet sich ein gut
entwickeltes, etwas ahgcmagerles Kind ohne Zeichen von Rachitis.
.Vuf eler Haut dei' r(‘(diten Wange eine 5 cm durchmessende Slelle
mit gt'rötefem, erhahemm Bande, mit gelhli<dien und schwarzen
Borken bedeckt, ln der Umgehung des Heirh's einige blasse
Knötchen. .Mehrere bis ühei' holmengroßie Lymphdri’isen im i'cchlen
Kieferwinkel. .\uf der übrigen Haut, mit .Vusnahme des Kopfes,
verstreute Effloreszenzen ; ziemdich scdiarf ahgegrenzte, 3 bis 5 mm
durchnressende Knöhdien, teilweise mit zentraler Borkenbildung.
Nach Ablösung der Borken ist eine kleine Delle sichtbar. Lunge
und übiige Organe ohne pathologischen B<d'und.
Bemerkenswert ist hier, <laß( wir den ganzen Verlauf der
Tuheikulose verfolgen können. Das tuberkulöse Ulkus auf der
Wange stellt wahrscheinlich den Primäraffekt dar, auf den die
.-Vnschwellungen der regionären Lyuq)hdrüsen folgten. In diesem
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Stadiiiiü Jiim konnl.i; <li(‘ Diagnose auf TuhcM-kiiloso (lurch Tuhor-
kiiliiiiiiij)l'iing gestellt werden, l’ositivo Heaklion in diescen LelxMis-
aller ist eiin^ große Seltenheit. Das jüngste Kind, hei dein ich
hislnu’ jiosilive Reaktion gesehen habe, war fünf .Monate all.
In dii'sem Falle nun ist die Diagnose durcdi das eingidrelenc
Tuherkulid (Folliklis) gesichert worden. Sie sehen Allergii'prohcn,
weUdie ich vorgestern und heule morgens ausgeführt habe, an
beiden Rnlerarinen des Kindes. Die Konirollstelle isl (dn ein¬
facher Kratzeffekt, während die Tuherkulinstellen 10. bis 12 inin
durchniesseiide, eben tastbare Rapeln darstellen; die von heute
früh sind frischrut, die von vorgestern etwas jilässer und leicht
pigmentiert.
Prim. Priv-Doz. Dr. Schnitzler stellt einen dreijährigen
Knaben vor, Inn dein er wegen II i r s c h s p r u n g schpr Krank¬
heit <lie llesekt, ion der Flex um sigmoidea ausgcfüln't
hat. llnregelniäßigkeiten in der Stühlen lleerang wui’den schon in
den ersten Lehenstagen des Kindes heinerkt, späh*]' fielen dei-
iMutter die Anftreihung des Bauches, Schnierzäußerungen des
Kindes lind Darmsteifungen auf. In der zweiten Hälfte des .lahres
HlOt) traten dreimal Anfälle von Darmversedduß auf. In einem
sohdien Falle wurde das Kind iMitte Dezember 190o auf die
Abteilung Schnitzlers gebracht. Die Anamnese* und die deut¬
lich sichtbaren Steifungen der enorm dilatierlen Flexur ermög¬
lichten die Diagnose auf Mega colon con ge nit um, Ilirsch-
s p r u n g sehe Krankheit. S c h n i I z I c r n ä h t e zunächst die ganze
Flexur vor und trug sie drei Tage späh'r extraiieritoneal ah.
Dann wurde durch einige Monate der Anus praeternaturalis be¬
lassen. Schließlich Aviirde dieser durch Darnmaht beseitigt und
ein nonnales Refimlc'n des Kindes erzielt. Um auf die verschie¬
denen Theorien über die iFntstehung der Hirschsprung sehen
Krankheit einzugehen, erwähnt Schnitzler nur die Auffassung
von Perthes über die Redeutung einer klappenähnlichen Bil¬
dung am unteren Ende der Flexur. Schließlich erwähnt Schnitz¬
ler die Vorzüge des von ihm in dem vorgestellten Falle einge¬
schlagenen Verfahrens der zweizeitigen Resektion der Flexur
gerade nnt Bezug auf die hei der H i r s c h s p r u n g schon Krank¬
heit hestehenden Verhältnisse.
Dr. Heyrovsky: Icli erlauho mir, meine Herren, aus dem
Amhulatorium der Klinik meines Chefs, Herrn Hofrales Hochenegg
einen Fall von seltener Verletzung des Halses vorzustellen. Der
(i2jährige Patient wurde im Januar 1906 von einem Insassen
einer Zwangsarbeitsanstalt, in welcher er als Werkführer tätig
war, durch einen von links hinten geführten Stich an der linken
Halsseite verletzt. Der herheigerufene Arzt fand in der Mitte des
linken Kopfnickers eine schräg von oben hinten nach vorne
unten verlaufende, 3 cm lange, in der Richtung gegen den hinteren
Rand des Schildknorpels in eine Tiefe von 3 bis 4 cm reichende
Stichwunde. Die Vena jugul. externa war schlitzförmig eröffnet.
Die Wunde heilte in kurzer Zeit. Die vorher normale
Stimme des Pat. ist seit der Verletzung heiser. Der Kehlkopf¬
spiegelbefund ergibt eine Lähmung des linken Stimmhandes.
Eine Schliiigstörung ist nicht vorhanden. Die Pulsfrequenz
beträgt 70 Schläge in der Minute.
Die Respiration bietet nichts Abnormes.
Die Untersuchung der Augen des Pat. ergibt eine Parese
des linken N. sympathicus. Die linke Pupille ist enger als die rechte.
Auf Kokain erweitert sich die rechte, nicht aber die linke Pupille.
Links ein meßbarer Enophthalmus. Keine deutliche Ptosis.
In der Gefäßinnervation und Schweißsekretion der Haut der
beiden Gesichtshälften kein nachweisbarer Unterschied.
Wir finden also bei dem Pat. Ausfallserscheinungen von
seiten des linken Nervus vagus (Lähmung des linken N. recurrens)
und des linken N. sympathicus (Myosis, Enophthalmus). Diese
Erscheinungen wurden unmittelhar nach der Verletzung be¬
obachtet und sind also auf die Verletzung zurückzuführen. Die
Lähmung des linken Stimmhandes kann durch eine Verletzung
des linken N. recurrens oder des linken N. vagus selbst bedingt
sein. Da neben der Lähmung des Stimmhandes auch Symptome
einer Parese des Sympathikus vorhanden sind, scheint mir die
i\n nähme einer Verletzung des Vagusstammes seihst, mit Rück¬
sicht auf die anatomische Lage der beiden Nerven, wahrschein¬
licher zu sein, um so mehr, da von den regelmäßigen Folgen der
einseitigen Vagusdurchschneidung (der ’ erschwerten Respiration,
erhöhter Pulsfrequenz iind Heiserkeit) meist nur die Heiserkeit
hestehen bleibt. Die isolierten Verletzungen des Halssympathikus
sind außerordentlich selten. Die Ausfallserscheinungen sind be¬
kanntlich Myosis, Ptosis, Röte und erhöhte Temperatur der
Gcsichtsbälfte, sowie eine Differenz der Schweißsekretion der
lieiden Gesichtshälften. Die Lähmungserscheinungen sind in der
Regel von kurzer Dauer.
Dem Herrn Primarius v. Winiwarter verdanke ich die
Älilloilung eines ähnlichen Falles einer Schrolschußverletzung des
Halses.
Ein Älann mit 70 Jahren wurde hei einer Treibjagd an¬
geschossen. Sofort nach der Verletzung fiel den Anwesenden die
heisere Stimme des Pat. auf. Primarius v. Winiwarter konnte
am nächsten Tage links vom Kehlkopf eine kleine, einem Secliser-
schrot entsprechende Einschußöffnung feststellen. Das Schrotkorn
war nicht zu fühlen upd heilte anstandslos ein.
Die Untersuchung des Kehlkopfes ergab eine Lähmung des
linken Stimmhandes. Die Lähmung und Heiserkeit schwanden
nach' etwa drei Wochen.
Hofrat Prof. Dr. v. Eiseisberg stellt einen 51jährigen Arzt
vor, der vor elf Tagen mit seinem Motorfahrrade slürzle und eine
Fraktur im Collum anatomicum dc's linken Humerus erlitt. Da
der behandelnde x\rzt wedc'r den Puls der Arteria cubitalis, noidi
den dcj' Arteria. radialis tasten konnte, schickte er ihn zur xVuf-
nahino in die Klinik.
Es hestand damals ein mächtiges Hämatom an der Innen¬
seite des linken Ohorarnies, der Puts in der Kiihital- und Radial¬
gegend fehlte, die Extreinitäl vom Ellbogen peripherir'wärls war
k;äll(‘r und blässer als die der anderen Si'ite und Pat. klagle
daselbst über Paräslheisien (Gefühl von Pelzig- und Taubs(*in).
Sofoj't Avurden Blidegel (im ganzen ungefähr zwei Dutzend)
längs des Unterarmes Und der Hand Avährend dei' ersten 24 Stiimlcn
gesetzt und A\miterhin eine Biorsche Saugglocke für den Unterarm
täglich durch einige Stunden hindurch g(d)raucht. Die Exlremilät
Avurdo allmählich Avieder Aväriner und röter, so daß man di’ci
'Tage später eine leichte Gipshanfschiene zur Fixation des Armes
anlegen konnte.
Jetzt hei der Entlassung des Verletzten fehlt zwar immer
noch der Kid)ital- und Radialpuls, doch die Gefahr (finer Schädi¬
gung der Extremität infolge Zirkulationsstörung ist Avohl nicht
mehr zu fürchten.
Anschließend an diesen Fall macht Redner auf die Wiehl ig-
keit aufmerksani, hei jeder Fraktur sich vom Bestehen des Pulses
im pc’ripheren ■ iVh schnitte der verletzten Extremität zu überzeugen,
indeun beim Uebersehen dieses Symptomes, namcntl'ch, Avenn ein
zirkulärer Verband angelegt Avird, der Arzt leicht \mn einer Gangrän
des helreffenden Gliedes überrascht werden kann.
AVeiters berichtet er über ein von ihm in K('>nigsherg he-
handeltes Kind mit einer Fraktur des Oherschenkels und fehlendem
peripheren Pulse. Er griff (hunals blutig ein, räumte das Hänia-
tom aus, Amrschloß einen Schlitz in der Arteiäa temoralis mit
Avandständiger Ligatur und erzielte aid‘ diese AVeise ein Audl-
k 0 mme n 1 ) c* f i' led i gen d e s Re s u 1 1 at.
Dr. Ludwig Teleky: Die Phosphornekrose ist heute in
den AAfiener Spitälern eine ziemlich seltene Erkrankung. Das Avar
nicht immer so. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des Amr-
gangejien Jahrhunderts sah man sie hier sehr häufig. Lo!fins<'r
allein hat im Amrlaufe \mn 15 Jahren 75 Fälle gesehen. Manche
Autoren und auch einzelne Behörden haben daraus, daß die
Phosphornekrose in den AViener Spitälern heute so viel seltener
ist als früher, den Schluß gezogen, daß die Phosphornekrose über¬
haupt selten gewordc'n sei und daß die Verhältnisse in der Zünd¬
hölzchenindustrie, die ja allein die Ursache für die Entstehung
der Phosphornckrose ahgibl, um so viel besser geworden seien.
Dieser Schluß ist unrichtig. Die Aenderung in der Nekrosc-
häüfigkeit rührt daher, daß es in AVien heute keine Zündhölzch('n-
industrie mehr gibt, Avährend Mitte dev Fünfzigerjahre in AVien
ca. 2000 Arbeiter nnt der Erzeugung von Zündhölzchen hc-
schäfligt Avaren. . '
Im A'ongen Jahre Avurde an die Klinik Eiselsherg eine an
Phosphoiiiekrose erki-ankte Frau aid'genonünen, die ganz auf¬
fallende Angaben über die Häufigkeit der Nekrose in ihrem
Heimatsorte machte. Mit Zustimmung des Herrn Hofrates Professor
Aq Eiselsherg, faßte ich den Ents(dduß, in (ten Gebi(‘ten der
Zündliölzchenindustrie selbst Erhebungen über die lläufiLdceil d(‘r
Phosphornekrosc aiizustellen, die Nekrose an Ort und Stelle zu
studieren.
Ich setzte mich mit dem A^erhandc (h'V Arheiterschafl der
cheinischen Industrie in A'erhindung und fand hei diesem ver¬
ständnisvollste Unterstützung, hdi habe im Sommer vorigen
Jahres das Zcidrum der böhmischen Zündhölz(dieninduslrie be-
suebt, Avobei mir der Mann der obenerwähnten Palientin und
die A'erlraüensmänner der Gewerkschaft als Führer dienten. Im
Herhste habe ich dann auch in Steiermark zwei Orte mit großen
Zündhölzchenfahriken aufgesucht. A'on diesen Reisen stammen
die Photograi)hien, die ich Ihnen hier vorzidegen, mir erlaube.
Meine Erhebungen fanden eine Avirkungsvolle Ergänzung
durch Fragehogen, die meine Schwester, derzeit Operationszögling
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an (l(‘i’ Klinik des lloli'alos v. E i s o I s 1j o i'g, au eine grolle Auxalil
von Spiläleni vorsaiidle.
ir hal)on übei’ hundert Fragebogen ausgcschickt, von denen
aber kaum die Halite beanhvorlet wurden. .Vus 18 Spitälern
wurden uns über 100 Nekroset'älle initgeteill. 80 Fälle liabe
i(di selbst uutersuebt. GO Fälle konnte icli anderweitig ermitleln.
liisgesand. konnte icdi (über mebrere Fälle erhielt ich Mitteilung
von veisehicdeneu Seiten) so genaue Daten über 212 Fälle er¬
halten, von rieuen IGO aus den letzten zehn Jahren stammen,
lieber 38 weitere Fälle erhielt ich Angaben, die aber nicht so
vollständig waren um eitle Aufnahme der Fälle in die genauen
Zusammenstellungen und Berechnungen zu ermöglichen.
Die genaueren Daten und Resultate meiner Unter.suchungen
find en sich in emer, in diesen Tagen hei Deut icke erscheinenden
tiusführlichen Publikation (Die Phosidiornekrose. Schriften der
'• österreichischen Gesellschaft für Arbeiterschutz, Heft XIl). Fnsere
Erhöhungen Inihen sich auf Betriebe erstreckt, die verbal tnismäßiig
günstigere Verhältnisse darliielon. Wenn wir aber annohmen,
daß die Nekrosehäufigkeit in den übrigen Betritdten nur ebenso
groß sei, wie in den von uns hesuchten und nvenn wir weiter
berücksichtigen, daß unsere eigenen Erhebungen keineswegs
lückenlos sind, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß in den
letzten zehn Jahren in Oesterreich 350 bis 400 Nekrosefälle vor-
gekommen sind, während die Gewerbeinspektorenberichte nur
75 Idlllo ausweisen. Sie sehen also, daß die Nekrose in Oester¬
reich keineswegs eine Seltenheit ist, somlern im Gegenteile eine
ä sehr häufige Erkrankung.
Was die Natur der Phosphornekrose anhelangt, so ist man
heute allgemein darin einig, daß durch die cbronische Phosphor-
vei'giftung das gesamte Knocheiisystem eine Veränderung erleidet.
Es kommt hei den Zündhölzchenarlieitern häufig zu Spontan-
frakfuren der langen Röhrenknochen, besonders der Obei schenke!.
Auch ich habe solche Fälle gesehen. Die Nekrose der Kiefer-
: knochen kommt dadurch zustande, daß der durch die chronische
Phosphorvergiftung veränderte Knochen eindringenden Eiterungser¬
regern keinen Widerstand zu leisten veianag. Kein' Knochen aber ist
so sehr dem Eindringen von Eiterungserregern ausgesetzt, als
die Kiefeiknochen. In jenen Fällen aber, in denen es hei ge¬
sunden Knochen zu einem lokal eiigbegrenzten Prozeß einer
Periostitis kommt, kommt es hei dem durch den Phosphor ver¬
änderten Knochen, weil er eben den Eiterungserregern nicht
.. Widerstand zu leisten vermag, zu einer weitausgedehnten Nekrose.
•I Ich will auf den klinischen Teil hier nicht näher eingehen,
da meine Schwester und ich gemeinsam eine Publikation hier¬
über vorhereiten. Ich will nur erwähnen, daß es hei 15 bis 20®/o
der Erkrankten zum Tode kommt, meist durch Fortschreiton der
Eiterung auf das Gehirn oder seine Häute. Auch zu einer Ver-
citerung des Augapfels kann die Erkrankung in manchen Fällen
führen.
, Was die Behandlung anhelangt, so waren die Autojxm von
jeher verschiedener Meinung darüber, oh hei der Nekrose des
Unterkiefers die operative oder die konservative Behandlung vor-
•' zuziehen sei. Gewiß kann es Fälle geben, hei denen anhaltende
> heftige Schmerzen oder die Kachexie zum raschen operativen
>. Eingriffe zwingen. Doch ist der kostnetische Endeffekt hei den
f konservativ behandelten Fällen stets ein bei weitem besserer. An
k Stolle des resezierten Unterkiefers findet man häufig nur hinde-
; gewehigo Stränge oder dünne, nur selir selten über federkieldicke
^ Knochenspangen, was ein Zurücksinken der Weichteile, respektive
F hei halbseitiger Resektion, eine starke seitliche Vers(duehung zur
* Folge hat. Bei den konservativ hehandelten Fällen hingegen er-
leicht die Totenlade häufig eine solche Stärke, daß sie nach
V Abstoßung des Nekrotischen in ihrer Dicke dem Körper des nor-
malen Unterkiefers entspricht und sogar häufig stärker ist als
- dieser, so daß in manchen Fällen das Kinn sogar plumper und
derber erscheint als unter normalen Verhältnissen. Auf einer
meiner Photographien sehen sie drei Männer, einen operativ Be¬
handelten mit kleinem, zurückgesunkenem, Kinne, einen konservativ
Behandelten mit annähernd normaler Konfiguration des Kinnes,
einen zweiten konservativ Behandelten mit starkem und plumpem
Kinne.
ä. Wichtiger als die Therapie erscheint aber die Prophylaxe.
Die Häufigkeit der Nekrose in Oesterreich rührt daher, daßi wir
■ über die hygienische Einrichtung der Zündhölzchenfahriken nur
eine recht geringe Anforderungen stellende Verordnung besitzen
und daß selbst diese Verordnung nirgends zur vollen Durchführung
■p gebracht ist.
Aber in keiiiem Lande ist es bisher geglückt, durch noch
- so weitgehende Vorschriften die Nekrose zum Verschwinden zu
bringen. In Ländern, deren Zündhölzchenindustrie ähnliche Ver¬
hältnisse bietet wie die österreichische, ist es nirgends geglückt,
die Nekrosefälle aucdi nur erheblich zu vt'rmindern. D('shalb
iiaheu zahlreiche Länder die Verwendung des weißen oder gelben
(giftigen) Phosphors zur Erzeugung von Zündhölzchen uid,ersagt.
Finnland, Dänemark, Deutschland, die Schweiz und die Nieder-
buide haben bereits das Weißphosphorvorbot. Frankrcdch und
Rmnänien, avo Staatsmouopol hestebt, erzeugen in ihren Fabriken
nur schwedisebe Zünilhölzcdien (mit dem ungiftigen roten Pbos-
phor) und an allen Reibflächen eidzündhare Zündhölzchen mil
einer ungiftigen, keinen weißen Phosphor enthaltenden Zünd-
Uiasse. Luxemburg und Italien hal)en sich in einei' internationalen
Konvention Amiidlichtet, innerhall) \u)n vier Jahren ein Wedß-
phosphorverbot zur Durchführung zu bringen. Hoffen Avii\ daß
sich auch Oesterreich bald dieser Konvention anschließt.
Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheil¬
kunde in Wien.
S i t z u n g d e r p ä d i a t r i s c h e 11 S e k t i o n V o m 6. J u n i 1007.
J. F r i e d j u n g stellt ein vierjähriges ungeimpftes Mädchen
mit sekundärer Vakzine im Gesichte vor. Die Infektion
ging von einem älteren Bruder aus, der am 11. Mai geimpft Avorden
war. Die Uebertragung dürfte nach den Angaben des Vaters und
dem Befunde am 13. Tage post vaccinationem geschehen sein,
also zu einem Termin, der mit der Angabe der Autoren, die
I.ymphe werde etAva am neunten Tage uiiAA'irksam, im Wider¬
spruche steht.
L. J e h 1 e demonstriert einen durch S e r u m b e h a n d-
lung geheilten Fall von Zerebrospinal menin¬
gitis. Das Kind erkrankte unter Mattigkeit und wiederholtem
Erbrechen an Kopfschmerz und Nackensteifigkeit und delirierte.
Die Lumbalpunktion ergab eiterhaltige Flüssigkeit. Nach intra¬
duraler Injektion von 20 cm'* von P a 1 1 a u f-Serum kam das Kind
zum Bewußtsein, dann stellten sich aber Avieder Fieber und Be¬
nommenheit ein, Avelche nach einer zAveiten Injektion dauernd
verschwanden. Drei Tage nach der ersten Injektion trat ein Herpes
auf, im Blaseninhalt Avurden Meningokokken nachgewiesen.
Th. E s c h e r i c h bemerkt, daß das P a 1 1 a u f -Serum nach
seinen Erfahrungen in leichten und mittelscliAveren Fällen von
Zerehrospinalmeningitis günstig Avirkt, bei schAveren aber versagt.
Das Vorkommen von Meningokokken in den Herpesblasen zeigt,
daß dieselben als ein metastatischer Prozeß aufzufassen sind.
Schey zeigt ein einjähriges, aus Jaffa in Palästina stam¬
mendes Kind mit Malaria. Dasselbe zeigt einen hochgradigen
Milz- und Lebertumor, die Zahl der roten Blutkörperchen be¬
trägt 2V2 Millionen. Das Fieber hat einen unregelmäßigen Ver¬
laufstypus.
Gl. V. Pirquet: U e b e r diagnostische Impfung
mit Tuberkulin.
P. Moser hält die Methode für eine wichtige Bereicherung
der Diagnostik. Unter den von ihm geimpften 120 Kindern kamen
28 zur Obduktion. Von 17, welche keine Reaktion gezeigt hatten,
Avurde bei 14 keine Tuberkulose gefunden, drei Avaren tuberkulös,
es handelte sich um die vom Vortr. erwähnten Fälle von Kachexie
oder ante exitum. Die elf Fälle, welche reagiert hatten, Avaren
alle tuberkulös. Moser möchte das Verfahren auch bei Stillenden
diagnostisch verwenden, um Tuberkulöse vom Stillgeschäft aus¬
zuscheiden.
J. Fried j u n g bemerkt, daß es dann scliAver fallen Avürde,
überhaupt Ammen zu bekommen. Sc bloß mann fand, daß
die Hälfte der von ihm untersuchten Ammen, von denen die
meisten blühend aussahen, auf Tuberkulin reagierten.
Tb. E s cheri ch weist auf die Einfachheit der Beobachtung
der Reaktion bei dieser Methode hin. Sie hat gezeigt, daß die
Tuberkulose im frühesten Kindesalter selten ist. Die Methode ist
leicht ausführbar und läßt in kürzester Zeit die Diagnose stellen.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden
15. bis 18. April 1907. (Fortsetzung.)
Referent : N. Meyer- Bad Wildungen.
V. Sitzung: MittAvoch den 17. April, vormittags.
J a m i n - Erlangen demonstriert stereoskopische
Röntgenaufnahmen menschlicher Herzen, deren
Koronararterien mit einer MenigeaufschAvemmung in Gelatinelösung
injiziert waren. Die in Gemeinschaft mit M e r k e 1 - Erlangen mit
dieser Methode ausgeführten Untersuchungen zeigten, daß sowohl
hinsichtlich der Verteilung der Koronararterien auf die funktionell
verschiedenwertigen Herzabschnitte als auch hinsichtlich der
unter normalen Verhältnissen vorhandenen anatomischen Ver¬
bindungen mannigfache individuelle Variationen Vorkommen, die
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 25
bei der Erklärung der Folgen eines Koronarverschlusses zu be¬
achten sind. In Fällen einseitiger üstiumstenose war es stets
luüglicli, von der gesunden Arterie aus auch das Gebiet der er¬
krankten durch die Injektion zu füllen, doch waren die Ueher-
triltswege verschieden, bald über die Vorhöfe in gröberen Aesten,
bald im Muskellleisch der Kamnierwand und besonders im Septum
in feinen Verbindungen verlaufend. Die Älethode gestattet die
Beobachtung der gesamten Koronararterienverzweigung am unver¬
letzten Herzen, ohne die nachfolgende llerzsektion irgendwie
zu behindern und kann daher als eine zweckmäßige Ergänzung
der letzteren in geeigneten Fällen gelten.
Diskussion. Schwalbe- Berlin ist der Ansicht, daß
nach diesen Unteruchungen der von C o h n h e i m angestellte
Begriff der „Endarterien“ wenn überhaupt, so jedenfalls nur für
wenige Organe noch aufrecht erhalten werden könne.' Spalte¬
holz stimmte diesen Ausführungen zu und erklärte auch eine
erneute Untersuchung der Verteilung der Gehirnarterien für sehr
wünschenswert, da auch an diesem Organ manche Beobachtungen
dagegen sprechen, daß es sich um Endarterien handelt. Darauf
folgte die Demonstration der in einem Nebenraum aufgostellten
Originalpräparate, Photographien und Zeichnungen.
D e t e r m a n n - Freiburg : Demonstration eines einfachen,
sofort gebrauchsfertigen B 1 u t v i s k o s i m e t e r s.
D e t e r m a n n untersucht die Blutzähigkeit hei Zimmer¬
temperatur und bei Anwendung der Schwere als Druck mit einem
sanduhrförinig gestalteten Viskosimeter, das in einem Wasser¬
mantel eingeschlossen ist und sich zum Zweck wiederholter
Untersuchungen leicht um 180'' drehen läßt. Er bezieht alle ge¬
fundenen Durchflußzeiten auf 20'' und berücksichtigt den Unter¬
schied der zufälligen Untersuchungstemperatur vermittels Fest¬
stellung der gesetzmäßigen Aenderungen der Blutviskosität bei
verschiedener Temperatur, also vermittels Kenntnis der Viskosi-
lätskurven bei sich ändernder Temperatur. Die so gewonnenen
Kurven verlaufen wahrscheinlich in Form einer Parabel. Durch
Aufstellung einer Kurventahelle für alle vorkommenden Blutarten
ist man in der Lage, sogleich alle gefundenen Durchlaufszeiten
auf 20” zu beziehen und nach Eichung des Instruments mit
Wasser oder Anilin gültige Blutzähigkeitswerte schnell zu gewinnen.
Der kleine Apparat ist gut transportabel, ohne Vorbereitungen
benutzbar. Durch diese Methode werden auch die Fehlergrenzen
weiter eingeengt, besonders wenn man die physiologischen Schwan¬
kungen der Blutzähigkeit in der übrigen Methodik genügend be¬
rücksichtigt.
E h r e n r e i c h - Kissingen : Demonstration von m i k r o-
s k 0 p i s c h e n P r ä i) a r a t e n von H ü h n e r k a r z i n o m e h.
E h r e n r e i c h demonstriert makroskopische und mikro¬
skopische Präparate von Hühnerkarzinomen. Vortr. verfügt jetzt
insgesamt über sieben Fälle von malignen Tumoren beim Huhn,
von denen fünf sichere Kju rzinome sind. Er zeigt, daß das Kai’-
zinoin beim Huhn ziemlich häufig auftritt.
F r a n z e - Bad Nauheim : Demonstration einer d u r ch -
sichtigen Z e i c h e n e h e n e für Orthodiagraphie.
Gräupner-Bad Nauheim: Demonstration eines Ergo¬
meters für dosierte Arbeitsleistung mit ver¬
schiedenen ]\I u s k e 1 g r u p p e n.
G r ä u p n e r demonstriert einen Ergometer, vermittels dessen
er die Größe der Herzgefäßfunktion objektiv prüft und durch me߬
bare Relationen ausdrückt. Die Relationen, die Gräupner bei
der funktionellen Prüfung der Herzgefäßarbeit gefunden hat, sind
streng physikalischer Natur und lassen sich folgendermaßen aus-
drücken : Bei gleicher Triebkraft des Herzmuskels stellt der volle
Blutdruck, resp. der Blutdrukkoeffizient sich desto rascher nach
dosierter Körperarbeit ein, je weniger der Widerstand in Gefä߬
arbeit (= Spannungsarbeit) sich ändert. Nun kann man den Wider¬
stand ändern, indem man das Arbeitsmaß proportional steigert.
So lange nun der Herzmuskel leistungsfähig ist, so lange hat
er die Fähigkeit, den höheren Widerstand zu überwinden — resp.
wmnn er den Widerstand nicht überwindet, so dauert es desto
längere Zeit, ehe der Blutdruckquotient in voller Höhe nach der
Beendigung der Arbeit sich einstellt. 1st der Herzmuskel funktionell
ermüdet, so sinkt der Blutdruckquotient desto tiefer und (!s
dauert desto länger, ehe der Quotient (= Schlagvolum) ansteigt.
Auf diesem Wege urteilt Gräupner über Suffizienz, funktionelle
und pathologische Insuffizienz — je kleiner die Arbeit und je
eher die pathologische Insuffizienz eintritt, desto schwächer
ist der Herzmuskel.
Diskussion. F. K 1 e m p e r e r - Berlin bestreitet die
Richtigkeit der G r ä u p n e r sehen Voraussetzung, daß man an
irgendeinem Ergometer die Arbeitsleistung in dem Sinne dosieren
könne, daß dadurch ein bestimmter Gefäßwiderstand gesetzt werde.
Die Gefäßinnervationen seien nach Grad und Art in weitgehendem
Maße unabhängig von der Menge und Art der geleisteten Arbeit
und nicht diese, sondern psychische Faktoren, die mit der Arbeit
verbunden sind, seien in erster Linie bestimmend für die Ver¬
änderungen des Blutdrucks bei einer Arbeitsleistung. Dement¬
sprechend hat Klemperer sich von dem Zutreffen der
G r äu p n e r sehen Kurven nicht überzeugen können, jede der¬
selben traf er gelegentlich beim Gesunden, jede beim Herz¬
kranken an.
' Hoffmann- Bad Nauheim : Ueber einige neue
Modifikationen der unblutigen Blutdruckmes¬
sung nach R i V a - R o c c i beim Menschen.
H o f m a n n demonstriert einen Apparat für photographische
Aufnahmen von Blutdruckwerten beim Menschen. Außer für diese
dient der Apparat noch für Aufnahme von Sphygmogrammen und
Plethysmogrammen. Demonstrierender hat zu gleicher Zeit unter¬
einander auf demselben Film vier Aufnahmen photographiert
(Phlethysmogramm des linken Armes, des rechten Beines, Auf¬
nahme des Spitzenstoßes und Sphygmogramm der Karotis). An
dem Apparat ist außerdem ein Zeitmesser (in gewissen Zeitab¬
ständen fallender W'^assertropfen) angebracht, der ebenfalls auf
photographischem Wege arbeitet.
M ü 1 1 e r - Breslau und .loch m a n n - Berlin : Demonstration
einer einfachen Methode zum Nachweise proteolytischer
F e r m e n t w i r k u n g e n.
Das Verfahren beruht zunächst auf der Verwendung von
Blutserumplatten, d. h. von Glasschalen, die mit erstarrtem tierischen
Blutserum ausgegossen sind. Bringt man darauf das zu prüfende
Material, z. B. einzelne Eitertröpfchen, so entstehen bei 50 bis ßO“
in wenigen Stunden tiefe Löcher, die nicht auf der Anwesenheit
von Bakterien, sondern auf der eiweißlösenden Wirkung des an die
weißen Blutkörperchen gebundenen Ferments beruhen. Das Ver¬
fahren ist imstande, langwierige chemische Untersuchungen ent¬
behrlich und die interessanten Tatsachen des eiweißlösenden Fer¬
ments der weißen Blutkörperchen auch der Klinik dienstbar zu
machen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß ein eiweißlösendes
Ferment durch die genannte Methode, abgesehen vom Menschen,
nur noch bei Affen (insbesondere bei den höheren) und merk¬
würdigerweise bei Hunden nachweisbar ist. Im Blute des Menschen
kreist ein Hemmungskörper, der die Wirkung des proteolytischen
Ferments aufhebt, bzw. abschwächt. Die Wechselwirkungen
zwischen Ferment und Hemmungskörper lassen sich mit Hilfe
der neuen Methode leicht studieren. Sie sind wichtig zur Unter
Scheidung der einzelnen Formen krankhafter Ergüsse in die ein¬
zelnen Körperhöhlen (insbesondere bei Flüssigkeitsansammlungen
im Rippenfell- und Bauchfellraum).
Strauß- Berlin : Demonstration von P u 1 s d r u c k k u r v e n
(turgo-tonometrische Pulsdruckkurven).
Strauß demonstriert Kurven, welche einerseits mit dem
Turgo-Sphygmographen, anderseits mit einer neuen Vorrichtung auf¬
genommen sind, welche die Druckschwankungen eines Quecksilber¬
manometers auf eine berußte Trommel überträgt. Aus den Kurven
läßt sich der systolische und diastolische Puls durch einfache Aus¬
messung der Druckgröße, hei welcher die betreffenden Pulse ge¬
schrieben sind, auf relativ einfache Weise ermitteln.
(Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag: den 21. Juni 1:907, 7 Ulir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Hofrat Prof. Dr. V. v. Ebner stattfindenden
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. lliid. Kaufinaiiii: Ueber Kontraktionsphänomene am Magen.
2. Priv.-Doz. Dr. Oskar Sioerk : Ueber experimentelle Leber¬
zirrhose auf tuberkulöser Basis. (Vorläufige Mitteilung mit Demonstration.)
3. Dr. Julius Bartel : Mitteilungen mit Demonstrationen.
Bergmeister, Paltauf.
Oesterreichische otologische Gesellschaft.
Programm der am Montag den 24. Juni 1907, 6 Uhr abends, im
Hörsaal der k. k. Universitätsohrenklinik stattfindenden Sitzung.
Demonstrationen angemeldet die Herren E. Urbantschitscli, F. Alt»
If. Frey, A. Politzer, 11. Neninann, E. Buttin und B. Barany.
Urbantschit.scli. Alexander. Frey.
V«r*ntworllich«r Btdaktaur: Adalbert Karl Tmpp. Vtrlag von Wilhelm Branmttller in Wien.
Druck von Bruno Bartelt, Wien XVIII., ThereiiengaBie 8.
rr ■ ^
Die
„Wieuer kllulsclie
Woclieiisclirlft“
erscheint jeden Donnerstag
im Umfange von mindestens
zwei Bogen Großqnart.
Zuschriften für die Redaktion
sind zu richten nach
Wien, IX/i, Wasagasse 12.
Bestellungen und Geld¬
sendungen an dieVerlags-
handlung.
. .
unter ständiger Mitwirkung der Herren Professoren Drs.
G. Braun, 0. Chiari, Rudolf Chrobak, V. R. v. Ebner, S. Exner, E. Finger,
M. Gruber, A. Kolisko, H. Meyer, K. v. Noorden, H. Obersteiner, R. Paltauf,
Adam Politzer, G. Riebl, Artbur Scbattenfrob, F. Scbauta, J. Schnabel, C, Toldt,
A. V. Vogl, J. V. Wagner, Emil Zuckerkandl.
Begründet von weil. Hofrat Prof. H. v. Bamberger.
Herausgegeben von
Anton Freih. v. Eiseisberg, Theodor Esoherioh, Ernst Fuchs, Julius
Hoohenegg, Ernst Ludwig, Edmund v. Neusser, L. R. v. Sohrötter und
Anton Weiohselbaum.
Organ der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
Redigiert von Prof. Dr. Alexander Fraenkel.
rr . .
AtooiiueineutsprelN
jährlich 20 K = 20 Mark.
Abonnements- und Insertions-
Aufträge für das In- und Aus¬
land werden von allen Buch¬
handlungen und Postämtern,
sowie auch von der Verlags¬
handlung übernommen. —
Abonnements deren Abbestel¬
lung nicht erfolgt ist, gelten
als erneuert.
Inserate
werden mit 60 h =: 50 Pf. pro
zweigespaltene Nonpareille-
zeile berechnet. Größere Auf¬
träge nach Uebereinkommen.
4 - - - - -J/
Verlag von Wilhelm Braumüller, k. u. k. Hof- und Universitäts-Buchhändler, VIII/i, Wiokenburggasse 13.
Telephon Nr. 17.618.
XX. Jahrgang. Wien, 27. Juni 1907. Nr. 26.
INHALT:
1. Origiualartikel : 1. Beiträge zur Lehre von der Tetanie. III. Die
elektrische Uebererregbarkeit der motorischen Nerven. Von
Prof. Dr. P. Chvostek.
2. Aus dem Rudolfinerhaus in Wien-Döbling. Zur Technik
der Operationen an der Hypophyse. Von Primararzt Doktor
Ludwig Moszkowicz.
3. Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in Wien.
(Vorstand: Prof. R. Paltauf.) lieber experimentelle Haut¬
tuberkulose bei Affen. Von Prof. Dr. R. Kraus und Priv.-
Doz. Dr. S. Grosz.
4. Aus der II. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. (Vorstand:
Hofrat Prof. Dr. Julius Hochenegg.) Ein Fall von subkutan
entwickeltem Plattenepithelkarzinom der Glutäalgegend. Von
Dr. Julius Richter, Operationszögling.
5. Zur Bronchoskopie bei Fremdkörpern. Von Dr. phil. et med.
Hermann v. Schrötter in Wien.
II. Referate: Deskriptive Biochemie mit besonderer Berück¬
sichtigung der chemischen Arbeitsmethoden. Von Dr. Siegmund
Frankl. Ref.: Otto v. Fürth-Wien. — Die wirtschaftlich
wichtigen Zecken mit besonderer Berücksichtigung Afrikas. Von
H. Dönnitz. Die blutsaugenden Dipteren. Von K. Grünberg.
Taschenbuch der mikroskopischen Technik der Protisten¬
untersuchung. Von S. V. Prowazek. Atlas und Grundriß der
Bakteriologie und Lehrbuch der speziellen bakteriologischen
Diagnostik. Von K. B. Lehmann und R. 0. Neumann.
Praktikum derBakteriologie und Protozoologie. Von K. Kißkalt
und M. Hart mann. Ref.: Dr. A. Ghon. — Lehrbuch der
Mikrophotographie. Von Dr. R. Neuhauß. Ref.: J. Erdheim.
III. Ans verscliiedeueu Zeitschriften.
IV. Vermischte Nachrichten.
y. Yerhandlnngen ärztlicher Gesellschaften nndEongreßberichtc.
Beiträge zur Lehre von der Tetanie.
Hl. Die elektrische Uebererregbarkeit der motorischen Nerven.
Von Prof. Dr. F. Chvostek.
Bei der Bedeutung, die der erhöhten elektrischen Er¬
regbarkeit der motorischen Nerven für die Diagnose der
Tetanie allseits zuerkannt wird, mag es vielleicht überflüssig
erscheinen, wenn im folgenden in Kürze die Erfahrungen, die
ich über das Erb sehe Phänomen im Verlaufe der Jahre
machen konnte, angeführt werden. Zur Motivierung sei daher
I® bemerkt, daß sich die gewonnenen Anschauungen nicht voll-
ständig mit den herrschenden Auffassungen über die dia-
gnostische Bedeutung dieses Phänomens decken und unserer
Auffassung nach in gewissem Sinne einer Korrektur bedürfen.
'' Im Anschlüsse soll dann ein eigentümliches Verhalten der
motorischen Nerven bei Tetanie gegen den elektrischen Strom
Erwähnung finden, dem in manchen Fällen eine diagnostische
Bedeutung zukommen kann.
Im Laufe der Zeit haben die Anschauungen über die
Wertigkeit der einzelnen Symptome für die Diagnose der
Tetanie eine Wandlung erfahren. Während man ursprüng-
lieh geneigt war, jedem der Kardinalsymptome der Tetanie:
. * der mechanischen Uebererregbarkeit der motorischen Nerven,
dem Erb sehen und Tr o u s seau sehen Phänomen eine
p: pathognomische Bedeutung zuzusprechen, sah man sich dann
später durch den Nachweis, daß das Fazialisphänomen auch
bei nicht Tetaniekranken Vorkommen kann, veranlaßt, der
mechanischen Uebererregbarkeit der Nerven eine diagnostische
Bedeutung überhaupt abzusprechen. Die Berechtigung dieses
Standpunktes wurde in einer der vorhergehenden Mitteilungen
erörtert. Es sollte dann das Tr o u s se a u sehe allein, oder
das Erb sehe Phänomen genügen, um die Diagnose zu stellen.
Durch den Nachweis, daß sich die erhöhte elektrische Erreg¬
barkeit auch bei anderen Individuen findet, kam das E r b-
sche Phänomen in Mißkredit, so daß Schlesinger^) mit
Ausnahme des Trousseauschen Phänomens kein Symptom
als- für die Tetanie charakteristisch annimmt. Späterhin wurde
dann auch diesem die diagnostische Verwertbarkeit abge¬
sprochen, da das Vorkommen des Trousseauschen Phä¬
nomens auch bei Hysterie beobachtet werden konnte. Folge¬
richtig wäre es nun gewesen, den Schluß zu ziehen, daß die
Anwesenheit eines Symptomes allein nicht ausreicht, eine
sichere' Diagnose zu stellen. Dieser Standpunkt jedoch wird
keineswegs eingenommen. Im Gegenteile macht sich in neuerer
Zeit immer mehr und mehr das Bestreben geltend, ohne auf
Widerstand zu stoßen, die elektrische Uebererregbarkeit als
für die Diagnosenstellung maßgebend hinzustellen. Nach der
Auffassung der meisten Autoren, die sich in letzter Zeit mit
Tetanie beschäftigten, soll weder das Fazialisphänomen allein,
noch das Tr ous se a usche Phänomen für die Diagnose irgend
etwas beweisen, ja selbst die Kombination beider wird von
einzelnen als belanglos angesehen und nur das Vorhanden¬
sein des Erbschen Phänomens soll ausschlaggebend sein. Die
Berechtigung dieses Standpunktes könnte dann zugegeben
werden, wenn als erwiesen angesehen werden könnte, daß
.Ö3
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
dem Krh sehen Phänomen gegenüber den beiden übrigen
Kardinaisymptomen wirklich eine solche Prävalenz zukommt,
wie man dies anzunehmen geneigt scheint. Dies ist nun, wie
wir glauben, keineswegs der Fall.
Die elektrische Uebererregbarkeit der motorischen
Nerven ist ein konstantes Symptom der Tetanie in demselben
Maße wie die mechanische Uebererregbarkeit. Im akuten An¬
fälle der Tetanie wird sie wohl kaum vermißt werden, wenn
man oft genug, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen
Nerven prüft. Auch die elektrische Erregbarkeitsänderung
zeigt ebenso wie die mechanische ein ungemein variables
Verhalten und ein Schwanken der Intensität unabhängig von
den Schwankungen der übrigen Symptome. Es gibt Fälle, bei
welchen das Erb sehe Phänomen ausgesprochen vorhanden
ist, an allen Nerven nachgewiesen werden kann und die
übrigen Erscheinungen überdauert. Dann sehen wir solche
Fälle, bei welchen kurze Zeit, oft Stunden, nach dem Ab¬
klingen des Krampfanfalles die elektrische Uebererregbarkeit
rasch schwindet, eventuell nur mehr an einem oder dem
anderen Nerven, und da nur in einem Grade vorhanden ist,
der uns ihre Anwesenheit . nicht sicher erkennen läßt. In
anderen Fällen ist sie überhaupt kaum angedeutet, wir finden
Werte, die wir bei Gesunden auch als hoch bezeichnen
müßten; auch nichts von den sonstigen Kriterien der er¬
höhten elektrischen Erregbarkeit ist vorhanden und nur der
Nachweis noch höherer Werte im weiteren Verlaufe
läßt uns die vorangegangene Erregbarkeitszunahme erschließen.
Manchmal ermöglicht uns in einem solchen Falle die Zu¬
nahme der Erregbarkeit, vielleicht nur an einem Nerven, in
Breiten, wie wir sie bei nicht an Tetanie Kranken wohl kaum
beobachten können, die Annahme einer erhöhten Erregbarkeit.
Daß es Fälle gibt, bei welchen im akuten Stadium der
Tetanie das Erb sehe Phänomen überhaupt vermißt und nicht
wenigstens im Verlaufe wiederholter Untersuchungen an
einem oder dem anderen Nerven nachgewiesen werden könnte,
ist jedenfalls eine große Seltenheit. Mir ist in meinen
Beobachtungen kein derartiger Fall vorgekommen. West-
phaP) teilt einen Fall von Tetanie mit normaler Erregbar¬
keit mit. Notwendig ist aber, worauf schon Erb hin¬
weist, die wiederholte Untersuchung und die Untersuchung
verscldedener Nerven, da sie oft nur an einzelnen Nerven,
z. B. am Nervus ulnaris nachweisbar sein kann, an den
übrigen fehlt oder an einem Nerven vorhanden ist, bald
schwindet, um eventuell nach einiger Zeit an einem anderen
nachgewiesen werden zu können. Wir begegnen also den¬
selben Verhältnissen bei der elektrischen Uebererregbarkeit,
die wir auch bei der mechanischen Uebererregbarkeit nach-
weisen können.
In den intervallären Phasen der Tetanie — in dem so¬
genannten Latenzstadium — zeigt sich aber, daß die
mechanische Uebererregbarkeit gegenüber dem Erb sehen
Phänomen prävaliert. Wir finden in einer weitaus größeren
Anzahl dieser Fälle das Fazialisphänomen persistent und zwar
oft in Graden, die uns allein schon die Existenz einer Tetanie
mehr als wahrscheinlich machen müssen, während die
elektrische Uebererregbarkeit bereits vollständig fehlt oder
Werte ergibt, die innerhalb der normalen Breiten gelegen
sind. Das Fazialisphänomen ist viel häufiger, oft das einzige
l.atenzsymptom der Tetanie und Fälle mit allein vorhandener
erhöhter elektrischer Erregbarkeit, ohne gleichzeitige andere
Symptome, gehören gewiß zu den seltenen Vorkommnissen.
Hochgradiges isoliertes Erbsches Phänomen konnte ich
überhaupt noch nicht beobachten, v. F r a n k 1 - H o c h w a r t^)
teilt in seinen Zusammenstellungen über die Prognose der
Tetanie einen derartigen Fall mit. Schon die Seltenheit
isoliert vorhandener elektrischer Uebererregbarkeit muß uns
bei dem Umstande, daß sie außerdem noch bei nicht an
Tetanie erkrankten Personen angelrolTen werden kann, mit
der Verwertbarkeit des Er bschen Phänomens in diesen Stadien
der Tetanie für die Diagnose dieser Erkrankung eine gewisse
Bückhaltung auferlegen.
So hochgradige Aenderungen der elektrischen Erreg¬
barkeit, wie sie bei Tetanie angetrolfen werden können.
dürften sich wohl kaum bei einer anderen Erkrankung finden.
Wenigstens -kann ich mich keines einzigen derartigen Falles
entsinnen und wäre — glaube ich — bei dem Bestehen einer
solchen zum mindesten die Wahrscheinlichkeitsdiagnose einer
Tetanie gerechtfertigt, die sich auch dann bei Berücksichtigung
der Anamnese etc. begründen lassen dürfte. Es liegen für
diese Grade der Erregbarkeitsänderung die Verhältnisse ebenso
wie für das Fazialisphänomen. Ein isoliert vorhandenes
Erb sches Phänomen von geringer Intensität kann ebenso¬
wenig für die Diagnose verwertet werden, wie wir aus einem
angüdeuteten Fazialisphänomen auf das sichere Vorhanden¬
sein einer Tetanie schließen könnten, während hochgradige
Veränderungen der elektrischen oder mechanischen Erreg¬
barkeit einen derartigen Schluß wohl rechtfertigen. Wir
müssen eben — und darin scheint zum großen Teile die
Ursache der differenten Anschauungen zu liegen — da es ja
keine pathognomischen Erscheinungen sind, nicht nur das
Vorhandensein der mechanischen und elektrischen Er¬
regbarkeitsänderung berücksichtigen, sondern auch ihre
Intensität für die Verwertbarkeit zu diagnostischen Schlüssen
in Betracht ziehen.
Hochgradige Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit
sind nun selbst in den akuten Stadien der Tetanie durchaus
keine konstante Erscheinung und in einer großen Reihe von
Fällen sind sie gerade vorhanden oder nur angedeutet. Und
so leicht uns in den ausgesprochenen Fällen die Entscheidung
fällt, so schwierig wird sie uns in den letzteren. Es ist
leichter — so paradox es erscheinen mag — geringe Grade
der mechanischen Uebererregbarkeit feslzustellen, obwohl wir
für sie keinen zahlenmäßigen Ausdruck erbringen können,
als geringe Aenderungen der elektrischen Erregbarkeit als
außerhalb der normalen Grenzen gelegen, als pathologisch
anspreclien zu können.
Wenn wir die Kriterien, die Erb"^) für die erhöhte
elektrische Erregbarkeit als maßgebend angeführt hat : das
Auftreten der Ka. S. Z. bei einer geringeren Stromstärke, das
rasche Auftreten der Ka. D. Z. schon bei geringem Strom¬
zuwachs, das frühzeitige Auftreten der An. Oe. Z. neben der
An. S. Z. und endlich in den höchsten Graden das Auftreten
des An. Oe. Te. einzeln auf ihre Wertigkeit prüfen, so wird
uns diese Schwierigkeit verständlich. Was zunächst die
niedrigen Stromstärken anbelangt, die uns eine krankhafte
Steigerung der Erregbarkeit dartun sollen, so ist die Be¬
urteilung dieser mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Die
Minimalwerte, bei welchen wir die Ka. S. Z. erhalten,
schwanken — abgesehen von den einzelnen Nerven — bei
den verschiedenen Individuen innerhalb solcher Breiten und
zeigen auch bei demselben Individuum zu verschiedenen
Zeiten solche Schwankungen, daß die Entscheidung, ob eine
pathologische Erregbarkeitsveränderung vorliegt, aus diesen
Werten allein wohl selten zu treffen sein dürfte. Stintzing^)
gibt z. B. für den Fazialisstamm die Extremwerte von 0'8 bis
28 M.-A., für den Nervus ulnaris die Werte von 0‘6 bis
2 6 M.-A. für die Ka. S. Z. an und v. F r a n k 1 - H o c h w a r t'O
findet an denselben Nerven zu verschiedenen Zeiten
Schwankungen für die Ka. S. Z. bis zu 1 M.-A. Werte, die
unterhalb dieser Grenzwerte gelegen sind, sind bei der
Tetanie selbst im akuten Anfall nicht konstant und können
selbst in diesem Zahlen angelroffen werden, die gegen die
obere Grenze zu gehen. Die Entscheidung kann dann eventuell
nur aus der Abnahme der Erregbarkeit und mit Abklingen
der übrigen Erscheinungen erschlossen werden, wenn diese
Erregbarkeitsdifferenzen wieder die Grenzen der normalen
Schwankungen überschreiten und konstant anhalten. Die Ent¬
scheidung erfordert also unter Umständen länger dauernde Be¬
obachtung und wird sich für Fälle, in welchen die Erregbarkeits¬
änderung anhält, wohl kaum erbringen lassen. In den inter¬
vallären Phasen sind, wenn Erregbarkeitsveränderungen über¬
haupt nachweisbar sind, Mittelwerte, wie sie bei Gesunden an¬
getroffen werden, viel häufiger als ausgesprochene Ver¬
änderungen. Dem frühzeitigen Auftreten der An. Oe. Z. kann
wohl kaum eine entscheidende Bedeutung zugesprochen
werden, da gerade bei dieser, auch bei vollständig Gesunden,
Nr. 26
78Ü
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
dasselbe VerhaUen nicht so selten angetrollen werden kann.
Weit mehr Bedeutung kommt dem Auftreten der Ka. Oe. Z.
zu, die bei normalen Individuen — wenn überhaupt — so
nur bei sehr hohen Stromstärken erzielt werden kann. Sind
die Brregbarkeitsveränderungen bei Tetanie keine sehr aus¬
gesprochenen, so können wir auch hier dieselbe vermissen
oder sie bei Werten erzielen, die wir als innerhalb der Norm
gelegen auffassen müssen. In einzelnen Tüllen kann verhältnis¬
mäßig frühzeitiges Auftreten der Ka. Oe. Z. auch bei hohen
Anfangswerten für die S. Z. und sonst fehlenden Erscheinungen
erhöhter elektrischer Erregbarkeit beobachtet werden. Von Be¬
deutung erscheint die Neigung zu Dauerkontraktionen. Die Ver¬
kürzung des Intervalles zwischen S. Z. und Te. kann wohl als
die am meisten in Betracht kommende Aenderung angesehen
werden. Sie findet sich auch in Fällen, bei welchen die Minimal¬
werte für die Ka. S. Z. verhältnismäßig hoch gelegen sind und kann
oft das einzige Symptom sein, das uns die erhöhte Erreg¬
barkeit erschließen läßt. Nur können wir auch bei Tetanie
in Fällen, bei welchen der weitere Verlauf das Bestehen
einer Aenderung erkennen läßt, einen Stromzuwachs für das
Auftreten des Te. brauchen, wie wir ihn auch sonst bei
normalen Menschen finden können und kommt das ver¬
hältnismäßig frühzeitige Auftreten des Ka. S. Te. — wenn
auch selten — bei sonst fehlenden Erscheinungen erhöhter
elektrischer Erregbarkeit vor. Das Auftreten des An. Oe. Te.
findet sich bei Tetanie verhältnismäßig häufig in Fällen mit
ausgesprochenen Erregbarkeitsänderungen. Aber selbst ihr
Vorkommen bei relativ niedrigen Stromstärken beweist uns
nicht absolut das Vorhandensein erhöhter elektrischer Er¬
regbarkeit.
Marina"^) konnte bei Hysterie eine eigentümliche
elektrische Reaktion, die er neurotonische Reaktion benennt,
beobachten, die sich dadurch charakterisiert, daß ohne
Steigerung der Erregbarkeit die An. Oe. Z. bei Reizung vom
Nerven aus verhältnismäßig frühzeitig auftritt und sowohl bei
Ka. S. als auch bei An. S. und An. Oe. tetanische Reaktion
beobachtet wird. Er konnte in seinem ersten Falle vom
Nervus radialis aus die An. Oe. Z. bei 2 M.-A., die Ka. S. Z.
bei 3 M.-A. und die An. S. Z., An. Oe. Te. und Ka. S. Te.
bei 4 M.-A. erzielen ; in seinem zweiten Falle fand sich vom
selben Nerven aus die An. S. Z. bei 1 M.-A., die Ka. S. Z.
bei 2 M.-A., die alsbald in Te. übergeht, die An. Oe. Z. bei
2‘5 M.-A. und An. S. Te. und An. Oe. Te. bei 5 M.-A. Die
prinzipielle Differenz gegenüber dem elektrischen Verhalten
bei Tetanie sieht er in dem Fehlen der Steigerung der elek¬
trischen Erregbarkeit. Ebenso konnte Remak®) diese eigen¬
tümliche Reaktion bei normalen Werten für die Ka. S. Z.
beobachten. In einem Falle (vermutlich progressive Muskel¬
atrophie), bei welchem ihm als Test wert die Zahlen der einen
normalen Hand zur Verfügung standen, fand er, daß auf der
kranken Seite — bei gleichen Zahlen für die Ka. S. Z. und An. S. Z.
auf beiden Seiden — vom Nervus ulnaris aus die An. S. Z. und
der Ka. S. Te. bei viel geringeren Werten auftraten. Auch
war an der kranken Seite An. Oe. Te. zu konstatieren, der
auf der gesunden Seite nicht ausgelöst werden konnte.
Er fand: Nervus ulnaris links Ka. S. Z., 0'75 M.-A.,
An. S. Z., 1-5 M., An. Oe. Z. 2-5 M.-A., Ka. S. Te. 6 M.-A.,
rechts Ulnaris Ka. S. Z., 0 8 M.-A., An. Oe. Z. UO M.-A.,
An.S.Z. U5 M.-A., Ka. S. Te. 2 M.-A., An. Oe.Te. 6 bis 7 M.-A.
Das sind Zahlen, die, wenn wir sie in einem Falle, bei
welchem die Diagnose einer Tetanie fixiert werden soll, be¬
gegnen würden, ohne weiters die Annahme eines positiven
Erbschen Phänomens rechtfertigen müßten Es zeigen diese
Beobachtungen, daß weder das frühzeitige Auftreten der
An. Oe. Z. noch das der Ka. S. D. Z., noch das Auftreten des
An. Oe. Te. die Annahme einer gesteigerten elektrischen
Erregbarkeit rechtfertigen. Liegen nun in einem Falle von
Tetanie keine extremen Minimalwerte für die Ka. S. Z. vor,
oder sind wir nicht in der Lage, aus dem weiteren Verlaufe
durch die Abnahme der Werte eine vorhergegangene erhöhte
elektrische Erregbarkeit zu erschließen, so ergeben sich für
unsere diagnostischen Erwägungen oft unüberwindliche
Schwierigkeiten. Ausschlaggebend könnte das Auftreten des
Ka. Oe. 'fe. sein, aber leider ist dieser eine verhältnismäßig
seltene Erscheinung, auch in Fällen mit sonst ausgesprochener
erhöhter elektrischer Erregbarkeit.
So einfach scheinbar die Entscheidung ist, ob im ge¬
gebenen Falle das E r b sehe Phänomen vorliegt, so schwierig
ist sie eigentlich. Es liegen, um ein Beispiel aus einem
anderen Gebiete heranzuziehen, ähnliche Verhältnisse vor
wie bei der Diagnose einer Kaverne der Lunge. Die Diagnose
einer solchen aus den einzelnen Symptomen ist scheinbar
einer der leichtesten. Und doch gibt eine genauere Beob¬
achtung, daß keines der Kavernensymptome eigentlich absolut
beweisend ist, ja selbst alle zusammen noch nicht das* Vor¬
handensein einer Kaverne beweisen und daß die Diagnose
einer Kaverne eigentlich zu einer der schwierigsten gehört.
Wir diagnostizieren aus denselben Symptomen bei Tuberku¬
lose die Kaverne und behalten auch Recht, weil eben bei
dieser Erkrankung die Höhlenbildung so ungemein häufig
ist. Wie groß aber die Ueberraschung, wenn bei supponierter
tuberkulöser Affektion der Lunge die ausgesprochenen Kavernen¬
symptome zurückgehen, der weitere Verlauf die Diagnose der
Tuberkulose und der Kaverne als falsch erkennen läßt, oder
die Autopsie nicht die Spur einer Höhlenbildung erweist. Die
elektrische Untersuchung in ausgesprochenen Fällen von
Tetanie zeigt ein Verhalten der Nerven, das von der Norm
wesentlich ab weicht. Die leichtere Ansprechbarkeit für den
elektrischen Strom, das frühzeitige Auftreten des Te. und das
Auftreten von Zuckungen, die wir in der Norm nicht oder
nur bei extremen Stromstärken finden, erweist uns die er¬
höhte elektrische Erregbarkeit. Wir werden in Fällen von
Tetanie mit der Annahme einer solchen auch Recht behalten,
wenn die Veränderungen keine sehr ausgesprochenen sind,
weil eben die klinische Erfahrung lehrt, daß die Erregbarkeits¬
änderung ein konstantes Symptom der Tetanie ist. Anders aber
liegen die Verhältnisse, wenn sonst keine Erscheinungen von
Tetanie vorliegen. Die Beobachtung Remaks zeigt in drastischer
Weise, daß sämtliche für die erhöhte elektrische Erregbarkeit als
charakteristisch angesehene Abweichungen von dem Ver¬
halten normaler Nerven sich auch in Fällen finden können,
ohne erhöhte elektrische Erregbarkeit, ohne die mindesten
Erscheinungen einer Tetanie. Dieser Umstand muß aber wohl
als ein schwerwiegender gegen die Annahme in Betracht
kommen, die Diagnose einer Tetanie einzig und allein auf das
Vorhandensein der elektrischen Erregbarkeitsänderungen zu
basieren. Diese Bedenken müssen um so berechtigter er¬
scheinen, als ja auch erwiesen ist, daß sicher erwiesene er¬
höhte elektrische Erregbarkeit auch außerhalb der Tetanie
angetroffen werden kann.
Wenn auch die neurotonische Reaktion, wie es bisher
den Anschein hat, nicht sehr häufig angetroffen zu werden
scheint, so verdient doch ein Umstand besondere Erwähnung ;
ihr Vorkommen bei Hysterie. Die zwei Fälle, die Marina
mitteilt, betrafen hysterische Personen. Aber gerade gegen¬
über der Hysterie ist die Diagnose einer Tetanie oft schwierig
und macht sich in letzter Zeit immer mehr die Anschauung
geltend, daß für die Differenzierung einzig und allein das
Vorhandensein der erhöhten elektrischen Erregbarkeit ma߬
gebend ist. Daß die Sache nicht so einfach sein kann, geht aus
dem bisher angeführten schon hervor und soll an anderer Stelle
noch erörtert werden. Hier wollen wir nur noch nachsehen,
ob wir nicht Differenzierungsmomente der neurotonischen
Reaktion gegenüber der erhöhten elektrischen Erregbarkeit
finden können, die uns unter Umständen bei der Identität
der sonstigen Erscheinungen von Belang sein würden. Denn
ein Testobjekt, wie es Remak in seinen gesunden Nerven
zur Verfügung hatte, haben wir bei der Tetanie nicht, höchstens
der weitere Verlauf kann ein solches bringen. Ein Unter¬
scheidungsmerkmal scheint uns in dem Verhalten der Nerven
gegen den faradischen Strom gelegen zu sein.
Die Angaben über das Verhalten der motorischen Nerven
bei Tetanie gegenüber dem faradischen Strom sind verhältnis¬
mäßig spärlich. Im allgemeinen werden die Angaben von
Erb^) bestätigt, daß bei Tetanie auch die faradische Erreg¬
barkeit erhöht ist, daß größere Rollenabstände zur Auslösung
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
der Minimalzuckung genügen, oder daß bei gleichen Rollen¬
absländen die Größe der erzielten Kontraktion eine be¬
deutendere ist. V. F r a n k 1 - H 0 c h\v a r t h betont dann, daß
die faradische Erregbarkeit durchaus nicht immer gleichzeitig
gesteigert ist, ein Verhalten das späterhin von Bernhard
S t e w a r t, ^ A s t, ‘ 2) und C u r s c h m a n n bestätigt werden
konnte. Nach meinen eigenen Beobachtungen ist bei Tetanie
auch die faradische Erregbarkeit in der Regel erhöht, doch
sind häufig die Erscheinungen weit weniger in den Vorder¬
grund tretend als bei der galvanischen Erregbarkeit und ist
daher die Entscheidung, ob eine solche überhaupt vorliegt,
noch schwieriger als bei der galvanischen Untersuchung. Auch
die Angaben von v. F r a n kl- Ho c h w a r t h decken sich
mit meinen Erfahrungen, daß die Schvvankungen in der
faradischen und galvanischen Erregbarkeit durchaus nicht
konform zu sein brauchen.
Ein Verhalten möge hier Erwähnung finden, dem ich
wiederholt, namentlich in der letzten Zeit, begegnet bin und
dem eine gewisse Bedeutung zuzukommen scheint. Während
für das Auftreten der Minimalzuckung vom Nerven aus Rollen¬
abstände erforderlich waren, die als untere Werte auch für
normale Individuen gelten konnten, ja sogar Mittelwerten
entsprachen, trat bei einzelnen Tetaniekranken sofort mit
dieser eine anhaltende Muskel unruhe, ein fibrilläres Woogen
auf, das mit einer leichten tetanischen Reaktion einherging.
Das dominierende Element ist aber für gewöhnlich das
Muskel wogen. In einer geringeren Anzahl der Fälle trat die
tetanische Kontraktion mehr in den Vordergrund und war
das Muskelvvogen weniger deutlich. Mit der Stromunterbrechung
schwindet die Erscheinung sofort. Besonders schön ist diese
Erscheinung bei Reizung des Nervus fazialis vom Stamme
aus zu demonstrieren. Wir bekommen in solchen Fällen oft
gar keine ausgesprochene Zuckung, sondern es tritt sofort,
wenn die nötige Stromstärke erreicht ist, zunächst sichtbar
am Augenlid das Muskelzittern auf und bei genauerem Hin¬
sehen läßt sich eine leichte, anhaltende Kontraktion im
Musculus orbicularis erkennen. Bei geringem Zuwachs der
Stromstärke tritt das fibrilläre Zittern in den Hintergrund und
die tetanische Kontraktion ist ausgesprochen. Auch vom
Nervus ulnaris aus konnte ich in einzelnen Fällen gleich mit
dem Auftreten der ersten Reaktion, auch wenn die Rollen¬
abstände keine gesteigerte Erregbarkeit erkennen ließen, ohne
Auftreten einer vorübergehenden Zuckung, gleich das Auf¬
treten eines leichten Tetanus konstatieren. Bei Reizung dieses
Nerven konnte ich das Muskelflimmern nicht sehen.
Dieses Muskelflimmern erinnert an die Erscheinungen,
die Erb bei der myotonischen Reaktion bei direkter gal¬
vanischer Reizung der Muskeln beobachten konnte, wobei
den rhythmischen Kontraktionen erst eine unruhige, wogende,
undulierende Bewegung im Muskel vorausgeht. Auch mit dem
faradischen Strom erhielt B ernh ardt^‘^) bei Reizung der
Muskeln bei Myotonie unregelmäßige, nicht rhythmische,
wogende Kontraktionen. Gegenüber der myotonischen Re¬
aktion die auch im Verlaufe der Tetanie beobachtet werden
kann Hoffman,^^) v. Voss,^*’) Schul tze^^), ist sie allein
schon durch den Umstand differenziert, daß die Erscheinung
bei Reizung mit schwachen faradischen Strömen vom Nerven
aus auftritt, während es mir bisher nicht gelang, diese Er¬
scheinung bei direkter Muskelreizung zu sehen, und daß das
Ueberdauern der Kontraktion fehlt. Diese Neigung der Muskel
zu Flimmern steht scheinbar in Zusammenhang mit dem bei
tetaniekranken Menschen und beim epithelkörperlosen tetani¬
schen Tiere häufig zu beobachtenden spontanen Muskel¬
flimmern. Von der neurotonischen Reaktion Marinas
ist die elektrische Uebererregbarkeit der Nerven bei Tetanie
wie es scheint durch die faradischen Erregbarkeits¬
änderungen zu differenzieren. In solchen Fällen wie in
der Beobachtung R e m a k s, wo der Wert für die Ka.
S. Z. sehr niedrig gelegen ist, auch die übrigen Kriterien wie
das frühzeitige Auftreten des Ka. S. Te. der An. Oe. Z. und
des An. Oe. Te. im Sinne einer gesteigerten elektrischen Er¬
regbarkeit sprechen müssen, kann die Entscheidung das Ver¬
halten der Nerven gegen den faradischen Strom geben.
Finden wir das Auftreten der ersten Zuckung bei Reizung
vom Nerven aus schon bei sehr großem Rollenabstande, oder,
was wesentlicher ist, ist die Differenz zwischen erster Zuckung
und Te. sehr gering, oder tritt eigentlich gar keine distinkte
Zuckung, sondern gleich Te. auf, so würde dies einer er¬
höhten. elektrischen Erregbarkeit entsprechen. Das frühzeitige
Auftreten des Te. ist wichtiger, weil für die Minimalzuckung
durch den faradischen Strom bei Tetanie sehr häufig Werte
getroffen werden, die als innerhalb der Norm gelegen ange¬
sehen werden können. Das frühzeitige Auftreten des Te. bei
faradischer Reizung erwähnen aber weder Marina noch
R e m a k für die neurotonische Reaktion als bemerkenswert.
Remak erwähnt, daß die Zuckungen bei Bestimmung des
faradischen Schwellenwertes nichts auffallendes zeigen, daß
es hingegen auf der kranken Seite in seinem Falle zur
Nachdauer der Kontraktion (Minimalwert 112 mm R.-A. von
90 mm ab Nachdauer des Te.) kam. Diese Nachdauer des Te.
bei faradischer Reizung vom Nerven aus bei der neuro¬
tonischen Reaktion, die für die Differenzierung gegenüber der
einfach gesteigerten Erregbarkeit bei Tetanie von Belang
wäre, scheint aber keinesfalls konstant zu sein, wenigstens
bonnte sie Marina in seinen beiden Fällen nicht erzielen.
Noch eine Erscheinung möge hier Erwähnung finden,
die mir für die Stellung der Diagnose in einigen Fällen von
Tetanie mit wenig ausgesprochener elektrischer Uebererregbar¬
keit zu statten kam. Vorausgeschickt muß aber werden, daß
sie für Tetanie keineswegs pathognomonisch ist, auch bei
Gesunden angetroffen werden kann, aber verhältnismäßig sehr
selten und nicht in dem Maße, wie ich es bei Tetaniekranken
beobachten konnte. Wenn man mit dem galvanischen Strom
vom Nerven aus einmal mit fixierter Elektrode und Taster¬
schluß reizt, dann so vorgeht, daß man den Stromschluß durch
ganz vorsichtiges Auflegen der Elektrode auf dieselbe Stelle
herbeiführt und die Stromstärken vergleicht, bei welchen die
Zuckungen auftreten, so finden wir eine auffallende Differenz
in dem Verhalten gesunder und an Tetanie leidender In¬
dividuen.
Bei Gesunden ist zwischen beiden Untersuchungs¬
methoden entweder gar keine oder nur eine sehr geringe,
nach beiden Seiten ausschlagende Differenz. Der Einfachheit
halber seien hier aus einer Reihe von Beobachtungen einige
angeführt. Bemerken will ich nur noch, daß immer zuerst der
Stromschluß durch die nicht fixierte Elektrode (im folgenden
als labil benannt), dann erst bei fixierter Elektrode durch
Tasterschluß (im folgenden als stabil bezeichnet) bewerk¬
stelligt wurde.
M. H., Hysterie. Nervus facialis-Stamm links Ka. S. Z.
1‘2 M.-A. labil, i'2 M.-A. stabil; zwischen beiden keine Differenz.
Nervus ulnaris rechts Ka. S. Z. 2'2 M.-A. labil, 2'2 M.-A. stabil ;
stabil etwas stärker.
A. T., Enteroptose. Nervus facialis-Stamm links Ka. S. Z.
1‘8 M.-A. labil, 1‘8 M.-A. stabil ; labil etwas stärker. Nervus
ulnaris rechts Ka. S. Z. 1‘3 M.-A. labil, 1'3 M.-A. stabil ; keine
Differenz.
W. R., Cholelithiasis. Nervus facialis-Stamm links Ka. S. Z.
2 M.-A. labil, 2 M.-A. stabil; keine Diffei'cnz. Nervus ulnaris
rechts Ka. S. Z. 1‘2 M.-A. labil, 1‘2 M.-A. stabil; keine
Differenz.
Nur in ganz vereinzelten Fällen erhielt ich etwas größere
Differenzen. Als Extremfall möge folgende Beobachtung Er¬
wähnung finden :
M. N., Rheumatismus artic. Nervus facialis-Stamm links
Ka. S. Z. 2'8 M.-A. labil, 3‘2 M.-A. stabil. Nervus ulnaris rechts
Ka. S. Z. 1'5 M.-A. labil, 1'5 M.-A. stabil ; keine Differenz.
Dagegen findet sich bei Tetanie ein anderes Verhalten.
Es sind die Differenzen zwischen der stabilen und der labilen
Elektrode — wobei hier nochmals hervorgehoben werden
mag, daß die Nervenreizung nur durch einfaches Auflegen der
Elektroden u. zw. in ganz sachter Weise erzielt wmrde und
daß peinlichst derselbe Reizpunkt eingehalten wurde ■ — oft
sehr ausgesprochene und fallen immer zugunsten der labilen
Untersuchungsmethode aus. Es treten nicht nur die
Schließung.szuckungen bei viel niedrigeren Stromstärken auf,
sondern es gelingt auch, die OelTnungszuckungen — die Strom-
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Öffnung durch einfaches Abheben der Elektrode bewirkt —
bei viel niedrigeren Stromstärken zu erzielen. Zur Perlu-
strierung seien einige Beispiele angeführt:
S. J., 30 Jahre alt. Seit dem 14. Jahre öfter Krämpfe in
den Armen, öfter das Gefühl von Zusammenziehen in den unteren
Extremitäten. Seit einigen Monaten Krämpfe in den Händen,
lypische Krämpfe. Fazialisphänomen positiv. Nervus ulnaris
rechts faradisch 92 mm, Tetanus 85. Nervus facialis-Stamm links
.).j mm, gleich leichter Tetanus und Muskelflimmern. Nervus
ulnaris rechts Ka. S. Z. ES M.-A. labil, 3 M.-A. stabil; Ka. Oe. Z.
4 M.-A. labil, 6 M.-A. stabil.
.. Jahre alt, Beamter. Seit einiger Zeit Neigung zu
Iviämpfen, zeitweilig Parästhesien in den Händen. Fazialis-
phänonien sehr ausgesprochen. Trousseau negativ. Nervus
faciahs-Stamm links faradisch 96 mm, Ka. S. Z. 1 M.-A. labil,
1‘8 M.-A. stabil. Nervus ulnaris rechts faradisch 96 mm, gleich
leichter Tetanus, Ka. S. Z. 1 M.-A. labil, 1'4 M.-A. stabil; An. S Z
und An. Oe. Z. 2-3 M.-A. labil, 2-8 M.-A. stabil; Ka. Oe. Z.
3 4 M.-A. labil, bei 6 M.-A. stabil noch fehlend.
I)iese Erscheinung fand sich bei hochgradig vorhandener
elektrischer Erregbarkeit viel weniger ausgesprochen als in
fällen mit höheren Werten, war im allgemeinen weniger
deutlich bei den Werten für die Ka. S. Z., am deutlichsten
für die Ka. Oe. Z. Für den faradischen Strom konnte ich
bisher eine solche Differenz in den Erregungswerten weder
bei normalen — wenigstens nicht an Tetanie kranken —
Personen, noch bei Tetanie finden.
Eine befriedigende Erklärung für dieses Verhalten
konnte ich nicht finden. Es wäre naheliegend, anzu¬
nehmen, daß das frühzeitige Auftreten bei Berührungs¬
schluß auf einer Summation der mechanischen und
elektrischen Uebererregbarkeit beruhe. Fand sich auch die
Erscheinung in solchen Fällen, bei welchen die mechanische
Uebererregbarkeit wenig ausgesprochen war und bei welchen
die Berührung mit der Elektrode, ohne Strom geprüft, keine
Zuckung auslöste und geschah auch das Auflegen der Elek¬
trode mit großer Vorsicht, so wäre eine Summation der Reize
immerhin doch möglich gewesen. Dagegen spricht aber das
Auftreten der Differenz auch bei der Oe. Z. Da die Unter¬
suchung mit der stabilen Elektrode immer erst an zweiter
Stelle gemacht wurde, entfällt der Einwand, daß eventuell
aufgetretene Erregbarkeitsänderungen im Nerven oder Ver¬
minderung des Hautleitungswiderstandes in Betracht kommen
könnten. Stintzing begegnet bei Bestimmung seiner
Grenzwerte bei normalen Personen offenbar einer ähnlichen
Erscheinung. Um die Reizpunkte der Nerven genau festzustellen,
verschiebt er die Reizelektrode ohne Strom und führt dann
verschiedene Schließungen aus. Die Verschiebungen sind,
wie er angibt, sehr geringe, höchstens noch Millimeter
betragende. Bei diesem Einstellen des Stromgebers ist seinen
Erfahrungen nach eine Vorsicht zu gebrauchen : »Es darf
niemals im Augenblicke des Stromschlusses verschoben werden.
Geschieht letzteres, so tritt die Minimalzuckung zu früh auf
infolge einer Summierung von Reizen an verschiedenen
Punkten eines und desselben Organes.« Daß dieses Moment
vielleicht mit in Betracht kommt, kann zugegeben werden,
die alleinige Ursache ist es gewiß nicht. Denn auch bei
unseren nicht an Tetanie leidenden Individuen konnten wir,
wie früher angeführt wurde, solche geringfügige Differenzen
finden ; sie sind aber bei diesen durchaus nicht konstant,
fehlen sehr häufig vollständig, sind sehr geringfügig und nicht
nur nach einer Seite hin ausschlagend. Dann spricht da¬
gegen auch wieder das Auftreten der Erscheinung auch bei
der Stromöffnung. Daß es sich bei dieser Erscheinung nicht
um etwas für die Tetanie Pathognomonisches, etwas von
den normalen Vorgängen ganz Abweichendes handeln kann,
ist klar. Wir können daher nur das häufige Auftreten, die
größere Intensität der Erscheinung gegenüber der Norm,
namentlich die deutliche Differenz bei dem Auftreten der
Ka. Oe. Z., analog den übrigen Erscheinungen der gesteigerten
elektrischen Erregbarkeit, als in der Erregbarkeitsänderung
begründet annehmen. Der Umstand, daß dies i Erscheinung
bei extremer Erregbarkeit weniger ausgesprochen ist als bei
geringeren Graden, spricht nicht gegen diese Annahme, weil
bei minimalen Stromstärken die Differenzen eben geringer
sein müssen. Bei der Schwierigkeit der Entscheidung, ob
gegebenenfalls eine erhöhte elektrische Erregbarkeit vor-
liegt, kann uns auch dieses Verhalten unter Umständen von
Belang sein.
Zusammenfassend können wir sagen ; Das Erb sehe
Phänomen ist ein konstantes Symptom der Tetanie in den
akuten Stadien. Im akuten Anfalle von Tetanie ist es, ebenso
wie die mechanische Uebererregbarkeit der motorischen Nerven
immer nachweisbar, wenn genügend oft, zu verschiedenen Zeiten
und an verschiedenen Nerven untersucht wird. Denn auch die
elektrische Uebererregbarkeit kann kurze Zeit nach einem
Krampfanfalle nicht mehr nachweisbar sein, ist nicht an
allen Nerven gleichmäßig vorhanden und zeigt Schwankungen,
unabhängig von den übrigen Symptomen. Ausgesprochene
Erregbarkeitsänderungen mit extrem niedrigen Werten für
die Schließungszuckung, sehr frühzeitigem Auftreten der
Oeffnungs- und Dauerzuckungen, mit dem Auftreten von
Oeffnungstetanus für Anode und Kathode, sind ebenso wie
extreme Grade von Fazialisphänomen oder mechanischer
Uebererregbarkeit der übrigen Nerven nicht allzuhäufig. Sind sie
vorhanden, dann genügen sie wohl ebenso wie letztere allein
zur Stellung der Diagnose. Weitaus häufiger sind selbst in
den akuten Stadien weniger ausgesprochene Veränderungen,
verhältnismäßig selten ist der An. Oe. Te. und noch seltener der
Ka.Oe.Te. zu erzielen. Selb.st die Minimalwerte für dieKa.S. Z.
sind oft so, daß sie als innerhalb der Grenzwerte auch gesunder
Individuen gelegen, angesehen werden müssen. In solchen
Fällen kann uns der weitere Verlauf durch die Abnahme der
W erte mit dem Abklingen der übrigen Symp tome die Erregbarkeits¬
änderung erweisen. Selbst mittlere, sicher noch erkennbare Grade
des E rb sehen Phänomens sichern allein die Diagnose der Tetanie
nicht, da sie ebenso wie mittlere Grade des Fazialisphänomens
auch bei niclit an Tetanie kranken Personen angetrolfen werden
können. Die Feststellung geringerer Grade von elektrischer
Uebererregbarkeit ist aber schwieriger, als die Feststellung
solcher Grade von mechanischer Uebererregbarkeit. Denn die
Grenzen für die Werte der einzelnen Zuckungen schwanken
auch bei normalen Individuen innerhalb so großer Breiten,
daß die Differenzierung, ob wir es mit normalen oder mit
pathologischen Werten zu tun haben, schwierig ist. Keine,
der bei der erhöhten elektrischen Erregbarkeit vorhandenen
Aenderungen der normalen Zuckungsformel erweist mit Sicher¬
heit das Bestehen einer solchen. Wir finden dieselben Er¬
scheinungen: Das frühzeitige Auftreten des Ka. S. Te., der
An. Oe. Z. und des An. Oe. Te. auch an Nerven ohne erhöhte
Erregbarkeit bei der neurotonischen Reaktion. Die Differenzierung
dieser' von der erhöhten elektrischen Erregbarkeit ist, wenn
nicht extrem niedrige Werte für die Ka. S. Z. vorliegen oder
uns der weitere Verlauf einen Testwert bringt, unmöglich.
Unter Umständen kann uns in schwierig zu entscheidenden
Fällen die faradische Untersuchung durch das sofortige Auf¬
treten des Te. bei den Minimalstromstärken die Entscheidung
bringen. Auch scheint uns die an Tetaniekrankenzu konstatierende,
Erscheinung, daß die Zuckungen, insbesondere die Ka. Oe.Z.,
viel früher bei Stromschluß und Oeffnung durch Elektroden¬
kontakt und Entfernung, als bei stabil angebrachter Elektrode
und Tasterschluß und Oeffnung auftreten, für die Annahme
einer erhöhten elektrischen Erregbarkeit verwendbar. Die
faradische Erregbarkeit der Nerven zeigt im allgemeinen
weniger ausgesprochene Veränderungen als die galvanische,
sie kann aber ausgesprochen vorhanden sein auch in Fällen,
bei welchen che galvanischen Veränderungen keine deutlichen sind.
In den intervallären Phasen der Tetanie, auch in solchen Fällen,
bei welchen noch immer zeitweilig Parästhesien, Neigung
zu Krämpfen etc, bestehen, findet sich das Erbsche Phänomen
seltener als das Fazialispliänomon. Es kommt daher dem
Erbschen Phänomen, eine so hervorragende Bedeutung ilim
auch für die Diagnose der Tetanie zukommt, keineswegs eine
solche Prävalenz gegenüber den übrigen Kardinalsymptomen
der Tetanie, insbesondere der mechanischen Uebererregbar¬
keit der Nerven zu, daß der Standpunkt gerechtfertigt wäre,
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
J OfA*-
einzig und allein von der Feststellung der elektrischen Ueber-
erregbarkeit die Diagnose der Tetanie abhängig zu machen.
Literatur.
’) Schlesinger, Zeitschr. f. klin. Med. 19. Bd. — ®)Westphal,
Herl. klin. Wochenschr. 1901, Nr. 33. — v. F r an k 1 - H o c h w a r t li,
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1896, Nr. 13. — ») Erb, Ziemssens Handb. 1876, 12. Bd. — i«) Bern¬
hardt, Berl. klin. Wochenschr. 1891, Nr. 26. — ") S te w a r t. Transact,
of the assoc, of americ. physic. 1889. — A s t, Deutsches Arch. f. klin.
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Nr. 38, 39. — Bernhardt, zitiert nach Erb, Elektrotherapie. —
Hoffmann, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 9. Bd. - ’®) v. V o ß,
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 26. Bd. — ^chultze, Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk. 25. Bd.
Aus dem Rudolfinerhaus in Wien-Döbling.
Zur Technik der Operationen an der Hypo¬
physe*)
Von Primararzt Dr. Ludwig Moszkowic/.
Am 23. Mai 1907 .Ooficlitete Prof. Scliloffer in
dieser Wochenschrift liher eine auf nasalem Wege uusge-
führte, erfolgreiche Exstiri/ation eines Hypophysentumors.
Damit ist erwiesen, daß eine solche Operation nicht allzu
tollkühn ist; zu diskuiieren wäre nur üher die Technik der
Operation und so möge es mir deim gestaltet sein, üher
eine Operationsmethode zu herichten, die ich seit iDezemher
1906 an der Leiche aiisgearbeitet habe.
Was die Berechtigung zur Ausführung einer so ge¬
wagten Operation betrifft, so sei auf die ausfühirliche Ar¬
beit iSchloffers (Beiträge zur klinischen Chirurgie, Bd. 50,
S. 767) verwiesen, in der auch alle ;im Hinblicke auf die
Möglichkeit einer Operation wichtigen Arbeiten auf dem
Gehiete der Anatomie, Physiologie und Diagnostik der , Hypo-
physentumoren berücksichtigt und alle bisher vorgeschla¬
genen Operationsmetboden erörtert werden.
Jeder Nervenarzt, der die an Hypoi)hysentumorcn
leidenden Kranken in ihrem qualvollen Endstadium gesehen
hat, muß wohl auf den Gedanken gekommen sein, daß
man versuchen sollte, auf operativem Wege Hilfe i zu
schaffen. Viele der Kranken erblinden, andere leiden lUnter
fürchterlichen Kopfschmerzen, Konvulsionen, psychische
Störungen kommen hei einzelnen vor, hei den meisten er¬
leidet der Stoffwechsel Störungen, die sich habt in dem
Symptomenkomplex der iVkromegalie, bald in Adipositas
universalis, häufig in Anomalien der Geschlechtsfunktion
kundgeben.
Ich wurde durch Herrn Priv.-Doz. Dr. Alfred Fuchs
darauf aufmerksam gemacht, daß diese Indikation besteht,
daß es aber an einer geeigneten ■Operationsmethode fehlt
und habe nun seit Dezember 1906 im , anatomischen In¬
stitute des Herrn Hofrates Zuck er kan dl eine solche Ope¬
rationsmethode aus gearbeitet, wobei mir Herr Prof. Tandler
in äußerst liebenswürdiger Weise seine wertvolle Unter¬
stützung zuteil werden ließ. Ich spreche ihm hiefür auch
an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aus.
Nach dem nun zu schildernden Verfahren habe jeh
sechsmal die normale Hypophyse planmäßig hloßgelegt und
es ist wohl erlaubt, anzunehmen, daß eine Methode, welche
es ermöglicht, das kleine normale Organ zu entfernen, erst
recht geeignet sein wird, um Tumoren der Hypophyse an¬
zugehen. Ich .zögerte mit der Publikation des Verfahrens
nur deshalb, weil ich ahwarten wollte, oh mir nicht ein
geeigneter Fall zur Operation zugewiesen wird.
Da. ]nm Scliloffer nach einer ähnlichen IMethode
einen Fall mit Glück operiert hat, so möge es mir nun ge¬
stattet sein, unsere .Methode mitzuteilen, die mir etwas
schniiender zu sein scheint als die von Scliloffer an-
gewendele.
*) Nach einem am 31. Mai in der k. k. Gesellschaft der Aerzte
gehaltenen Vortrage.
Die zur Bloßlegung der Hypophyse angegebenen Ope¬
rationsmethoden kann man in zwei Gruppen einteilen, in
solche, hei denen das Organ auf intrakraniellem Wege
aufgesucht wird und jene, bei welchen der ..Operateur extra-
kraniell von der Schädelbasis Vordringen will.
Die erste Gruppe wird wohl auch weiterhin übzu-
teilen sein in extradural und i nt ra dural auszufüh¬
rende Operationen. ,
Allen, intrakraniellen Methoden liegt die Idee zugrunde,
daß es gelingen könnte, die Operation völlig aseplisch aus¬
zuführen und hm dieser Idee willen nimmt der Operateur
außerordentliche Schwierigkeiten in Kauf. Ein Blick auf
einen frontal durch die Hypophyse geführten Schädelschnitt
helehrl uns, daß die beiden Optici, die Karo tiden und die
Sinus cavernosi die gefährliche Nachharschaft des Organes
bilden und daß die x4ugenmuskelnerven und Trigemini ,bei
der Operation leicht zu Schaden kommen können. Die nor¬
male Hypophyse ist heim Erwachsenen meist nur durch
eine dünne Knoebenwand von der Keilbeinhöhle getrennt.
Die Hypophysentumoren wachsen zum mindesten mit einem
Teile ihres Umfanges gegen die Keilbeinhöhle hin und
drängen die hintere und obere Wand der Höhle nach vorne
und unten. Es scheint mir daher nahezu aussichtslos, von
der Schädelhöhle her einen Hypophysentumor zu entfernen,
ohne gleichzeitig die Keilbeiiihöhle zu eröffnen. Nicht min¬
dere Schwierigkeit dürfte es bieten, den Weg .durch das
Stirnbein von vorne und von der Seite her (Vorschlag von
Krause) so zu wählen, daß man völlig sicher ist, den
Sinus frontalis nicht zu eröffnen, zumal dieser sehr variabel
und oft nach den Seiten zu sehr ausgedehnt ist. Alle intra¬
kraniellen Methoden haben also den Nachteil, daß sie tech¬
nisch außerordentlich schwierig sind und doch nicht jhe
Gewähr bieten, daß die Operation aseptisch verläuft, da die
Eröffnung einer der erwähn ten Nehenhöhlen der Nase nicht
sicher vermieden werden kann.
Es schien mir daher von vorneherein nur pine der
extrakraniellen Methoden in Betracht zu kommen. Bei
diesen soll die Keilbeinhöhle i)lanmäßig eröffnet werden
und von hier aus kann man in .die durch den Tumor er¬
weiterte Sella turcica eindringen, indem man die ..dünne
Knochenplatte, welche die Hypophyse in der Regel .noch
bedeckt, durchbricht. Der Operateur hätte sich bloß davor
zu hüten, die Seitenwand der Keilheinhöhle und die seit-
licheii Partien ihrer oberen Wand zu verletzen, an denen
sich der Nervus oi)tic.us (lur(‘h eine deutlich vorspringende
Knochenleiste markiert. Dann begegnet er auf diesem Wege
keinem wichtigen Gebilde.
Nr. 26
793
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Zum Rachenclache und zur Keilbeiiiliölile nun ha])en
sich die Chirurgen auf dreifache Weise den Weg gebahnt.
Der eine Weg führt durcJi die Nasenhöiile. Jüie äußere
Nase wird zur Seite geklappt (v. Bruns),, von den Musc,lieln
und dem Septum wird soviel entfernt, als nötig erscheiid,
um das Rachendach genügend bloßzulegen.
Der zweite Weg geht durch den harten , Gaumen.
Der Schleimhautüberzug des harten und weichen Gaumens
wird median gespalten und die horizontale Gaumenplalte
nebst einem Teile des Vomer herausgemeißelt (Cussen-
bauer). Oder aber es wird der Processus alveolaris beider¬
seits vom Oberkieferkörper ahgetrennt und mit dem .ganzen
harten Gaumen nach abwärts geklappl, mit dem Charnier
im Bereiche des Hamulus pterygoideus (Part sch, Kocher).
Endlich gibt die. Pharyngotomia sul)hyoidea
(v. Langenbeck) einen guten Zugang zum Rachendache.
Von diesen drei Wegen schien mir nur jener gangbar,
der die Wände des Pharynx intakt läßt. ..Ein Patient, dem
man den gefährlichen Eingriff an der Schädelbasis : zu¬
mutet, darf nicht auch noch der Gefahr .einer Aspirations-
pnenmonie ausgesetzt werden. Die durch den Zungengrund
und durch den Gaumen führenden Operationswege schienen
mir da, her ungangbar zu sein, weil sie .den Schluckmecha¬
nismus gefährden.
Es blieb nur me, hr der Weg durch ,die Nasenhöhle
übrig, der ja auch schon von anderer .Seite vorgeschlagen
war. Ich h,atte jeüoch noch ein Bedenken. .Wenn mir auch
die Freilegung und Exstirpation eines Hypophysentumors
von der Nasenhöhle aus durchaus möglich erschien, .so
hielt ich es doch für selbstverständlich, daß eine reinliche
Operation auf diesem Wege unmöglich und eine .post¬
operative Meningitis daher nnvermeidlich sei.
Schloff er wies zwar ln seiner Arbeit darauf Jiin,
daß eine Oeffnung des S ubarachno ideal raumes nicht
unbedingt eine Meningitis zur Folge haben müsse, jndcm
er aus der Literatur berechnete, daß von den Fällen von
Schädelbasisfraktur, die durch Abfluß von Licpior cerebro¬
spinalis als Fälle komplizierter BasisEraktur mit Einreißen
der Dura sichergestellt sind, nur 16-0 ®/o an Meningitis ge¬
storben sind.
Doch schien es mir, daß eine Hypophysenoperation
nur gewagt werden dürfte, wenn wir eine .Methode finden,
um bei der unvermeidlichen Eröffnung der Aleningen .(lie
Infektion zu verhindern und, was besonders wichtig ist,
na.c.h Beendigung der Operation einen verläßlichen Ab¬
schluß der Oeffnung an der Schädelbasis gegen die Nasen-
und Rachenhöhle erzielen zu können.
Karplus und Spitzer (Zentralblatt für Physiologie,
Bd. 19, Nr. 22), welche eine Methode .zur Freilegung
der Brücke ansgearbeitet haben, betonen die Notwendig¬
keit eines exakten A^erschlusses der Knochenlücke an der
Schädelba,sis. Es gelang ihnen, Tiere, viele Tagepind Wochen
am Leben zu erhalten, denen die Hirnbasis ..so breit aufge¬
macht wurde, daß bequem in der Mitte jmd seitlich Brücken-
durchtrennungen gemacht werden konnten. Sie beschreiben
ihre Methode folgendermaßen :
Große Sorgfalt verwendeten wir auf einen exakten V cr-
scliluß der Knochenöff nn ng nach der Operation. Bei
kleinen Löchern ini Knochen haben wir die Jodoformknochen-
plonibe mit gutem Erfolge angewendet; in anderen Fällen haben
wir das Locli mittels eines in Mastixlös'ung getränkten Walte-
pfropfens verschlossen. Für die großen Oeffnungon im Knochen
aber erwiesen sich uns als treffliche Verschlußmitlel Blondren
aus Guttapercha, wobei wir uns eines auch von Zahnärzten
gebrauchten Präparates bedienten. Wir formten aus dem leicht
erwärmten Gidtapercha ein der Knochenöl tniiug auch in
ihrer Tiefe mögli(dist entsprecdiendes Stück. Die Knochen ränder
trockneten wir reicht sorgfältig mit Hilfe eines kleinen Galvano¬
kauters, führten dann die geformten Guttaperchaplon)hen ein und
fuhren nun neuerdings mit dem Galvanokauter entlang den
Knocdienrändern. Ami iibm-sl riidien wir nocdi die l’lomhe über
ihre Ränder hinaus mit einer Maslixlösung, oder mit einer Lösung
von Guttapercha in Chloroform.
Kiiochenplombcii heilen ja aiudi am Menschen ein,
aber .wohl nur unter völlig aseplisclieu Verhältnissen jind
am besien, wo darüher die Haut geschlossen .wenhoii kann.
Es schien mir daJier verläßlicher, zum Verschlüsse
der Knochenlücke nach der Exstirpation des Hyiiophysen-
tumors lebendes Material zu verwenden mid ic,h .daclite
mir, daß sich hiezu am besten ein JTautlappen eignen müßte.
Dies ist also der Qperat ionsplan : ,
Die Operation wird zweizeilig ansgeführt, ln der ersten
Sitzung wird die Nase aufgeklappt, das Septum .und von
den Naseiimuscheln und dem Siehheine soviel,* als nötig
erscheint, entfernt, die Keilbeinhöhle eröffnet, jedoch die
letzte Knochenspange, die den Hypophysentumor noch be¬
deckt, intakt gelassen. Nun wird ein gestielter Haut lappen
von genügender Länge von der Stirne auf die wundgemachte
untere Fläche der Schädelba.sis gelegt u. zw. s'o, daß seine
Spitze in die Keilbeinhöhle zu liegen kommt und so gerade
eben die letzte Knochenspange bedeckt, die uns noch vom
Hypophysentumor trennt. Nun wird der Lappen durch .Tam¬
ponade an den Knochen gedrückt, die Nasenlu'ihle .wird
tamponiert, die äußere Nase hleiht aufg('klappt bis /air Aus¬
führung der zweiten Operation. Diese darf erst ausgeführt
werden, wenn der Haut lappen ordentlich angeheilt ist pind
wird dann unter viel günstigeren Umständen erfolgen /i,ls
die erste. Der Boden und die Wände yler .Naseidiöhle können
mit steriler Gaze bedeckt werden, der Hautlappen, j:lef das
Dach des Operationsfeldes bildet, ist sorgfältig zu ..reinigen.
Seine Spitze, die in der Keilbeinhöhle liegt, .wird zurück¬
präpariert. Nun liegt die letzte Knochenlamelle frei, .sie
wird entfernt u. zw. so ausgiebig, daß .nun die Dura oder
der derbe Ueberzug des Hypophysentumors inzidiert und
dieser selbst entfernt wmrden kann. Sowie dieser .Akt voll¬
endet ist, wird die zurückgeklappte Spitze des JTaullappens
in die Knochenlücke am Boden der Sella .turcica gepreßt
und mit Jodoformgaze fest angedrückt.
Wie man siehl, hat der Operationsplan manche Aehn-
lichkeit mit der von Prof. Schloffer ausgeführten ersten
Hypophysenoperation. Ein wesentlicher Unterschied besteht
bloß darin, daß ich mir die Operation .zwmizeitig dachte
und daß ich die möglichste Reinlichkeit des .wesentlichen
zweiten Aktes der Operation, sowde den exakten A^^rschluß
der Knochenlücke an der Schädelbasis durch Einpflanzung
eines Hautlappens ansfrebte.
Ueberdies kann die Operation etwas schonender aus¬
geführt werden, als dies Schloffer getan hat. Es hat
sich als überflüsisig herausgestellt, die Orbitahvand zu .ver¬
letzen, wm.s nicht ohne Bedeutung ist. Im orbitalen Fett¬
gewebe entwdckelt sich leicht eine Phlegmone, dann .hat
Schlot fers Patient nach der Operation eine Schwächung
des Rectus int. oculi sin. gezeigt, offenbar infolge der
Lockerung seiner hinteren Insertion. Schloffer entfernte
,,die innere Wand der linken Orbita bis .nahe an das Foramen
opticum“. Er entfernte ferner die innere Wand der Highmors¬
höhle, was wohl auch entbehrlich ist. Von .den Nasen¬
muscheln stört die unterste gar nicht, es .genügt die Ent¬
fernung der zwei oberen Nasenmuscheln und der Hiebbein¬
zellen unter Belassung der Lamina papyracea.
Wenn auch dadurch in der queren Richtung der Raum
zu eng erscheint, so habe ich dafür .in der senkrechten
Richtung das Operationsfeld mir dadurch erweitert, daß
ich die vordere und untere Wand der Stirnhöhle resezierte,
ein Vorgang, der auch deshalli nötig ist, weil der Haut¬
lappen, der herunterzuschlagen ist, auf dem ganzen Wege
über wmndgemachten Knochen zu liegen kommen muß. Es
ist also wichtig, daß die Stirnhöhle eröffnet und ihre Schleim¬
haut sorgfältig entfernt wird. Vielleicht wird es sogar von
Vorteil sein, mit einem scharfen Löffel, die .Oberfläche des
Knochens abzuschaben, damit der Hautlappen auf wunden,
blutenden Knochen zu liegen kommt.
Abb. 2 zeigt an einem Medianschnitle, wde want der Zu¬
gang ist, den wir auf diese Weise .gewinmui. Sie wuirde
nach einem sagiltalen Durclischnitte des Schädels gezeich-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
79 i
net, an dem ich am 31. Mai 1907 in der k. k. Gesellschaft
der Aerzte die bloßgelo;gfe Hypophysis demonstrierte.
Es möge nun die genaue Beschreibung der Xtpcra-
tionsmcthode folgen.
Fig. 2.
Fig. 3 zeigt in der punktierten Linie die .Schnittfüh¬
rung zur Umschneidung der Nase und Begrenzung yles
Lappens, der in die Nasenhöhle zu verpflanzen .ist. Der
Lappen enthält die Arteria angularis und frontalis der linken
Seite und dürfte durch diese Arterien ausgiebig ernährt
werden. Er ist etwa drei Finger breit .gedacht und reicht
bis nahe an die Haargrenze an der rechten Schläfe. Die
Verpflanzung langer Haare wäre nicht vorteilhaft, ander¬
seits muß der Lappen so lang genommen werden, daß seine
Spitze in die Keilbeinhöhle zu liegen kommt. Es wäre da¬
her zweckmäßig, den Lappen erst nach Bloßlegung der
Keilbeinhöhle zu umschneiden, wenn man bereits über die
Distanz zwischen Stirne und Keilbeinhöhle orientiert ist.
Doch kann auch das Studium des llöntgenbildes darüber
Aufschluß geben, wie groß der J.,appeii genommen werden
soll. Der an tier Stirnhaut gesetzte Defekt wird mit
Thiersch sehen Lappen zu decken sein, weshalb es vor¬
teilhaft wäre, das Periost des Stirnbeines nicht mit in den
Lappen zu nehmen.
Nach der Ausschneidung des Hautlappens Avird mit
einigen Meißelschlägen der Processus frontalis des rechten
Oberkiefers und der Ansatz des rechten Nasenbeines lin
der Richtung des Hautschnittes gelockert. Dann wird -init
der Schere das Septum mobile der Nase Aurchtrennt und
ein möglichst großes Stück des knorpeligen Septum aiasi
im Zusammenhänge mit der äußeren Nase herausgeschnit¬
ten. Nun wird die Nase nach links geklappt, was meist erst
gelingt, nachdem auch das linke Nasenbein und .ein Teil
des Stirnfortsatzes des linken Oberkiefers abgesprengt wor¬
den sind. Nun wird jeder der beiden Stirnsinus mit einem
Bohrer eröffnet und von der kleinen Oeffnung aus mit einer
Luer sehen Zange die ganze vordere und untere Wand
der Stirnhöhle abgetragen. Der Gebrauch des Meißels ist
zu widerraten, da die Verhältnisse der Stirnsinus sehr
variabel sind und bei kleinem Sinus leicht die Schädel¬
höhle eröffnet werden könnte.
Während dieser Arbeit vHrd man am Lebenden wohl
die Nasenhöhle mit in Adrenalin geti’änkten Wattebäusch-
chen tamponieren, wodurch die weitere Operation sich
weniger blutig gestaltet. Es folgt die Abtragung des knor¬
peligen und knöchernen Septums, soweit dies mit , der
Listonschen Zange gelingt. Die mittlere und obere Muschel
jederseits wird mit der Schere abgetragen, die Siebhein¬
muscheln werden mit dem scharfen Löffel ausgeräumt, wo¬
bei die Lamina papyracea leicht geschont werden kann.
Fig. 4.
Nun ist der Zugang nach der Tiefe ivollkommen frei.
Vom Vomer sind in der Regel die .Alae vomeris noch
in Verbindung mit dem Rostrum sphenoidale stehen ge¬
blieben. Dieser letzte Teil des Vomer wird ,nun entfernt,
wobei in der Regel eine oder beide .Keilbeinhöhlen breit er¬
öffnet werden. Dieser Teil und alle folgenden lAkte der
Operation müssen unter guter Beleuchtung ausgeführt
werden. Bei gutem Oberlichte und Operation am .hängenden
Kopfe wird man vielleicht ohne künstliche Beleuchtung .aus-
kommen, sonst wird ein Stirnreflektor zu verwenden sein.
Mir hat bei den Leichenversuchen ein Beleuchtungsapparat,
der in Fig. 4a abgebildet ist, gute .Dienste geleistet. Ich
ließ mir an ein Glühlämpchen, wie es ,zur Beleuchtung
des Rachens verwendet wird, einen 15 cm Jangen Glas¬
stab mit abgebogenem Ende aufmontieren (Firma Reiniger,
Gebbert und Schall). Das Ende des Glasstabes leuchtet und
stellt eine aseptische Lichtquelle dar, die bequem auf jede
beliebige Stelle des tiefgelegenen kleinen Operationsfeldes
dirigiert werden kann. Ein Zystoskop ließe sich .ähnlich
verwenden.
Unter guter Beleuchtung Avird nun namentlich die
mitere Wand der Keilbeinhöhle sorgfältig abgetragen, weil
dadurch der Zugang zur Hypophyse ausgiebig erweitert
werden kann. Zur Orienlieruiig dient die Schleimhaut ,des
Nr. 26
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Raclieiidaclies, die bis an die leicht tastbare .Wirbelsäule
mit dem Elevatorium abgehebelt wird. Die Kiiocheiispaiige,
welche den Boden der Keilbeinliöhle bildet, springt als
quere Leiste vor. Um sie abtragen zu können, braucht man
eine kräftige, abgehogene Zange, wie die in |Lig. 4c ab¬
gebildete modifizierte Lu ersehe Zange.
Damit ist nun der erste Operationsakl vollendet. Wir
haben nur nocli den HaulJappen von der iStirne vollends
abzulösen unrl nach unten zu schlagen, wobei ^zu beachten
ist, daß die Schädelhasis möglichst geglättet und niöglichst
überall wund gemacht werden muß. Die Schleimhaut 4er
Stirnhöhle und der Keilbeinhöhle müssen sorgfältig .ent¬
fernt werden. Der Hautlappen wird mit Jodofonngaze ^an
die Schädelbaisis und in die Keilbeinhöhle gepreßt. i
Bei der zweiten Operation wird die Spitze ,dos an¬
geheilten Hautlappens abgelöst und nach vorne umgeklappt
und so mit langen Haken festgehalten. Nun Jiegt die letzte
Knochenspange frei, die den Hypophysentumor noch deckt.
Die Aufgabe besteht darin, dieses dünne Knochenblättchen
zu durchbrechen, ohne den dahinter liegenden Tumor ,zu ver¬
letzen. Ich habe mir für diesen Zweck ,eine Reihe kleiner
Bohrer an langen Stielen konstruieren lassen, deren .Spitze
so gedeckt ist, daß man mit dem Bohrer nur wenige Milli¬
meter tief eindringen kann. Von einer kleinen ^Oelffnung
aus wird das Knochenblätlchen völlig aufgebrochen, am
besten und schonendsten mit einem Instrumente, das ich
in Anlehnung an die Dahlgrensche Zange in ^zartester
Form ausführen ließ (Fig. 4b und d; d^drma Thürriegl).
Ist der Tumor noch von einer fibrösen Schichte be¬
deckt, so muß diese mit der Schere eingesclmitten werden.
Dann wäre der Tumor mit stumpfen Löffeln ,zu entfernen
und die Oeffnung an der Schädelbasis sofort .durch den
Hautlappen zu schließen.
Es scheint mir sicher, daß es nach diesem Operations¬
plane gelingen müßte, einen Patienten von seinem Hypo¬
physentumor zu befreien, ohne daß eine Meningitis ent¬
steht. Es wird nun Sache der Neurologen sein, die geeig¬
neten Fälle für die Operation ausfindig zu machen. Am
geeignetsten sind, wie auch Schloffer betont, jene, hei
denen der Tumor vornehmlich gegen die Keilheinhöhle
wächst, was durch genaues Studium der Röntgenbilder sich
wird nachweisen lassen. Wichtig wird es auch sein, nur
an solchen Patienten zu operieren, deren Kräfte durch die
Stoffwechselerkrankung noch nicht zu sehr gelitten haben.
Anderseits dürfen wir uns nicht verhehlen, daß es schwer
sein wird, einen Patienten zur Operation zu überreden,
ehe er über stärkere subjektive Beschwerden, Sehstörungen
oder Schmerzen, zu klagen hat.
Alles kommt darauf an, daß die nächsten Fälle, die
zur Operation kommen, richtig ausgewählt werden, wenn
nicht die gewiß berechtigte und sicherlich nnt Erfolg aus¬
führbare Operation in Mißkredit kommen soll.
Aus dem staatlichen serotherapeutischen Institut in
Wien. (Vorstand: Prof. R. Paltauf.)
lieber experimentelle Hauttuberkulose bei
Affen.
Von Prof. Dr. R. Kraus und Priv.-Doz. Dr. S. (fvo.sz.
Im nachfolgenden sollen die Ergebnisse unserer Ver¬
suche, welche die experimentelle Erzeugung von Hauttuber¬
kulose l)ei Affen (Macacus rhesus) m i t R e i n k u 1 tu r e n v o n
Tuberkelbazillen verschiedener Provenienz zum
Gegenstände haben, mitgeleitt werden.
Diese Versuche bilden die Fortsetzung früherer Ver¬
suchsreihen, über welche der eine von uns (Kraus) in Ge¬
meinschaft mit 0. Kren in den Sitzungsberichten der kaiser¬
lichen Akademie der Wissenschaften 1905 und in der Sitzung
der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien vom 15. De¬
zember 1905 (Wiener klin. Wochenschrift 1905, Nr. 51) be¬
richtet hat.
Es gelang mittels Skarifikation unter Einbringung von
Material tuberkulöser Organe von Affen und Menschen
(Lupus; tuberkulöse Hauterkrankimgen. bei Affen zu er¬
zeugen, welche entweder lokalisiert bleiben oder per con-
tinuitatem und auf dem Wege der Lyrnpbbahnen in der
Nachbarschaft sich ausbreiten. Diese Affektionen, welche
dem Lupus vulgaris und der tuberkidösen I^ymphangitis
des Menschen entsprechen würden, haben sich auch bei
bistologi scher Untersuchung als tuberkulöse Prozesse er¬
wiesen. Einige wenige mit Reinkulturen ausgeführte Impf¬
versuche, über welche auch berichtet wurde, haben positive
Ergebnisse geliefert.
Zur selben Zeit berichteten Baermann und Halber¬
städter aus Batavia über ähnliche Versuche, die sie
größtenteils mit Organen tuherkulöser. Tiere, nur zum ge¬
ringeren Teile mit Reinkulturen anstellten (Berliner klini¬
sche Wochenschrift 1906, 12. Februar). Damit war der
Beweis geliefert, daß es möglicb ist, der mensch¬
lich e n H au t tu b e r k u lo s e ä h n 1 i c h e F o r m e n bei Affen
experimentell zu erzeugen.
Seither hat Lewandowsky über Versuche, die er an
Meerschweinchen und Kaninchen vorgenommen, berichtet
(Verhandlungen der Deutschen dermatologischen Gesell¬
schaft, IX. Kongreß, Bern 1906). Einreibungen lebender
Tuberkelbazillenkulturen vom Menschen in Skarifikations-
wunden, weniger sicher in oherflächlich gereizte Haut oder
intrakutane Injektion, führen nach seinen Untersuchungen
])ei Kaninchen und Meerschweinchen eine Hauttuberkulose
herbei, die bei den ersteren ohne Allgemeinsymptome ver¬
heilt, bei letzteren zu .einer langsam fortschreitenden All¬
gemeintuberkulose führt. Die Hauttuberkulose tritt bei diesen
Tieren in Gestalt unregelmäßiger, häufig gezackter Ulzera
auf, mit schmierigem Belage, unterminierten Rändern und
sehr derber, ziemlich scharf umschriebener Randinfiltration
(Lewandowsky, 1. c.).
Demgegenüber müssen wir auf Grund früherer Ver¬
suche (mit 0. Kren) und erneut unternommener, wieder¬
holen, daß es uns nicht gelungen ist, jnit Reinkulturen ver¬
schiedener Provenienz bei Meerscbweinchen und Kani liehen
tuberkulöse H au taf f ek tio n en progredienter Natur
hervorzurufen.
Die Versuchsreihe, über welche wir nunmehr bericblen
wollen, bezieht sich auf kutane Impfungen bei Affen mit
Reinkulturen von Tuberkelbazillen verschiedener Herkunft
(Demonstration von geimpften Makaken und histologischen
Präparaten durch R. Kraus, in der Sitzung der k. k. Ge¬
sellschaft der Aerzte, 11. Januar 1907). Es war zunächst
festzu stellen, ob Reinkulturen von Tuberkelbazillen imstande
sind, ähnliche Hautaffektionen hervorzurufen, wie sie bei
früheren Uebertragungen mit Organen erzeugt wurden.
Weiters war die Frage zu lösen, ob die Verschiedenheit der
Bazillenstämme auch in den Impfprodukten ihren Ausdruck
fände.
Die Versuche wurden mit Tuberkel bazillen
menschlicher Herkunft, die teils dem Typus humanus,
teils dom Typus bovinus entsprachen, weiters mit Perl-
suchtstämmen und mit Vogeltuberkulose vorge¬
nommen. Für die Ueberlassimg einzelner Kulturen sind wir
Herrn Dr. E. Loewenstein in Belzig und Frau Dr. L. Ra¬
bin o witsch in Berlin zu Dank verpflichtet.
Die Impfungen mit menschlichen Tuherkel-
bazillen, die sämtlich für Meerschweinchen sich als pa¬
thogen erwiesen, ergal)en verschiedene Resultate.
Zur Verwendung gelangten ein a v i r n 1 e n t e r S tarn m,
Stamm Courmont, Stamm B las e n t u !) e r k u lo s e,
welche dem Typus humanus entsprechen; Stamm Septi-
caeinie, welchen Loewenstein aus menschlichem Spu¬
tum gezüchtet hat und der sich nach W^eberywie Hühner-
tuberkelbazillen verhält; Stamm Hodentuberkulose,
der ebenfalls von Loewenstein gezüchtet wurde, nach
unseren Versuchen dem Typus bovinus entsprechen dürfte.
Außerdem nahmen wir typische P e r 1 s u c h t s tä in rn e,
welche sowohl für Kaninchen als für Meerschweinchen
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
pathogen waren, in VerAvendiing, endlich haben wir ,ver-
sncht, mit Stämmen, welclie als Vogeltuberkulose
lind r^oschtuberkiiloso charakterisiert sind, Ucber-
(l agimgen vorzimehmen. ,
Als Ergebnis dieser IJntersiichnngen kann zunächst
festgestelll werden, daß sowohl Tu h erkel bazillen
menschlicher Provenienz, .als auch Perlsucht¬
bazillen tuberkulöse Hautaffektionen bei Affen
her vorzuruf en imstande sind.
A^ach Impfung mittels Skarifikation im Supraorbital¬
bereiche kommt es nach 10 bis 14 Tagen ^zu entzündlichen
Veränderungen, welche eine Zeitlang bestehen bleiben, teils
zu Zerfall und Geschwürsbildung führen, oder sich rück-
bilden können. Nur die Stämme der Vogel tuber¬
kulöse und Froschtuberkulose haben ganz ge¬
ringfügige klinische Veränderungen erzeugt.
Die dem Typus human us zugehörigen Stämme
rufen Affektionen hervor, die im wesentlichen auf
die Skarifikationss teilen beschränkt bleiben,
über diese hinaus nicht wachsen und keine Tendenz
zur Ein Schmelzung zeigen. Die Veränderungen
können nach längerem Bestände ab klingen und zu
völliger Ausheilung kommen.
Im Gegensätze hiezu ließ sich mit einem Stamme
menschlicher Tuberkulose, der als Typus bovinus anzusehen
sein dürfte*) und ferner namentlich mit Stämmen tieri¬
scher Herkunft (Perlsucht) regelmäßig ein Krank¬
heitsbild erzeugen, das nicht so gutartig verlief,
wie die vorhergehend beschriebenen. Die Infil¬
tration beschränkt sich nicht auf die Impfstelle, sondern hat
die Tendenz darüber hinaus sich auszudehnen. Nach kurzem
Bestände der entzündlichen Erischeinungen kommt es zu ge-
schwürigem Zerfalle der infiltrierten Hautstellen und zu
tuberkulösen Veränderungen der regionären Lymph-
drüsen. Parotis und S uhl i n gual d r üs en. Der Aus¬
gang dieser Impftuberkulose war regelmäßig ein letaler, be¬
dingt durch die Propagation des Virus in die inneren Organe
(Lunge, Milz, Leber).
Die histologische Untersuchung der infizierten
Hautpartien ergab je nach dem zur Anwendung .gelangten
Bakterienmateriale differente Bilder, welche hier kurz skiz¬
ziert werden sollen. Wir sehen Formen (bei Vogeltuberku¬
lose), die in ihrem Aufbau nichts für , Tuberkulose Charak-
ristisches boten, vielmehr lediglich das Bild einer unscharf
umschi’iebenen, diffusen, entzündlichen Infiltration zeigten.
Besonders da, wo sich der Prozeß im Korium abspielt,
beschränkt sich die Infiltration auf die Spalten zwischen
den Gewebsbündeln.
Eine zweite Form besteht in einer umschriebenen
Knotenbildung, die eine Infiltration des Gewebes mit epi-
theloiden Zellelementen darstellt.. Von einem Epitheloid-
tuberkel unterscheidet sich ein solcher Knoten durch das
Erhaltenlileiben der präexistenten Gefäße (Stamm Septi-
caernie). Als eine dritte Form wären hervorzuheben jene
Knotenbildungen, weldie in der Peripherie tuberkelähnliche,
an epitheloiden Zellen arme, verkäsende Knötchen mit spär¬
lichen Riesenzellen, in den zentralen Anteilen ausgedehnte,
verkäsende Partien aufweisen. IManchmal rücken dieselben
an die Oberfläche, bringen das Epithel zum Schwunde, so
daß l’irosionen und zentrale Geschwürsflächen entstehen.
Von besonderem Interesse sind die Ergebnisse der
Untersuchung der Gewebsschnitte auf Tuberkeibazillen.
Es ergab sich gesetzmäßig das ganz auffallende Re¬
sultat, daß die anatomisch und klinisch als pro¬
gredient charakterisierten, mit Zerfall einher¬
gehenden Formen (Typus bovinus, Perl sucht)
wenig oder nur ganz vereinzelt Tu berkelbazillen
enthalten, während die mit menschlichen Tuber-
kelbazilleii erzeugten Impfprod ukte, die sich
vollständig rückbilden, nicht progredient sind,
liiclit zu Zi'i’fall neigen, ganz enorme Mengen von
D üi dieser Richlung sollen noch weiter Versuche angeslellt werden.
Bazillen auf weisen ii. zw. stellenweise in einer
Anordnung, wie sie den Leprabazillen im Gewebe der
Lepraknoten ähnelt.
Auch bei den mit Vo ge 1 1 u ber kulo s e ge¬
impften V e r s u c h s t i e r e n f i n d e t m a n, t r o t z d e ni die
klinisch und anatomisch erhebbaren Verände¬
rungen nur geringgradig und durchaus un-
charakteristisch sind, ganz enorme Meng e n von
Tu berkelbazillen im Gewebe.
Wir begnügen uns vorläufig diese Ergebnisse hier
festznlegen und behalten uns vor, in einer ausführlichen
Arbeit, die anderen Ortes erscheinen soll, das gesamte
Material mitzuteilen.
A.US der II. chirurgischen Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand : Hofrat Prof. Dr. Julius Hochenegg.)
Ein Fall von subkutan entwickeltem Platten¬
epithelkarzinom der Glutäalgegend.
Von Dr. Julius Richter, Operalionszögling.
Im folgenden sei ein Fall von Plattenepithelkrobs mit¬
geteilt, bei dem die Deutung des histologischen Befundes,
bzw. die Erklärung der Histogenese der Geschwulst einige
Schwierigkeiten verursacht hat und daher von Interesse
sein dürfte.
Der Fall betrifft einen 67jährigen Patienten, welcher früher
immer gesund war. Im Jahre 1879 bemerkte er, durch stechende
Schmerzen aufmerksam gemacht, etwa 5 cm rechts vom Anus ein
derbes, etwa erbsengroßes Knötchen, welches die Haut kaum vor¬
wölbte. Die Schmerzen, auf welche die Defäkatiou keinen Einfluß
hatte, ließen nach und das Knötchen erreichte hinnen Jahresfrist die
Größe einer Kirsche. Es blieb dann, von normaler Haut bedeckt
und ohne Schmerzen zu verursachen, bis zum Sommer des
Jahres 1905 unverändert. Um diese Zeit griff die bisher streng
umschriebene Verhärtung auf die Umgebung über und es entstand
eine diffuse Induration nach oben und außen. Im September
1905 lu’ach diese an der tiefsten Stelle auf und es entleerte sich
angeblich nur blutig gefärbte Flüssigkeit. Seit dieser Zeit wech¬
selten Verheilung und Aufbruch mehrmals miteinander ab. Es
entwickelten sich auf diese Weise mehrere wenig stark sezer-
nieieiide Fisteln. Jedesmal, wenn die Geschwulst an einer Stelle
aufhrach, verspürte Pat. eine große Erleichterung, indem die
Spannung nachließi, so daß er beschloß, die Aufbrüche durch
feuchte Umschläge offen zu halten. Pat. bemerkte auch, daß
dite GeschAvulst in der letzten Zeit ziemlich rasch an Größe zu¬
nahm.
Die Defäkatiou Amrursachte ihm niemals Schmerzen und
ging immer regelmäßig und glatt vor sich; seit den letzten
14 Tagen besteht mäßige Obstipation.
Die Untersuchung von Herz, Lunge und Abdomen des gut¬
genährten und kräftigen Patienten bei seiner Aufnahme ergibt
vollständig normalen Befand.
B'CÜ der Inspektion des Gesäßes sieht man die rechte Hälfte
Amn einer überhandtellergroßen Vorwölbung eingenommen, Avelche
in die Analfalte hineinreicht, aber nicht auf den Anus üher-
greift. Im Bereiche dieser Vorwölbung ist die Haut stark ge¬
rötet und auf ihrer Kuppe läßit sich deutliche Fluktuation nach-
weisen. Knapp neben dieser Stelle sieht man drei dicht neben¬
einander liegende krönen-, bis guldenstückgroße, blumenkohlartigc
GeschAvürc, Avelche pilzförmig über das Niveau der umgebenden
Haut berAmrragen. Ihre derben Ränder sind wallarüg aufgeworfen,
gescliAvürig zerfallen und mit nekrotischen Massen bedeckt. Der
Grund ist trichterförmig cingezogen und mit gelben, schmutzigeu
Massen belegt. Die Untersuchung mit der Sonde ergibt aber,
daß. Avir hier keine oberflächlichen Geschwüre vor uns haben,
sondern daß diese nur die Ausmündungsstellen langer, in die
Tiefe gehender Gänge sind. Wir finden also hier Fisteln, deren
äußere Oeffnungen die oben heschrieheneu 'Formen zeigen.
Die Digitaluiitiersuchung des Bidvtums ergibt nichts Auf¬
fälliges.
In der Nähe des unteren Randes' der Vorwölhimg ist eine
kronenstückgroße, deutlich fluktuierende und sehr schmerzhafte
Stelle (paraanaler Abszeß). Hier wurde inzidiert und es entleerte
sich eine dunkelbraune Flüssigkeit. Die Wunde wurde draiiiiert
und mit Jodoformgaze tamponiert.
Die Probeexzision aus dem Zentrum der einen papillären
Ei'habenheit ergibt Platlenepilhelkarzinom mit spärlicher Ver¬
hornung. .
Nr. 26
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Ifofral Iloch'Oiicgg stellte die Walirsclieinliclikeilsfiiagnose
auf Karzinom, hervorgegangoii aus der Wand einer Derrnoidzysie.
Die Operation wurde am 27. Oktober vom Assistenten
Dr. Hans Lorenz aiisgefiilirt.
tier Patient wird in linke Seitenlage gebracht, wie zur
Operation für Kraske-llochenegg und nach vorliergegangener
Reinigung des Operationsfeldes wird die (leschwulst weit im
Oesunden iimsdmilten, so daß. auch ein Teil der Olutäalnmsku-
latiir imtgenommen wird. Der Tumor wird hierauf vom Rektürn
ahpräpai'iert, rlessen hintere AVand datlurch auf ungefähr G cm
Länge freiliegt; Stcdßhein und unterster Anteil des Kreuz¬
beines werden mit der Knochenscliere entfernt. Der große Sub- -
stanzverlust. wird durch einige Nähte in den Wundwinkeln ver¬
kleinert. Die übrige AA^undhöhle offen gelassen, mit Jodoformgaze
tamponiert uud_ drainiert. Der Wuindverlauf war ein vollständig
normaler und die AA unde heilte per granulationern aus.
Das bei der Operation gewonnene Präparat ist ungefähr
kteinkindskopfgroß. und umfaßt einen großen Anteil der angren¬
zenden Glutäalmuskulatur, des Zellgewebes, sowie die erwähnten
resezierten Knochenstücke.
Auf dem über die größte Zirkumferenz des Präparates ge¬
führten Durchschnitte, welcher in seiner Richtung dem Amrlaufe
einer der früher heschriehenen Fistelgänge entspricht, erscheint
etwa in der Mitte des Ohjektes ein ungefähr hühnereigroßer Hohl¬
raum, welcher mit größtenteils festen, zentral bröckeligen, tj'ockeneu,
teilweise iperlmutlerartig glänzenden Massen ausgefüllt ist. Diese
hängen mit dem größiten Teile der Zirkumferenz dieses
Hohlraunies innig zusammen und sind nicht von ihm ablösbar.
In dem gegen den rückwärtigen Pol dieses Hohlraumes zu ge¬
legenen Anteil zeigt die Geschwulst keinen Zusammenhang mit
der AAmnd und ist hier leicht ausschälhar. Im hinteren Ende geht
der Hohlraum in einen zweiten, etwa nußgroßen über, der mit
dem ersten durch eine ungefähr 3 cm im Durchmesser haltende
Oeffnung in A'erhindung steht. Durch diese Oeffnung ragen die
heschriehenen Gewehsniassen pfropfarlig in den zweiten Hohl¬
raum hinein und erfüllen diesen vollsländig, ohne mit der AVhind
in Zusammenhang zu stehen. Hebt man diese Massen an der
AA^and des Hohlraumes! ah, so erscheint jene bis zu der eben be¬
schriebenen Oeffnung von einem 2 cm breiten, weißen, trockenen,
gegen das angrenzende Zellgewebe scharf ahgrenzbaren Gewebe
gebildet, welches die gleiche Beschaffenheit hat, wie die den
Hohlraum ausfüllenden Massen.
An der Uebergangss teile vmn dem großen in den kleinen
Hohlraum zeigt die AA'’and feinwarzige, flache, in das Innere
vorragende Exkreszenzen. Die AA'and des kleinen, nußgroßen Hohl¬
raumes zeigt endlich eine dünne, glatte, verhornte Auskleidung.
Das den Hohlraum ausfüllende Gewebe erfüllt in gleicher Weise
die eingangs beschriebenen FisteLä^^ge so vollständig, daß deren
AA^and nicht sichtbar ist und ragt pilzförmig über die äußere
Oberfläche hinüber, ohne daß ein Zusammenhang zwischen diesem
Grewehe und der äußeren Haut bestünde.
Zur histologischen Untersuchung gelangten Stücke aus
allen Teilen der AA^and, aus den Fistelöffnungen, ans dem
Inhalte und dem Abszesse. Die Objekte wurden in der ge-
wtohnlichen AVeise gehärtet, in Paraffin eingebettet und die
Präparate, für deren Durchsicht ich Herrn Priv.-Doz. .Doktor
C. Sternberg bestens danke, mit Hämalaun-Eosin gefärbt.
Das weiche, trockene Gtewebe, welches, wie beschrieben,
den vorderen Teil der AA^and des großen Hohlraumes bildet, besteht
aus mächtigen, plumpen, kolbigen Zellsträngeii und -nestern,
welche aus großen Plattenepithelien zusammengesetzt sind. I.,etz-
tere haben vielfach einen dunkel färbbaren, unregelmäßig ge¬
formten Kei-n und ein ziendich homogenes intensiv färbbares
Protoplasma. Zwiseben breiteren und schmäleren Zellsträngen
und -nestern, sowie innerhalb solcher finden sich zwiebelschalen-
förmig geschichtete, homogene, strukturlose, mit Eosin sich gleich¬
mäßig rot färbejidc Gebilde, welche den bekannten Kaidcroid-
perlen entsprechen. Diese Zellstränge und -nester reichen tief
in das umgebende Gewebe hinei)i, stellenweise, bis in das Fett¬
gewebe und zeigen peripher dichte Anhäufungen von ein- und
mehrkernigen Leukozyten.
Den gleichen Aufbau und dieselbe Zusammensetzung wie die
eben beschiiebene AA'and zeigen die peripheren Anteile der den
ganzen Hohlraum erfüllenden Alassen, während diese im Zentrum
ausgedehnt nekrotisch sind und nur undeutlicli mehr eine Strukiur
erkennen lassen. Die Schnitte aus den Partien, wo die After-
massö an die läußere Haut angrenzt, zeigen, das typische Ril l
eines Plattenepilhelkaxzinoms, von dem gleichen Aufbaue wie
in der AATmd des Hohlraumes und in seinem Inneren, ln diesen
Schnitten sehen wir auch, daß zwischen der äußeren Haut und
dem hervorwuchernden G’ewebe kein Zusammenhang besteht.
Die papillären Exkreszenzeu an der llehergangsstello des
großen in den kleinen Hohlraum zeigen bei mikroskopischer Unter¬
suchung ob(!rfiächlich eine epidermisähnliche Auskleidung, an
welcher man eine ziemlich breite Hornschiebt und eine mächtigere
Zone Malpighischer Zellen untierscheiden kann. Nach unten zu
ist diese im allgemeinen geradlinig begrenzt. Nur vereinzelt sind
flache, in die darunterliegenden Schichten reichende Zapfen sicht¬
bar; an mehreren Stellen senkt sich das Epithel in Form von
breiten Kolben und Zapfen in das' angrenzende Gewebe ein,
so daß an einer Stelle ein umfangreicher Herd zustande kommt,
Avelcher den gleichen Aufbau zeigt, wie die früher beschriebenen
Geschwulstmasisen, also aus Nestern von Plattenepithelzellen be¬
steht, welche Kankroidperlen einschließen. Diese Herde reichen
hart bis an die äußere Haut heran und zeigen peripher eine be¬
trächtliche Infiltration von ein- und mehrkernigen Leukozyten.
Der beschriebene kleine Hohlraum wird von einer schmalen
Zone, stark verhornter Epidermis ausgekleidet, welche in der Ober¬
fläche von mehreren Lagen vollkommen verhornter, größtenteils
abgehobener Zellen gebildet wird, die oft ein zusammenhängendes
Band darstellen. Darauf folgt eine Zone gut färbbarer Plattenepi¬
thelien. Diese Schicht ist allenthalben ziemlich gleich breit, gegen
die Unterlage fast durchweg geradlinig abgegrenzt und nur ganz
vereinzelt bildet sie niedrige, flache Retezapfen.
Auf diese Zellen folgt ein ziemlich kernarmes Bindegewebe,
welches in seinen äußeren, an <las Fettgewebe angrenzenden
Teilen, von reichlichen Leukozyten durchsetzt ist. Der Schnitt
durch das Geschwür zeigt Gewebszerfall und in dem umgebenden
Gewebe starke Anhäufung von ein- und mehrkernigen Leuko¬
zyten. , I
In dem vorliegenden Falle handelt es sich, wie aus
dem makroskopischen und mikroskopischen Befunde hervor¬
geht, zweifellos um ein Plattenepithelkarzinom. Dieses füllt
einen hühnereigroßen Hohlraum aus, mit dessen A¥and es
größtenteils, aber nicht überall innig zusammenhängt. AAto
dieser Zusammenhang besteht, bilden eben Tümormassen
die AAhind des Hohlraumes. In den rückwärtigen Anteilen
aber, wo — wie heschrieben — der Tumor in den Hohl¬
raum, wie in eine Schale eingelagert ist, wird jler letztere
von einer schmalen Epidermisschichte ausgekleidet, die keine
Zapfen bildet; auch fehlen hier Anhanggehilde der Haut
(Haare, Drüsen).
An der Uebergangss teile des nußgroßen in den
hühnereigroßen Hohlraum finden sich einige papilläre, über
die Oberfläche erhabene Exkreszenzen, welche bei der mikro¬
skopischen Untersuchung teilweise bereits in ein Platten¬
epithelkarzinom umgewandelt sind. Die äußere Haut zeigt
nirgends einen Zusammenhang mit dem Neoplasma.
Es handelt sich hier also um ein Platten-
epithelkarzinom, welches nicht von der Haut aus¬
gegangen ist, sondern sich aus der AAUand eines
subkutan g e 1 e g e n e n H o h 1 r a u m e s e n t w i c k e 1 1 h a t.
Bei der Frage nach dem AVesen dieses Flohlraumes
wäre in erster Linie nach Form des klinischen Aussehens
an eine Dermoidzyste zu denken, um so melir, als ja die
Entwicklung von Plattenepithelkrebsen aus Dermoidzysten
nicht so selten beobachtet wurde. Einschlägige Alitteilungen
liegen in der Literatur vor von H. AA^olff,^) Mertens,“)
Czerny,^) Anna PölzU^) u. a. m.
Gegen diese Deutung spricht jedoch der histologische
Befund. AATe aus der früheren Beschreibung ersichtlich,
zeigt die AUand des Hohlraumes ülrerall dort, wo sie noch
unverändert erhalten war, lediglich eine Epidennisausklei-
duiig; es fehlt durchweg an anderen Gebilden der Haut,
so daß wir weder aus der Zusammensetzung der, AAhand, noch
aus dem Inhalte der Höhle einen Anliallspunkt für die An¬
nahme einer Dermoidzyste gewinnen.
Es wäre nun zu erwägen, oIj der Hohiraum vielleicht
als Atherom zu denken wäre. Bei Beurteilung dieser Frage
müssen wir uns daran erinnern, daß die Atherome heute
vielfach nicht mehr als Retentionszysten der Talgdrüsen
aufgefaßt, sondern namentlich seit den Arbeiten von
F. Franke,*') Török') und Gliiari®) von emljryoiialen
Einschlüssen abgeleitet w^erden.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907
Nr. 26
IJosomlers war cs Franke/') welcher in einer ans-
J'iihrliclien Ar])eit nacliwies, daß „die nnt('r dem Namen
AMierome bekannten (ieschwülste in zwei genetisch ver¬
schiedene Ahleilungen zu scheiden sind, in lletenlions-
gescliwülste, die, in der Kiitis sitzend, im ext.rauterinen
Lc])en aus Haar- und Talgfollikcln entstehen und eigent¬
lich nur vergrößerte Koinedonen vorstellen, also eigentlich
h'ollikularzysten, und in solche, die ihren Ursprung unab¬
hängig von fertig ausgebildelcm Uaarbälgen usw. aus im
intrauterinen Lehen (nur im subkutanen Gewebe?) ahge-
schnürten Epidermiszapfen nehmen“.
In der Bezeichnung dieser Geschwülste schließt er sich
dem von II es che 1'^) vorgeschlageiien Namen ,, Epidermoid“
vollständig an.
E. Franke"’) i>cpclireil)i auch einen Fall, in welchem cs
zur Entwicklung eines Karzinoms in einem am Damnenl)allcn
gelegenen, allseitig geschlossenen Epidermoid kommt.
Török') legt ein großes Gewicht für die Unterschei¬
dung der Atherome von den Follikularzysten auf das .Vor¬
handensein eines Papillarkörpers iii der Atheromwand und
sieht darin gleichzeitig einen Beweis, daß die Atherome aus
embryonal ahgcsprengteji Keimen der Haut hervor¬
gegangen sind.
Unna,^) welcher in bezug auf die Ahstannnung der
Atherome mit den früher genannten Autoren vollständig
übereinstlmmt, meint, daß die vVushildung eines Papillar¬
körpers kein sicheres Kriterium für die IJiagnose ,, Atherom“
sei, indem er sagt:
„l)arül)er dürften wir uns doch hei der anerkannten
Variabilität des Papillarkörpers, derselbe mag Vorkommen,
wann und \vo er wolle, keiner Illusion hingehen, daß eine
sti’cnge Scheidung auf die Existenz gerade dieses Gebildes
hin a priori nicht zugelassen werden kann.“
Ferner sagt Unna: ,,Ich traue einem jeden Atherom
dagegen dasselbe zu, wie jeder Follikularzyste, daß sie sich
gelegentlich durch Epithelwucherung einen neuen Pcäpillar-
körper schaffen kann.“
Wenn Török auf das Vorhandensein eines Papillar¬
körpers in der Atheromwand ein großes Gewicht für die
Diagnose ,, Atherom“ legt, so müßten wir in unserem Falle
die Annahme eines Atheroms fallen lassen; denn wie wir
trüber nachgewieseii haben, finden wir Ijei der mikroskopi¬
schen Untersuchung entweder eine sehr geringe IfnUvicklung
otler ein kehlen des Papillarkörpers in der Wand.
Wie aber aus den vorstehenden Ausführungen hervor¬
gehl, berechtigt der histologische Befund in unserem Falle
nicht dazu, das Alherom, hzw. Epidermoid auszu¬
schließen, wir müssen vielmehr die iMöglichkeit zugehen,
daß hier ein xVtherom Vorgelegen haben könnte.
Immerhin erscheint uns sowohl nach dem histologi¬
schen Befunde, als auch ganz besonders bei Berücksich¬
tigung der anamnestischen Daten eine aiulere Deutung des
Falles wahrscheinlicher.
Sehen wir die Anamiiese durch, so spricht das Krank¬
heitsbild dafür, daß es sich ursprünglich um eine chronische
I' ollikulitis gehandelt hat, die des öfteren abiszedierte. Offem-
bar ist nun die hiel)ei entstandene xXbszeßhöhle von der
äußeren Haut her epidermisiert worden, ein Vorgang, der
mit dazu heigetragen haben dürfte, daß der Abszeß sich nicht
vollständig schloß und nicht ganz ausheilte. Auch die im
vorstelumden geschilderten histologischen VArränderungen
si)rech(m in gleicher Weise wie der klinische AArlauf dafür,
daß chronisch-entzündliche \"eränderungen die Veraidassmig
zur Bildung des fraglichen Hohlraumes gegeben haben.
Die Fpidermisierung derartiger Höhlen wird hekannt-
lich nicht so sellcm heohachtet; so sei z. B. ,an eine Beoh-
achtung L. Spilzers^^) erinnert, in der es ebenfalls zur
Fpidermisauskleidung vereiterter follikel und dadurch zur
Bildung eigentümlicher Narben („Koniedonemiarben“) ge¬
kommen ist.
Aelmliche Vorgänge können sich auch in Schleimhäuten
abspielen, wie unsere eigenen ifrfabriingen an Fällen'^)
sogenannter ,, tuberkulöser lleocökaltumoren“ zeigten.
Hier kommt es zur Verlagerung von Darmdiüsen in
die Suhmukosa, welche dann sehr oft mit den hier be¬
findlichen Abszessen in Kommunikation treten und diese
mit Epithel auskleiden. Dadurch kommen die mit Epithel
ausgekleideten Hohlräume und Gänge zustande, welche den
Entzündungsprozeß zu keiner Ausheilung kommen lassen.
ln analoger Weise dürfte also auch die Epidermis-
auskleidung in dem Hohlraumo unseres Falles aufzufassen
sein: es handelt sich um eine chronische Follikulitis .und
Ahszeßhöhle mit sekundärer Epithelisierung von der äußeren
Oberfläche her.
ln weiterer Entwicklung geriet nun dieses Epithel in
atypische Proliferation und gab Veranlassung zur Entstehung
eines Plattenepithelkrehses .
Wie in allen Fällen, so ist natürlich auch jn der vor¬
liegenden Beobachtung .die Ursache der Krebsentwicklung
nicht bekannt; immerhin liegt es aber nahe, in diesem Falle
die Entstehung des Karzinoms auf die langdauernden Ent¬
zündungen, welche sich in der Abszeßhöhle abspielten, be¬
ziehungsweise auf die wiederholten Reize, die das Epithel
trafen, zurückzuführen, in analoger Weise, wie wir auch
sonst bisweilen die Entwicklung von Karzinomen mit wieder¬
holt abgelaufenen, lokalen, chronischen Entzündungsprozes¬
sen in Zusammenhang zu bringen gewohnt sind; wir er¬
innern z. B. an die Karzinomentwickhmg auf dem Boden
eines Lupus oder luetischer Veränderungen, an primäre
Krebse der Haut oder Schleimhäute, z. B. den Schornstein¬
feger-, Teer- und Paraffinarbeiterkrebs usw.
Fassen wir also die vorstehenden Ausführungen zu-
sannne]!, so können wir zwar in dem vorliegenden Falle
die Möglichkeit, daß es sich ursprünglich um ein Atherom
gehandelt hat, nicht mit Sicherheit ausschließen, möchten
uns aber auf Grund des klinischen und anatomisch-histolo¬
gischen Befundes eher der Auffassung znneigen, daß ein
aus einer chronischen Follikulitis h e r v o r g e g a n-
gener und sekundär epithelis ierter (epidermi-
sierterf Abszeß Vorgelegen hat, in dem sich in
w^ e i t e r e r b" o 1 g e aus der W a. n d a u s k 1 e i d u n g e i n v er¬
hör n e n d e s P 1 a 1 1 e n e p i t h e 1 k a r z i n o m (K a n k r o i d)
entwickelt hat.
Literatur;
h Wolff H., Arch. f. klin Chir., Bd. 62. — Mertens, Beiträge
z. klin. Chir,, Bd. 31. — ®) Czerny, Arch. f. klin. Chir., Bd. 10.
h Heschel, Prag. Viorteljahresschrift, 1860, Bd. 4. — D Franke F.,
Virchows Arch., Bd. 121. — ®) Franke F., Arch. f. klin. Chir., Bd. 34.
— h Török, Monatsh. f. prakt. Dermatolog., Bd. 12. — C h i a r i,
Prager Festschr. Berlin 1890. — ®) Unna, Histopathol. der Hautkrankh.
Erg.-Bd. II. T. (Orth). — Spitzer, Dermatol. Zeitschr., Bd. 10., H. 2.
— ”) Richter, Zieglersche Beiträge, Bd. 39. — Pölzl A., Zen-
tralbl. f. pathol. Anat., Bd. 15, S. 561.
Zur Bronchoskopie bei Fremdkörpern.
Von Dr. phil. et med. Ilermauii v. Sclirötter in Wien.
(Schluß.)
Berücksichtigt man die genannten Momente, so er¬
scheint es nicht mehr befremdlich, daßi der relaliv so große
K n o c h e n d urcli die Res p i r a t i o n s t ä t i g k e i t, hzw. durch
die im Gefolge des Husentreizes auftretenden, maximalen In¬
spirationen in die Tiefe gerissen und trotz Enge der Teile
erst im rechten Bronchus verankert wuirdo. Vermögen die
reaktiven Bewegungsvorgänge den fremden Körper nicht
herauszu befördern, so hegrmstigen dieselben geradezu, je
stürmischer der Suffoka.tionsanfall ist, die xVspi ration
dosselhen in das Bronchialgehiet, was aber wieder sein
Gutes hat, indem dadurch die Gefahr einer Ouerschnitts-
verlegung des gesamten Bronchialrohres verhindert und das
Corpus alieniim nach einem der beiden Aeste hinabgezogem
wird. Die Aspiration in den Bronchus erfolgt hei Fremd¬
körpern der in Rede stehenden Dimensionen nicht auf ein¬
mal, sondern offenbar in mehreren Etappen; trotz der
Größe desselben war hier die })esondere Form, die Flach¬
heit des Knochens (Querstellung) einer Beförderung
durch die VV" irkung des L u f t s t r o m e s günstig.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
l)as Kirochenstück war nach den klinisclieu Er¬
sehe i nun gen offenbar ziinächsl, ini oberen, byparleriellen
Abscbnitle des re eilten Haiiiitbronebus stecken gehlieheii
und batte dadureb zu einer Ausiscbaltung sänd.licher Liingen-
lappen geführt, als deren Ausdruck wir die boidigradige
Dyspnoe, die auffallende Einziehung der recliten, unteren
Brustwaiid auffassen mußten. Schon durch die forcierten
Respirationen und die Hustenbewegung des Kindes während
der ersten, am 8. Oktober vorgenomnienen Unlersucliung,
sowie zum Teile auch durch das Eingehen mit dem Katheter
veranlaßt, rückte das Knochenfragment (ieferin den Bronchus
hinab und veränderte seine Lage zu den abgehenden Aesten.
Diesbezüglich wird maiU sich aber zu vergegenwärtigen
haben, daß es sich bei den hier in Betracht kommenden
Distaiiizen nur um eine geringe Verschiebung zu handeln
brauchte, um damit wieder die Ventilation eines derLappen
zu ermöglichen und das klinische Bild zu verändern.
Wie dem auch sei, nach der ersten Untersuchung,
bzw. dem Eingehen mit dem Katheter war die so auffallende,
inspiratorische Einziehung der rechten, unteren Brustgegeml
verschwunden, so daß man annehmen durfte, daß die Luft
nicht bloß in den Ober-, sondern zum Teile auch in den
Mittellappen wieder einströmen konnte und im wesentlichen
der Bronchus für den unteren Lappen, also: etwa ein Drittel
der Lunge verlegt war. Vielleicht daß während der fol¬
genden Nacht, als abermals, mehr minder plötzlich, stärkere
Atemnot eintrat, neuerlich eine geringfügige f^ageverände-
rung erfolgte. Mit Rücksicht auf die sO' feste Vhraiikerung
des Jxnochenfraigmentes, die uns genugsam zu schaffen
machte, erscheint dies aber kaum wahrscheinlich. Eher
dürften hiefür Schwellungsvorgänge der Bronchialschleim-
haut verantwortlich sein. — Wir fanden den Knochen zu¬
letzt im Bereiche der Teilungsstelle des Haupt¬
stammes für den Unterlappen, den Zugang der entsprechen¬
den Aeste schräg überdeckend.
Wenn auch die Lageveränderung des Knochens, durch
den tieferen Sitz desselben, die Extraktion erschweren
konnte, so war dieser Umstand anderseits wieder für den
Gesamtzustand des Kindes günstig, da sich die Ventilations¬
verhältnisse durch Freiga.be eines Teiles der rechten Lunge
wesentlich besserten. Hiedurch wurden während der
Zeit bis zur definitiven Untersuchung am 9. Oktober (zirka
24 Stunden) Atemarbeit gespart, bzw. der Herzmuskel ge¬
schont und die Chancen für den operativen Eingiäff ge¬
steigert. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Was den Sitz des Fremdkörpers und seinen Einfluß
auf die Respiration der rechten Lunge aidangt, so* wäre
es von Itderesse gewesen, dieses Verhaften auch noch durch
die Radioskopie zu kontrollieren, wozu aber damals im
St. Annen-Kinderspitale keine Gelegenheit war. Ein Trans¬
port ad hoc nach einer anderen Station schien uns jedoch
nicht notwendig zu sein, da wir ja die Gegenwart eines
Knochenfragmeides jm rechten Bronchus schon bei der
ersten Inspektion feststcllen konnten.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Knochen — wiewohl
solche Freindköjper gcwöludich am liöidgenschirme nicht in Er¬
scheinung treten — hier klar zum Ausdrucke gekonmien wäre,
da sich das verkalkte Gehilde, von immerhin heträchtlicher Größe,
gewdß scharf von den Weich teilen des iMediasLinums und den
Rippenspangen des Säuglings ahgehohen hätte. Dm' Knochen
wäre rechts jm Bereiche des Ililusschaltens oder mit Rücksicht
auf seine Lageveränderung an der äußeren Grenze desselben
zu sehen gewesen. Hiehci, hätte man auch heohachlen kötmeii,
inwieweit die für Rronchostenose charaktei'islisctien fu'schei-
nungen, Dislokation des Mediastinums, al)normes Wuhalteu des
Diaphragmas u. a., vorhanden waren, die häufig sehr deutlicti
sind, aber nicht immer hestehen müssen, indem die in:si)iratorische
Dj'uckdifferenz der verengten Seite auf verschiedene Weise —
abhängig von der Aluskelaktion sowie der Nachgieldgkeit dei'
fraglichen Teile — ausgeglichen werden kann, liier wurde der
Druckiinterschied jedenfalls zu einem Teile durch das starke Ein¬
sinken der untei'en Partie des elastischen Brust korhes ,, gedeckt“,
außej'dem Juag aber auch eine seitliche Dislokation der meilia-
stinalen Wand erfolgt sein.
Doch dies nur uebeubei; wir bedurfleii, wie gesagt,
der Diaskoi)ie nicht. Bei der zweiten Untersuclnmg, welche
mit dem geeigneten Rohre durchgeführt wurde, konide
der Fremdkörper mit aller Bestimmtheit zur Ansicht ge¬
bracht und sein näherer ISilz im Bronchialbuume hinreichend
klai'gestellt werden. Als Bekmcfitungsapparat benützte ich
die Clarsche Stirnlami)e, welche auch hier trotz der Enge
des verwendeten Tubus eine vorzüglicfie, zentrierte Beleuch¬
tung des Arbeilsfeldeis gestattete. Ich selbst, war erstaunt,
welch scharfe Bilder sich noch mit dem Rofire von 18 cm
Länge und einem Ouerschnitte von 19-G mm (D.=^5mm) ge¬
winnen ließen, wozu noeh die perspektivische Verküi'zung
des Gesichtsfeldes kam. Bei einem Abstande des inder¬
suchenden Auges von ca. 20 cm von der oberen Rohr¬
mündung, also in einer Distanz von 38 cm vom Arbeits¬
gebiete, erscheint ja der DurchmeSiSer der unteren Rohr¬
mündung um ca. 48V') gegen jenen der oberen verkleinert,
so daß das Gesichtsfeld iiur 5-3 nmU beträgt, somit um
ca. 70Vo gegen den Ouerschnitt des Rohres verkleinert ist.
Was die Läirge des Tubus anbelangt, so hatte icli
dieselbe etwas größer gewählt, als unbedingt notwendig war;
mit Rücksicht auf die Distanz der Eiidveilungsstelle hätten
vielleicht 3 bis 4 cm erspart werden können. Dies würde
jedoch keinen Vorteil für die Technik der Extraktion er¬
geben hallen ; es war vielmehr günstig, daß noch ein. größerer
Anteil des Rohres über den Oberkiefer des Kindes vorragte,
da dies die Führung des Tubus erleichterte. Trotz des
kleinen Gesichtsfeldes vermochte ich, nachdem der im Rohre
aufsteigende Schleim abgesaugt worden war, zunächst, die
Bifurkation deutlich als schmale, halbmondförmige Leiste
zu erkennen; dann trat beim weiteren Verschieben nach
rechts ein wnnßcs Gebilde in Erscheinung. Es ist ein Glück,
daß Fremdkörper zumeist eine auffallend weiße Färlmng
zeigen und sich dadurch scharf von der benachbarten
Schleimhaut abheben, sonst könnte es bei so kleinen Ge¬
sichtsfeldern gegebenen Falles schwierig sein, die Anwesen¬
heit eines Corpus adieu um zu erkennen.
Nach abermaligem Absaugen der Schleimblasen mit
dem weichen Aspirationsschlauche könnte urder wechseln¬
dem Drucke auf die umgebenden Wandpartien festgestellt
werden, daß ein plattenförmiges Fragment vorlag, welches
derart an der Teilungsstelle des dorisalwäiis absteigenden
Unterlappenastes stecken gebliidien war, daß an der vor¬
deren (ventralen) Umrandung noch ein schmaler Anteil des
Bronchiallumens freiblieb. Durch Druck auf die entspre¬
chende Wandpartie ließ sich dieser Raum noch vergrößern,
wobei, iianienllich bei tiefer Inspiration, die Kante des
Knochens a — b, wie aus Fig. 4 zu ersehen, (leidlich zum
xVusdrucke kam. Von den Seiten her erschien das Knochen-
stück von stark geröteter Schleindiaut umfaßt. Alan
konnte also- nicht bloß an den Fremdkörper herankommen,
das Schaben des Tubus an dem harten Geldlde hören, man
vermochte sogar, was für die Extraktion von maßgebender
Bedeutung war, sich über die Lagfe desselben zu orientieren
und im besonderen lestzustellen, daß nelien dem Knochen-
fragmenle noch Lichtung zu gewinnen war, also die Alög-
lichkeit bestand, mit einem Instrumente um dasselbe heruni-
zukommen. Aus dem Befunde ging deutlich hervor, in
welcher Bichtung die Branchen der Pinzette zur Anwendung
kommen mußlen, um den Fremdköriier mit. Hoffnung auf
Erfolg extrahieren zu können. Es war klar, daß nur in der
Sagitlalen ein Umfassen des Knochenfragmentes möglich
war, während ein Ergreifen in darauf senkrechler, fron¬
taler Richtung vollkommen fruchtlos geldieben wäre. Ferner
mußfe man trachten, die Kante a — b möglichst in die Alitle
des Tubus einzustellen, den vmntralwärts vorhandenen Raum
durch entsprechenden Dj'uck zu vergrößern, um den Knochen
(bei sagil taler Stellung der Branchen) sicher umfassen zu
können.
Da. es unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich
war, die W i r k u n g der Pinzette mit dem xVuge zu koidrol-
lieren, hatte ich mir zuvor die erforderliche Länge des Inslru-
! mentes genau markiert und gab den Branchen die ent-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
sprechende Richhing. Ich wiiilie dieser Art, d,aß die ge-
ül'fiiete Pinzette, unter sanftem Drucke eingeführt, bei rich¬
tiger Haltung des Thbus den Knochen umfassen mußte.
— Ein deutliches Sehen durch Rohre von 5 Iris ,7 mm
Durchmesser ist ja bei eingeführtem Instrumente, selbst
bei Verwendung feinster Pinzetten, ausgeschlossen. Der
Schwerpunkt der direkten Metliode, bzw. der Verwendung
des geraden Rohres liegt in den Fällen, wo enge Kaliber
in Betracht kommen, vor allem in der Möglichkeit, den
Fremdkörper präzise einzustellen, wodurch man mit In¬
strumenten sicher an denselben herankommen kann. Benützt
man überdies eine Pinzette von bekannter Länge (leichte
Biegung des Fühmngsstabes an entsprechender Stelle) mit
nach außen federnden Branchen, die man geöffnet; gleich¬
sam in Fortsetzung des Rohres, an den Fremdkörper heran¬
treten läßt, so wdrd dieses sozusagen selbst Greif ins tru-
ment.^®)
Dieser Kunstgriff, auf welchen icli bereits im Jahre
1899 aufmerksmn gemacht habe, scheint mir nicht ent¬
sprechend beachtet worden zu sein. Ich erlaube mir daher
nochmals auf die praktischen Winke zu verweisen, die ich
in meinem Buche (S. 556 bis 561, sowie 557 bis 558)
niedergelegt habe. Hier möchte ich nur im allgemeinen be¬
tonen, daß es, „soll das Werk gelingen“, unter schwierigen
Verhältnissen in der Tat auf solche Feinheiten ankommt, wie
ich sie daselbst anzudeuten bemüht war, und daß man sich
bei richtiger Verwendung selbst einfacher Behelfe manche
Komplikation und Enttäuschung . ersparen kann. In dieser
Hinsicht gewinne ich mehr und mehr die üeberzeiigung, daß
man mit einer gut konstruierten Pinzette (S. 66 meines
Buches) — quellbare Fremdkörper, wie Bohnen oder Mais¬
körner (G. Killian, Nehrkorn, Gottstein, Schmige-
low), ausgenommen — in der überwiegenden Zahl der
Fremdkörperfälle auskommen wird. Bei bestehender Schwel¬
lung der bronchialen IVand, oberhalb eines lange getragenen
Fremdkörpers, müßte man gegebenen Falles auf eine (endo-
bronchiale) Dilatation der verengten Partie rekurrieren.
Bereitete auch in dem hier besprochenen Fälle, wie
aus der Operationsgeschichte hervorgeht, das Erfassen
des fremden Körpers trotz Benützung eines Tubus
von 5 mm bei einem Arbeitsfelde von kaum 20 mm“,
und obgleich die Luftröhre nicht kokainisiert worden
war, keine besonderen Schwierigkeiten, so waren diese
vor allem darin gelegen, den einmal erfaßten Knochen
schonend zu entwickeln u nd denselben ohne V er-
letzung durch die Trachea, beziehungsweise die Glottis
nach außen zu bringen. Zu diesem Zwecke kamen sanfte
rüttelnde Bewegungen unter großen Exkursiojien des In¬
strumentes, Vor- und Rückwärtsbewegen des Tübus behufs
Entspannung der bronchialen Wandung, ferner Seiten¬
neigung des Kopfes und geänderte Rumpfhaltung als unter¬
stützende Hilfsmittel zur Anwendung. Außerdem wurden,
sowohl beim Erfassen als bei der weiteren Extraktion des
Fremdkörpers, die Respirationsbewegungen in ihrem Ein¬
flüsse auf die Lichtung ausgenützt. Dieser Art konnte jeder
plötzliche Ruck vermieden und die Wirkung der zur Ex¬
traktion notwendigen Kraft (Zug) möglichst gleichmäßig
verteilt werden; trotz des, ich kann nicht anders sagen, als
geradezu enormen Widerstandes, der sich der Lockerung des
Kjiochens aidänglich eidgegonstellte, konide derselbe in der
Tat ohne Läsion der Luftröhre und des Kehlkopfes ans
Eicht gf'brach.t werden. Fast 11 Minuten vergingen aber vom
Zeilpunkle der ersten Einstellung des Fremdkörpers bis
zu seiner Extraktion, und es dauerte 1 Minute, bis er
zum letzten, diitten Äla.l erfaßt, den Weg vom rechten Bron-
chiis bis in die Außenwelt zurückgelegt hatte. Der Knochen
Ich bemerke hiezu, daß für die Fremdkörperextrakti on bei
Kindern ein Instrument Verwendung finden könnte, welches derart
konstruiert ist, daß am distalen Ende des Rohres nach außen federnde
brauchen angebracht sind, die durch eine ringförmige Manschette von
oben her geschlossen werden können. Rezüglich der Konstruktion eines
solchen »Pinzettenrohres«, durch welches sich die Einführung eines
Greifinstrumentes umgehen ließe, verweise ich auf meine Notiz in der
Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1907, Nr. 5.
kam unblutig heraus, der nach aufwärts geförderte Schleim
zeigte keine Beimischung von Blut. Wie sich nach der
Extraktion zeigte, war er an der günstigsten, der kürzesten
Kante a — b erfaßt worden; er dürfte wohl mit seiner Spitze
voraus aspiriert worden sein.
Noch mag die Frage berührt werden, ob sich der Ein¬
griff nicht vielleicht leichter in der ursprünglichen Position
des Fremdkörpers hätte bewerkstelligen lassen, als der¬
selbe im Anfangsteile, des rechten Hauptbronchus gelagert,
anscheinend die Ventilation aller drei Lappen verhinderte.
Abgesehen davon, daß es sich bei den Dimensionen der
Teile nur um geringe Unterschiede in den Distanzen handeln
kann, das Gesichtsfeld im wesentlichen das gleiche ist, so
wäre es immerhin möglich, daß der Knochen am ersten
Tage günstigere Angriffsflächen für die Pinzette geboten,
daß man ihn vielleicht besser von zwei Seiten her hätte
umgreifen können. Ebenso dürfte die Verkeilung ursprüng¬
lich eine weniger feste gewesen sein als bei der definitiven
LTntersuchung. Aber auch unter dieser Annahme wären die
Widerstände bei der Extraktion im Bereiche der Bifurkation
(Abgangswinkel) der Luftröhre und des Kehlkopfes dieselben
und die Maßnahmen zu deren lleberwindung die nämlichen
gewesen. Außerdem hätte man bei dem ursprünglichen Sitze
des Knochens unter viel schlechterer Ventilation, wahr¬
scheinlich sogar temporär insuffizienter Atmung des Kindes
arbeiten müssen, während am zweiten Tage, wo die Re¬
spiration des Ober- und wohl auch zum Teile des Mittel¬
lappens der rechten Lunge ermöglicht war, die Bedingungen
für eine genügende Sauerstoffzufuhr günstiger lagen. Durch
die unteren Löcher des Tubus konnte die Luft (zeitweise)
auch zum Oberlappen der rechten Lunge Zutritt erhalten. —
Wie in der Krankengeschichte bemerkt, besserte sich die
Ventilation des Kindes schon nach der ersten Untersuchung,
indem die forcierten Respirationsbewegungen eine Lage¬
veränderung des Knochenfragmentes bewirkten. Allem An¬
scheine nach wurde dieselbe noch durch das Eingehen mit
dem Katheter befördert. Nehmen wir sogar an, der Fremd¬
körper wäre durch diesen Eingriff allein aus seiner ur¬
sprünglichen Stellung gebracht, bzw. tiefer geschoben
worden, so hatte sich die Situation nicht verschlechtert.
Denn es wurde, wie schon angedeutet, durch die Lageverän¬
derung des Knochens ein günstiger Einfluß auf den Re¬
spirationsapparat, bzw. das Herz herbeigeführt, sO' daß der
definitive Eingriff bei gutem Allgemeinzustande des Kindes
ausgeführt werden konnte; außerdem machte sich während
der Operation selbst nur geringe Dyspnoe geltend, die leicht
zu beherrschen war. — Nichtsdestoweniger w<äre der Fall
auch bei gestörter Respiration, trotz stärkerem Wogen
des Arbeitsfeldes zu erledigen gewesen.
Es versteht sich, daß damit keineswegs dem hier he-
nützten Verfahren, mit. Hilfe eines eingeführten Katheters
eine Lockerung, Aspiration oder spontane Ausstoßung des
Fremdkörpers herbeizuführen, das Wort geredet werden soll.
Immerhin schien mir, als ich am ersten Tage auf eine .Ex¬
traktion mit Hilfe des schulgerechten Verfahrens verzichten
mußte, ein solcher Versuch gerechtfertigt zu sein, da der¬
selbe möglicherweise Erfolg haben und das Kind schon
mit diesem einfachen Hilfsmittel von seinem qualvollen und
gefährlichen Zustande befreit werden konnte. Dachte doch
niemand daran, daß es sich um ein Knochenstück von solcher
Größe und daher um eine so feste Verankerung handeln
würde, wie sich dies erst nach dem definitiven Eingriffe
herausstelltc. Daß hier eine spontane Expektoration des
Fremdköriiers ausgeschlossen war, braucht nicht betont zu
werden. Im allgemeinen wird man jedoch trachten, eine
unnötige Häufung endobroiichialer Eingriffe zu ver¬
meiden, da jede Einführung eines Instrumentes in die
tiefen Luftwege, al)gesehen von der hiebei notwendigen
Digitalexploralion, namentlich im Kindesalter die Gefahr
einer Infektion einschließt. Man wird bestrebt sein, bezüg¬
liche Fälle so r a sch als möglich mit den geeignetsten
Mitteln zu erledigen, ln meinem Falle war dies erst am
zweiten Tage nach dem Ereignisse möglich.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
801
Was die Literatur aiilangt, so kommen hier
nur diejenigen kälte in Betraclit, die sich auf die Aiters-
breite von Vs bis iVs Jahren beziehen, bei denen . die
obere Bronchoskopie, die Einführung eines geraden
Rohres im natürlichen Wege, zur Extraktion des Fremd¬
körpers benützt wurde. Zwei wertvolle Mitteilungen dieser
x\rt verdanken wir H. Neu may er fl904), während die
anderen Fälle, welche sich auf die in Rede stehende Alters¬
periode beziehen, P. Pieniäzek (1902), F. Nowotny (1905)
und S. Jankauer (1905), im Wege der unteren Methode,
nach Eröffnung der Luftröhre behandelt wurden und
daher schon in technischer Richtung auf einer anderen Stufe
stehen; die Ttacheotoimie beeinflußit außerdem auch die
Prognose des Falles in ungünstiger Weise. G. Gottstein
(1903) versuchte bei einem einjährigen Kinde, welches an¬
geblich die Schwanzflosse eines Herings aspiriert hatte,
zwar zunächst die Bronchoiskopia superior in Aethernarkose,
mußte aber bald davon Abstand nehmen, da die Dyspnoe
des Kindes zunalun; daher Tracheotomie und Einführung
eines Rohres (D. = 7 mm) durch die Wunde, ohne daß es
gelang, den Fremdköiirer aufzufinden. Bei der zweiten In¬
spektion, mehrere Tage später, gelang es, die Fischgräte
zu sehen, und mittels Pinzette zu extrahieren. Zirka drei
Wochen später wurde die Kanüle entfernt, Heilung.
Für uns besitzen, wie gesagt, nur die beiden Fälle von
N e u m a y e r Interesse.
In dem einen, ein ISmonatliches Kind betreffend, bei
welcliem Erscheinungen von rechtsseitiger Bronchostenose be¬
standen, konnte die endoskopische Untersuchung 36 Stunden nach
Aspiiation des Fremdkörpers ausgeführt werden. Chloroformnar¬
kose; nach mehreren Versuchen, bei denen der Tubus in die Speise¬
röhre ahgeglitten war, gelang es, das Instrument durch den Larynx
in die Trachea einzuführen. Beim weiteren Vorsc hieben des B obres
erkannte man im rechten Bronchus deutlich einen Fremdkörper,
der quer in der Lichtung lag und eine Strecke weit nach abwärts
zu reichen schien. Es gelang leicht, den Fremdkörper mit einer
scharfen Zange zu fassen und in den Tubus hereinzuziehen'.
Es handelte sich um einen Geflügelknochen von 1-5 cm Länge,
8 mm Breite und 2 mm Dicke. Zunächst Besserung der Atmung,
nach zwölf Stunden jedoch Symptome der Pneumonie, hohes
Fieber und 24 Stunden nachher Exitus letalis. Bei der Sektion
Bronchopneumonie des rechten, weniger des linken Unterlappens,
Vergrößeiimg des Thymus.
Noch wichtiger erscheint der zweite Fall. Derselbe
bezieht sich auf ein Kind von 9 Monaten, das ein Stückchen ge¬
kochtes Fleisch aspiriert hatte. Es kam bereits nach einer Stuiule
in Behandlung. Das Kind bot Stridor uiul Zyanose, die Stimme
rein. Als Neumayer zur Intervention erschien, war bereits
von seiten eines Chirurgen die Trachea behufs Inzision freigeiegt
worden. Das ■ Kind befand sich in Chloroformnarkose. Neu¬
mayer führte ohne Schwierigkeit einen Tubus in den Kehlkopf,
bzw. die Luftröhre ein und konnte sofort in der Tiefe derselben
den Fremdkörper erkennen, der am Eingänge in den rechten
Bronchus gelagert war. Derselbe wurde mittels Pinzette erfaßt
und durch den Tubus entfernt. Die Atmung sofort frei. Bei Be¬
sichtigung der Trachea und großen Bronchien nichts mehr von
einem Corpus alienum zu finden ; die bereits angelegte Weichteil¬
wunde am Halse wird vernäht. Das Kind bleibt fieberfrei, Stimme
rein. Heilung. *
Hier konnte mithin sogar bei einem neunmonatlichen
Kinde die Tracheotomie noch in letzter Stunde umgangen
und der Fremdkörper ohne besondere Schwierigkeit per
vias naturales entfernt werden. Leider ist in der bezüg¬
lichen Publikation nicht bemerkt, wie die Rohre dimensio¬
niert (Querschnitt) waren, welche Neu m a y e r verw endet
hat. — In meinem Falle lagen die Verhältnisse ungün¬
stiger. Handelte es sich dort um die Aspiration eines weichen
Fleischstückes von solchen Dimensionen, daß es, ebenso
wie der Knochen des ersterwähnten Falles von Neumayor,
durch den Tubus hindurch nach außen gezogen werden
konnte, sO' lag bei mir ein scharfkantiges Knochenstück von
auffallender Größe vor, bei dessen Extraktion, abgesehen
von der Schwierigkeit, das Gebilde überhaupt frei zu machen,
die Gefahr einer Läsion der tracheoHbronchialen Wand
eine bedeutende war. Zu beiden Seiten des Tubus ragten
die scharfen Ecken des Knochens vor und nur durch pein¬
liche Sorgfalt hei der Extraktion ließ sich eine Verletzung
der Teile vermeiden. Ferner war die Sachlage im Falle ,von
Noumayer durch den bereits begonnenen chirurgischen
Eingriff erleichtert, indem bei Versagen der oberen Alethode
rasch Abhilfe möglich war; das Kind war bereits chloro¬
formiert, die Luftröhre lag frei zur Eröffnung. Es konnte
mithin sofort durch die Trachealwand eingegangen werden.
Mir schien es wünschenswert, die Extraktion ohne Nar¬
kose zu bewerkstelligen, ich operierte ohne allgemeine An¬
ästhesie bei aufrechter Haltung des Kindes, was in tech¬
nischer Richtung schwieriger ist. Ich war jedoch von dem
Gedanken geleitet, dem Kinde nach Möglichkeit die Narkose
als eine, dem Organismus keineswegs gleichgültige Einwir¬
kung zu ersparen. Meine Erfahrungen hatten mich mehr
und mehr davon überzeugt, daß diese Forderung auch bei
Kindern des in Rede stehenden Alters durchführbar sei
und es selbst unter solchen Bedingungen wie hier gelingen
würde, mit möglichst einfachen Mitteln auszukommen.
Schien mir in meinem Buche (cf. S. 45 und 51), be¬
züglich der Vermeidung der Narkose hei Kindern, gerade
in Rücksicht auf die Fälle von Neu may er, sowie jene von
Siebenmann oder Garei, noch Reserve geboten, indem
ich selbst hei Kindern in diesem Alter, bzw. unter vier
Jahren, noch nicht zu intervenieren in die Lage gekommen
war, so konnte ich durch den in Rede stehenden Fall nun¬
mehr den Beweis erbringen, daß sich die allgeme-ino
Anästhesie auch im S äug ling s al ter umgehen läßt.
Daß dies, wenn der Eingriff dabei ebenfalls schonend be¬
werkstelligt werden kann, einen Gewinn bedeutet, braucht
heute, wo auf allen Gebieten der Chirurgie das Bestreben
besteht, die allgemeine Anästhesie zu vermeiden, kaum be¬
sonders betont zu werden. Ja, ich hin zur Ueberzeugimg
gelangt, daß es sogar gewisse Vorteile bietet, am
nicht narkotisierten Kinde zu operieren.
Die Betätigung der xAtemmuskulatur leidet in tiefer
Narkose, sie führt rascher zu asphyktischen Zuständen,
welche die Situation komplizieren. Ohne Anästhetikum atmet
das- Kind, durch die Reize angeregt, nur um so stärker und
kompensiert dieserart die schon durch etwaige Schleim¬
ansammlung bewirkte Stenosierung des trachealen Quer¬
schnittes. Es ist von Wert, bei bestehenden Reflexen zu
arbeiten; die Reaktion der Teile belehrt darüber, was man
denselben zumuten darf. Ferner läßt sich — dies gilt aller¬
dings für größere Kinder — die Atmung willkürlich beein¬
flußen, so daß man die Veränderungen des Kalibers bei
der In- und Exspiration ausnützen kann. Die Rückenlage
mit hängendem Kopfe, in welcher zumeist bei Anwendung
allgemeiner Narkose operiert wird, verursacht eine ver¬
mehrte Spannung der Teile und unter Umständen — wie
experimentell festgestellt ist — ■ eine Verengerung der Tra^
cliea in sagittaler Richtung (damit mag es übrigens auch Zu¬
sammenhängen, daßi größere Fremdköriier bei liegender Po¬
sition des Kindes relativ schwer herausgebracht wurden).
Allerdings läßt sich die Spannung durch richtige Haltung
des Kopfes von seiten eines geschulten Gehilfen vermin¬
dern. Bei aufrechter Position, am sitzenden Kinde, vermag
man aber auch den Gesamtzustand mit viel größerer .Sicher¬
heit ZU kontrollieren, indem der Gesichtsausdruck, die Färlre
der Haut und Lippen ein richtiges Urteil über das All¬
gemeinbefinden gestatten. — Ich glaube, ich würde in
meinem Falle, wenn wir das Kind narkotisiert gehabt hätten,
viel unsicherer vorgegangen sein und hätte nicht so ener^
gisch zugegriffen, als dies zur Extraktion erforderlich war.
Dadurch konnte möglicherweise die definitive Entfernung
des Fremdkörpers verzögert werden. Ebenso dürften die
Widerstände bei der Extraktion des Knochenfragmentes am
liegenden Kinde, bei überstrecktem Kopfe noch größere als
im Sitzen gewesen sein, wo ich dieselben bequem durch
geeignete Haltung des Kopfes mildern konnte. So waren
keine Täuschungen über den Allgemeinzustand (Re¬
spiration und Puls) möglich, ebenso' konnte ich mich über
den lokalen Effekt der eiuzelnen Maßnahmen genau unter¬
richten.
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
Die am nicht nar k o L i s i er t e n Kinde (.lurch Un¬
ruhe desselben hedinglen Schwierigkeiten lassen sich einer¬
seits durch richtiges Halten des Kindes, andererseits
durch entsprechende Führung des Tubus beseitigen. Der
Schwerpunkt hiebei liegt in der Detätigung der linken Hand.
Diese hat das Rohr zu lialten und zu dirigieren, die , durch
die Atem- und Hustenbeweguugen des Kindes bedingten
\Trschiebungen des distalen Rohrendes zu vermiudern, das
Wogen des Arbeitsfeldes durch abgestuften Druck auszu¬
gleichen. Dabei stützt die Hand den Oberkiefer, bzw. den
Kopf des Kindes und erleichtert die Ihiltung desselben. Ge¬
rade die bei dem hier besprochenen Falle gewonnenen Er¬
fahrungen haben gezeigt, daß man bei genügender Technik
auch ohne Narkose auskomme]i kann und sich eine hier¬
aus resultierende Schädigung des Organismus vermeiden
läßt. — Wir sind überzeugt, daß in meinem Falle, bei wel¬
chem bereits broncho'-pneumonische Prozesse in Entwick¬
lung begriffen, sowie die Atemmuskulatur und das Herz
durch das mechanische Respirationshindernis hochgradig
in Anspruch genommen waren ■ — man vergleiche die aus¬
gesprochenen Erscheinungen, die Einziehung der unteren
Rrustwand am 8. Oktober, dem ersten Beohachtungstage
— der Organismus und vor allem das Herz der durch
Chloroform verursachten Schädigung nicht mehr ge¬
wachsen gewesen wären. Der in seiner Funktion durch
die Mehrleistung bereits geschwächte Herzmuskel hätte die
kumulative Wirkung der beginnenden Entzündung (Infek¬
tion) und der Narkose nicht mehr überwunden. Diese hätte
hier entschieden den operativen Eingriff zunichte gemacht
und einen ungünstigen Ausgang des Falles herbeigeführt.
Schon Neumayer hat und, wie ich nach diesen Be¬
trachtungen nur nachdrücklich betonen kann, mit vollem
Rechte in der Epikrise zu seiner Beobachtung 1 bemerkt,
,,daß die Chlorofornmarkose, welche nicht umgangen werden
konnte, die Entwicklung der Pneumonie gefordert hat“, wo¬
durch dieser so schöne F;all letal endete. Es bedarf, glaube
ich, keiner weiteren Worte, um beweisen zu müssen, daß
es nicht Prinzipienreiterei von mir ist — wie ein
freundlicher Referent meines Buches kürzlich zu be¬
merken die Güte hatte — wenn ich mich bemüht
habe, ohne Narkose auszukommen, sondern daß für mich
nicht bloß deren Entbehrlichkeit in rein technischer
Richtung maßgebend, sondern auch das Wohl der meiner
01)hut anvertrauten Patienten bestimmend war. Daß es
auch schließlich eleganter ist, wenn sich der gleiche
Effekt mit weniger Mitteln erreichen läßt, wird nie¬
mand bezweifeln.
In diesem Zusammenhänge ist noch darauf aufmerk¬
sam zu machen, daß im Falle meines 10 Monate alten
Kindes zur abschließenden Untersuchung, bzAv. zur Ex¬
traktion, auch kein T.okalanästhetikum in Anwen¬
dung kam. AVohl wurde vorher, als die notwendigen in¬
strumenteilen Behelfe noch nicht alle bei der Hand waren,
eine einmalige Pinselung des Pharynx und Kehlkopfein¬
ganges mit lOo/oiger Kokainlösung vorgenommen, der Ein¬
griff aber erst drei A^'iertelstunden später ausgeführt, so
daß von einer nachträglichen Wirkung des Medikamentes
kaum gesprochen werden kann. In die Trachea und die
Bronchien wurde überhaupt kein Anästhetikum eingebracht ;
ebenso erschien es mir unzweckmäßig, das Arljeitsfeld mit
Kokain-Adrenalin zu betupfen, in der Absicht, etwa diellyper-
hämie und Schwellung der Schleimhaut zu beseitigen, da
hier die feste ATuaiukerung des Fremdkörpers bei der Größe
und Beschaffenheit desselben durch die Ouerspannung der
gesamten Bronchialwand verursacht war. Die Anwendung
von. Ad renalin hätte sogar zu Täuschungen führen können,
indem eine Hämorrhagie trotz Verletzung der Schleimhaut
ausbleiben konnte. So aber durfte, als ich mich wieder¬
holt überzeugt hatte, daß es nach Anwendung des Aspira-
lionsschlauches und nach Erfassen des Knochens nicht
blutete, getrost stärkerer Zug angebracht werden, um den
Knochen zu lockern, l)zw. herauszubringen. Die Reflexe
des Tracheo-Bronchialrohres gaben somit auch ohne die
Benützung von Kokain kein Hindernis für ein präzises Ar¬
beiten im Bronchialbaume ab; ich war überzeugt, durch
meine vorsichtig rüttelnden Bewegungen nichts verletzt zu
haben. Uehrigens wird ja von den meisten Untersuchern
betont, daß die das Operieren erschwerende Reflexerreg¬
barkeit der Bronchialschleiiuhaut häufig trotz tiefer Nar¬
kose und gleichzeitiger Amrwendung von Kokain fortbesteht.
Die allgemeine und lokale Anästhesie bietet demnach in
dieser Richtung keinen Aborted. Hier wäre weiters zu be¬
merken, daß, wie ich mich nunmehr des öfteren selbst ül)er-
zeugt habe, die sensible Reflexerregbarkeit der Rachen¬
gebilde, sowie der Tracheo^Bronchialschleindiaut bei Kin¬
dern der ersten Lebensjahre gegenüber dem A'erhalten älterer
Individuen an Intensität zurücksteht. Auch bei dem in Rede
stehenden Falle bestand während der Arbeit im rechten
Bronchus nur geringer Hustenreiz, ebenso' fehlte stärkere
Schleimsekretion. Hofrat Es eher ich teilte mir in diesem
Zusammenhänge mit, daß auch auf Grund anderweitiger
Erfahrungen, wie bei der Vornalmie von Magenspülun¬
gen u. a., bei Säuglingen eine gegenüber dem späteren
Kindesalter entschieden geringere reflektorische Erregbar¬
keit auf taktile Reize aiizunehmen ist. — Es Ijesteht hier eine
gewisse Analogie mit dem Greisenalter, wo ja ebenfalls
die Reizbarkeit gegenüber jener in den mittleren Jahren
zurücksteht. ^^0
Die djirch das Schlucken, das Husten und Pressen
des nicht narkotisierten Kindes verursachten Bewegun¬
gen des Tubus lassen sich, wie schon gesagt, durch
richtige Betätigung der linken Hand ausgleichen. Ebenso
bereitet die Einführung eines mit einem weichen Man¬
drin armierten Rohres in den Kehlkopf auch ohne die Be¬
nützung von Kokain keine Schwierigkeiten. Vlühe macht
es gegebenen Falles nur mit der Kuppe des Zeigefingers
der linken Hand, um die oft stark nach rückwärts geneigte,
kelchförmige Epiglottis der Kleinen herum zu kommen und
nicht in den Rachen zu gleiten. Ich lege Gewicht darauf,
stets ohne metallenen Fingerling, welcher das Tast¬
gefühl beeinträchtigt, in den Rachenraum einzugehen. Auch
vermeidet man dieserart A^’erletzungen der Mund- oder
Rachenschleimhaut. Ich begnüge mich mit einem dicken
Heftpflasterstreifen, den ich auf der Dorsalfläclie meines
Fingers anbringe.
Ich füge dem noch in Kürze bei, daß ebenso' wie iZur
direkten Besichtigung der Luftwege auch zur Oesophago-
skopie im K i n d e s a 1 1 e r a 1 1 g e m e i ne u n d 1 'O k a 1 e A n-
ästhesie entbehrlich sind.
Schon L. Ebst'cin (1898) hat ein Sjähriges Kind ohne Nar¬
kose Ösophagoskopisch hehandelt. Kausch berichtete über eine
bezügliche Untersuchung ohne Benützung von Kokain — hei einem
5jährigen Knaben. So hatte ich selljst wenige Tage nach der Extrak¬
tion des Knochenslückes h(ü dein in Rede stehenden! Alädchen M. S.,
elmnfalls iin St. Annen - Kinders])it.ale in Wien, Gelegenheit, die
direkte Inspektion der Luft- und Speiseröhre Ijei einem 23 Monate
allen Knaben R. I. durchzuführen, hei welchem Erscheinungen
der Trachealstenose Unbekannter Natur ausgeprägt waren.
Ohne Anwendung von Kokain wurde in sitzender Stellung
ein Rohr von 6 mm durch die Stinunhänder durchgeschoben
und ca. 1-5 cm unter der Glottis das Bestehen einer
queren Slenosierung der Lnftiöhro festgeslollt ; es bestand starke
Schwellung der Schleimhaut, namentlich im Bereiche ihrer hin¬
teren Wand, die Zeichnung der Ringe verwischt. Ebenso winsle
der Oesophagus bis zur Kardia ah gesucht und daselbst nor¬
maler Befund festgestellt. Nach dieser Untersuchung, sowie (dner,
mehrere 'tage später vorgenoimnenen, neuerlichen Bi'sichligung
der Trachea keinerlei Reaklionserscheinungen, kein Oedem der
Epiglottis oder der Schleimhaut über den .\ ryknorpeln. Der be¬
züglich seiner Aetiologie nicht hinreichend klargestellte Fall —
vielleicht handelh' es sich, wmun wir bei dem iMangel lueliscdier
Antezedenzien mit Di’. L. Je hie da.ciden, um eine auf der Basis
von Diiihtlieritis bestandene, entzündliche Schwellung der Tracheal-
schleimhaut — endete mit Heilung.
So konnte i(di erst wiialer vor wenigen 'ragen liei einem
noch ni(dd ßjähiigen Kinde, hei welchem eine Sfriktur d (' r
Speiseröhre durch Laugenverälzung bestand, die Oesophago-
•®) Konf. u. a. mein Buch 1. c., S. 39.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
8ÜÜ
skopie üline jedes weilere Hill'siiiillel, ohne Kokain, aLisführen
und die verengle Stelle (18 cm von der Zalnireilie) in aller
Hnhe den .Vnwesenden (hmionslrieren. Das Kind, in ein Lein¬
tuch eing(diüllt, wurde wieder von einem (iehilt’en aut’ den Schoß
geiiommen, der Kopf von einem anderen gehallen; der Tubus
ließ si(di glatt linlcu' Leitung des Fingers in den Pharynx, hzw^ in
die Speisei'tdire einführen. Vorgehen uulcr Kontrolle des Auges,
Ahsaugen des Schleimes, Festslellung der slenosierten Partie,
ihrer borin und Ausdehnung nach. Hier hatte wohl niemand
die Lm])findung, tlaß die Unlersuchung für das Kind ([ualvoll
gewesen sei. — Von meinen Erfahrungen (Oesophagoskopie wegen
Freimlkörpern) hei Kindern über 4 bis 5 Jahre sehe ich
hier vollsländig ab.
Wie wertvoll ist es doch, wenn die Kleinen gleich
nach einem bezüglichen Eingriffe hei vollem Wohlbefinden
die Anstalt verlassen, als oh sich nichts Besonderes zuge¬
tragen hätte, während nach Anwamdnng der Narkose weitere
Ueberwachung des Kindes n. a. erforderlich sind.
Doch beschränken wir uns auf die Technik der
direkten Inspektion der Luftwege. Nach den ge¬
machten Erfahrungen werden wir die Narkose nicht
als eine notwendige Vor a u s s e t z u n g f ü r d ie o h e r e
Bronchoskopie hei kleinen Kinde r n ansehen . Ich
habe das Richtige getroffen, wenn ich in meinem Buche
(S. 51 und 52) die Hoffnung aussprach, daßi man, ent¬
sprechende Dexterilät des Operateurs vorausgesetzt, gelbst
unter diesen Umständen ohne allgemeine Anästhesie aus-
kommen dürfte. Ich werde daher auch in Zukunft zum
Wohle der meiner Behandlung an vertrau len Patienten trach¬
ten, nach Möglichkeit die Narkose zu umgehen, um deren
keineswegs gleichgültigen Einfluh auf den Gesamtorganis-
miis zu vermeiden. Dieses bisher von mir in meinen sämt¬
lichen fällen beobachtete Verhalten erscheiid. mir jeden¬
falls schonender, als beispielsweise ein siebenjähriges
Kind dreimal innerlialh der Zeit von 16 Tagen der liefen
Chloroformnarkose in der Dauer von etwa drei Viertel¬
stunden, unter gleichzeitiger Venvendung von Kokain, aus-
zuselzen, um ein vor SVa Monaten aspiriertes Zinnpfeifchen
zu extrahieren. Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn, ich
behaupte, daß sich auch hier trotz der übrigen Schwierig¬
keiten des Falles durch Gewöhnung, heziehungs-
weise Schulung des Kindes der gewünschte Effekt hätte
erreichen lassen. — Die Narkose soll, so selbstverständ¬
lich dies vielleicht klingt, nicht Betpiemlichkeits- oder Be-
ruhigungsmittel für den Arzt .sein, sondern nur dann heran¬
gezogen 'werden, wenn sie zum Heile des Patienten, fje-
ziehungsweise zum Gelingen des Eingriffes unhedingt
erforderlich ist.
Gerade hei Kindern in den ersten Lebensjahren,
die man gut am Schoße eines Assislenlen placieren und ge¬
nügend zu halten vermag, scheint mir allgemeine Anästhesie
entbehrlich zu sein. Eher kann sich dieselbe hei Kindern
im mittleren Alter notwendig erweisen, die besonders un¬
gebärdig, nicht zu beruhigen sind und hei denen schon
mit Rücksicht auf die Umstände des Falles — Aspiration
eines quellbaren Fremdkörpers, der rasches Handeln
erheischt, Sitz desselben in der Trachea u. a. — eine Ge¬
wöhnung und entsprechende Schulung ausgeschlossen ist.
Auch auf die lokale Anästhesie wird man häufig
verzichten können. Wissen wir ja, welch geringen
Nutzen die Anwendung v<m Kokain oder seiner Ersalz-
niiilel, z.B. hei der Entfernung vonPapillomen des Kehlkopfes
im frühen Kindesalter besitzt, indem die Würg- und
Hustenbewegungen, sowie die massenhafle Schleinisekre-
tion, die ja gerade hier störend sind, durch das genannte
Mittel nicht beseitigt werden. Außerdem aber erscheint die
Verwendung von Kokain für die Trachea und Bronchien
in dem in Rede stehenden Aller nicht unl)edenklich. Denn
nicht bloß bei der Benützung des Anästheliknms in Spray¬
form, die gewiß zu verworfen ist, sondern aueb nach dem
Betupfen der entsprechenden Schleimhäute sind bereits und
zwar vier Todesfälle iiacb der Bronchoskopie hei Kindern
vorgekommen, welche von den betreffenden Autoren (Lindt,
Elctchor-Ingals, Schnii gelow’®) seihst auf die Ko-
kainintoxikalion bezogen wiirdeii. Allerdings war in diesen
Fällen gleicbzeilig auch allgemeine Anästhesie herangezogen
woi'den. Die Erscheinungen der Kokainvergiflung traten
nach dem Ifrwachen aus der Narkose aid'. — .ledentalls
ist bei der Verwendung von K^o k a i n z u o n d o s k o p i s c h (; n
Zwecken in den ersten Lebensjahren besondere Vor¬
sicht geboten, besser noch, wenn man auch ohne diese
Hilfsmittel auskommen kann.
Ueherhlickt man die Verhältnisse, wie sie in dem he-
sprochenen Falle (M. S.) durch das Alter des Kindes, den
Sitz und die Beschaffejdieit des Knochens gegeben waren,
der ohne allgemeine Narkose extrahiert wurde, so dürfte,
wenn rechtzeitiges Einschreiten möglich ist, in der Xüt
kaum ein Fremdkörperfall vorkoinmen, der sich mittels der
direkten oberen Methode nicht in befriedigender Weise be¬
herrschen ließe. Daß mir die Extraktion hei yorhanden-
sein eines geeigneten Rohres auch schon am ersten Tage
gelungen wäre, glaubte ich bereits andeuten zu dürfen.
Wo es nur immer bei genauer Würdigung der ganzen
Sachlage angeht, wird man, und darin möchte ich Neu-
mayer^^) gegenüber von v. Eicken und Gottstoin bei¬
stimmen, sich hestreben, die obere Bronchoskopie,
durch den Larynx hindurch, auszuführen. xVueh Fremd¬
körper besonderer Dimensionen müssen schließlich, wenn
sie die Glottis passieren konnten, auf gleichem Wege her¬
auszubefördern sein, woferne sie nicht, wie etwa Bohnen
oder yiaiskörner, ihr Volumen vergrößern oder sich be¬
reits sekundäre V^eränderungen irn Kehlkopfe eingestellt
haben. Daß hei schwerer Dyspnoe, wie im Fälle einer
V^crkeilung des Fremdkörpers in der Luftröhre, die Trar
cheotomie indiziert ist, woran sich die direkte lnspek¬
tion von der Wunde aus anschließen wird, bedarf keiner
Betonung.
Schließlich lassen sich allgemeine Regeln immer nur
in beschränktem Maße aufslellen. xVeußere Umstände, so¬
wie subjektive Momente werden ja auch auf diesem opera¬
tiven Gebiete stets eine Rolle spielen. Auch hier wird ein
sorgfältig individualisierendes Vorgehen unter den
jeweils gegebenen Umständen am sichersten zu einem er¬
folgreichen Ergebnisse führen.
Fasse ich nochmals zusammen, so gelang es mir
bei eine m K) M o n a t e a 1 1 e n K i n d e, d u r c h ä u ß e r e
Umstände (Fehlen eines Trd)us von entsprechenden Di¬
mensionen) um einen Tag verzögert, ein scharf¬
kantiges Knochenstück von auffallender Größe
(Dimension 9X11 mm), das sich schließlich an de r
Teilungsstelle des rechten Bronchus ver¬
ankert hatte, im Wege der oberen Methode
(Tubus von 5 mm Durchmesser und 18 cm Länge, Pinzette)
ohne Narkose, ohne Lokalanäs tfies i,e mit Sicher¬
heit und schonend zu entfernen; Erscheinungen
von Bronchopneumonie mäßigen Grades, Hei¬
lung. '
Ich möchte nicht schließen, ohne Herrn Hofrat Esche-
rich für die freundliche Ucberlassung dieses interessanten
Falles zu danken, der, wie ich annelimen darf, für die
Technik der bronchoskopischen Extraktion nicht ohne
Wert ist.
Ich zitiere hier nur den letztgenannten Autor: Sitzungsbericht
dos dänischen oto-laryngologischen Vereines vom 17. Dezember 1906;
siehe Monatsschrift für Ohrenheilkunde 1907, Nr. 4, S. 221.
S. 3 des Separatabdruckes seiner Arbeit 1. c.
I^eferate.
Deskriptive Biochemie mit besonderer Berücksichtigung
der chemischen Arbeitsmethoden.
Von Dr. Siegmuud Friiukl, Priv.-Doz. für medizinische Chemie an der
Wiener Universität.
639 Seiten. Wiesbaden, Verlag von J. F. Bergmann.
Das vortiegemte Werk uiuiäßt die Besclireilamg der physio¬
logisch wichtigen. Substanzen, ihrer Darstellungs-, Isolierungs- und
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
quantitativen Bestimnrung.smet.lioden. ,,AVas der physiologisclien
Chemie a.m meisten fehlt,“ sagt der Autor in seiner V'^orrede, „ist
gleicLsam eine chemisclie Anatomie der Gewehe, insbesondere
aber eine chemi.sche Histologie. In den letzten .Jahren hat aber
das planmäßige Studium der physiologisch wichtigen Substanzen
so überraschend große Fortschritte gemacht, daß es für eine Dar¬
stellung der physiologischen Chemie zweckmäßig ist, diese Dis¬
ziplin in einen chemisch-anatomischen und chemisch-])hysiologi-
schen, resp. einen statischen und dynamischen Teil zu trennen.
Dieser Versuch wij’d in dem vorliegenden Werke gemacht.“
Der Autor hat mit großer Umsicht und Sachkenntnis sich der
außerordentlich mühevollen Aufgabe unterzogen, alles auf dem
in dieser Weise begrenzten Arbeitsgebiete angehäufte IMaterial
zu ordnen und zu sichten. In den bisher vorliegenden Lehr¬
büchern der physiologischen Chemie kann naturgemäß der rein
deskriptive Teil dieser Wissenschaft nur in seinen Hauptzügen,
nicht aber mit der Ausführlichkeit eines Handbuches behandelt
werden; und auch das von Thierfelder vor mehreren Jahren
neubearbeitete Hoppe- Seyl ersehe Handbuch der physiologisch-
chemischen Analyse entspricht, abgesehen davon, daß es von
anderen Gesichtspunkten aus aufgefaßt ist, heute nicht mehr
den Anfordemngen an ein Handbuch, welches den allerneuesten
Fortschritten der Wissenschaft Rechnung trägt.
So füllt denn das Werk Fränkls eine Lücke in der Literatur
aus und wird sich sicherlich schnell in den physiologisch-
chemischen Laboratorien einbürgern. Jeder auf diesem Gebiete
praktisch Tätige wird dem Autor für dieses klar und präzis ge¬
schriebene und durch die Fülle des darin enthaltenen Materiales
doppelt Avillkommejie Nachschlagebuch Dank wissen.
0 1 to V. F ü r t h - Wien.
*
Die wirtschaftlich wichtigen Zecken mit besonderer
Berücksichtigung Afrikas.
Von H. Döniiitz.
Mit 38 Abbildungen auf 6 Tafeln.
Leipzig 1907, Verlag von Job. Amb. B a r t b.
Der Mangel zusammenfassender Werke über die Zecken
veranlaßte das Erscheinen des Buches. Hervorgegangen aus eigenen
Untersuchungen, die sich zunächst nur auf die Zecken der afri¬
kanischen Schutzgebiete Deutschlands erstreckten, dann aber auf
die Zecken von ganz Afrika sich ausdelmten, behandelt das Buch
in eingehender tVeise nur die wirtschaftlich wichtigen Zecken-
ai'ten, die als Ueberträger verderblicher Viehseuchen bekannt sind ;
die übrigen Arten sind nur kurz behandelt, ebenso auch die
amerikanischen Arten, während die Zecken von Asien und
Australien überhaupt nur soweit berücksichtigt werden, als sie
auch in Afrika Bedeutung haben.
Das Buch erörtert im allgemeinen Teile die Stellung der
Zecken im Systeme, ihre Terminologie und ihren inneren Bau,
sodann die Biologie Und Kopulation, ihr Vorkommen, die für
sie in Betracht koanmenden Wirtstiere und den Einfluß des Klimas
auf die Zeckenfauna. Den Schluß <les allgemeinen Teiles bildet
ein Ueberblick über das System der Zecken.
Im speziellen Teile werden zutiächst die Genera und Artei»
der heiden Familien : Argasinen und Ixodinen nach den oben
gegebenen Gesiebtspunkten besprochen, sodann die durch die
Zecken verursachten Krankheiten, die Spirillosen und Piroplas¬
mosen und ihre Bekämpfung. Den Schluß des zweiten Teiles
bilden zwei Tabellen zur Bestimmung für die Genera und Arten.
Das Buch besitzt alle Vorzüge eines klar gesebriebenen
Werkes, das {hm Zweck verfolgt, nicht nur dem Fachmanne zu
dienen, sondern auch jenem Teile der Mediziner, die diesem
wiclitigen Gebiete Interesse entgegenbringen.
*
Die blutsaugenden Dipteren.
Leitfaden zur allgemeinen Orientierung mit besonderer Berücksichtigung
der in den deutschen Kolonien lebenden Krankheitsüberträger.
Von K. Grliiiberg.
Mit 127 Abbildungen im Text,
Jena 1907, Verlag von Gustav Fischer.
Ir. knapper und übersichtlicher Darstellung werden in dem
Buche alle als Blutsauger bekannleu Diplerengruppen besprochen.
ni.;se zu.^ammenfassende Darstellung war ein Bedürfnis, da bis
her nur die Familien der Culiciden und Glossinen eine ein¬
gehende BearheitUiig erfahren hatten.
Besoirders berücksichtigt werden in dem, Werke die wich¬
tigsten der in den deutschen Kolonien vorkommenden Arten.
Dem deutschen Tropenarzte vor allem ist dadurch Gelegenheit
gegeben, )Sicb rasch zu orientieren.
Im allgemeinen Teile bespricht Grünberg die Anatomie
und die Entwicklung der Dipteren, im sbeziellen Teile bringt
er zunächst eine Uebersicht über die Gruppen und Familien
der Dipteren mit ihren Unterfamilien, Gattungen und Arten. Am
Schlüsse eines jeden Kapitels über die einzelnen Familien finden
sich Literaturangaben. Am breitesten behandelt ist die arten¬
reiche Familie der Stechmücken (Culicidae), die ja auch für
den Mediziner besondere Bedeutung bat.
Zusammen mit dem Werke von Dönitz über die Zecken
hat das Buch von Grünberg eine in der medizinischen Literatur
bestandene Lücke ausgefüllt. Es wird schon deshalb, ganz ah-
geseben von seinen anderen Vorzügen, freundlich aufgenommen
werden.
*
Taschenbuch der mikroskopischen Technik der Protisten¬
untersuchung.
Von S. T. Prowazek.
Leipzig 1907, Verlag von Job. Amb. Barth.
Nach allgemeinen Erörterungen über die mikroskopische
Untersuchung behandelt Prowazek zunächst die sogenannten
Vitalfarbstoffe und die Darstellung der Kernsubstanzen, um in
einem speziellen Teile alle gebräuchlichen Alethoden der Dar¬
stellung zu bringen, die für die einzelnen Klassen der Protozoen
mit ihren Ordnungen und Arten in Betracht kommen.
Das Taschenbuch ist für den Mediziner geschrieben, wes^
halb vor allem die pathogenen Protozoen Berücksichtigung finden,
ohne daß {lie nicht pathogenen Arten vernachlässigt werden;
Der Name des Autors allein bürgt für die Güte und Brauch¬
barkeit des handlichen Taschenbuches.
*
Atlas und Grundriß der Bakteriologie und Lehrbuch
der speziellen bakteriologischen Diagnostik.
Von K. B. Lelimauu und B, 0. Neumann.
Teil I: Atlas.
Vierte umgearbeitete und vermehrte Auflage.
München 1907, Verlag von J. F. Lehmann.
Gegenüber der dritten Auflage hat die vorliegende vierte
eine teilweise Umarbeitung und eine wesentliche Vermehrung
ihres Inhaltes erfahren. Neu sind zunächst zwei diagnostische
Tafeln : die eine zeigt verschiedene Typen von Plattenkolonien
in Gelatine, mit den dazu gehörigen Abbildungen der mikro¬
skopischen Präparate, die andere die verschiedenen Typen der
Stichkulturen in Gelatine, außerdem eine xlhbildung von Gekitinc-
plattenkolonien einiger Hefe- und Schimmelpilze. Besser gelungen
ist sicher die zweite Tafel, die erste bedarf einer Verbesserung,
einer schärferen Ausarbeitung der einzelnen Typen. Neu sind
ferner: eine Tafel mit den Wachstumstypen verschiedener Strepto¬
kokken und Kokken auf Blutagar und mehreren Abbildungen des
Menningokokkus, eine Tafel mit Plattenkolonien des Bacterium
typhi auf den Nährbö{len von v. Drigalski, Endo und Löffler,
('ine Tafel mit Abbildungen verschiedener Hefe- und Schimmel-
liilzformen, Abbildungen des Streptococcus mucosus, von Kala-
hazar, Hundepiroplasma und Trypanosomenformen (Tryp. Levisi,
Brucei und gambiense), sowie eine sehr fein durchgeführte Tafel
mehrerer Spirochätenarten (Zahnspirochäte, Spirochäte bei Angina
Vincenti, Rekurrensspirochäte, Hühnerspirochäte und Spirochaete
pallida).
Die alten Tafeln haben fast alle eine mehr oder minder
weitgehende Umarbeitung erfabren, indem weniger instruktive
Ahhildungen eliminiert, dafür neue aufgenommen wurden. Hervor¬
zuheben ist diese Umarbeitung bei den Tafeln des Streptococcus
pyogenes, der Sarcina tetragena, des Bacterium typhi, des Bac¬
terium murisepticum, des Bacillus anthracis, mycoides und vul-
gatus, des Vibrio cholerae u. a. Besonders anerkennenswert er¬
scheint dabei auch das Bestreben der Autoren, die vielfach grellen
und dadurch unnatürlichen Farben der ersten Auflagen ahzu-
tönen, die Abbildungen diskreter, feiner durchzufübren.
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WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
8Üö
Dio neue Auflage lial: deiunacli uiclit mir an Tnliall ge¬
wonnen, sonilorn auch in der Ausführung Forlscliril.te gemacht
und damil. ein Anreclit erworben, die Zahl der Freunde dieses
Lehrbuches rasch zu vermehren.
*
Praktikum der Bakteriologie und Protozoologie.
Von K. Kißkalt und M. Hartmann.
Mit 89 teils mehrfarbigen Abbildungen im Text.
Jena 1907, Verlag von Gustav Fischer.
Das Buch soll zur Ausbildung des Mediziners in der
Protistenkunde bestimmt sein, dabei aber nicht den Zweck ver¬
folgen, die schon vorhandenen Lehrbücher der Bakteriologie zu
ersetzen. Es zerfällt in zwei Teile, in ein Praktikum der Bak¬
teriologie Und in ein Praktikum der Protozoologie. Der erste Teil,
von Kißkalt verfaßt, soll den Älediziner befähigen, sich auf
dem Gebiete der Bakteriologie die grundlegenden Kenntnisse an¬
zueignen und ist so eingerichtet, daß in Form eines Kurses in
der Dauer von 00 Tagen, bei einer täglichen Arbeitszeit von
zwei bis drei Stunden, die wichtigsten Methoden und Tatsachen
der Bakteriologie durchgenomnien werden. Die Einteilung des
Stoffes hält sich nicht an das System der Bakterien, ist vielmehr
eine willkürliche, jedoch von dem Plane geleitet, in der ersten
Hälfte des Kurses die einfachen, in der zweiten Hälfte die schwie¬
rigen Methoden durchzunehmen.
Der zweite Teil, von Hartmann verfaßt, soll dem Mediziner
theoretisch und praktisch mit den wichtigsten Protozoen bekannt
machen und ist in allgemeine, technische und spezielle Abschnüte
eingeteilt. Nach einer allgeiuieinen lieber, dcht tiher Bau uml Ent¬
wicklung der Protozoen und einem kurzen Ueherblicke über das
System der Protozoen, bespricht Hartmann in klarer und leicht
verständlicher Form die wichtigsten pathogenen und nicht patho¬
genen Arten der Ordnung Amöhina, der Flagellaten, Kokzidien,
Gregariniden und Ziliaten.
Die praktische Bedeutung der Protozoen für die Medizin
ist beute bereits eine große, ihre Kenntnis daher notwendig. Der
Gedanke, die Bakteriologie und Protozoologie nach Art des vor¬
liegenden Buches vereint zu behandeln, ist sicher ein guter, das
Erscheinen des Buches also von diesem Standpunkte aus zu
hegmßen. Unrichtig erscheint dem Referenlen jedoch die Un¬
gleichheit in der Behandlung des Stoffes: im ersten Teile die
Forderung der strikten Absolvierung eines täglichen Arbeits¬
pensums, im zweiten Teile die Freigabe der Arbeitseinteilung.
Ob diese oder jene Art vorzuziehen sei, ist wohl Geschmackssache.
Dem Referenten würde der im zweiten Teile des Buches ein¬
geschlagene Weg besser gefallen. Er bat den großen Vorzug der
Uebersichtlichkeit und erzieht zur Selbständigkeit.
t\. Ghon.
♦
Lehrbuch der Mikrophotographie.
Von Dr. R. Neuhauß.
Dritte umgearbeitete Auflage.
Leipzig 1907, Hirzel.
Wer sich mit mikrophotographischen Arbeiten beschäftigt,
der kennt das vorzügliche Buch Neuhauß’, das nun in dritter,
umgearbeiteter Auflage erschienen ist. Die Darstellung des Stoffes
ist eine erschöpfende. Es werden zunächst die den verschiedenen
Zwecken angepaßten mikrophotographischen Apparate und ins¬
besondere das Objektiv und Okular besprochen. Es folgt eine
Dai'stellung der verschiedenen Lichtquellen und Bcleuchtnngs-
arten und endlich die Herstellung des negativen und positiven
Bildes. In allen Abschnitten wird die Geschichte der Mikrophoto¬
graphie eingehend berücksichtigt und auch die neuere Literatui’
ausgiebig zitiert. Daß der jüngsten Errungenschaft auf dem Ge¬
biete, der Aufnahme mit ultraviolettem Lichte, ein eigenes Kapitel
gewidmet ist, versteht sich von selbst.
Bei der Durchsicht des vorliegenden Werkes kommt man
angesichts der Summe des eifordeitichen technischen Könnens,
zur Feberzeugung, daßi es nicht jedermanns Sache sei, gute Mikro-
photogrannue herzustellen. Die meis'.en werden daher wohl darauf
angewiesen sein, sich dieselben vom S])ezialisten anfertigen zu
lassen. Wie ein Präparat beschaffen sein muß, um ein brauch¬
bares Bild zu liefern, wird dem der Mikrophotographie ferner
Stehenden eingehend auseinandergesetzt. Ebenso werden die ver¬
schiedenen, zum Zwecke der Publikation erforderlichen Repro-
duktions- und Vervielfältigungsverfahren (Autotypie, Lichtdruck,
Heliogravüre) besprochen und an der Hand dreier, vorzüglicher
Täfeln ihre Vor- und Nachteile dargelegt.
Neuhauß’ Lehrbuch der Mikrophotographie kann jeder¬
mann aufs wärmste empfohlen werden. J. Erd heim.
Aus Verschiedenen Zeitschriften.
323. (Aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte und der Uni¬
versitätsklinik für Hautkrankheiten in Rerliii:) Unter¬
suchungen über die Wirkung des Atoxyls auf die
Syphilis. Von Dr. P. Uhlenhuth, Dr. E. Hoffmann und
Dr. K. Ptoscher. Nachdem Reobachtungen an Tieren gelehrt
hatten, daß das Atoxyl auf Trypanosomen und Spirochäten eine
eklatante Wirkung zeige (Uhlenhuth, Groß, Ri ekel), wurden
Versuche an mit Syphilis infizierten Affen gemacht, welche derart
aufmunteriid ausfieleu, daß nun auch therapeutische Versuche an
syphilitischen Menschen angestellt wurden, anfangs in vorsichtiger
Weise, unter Aufsicht des Geheimrates Prof. Dr. Lesser. Man
injizierte geringe Dosen Atoxyl und erzielte keinen Heileffekt.
Da erschienen die Mitteilungen von Paul Salmon in Paris, wonach
Atoxyl in großen Dosen „vollständige Heilung“ der Syphilis be¬
wirken solle. Es wuirden nunmehr elf Kranke, welche mit pri¬
mären oder sekundären Erscheinungen der Lues behaftet waren,
mit Atoxyl injiziert und nun waren die Erfolge von befriedigender
Art. In zehn Fällen wurden die Injektionen mit einer lOToigen
(pro Injektion 0-50 g Atoxyl), in einem Falle mit einer löToigen.
zwei Minuten bei 100'^ sterilisierten Lösung intramuskulär in
die Glutäen vorgenom'men und teils täglich, teils mit ein- und
zweitägigen Intervallen wiederholt. Jetzt werden alle zwei, später
eventuell alle drei Tage die Injektionen wiederholt. Ueber 0-60 g
pro do'si gingen die Verfasser nicht hinaus. Nur ab und zu kurze
Zeit andauernde Schmerzen an der Einspritzungsstelle. Vier
Kranke litten an kolikartigen, heftigen, mit Appetit- und Schlaf¬
losigkeit einhergehenden Schmerzen, einer an Durchfallen, einer
an Albuminurie mit Zylindern und roten und weißen Blutkörper¬
chen im Sediment. Sonst befanden sich die Kranken wohl und
nahmen sämtlich an G-ewicht zu. Besonders eklatant war die
Wirkung des Atoxyls in drei Fällen von Syphilis ulcerosa praecox
(maligne Syphilis), wo der Rückgang der Infiltration des Ge¬
schwürrandes, die Abflachung und die Vernarbung der Ldzera-
tionen ebenso schnell erfolgten, wie hei der Kalomelbehandlung.
Zwei Fälle waren früher gegen eine Quecksilberhehandlung
i^efraktär gewesen. Sehr gut war die Wirkung auch auf die lokal
nur indifferent behandelten Primäraffekte; die Schanker über¬
häuteten sich verhältnismäßig rasch, die Härte verschwand.
Auch die Frühsyphilide haben auf das Mittel deutlich reagiert,
jedoch, besonders bei den papulösen Exanthemen, scheinbar lang¬
samer als bei einer 'Quecksilherbehandlung. Die Schleimhaut-
ersebeinungen verhielten sich ähidich, hier wurde außerdem
(ebenso hei den frambösiformen Ulzera tionen) auch lokal mit
einer AtoxyllösUng gepinselt; diese lokale Behandlung, .eventuell
auch in Salbenform, wird fortgesetzt werden. Ueber weitere Er-
fabrungen soll später mitgeteilt werden. Jetzt schon läßt sich
sagen, daß Atoxyl in genügend großen Dosen auf syphilitische
Krankheitserscheinungen eine unverkennbare Wirkung besitze,
welche bei den malignen Formen besonders eklatant hervorge treten
ist. Eiu abschließendes Urteil über den Wert des Atoxyls an Stelle
und neben den altbewährten Quecksilber- und Jodpräp'araten wollen
die Verfasser noch nicht abgehen. (Deutsche med. Wochenschrift
1907, Nr. 22.) — Auch Prof. 0. Lassar berichtet unter dem Titel :
Atoxyl hei Syphilis, über seine Erfahrungen mit diesem
Mittel. Es ist keineswegs ein indifferentes Mittel, bei längerem
Gel)raucbe tritt eine evidente kumulative Beeinflussung in die
Ersebeinung; Störungeti im Befinden erfordern die sofortige
Sistierung des Gebrauches. Im Vereine mit Dr. Theodor iMayer
hat der Vertäsiser mehr als' 52 Patienten, zum Teile auch ambu¬
lante, piit Atoxyl Irehandelt. 0-5 g Atoxyl in lOVoiger, steriler
Lösung, dreimal wöchentlich injiziert, brachte die Erscheinungen
der Syphilis prompt zum Rückgänge, einerlei, ob cs sich um
frische oder ältere Fälle handelte. Es waren nur Fälle, die vorher
überhaupt nicht, am allerwenigsten mit Quecksilber oder Jod
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 2G
])'ehan(lelt waren. Priinäraffelkte fallen nach einigen glutäalcn
Atoxylinjoktionen der Resorption anheim; das etwa ])estchende
Exanthem l)laßt his zur Unsichtharkeit: ah; die Papeln verlieren
ihre Rötung, zeigen uider Schwund des plastischen Exsudates
nachweisharc Ahflachung und typische Rräunung; Elzerationcn
schließten sich ^unter Ueherhäutung ; annuläre Syphilide trocknen
ein und gummöse Infiltrate weichen der Behandlung im gleichen
Sinne. Bei einem Bruchteile der Kranken schritt aber der Ileil-
verlauf nur langsam fort, in einem Falle von spezifischer Iritis
hlieh der Erfolg aus, wurde aber durch einige Einreihungen
herheigeführl. Auch Lassar möchte mit seineni SchluBurtcile
über den Wert dieses iMitlels bei Syphilis noch zurückhalten.
Geboten erscheint schon jetzt sorgfältige Auswahl der Fälle in
bezug auf Zirkulation, Nerven- und Verdauungssystem und der
stete Hinblick auf die Eventualität unerwarteter und uidiehsamer
Zwischenfälle. Er beschäftigt sich jetzt auch, die für .Tod und
Quecksilber bisher unangreifbaren zentralnervösen Nachkrank¬
heiten ,mit Atoxyl in 'Angriff zu nehmen. — (Berliner klinische
Wochenschrift l‘JÜ7, Nr. 22.) E. F.
*
824. (Aus dem 0 h u c h 0 w sehen Männerkrankenhause zu
'St. iäitershurg.) Zur Frage von dem gegenseitigen Ver¬
halten d e r E h r 1 i c h s c h e u Di a z o r c a k t i o n, der B a k t e r i-
ämie und der Widalschen Reaktion hei Unterleibs¬
typhus. (Vorläufige Älitteilung.) Von A. Th. Gonken. Nach
Dmilrenkos Arbeit über die Diazoreaktion ist die Aetiologie
und Patbogenese derselben noch lange nicht entschieden. Be¬
züglich des Typhus sind alle Autoren eines Sinnes, daßi sie als
konstantes Merkmal in der zweiten Hälfte der ersten Krankheits¬
woche zu konstatieren ist, so'dann ihre Akme erreicht und schließi-
lich mehr oder weniger rasch verschwindet. Bei Rückfällen fand
Dmitreiiko 'tlie Diazoreaktion meist am’ vierten his sechsten
Tage mit dem Bemerken, daß Temperaturerhöhungen, welche durch
Diätfehler und Komplikationen nicht typhösen Charakters heflingt
sind, keim“ Diazoinaktion zur Folge haben. Verf. hat nun die
Befunde über Diazoreaktion im Harne der untersuchten Typhus-
kranken dos genannten Krankenhauses mit den Befunden über
Bakteriämie, welclie Dr. Stühlern an densolhen Kranken nach
Conrad is Methode erhoben hatte, verglichen und fand einen
auffallenden Parallelismus zwischen Diazoreaktion und Bakteri¬
ämie Li. zw. hlieh die Diazoreaktion aus, sobald die Bazillen aus
dem Blute versebwunden waren (13 Fälle), oder fiel iiegativ
aus, sobakl Bakteriämie fehlte (drei Fälle). Verf. hat dann seine
Uidersuchungen fortgesetzt, wobei er genaue Bestimmungen der
Agglutinationskraft nacb Widal vornahm und teilt nun das Er¬
gebnis von 32 selbständig untersuchten Fällen mit. Seine Schlüsse
lauten: 1. Diazoreaktion und Bakteriämie verlaufen in den Fällen
von üiderleihstyplms, welche mit in bezug auf Diazoreaktion
indifferenten i\rzneimitteln behandelt werden, parallel ujid die
Diazoreaktion tritt nur in jener Periode des Typhus auf, in wel¬
cher der Ebert h sehe Bazillus in lebensfähigem Zustande im
Blute eidhalten ist. 2. Die Elimination der Bazillen aus dem
Blute oder die derselben vorausgehende vollständige Agglutination
derselben führen zur Abnahme der Intensität der Diazoreaktion
und vollkommienem Verschwinden derselben, trotzdem das Fieber
aidiält und bei den Kranken scharf ausgeprägter Status typhosus
zu konstatieren ist, was jedoch von Darm- oder Lungenaffektion
ahhängt; demeidsprechend wächst die Widal sehe Reaktion (Anta¬
gonist der Bakteriämie) jäh an und erreicht zuweilen sehr hohe
Werte, 3. ln Tyidvusfällen, welche mit Salol, Kalomel und Tann-
alhiii hehamlelt worden waren, konide der erwähnte Parallelis-
nius keinmal konstatiert werden, denn hei vorhandener Bakteri¬
ämie fehlte eine typische Diazoreaktion (es konnte nur eine
dunkolgelbe oder rotgelbe Verfärhung des Schaumes, welche für
Diazoreaktion nicht charakteristisch ist, erzielt werden). — (.Mün¬
chener medizinische Wochenschrift 1907, Nr. 18.) G.
*
32ö. Die Behandlung der Fälle von schwerer
L a r y n X t u h e r k u 1 o s e. Von Dr. Artur T h o s t, Handjurg, Si)ezia!-
arzt am Eppendorfer Krankenhaus. Nach Besprechung der usuellen
syir.plomatischen Therapie bei Tuberculosis laryngis, redet Doktor
Thost der Chirurgie das Wort. Die Larynxtuberkulose ist den
malignen Larynxerkrankungen gleich zu achten uml Gluck hat
dui'ch Fälle von Dauerheilung vermittels totaler Laryngektomie
den Weg gezeigt, der von der Laryngologie bedächtig und he-
sonnen, aber auch nicht zu zaghaft verfolgt werden soll. —
(Zeitschrift für klinische Äledizin, Bd. LXI, H. 3 und 4.)
K. S.
*
326. (Aus der Breslauer chirurgischen Klinik.) äV eile re
cxjjcri ment eile Untersuchungen zur Frage der
Talma sehen Operation. Von Dr. Orni. Orni berichtet
über seine Versuche, durch welche Methode zunächst Darm-,
schlingen, Leber und Vlilz in ausgedehnte und gut vaskularisierte
Verwachsung juit der Bauchwand gebracht werden können, mit
anderen Worten, die größtmöglichste Aushildung eines Pfortader¬
kreislaufes im Anschlüsse des in Betracht kommenden viszeralen
Gefäßgebietes an, das Gebiet der vorderen Bauchwand durch andere
Methoden herbeigeführt werden könnte, als durch die bereits
einmal von Orni und Slo gemachte lockere Tamponade der
ganzen Bauchhöhle mittels eines sehr langen, sterilen Gazestreifens.
Die von Orni gewonnejien Bes’ultate sind folgende: 1. Durch
Annähen von steriler Gaze an die Innenseite der Bauchwand
erzielt man eine feste und breite Verwachsung der Rauchwand
mit den Ba'ucheingcweiden. 2. Hunde geben innerhalb eines
bis drei Tagen an urämischen Erscheinungen zugrunde, wenn man
ihnen beide Nierenvenen gleichzeitig unterbindet. 3. Wenn ein
Vernähen der Niere mit Netz oder Mesenterium statlgefunden hat.
so können a) manche Tiere die Pfortaderunterhindung vertragen,
manche nicht; h) manche Tiere fristen nach einem beiderseitigen
Nierenvenenabschluß das Lehen, bisweilen hleiben sie am Lehen;
c) die Berlinei'blaulösung, die von dom Pfortadersyslern luu' in¬
jiziert wird, reicht in das Nierengewebe, dagegen reicht die Lösung,
die von der Vena cava aus injiziert wird, in das Pfortadersystem.
4. Bei Versuchen, eine Anastomose zwischen Niere und Netz
oder Mosenterium zu erzielen, bleibt es ziemlich gleich, ob die
Niere dekapsuliert wird oder nicht. Die Einpflanzung des Netzes
nach Nephrotomie erzielt vortreffliche Anastomosen. — (Beiträge
zur klinischen Chirurgie, Band 53, Heft 2.) E. V.
4c
327. Ueher die symmetrische Asphyxie der Ex¬
tremitäten. Von Dehove. Die Erkrankung wird vorwiegend
beim weiblichen Geschlecht und im dritten Lebensdezennium be¬
obachtet. Die symmetrische Asphyxie betrifft die peripheren
Körperteile — Hände, Füße und Nasenspitze — und es werden
gewöhnlich die Anfälle durch Kälte oder durch psychische Emo¬
tionen ausgelöst. In einzelnen Fällen können die Zirkulations¬
störungen so weit ausgesprochen sein, daß es zu Gangrän kommt.
Man unlersctieidet zwei Phasen des Anfalles, die synkopale durch
Blässe der Haut und die asphyk tische, durch Zyanose der Haut
gekennzeiclmele I^hase. In dem mitgetcilten Falle, eine 23jährige
Frau betreffend, zeigt der Anfall einen anderen Ablauf, indem
zunächst Zyanose, dann Blässe, schließlich reaktives Erythem
aufiritt. Wenn die Patientin eine Hand in kaltes Wasser ein-
laucht, so tj'itt an dieser Hand der Anfall auf, während die
andere Hand noilnal bleibt. Das steht mit der Tatsache in
Widerspruch, welche uider normalen Verhältnissen beobachtet
wird und darin hestehl, daß das Eintauchen der (“inen bland
in kaltes Wasser auch die Temperatur der anderen Hand herab-
selzt. Wäbrend der synkopalen Periode ruft der Einstich einer
Nadel weder eine' Schmerzempfindung noch Blutaustritt hervor.
Die nicht seltenen subjektiven Sensihilitäts'störungen, sowie neur¬
algische Schmerzen fehlen in dem milgeteilten Falle. Es sind in
diesem Falle ausschließlich die vasomotorischen Nerven von d(‘r
Erkrankung betroffen. Die während des Anfalles vorgenommene
Blut Untersuchung bat keinerlei Veränderung an den Erythrozyfen
und Leukozyten ergehen. Die spektroskopische Untersuchung er¬
gibt während der Zyanose den Ahsorptionsstreifen des ri'du-
zierten Hämoglobins, während der Periode des reaktiven Ery-
Ihems die beiden Absoriilionsslreifen des Oxybämoglobins. Es
konnte bei Wiederholung der Kälteeinwirkung eine Ahschwächung
dieser festgeslellt werden. Wenn es zuerst gelang, durch Ein¬
lauchen der Hand in Wasser von 25*^ einen Anfall hervorzurufen,
so war es, wenn man nach einer Viertelstunde wieder einen
Anfall hervorrufen wollte, notwendig, Wasser von 15'’ zu nehmen.
Nr. 26
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Auch durch Einlauchen in 5‘Vo Phenollösung .kann ein An lall
produziert werden. In einer Reihe von Fällen steht die sytn-
ineti'ische Asphyxie mil Hysterie in Zusannnenhang. In dem
mitgeteilten Falle ist kein Zeichen der Hystorici nachzuweisen,
wohl aber Symptome eines leichlen Morbus Brighlii — Spuren
von Albuinen, Polyurie und Galopprhyihmus. Es scheint syni-
melrische Asphyxie bei Morbus Brigbtii nicht selten zu sein.
Die Prognose ist nicht ungünstig. Die in dem Falle indizierte
Behandlung besteht in Elektrotherapie, speziell in Form der Hoch¬
frequenzströme und einer der Nervenaffektion angepaßten Diät.
— (Journ. de Prat. 1907, Nr. 14.) a. e.
328. Vergleichende Untersuchungen über die
Toleranz des diabetischen Organismus gegenüber
verschiedenen Kohlehydraten. Von M. Labbe. Es
wurden der Reihe nach verschiedene Diälformen für Diabetiker
emiifohlen, u. a. Milchdiät, Kartoffeldiät, Ernährung mit Hafer¬
mehl us\v. Die aus den Beohachlungen sich ergebenden Mei¬
nungsverschiedenheiten sind dadurch zu erklären, daß bei dem
Vergleich der einzelnen Diälformen <lie Quantität der zugc-
führlen Kohlehydrate nicht berücksichtigt wurde, worauf; es
wesentlich ankommt. Aus den mit Berücksichtigung dieses Mo¬
mentes angestellten Untersuchungen des Verfassers ergibt sich
folgende Skala der kohlehydrathaltigen Nahrungs'mittel hinsicht¬
lich der Toleranz des diabetischen Organismus, ln erster Reihe
stellen die Kartoffeln, dann folgen der Reihe nach ; Hafermehl,
Makkaroni, Kastanien, Reis, Bohnen, Linsen Erbsen, Milch, Brot
und erst am Schlüsse die verschiedenen , Zuckerarten. Die Kar¬
toffeln bieten außer der relativ größten Toleranz den Vorteil,
daß sie meist gern und auch in größeren Quantitäten genommen,
werden, in verschiedener Weise und auch mit reichlichem Fett¬
zusatz zubereitet werden können. Das Hafermebl wird meist
gut vertragen, ohne aber die Toleranz für andere Kohlehydrate
zu steigern, wie dies von verschiedenen Beobachtern behauptet
wird. Die besten Dienste scheint das Hafermehl bei den schweren
Diabetesfällen zu leisten; ein Nachteil des Hafermehls liegt darin,
daß es nicht in größeien Mengen und nicht durch lange Zeit
genommen werden kann, manchmal kommt es auch zu Diarrhoe
und Verdauungsstörungen. Sehr vorteilhaft sind die trockenen
Hülsenfrüchte, weil sie auch in größeren Mengen mit Fettzusatz
gut vertragen werden und dem Organismus Eiweißi und Mineral¬
salze zuführen. Auch der Reis wird von Diabetikern relativ
gut vertragen und kann als teilweiser Ersatz des Brotes heran¬
gezogen werden. Weniger ausgesprochen ist die Toleranz des
dial)elischen Organismus für Milch, welche anderseits wegen ihres
relativ geringen Kohlehydratgehaltes als Bestandteil einer an
Kohlehydraten armen Ernährung verwertbar ist. Das Brot ist
für die Ernährung der Diabetiker wenig geeignet, da seine Kohle¬
hydrate eine stärkere GlykosUrie hervorrufen, als die in anderen
Nahrungsmitteln enthaltenen Amylumarten. Die Diabetiker,
welche oft starke Brotesser sind, vertragen die vollständige Ent¬
ziehung des Brotes im allgemeinen besser als die Einschränkung
der Ration. Am schlechtesten werden die verschiedenen Zucker¬
arten vertragen, sie sind für die Ernährung des Diabetikers durch¬
aus ungeeignet und nur dort in relativ kleinen Mengen gestattet,
wo ein unbesiegbares Verlangen nach Zucker besteht, wie dies
manchmal bei Diabetikern vorkommt. Die Unterschiede in der
Toleranz des diabetischen Organismus für die in den verschie¬
denen Nahrungsmitteln enthaltenen Kohlehydrate ist nicht aus
den Verhältnissen der Resorption im Darm zu erklären, sondern
eher auf Verschiedenheiten der chemischen Konstitution zurück¬
zuführen, wovon die Art des Ueberganges in Glykose abhängig
ist. — (Bull, et Mein, de la Soc. med. des hop. de Paris 1907,
Nr. 9.) 'T-
*
329. Ueber Behandlung der Sk a bi es mit Peru¬
balsam. Von F. .1. W. Porter (Colchester). Die Behandlung
besteht in folgendem: Der Patient bleibt zunächst eine halbe
Stunde lang in einem möglichst heißen Bade und wird dann mit
Flanell und gewöhnlicher Seife ordentlich abgerieben. Hierauf
wird er abgelrocknet und mit einer Mischung von Perubalsam
und Glyzerin im Verhältnisse von 3:1 eingerieben. Das Mittel
wird — am besten mit einer weichen Nagelbürste möglichst
energisch in tlie Haut eingei'ieben. Hierauf zieht der Patient ein
einfaciies Baumwollhemd und den Spilalkiltel an. Unterdessen wii’d
seine gewöhnliche Kleidung desinfiziert. In schwereren Fällen
wird die Einreilmng am nächsten Tage wiederholt. Baden ist
zunächst durch sieben Tage zu unterlassen. Patient muß sich
durch drei Wochen einmal wöchentlich einer Konlrolhmtersuchung
unterziehen. Verf. hat diese Methode an 51 Soldaten mit gutem
Erfolge verwendet und em])fiehlt sie vor allem für militärische
Zwecke, wenn es darauf ankommt, den Mann möglichst kurze
Zeit dem Dienste zu entziehen. — (British medical Journal 1907,
30. März.) ‘ J. Sch.
*
330. Zur Behandlung des akuten G e 1 e n k s r h e u in a-
tismus. Von Prof. Dr. G. Ktemiierer in Berlin. Di(^ Salizyl-
präparate versagen in etwa einem Viertel aller Fälle von akutem
Gelenksrheumalismus, sie verhindern nicht, daß Komiilikalionen
(Endo- und Perikarditis) während der Einnahme eines solchen
Mittels auftreten, sie stellen ein Nierengift dar, weshalb man
deren Gebrauch zuweilen sistieren muß. Anderseits sind diese
Präparate in bekannter Weise fieber- und schmorzwidrig, den
Schweißausbruch anregend usw., und beruht, wie Verf. ausführt,
diese antipyretische, antineuralgische und diaphoretische Wirkung
der Salizylpräparale auf Hyperämie bestimmter Gefäßgebiete.
Darum wirkt auch die in anderer Weise bewirkte Hyperämisierung
der Gelenke bei der akuten Polyarlhritis gut, wofür der Verfasser
ebenfalls eine Reihe von Beweisen erbringt. Darum hat er, wie
es Bier selbst schon in zehn Fällen mit Erfolg getan hat, im
städtischen Krankenhause Moabit in Berlin, eine größere Anzahl
solcher Kranker ausschließlich mit der Bi ersehen Stauung be¬
handelt. Oberhalb jedes entzündeten Gelenkes wurde vor- und
nachmittags jo zwei bis drei, gelegentlich auch vier Stunden lang
die Stauungsbinde angelegt u. zw. so, daß Biers heiße rote
Stauung erzielt wurde. Die schmerzstillende Wirkung war fast
stets eklatant und überdauerte 'das Liegen der Binden um zwei
bis fünf Stunden; die .meisten Patienten waren zufrieden, nur
in wenigen Fällen mußten kleine Morphimudosen gegeben werden.
Für die Hüften ist die Stauung gar nicht, für die Schultern
unvollkommen anwendbar; wenn also Hüften oder Schultern
stärker befallen waren, wenn trotz der Binden die Schmerzen
in einem Gelenke sehr arg waren oder das Fieher übermäßig
stieg, schließlich, wenn nach 20 Tagen unter der Stauung keine
Heilung eintrat, so ging man zur Salizylbehandlung (Aspirin)
über. Bebandelt wurden 67 typische Fälle von akutem Gelenks-
rheumatismus. Unter 'bloßer Stauung trat Heilung ein in 48 Fällen
(am 4. bis 7. Tage 49 Fälle, am 8. bis 10. Tage 15 Fälle,
a,m 11. bis 13. Tage 5 Fälle und der Rest von 9 Fällen in
14 bis 20 Tagen). In 20 Fällen wurde zur Salizylbebandlung
übergegangen, idas Aspirin allein wurde vom Anfang an ange-
wenciet in 19 Fällen (Heilung in 14 Fällen in 6 bis 20 Tagen),
in 15 Fällen blieben Stauung und Aspirin erfolglos und die
Heilung erfolgte in 21 bis 75 Tagen. Die Aspirinbebandlung
erwies sieb der Stauungsbehandlung als überlegen, von 87 Fällen
konnten nur 68 (780/o) überhaupt der Stauung zugeführt werden,
von den mit Stauung behandelten Kranken wurden innerhalb
20 Tagen nur 70''/<' zur Heilung gebracht. Von den der Stauung
widerstehenden 19 Fällen wurden noch 10 mit Aspirin geheilt
und die mit Aspirin allein behandelten Fälle wiesen 73°<i Heilung
auf. Gleichwohl ist sicher, daß man mit der Stauungsbehandlung
allein viele Fälle von Gelenksrheumatismus zur Heilung bringen,
kann und daß diese Behandlung für leichte und mittlere Fälle
durchaus ausreicht. Die Stauungsbehandlung ist gewiß umständ¬
lich, sie ist aber ganz ungefährlich, bei Nierenreizung angezeigt,
auch dann, wenn die Salizylpräparate nach 12- bis 14lägiger
Anwendung wirkungslos sind. In protrahierten Fällen kann man
beide Methoden kombinieren. Die Salizylpräparatie entwickeln
:reben ihrer hypcrämisierendien auch eine mäßige bakterizide lälig-
ceit, die durch Salizyl hervorgerufene Hyperämie dauert länger
rn, ist universell ; für Fälle mit stärker Ivirulenten Bakterien ist
lie Salizylwirk'ung nicht zu entbehren. — (Die Therapie der
TefTeiiwart 1907. Heft 6.) E- •
*
331 . Die Unters u c h u n g d e s H e r z e n s in B e c k e n-
h 0 c h l a g e r u n g, e i n H i l f s m i t te 1 z u r D i a g n 0 s e d e I H e r z-
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
krankh'citon. Von Dr. A. Stern in Frankfurl a. M. Es Avurtlc
von vielen Autoren auf die Wiclitigkeit der Ilerzuntersucliung
in verecliicdenen Körperstellungen (iin Stehen, Liegen, Vornüher-
neigen und in Seiteidage) hingeAviesen, weil Intensität und Cha¬
rakter der akustischen Phänomene in verschiedenen Lagen
Avechseln. Verf. hat an zahlreichen Patienten des Frankfurter
Heiligengeisthospitalcs pnd seiner Privatpraxis die Untersucliung
des Herzens in Beckenhochlagerung vorgenonunen und gefunden,
daß iu Fällen mit luinen Herztönen durch die Lagerung selbst
keinerlei Geräusche neu entstehen. In der Regel wird an der
Spitze der systolische Ton reiner, d. li. kürzer und mehr tonartig
und das begleitende physiologische Geräusch tritt zurück. In
vielen Fällen wird der systolische Ton gleichzeitig leiser, dagegen
Averden die pathologischen, systolischen Geräusche in der Mehr¬
zahl der Fälle in Beckenhochlagerung deutlicher, manchmal breiter.
Oft Averden sie lauter und in ihrem akustischen Charakter Amr¬
ändert. ZuAveilen tritt in Beckenhochlage eine Spaltung der Systole
auf. Dadurch gelang es in einzelnen unklaren Fällen oft, ein
scheinbares systolisches Geräusch als für die Diagnose bedeutungs¬
los hinziistellen. Gegen den Sternalrand, am Knorpelansatze tier
vierten Rippe, ist hei der Beckenhochlage die Systole oft lauter
als zuvor und der Akzent rückt auf den zweiten Ton. Der zweite
Pulmonalton Avird tlabei regelmäßig gegen den zAAmiten Aortenton
Amrstärkt, Avas besonders bei Mitralinsuffizienz stark in die Er¬
scheinung tritt. Dieses Phänomen ist um so auffallender, als
die Aortentöne leiser Averden. Der zweite Pulmonallon Avird sehr
oft, bei Kindern fast immer, gespalten. Das diastolische, respek¬
tive präsystolische Geräusch hei Mitralstenose und Insuffiziönz
hat Verf. regelmäßig lauter, länger und rauher Averden gehört.
Das diästolischo Geräusch der Aorteninsuffizienz wird nicht lauter,
eher leiser. Die Venengeräusche AmrscliAvinden in Beckenhochlago,
Avie oft schon in einfacher Rückenlage. Die Pulszahl bleibt meist
unverändert, zUAveilen tritt geringe PulsAmiiangsamung ein. Der
Blutdruck geht meist um ein Geringes in die Höhe oder bleibt
unverändert. Verf. sucht nun die mitgeteilten Befunde zu er¬
klären Und ist selbst der Ansicht, daßi er bei Deutung der Aus-
kuliationsphänomene über Vermutungen kaum hinauskommt, da
präzise Analysen bis heute nicht möglich sind. Die Avesentlichen
Vorteile jedoch, Avelche die Herzuntersuchung in Beckenhochlage
bietet, sind nach Verf. folgende: Es Avird im allgemeinen eine
Konti'olle der in anderen Lagen gefundenen Perkussiöns- und
Auskultationsresultate ermöglicht. Die Perkussion der relativen
rechten Herzdämpfungsgrenze gewinnt an Sicherheit. Die Dia¬
gnose des Avahren akustischen Charakters der unreinen Systolen
Avird in vielen Fällen erleichtert, manchmal überhaupt ermög¬
licht. Das diastolische Geräusch der mit Insuffizienz komplizierten
Älitralstenose Avird öfter deutlicher erkennbar. — (Münchener
medizinische Wochenschrift 1907, Kr. 18.) G.
♦
332. Aus dem Institute für experimentelle Pathologie der
Wiener UniAmrsität (Prof. Dr. R. Pal tauf). Zur Frage der
mechanischen Erregbarkeit der Magensaftsekretion
(ein experimenteller Beitrag zur Physiologie der Magensekretion).
Von Dr. Artur Schiff, Privatdozent für innere Medizin an der
Wiener UnHersität. Nach PuavIoav gibt es nur zwei Arten A'on
Reizen, durch Avelche Magensaftsekretion angeregt werden kann.
Die psychische Erregbarkeit des Appetites ist einer der wdrksamsten
Reize zur Einleitung einer chemischen Älagcnsaftsekreüon und
in zweiter Linie kommt die spezifisch chemische Einwirkung
d('r Ingesta auf die Schleimhaut dos Magens in Betracht. Die
nii chanischen Eigenschaften der Speisen an und für sich sind
nach PawloAv völlig unfähig, eine Sekretion von Magensaft
auszulösen. Kach 'tlen überzeugenden Experimenten Scliiffs muß
nian jedoch dem länger dauernden mechanischen Reize find der
mechanischen Belastung, AAÜe sie durch eingeführte Ingesta ho-
wiikt Averden, einen wesentlichen Einflußi aid' die Stärke der
^^ckielion zugestehen, wenngleich die Bedeut ung dei’ mechanisch n
Ihize in quanlitativf'r Beziehung hinter jener der .spezifisch-
eln iui.schen Reize zuiücksteht. — (Zeitschrift fi'ir klinische Medizin,
Fd. lAi, Heft 3 und 4.) K. S.
333. (.\us der Grazer chirurg. Klinik.) Heber stumpfe
\ 1 e S y n gc n (G-s Darmes und des xM e s e n t e r i u m s. \ An
Dr. Her tie. Auf Grund des Materiales der letzten zehn Jahre
der Grazer chirurgischen Klinik bespricht 11 er tie ausführlich
die stumpfen Verletzungen des Darmes und des xMesenteriums.
In ihrer Aetiologie spielt die Avichtigste Rollo der llufschlag; mehr
als ein Drittel der Darm Verletzungen durch stumpfe GcAvalt sind
auf Hufschlag zurückzuführen, ferner sind häufig Verletzungen
durch Schlagen oder Stoßen mit einem harten Gegenstände, zum
Beisincl Verletzungen durch eine Wagendeichsel oder durch
Maschinengewalt. Unter den Verletzimgen, Avelche einen hreiten
Angriffspunkt am Abdomen nehmen, sind in erster Linie Ueber-
fahrungen, dann auch Sturz in die Tiefe, Sprung oder Sturz auf
den Bauch zu nennen. Um die Pathogenese der Darmverletzungcn
durch stumpfe GeAvalt zu studieren, stellte Her tie experimentelle
Untersuchungen soAvohl am Danne des lebenden Hundes, als
auch am frisch ausgeschnittenen Darm© an. Es ergab sich dabei
keine auffällige Differenz. Die einzelnen Schichten des Darmes
leisten hei Uebeixlehnung einen Amrschiedeneii Widerstand. Am
ersten reißt heim Hunde die zarte Serosa, dann die Muskulaiis
und Mukosa ein, am widerstandsfähigsten ist die Submukosa,
Avas jedenfalls ihrem Gehalte an elastischen Elementen zuzu¬
schreiben ist. Bei traumatischen Rupturen, AAmlche sich gegenüber
den durch langsame Blähung erzeugten ziemlich scharf unler-
scheiden, hesteht geAvöhnlich kein großer Unterschied in der Be¬
teiligung der einzelnen Schichten der DarmAvand, doch ist auch
hier die Serosa und Schleimhaut Ufehr zerrissien als die Sub'mukosa.
Beim Mechanislnus der Darmruptur kommen drei Arten in Be¬
tracht: 1. Durchquetschung, 2. Berstung oder Platzen, 3. Aluiß
durch Zug. Die oberste Ileumschlinge ist als Prädilektionsstelle
für quere, totale Darmruptur aufzufassen, Aveiterhin kommen als
solche die übrigen Jejunumschliugen in Betracht, Avährend dem
untersten Ileum in dieser Hinsicht keine Bedeutung beizulegen
ist, da jede andere Stelle des freien Dünndarms ebenso häufig
betroffen sein kann. Bei der Darmwunde kann man im allge¬
meinen zAvei Haupt typen Amn Verletzungen unterscheiden, und
zAvar ihrer Größe nach kleine Wunden, von Erbsen- bis höchstens
Bohnengröße, und größere, AvenigsteiLs 1 cm lauge Wunden; letztere
kommen öfters als die kleinen Wunden vor. Oefters sind rrach
stumpfer GeAA^alteinwirkung mehrfache Veiictzungen des Darmes
zu finden. Doch gibt es auch Verletzungen, welche nicht zu
einer Perforation des Darmes führen, und trotzdem sehr ernste
Folgen, ja den Tod nach sich ziehen. Man unterscheidet bei der
Darmruptur allgemeine und lokale Symptome. Zu den allgemeinen
gehört zunächst der Schock im Anschlüsse an das Trauma. Die
Beobachtung des Pulses, der anfangs Amrlangsamt ist, ist sehr
Avichtig. Bei rasch fortschreitenider oder septischer Peritonitis
Avird er rasch schlecht, sehr frequent und ktein, meist aber ist
ein ZAvischenstadium, in dem der Puls gut ist. Wenn der Puls
in den ZAveiten 12 bis 36 iStunden nach der Verletzung, wenn auch
nur langsam und bei gut bleibender Qualität, steigt, dann ist
die Darmruptur wahrscheiidich und mit der Laparotomie nicht
zu Avarten. Länger andauernde AtembeschAA'erden von kostalem
Typus haben ernsteren Charakter. Verhältnismäßig wenig Be¬
deutung ist der Temperatur beizulegen. Zu den lokalen Sym¬
ptomen der Darmruptur gehört das Auftreten von freiem Gase
in der Bauchhöhle. Reichliches Ausströmen von Gas tritt in der
ersten Zeit nach der Verletzung meist nur bei Rupturen des
Magens auf, Avährend Löcher im Darme, ja selbst quere Ab¬
reißungen nur zu geringem oder gar keinem Gasaustritte führen.
Das Auftreten einer zAAmifellosen Dämpfung bald nach dem Trauma
kann, AAmnn nicht gleichzeitig Gas in der Bauchhöhle auftritt, als
von einer inneren Blutung herrührend betrachtet Averden. Spon-
faner Schmerz ist unmittelhar nach dem Trauma häufig, pflegt aber
dann nachzulassen. Druckschmerz tritt in diffuser und zirkum¬
skripter Form! auf. Erbj'echen, besonders galliges Erbrechen, ist ein
Avichliges Syuiptom, doch spricht ein Fehlen oder VArhauden-
sein nicht gegen, bzw. für eine Darmruptur. Als Grund für die
Beimengung der Galle zum Mageninhalle muß man eine Lähmung
• des Pylorus und anliperisfaltische Darmbewegungen annehmeu.
Diese kann hervorgerufeu Averden durch die Entwicklung einer
Peritonitis, vielleicht des Traumas selbst. Sehr frühzeitig tritt
oft eine brettharte Siiamiung der Bauchdeckcui nach dem Trauma
auf. UrinbeschAverdeu, ebenso Verhalten von Stuhl und Winden
kann oft beobachtet Averden. Die Therapie besteht in der Laparo-
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
809
tomie; das oinfa(diste Verfahren hesteht in Verschließung der 1
Perforationsöffnung und ist hei ganz frischen Fällen und kleinen
Löcdiern ungezeigt. Für ältere Fälle vergesse man auf den Aus¬
weg, eine Fistel oder einen Anus praeternaturalis anzulegen,
nicht. Ist bereits Peritonitis vorhanden, so ist hier nach den
allgemein üblichen Regeln der Behandlung einer Perforations-
peritonitis vorzugehen, ln den ersten zwölf Stunden nach der
Verletzung konnte von den Fällen von Her tie durch Opera¬
tion fast, die Hälfte gerettet werden, während schon in den zweiten
zwölf Stunden die Anzahl der Heilungen auf ungefähr ein Fünftel
hinabgeht. 158 Krankengeschichten und ein Literaturverzeichnis
von 329 Nunilmem beschließen die ausführliche Arbeit. — (Bei¬
träge zur klinischen Chirurgie, Bd. 53, Heft 2.) E. V.
*
334. Untersuchungen über die Giftigkeit von
A k t i n o m y z e s k u 1 1 u r e n und das Vorhandensein lös¬
licher Produkte. Von Poncet, Lacomme und Thevenot.
Die Versuche wurden mit festen Glyzerinagar- und flüssigeri
Glyzerinbouillonkulturen angestellt. Die festen, vier Monate alten
Kulluren wurden zerkleinert, durch 18 Stunden mit physiologischer
Kochsalzlösung behandelt, zentrifugiert und filtriert. Die Be-
siduen wurden in drei annähernd gleiche Teile geteilt, mit Alkohol
von 90Co, bzw. Aether und Choloroform behandelt und die er¬
haltenen Lösungen filtriert. Die Mazeration in physiologischer
Kochsalzlösung ergab 222 cm^, wovon 40 einem Kaninchen in
die Randvene des Ohres, der Best subkutan in die Oherschenkel-
gegend eingespritzt wurde. Es trat bei dem Tiere keine Reaktions¬
erscheinung auf; ebenso blieb die Injektion der mit Chloroform
und Aether erhaltenen Mazeration wirkungslos, während die
direkt in das Blut injizierte Alkoholrnazeration, (wahrscheinlich
durch Koagulation desl Blutes, sofort den Tod des Versuchstieres
bewirkte. Die flüssige Aktinomyzeskultur, welche fünf Wochen
alt war, wuitle wiederholt filtriert und vom Filtrat je 150 cm^
in die Ohrvene und subkutan eingespritzt. Es trat heim Tiere
Lähmung der Hinterbeine und Exitus ein. Die Obduktion ergab
eine Blutung im Subarachnoidealraum im Gebiet des verlängerten
Markes infolge der durch das große Quantum der injiziertem
Flüssigkeit henmrgerufenen Hypertension. Die.se Versuche zeigen,
daß die Aktinomyzeskulturen keine in Glyzerinbouillon, physio¬
logischer Kochsalzlösung, Alkohol, Aether oder Chloroform lös¬
lichen Toxine enthalten. Es kommt zwar klinisch bei .äktinomy-
kose ein Krankheitsbild vor, welches man als Aktinomyzessepti-
kämie bezeichnen könnte, durch schmutzig-gelbe Gesichtsfarbe,
unregelmäßige Pdeberanfälle, Schmerzen, verschiedene Nerven-
symptome, widerwärtigen Geruch der Sekretionen und des Eiters,
entzündliche Erkrankung der serösen Häute gekennzeichnet. Diese
Erkrankung ist nicht auf Mischinfektion, sondern auf die Wir¬
kung von Toxinen zurückzuführen, welche die Körpergewebe selbst
bei Gegenwart des Strahlenpilzes erzeugen. Auch im Orga¬
nismus produziert der Strahlenpilz kein lösliches Toxin, sondern
es geht die Bildung der giftigen Substanzen von den auf das
Vorhandensein des Pilzes in spezifischer Weise reagierenden Ge¬
webszellen aus. — (Bull, de l’Acad. du Med. 1907, Nr. 16.) a. e.
335. Einige Erfahrungen über den Typh us verlauf
bei geiinp f te n und nicht geimpften Mannschaften der
S c h u t z t r u p p e für D e u t s c h - S ü d w e s t - A f r i k a. Von Doktor
Eichholz, Oberarzt bei der Schutztruppe (ehemals kommandiert
zur Typhusstation des Etappenlazarettes Windhuk, Mai bis
Juni 1905). Verf. hat zum Studium des Typhusverlaufes bei Ge¬
impften und Nichtgeimpften von ca. 150 Typhusverclächtigen nur
68 in seine Uebersicht aufgenoinmen. Gezählt wurde der Fall
nur dann, wenn folgende zwei Hauptbedingungen erfüllt waren ;
1. Es mußte ein sicherer Typhus sein; 2. der Kranke mußte
spätestens ^^cht Tage nach dem Auftreten der ersten Krankheitsi-
erscheinungen in das Lazarett Windhuk gebracht sein und dort
mindestens zehn Tage nach Entfieberung sich auf gehalten haben.
Einen Typhus nahm Verf. an, wenn die gesamte Fieberkurve
das typische Aussehen zeigte, die Milz deutlich vergrößiort war
und sichere Roseolen vorhanden waren. Auf erbsenfarbeneu Stuhl
wurde weniger Gewicht gelegt. In der Hälfte der lälle wurde noch,
eine Blutuntersuchung gemach^ um Malaria mit absoluter Sichcr-
1 heit ausschließen zu können. Widal sehe Reaktion konnte aus
äußeren Gründen nicht gemacht werden. Verf. stellt in zwei
beigefügten Tabellen den Typhusveiiauf der 34 Geimpften und
34 Nichtgeimi)ften gegenüber. Es ergaben sich folgende Mittel-
wei'te : Von den Geimpften starben: O'*/'«; schwere Komplikationen
hatten: 8-8 "/o ; über 40” C hatten: 48-3'yo. Von den Nichtgeimpften
starben : 8-8'*, o ; schwere Komplikationen hei : 22'6®/o ; über 40° C
bei: 79'2‘^/o. Ueber 40° C Fieber dauerte durchschnittlich bei Ge¬
impften 1-4 Tage, bei Nichtgeimpften 2-4 Tage. Ueber 39° C Fieber
bei Geimpften 6-2 Tage, bei Nichtgeimpften 9-3 Tage. Das Fieber
dauerte überhaupt Ijei den Nichtgeimpften länger -als bei den
Geimpften. Aus dieser Gegenüberstellung geht hervor, daß der
Geimpfte durchschnittlich bessere Chancen hat als der Nicht¬
geimpfte. Mehrfache Impfungen ergaben keinen auffallenden Unter¬
schied. Die Behandlung war bei beiden gleich und bestand aus
Bettruhe, Diät und kühlen Bädern. Antipyretika wurden nicht
verordnet. Nach der Statistik des Verfassers scheint durch die
Impfung am meisten die Zahl der Todesfälle heruntergedrückt
zu werden, dann folgt die Zahl der Komplikationen und schließ*-
lich die Höhe und Dauer des Fiebers. Verf. hebt zum Scldusse
hervor, daß die Zahl seiner Beobachtungen wohl relativ klein
sei, daß aber der Umstand, daß nur exakte Daten für den Ver¬
gleich zwischen Krankheitsverlauf bei Geimpften und Nicht¬
geimpften herangezogen wurden, der Arbeit doch einen gewissen
Wert verleiht. — (Münchener medizinische Wochenschrift 1907,
Nr. 16.) G.
*
336. (Aus dem London-Hospital AVhitechapel.) Ein Fall
von abnormer Entwicklung des Oesophagus. Von
J. E. Spicer. Es handelte sich um ein neugeborenes, normal
und rechtzeitig zur Welt gekommenes Kind, welches 22 Stunden
nach der Geburt starb. Die Obduklion ergab eine Unvollständig^
keit im Septum tracheooesophageale. Der obere Teil des Oeso¬
phagus endete nach unten zu in einen Blindsack, der untere
mündete nach oben zu in die Trachea. Es bestanden noch fol¬
gende Mißbildungen : Offenes Foramen ovale, Anomalien der
Mündungsweise der arteriellen und venösen Gefäße in das Herz,
Hypertrophie des rechten Herzohres und des Ventrikels, eine
rechte und linke Vena cava superior, Fehlen eines eigentlichen
Arcus aortae, Verengerung des linken Harnleiters, Anus imper¬
foratus bei gut entwickeltem S. Bomanum. Die übrigen Organe
waren normal. — (Lancet, 19. Januar 1907.) J. Sch.
337. (Aus der Frauenklinik und dem pathologischen In¬
stitute der Universität Leipzig.) Die Veränderungen an Pla¬
zenta, Nabelschnur und E i h ä u t e n bei Syphilis u n d
ihre Beziehungen zur S p i r o c h a e t e pallid a. Von D ok tor
F. Mohn. Makroskopisch fällt an den Plazenten Syphilitischer
die Größe, Derbheit und Brüchigkeit, die blasse, graugelbliche
Farbe Und Schwere, besonders in dem Verhältnisse zu dem oft
sehr geringen Gewichte des Fötus vor allem' auf. Die Höhe des
absoluten Gewichtes hat sicher nichts für Lues Charakteristisches,
aber auch das relative Gewicht gibt differentialdiagnostisch einen
ebensowenig sicheren Anhaltspunkt; doch ist ein hohes rela¬
tives Gewicht der Plazenta verdächiig für Lues. Bei 16 syphili¬
tischen Plazenten, die auf Spirochäten untersucht wurden, waren
sie sechsmal nachweisbar, zum Teile allerdings sehr spärlich.
Diabei fanden sie sich lediglich im fötalen Anteile der Plazenta,
vor (allemi in den Zotten, nur einmal in der Membrana chord, nie
aber in der Plazenta materna und den intervillösen Räumen.
In drei Plazenten konnte Mohn die Spirochäten außerdem in
den Gefäßen selbst nachAveisen. Niemals waren die Spirochäten
in der Serotina zu finden. Zu finden waren die normalen oder
etwas bindegewebsreichen Zotten in der Umgebung sehr leuko¬
zytenreicher Infiltrationen. Die Schlüsse, welche Mohn aus
seinen Untersuchungen an 26 syphilitischen Plazenten, Eihäuten
und Nabelschnüren zieht, sind folgende: 1. Nur selten sind die
Eihäuto völlig normal (2); 2. das Chorion ist bedeutend häufiger
infiltriert (25) als das Amnion (12); 3. das Amnion wird allein
ino befallen; 4. besonders gern scheinen bei längerer Reten¬
tion der Plazenta im Uterus Leukozyteninvasionen in bci;le Ei¬
häute zu erfolgen; 5. Gonorrhoe und Endometritis üben einen
entschiedenen Eiuflußi auf die Eihäute aus, vorzüglich aber nur
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
auf da« Chorion; 6. ob auch die Syphilis der Mutter allein eine
Leuko/.yteninfillration in den Eiliäulen heiTorrufen kann, läl’d
sich aus Älolins ZusannnenstelhniK Jiicdit erselien. .ledenfalls wird
sich die sichere Entscheidung, ol) solche Enlzündungserscdiei-
nungen in den Eiliäulen spezifisch - syphililischer Natur sind oder
nicht, nur im einzelnen Falle treffen lassen durch den positiven
Nachweis von Spirochäten; 7. eine Eezieh'ung zwischen Slärkc
der Verändmaing in den Ifihäulen nnd der Infektion der Fruchl,
wie sie Thomsen annimmt, hal Mohn nicht wahinelimen
k(jnnen, ist wohl auch nicht wahrscheinlich nach dem negativen
Siiirochätenbefund. • — In üher öOTo der Fälle war ilie Nahel-
schniir spirochälenhaltig, während in fast 70°, <• von Fällen mit
Syphilis der Eltern Siiirochäten in der Nahelsclinur äherhaiipt
vorhanden waren. — (Zeitschrift für Gehurtshilfe und Gynäkologie,
Hd. LIX, Heft 2.) _ E. V.
Vermisehte l'laehriehten.
Für das kommende Studienjahr wurde der Professor für
Histologie Hofral Dr. Viktor Ebner v. Rofenstein zum Rcklor
der Hniversitäl und I*rof. Richaid Pal tauf zum Dekan der
medizinischen Fakultät in Wien gewählt.
♦
P rei s an S'S c h r 0 i b u n g. Die k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien schreihl neuerdings den von Med. Dr. Moritz
Goldlierger gestifleten Preis im Retrage von K 2000 für die
hi'ste Reantworlung des vom Präsidium gestellten Preisthemas:
,,E x])e r ime n 1 e 1 1 e Reiträge zur Frage der Heein-
flussung von ü r ga n s y s t ein e n nnd 0 r g a n f u n k t i o n c n
untereinander, in normalen oder pathologischen
Verhältnissen.“ Um diesen Preis können Aerzle aus Oester¬
reich-Ungarn und ganz Deutschland konkurrieren. Berücksich¬
tigung finden nur Arbcnten, welche in deutscher Sprache verfaßit,
his längstens 15. Mai 1909 an das Präsidium der k. k. Ge-
sellscliaft der Aerzte in Wien, mit einem Motto versehen, ein-
g(‘sendet werden. Dazu ist ein mit demselhen Molto versehenes
verschlossenes Kuvert einzusenden, welches Name und Adresse
des Aulors enlhäll. Die Zuerkennung des Preises erfolgt in der
ersten, im Monate Oklober 1909 statlfindenden 'Sitzung der
k. k. GesellschafI der Aerzte in IVien, ulie Ausfolgung desselhen
an den preisgekrönten Rewerher am 28. Oktober, als dem Sterbe¬
tage des Stiflers. Hat die jireisgekröntc Arbeit mehr als einen
Verfasser, so kann der Preis unter den Verfassern zu gleichen
Teilen geteilt werden. Die k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien
behält sich das Recht vor, die preisgekrönte Arbeit zu publi-
zieiam. Im übrigen behält der Autor alle Rechte an seinem
geistigen Eigentume.*)
Ernannt: Die außerordentlichen Professoren in Budapest
Dr. Joh. Bok^y (Kinderheilkunde) und Dr. Alexander Kor any i
(innere Medizin) zu ordentlichen Professoren — Prof. Dr. August
Bier, der Nachfolger v. B e r g m a n n s in Berlin zum ordentlichen
Professor der Chirurgie bei der Kaiser Wilhelmsakademie für
das militärärztliche Bildungswesen.
*
Verliehen: Dem ordentlichen Professor der Kinderheil¬
kunde Dr. Matthias Jakubowski in Krakau aus Anlaß seiner
üebernahme in den Ruhestand der Titel eines Hofrates.
*
H a h i 1 i tier t: In 'Wien: Dr. Wilhelm Falta für innere
i\l('dizin und Dr. Heinrich Neumann für Ohi'onheilkunde. —
An der höhmischen Pniversilät in Prag: Dr. Anton Ostreil
für (iehurlshilfe und Dr. Ottokar Rutvirt für Ohren-, Nasen-
und Bachenkiankheilen. — Dr. Wolfgang Heu h nor für Phar¬
makologie' ill Slraßhui-g. — Dr. Löh für experimenlelle Palho-
logie in Basel.
*
Gestorben: Der Professor der Anatomie in Bordeaux
Dr. A. Cannieu. — Der Professor der externen Pathologie in
Charkow Dr. S o k o 1 o w.
*
Nach dem vom Primarärzte Dr. .Tosef Heim erslallelen
ärztlichen .lahix'sberichh' des St. .1 o s e f - K i n de r sp i t a 1 o s in
*) Nach ^ 1 h des Statuts kann der Preis, falls die ausgeschrieliene
Preistrage iibc'rhaupt keine oder keine befriedigende Beantwortung erfahren
hat, dein )ei’fasser der liesten im J/iufe der letzten drei .lahre vor Schluß
des Kinreichungstermines erschienenen oder ad hoc im Manuskrijite dem
Präsidium der k. k. Gesellscliaft der Aerzte vorgelegten Untersuchungen
aus dem Gebiete der medizinischen Wissenschaften, mit Einschluß der
theoretischen Fächoi*, vei’liehen werden.
Wi('n sind HlOß daseihst 1200 Kinder in Behaiidlung gestanden. Das
Sterhlichkeitsprozenl belrug im allgemeinen 12-8o. Nebst den im
Spitale verpflegten 1200 Kiiuh'rn wurden 13494 Kinder im Am-
bulaloi'ium behandelt und 55 Kinder geimpfi. Es waren somit im
Jahre 1906 im ganzen 14.749 Kinder hehandelt worden. Mit
Diphtherie wai'en 316 Kinder aufgenommen worden. Sti'rblich-
keit — 12-38"/n.
*
Zu Beginn der am 15. .Tuni 1907 ahgehaltenen Sitzung
dos Obersten Sanitäts rates widmete der Vorsitzende
Hofrat v. Vogel dem verstorbenen Mitgliede des Fachrates
Ohersanitätsrat Hofrat Jordan einen warmen Nachruf. Hierauf
wurden nachstehende Gegenstände in Beratung gezogen : 1. Fort¬
setzung dos Referates über die spezialistische Aus¬
bildung der Aerzte (Referent : Hofrat E x n e r namens des
Spezialkomitees); 2. Gutachten über einige in Verkehr gebrachte
Haarfärbemittel (Referent: Professor K r a t s c h m e r) ;
3. Gutachten über die Zulässigkeit der Verwendung von Ameisen¬
säure als Konservierungsmittel fi'ir F ruchtsäfte
(Referent: Derselbe); 4. Gutachten über die Verwendung von
Pflanzenfett (Kunerol) in G e f a n g e n a n s t a 1 1 e n (Referent :
Derselbe); 5. B e s e tz u n g s v o r s c h 1 ä g e für die Besetzung
der erledigten Stelle eines Landes-Sanitätsreferenten
in M ähren und je einer Oberbozirksarztesstelle in
0 b e r ö s t e r r e i c h und in Tirol (Referent: Ministerialrat
D aimer). Zum Schlüsse der Sitzung wurde von den Ober¬
sanitätsräten Hofrat Chrobak, Hofrat Freiherrn v. Eiseis¬
berg und Hof rat v. J ak s c h ein Initiativantrag wegen Abstellung
einiger Uebelstände bei den die Weltkurorte Böhmens verbindenden
Eisenbahnzügeneingebracht. Schließlich wurde ein Memorandum
der Vereinigung österreichischer Hochschuldozenten in Ange¬
legenheit der Besetzung spezialärztlicher Stellen in
den Wiener k. k. Krankenanstalten zur Kenntnis des Obersten
Sanitätsrates gebracht.
*
Vorläufiges Ergebnis der S a n i t ä t s s tati s l i k bei
der Mannschaft des k. und k. Heeres im A])ril 1907.
Krankenzugang 21.037 Mann, entsprechend 69%o der durchschnitt¬
lichen Kopfsfärke; an Heilanstalten ahgegeben 9486 Mann, <'nt.-
sprcchend SP/oo der durchschnittlichen Kopfstärke; Todesfälle
63 Mann, entsprechend 0-207oo der durchschnittlichen Kopfstärke.
*
Dr. Ludwig Moszkowicz, Priniararzt des Rudolfincj'-
hauscs, ordiniert IX., Alserstraße 20, von 3 his 4 Uhr. Telephon¬
nummer 18.533.
Freie Stellen.
Distriktsarztesstelle für den Sanilätsdistrikt Stift
T e p 1 (Böhmen), welcher zwölf Ortsgemeinden mit einem Flächeninhalte
von 6 '720 ha und einer Bevölkerung von 2784 Seelen umfaßt. Mit dieser
Stelle ist der Bezug eines Jahresgehaltes von K 800 und eines Reise¬
pauschales jährlicher K 270 verbunden. Die ordnungsmäßig belegten
Gesuche, welchen auch ein von einem landesfürstlichen Bezirksarzte
ausgestelltes oder bestätigtes Zeugnis über die physische Diensttauglichr
keit des Bewerbers beizuschließen ist, sind bis 30. Juni 1. J. beim
Bezirksausschüsse Tepl einzubringen. Der Amtssitz des Distriktsarztes
befindet sich in der Gemeinde Stift Tepl und besteht die Aussicht, daß
der Distriktsarzt auch als Ordinarius des Stiftes Tepl bestellt wird.
Distriktsarztesstelle für die Sanitätsdistrikte in K r a i n :
1. Großlupp mit dem Jahresgehalte von K 1600; 2. Möttling mit
dem Jahresgehalte von K 1400 und 3. Tr ata mit dem Jahresgehalte
von K 1600. Mit jeder dieser Stellen ist auch eine Aktivitätszulage von
K 200 verbunden. Außerdem wird der Distriktsarzt in Großlupp noch
von der Sanitätsdistriktsvertretung einen Zuschuß jährlicher K 600 inso-
lange beziehen, bis er die Bahnarztesstelle daselbst erhält. Bewerber
um eine dieser Stellen haben ihre Gesuche bis 15. Juli 1907 an den
Landesausschnß des Herzogtums Krain einzusenden und in denselben
das Alter, die Berechtigung zur Ausübung der ärztlichen Praxis, die
österreichische Staatsbürgerschaft, physische Eignung, moralische Unbe¬
scholtenheit, bisherige Verwendung und Kenntnis der slowenischen und
deutschen Sprache nachzuweisen. Beigefügt wird, daß nur solche Be¬
werber berücksichtigt werden, welche eine zweijährige Spitalspraxis
nachzuweisen vermögen.
Gemeindearztesstelle für die Sanitätsgemeinde 0 ber-
k a p e 1 1 (Oberösterreich), Bezirk Rohrbach, mit einer Einwohnerzahl
von 2038 Seelen. Mit dieser Stelle ist ein jährlicher Gehalt von K 600
seitens der Gemeinde und eine Landessubvention von K 1000 verbunden.
Bewerber wollen ihre mit den Nachweisen der ärztlichen Befähigung,
der österreichischen Staatsbürgerschaft, der physischen Eignung, der
moralischen Unbescholtenheit, des Alters und der Konfession versehenen
Gesuche bis 20. A u gu s 1 1. J. entweder direkt beim oberösterreichischen
Landesausschusse oder im 'Wege der Sanitätsgemeindevertretung Ober¬
kappel überreichen. Der Posten kann sofort provisorisch von der
Sanitätsgemeindevertretung verliehen werden.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
811
Yerhandlangen ärztlicher Gesellschaften und Eongreßberichte.
INHALT:
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der Aerzte ia Wien. I 24. Kong^reß für innere Medizin zu Wieshaden, vom 15. bis
Sitzung vom 21. Juni 1907. t 18. April 1907.
Offizielles Protokoll der k. k. Gesellschaft der
Aerzte in Wien.
Sitzung vom 21. Juni 1907.
Vorsitzender: Hofrat Prof. v. Ebner.
Schriftführei : Dr. Blau.
Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg stellt den An (.rag, es
möge in Anbetracht der größeren Zahl angenieldeter Vorträge
und bei der andauernd regen Beteiligung an den Sitzungen vor
den Sonnnexferien noch eine Sitzung stattfinden.
Dieser Antrag wird angenoinnien und der 28. Juni als letzter
Sitzungstag bcstinnnt.
Hofrat Prof. Freiherr v. Eiseisberg stellt einen 86jährigon
Hann vor, der im April 1. J. die Klinik mit der Angabe aufsudde,
daßi er seit zwei Jahren leidend sei. Seit dieser Zeit breche
er oft nach Mahlzeiten im Unmittelbaren Anschlüsse an die Atah-
rungsaufnahme und habe dabei das Gefühl, als ob die Nahrung
gar nicht in den Magen gelangt sei. In letzter Zeit sei es vor-
gekominen, daß auch tags zuvor aufgenommeue Nahrung in voll¬
kommen unverdautem Zustande erbrochen wurde. Er habe bis¬
her um zirka, neun Kilogramm abgenommen. Diese iVugaben
des Patienten erwiesen sich während der Spitalsbeobachtung als
vollkommen richtig und wäre noch hinzuzufügen, daß' Sondie-
mngsversuche ein zirka in der Höhe der Kardia sitzendes Hindernis
ergaben, welches insofernc absolut genannt werden mußte, als
auch feinste Sonden niemals in den Magen gelangten. Damit
stimmte auch überein, 'daß. Pät., während er in der Klinik be¬
obachtet wurde, selbst Flüssigkeiten meistens nicht in den xtlagen
lu’achte, sondern wenige Minuten nach ihrer Aufnahme erbrach.
Nur selten konnte der Patient etwas in den Magen hinabbringen.
Der Gedanke an ein Carcinoma oesophagi mußte in Anbetracht
des langen Bestandes des Leidens hei relativ doch nicht so
hocligradiger Abmagerung und dem gleichzeitigen Befunde einer
so hochgradigen Stenose fallen gelassen werden und man dachte
von vornherein an ein Divertikel des Oesophagus. Damit stimmten
auch Röntgenbiider überein, die nacli Füllung des Oesophagus
mit Wismutbrei aufgenommen wurden. Dieselben ergaben eine
mächtige Aussackung des Oesophagus im kardialen Anteile, wobei
eben nur der tiefe Sitz der als Divertikel gedeuteton Aussackung
auffallen mußte. Es konnte sich aber noch immer um ein so
tief hinabreichendes Divertikel handeln. Niemals jedoch wurde,
trotz sorgfältiger Beobachtung, beim Verschlucken von Flüssig-
heilen eine iVnschwellimg am Halse des Patienten heoliacldet,
die auf den eventuellen Abgang des Diverlikels liingewiesen tiäite.
Dem borabgekommenen Patienten wurde nun zunächst eine Gastro¬
stomie als Ernährungsfistel nach dem Witzelschen Ihinzipe
angelegt Und erst nachdem er sich einigcrmaßien eriiolt hatte,
wurde die Oesophagoskopie ausgeführt. Dabei kam ich in einen
Bliudsack, aus dem ich r'eichlich alte Speisereste entleerte; nirgends
konnte ich mehr eine Andeutung von Licldung finden, so daß
auch durch 'diese Untersuchung der Verdacht auf Oesophagus-
diverlikel bestätigt erschien, wenngleich die Mündung desselben
in den Oesophagus, bzw. der Abgang von letzterem auch durch
diese Methode der Untersuchung nicht festgestellt werden konnte.
Pat. reagierte auf die Oesophagoskopie mit einer Eintagspneumonie.
Nach voliständig'er Erholung wünsclde er dringend eine Beseili-
gung seines Oesophagusdivertikels — die Diagnose halte der
Patieni sclion ans Rußland fertig miigebracht — , es war al)er
im voiliegenden Falle scliwer, zu entsclieiden, ob man vom
Halse aus oder per laparoiomiam eingehen solle. Der beste Weg,
von hinten mit Resektion einer entsprechenden Anzaid von
Rippen, erschien mir in Anbetracht der doch nicht klar liegenden
V’erhällnisse zu eingreifend. Nun ergai)en, am Tage vor der
Operation neuerdings angefertigte Röntgenbiider zwar wieder eine
scharf begrenzte, große Aussackung des Oesophagus i:u kardialen
Teile, aber diesmal setzte sich der Wismutschatteu iu Form
eines fingerförmigen Fortsatzes' gegen den Magen zu fort. Damit
mußte die Diagnose Divertikel fallen; denn derartige Fort¬
setzungen eines Divertikels kommen nicht vor. Man mußte jetzt
die Diagnose auf Dilatation des Oesopluigus, wahrsciieinlicli auf
Grund von Oesophagospasmus, machen. Daß' die neuerlichen
Röntgenaufnahm'en gegen die früheren in der genannten Weise
kontrastierten, hatte seinen walirscheinliclien Grumt darin, «laß
durcli die woclienlango Ausschaltung des Oesopliagus diircii die
Witze Ische Gastrostomiefistcl der Kartliospasmns nactigelass('U
lialte. Daraufhin entschloßi ich mich, per laparotomiam eiiizu-
geben. Ich eröffnete den Magen so weit, daß icli die ganze
Hand einfüliren konnte und sondierte die Kardia. Wälirend an¬
fangs nur ganz dünne Steinsonden in die Kardia eingei'üiivt
werden konnten, passierten schließilicli stärkere und endlich komit'C
ich den Daumen einführen. In ganz charakteristischer Weise
trat jetzt ein Kardiospasmus mit derartiger Vehemenz auf, daß
mein .Daumen fest innklammert wurde und ich in dems('il)en
ein ganz taubes Gefühl bekam. Der Krampf ließ' jedoch l)ald
nach und nun dilatierte ich die Kardia in gieichmäßäger Weise,
wozu mir der Daumen sicherer erschien als die seinerzeit von
V. Mikulicz vorgescldagene Kornzange. Vom. IMimde her wurden
nun Bougies eingeführt und schließlich gelang es, den seinerzeit
von mir angegebenen konischen Schlauch vom Alagcn lier ilurcli
die Kardia durchzuzichen. Nun wurde ein am Katheter der
Witzelschen Gastroslomio befestigter Faden durch den Oeso¬
phagus gezogen und beim Munde heransgeleitet, um jederzeit
sicher den Oesophagus bougieren zu können. Die Operation
wurde in typischer Weise lieendet.
D'or Kranke ist jetzt völlig geheilt. Es gelingt, ohne jed¬
wede Schwierigkeit Bougies Nr. 24 vom Munde aus in den Magen
einzuführen. Es sind zwar in der Literatur eine • Reihe von
Fällen bekannt, bei denen es sich um hochgradigen Ocsopliago-
spasnms handelte, die Fälle aber, in denen es im Anscldusse
an den Kardiospasmus zu so hochgradiger Oesophagusdilaiation
kommt, sind Seltenheiten.
Prof. Dr. Julius Tandler: IMeine Herren! Es ist eine iie-
kannte Tatsache, daß nicht nur die Gelenksflächen, sondern auch
die Muskellänge abhängig ist von den Bewegnngsmechanismen,
welche in den betreffenden Gelenken durchgeführt werden. Viel¬
fach hängt ja auch die Ruhestellung der Gelenke von dem Tonus
und der Länge der diese Gelenke beherrschendeil Muskeln ab.
An manchen Gelenken stellen die an eine bestimmte, Funktion
angepaßien Muskellängen sogar direkt Hemmnngsapparate inso-*
weit dar, als sie die Exkursionsbreite des Gelenkes beschränken,
vielfach sogar Bewegungsautomatismen begünstigen. So sehen
wir auch am Kniegeienke eine solche Anpassungserscheinung
insoferne Platz greifen, als der Kniestrecker, der Muscidus quadri¬
ceps, fiinklionell und anatomisch für die maximale Abbeugung
des Kniegelenkes zu kurz wird und so eine automatisclie Streck-
vorrichtnng dieses Gelenkes darstellt. Da. icli mich seit vielen
Jahren gerade mit der Frage des Einflusses des Muskeltonns
auf die habituelle Stellung der Gelenke vom küiistleriscli anatomi¬
schen Standpunkte beschäftige, so war gerade das vor einiger
Zeit vom Kollegen Erben liier zur Entlarvung eines Simiilan len
demonstrierte Experiment für mich von besonderem Interesse.
Das Experiment von Erben bestand in folgendem: Legt man
einen Menschen auf seine Bauchseite und beugt man nun das
Knie durch Erheben des Unterschenkels hei entspannter Mus¬
kulatur, so fällt der Unterschenkel, der Schwere folgend, lioden-
wäi'ts. Wenn nun die Abbeiigung des Kniegelenkes einen rechten
Winkel überschreitet, so würde nach den Worten Er hens ein
schlaff gelähmter Unterschenkel jetzt stehen bleiben oder ver¬
möge seiner Schwere die Kniebeugung noch vermehren. Der
von Erben demonstrierte Batient aber vollzog auch jetzt eine
wuchiigo Kniestreckimg. Nach der Meinung Er he ns müß'te nun
die erste Hälfte dieser Bewegung durcli Kontraktion des Knie-
slreckers bewirkt sein. Es ist selhstverständlicli, daßi ich dieses
Verfahren in seiner kliiiisclien Gebrauclisfähigkeit nicht zu be¬
urteilen vermag, will aber zugehen, daß es in dieser Weise ge¬
lingt, Simulanten zu entlarven. Nur die Argumentation zu diesem
Experimente, d. h. daß ein aktives Kontraktionsphänomen des
Musculus (luadriceps femoris notwendig sei für die erste Hälfle
der beschriebenen Bewegung, niiißi ich auf Grundlage einer Reilie
von Experimenlcn anzweifeln. Legt man einen normalen Men-
sclien auf einer liorizonlalcn Unleriagc auf den Bauch und beugt
<lami si'in Kiiiegeienk über einen rechten Winkel bei vollkommen
ersclda fiter Muskulatur dos Beines, so sclmelll der Unterschenkel
wieder anaiomiscli in die Strccksteltimg zurück. Bei genauer
Beobachtung der Beckenstellung siebt man, daß bei starker Ab¬
beugung des Kniegelenkes das Hüftgelenk ein wenig mitgebeugt
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
wird lind daß die Ijordose der Wirlielsänle ein wenig vergrüßerl
wird. G](Mcli7X!itig äußern die lie I reffen den Un|ersnclit''n schnierz-
hafkis Ileinniung.sgefühl an der Vorderseite Ihres Oberscdienkels.
Will ein Miuisch in der Haiudilage seinen Unterschenkel in der
neugeslelhing jensdts des rechten Winkels' hehalten, so gehört
dazu eine ziemlich kräflige Kontraktion seiner Knieheuger. Ich
hah(‘ solche Experimente in großer Zahl an normalen Älenschen
durchgeführt und cs läßt sich zeigen, daß die Schmdligkeit, mit
wi'lcher der Unti j'schenke! liotlenwärts z'urückgeschnellt wird, im
allgcmeimm vom Tonus des Ouadrizeps alihängt. Zwei Herren
unseres Instil utes hahen sich in lielienswürdiger Weise bereil
erklärt, dieses Exiierimenl hier an sich vornehmen zu lassen nnd
ich werde es den Herren dann sofort demonstrieren. Ich lialie
bisher noch keinen nonnalen ]\lensclien gefunden, an w'elchem
dieses Phänomen nicht prompt eintreten würde. Ihn alier zu
zeigen, daß es sich liier nicht nur um eine funklionelle/sondern
auch um eine analomische Kürze des Kniestreckers handelt, hala*
ich aiudi Leichen in Hauchlage gebracht und an ihnen experi-
menliert. Beugt man bei nicht mehr tolenstarren Leichen das
Kniegelenk in der besprochenen Weise ah, so geben die meisten
Leichen iliesellie Erscheinung wie der Lebende. Auch die Beu¬
gung des Hüftgelenke.s bei starker Flexion des Kniegelenkes kann
deutlich zur Ansicht gebracht tverden. Das Exiieriment fällt so¬
lange posiliv aus, bis der tote Muskel schließlich vollkommen
ühi'rdi'hnt ist. An einzelnen Leichen konnte ich über 50 Beu¬
gungen durchführen, ohne das Phänomen zum Schwinden zu
bringen. Durchschneidet man nun den Musculus rectus femoris,
so bh'ibt der Unterschenkel sofort gebeugt, resp. er sinkt noch
gegen dim Oberschenkel hinunter, ein Beweis, daß gerade dieser
Kopf des Ouadrizeps die Hauid.hemmung abgihl. Auch der nar¬
kotisierte Mensch, hei dem gewiß das aktive Kontrakt ionsjihänonien
auszuschalten ist, streckt bei der gegebenen Versuchsanordnung
das Kniegelenk automatisch. Man kann die relative Insufl'izienz
des Ouadrizeps auch noch erweisen, wenn man einen Menschen
so auf einer Tischplatte in Rückenlage bringt, daß seine Unter¬
schenkel frei über die Tischkante hinunterhängen; dann sind
dii'se nicht lotrecht eingestellt, wie es der Schwere entsprechen
würde, sondern sie bilden mit dem horizontalen Oberschenkel
(Inen hodenwärts gerichteten, stumpfen Winkel. Ein Beweis, daß
der zu kurze Ouadrizeps die rechtwinklige amuskuläre Beugung
des Kniegelenkes nicht zugibt. Bringt der Untersuchende den
Uiderschenkel in die Lotrechte, so schnellt er automatisch in
die früher beschriebene Stellung zurück.
IMeinc Denen! Die relative Kürze der Kniestrecker hat nicht
nur ihre individuelle Variante, sondern scheint auch nach Rasse¬
zugehörigkeit in besonderer Weise zu variieren. Jeder weiß, wie
verschieden leicht oder schwer den einzelnen Personen die tiefe
Kniidreuge wird und jedem, der heim Militär gedient hat, ist
es bekannt, wie viele Rekruten die tiefe Kniebeuge trotz aller
Bemühung nicht ausführen können. Bedenkt man nun, daß es
(dne ganze Zahl von Völkerschaften' gibt, bei denen die liefe
Ktiiebeuge derart, daß die Nates die Fersen berühren, eine Pvuhe-
Stellung bedeutet, so ist es klar, daß eine weitgehende Differenz
iit der Länge des Ouadrizeps femoris zwischen den Angehörigen
solcher Völkerschaften und den Europäern sein muß. Niemals
wohl wird ein Eui‘oi)äer die maximale Abbeugung des Knie-
gdenkes als Ruhestellung für sich beanspruchen.
Ich möchte nun den Anwesenden die besprochenen Ex-
p(-rimente an noiinalen Menschen mit gut entwickelter Musku¬
latur de m o n s t r i e r en .
Piiv.-Doz. Dr. Max Reiner: Im Anschlüsse an die Aus¬
führungen Prof. Tandlers, sowie mit Beziehung auf den Fall,
welchen Priv.-Doz. Dr. Erben vor drei Wochen hier vorgestellt
hat, erlauhe ich mir einen 14jährigen jungen Mann zu demon¬
strieren, der mit doppelseitiger Quadrizepslähmung behaftet
ist. Die Lähmung ist die Folge einer Attacke von Poliomyelitis,
welche der Pat. vor sieben Jahren durchgemacht hat. Der rechts¬
seitige Ouadrizeps ist komplett gelähmt, links läßt sich noch eine
minimale Funktionsfähigkeit des Rectus cruris feststellen.
Dieser junge Älann zeigt, wenn man ihn auf den Bauch
legt und die Kniegelenke über den rechten AVinkel hinaus beugt,
dasselbe Phänomen, welches, wie Tandler eben ausgeführt hat,
auch bei Gesunden (und auch an Leichen) eintritt — der Unter-
scheidcel schnellt wieder zurück, trotzdem bei dieser Versuchs¬
anordnung der Zug der Schwerkraft im Sinne der Vermehi'ung
der Beugung wiikt. In unserem Falle fungiert also selbst der ge¬
lähmte Ouadrizeps (als elastisches Band) noch kräftig genug, um
durch seine Vcikürzungstendenz der Schwerkraft entgegen zu
wirken. l*ls g<'ht daraus auch hervor, daß die Verlängerung des
ufdähmlea Muskfds in unstuem Falle keine besonders hoch¬
gradige ist.
Daß aber doch eine Verlängerung des gelähmten Muskels
stattgefunden hat, läßt sich durch eine Modifdeation des Versuches
erweisen. Ich lagere jetzt den Pat. so, daß er mit der Streckseite
seiner Oberschenkel auf einem mäßig hohen Tische liegt, während
er den Oberkörper samt dem Becken herunterhängen läßt
(wobei sich Pat. mit den Händen auf den Boden stützt). Nun
ist das Hüftgelenk gebeugt, der Musculus rectus cruris durch die
Annäherung seiner Insertionspunkte entspannt. Beuge ich nun¬
mehr den Unterschenkel über den rechten Winkel, so fällt die Ferse
gegen das Gesäß herunter, die elastische Wirkung des gelähmten
Muskels ist jetzt durch seine Entspannung ausgeschaltet. Bei in¬
takten Kniestreckern dagegen wird, wie ich mich an Gesunden
wiederholt überzeugt habe, auch unter den zuletzt geschilderten
Versuchsbedingungen das Rückfedern in die Strecklage beob¬
achtet.
Im allgemeinen können wir sagen, daß die beträchtliche
Verlängerung, welcher gelähmte Muskeln oft unterliegen, nur die
Folge der Kontraktur sind, vorausgesetzt, daß der gelähmte Muskel
an der konvexen Seite der Deformität verläuft. Ist aber, wie in
unserem Falle, die Kontrakturbildung ausgeblieben, so hält sich
auch die Verlängerung des gelähmten Muskels in mäßigen
Grenzen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mir erlauben, auf
<las Inter('sse, das dieser Fall auch sonst noch bieiel, binzuweisen.
Es handelt sich hier um eine nahezu isolierte Lähmung der
Kniestrecker bcidei'seits. Mit Ausnahme der beiden stark gc-
schwäcditeii Adduktoren sind alle übrigen Muskeln der beiden
unteren Extremitäten vollkommen funktionsfähig. Ich verweise
insbesondere auf die sehr kräftigen Glutaei, die iulaklen Knie-
beuger, sowie auf die kräftig entwickelte Wadenmuskidatur. Ich
ma.(die auch darauf aufmerksam, daß dieser Patient, trotz seiner
Kniestreckerlähmuug, weder eine Beugekoni rakfur der Kniegelenke,
noch eine Hyperextension derselben akcpiiriert hat. Es ist nun
interessant, wie dieser Patient den bilateralen Ausfall der mäch¬
tigen Extensorgruppe zu decken vermag.
Im Stehen entbehrt er seine Kniestrecker gar nicht; der
Ouadrizeps ist ja auch normalerweise bei der sogenaunten be-
(piemen Slehhaltnng vollkommen untätig und wird nur bei der
strammen militärischen Grundstellung in Anspruch genommen.
Beim Gehen aber hat der Quadrizeps normalerweise in zwei
Phasen des Schrittes Spannung zu entwickeln. Einmal in dem
Momente, wo das eben vorne aufgesetzte Bein die Rolle des
Stützbeines übernommen hat. Da geht die Schwerlinie • des
Körpers jioch hinter der Achse des Kniegelenkes vorliei, sucht
also die Beugung zu vermehren. Dieser Beugungstendenz wirken
noimalerweise sowohl die Spannung des Quadrizeps, als auch
die Beschleunigung entgegen, welche der Älasse des Körpers durch
das (hintere) Stemmbein eben verliehen worden ist. Unser Patient
deckt nun den Ausfall der Quadrizepswirkung durch eine be¬
sonders kräftig ausgeführte Plantarflexion des Stemmbeines, ver¬
mehrt also die Schwerpunktsheschleunigung durch einen übet"
kräftigen Abstoß des Stemmbeines vom Boden,. Dadurch gewinnt
sein Gang den stampfenden Charakter, den Sie an jhm wahr¬
nehmen.
Noch in einer zweiten Phase des Schrittes kommt normaler¬
weise die Quadrizepswirkung zur Geltung, sobald sich nämlich
der Rumpf über das Stützbein hinüber nach vorne bewegt. Der
Rumpf .beschreibt hiebei einen Bogen, dessen Mittelpunkt durch
den Fuß des Stützbeines repräsentiert wird. Die Höhe di(ises
Bogens wird nun aber in der Regel durch eine entsprechende
Kniebeuge des Stützbeines (ca. 15° nach R. du B o i s - Re y in o nd)
nicht unwesentlich verringert. Unserem Patienten .gestattet nun
zwar seine kräflige Schwerpunktsbeschleunigung auch eine leichte
Kniebeuge, aber nicht im vollen Ausmaße. Die Folge davon
ist, daß er der "Masse seines Körpers höhere Elengationen in
vertikaler Richtung erteilen muß, so daß sich sein Scheitel beim
Geben stärker hebt und senkt. Indessen tritt dieses Phänomen
jetzt weniger deutlich hervor, als es vor drei Jahren, als ich
den Patienten zum ersten Male untersuchen konnte, der Fall war.
Sehr interessant ist der Modus, wie der Patient beim Trepp¬
absteigen seinen Quadrizc'ps ersetzt. Auch hier hat dieser Muskel
als antagonistischer Synergist zu funktionieren, indem er die
KniebeUgung, durch welche die Verkürzung des (hinteren) Beines
um die Höhe der Stufe bewirkt wird, regulieit. Der Patient
weiß nun diese Verkürzung dadurch entbehrlich zu machen, daß
er .die schwungbeinseitige Körperhälfle nach voiaie dreht und
sich mit der kräftig ausgestn'ckten Fußispitze auf die vorden*
(unleri“) Stufe fallen läßl. Einerseits eri’eicht ei' duridi die starke
Ecpiinusslellting eim* Verlängerimg des Beines und verlängert da-
ilurch die Fallhöln“, anderseits sichert er durcdi ilen Zug des
gespannten ÄIusculus tricejis dem oberen Tibiaende und damit
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
8J3
dem Kniegelenke eine nach rückwärls wirkende Komponente,
so (Iah er sich auf das Hanghein fallen lassen kann, ohne in
dic'sem Momente die Gefahr dos Zusammenknickens im Knie-
geleidvo für(drten zu müssen. i
Das Treppa’iifsteigen, wobei der Quadrize])S ;ils synergisti¬
scher Agonist tätig ist, bewirkt unser Patient durch energische
Zuhilfenahme seiner erhaltenen Extensorgruppen CHüftstrecker,
Wadenmnskeln). Gegen das Einknicken sichert er die Ktiiegelenke
dadurch, daß er .seine Rumpflast vermittels seiner Arme auf die
Streckfläcben der Oberschenkel überträgt.
Ich unterlasse es, auf die übrigen Ausfallserscheinungen,
welche beim Niederselzen, Aufstehen, Bergauf- und Bergabsloig(m
und so weiter zutage treten, näher einzugehen und verweise
diesbezüglich auf meinen Artikel in der Zeitschrift für ortho¬
pädische Chirurgie 1904.
Hier imöchte ich nur noch auf die nicht unintcressanlio
Tatsache verweisen, daß unser Patient es gelernt, hat, trotz der
EähmUtig seiner Kniestrecker eine Kniehocko mäßigen Grades
auszuführeTi. Die Kniehocke erfordert bekanntlich den kräftigen
Synergismus aller drei großen Extensorgruppen. Bevor unser
Patient die.ses Experiment ausführt, stellt er sich so zwischen
zwei Stühle, daß er im Falle des Einknickens mittels der beiden
vorgestreckten Hände an den Sitzflächen der Stühle einen Hall
findet. Wie Sie sich überzeugen, kann er die Beugung der Knie¬
gelenke so weit treiben, daß diese ungefähr einen Winkel von
150 bis 140*^ bilden. Diese Stellung ist charakteiisiert durch sehr
starke Vorneigehaltung des Rumpfes und durch kräftigste An¬
spannung der Glutäal- und der Wadenmuskulatur.
Diskussion: Priv.-Doz. Dr. Erben: Der Kranke des Kollegen
Reiner liegt am Bauch, ich halte seinen Oberschenkel erhoben und
mache mit dem Unterschenkel eine extreme Beugung. Damit sind
alle soeben vorgebrachten Einwände gegen die Grundlage meiner
Methode und die daraus gefolgerten Schlüsse widerlegt. Die
elastische Kraft der gedehnten Muskeln und Bänder reicht jetzt
nicht aus, den über das Lotrechte hinausgebeugten Unterschenkel
aus seiner Lage zu bringen; der Unterschenkel verharrt durch
den Zug seiner Schwere gebeugt, die Schwerewirkung überwindet
dann den elastischen Zug. Das kann ich an den meisten Menschen
zeigen und habe ich zu Versuchszwecken zwei Frequentanten
meines Ambulatoriums mitgebracht. Nur bei fetten Leuten und
bei chroniseben Veränderungen am Knie, welche die Exkursions¬
größe des Gelenks einschränken, sinkt der extrem gebeugte
Unterschenkel von selbst zurück — trotz emporsteigenden Ober¬
schenkels.
Die Kritik des Herrn Prof. Tandler trifft für das, was
ich das vorige Mal an dem auf dem Boden Liegenden demonstriert
habe, zu. Damals ließ icb den Oberschenkel horizontal liegen.
Zuhause machte ich die Probe auf der schiefen Ebene — bei
hochgelagerten Knien — die mir hier nicht zur Verfügung stand.
Jetzt fiel mir ein, daß man die schiefe Ebene durch Hochhalten
des Oberschenkels ersetzen kann, wie ich es eben demonstriert
habe. Ich begreife nicht, warum Prof. Tandler bei seiner
weit ausgreifenden kritischen Studie verabsäumt hat, seine Ver¬
suche über relative Längeninsuffizienz unter anderem auch bei
Schieflagerung des Oberschenkels durchzuführen ; mein voraus¬
gegangener Vortrag mußte ihm dazu doch die Anregung geben,
er hätte dann die Wirkung der relativen Längeninsuffizienz des
Kniestreckers nicht überschätzt.
Durch das Hochlagern des Knies steigere ich die Wirkung
der Schwerkraft und der Unterschenkel bleibt in seiner extremen
Beugung stehen. Vermindere ich in dieser Einstellung die Beugung,
so federt — wie Sie sahen — der Unterschenkel beugewärts
zurück; in die Richtung der Beugung zieht ihn die Schwere. Die
von Prof. Tandler betonte relative Längeninsuffizienz des
Kniestreckers ist unter diesen Umständen kein Hindernis für den
positiven Ausfall meines Versuchs. Erfolgt aus dieser extremen
Kniebeugung heraus eine Streckbewegung, so kann dies nur durch
willkürliche Verkürzung des Kniestreckers geschehen.
Selbst das, was ich mit dem horizontal gelagerten Ober¬
schenkel das vorige Mal demonstrierte, war für eine willkürliche
Innervation des Kniestreckers charakteristisch. Der stark zurück¬
gebeugte Unterschenkel wurde blitzschnell gestreckt.
Durch Versuche an Gesunden, welche die Kniebeuger zu ent¬
spannen vermögen, weiß ich, daß die erste Hälfte einer solchen
Kniestreckung langsam und zögernd vor sich geht (durch den
elastischen Zug der gespannten Muskeln und Bänder) und daß
die Streckbewegung erst in der zweiten Hälfte durch das Flinzu-
kommen der Erdanziehung eine Beschleunigung erfährt. Mein
Simulant machte aber von vorneberein eine blitzschnelle Ex¬
tension.
Erhebt man den Unterschenkel eines am Bauch Liegenden
in der geschilderten Weise und stellt ihn mit einer leichten
Neigung gegen die Medianebene, so wird bei einer komplcten
(schlaffen) Beinlähmung infolge der nunmehr veränderten Schwere¬
wirkung zunächst eine Vermehrung der Oberschenkelrolhmg ein-
treten und die mediane Neigung des Unterschenkels wird zu¬
nehmen. Der Simulant jedoch wird eine geradlinige Streckung
ausführen, frei von einer solchen Seitenabweichung des Unter¬
schenkels. Das gibt einen weiteren Prüfungsbehelf beim Verdacht
von Simulation.
Priv.-Doz. Dr. Reiner: Wenn das Experiment bei er¬
hobenem Kniegelenke, resp. bei der Lagerung des Patienten auf
eine schiefe Ebene (mit dem Kopf nach unten) gelingt, so hängt
dies damit zusammen, daß das ganze System um eine horizontale
Achse gedreht wurde. Dadurch kommt der Stützpunkt des Unter¬
schenkels, das Kniegelenk, höher zu liegen und der Unterschenkel
gerät in eine, gegenüber der horizontalen viel weniger geneigte Lage.
Es ist aber verständlich, daß ein um so größerer Anteil desUnter-
scbenkelgewichtes vom Kniegelenke getragen wird, je steiler auf¬
recht der Unterschenkel steht und daß umgekehrt der Anteil
des Gewichtzuges, der zur Beugung des Kniegelenkes frei wird, umso
größer ist, je kleiner der Winkel wird, den die Achse des Unter¬
schenkels mit der Horizontaleberie einschließt. Die Kraft wächst
bekanntlich mit dem Cosinus dieses Winkels. Da es sich hier um
eine Wechselwirkung zwischen Schwerkraft und dem elastischen
Zuge handelt, so kann man den positiven Ausfall des Experimentes
bewirken, indem man für den Faktor ,, Schwerkraft“ bessere Be¬
dingungen setzt und das ist die Modifikation des Versuches, den
Erben heute gezeigt hat oder indem man den Faktor „elastischer
Zug“ verringert und das ist die von mir früher demonstrierte
Modifikation. Das von mir früher Gesagte wird dadurch in seiner
Gültigkeit nicht tangiert.
Professor Dr. Tandler: Meine Herren! Das Ex¬
periment, welches Dr. Er hon uns soeben vorgeführl hat und
welches er mir knapp vor Beginn der Sitzung im Nelienranme de¬
monstrierte, unterscheidet sich vollkommen von dem, welches
er vor drei Wochen au dieser Stelle ausführte. Es ist selbst¬
verständlich, daß sich meine Ausführungen nur auf ein Experi¬
ment beziehen können, welches ich selbst gesehen .habe oder
M-elches sich mit den xAusführungen dessen, der es beschreibt,
vollkommen deckt. Insolange ich dieses neue Experiment nicht
durchgeprüft habe, kann ich über die dabei in Betracht kommenden
Verhältnisse keinerlei Auskunft geben. Erben hat in seiner De¬
monstration das Experiment ebenso ausgeführt, wie ich es heute
hier gezeigt habe. Die Schieflagerung des Oberschenkels aber,
welche er nicht gezeigt hat, sondern von der er nur Erwähnung
getan hat, habe ich selbstverständlicherweise ebenfalls nach¬
geprüft, aber in der Weise, daß ich die Unterlage des zu unter¬
suchenden Menschen als ganze gegen die Florizontale so neigte,
daßi der Kopf tiefer lag als die Ferse. Ich habe bei dieser
Schieflagerung genau dieselben Resultate wie bei der Horizontal¬
lagerung erzielt. Im übrigen möchte ich bemerken, daßi es sich
mir picht darum gehandelt hat, zu entscheiden, in welcher Stel¬
lung das Bein noch gestreckt wird, sondern darum, daß aktive
Muskelkontraktion zur Streckung (les Kniegeleidces in der be¬
sprochenen Lage nicht notwendig sei, daß es ßich also hier
um einen vom iMenschen erworbenen Automatismus handle. Be¬
züglich der Ae'ußerung von Erben über den zwischen uns vor¬
herrschenden Kampf in dieser Frage möchte ich nur bemerken,
daß ich nicht hieher gekommen bin, um zu kämpfen, sondern
eine Eigentümlichkeit der menschlichen Muskulatur ira anato¬
misch-physiologischen Sinne zu betrachten.
Assistent Dr. med. et phil. Hermann Algyogyi (als Gast):
Meine Herren! Ich erlaube mir Ihnen aus Prof. Benedikts
Nerven-, bzw. Spitalsabteilung an der Allgemeinen Poliklinik einen
Fall vorzuführen, der einerseits wegen seines seltenen Vor¬
kommens, anderseits aber wegen einiger Besonderheiten von
Interesse ist. Es handelt sich um einen 40jährigen Pat., der —
um aus der Krankengeschichte bloß das wichtigste hervorzu¬
heben - aus gesunder Familie abstammt, Lues leugnet, sehr mäßiger
Trinker und Raucher ist und der bis auf Masern in seiner Kindheit
und eine hartnäckige Gonorrhöe vor 20 Jahren bis zum Beginne
seiner gegenwärtigen Erkrankung am 21. November 1906 stets ge¬
sund gewesen sein will. Damals verspürte er am Nachnnttag plötz¬
lich ein Gefühl wie von „Pfeffer“ (also eine Parästhesie) in der
rechten Nasenhälfte und Schmerzen in der rechten Kopfhälfte ;
gleichzeitig traten auch Schluckbeschwerden und Heiserkeit —
jedoch ohne Sprach- und ohne Bewußtseinstörnng — sowie eine
Hemiparese rechts und eine Schwäche im linken Beine auf, so
daß Pat. zu Bette gebracht werden mußte. Ein rasch herbei
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
geholter Arzt verordiiete ihm ein Pulver, das er jedoch nicht
schlucken konnte. Am anderen Morgen ließen die Kopfschmerzen
rechts etwas nach, traten aber dafür um so kräftiger links auf ;
auch bemerkte der Pat., daß er in der linken Körperhälfte stark
schwitze (im Beine schwächer) und mit Ausnahme des Gesichtes
kein richtiges Gefühl habe, insbesondere keinen Schmerz und
keinen Temperaturunterschied empfinde, dabei aber trotzdem
andauernd ein unangenehmes Kältegefühl im linken Fuße und
vermehrtes Hunger-, besonders aber Durstgefühl verspüre. Pat.
ließ sich nun in das englische Hospital in Colombo auf Ceylon,
wo er damals weilte, auf nehmen, wo man außer den erwähnten
Symptomen — bis auf die Schwäche im linken Beine — auch
eine Parese des rechten Mundfazialis und eine Verengerung der
rechten Pupille konstatieren konnte. Infolge der Schlinglähmung
mußte Pat. durch 25 Tage mittels Schlundsonde ernährt, werden .
Von da ab konnte er schon schlucken. Beim Aufsitzen im Bette
kam er regelmäßig ins Schwanken, mit der Tendenz, nach links
zu fallen. Am Ende der fünften Woche wurde dann Patient — ■
bis auf das Schwinden der Schlinglähmung und der leichten
Besserung des Gehvermögens — im allgemeinen ungebessert aus
dem Hospitale entlassen. Seine Gehschwäche besserte sich
hierauf bis zum 24. Februar allmählich so weit, daß er mit
Hilfe eines Stockes herumgehen konnte. Er schiffte sich nun
nach Europa ein und an Bord besserte sich seine Gehschwäche
so weit, daß er bald auch des Stockes entraten konnte. Nach
seiner Landung konsultierte er meinen Vorstand, der ihn am
26. März in seine Spitalsabteilung an der Allgemeinen Poliklinik
aufnehmen ließ.
Seither hat sich sein Zustand bis heute im großen und
ganzen nicht wesentlich gebessert. Kurz zusammengefaßt, finden
wir beim Pat. folgende Symptome : rechte Lidspalte und Pupille
etwas enger als links, Reaktion der Pupillen beiderseits prompt,
rechter Bulbus leicht zurückgesunken ; es bestehen somit rechts
okulopupilläre Symptome. Augenbewegungen beiderseits voll¬
kommen frei, keine Doppelbilder, leichter Nystagmus beim
Seitwärtsblicken ; Augenhintergrund beiderseits normal (Unter¬
suchung von Prof. V. R e u ß). Sensibler und motorischer Trige¬
minus beiderseits normal ; leichte Insuffizienz der Lippen¬
muskeln rechts, außerdem Zwangslachen ; die Zungenbewegungen
sind normal ; Gaumensegel wird beim Anlauten in beiden Hälften
gleich gut gehoben. Geruch, Geschmack und Gehör intakt. Die
Sprachprüfung ergibt bloß heisere Stimme, welche laryngoskopisch
durch eine rechtsseitige Stimmbandlähmung bedingt ist (Unter¬
suchung von Priv.-Doz. Dr. K o s c h i e r), für welche eine periphere
Ursache (Aneurysma usw.) nicht aufzufinden war.
Motilität: aktive Bewegungen in allen Gliedmaßen .voll¬
kommen frei ; leichte Adynamie des rechten Oberarmes beim
Händedruck; in den übrigen Gliedmaßen ist die grobe motorische
Kraft nicht herabgesetzt, trotzdem Pat. andauernd über Schwäche
in den Beinen beim Gehen klagt.
Sensibilität: rechts normal, auch im Gebiete des
Trigeminus; links ist die Berührungsempfindung bis zum Trige¬
minusgebiete nur leicht abgestumpft, ebenso auch die faradokutane
Sensibilität, während die Schmerz- und Ternperaturempfindung in
diesem Bereiche vollkommen fehlt bis zum Gebiete der oberen
vier Zervikales und bis auf IV2 cm von der Mittellinie vorne
am Rumpfe, wo dieselben bloß herabgesetzt sind. Tiefe
Sensibilität (Lagegefühl, Stereognose) beiderseits intakt; keine
Ataxie, kein Romberg. Thoraxorgane bis auf den etwas lauteren
zweiten Aortenton normal, ebenso auch die Bauchorgane. Puls¬
zahl : 80 bis 85.
Reflexe: Patellarreflex : rechts etwas erhöht (keine Hyper¬
tonie der Äluskulatur) ; Plantarreflex: rechts vorhanden, links
nicht auslösbar ; Achillessehnen- und Cremasterreflexe beiderseits
vorhanden; Bauchreflexe rechts deutlich gesteigert; Radiusreflex:
rechts etwas erhöht; Trizepsreflex: beiderseits vorhanden ; Gaumen¬
reflex: fehlt; Rachenreflex: stark herabgesetzt ; KonjunktivaP und
Kornealrefiex : beiderseits normal.
Körpergewicht vor der Erkrankung 82 kg, bei der Aufnahme
am 26. März 80 kg und heute 78 kg.
Die Urinuntersuchung ergab: 5'2°/o Zucker bei normaler
Harnmenge und sonst normalen Harnbestandteilen; durch eine
spezifische Diät gelang es mir, die Zuckerausscheidung auf
einige Zehntel Prozent herabzudrücken, wobei er das Durstgefühl
verlor und in den letzten zwei Tagen schwand der Zucker voll¬
kommen aus dem Urin, wobei er bereits zwei Semmeln pro Tag
essen durfte. Seit dem 4. Mai klagt Pat. andauernd über sehr
heftige Schmerzen im linken Oberschenkel.
Auf Grund dieses Symptomenbildes kann nun die Diagnose
nicl'it zweifelhaft sein. Dieselbe wird durch die rechtsseitige Re¬
kurrenslähmung und die wechselständige Empfindungslähmung,
welche für eine einseitige Herderkrankung in der Medulla oblongata
charakteristisch sind, vollkommen gesichert. Wir haben es
demnach mit Rücksicht auf die befallenen Hirnnerven der rechten
Seite (Fazialis, Rekurrens) mit einem Herde in der rechten Hälfte
der Oblongata zu tun. Die klinische Diagnose lautet daher :
Akute oder apoplektische Bulbärparalyse. Wegen der leichten
Parese de;^ Mundfazialis muß der Herd proximalwärts bis zum
Fazialiskern (0 b e r s t e i n e r s Ebene h) und kaudalwärts bis
zur Kreuzung der motorischen Leitungsbahnen reichen (d. i. bis
zu 0 b e r s t e i 11 e r s Ebene b). Was nun die genauere Lokal¬
diagnose in der Querschnittsausdehnung anlangt, so müssen be¬
troffen sein :
1. Wegen der Stirarnbandlähmung, die spinalen Anteile
des Nucleus ambiguus, des motorischen Vaguskerns (Grabower,
S c h 1 e s i n g e r), welche nach den Befunden von W ä 1 1 e n b e r g,
van 0 o r d t, Dana u. a. das Zentrum für die Kehlkopf¬
muskulatur darstellen, während in dessen proximalen und medialen
Anteilen das Zentrum für die Schlingbewegung lokalisiert ist.*)
Da die Schlinglähmung in unserem Falle bloß vorübergehend
(durch 25 Tage) bestand, so muß der dauernde Herd die letzteren
Teile des Nucleus ambiguus verschont haben.
2. Wegen der leichten Parese des rechten Mundfazialis kann
der rechte Fazialiskern nur in geringem Grade betroffen sein.
3. Wegen der wechselständigen Lähmung der Schmerz-
Lind Temperaturempfindung (mit Ausnahme des Trigeminusgebietes)
müssen deren Leitungsbahnen fast v'^ollkommen unterbrochen sein,
welche nach der jetzt vorwaltenden Auffassung (W a 1 1 e n b e r g,
Kohnstamrn, ÄI a r b u r g, Mai u. a.) nach der Kreuzung
in der grauen Substanz des Hinterhorns im Gebiete des Tractus
anterolateralis, dem sogenannten Gower sehen Bündel nach
aufwärts zur Oblongata ziehen und hier im ventrolateralen Anteile
der Substantia (oder formatio) reticularis lateralis als Tractus
spinotectales und Tractus spinothalamici verlaufen.
4. Wegen der leichten, rechtsseitigen oculopupillären
Symptome müssen in geringem Grade auch die sympathischen
Bahnen in der Oblongata affiziert sein, welche nach J. Hoff¬
mann und Marburg in der Oblongata stets homolateral,
u. zw. nach Marburg im dorsomedialen Teile der Substantiva
reticularis lateralis verlaufen.
5. In geringem Grade wird auch die gekreuzte, motorische
Leitungsbahn betroffen sein, da durch über drei Monate eine
Parese der rechten Unterextremität bestand und auch jetzt noch
eine Herabsetzung der groben motorischen Kraft im rechten Arm
b3im Händedruck nachweisbar ist.
Zu den Besonderheiten des Falles könnte man rechnen •
1. Die durch mehrere Wochen bestandene Tendenz nach links,
d. i. nach der dem Herde entgegengesetzten Seite
zu fallen, ähnlich wie in einem Falle von Leyden und von
W a 1 1 e n b e r g. Dieses Symptom möchte ich auf die vorüber¬
gehende Leitungsunterbrechung jener Olivenfasern beziehen,
welche zum kontralateralen Corpus restiforme ziehen, welches
mit dem Kleinhirn in Verbindung steht. 2. Das in der Regel
seltene Freibleiben der sensiblen Trigeminuswurzel auf der Seite
des Herdes, welche infolge leichter Reizung von seiten des Herdes
bloß eine initiale, partielle Parästhesie darbot. 3. Die (von mir
zuerst beim Pat. beobachtete, in den letzten Tagen allerdings
bereits geschwundene) beträchtliche Melliturie (bis zu b'2'^l-.),
welche trotz des Fehlens früherer Harnuntersuchungen wahr¬
scheinlich vom Anfang an bestanden hat, da sich beim Pat.
gleich nach dem Insult vermehrtes Hunger- und Durstgefühl ein¬
stellte.
Was nun die Entstehungsursache des Leidens anlangt, so
kann, da Tumoren infolge des akuten Einsetzens und besonders
wegen der Besserung einiger Symptome voii vornherein ausge¬
schlossen sind, nur eine Gefäßläsion in Betracht kommen. Eine
Blutung ist aber ebenfalls auszuschließen, da Blutungen in der
Oblongata erfahrungsgemäß sehr selten sind und dann in der
Regel stürmischer einsetzen (mit Bewußtseinverlust usw.) und
meist sehr rasch ad exitum führen. Es bleibt somit nur die
Annahme eines Gefäßverschlusses übrig u. zw. entweder durch
Emb olie oder Thrombose im Gebiete der rechten Arteria vertebralis.
Da eine Quelle für einen Embolus (Herzfehler, Nierenleiden,
Malaria usw.) aber nicht aufzufinden ist, so wird mit Rücksicht
auf den etwas lauteren zweiten Aortenton und darauf, daß
Thrombosen in der Oblongata bäufiger sind als Embolien, eine
autochthone Thrombose vorliegen. Wir haben es demnach mit
einer (partiellen) Thrombose der Arteria vertebralis selbst zu tun,
denn eine Thrombose ihres Astes, der Arteria cerebelli infer, post..
*) Nach den Befunden von W a 1 1 e n b e r g, van 0 0 r d t,
R a n s o h 0 f f, Dana, Marburg u. a.
Nr. 26
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
815
jilleia kann hier wegen der Größe und Ausdehnung des Herdes
nicht in Betracht kommen, da ilir Versorgungsgebiet auch nach
den Untersuchungen \V a 1 1 e n h e r g s ein kleineres ist, als jenes,
das dem Herde in unserem Falle entsprechen muß.
D r. R. Kaufmann ; U c h e r K o n l r a k t i o n s p h ä n o ni one
am ^lag('n. (Erscheinl ausführlich iu dieser Wochensclirifl.)
Die Diskussion zu diesem Voiirage wird auf die nächste Silzung
verschoben.
Priv.-Doz. Dr. Oskar Stoerk: Ueber experimentelle
Leberzirrhose auf luherkuloser Basis. (Erscheinl aus¬
führlich in dieser Wochenschrift.)
Dr. Bartel: D'ie demonstricrien Objekte: 1. rechtsseitige
Inguinallymphdrüse eines Meerschweinchens nach subkutaner
'ruberkuloseinfektion. Diese Drüse ehedem bohnengroß und er¬
weicht, hatte sich unter spezifischer Behandlung auf knapp
Hanfkorngröße verkleinert und ist nunmehr derb bindegewebig
mit vereinzelten Riesenzellen. 2. Kleiner schwieliger Herd in der
Lunge desselben Tieres mit Bronchiektasie. 3. und 4. Die Lungen¬
unterlappen zweier Meerschweinchen, von welchen das eine (3)
einer sehr schwachen Tuberkuloseinfektionsgelegenheit ausgesetzt
war, während das zweite (4) durch Fütterung infiziert lange Zeit
einer spezifischen Behandlung unterzogen worden war. (Beide
Tiere sind gleichzeitig in Kayserling aufgestellt.) 5. Verdichteter
Lungenherd mit reichlichen eosinophilen Zellen in einer Meer¬
schweinchenlunge. Das betreffende Tier war gleichfalls einer sehr
geringfügigen Tuberkuloseinfektion ausgesetzt gewesen und zeigte
bei der Obduktion eine adhärente Stelle eines Lungenlappens. Die
der Verwachsung entsprechende Lungenpartie enthielt ektatische
Bronchien mit sehr flachem Epithel in derbem Bindegewebe ohne
Erscheinungen von Bronchitis. Auch in der Umgebung der Bronchi-
ektasien fanden sich wie in der Lunge überhaupt reichlich eosino¬
phile Zellen.
24. Kongreß für innere Medizin zu Wiesbaden
15. bis 18. April 1907. (Fortsetzung.)
Referent: N. Meyer-Bad Wildungen.
V. Sitzung: Mittwoch den 17. April, vor.mittags.
P 1 e s c h - Ofen-Pest : Methoden und Ergebnisse
der klinischen Blutmenge nhestim in ungen.
P losch demonstriert einen handlichen Apparat zur Be¬
stimmung des 0-Gehaltes und der CO-Kapazität im Blute ohne
Pumpe. Der Apparat dient sämtlichen Farbbestimmungen und zur
Hämoglobinometrie. Die Hämoglohinbestimmungen sind genauer
als mit dem Spektrophotometer. Mit Hilfe der beiden Apparate
führte er einerseits auf dem Wege der Kohlenoxydinhalation,
anderseits durch Injektion von isotonischer Kochsalzlösung seine
Blutraengenbestimmung aus. Das Prinzip der Inhalationsmethode
ist folgendes : Eine abgemessene Menge (ca. 100 cm® für 70 kg
schweren Menschen) Kohlenoxyd wird dem Individuum zum Ein-
athmen gegeben. Nach der Inhalation wird Blut entnommen und
darin das Kohlenoxyd gasanalytisch oder chromophotometrisch
bestimmt. Bei der Infusionsmethode wird eine Blutprobe ent¬
nommen, durch intravenöse Kochsalzinfusion das Blut verdünnt.
Das nach der Inhalation entnommene Blut wird im Pie sch sehen
Chromophotometer mit dem vor der Inhalation entnommenen
Blute verglichen.
Die Ergebnisse der Untersuchungen werden in folgenden
Schlußsätzen zusammengefaßt :
1. Laut den bisher vorliegenden Resultaten der Blutmengen-
hestimmung-im lebenden Organismus beträgt die zirkulierende
Blutmenge des gesunden Erwachsenen ö"/.', resp. V^o des Körper¬
gewichtes,
2. Die Hämoglobinmenge eines gesunden erwachsenen
Menschen beträgt 0'7%, resp. Vuo des Körpergewichtes.
3. Die Blutmenge des Hundes beträgt 7 bis 8'Vo, des Pferdes
7 bis 10“/ü, des Kaninchens 5 bis 6'Vu des Körpergewichtes.
4. Nach den bisherigen Resultaten haben fette Individuen
im Verhältnis zum Körpergewichte eine geringere Blutmenge als
magere Individuen.
5. Bei Chlorotischen -wechselt die kreisende Blutmenge
zwischen 7 '7 und 10'87o des Körpergewichtes.
6. Bei der Anämie, die nach schweren Blutungen entstanden
ist, beträgt die Blutmenge 4'6 bis des Körpergewichtes.
7. Bei Nephritikern ohne Oedeme fand sich die Blutmenge
gegen die Norm vermehrt u. zw. beträgt sie beim Menschen
8‘09 bis 9’91“/o, d. h. '/jj-s bis Vio-oa des Körpergewichtes, _ beim
Hunde 15'83 bis 16 06® o, d. h. 'In-i bis '/«-s des Körpergewichtes.
8. Die Hämoglobimnenge ist bei den Nephritikern ebenfalls
vermehrt und zwar beträgt sie beim Menschen 0'97 bis l’42®/p,
heim Hunde 3T bis 3'5'7.. des Körpergewichtes.
9. Sowohl bei der Kochsalzinfusionsmethode als hei der
Kohlenoxydinhalationsmethode sind bisher keinerlei Schäden für
das untersuchte Individuum beobachtet worden.
10. Als die klinisch empfehlenswerteste Methode ist die
intravenöse Infusion von isotonischer Kochsalzlösung, verbunden
mit der chromophotornetrischen Bestimmung der Abnahme der
Färbekraft des Blutes zu betrachten.
H u i s m a n s - Köln : Zur Nosologie und patho¬
logischen Anatomie der Tay Sachsschpn fami¬
liären amaurotischen Idiotie.
Hu is mans kommt bei Vergleichung des klinischen Bildes
mit dem pathologisch-anatomischen Befund zu dem Resultate,
daß die Tay- S achssche Erkrankung kein charakteristisches
Krankheitsbild ist, weil sämtliche klinischen Symptome auch hei
anderen Erkrankungen des Zentralnervensystems Vorkommen und
weil ferner ein Zusammenhang des klinischen Bildes mit einem
bestimmten anatomischen Befund nicht vorhanden ist.
Die familiäre amaurotische Idiotie ist eine A b-
art der Littleschen Krankheit resp. der zere¬
bralen Diplegie und beruht häufig auf entzündlichen Prozessen.
Im H u i s m a n s sehen Falle bestand eine Pachy- et Leptomenin¬
gitis, Sinusthrombose und Hydrozephalus chron. mit ihren Folgen.
Anfallend ist die auch in anderen Fällen erwähnte, gleich¬
zeitig mit der T a y - S a c h s sehen Krankheit sich entwickelnde
Rachitis. Wahrscheinlich beruhen beide Affektionen auf denselben
Ursachen, vor allem Veranlagung, schlechten hygienischen Ver¬
hältnissen und Infektion resp. Toxinwirkung.
Rheinboldt - Kissingen : Demonstration eines S p h y g-
m o s k 0 p s.
VI. Sitzung; 17. April 1907, nachmittags.
H e i 1 n e r - München : D i e B e d e u t u n g d e r Wasser¬
zufuhr für die F e 1 1 z e r s e t z u n g im Organismus.
Während über die Wirkung der Wasserzufuhr auf die Ei¬
weißzersetzung, resp. die Stickstoffausscheidung im Harne viele
sorgfältige Beobachtungen vorliegen, waren unsere Kenntnisse
über die Frage der Einwirkung der Wasserzufuhr auf die Fett¬
zersetzung in Ermangelung exakter physiologischer Untersuchungen
durchaus unzureichend. Durch vier gleichgerichtete Respirations¬
versuche von sechs- bis achttägiger Dauer im V o i t sehen Respi¬
rationsapparate wird am hungernden Hunde und am hungernden
Kaninchen nachgewiesen, daß durch Wasserzufuhr (2 Liter beim
Hunde, 150 cm® beim Kaninchen) übereinstimmend eine im
IMittel ca. 9®/o betragende Steigerung der Fettzersetzung herbei¬
geführt wird. Auch die Stickstoffausfuhr im Harne ist mit einer
(wahrscheinlich nur scheinbaren) Ausnahme durchweg gesteigert.
Die spezifisch-dynamische Wirkung der Nahrungsstoffe (nach
Ruhne r), welche sich besonders nach abundanter Zufuhr der
einzelnen Nahrungsstoffe geltend macht, galt bis jetzt nur für
die energieliefernden Nahrungsstoffe. Es lag der Gedanke nahe,
daß die bei den Versuchen beobachtete Steigerung der Fett¬
zersetzung (und der Eiweißzersetzung) bedingt sei nicht durch
das zugeführte Wasser an sich, sondern durch die Ahundanz des
Wassers. Diese Annahme fand in entsprechenden Versuchen ihre
Bestätigung. Das hungernde Tier bedarf unter normalen Bedingungen
so gut wie keiner Wasseraufnahme. Das Wasser wird ihm in
genügender Menge durch Zerfall seiner Leibessubstanz geliefert.
Das bei normalem Hunger gegebene Wasser ist daher exquisit
abundant. Die bei diesen Versuchen beobachtete Steigerung der
Fettzersetzung (und der Stickstoffausfuhr) bleibt nun überein¬
stimmend aus, wenn das zugeführte Wasser im Körper einen
physiologischen Zweck erfüllt. Dies zeigte sich 1. in vier über¬
einstimmenden Versuchen, in welchen hungernden Kaninchen je
150 cm® Wasser gegeben wurden, in welchem jedoch je 32 g
Dextrose gelöst waren. Hier fand also das Wasser als Lösungs¬
mittel für einen Nahrungsstolf zweckmäßige Verwendung. 2. in
einem Versuche, in welchem ein Kaninchen bei völligem Hunger
in einer Umgebungstemperatur von 33® C gehalten wurde. Hier er¬
füllten die 150 cm® zugeführten Wassers den Zweck, den durch
die hohe Außentemperatur verursachten Wasserverlust zu decken.
Bis vor kurzem herrschte noch große Meinungsverschieden¬
heit, oh die nach Zufuhr reichlicher Wassermengen beim hun¬
gernden Tiere beobachtete Steigerung der Stickstoffausscheidung
auf einer Mehrzersetzung von Eiweiß im Harne beruhe oder
durch Ausschwemmung stickstoffhaltiger Zersetzungsprodukte aus
den Geweben bedingt sei. Durch einen Vergleich der korrespon¬
dierenden Chlor- und N-Ausscheidung konnte gezeigt werden, daß
WIENER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 1907.
Nr. 26
es sich wohl um eine Mehrzersetzung von l'hweiß handelt. Der
Mehrzersetzung von Fett entspricht auch eine solche von Eiweiß,
wie überhaupt das Verhalten der Eiweiß- und Fettzersetzung durch¬
aus parallel geht. I\Ian kann daher sagen, auch das Wasser ent¬
faltet wie die andern energieliefernden Nahrungstoffe bei abundanter
Zufuhr eine spezifisch-dynamische Wirkung auf die Stoffzersetzung.
Durch das abundant zugeführte Wasser wird jedoch nicht in
erster Linie das Wasser selbst, sondern Eiweiß und Fett in ver¬
mehrter Menge zersetzt.
Die in den vorliegenden experimentellen Befunden ent¬
haltenen Tatsachen können demgemäß praktisch vielleicht für die
Behandlung der Fettleibigkeit einigermaßen Anwendung finden.
Leo- Bonn : Untersuchung über die Eiweiß-
V e r d a u u n g.
Die Salzsäure verbindet sich in zweifacher Weise mit dem
Fibrin. Erstens direkt, gleichgültig ob Pepsin zugegen ist oder
nicht. Diese Verbindung ist aber nicht imstande, das Pepsin derart
zu verketten, daß Proteolyse erfolgt. Letztere wird nur durch die
zweite Bindungsart der Salzsäure bewirkt und diese kommt durch
Vermittlung des Pepsins zustande, während man früher ein um¬
gekehrtes Verhalten annahm. Die erstere Verbindung wird durch
CatiOs, nicht aber durch Günzburg und Congo angezeigt. Da die
zu ihrer Bildung erforderliche Salzsäure nicht unbeträchtlich ist, muß
man hei Subazidität mehr Salzsäure geben, als es meist geschieht.
Die tryptische Proteolyse beruht auf einer Anlagerung der
Enterokinase an das Fibrin unter Vermittlung des Trypsinggens.
Der Nachweis einer ungenügenden tryptischen Proteolyse in dem
entleerten Darininhalt schließt bei starker Diarrhöe nicht die Ab¬
wesenheit von Pankreassaft im Darminhalt aus. Um letztere nach¬
zuweisen oder auszuschließen, wird empfohlen, die ungelösten
Eiweißstücke mit Sodalösung, eventuell unter Zufügung von
Enterokinase der Bruttemperatur auszusetzen. (Autoreferat..)
L 0 m m e 1 - Jena : Die Verwertung parenteral
ein geführten Eiweißes im Tier kör per.
Ivommel hat die Eiweißzersetzung im Tierkörper hei intra¬
venöser Eiweißzufuhr untersucht. Die beobachteten Hunde be¬
fanden sich im Stickstoffgleichgewicht oder im Hunger. Es zeigte
sich, daß der Eiweißstickstoff des zugeführten Schweineserums bei¬
nahe quantitativ im Harn wieder erschien, also dieses Eiweiß zer¬
setzt wurde. Die Zeitkurve der über ca. drei Tage sich erstreckenden
Mehrausscheidung des Stickstoffes war sehr ähnlich gestaltet wie
hei Eiweißaufnahme durch den Darm, was dafür spricht, daß
nicht ausschließlich die im Darm herrschenden Verdauungs- und
Resorptionsvorgänge an dieser langsamen Eiweißzerlegung be¬
teiligt sind. Merkwürdiger Weise wurden größere Mengen von
arteigenem (Hunde-)Serum bei intravenöser Einverleibung auch
von dem schwer hungernden Hund nicht verwertet. Das arteigene
Serum scheint nicht in der Weise angreifbar zu sein, wie das
im Darm aufgenommene, bzw. wieder aufgebaute Nahrungseiweiß,
das also in irgendwelcher Weise von den stabileren Eiweißstoffen
des Blutes verschieden sein muß. Wenn das arteigene Serum vor¬
der Einspritzung auf 68® erhitzt wurde, erwies es sich als teil¬
weise zersetzlich. Ein aus Milch dargestelltes Alkalialbuminat
konnte ebenfalls bei „parenteraler“ Einverleibung nicht verwertet
werden. — Von dom eingespritzten artfremden Serum konnten
Spuren noch tagelang nach der Einverleibung im Blut nachgewiesen
werden, ohne daß dieser Nachweis gegen die Zersetzung des
größten Teiles des Eiweißes ins Gewicht fallen kann.
W i n t e r n i t z und v. M e r i n g - Halle : lieber den
Einfluß verschiedener Substanzen auf die durch
Ueberhitzung veranlaßte Temperatursteigerung.
W i n t e r n i t z und v. M e r i n g fanden, daß antipyretische
Mittel (Antipyrin, Phenazetin, Chinin und Salizylsäure), sowie
Alkohol, ferner diejenigen, welche die Schweißsekretion steigern
oder beschränken, beim JMenschen auf den Temperatur¬
verlauf nach Ueberhitzung im Glühlichtbad (durch heiße, bzw.
Luftbäder) keinen Einfluß haben. Die Autoren kommen zu dem
Schluß : Durch Ueberhitzung werden so günstige Bedingungen für
die Wärmeabgabe geschaffen, daß sie durch medikamentöse
Mittel nicht mehr zu steigern sind, ferner: für die Wärme-
b i n d ung durch Wasserverdunstung kommt nur ein
mäßiger Grad von Hautfeuchtigkeit in Betracht, die Schweißsekretion
in tropfbar flüssiger Form ist dafür ganz gleichgültig.
Zweifellos wirken alle Antipyrelika mit einem hauptsächlichen
Anteil durch Vermehrung der Wärmeabgabe.
Isaac \md R. v. d. Velden- Marburg ; Die K r e is¬
la u f w i r k u n g isolierter E i w e i ß k ö r p e r.
Es gelang den Verfassern mit jodierten Eiweißkörpern (Eier¬
albumin, krist. Albumin, Globulin, Albumosen), die nur intra¬
molekular gebundenes Jod enthielten, bei intravenöser Zufuhr
im Kreislautexperiment typische Wirkungen zu erhalten, die
mit dem nicht jodierten Ausgangsmaterial nicht erreicht werden
konnten. Es handelt sich dabei vor allem um eine sehr starke
zentrale Vagusreizung durch die jodierten Produkte, die durch
Atropinisierung oder Vagusdurchschneidung ausgeschaltet werden
konnte. Diese vagotrope Wirkung Hat jedoch nur bei der Katze
(Fleischfresser) ein, wurde aber beim Kaninchen (Pflanzenfresser)
vermißt. Weiter vermochten Verf. nicht den von C y o n gefundenen
Antagonismus zwischen Atropin und Schilddrüsensubstanzen am
Herzvagus große Bedeutung zuzumessen, da dies Phänomen, auch
auf andere Weise hervorgerufen werden kann.
Pel -Amsterdam : Paroxysmale Hämoglobinurie
u n d H y p e r g 1 o b u 1 0 s e.
Ein 66jähriger Offizier leidet an paroxysmaler Hämoglobinurie
und gleichzeitiger Hyperglobulie. Es besteht die Möglichkeit, daß
die Hämoglobinurie primär ist und die Hyperglobulie ein
Kompensationsvorgang ist, oder daß es sich umgekehrt verhält,
schließlich können beide abhängig von einer Giftwirkung sein.
So ist es bekannt, daß hämolytische Sera in kleinen Dosen gift- '
bildend, in großen Dosen hämolytisch wirken. Es ist Pel aber
nicht gelungen, Hämolysine aus dem Serum darzustellen. . Vor¬
tragender erwähnt sodann die stark wechselnde Zahl der Chromo-
zyten ; es sei dieses Verhalten wahrscheinlich auf ungleiche Ver¬
teilung derselben zurückzuführen, man dürfe aber daraus keinen
Rückschluß auf die Gesamtblutmenge ziehen.
Wandel- Kiel : Leberveränderungen bei akuter
Lysol- und Kresolvergiftung.
Durch zahlreiche Tierversuche hat Wandel bewiesen, daß
bei geeigneter Versuchsanordnung, welche die Resorption großer
Mengen Kresols vom Magen aus garantiert, gesetzmäßig starke
Veränderungen in dem Hauptresorptionsorgan, der Leber, vor sich
gehen. Der Transport des Giftes erfolgt durch die Pfortader,
welche selbst durch Zerstörung ihrer Blutbestandteile und Ab¬
stoßung ihrer Intimazellen auf die Giftpassage reagiert. Die
„Schlacken“ dieses Pfortaderblutes findet man in den Leberästen
der Pfortader wieder. Von hieraus gelangt das Gift durch Diffusion,
manchmal auch gröbere Zerstörungen (Blutungen mit und ohne
Thrombosen) in das Leberparenchym, welches in leichten Fällen
nur durch Protoplasmaaufhellungen und -Schwund, in schweren
mit partiellem Zelltod, in den schwersten mit ausgedehnter Ne¬
krose antwortet. Den Weg der Giftwirkung bezeichnen außerdem
braune Körnchen, Zerstörungsprodukte der roten Blutzellen.
Die histologischen Veränderungen sind das anatomische Kor¬
relat für die chemischen Entgiftungsvorgänge in der Leber.
Destruktionen finden wir überall, wo noch freies Kresol mit dem
Protoplasma in Berührung kommt ; wir vermissen sie da, wo der
Enigiftungsvorgang, die Paarung an Glykuron- oder Schwefelsäure
schon vollendet ist, z. B. meist an der Lebervene, welche wohl in der
Hauptsache den Transport der ungiftigen Paarungskörper vermittelt.
Bei schweren Vergiftungen dringt das freie Kresol durch die Leber
und ist jenseits der Leber in teilweise freiem Zustande noch
nachweislich, z. B. in der bei Gallenfisteltieren gewonnenen Galle. Es
ist hier wohl locker gebunden an Alkalien oder Körper der Fett¬
reihe. Demonstration von Abbildungen und Präparaten.
Z i e g 1 e r - Breslau : Experimentelle Erzeugung
und das Wesen der Leukämie.
Durch Röntgenbestrahlung der Milz hat Vortr. bei der Zer¬
störung der Milzfollikel eine Vermehrung einkerniger, myeloider
Leukozyten und myeloide Umwandlung der Milz hervorgerufen,
ferner unter Auftreten einkerniger Leukozyten eine lymphoide
Hyperplasie des Knochenmarks. Partielle Follikelzerstörung der
Milz führt ebenfalls zur myeloiden Umwandlung von Blut und
Milz, welche Veränderungen aber wieder schwinden können. Um¬
gekehrt hat Knochenmarkschädigung noch zu keinem Ergebnis
geführt. Er faßt die Leukämie deshalb als eine gestörte Korre¬
lation des Verhältnisses Milz — Knochenmark auf, welche
beide in ihren normalen Beziehungen ein normales Blutbild
garantieren. Einseitige Schädigung führt zu entsprechender Hyper¬
plasie der korrelativen Elemente. (Fortsetzung folgt.)
Programm
der am
Freitag den 28. Juni 1907, 7 Ulir abends,
unter dem Vorsitz des Herrn Prof. Dr. L. Köiiig-stein stattfindendeii
Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien.
1. Dr. Preleituer : Bericht über die Frequenz der Laugenver¬
ätzungen und ein Vorschlag zu deren Verhütung.
2. Diskussion zum Vortrag des Dr. Rud. Kaufmann: Heber
Kontraktionsphänomene am Magen. (Zum Wort • gemeldet: Dr. Joiias
und Dr. Emil Scliütz.)
3. Prof. Dr. S. Stern : Wesen der Erinnerungsbilder.
Bergmeister, Paltauf.
Vtr.ntworUich.r B.d>kt.ar: Adalbert Karl Trupp. V„l„ „„ Wilhelm Braumhller in Wi.n,
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